Kulinarik und Kultur: Speisen als kulturelle Codes in Zentraleuropa 9783205792918, 9783205795391


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Kulinarik und Kultur: Speisen als kulturelle Codes in Zentraleuropa
 9783205792918, 9783205795391

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KULINARIK UND KULTUR SPEISEN ALS KULTURELLE CODES IN ZENTR ALEUROPA

HERAUSGEGEBEN VON MORITZ CSÁKY UND GEORG CHRISTIAN LACK

2014 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch : Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7)

Österreichische Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : Foto : Susi Petrijevčanin, vgl. S. 191 © 2014 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser , Graz Umschlaggestaltung : Michael Haderer , Wien Satz : Carolin Noack , Wien Druck und Bindung : Finidr , Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79539-1

INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Moritz Csáky Speisen und Essen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . 9 Jennifer A. Jordan Investigating the Edible. Points of Inquiry in the Study of Food , Culture , and Identity . . . . . . . 37 Klára Kuti Verzehren oder Zerreden. Alltagswissen in den virtuellen Tischgesellschaften der Gastroblogsphäre . . 51 Julia Danielczyk , Birgit Peter Die Transnationale des Geschmacks. Wiener Küche als „Archiv“ von Identitätskonstruktionen . . . . . . . . . 69 Johann Heiss Wiener Frühstück. Kaffee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Johannes Feichtinger Das Wiener Kipferl. Zum Symbolwert eines Gebäcks . . . . . . . . . . 102 Konrad Köstlin Die Wiener Küche. Ein Alleinstellungsmerkmal avant la lettre . . . . . . 121 Federico Italiano Die Verortung eines Gebäcks. Triest , der Presnitz und Pellegrino Artusi . . 132 Stefan M. Schmidl „National-Menü“. Über die Musikalisierung von Essen und Trinken . . . 142 Vlado Obad Literarische Menüs aus Zentraleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . .149 Rudolf Jaworski Kulinarik als Indikator von Mischkulturen. Gregor von Rezzori und die Küche der Bukowina . . . . . . . . . . . . 161

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István Fried Gyula Krúdys letztes Mahl in Sándor Márais Roman Sindbad geht heim . 172 Susi Petrijevčanin Einflüsse unterschiedlicher Kulturen bei Zubereitung von Speisen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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Inhalt

VORWORT Der vorliegende Band versucht aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Relevanz von Kulinarik nachzugehen. Er ist das Ergebnis einer internationalen wissenschaftlichen Tagung an den Universitäten Pécs und Osijek , die von den Österreichischen Kulturforen Zagreb und Budapest , gemeinsam mit dem Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften , im Mai 2012 veranstaltet wurde. Versteht man unter Kultur die Gesamtheit von Zeichen , Symbolen oder Codes , mittels derer Individuen in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext kommunizieren , um sich zu orientieren , sind folglich auch solche kommunikativen Praktiken , die auf die Absicherung des biologischen Überlebens ausgerichtet sind , das heißt die Produktion , der Erwerb , die Zubereitung und der Verzehr von Nahrungsmitteln , von Speisen und Getränken integrale kulturelle Phänomene. Auch das gemeinsam veranstaltete Essen ist Teil eines solchen sozial-kulturellen Prozesses. Denn an dem „Sichzusammenfinden zur gemeinsamen Mahlzeit und an der so vermittelten Sozialisierung entfaltet sich die Überwindung des bloßen Naturalismus des Essens.“ ( Georg Simmel ). Speisen und ihre Zubereitung sind in höchstem Maße variabel. Speisen können verschiedenen sozial-kulturellen Kontexten entlehnt sein , sie erfahren durch einen solchen Transfer eine mehr oder weniger wahrnehmbare Veränderung , sie werden zu einer neuen , spezifischen Speisen-Konfiguration , indem sie sich zum Beispiel einem unterschiedlichen „Geschmack“ angleichen , der historisch und soziokulturell bedingt ist. Aber auch die Herstellung ein und derselben Speise in einem gleichen kulturellen Kontext ist stets unterschiedlich und entspricht der jeweiligen „Kunst“ jener , die sie herstellen. Die Zubereitungsarten von von Speisen sind folglich dynamische , performative Prozesse , sie verdanken sich der Verschränkung zahlreicher Elemente ( Ingredienzien ) und ihr Endprodukt kann insofern als eine hybride Gemengelage bezeichnet werden , als die einzelnen Elemente in ein und derselben Speise zwar zu einer spezifischen Einheit verschmelzen , jedoch als Einzelelemente immer noch wahrgenommen werden können. Es lassen sich sowohl an der Zubereitung von Speisen als auch am Endprodukt „Speise“ kulturelle Prozesse ablesen , Speisen spiegeln kulturelle Prozesse wider. Das heißt , Speisenkonfigurationen veranschaulichen Kultur insofern , als auch diese in steter dynamischer Bewegung , prinzipiell entgrenzt , performativ und hybrid ist. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der zentraleuropäischen Region , die bis in die Gegenwart von Pluralitäten , Heterogenitäten und Differenzen bestimmt wird : Gerade in der Region Zentraleuropa durchbrechen Speisen als kulturelle Codes staatliche wie

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sprachliche Trennlinien und verbinden Menschen in kulinarischen Kommunikationsräumen jenseits nationaler Grenzen. Moritz Csáky Georg Christian Lack

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Vorwort

Moritz Csáky

SPEISEN UND ESSEN AUS KULTURWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE I. Während bis vor kurzem vor allem historische , sozialwissenschaftliche oder ethnologische Untersuchungen sich mit der Besorgung , der Zubereitung , dem Verzehr und der Verbreitung von Nahrungsmitteln eingehend beschäftigt haben , sind neuerdings Speisen und Essen , zum Beispiel im Zusammenhang von Gedächtnis , Erinnerung , Identität oder Translation , auch in den Fokus kulturwissenschaftlichen Interesses gerückt.1 Die Notwendigkeit , Nahrung zu besorgen und zu essen , ist freilich zuallererst ein biologischer Imperativ : Wer nicht isst , kann nicht überleben. Nicht zu essen bedeutet den sicheren Tod , schlecht zu essen Übelkeit und Krankheit. Nicht zuletzt deshalb nimmt die Versorgung mit Nahrung und das bekömmliche Essen selbst eine im Alltag prädominante Stellung ein. Man denkt während des Tages immer wieder an das Essen und 1

Vgl. u. a. Heinke M. Kalinke , Klaus Roth , Tobias Weger ( Hg. ): Esskultur und kulturelle Identität – Ethnologische Nahrungsforschung im östlichen Europa , München 2010 ( mit neueren Literaturangaben ). Dorothee Kimmich , Schamma Schahdat ( Hg. ): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2012 : Essen. Vgl. auch : Essen und Trinken I. Kunstforum International Bd. 159 ( April–Mai 2002 ) und : Die große Enzyklopädie – Essen und Trinken A–Z. Kunstforum Internationale Bd. 160 ( Juni–Juli 2002 ). Peter Scholliers ( Hg. ): Food , Drink and Identity. Cooking , Eating and Drinking in Europe Since the Middle Ages , Oxford–New York 2001. Marc Jacobs , Peter Scholliers ( Hg. ): Eating Out in Europe. Picnics , Gourmet Dining and Snacks Since the Late Eigtheenth Century , Oxford–New York 2003. Vgl. auch die kulturhistorische Übersicht in Gert von Paczensky , Anna Dünnebier : Kulturgeschichte des Essens und Trinkens , München 1999 ( 1994 ). Vgl. hier die weiterführenden Literaturangaben , S. 544–556. Über die sozioökonomischen Bedingtheiten der Ernährung vgl. die wichtigen Ausführungen von Fernand Braudel : Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Alltag , München 1985 , S. 103–281 ( Kap. 2 : Das tägliche Brot. Kap. 3 : Überfluss und Alltagskost : Nahrungsmittel und Getränke ). Vgl. u. a. auch Jean-Paul Aron : La cuisine. Un menu au XIXe siècle , in Jacques Le Goff , Pierre Nora ( Hg. ): Faire de lhistoire III. Nouveaux objets , Paris 1974 , S. 257–293. Jean-Louis Flandrin : Der gute Geschmack und die soziale Hierarchie , in Philippe Ariès , Georges Duby ( Hg. ): Geschichte des privaten Lebens Bd. 3 : Von der Renaissance zur Aufklärung , Frankfurt a. Main 1991 , S. 269–311.

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fühlt sich zu guten Speisen hingezogen. Das heißt , man erinnert sich nicht nur an Speisen ganz allgemein , weil sie von lebenserhaltender Bedeutung sind , sondern man identifiziert sich vor allem mit jenen Speisen , deren Verzehr einen besonderen Genuss bereiten. Friedrich Nietzsche macht in seiner autobiografischen Schrift Ecce homo auf diese einzigartige Bedeutung der Nahrung für das Leben aufmerksam , denn „diese kleinen Dinge – Ernährung , Ort , Clima , Erholung , die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles , was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen , umzulernen.“2 Kurz zuvor präzisiert er dieses Interesses an gesunder Ernährung : „Ganz anders interessiert mich eine Frage , an der mehr das ,Heil der Menschheit‘ hängt , als an irgend einer Theologen-Curiosität : die Frage der Ernährung.“ Er selbst hätte sich lange Zeit um seine Ernährung nur wenig gekümmert , bis ihm nicht nur ihre lebenserhaltende Funktion , sondern vor allem auch die Wichtigkeit ihrer qualitativen Zubereitung klar geworden wäre : In der That , ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen – moralisch ausgedrückt „unpersönlich“, „selbstlos“, „altruistisch“, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche , gleichzeitig mit meinem ersten Studium Schopenhauer’s ( 1865 ), sehr ernsthaft meinen „Willen zum Leben“. Sich zum Zweck unzureichender Ernährung auch noch den Magen verderben – dies Problem schien mir die genannte Küche zum Verwundern glücklich zu lösen. [ … ] Aber die deutsche Küche überhaupt – was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen !3

Eine falsche Ernährung , ein schlechtes Klima , so Nietzsches mehrdeutige Argumentation , hätten tiefgreifende Konsequenzen für das Leben insgesamt und vor allem auch für jede geistige Tätigkeit , denn : Eine zur schlechten Gewohnheit gewordne noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig , um aus einem Genie etwas Mittelmässiges , etwas „Deutsches“ zu machen ; das deutsche Klima allein ist ausreichend , um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmuthigen. Das tempo des Stoff2

Friedrich Nietzsche : Ecce homo , in : Friedrich Nietzsche : Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6 , hg. von Giorgio Colli und Mario Montinari , München–Berlin–New York 1980 , S. 255–374 , hier S. 295. 3 Nietzsche : Ecce homo , S. 279 ( wie Anm. 2 ). Vgl. dazu auch die entsprechende Stelle in Friedrich Nietzsches Skizzenentwurf zu Ecce homo : Friedrich Nietzsche : Nachgelassene Fragmente 2. Teil : November 1887 bis Anfang Januar 1889 , in : Friedrich Nietzsche : Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe , Bd. 13 , hg. von Giorgio und Mario Montinari , München–Berlin–New York 1980 , S. 615–617.

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Moritz Csáky

wechsels steht in einem genauen Verhältniss zur Beweglichkeit oder Lahmheit der Füsse des Geistes ; der „Geist“ selbst ist ja nur eine Art dieses Stoffwechsels.4

Solche Beobachtungen erinnern unwillkürlich an Michel de Montaigne , der in dem berühmten umfangreichen dreizehnten Kapitel ( Von der Erfahrung  ) des dritten Bandes seiner Essais – hier in einer Übersetzung des 18. Jahrhunderts – immer wieder und sehr ausführlich auf die von Nietzsche eingemahnten Lebensprinzipien Ort , Klima , Erholung und vor allem Ernährung eingeht.5 „Alles ist mir schädlich“, heißt es da zum Beispiel , „was ich mit Widerwillen zu mir nehme : und nichts schadet mir , was ich aus Hunger und mit Lust esse.“6 Oder : „ich wähle bey Tische nicht lange ; sondern greife nach dem ersten und nächsten , und verwechsle nicht gerne einen Geschmack mit dem andern ; das Gedränge der Schüsseln und Gerüchte ist mir eben so sehr , als sonst ein Gedränge , zuwider. Ich bin mit wenigem Essen zufrieden [ … ].“7 Etwas , das in den Überlegungen Nietzsches keine Rolle spielt , ist für Montaigne von großer Bedeutung , nämlich die soziale beziehungsweise kommunikative Funktion der gemeinsam eingenommenen Mahlzeit : Alcibiades , der sich sehr gut auf das Wohlleben verstund , verbannte sogar die Musik von den Tafeln , damit sie die Annehmlichkeit der Gespräche nicht störete , da , wie ihn Plato redend einführt , nur gemeine Leute , Musikanten zu den Gastmahlen bestellen , weil es ihnen an nützlichen Gesprächen und angenehmen Unterredungen fehlt , mit welchen sich verständige Leute etwas zu gute thun wissen. Varro verlangt bey einem Gastmahle eine Gesellschaft wohlgebildeter Personen , die dabey von angenehmem Umgange , und weder stumm noch waschhaft sind ; einen reinlichen Ort und wohl schmeckende Speisen ; und ferner schönes Wetter. Eine gute Gasterey erfordert nicht wenig Kunst , und giebt kein geringes Vergnügen [ … ].8

4 Nietzsche : Ecce homo , S. 282 ( wie Anm. 2 ). 5 Ich zitiere aus der von Winfried Stephan neu herausgegebenen , gut lesbaren vollständigen Übersetzung von J. D. Titz aus dem Jahre 1753/54. Michel de Montaigne : Essais ( Versuche ) nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz , Bd. 3 , Zürich 1992 ( 1753/54 ), S. 334–446 ( Von der Erfahrung ). Über das Essen z. B. S. 376–377 , S. 380–381 , S. 407–410 , S. 412–414 , S. 423 ff. 6 Montaigne : Essais , S. 381 ( wie Anm. 5 ). 7 Montaigne : Essais , S. 407–408 ( wie Anm. 5 ). 8 Montaigne : Essais , S. 423–424 ( wie Anm. 5 ). Ich beschränke mich hier auf den Haupttext , ohne die von Montaigne eingefügten Fußnoten.

Speisen und Essen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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Auch Georg Simmel geht in seinem oft zitierten kurzen Beitrag Soziologie der Mahlzeit 9 zunächst auf die allen Menschen gemeinsame biologische Notwendigkeit des Essens ein : „Von allem nun , was den Menschen gemeinsam ist , ist das Gemeinsamste : daß sie essen und trinken müssen. Und gerade dieses ist eigentümlicherweise das Egoistischste , am unbedingtesten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte.“10 Nimmt man jedoch die Überlegungen Montaignes in Betracht , ist es erstaunlich , dass gerade der Soziologe Simmel der kommunikativen Funktion der gemeinsamen Mahlzeit nur eine beiläufige Beachtung schenkt : Auch die Tischunterhaltung darf sich , wenn sie im Stil bleiben will , nicht über die allgemeinen , typischen Gegenstände und Behandlungsarten , in individuelle Tiefen begeben. Nun ist zwar dies alles auch aus physiologischer Zweckmäßigkeit zu erklären. Denn diese fordert Unabgelenktheit und Unaufgeregtheit beim Essen. [ … ] Über die Banalität der gewöhnlichen Tischgespräche zu klagen , ist deshalb ganz mißverständlich. Die graziöse , aber immer in einer gewissen Allgemeinheit und Unintimität sich haltende Tischunterhaltung darf jenes Fundament nie völlig unfühlbar machen , weil erst an dessen festgehaltenem Charakter die ganze auflösende Leichtigkeit und Anmut ihres Oberflächenspieles sich offenbart.11

Freilich , so scheint es , beschreibt Simmel bereits die recht formalisierten Essund Tischgewohnheiten des städtischen Bürgertums zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ; sein Beitrag erschien 1910 im Berliner Tageblatt , einer Zeitung , deren Zielgruppe sich in erster Linie aus bürgerlichen Lesern der deutschen Metropole rekrutierte.12 Mahlzeiten kommt freilich zum Teil bis in die Gegenwart noch immer eine hohe sozialkulturelle und zivilisatorische Funktion zu , etwa innerhalb eines Familienverbands , wo soziale Verhaltensweisen in Gesprächen weitergegeben oder ganz allgemein von Generation zu Generation Wissen und kulturelles Gedächtnis implementiert werden , ist doch die gemeinsame Mahlzeit , die heute zwar immer seltener wird , oft die einzige Gelegenheit , bei der die ganze Familie beisammen ist und sich daher 9 Georg Simmel : Soziologie der Mahlzeit , in : Georg Simmel : Gesamtausgabe , Bd. 12 , hg. von Otthein Rammstedt. Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918 , Bd. 1 , hg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt , Frankfurt a. Main 2001 , S. 140–147. 10 Simmel : Soziologie der Mahlzeit , S. 140 ( wie Anm. 9 ). 11 Simmel : Soziologie der Mahlzeit , S. 146 ( wie Anm. 9 ). 12 Vgl. die Textgeschichte der Soziologie der Mahlzeit in : Simmel : Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918 , S. 509 ( wie Anm. 9 ).

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die Möglichkeit ergibt , familiäre Interessen und Angelegenheiten zu besprechen , Konflikte zu lösen und Erfahrungen , bestimmte Verhaltensrichtlinien oder Orientierungsmuster den Kindern zu vermitteln. Ähnlich verhält es sich auch bis in die Gegenwart mit Arbeitsessen , das Politikern , Bankern oder Industriellen die Möglichkeit eröffnet , in einer ungezwungenen Weise über wichtige Angelegenheiten freier zu sprechen und zu beraten als bei offiziell einberufenen Sitzungen. Schon Montaigne wies auf die Bedeutung der in Platons Dialogen beschriebenen Symposien , der philosophischen Ess- und Trinkgelage in Athen , während Luthers Tischgespräche ( Tischreden ) vermutlich unter anderem zur Festigung und Popularisierung der neuen reformatorischen Überzeugungen beitragen sollten. Das gemeinsame Essen und Trinken dient und diente also keineswegs nur der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse , es hat , angefangen bei religiös konnotierten Mahlzeiten ( zum Beispiel das „Herrenmahl“ ), auf die Simmel ausdrücklich verweist ,13 auch eine durchaus lebensdisziplinierende , sozialpolitische und kulturelle Funktion. Doch abgesehen von diesen sozialkulturellen Aspekten ist gerade die Notwendigkeit und das Bedürfnis essen zu müssen etwas , was den Menschen täglich , fast stündlich nötigt , sich mit dem Essen und mit Speisen auseinanderzusetzen , sich der Speisen zu erinnern und sich mit jenen , die besonders bekömmlich sind , zu identifizieren. Es ist daher nicht verwunderlich , dass die Kulinarik , dass Speisen und Essen , abgesehen von der reichen Metaphorik , die aus diesen bis in die Alltagssprache entlehnt ist und so ihre Relevanz verdeutlicht , auch bei Schriftstellern eine große Rolle spielen. Zum Beispiel erschien über Thomas Bernhard in diesem Zusammenhang vor wenigen Jahren eine außerordentlich aufschlussreiche Darstellung.14 Bereits Franz Grillparzer hat in seinen Tagebüchern und Reisenotizen immer wieder , zumeist abfällig oder zumindest kritisch , zu Speisen und Essgewohnheiten Stellung genommen. Folgt man seiner Selbstbiogra­ phie , sah sich Grillparzer zeit seines Lebens mit Bedrohungen konfrontiert , an denen er sich abarbeitete und dadurch indirekt ein Selbstverständnis zu erreichen und zu festigen suchte. Dies betraf nicht zuletzt die Begegnung mit kulinarischen Fremdheiten auf den Reisen , die er unternahm. Zum Beispiel machte er auf seinem Weg nach Italien immer wieder Aufzeichnungen über die recht zwiespältigen Eindrücke , die die jeweils lokalen Ess- und Trinkgewohnheiten auf ihn gemacht haben : „Schlechtes Abendessen , nicht viel bessere Betten , aber seit 6 Stunden nichts gegessen und 2 Nächte gefahren statt zu schlafen – essen und schlafen gieng beides recht gut“, notiert er zu Beginn seiner Reise , die ihn 13 Simmel : „Soziologie der Mahlzeit“ , S. 141–142 ( wie Anm. 9 ). 14 Hilde Haider-Pregler , Birgit Peter : Der Mittagesser. Eine kulinarische ThomasBernhard-Lektüre. Mit einem Vorwort von Luigi Forte , Wien–München 1999.

Speisen und Essen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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durch die damalige Krain ( Slowenien ) führte. „Endlich Laibach. [ … ] Schlechte Wirtshäuser , elendes Essen [ … ].“15 In Triest angekommen , ist er von der Stadt tief beeindruckt : „Überhaupt gewährt Triest , sowohl vom Berge herab , an dem es liegt , als von der Seeseite betrachtet , einen außerordentlich schönen Anblick. Das Meer in seiner Herrlichkeit , die zahllosen Masten der Schiffe , das Gewimmel von Menschen aller Kleidung und Sprache , alles ist ansprechend und neu“ – wäre da nicht „der aufgesetzte , unbeschreiblich elende Kaffeh“ [ … ].16 In Rovigo hingegen , schreibt er , „kehrten wir zuerst in einem Wirtshause auf ächt italienische Weise ein [ … ]“. Ob dies positiv oder negativ gemeint ist , bleibt offen. Dennoch : „Zum Frühstück : Frittata in Öhl gebacken mit geriebenem Käse bestreut ; süßlichen Landwein , elendes , schlechtgebackenes Brod mit Käse , zum Beschluß getrocknete Feigen.“17 Einen Höhepunkt von schlechten Speisen machte er jedoch in Ferrara : „Das Mittagmahl , das wir hier einnahmen , zeichnete sich durch Ungenießbarkeit von allen bisher genommenen aus , was in der That viel sagen will. Nicht einmal der Kalbsbraten , an dem ich mich entschädigen wollte , war zu essen. Man hatte ihn nämlich mit Rosmarin gespickt und man hätte ihn fast als Brechmittel gebrauchen können.“18 Aber nicht nur die Küche in Italien behagt Grillparzer nicht. Auf der 1826 unternommenen Reise nach Deutschland macht er mit schlechten böhmischen Speisegewohnheiten Bekanntschaft : „Mittagbrod in *** das Essen schlecht , die Zeche verhältnismäßig ungeheuer. Meine Gesellschaft erboßte sich , mich amüsierte das Unverschämte der Forderung und das Benehmen der Kellnerin [ … ].“19 Und fast zwanzig Jahre später , auf seiner Reise nach Konstantinopel und Griechenland im Jahre 1843 , kann sich Grillparzer noch immer nicht mit unbekannten Speisen und Essgewohnheiten anfreunden. Im bulgarischen Vidin , damals noch dem Osmanischen Reich zugehörig , frühstückt [ die ganze Gesellschaft ] mit Weintrauben , Melonen , stinkendem mit Ochsenschmalz , vulgo Unschlitt bereitetem Brod , wozu sie Wasser trinken , so daß sich einem vom Ansehen der Magen umwendet. [ … ] Kaffe um 15 Franz Grillparzer : Tagebuch auf der Reise nach Italien. 24. März–Ende Juli 1819 , in : Franz Grillparzers Tagebücher , Bd. 1 : Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Von Mai 1808 bis Ende 1821. Nr. 1 bis 956 , hg. von August Sauer , Wien o. J. ( 1914 ), S. 147–228 , hier S. 151. 16 Grillparzer : Reise nach Italien , S. 153–154 ( wie Anm. 15 ). 17 Grillparzer : Reise nach Italien , S. 163 ( wie Anm. 15 ). 18 Grillparzer : Reise nach Italien , S. 165 ( wie Anm. 15 ). 19 Franz Grillparzer : Tagebuch auf der Reise nach Deutschland. 21. August–Anfang Oktober 1826 , in : Franz Grillparzers Tagebücher , Bd. 2 : Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Von Mai 1808 bis Ende 1821. Nr. 957 bis 1820 , hg. von August Sauer , Wien 1916 , S. 219–243 , hier S. 226–227.

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Moritz Csáky

8 Uhr , Gabelfrühstück um 9 Uhr , so daß wir eigentlich viel ekelhafter uns gehabten als die Türken. Doch die Noth zwingt zu essen auch ohne Hunger , denn das Mittagmahl soll erst um 4 Uhr stattfinden.20

Auch noch auf der Schiffsfahrt über den Bosporus beklagt er sich über das „Mittagessen , das , fettig und halb orientalisch zubereitet , meinem Magen nicht behagen wollte [ … ].“21 Mit diesen wenigen Hinweisen auf Nietzsche , Montaigne und Grillparzer wird eines klar : Speisen sind mehr als nur Nahrungsmittel , die biologische Bedürfnisse befriedigen , Speisen und ihr Verzehr sind vielmehr ein integraler Bestandteil von Kultur , von kulturellen Traditionen und Verhaltensweisen , denn an dem „Sichzusammenfinden zur gemeinsamen Mahlzeit“, meinte Georg Simmel , „und an der so vermittelten Sozialisierung entfaltet sich die Überwindung des bloßen Naturalismus des Essens. Wäre es nicht etwas so Niederes , so hätte es also diese Brücke nicht gefunden , über die hin es zur Bedeutsamkeit des Opfermahles , zur Stilisierung und Ästhetisierung seiner schließlichen Form aufsteigt.“22 Die Produktion von Nahrung und der Erwerb , die Zubereitung und der Verzehr von Speisen und Getränken sind integrale kulturelle , das heißt orientierungs- und identitätsstiftende Prozesse. Speisen in ihrer Komplexität beinhalten kulturelle Bedeutungszusammenhänge , sie sind so etwas wie kulturelle Codes. Doch in welchem Zusammenhang von Kultur ist das zu verstehen ?

II. Ich selbst habe schon mehrmals versucht , für einen möglichst umfassenden und offenen Kulturbegriff zu plädieren , der , zum Beispiel unabhängig von einer Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur , geeignet ist , die dynamischen , performativen Formationen und medialen Verflechtungen von gesellschaftlichen Prozessen zu erklären. Ich folge hier weitgehend meiner früheren Argumentation , die sich unter anderem Erkenntnisse der Kulturanthropologie und der Kultursemiotik zunutze macht.23 Ich beziehe mich dabei 20 Franz Grillparzer : Tagebuch auf der Reise nach Konstantinopel und Griechenland. 27. August–13. Oktober 1843 , in : Franz Grillparzers Tagebücher , Bd. 5 : Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Von Frühjahr 1842 bis gegen Ende 1856. Nr. 3587 bis 4148 , hg. von August Sauer , Wien 1924 , S. 19–64 , hier S. 31–32. 21 Grillparzer : Reise nach Konstantinopel und Griechenland , S. 34 ( wie Anm. 20 ). 22 Simmel : Soziologie der Mahlzeit , S. 147 ( wie Anm. 9 ). 23 Vgl. dazu „Kultur als Kommunikationsraum“, in : Moritz Csáky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in

Speisen und Essen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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unter anderem auf die Ausführungen des Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski , der in seinem Beitrag Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur ausgeführt hatte , dass Kultur sich „als der umfassende Zusammenhang menschlichen Verhaltens“24 darstellen würde. Kultur sei etwas Umfassendes „das sich zusammensetzt aus Gebrauchs- und Verbrauchsgütern , den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen , aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten , aus Glaubenssätzen und Bräuchen.“25 Eine Kultur, meint daher der Kultur- und Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt , „ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen ( negotiations ) über den Austausch von materiellen Gütern , Vorstellungen und – durch Institutionen wie Sklaverei , Adoption oder Heirat – Menschen. [ … ] In jeder Kultur gibt es einen allgemeinen Symbolhaushalt , bestehend aus den Myriaden von Zeichen , die Verlangen , Furcht und Aggression der Menschen erregen.“26 Kultur ist demnach ein Netzwerk von dynamischen Prozessen von „Verhaltensweisen“, die performativ , das heißt kontinuierlich aufs Neue ausgehandelt werden. Freilich sollte man , ergänzt Clifford Geertz , „Kultur besser nicht nur als einen Komplex von Verhaltungsmustern – Sitten , Bräuchen , Traditionen , Bündeln von Gewohnheiten [ begreifen ], wie es bislang der Fall war , sondern als eine Menge von Kontrollmechanismen – Plänen , Rezepten , Regeln , Anweisungen ( was Informatiker ein ,Programm nennen ) – zur Regelung von Verhalten.“27 Solche Kontrollmechanismen sind , wie Simon Frith feststellt , immer wieder neu auszuhandeln , denn soziale Gruppen beziehen sich nachweislich „nicht auf Werte [ … ], die sich dann in ihren kulturellen Aktivitäten ausdrücken [ … ], sondern dass sie sich als Gruppen ( als eine besondere Organisationsform indi-

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Zentraleuropa , Wien–Köln–Weimar 2010 , S. 89–127. Moritz Csáky : Kultur als Kommunikationsraum , Das Beispiel Zentraleuropas , in : András F. Balogh , Helga Mitterbauer ( Hg. ): Gedächtnis und Erinnerung in Zentraleuropa , Wien 2011 , S. 17–44. Moritz Csáky : Kultur – ein Erklärungsmodell für Zentraleuropa ? , in : Anna Babka , Daniela Finzi , Clemens Ruthner ( Hg. ): Die Lust an der Kultur /  Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk , Wien–Berlin 2012 , S. 437–449. Bronislaw Malinowski : Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur ( 1941 ), in : Ders. : Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur , Frankfurt a. Main ²2004 , S. 45–172 , hier S. 47. Malinowski : Theorie der Kultur S. 74–75 ( wie Anm. 24 ). Stephen Greenblatt : Kultur , in : Moritz Baßler ( Hg. ): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur , Frankfurt a. Main 1995 , S. 48–59 , hier S. 55. Clifford Geertz : Kulturbegriff und Menschenbild , in : Rebekka Habermas , Niels Minkmar ( Hg. ): Das Schwein des Häuptlings. Beiträge zur historischen Anthropologie , Berlin 1992 , S. 56–82 , hier S. 70.

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vidueller und sozialer Interessen , von Identität und Differenz ) durch kulturelle Aktivitäten , durch ästhetische Urteile erst konstituieren.“28 Versteht man unter Kultur folglich einen Verhaltensprozess , einen spontanen Prozess , „der frei ist von administrativen oder leitenden Zentren“, wie Zygmunt Bauman festgehalten hat ,29 dann lässt sich Kultur vor allem unter dem Aspekt von Kommunikation begreifen. Kultur könnte demnach als das Ensemble von Elementen , Zeichen , Symbolen und Codes definiert werden , mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren. Kultur kann folglich , in einem übertragenen Sinne , als ein heterogener Kommunikationsraum begriffen werden , mit durchlässigen äußeren und inneren Grenzen , da immer wieder neue Elemente inkludiert , andere an Aussagekraft verlieren , umgedeutet oder ausgeschieden werden. Kultur beinhaltet somit ein Geflecht von Anhaltspunkten , von sprachlichen oder mimetischen Umgangsformen und Ausdrucksweisen , von stets neu zu definierenden Bedeutungen , mit deren Hilfe Individuen und Gruppen sich in einem umfassenden „sprachlichen“ beziehungsweise „sozialen“ Raum zu orientieren suchen. Der Sprach- und Kultursemiotiker Jurij M. Lotmann bezeichnet einen solchen den gesamten heterogenen Bereich von Kultur umfassenden Kontext als „Semiosphäre“: Jede „einzelne Sprache [ ist ] umgeben von einem semiotischen Raum , und nur kraft ihrer Wechselwirkung mit diesem Raum kann sie funktionieren. Der kleinste Funktionsmechanismus der Semiose , ihre Maßeinheit , ist nicht die einzelne Sprache , sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur.“30 Die Einübung in ein solches ( kulturelles ) Zeichensystem , das auf bestimmte Inhalte verweist , erfolgt , vor allem in Schriftkulturen , weniger durch rituelle Verfahren als durch performative schriftliche oder mediale Vermittlungen. Inhalte werden nicht nur medial geschaffen ( Marshall McLuhan ) und medial weitergegeben , sie können gleichermaßen auch zurückgenommen , kritisiert , infrage gestellt oder verworfen werden. Geschehenes wird durch selektive mediale kommunikative Prozesse zu einem bewussten Ereignis , das Sinn und Orientierung stiftend auftritt und Teil des kollektiven Gedächtnisses wird , das jedoch stets auch unterschiedliche Erzählweisen zulässt und insofern mehrdeutig ist. 28 Simon Frith : Musik und Identität , in : Jan Engelmann ( Hg. ): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader , Frankfurt–New York 1999 , S. 149–169 , hier S. 154. 29 Zygmunt Bauman : Gesetzgeber und Interpret : Kultur als Ideologie von Intellektuellen , in : Hans Haferkamp ( Hg. ): Sozialstruktur und Kultur , Frankfurt a. Main , S. 452–482 , hier S. 479. 30 Jurij M. Lotman : Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur , Frankfurt a. Main 2010 , S. 165.

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Kultur als Kommunikationsraum ist folglich prozesshaft , dynamisch und performativ , daher nicht „authentisch“, sondern hybrid und stets mehrdeutig. Der Schriftsteller Salman Rushdie hat aus seiner postkolonialen Perspektive der Vorstellung einer homogenen , authentischen Kultur eine klare Absage erteilt , indem er auf die Komplexität und Mehrdeutigkeit von kulturellen Prozessen , Praktiken und Inhalten aufmerksam gemacht hat. Rushdies Kritik richtet sich gegen holistische Kulturkonzepte , vor allem gegen ein eurozentrisches Konzept von Nationalkultur. „Einer der absurdesten Aspekte dieser Suche nach nationaler Authentizität“, so Rushdie , „ist die vollkommen falsche Annahme , es gäbe so etwas wie reine , unverfälschte Traditionen , aus denen wir schöpfen könnten. Die einzigen Menschen , die ernsthaft daran glauben , sind die religiösen Extremisten.“31 Gegen eine solche nationale Authentizität verwahrt sich auch der polnische Komponist Krzysztof Penderecki : „Ich bin ein Hybride. Meine Familie stammt aus den Kresy [ historisches Ostpolen ]. Meine Großmutter väterlicherseits war eine Ormianin [ Armenierin , M. Cs. ], mein Großvater – ein polonisierter Deutscher. [ … ] Mein Vater kam aus der Ukraine. Er war orthodox [ … ].“32 Folgt man den Überlegungen von Walter Benjamin , ist das , was man als eine authentische Tradition , als eine kontinuierliche , verbindliche Überlieferung , als ein fixes , gültiges kulturelles Erbe erachtet , ein künstliches Konstrukt und der Rekurs auf eine solche Überlieferung entspreche daher einer katastrophalen Fehleinschätzung : „Es gibt eine Überlieferung , die Katastrophe ist“,33 denn eine solche vermeintliche Überlieferung spiegelt nur die Position der Herrschenden und nicht die der vielen Beherrschten wider. Daher , so Walter Benjamin , müsse „der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs herausgesprengt“ werden ,34 einem Kontinuum , das erst seine Interpreten dem Geschichtsverlauf eingeschrieben haben. Auch in einem späteren Beitrag , im Traktat Über den Begriff der Ge­ schichte , greift Benjamin diesen Gedanken wieder auf : Vergangenes historisch zu artikulieren heißt nicht , es erkennen „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Es heißt , sich einer Erinnerung bemächtigen , wie sie 31 Salman Rushdie : Es gibt keine „Commonwealth-Literatur“, in : ders. : Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991 , München 1992 , S. 81–92 , hier S. 88–89. 32 Mieczisław Tomaszewski : Der Schaffensweg des Krzysztof Penderecki , in : Silesia Nova. Vierteljahrsschrift für Kultur und Geschichte 5/1 ( 2008 ), S. 50–57 , hier S. 53. 33 Walter Benjamin : Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien , hg. von Rolf Tiedemann , in : Walter Benjamin Gesammelte Schriften , Bd. V / 1 , hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Frankfurt a. Main ²1982 , S. 591. 34 Benjamin : Passagen-Werk , S. 594 ( wie Anm. 33 ).

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im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. [ … ] Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe : sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden , die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen , der im Begriff steht , sie zu überwältigen.35

In einem gewissen Sinne , zumindest hypothetisch , die Forderungen der „Subaltern Studies“ ( Ranajit Guha oder Gayatri Chakravorty Spivak ) antizipierend , hätte sich Benjamin auch auf eine analoge Perspektive berufen können , die vor ihm schon Nietzsche beschäftigt hatte. Denn eine solche Sicht auf Tradition entspricht in einem gewissen Sinne auch jener von Friedrich Nietzsche , der in der Zweiten Unzeitgemäßen auf vermeintliche historische Überlieferungen als „Katastrophen“ hingewiesen und gemeint hatte , „da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind , sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen , Leidenschaften und Irrthümer , ja Verbrechen ; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten , so ist die Thatsache nicht beseitigt , dass wir aus ihnen herstammen.“36 Daher Nietzsches Aufforderung : „jede Vergangenheit aber ist werth verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen : immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.“ Und : „Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren“37. Oder wie später Benjamin gemeint hatte , gelte es „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“38 Kultur als Kommunikationsraum zu begreifen beinhaltet auch noch weitere wichtige Aspekte. Abgesehen davon , dass dadurch zwischen Hoch- beziehungsweise repräsentativer Kultur und Alltagskultur nicht beliebig unterschieden , sondern das gesamte lebensweltliche Umfeld berücksichtigt wird , bedeutet eine solche Vorstellung von Kultur eine entschiedene Absage an ein essenzialistisches Kulturkonzept , das nationalen Kulturvorstellungen inne35 Walter Benjamin : Über den Begriff der Geschichte , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , Bd. I /  2 , hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Frankfurt a. Main ³1990 , S. 691–704 , hier S. 695. 36 Friedrich Nietzsche : Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemässe Betrachtungen II. , in : Friedrich Nietzsche : Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe , Bd. 1 , hg. von Giorgio Colli und Mario Montinari , München–Berlin–New York 1980 , S. 243–334 , hier S. 270. 37 Nietzsche : Vom Nutzen und Nachtheil , S. 269 , S. 306 ( wie Anm. 36 ). 38 Walter Benjamin : Anmerkungen zu „Über den Begriff der Geschichte“, in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , Bd. I /  3 , hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Frankfurt a. Main ³1990 , S. 1241.

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wohnt , da ( kulturelle ) Kommunikationsräume als Zeichensysteme in einem übertragenen Sinne als „Texte“ aufgefasst werden können , die immer aufs neue „gelesen“, interpretiert und konstituiert werden , die also nicht in sich abgeschlossen sind , vielmehr einerseits flüssige , flüchtige Übergänge gegenüber anderen „Texten“ beziehungsweise Kommunikationsräumen aufweisen und Spuren hinterlassen , durch die sie mit jenen auf eine vielfältige , dynamische Weise verwoben sind. Kultur erweist sich somit insgesamt als ein dynamischer Prozess , als ein sich kontinuierlich , performativ verändernder hybrider Raum. Dies zeigt sich beispielsweise an der andauernden , dynamischen Veränderung einer konkreten , gesprochenen Sprache , mit neuen Wortschöpfungen , Sinnzuweisungen , Wortveränderungen , wobei kontinuierliche Anleihen aus anderen konkreten Sprachen hinzukommen. Erst recht trifft diese Dynamik auf die nonverbale Kommunikation zu. Gleiche Zeichen und Symbole können in unterschiedlichen kulturellen Kontexten vorkommen und lassen die Vorstellung von einer Abgeschlossenheit von Kommunikationsräumen als obsolet erscheinen. Die nonverbale Kommunikation kommt im alltäglichen Leben weitaus häufiger vor als die konkrete sprachliche Kommunikation. Individuen oder Gruppen kommunizieren täglich mit Verkehrszeichen , mit der Verkehrsampel und ihren unterschiedlichen Farbsignalen. Sie orientieren sich in einer Stadt , indem sie in einen nonverbalen Dialog eintreten mit der Ausrichtung von Straßen und Plätzen , mit Wegweisern , mit Straßennamen , die den Straßen erst eine unverwechselbare Individualität verleihen , mit Gebäuden wie Kirchen , Palästen , Kaufhäusern , mit Denkmälern oder mit Skulpturen , die an Gebäuden angebracht sind. Menschen „lesen“ also den „Text“ einer Stadt , sie kommunizieren mit unterschiedlichen Zeichen , die auf etwas verweisen , zum Beispiel einen Turm , der ihnen Sicherheit verleiht und den sie daher immer wieder in den Blick zu bekommen suchen. In einer Menschenmenge orientiert man sich schweigend an der Ausrichtung und Gangart der Entgegenkommenden , man vergewissert sich dieser Situation stets aufs Neue , weicht aus , beschleunigt vielleicht den eigenen Schritt oder überlegt , einen anderen Weg einzuschlagen , um rascher voranzukommen. Oder man folgt lautlos einem Menschenstrom , von dem man annimmt , dass er demselben Ort zustrebt , an dem ein Fest stattfinden soll , an dem man teilnehmen möchte. Nonverbale , mimetische Ausdrucksformen wie Blicke , Gesten , unterschiedliche Körperhaltungen begleiten jede verbale Kommunikation. Die Verwendung unterschiedlicher folklorer rhythmischer Elemente in der Musik vermag Zusammenhänge herzustellen , die zu erzeugen die Bühne eines Theaters nicht imstande ist : Mit dem Erklingen eines Walzers entfaltet sich das Bild von Wien – aber auch die Vorstellung einer Hochzeit auf dem Lande. Durch einen Csárdás entsteht unmittelbar die Imagination einer ungarischen Tiefebene – oder vielleicht eines

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anderen Musikstücks , in dem ein Csárdás vorkommt. Mit dem Erklingen einer Polka kann eine böhmische Landschaft , aber ebenso ein Teil des Balletts am Ende des zweiten Aktes der Fledermaus von Johann Strauß erinnert werden. Und der Cancan in der Lustigen Witwe von Lehár ist nicht nur ein Signifikant für die Pariser Gesellschaft , er kann ebenso auf Jacques Offenbach verweisen , dessen Operette Pariser Leben dieser Tanz entlehnt ist. Die Konstrukteure einer authentischen Nationalkultur , die nur ein „Entweder – Oder“ kennen , haben mit solchen Mehrdeutigkeiten , mit diesem Entweder und Oder , große Schwierigkeiten. Zeichen oder Symbole , die gleichermaßen in mehreren Kommunikationsräumen vorkommen , müssen daher umgedeutet , umgeschrieben , zum Beispiel „ethnisch“ oder national codiert und unmissverständlich in einen „imaginierten nationalen Kontext“ inkludiert werden. Das heißt , Symbole , denen eine besonders repräsentative kommunikative Funktion zukommt , werden immer wieder vereinnahmt , um zu eindeutigen , „authentischen“ Repräsentationsverweisen einer Gesellschaft umfunktioniert zu werden. Spezifische kulturelle Konfigurationen , unterschiedliche kulturelle „Semiosphären“, werden durch das Konzept von Kultur als Kommunikationsraum nicht zugunsten einer vagen Transkulturalität aufgehoben. Vielmehr wird auf die dynamischen Interaktionen und auf die „offenen“, jedoch immer noch sichtbaren „Grenzen“ in und zwischen kulturellen Kommunikationsräumen geachtet. Differenzen , die sich beispielsweise aus dem Unterschied von konkreten , gesprochenen Sprachen ergeben und kulturelle Kontexte nachhaltig determinieren , können nicht einfach wegdiskutiert werden. „Ein Kennzeichen der Semiosphäre“, meint Jurij M. Lotman , „ist ihre Heterogenität. Die Sprachen innerhalb eines semiotischen Raumes sind ihrer Natur nach verschieden , und ihr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit.“39 Freilich können sich Individuen oder Gruppen auch in zwei oder in mehreren „Sprachen“ verständigen , das heißt , sie können sich gleichzeitig in unterschiedlichen oder in mehreren Kommunikationsräumen – nach Bronislaw Malinowski in „Institutionen“ – bewegen und gerade dadurch kommunikative Grenzen durch kontinuierliche Prozesse translatorischer Praktiken sprengen. Daher ist auch eine konkrete Sprache nicht das einzige differenzierende Merkmal , nicht primär identitätskonstitutiv , wie es die nationale Ideologie vorgibt. Vielmehr besitzt , nach Jurij M. Lotman , jede Kultur „Mechanismen für die Schaffung eines inneren Polyglottismus , und jede Kultur existiert realiter nur im Kontext anderer Kulturen , wobei die Beherrschung von deren Sprachen die

39 Lotman : Innenwelt des Denkens , S. 166 ( wie Anm. 30 ).

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Situation eines äußeren Polyglottismus schafft.“40 „Offene Grenzen“, Grenzen , die trennen und zugleich verbinden , werden also dadurch sichtbar und erfahrbar , dass sich Individuen und soziale Gruppen abwechselnd oder gleichzeitig in mehreren Kommunikationsräumen , in „äußeren Polyglottismen“ vorfinden. Freilich können sich Gruppen oder Personen auch innerhalb eines relativ homogenen sprachlichen Kontextes in differenten Kommunikationsräumen – zum Beispiel in differenten sozialen Schichten , also innerhalb eines inneren , nicht sprachlich determinierten Polyglottismus – vorfinden. Beide Formen des Polyglottismus verweisen auf gemischte , hybride Verfasstheiten , die nicht „rassisch“, ethnisch oder national definiert werden können. Weil diese eben nicht eindeutig , zum Beispiel „national“ zuzuordnen sind , gelten sie oft als dubios und verdächtig. „So gesehen ist offensichtlich“, meint Elisabeth Beck-Gernsheim , „daß diejenigen , die die Grenzen nationaler beziehungsweise kultureller Zuordnung sprengen , schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaftliches Ordnungsproblem darstellen. Sie sind der Störfaktor im gesellschaftlichen Getriebe , weil sie in den gewohnten , den einfachen und eindeutigen Kategorien sich nicht abbilden lassen.“41 Kultur als Kommunikationsraum ist also immer eine „hybride Melange“, sie bedeutet jedoch nicht „Multikulturalität“ als eine Totalmelange , in der Differenzen eliminiert werden beziehungsweise harmonisch koexistieren. Der Prozess der Hybridisierung erfolgt auch durch den Austausch mit anderen , bereits gleichfalls hybriden Kulturen. Die Grenzzonen , die zwischen den einzelnen kulturellen Kommunikationsräumen aufrecht erhalten bleiben , bedeuten Trennungen , sie markieren jedoch gleichzeitig auch Verbindungen. Trennungen vor allem durch die jeweils unterschiedlichen verbalen Sprachen , Verbindungen durch das Ineinanderfließen , das bewegte Vermischen von Zeichen und Symbolen. Individuen und soziale Gruppen befinden sich hier in dem einen als auch in einem anderen Kommunikationsraum , in einem Zwischenraum , einem hybriden „Dritten Raum“, mit der Möglichkeit und Notwendigkeit , sich in diesem offenen Grenzraum flexibel , abwechselnd oder gleichzeitig auf eine mehrfache Weise zu orientieren. Gerade ein solcher Grenzraum als „Dritter Raum“ widerlegt die Vorstellung von einer authentischen „Reinheit“ von Kulturen. Die Einführung dieses Raumes, meint Homi K. Bhabha , „stellt unsere Auffassung von der historischen Kultur als 40 Jurij M. Lotman : Zur Struktur , Spezifik und Typologie der Kultur , in : Jurij M. Lotman : Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur , hg. von Karl Eimermacher , Kronberg 1974 , S. 320–436 , hier S. 431. 41 Elisabeth Beck-Gernsheim : Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung , in : Ulrich Beck ( Hg. ): Perspektiven der Weltgesellschaft , Frankfurt a. Main 1998 , S. 125–167 , hier S. 127.

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einer homogenisierenden , vereinheitlichenden Kraft , die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht , sehr zu Recht in Frage.“42 Eine solche Einsicht hat noch weitere Konsequenzen. Personen und Gruppen können gemeinsame Erfahrungen haben und sich bedeutender Ereignisse der Vergangenheit gemeinsam , übereinstimmend erinnern. Sie können sich jedoch ihrer , selbst wenn sie derselben Gruppe angehören , auch in durchaus unterschiedlicher Weise erinnern. Das heißt , unterschiedliche Erinnerungen können nicht nur jene haben , die unterschiedlichen Kommunikationsräumen angehören , sondern auch jene , die sich in demselben sozial-kulturellen Kontext vorfinden. Geschichte wird folglich , im Sinne einer „shared history“43 oder der „histoire croisée“,44 insofern verflochten und mehrdeutig , als es über eine kollektive historische Erfahrung nicht nur die eine verbindliche Erinnerungsweise und die eine verbindliche historische Deutung beziehungsweise Erzählung ( im Singular ) gibt , sondern mehrere Erinnerungen , Geschichten beziehungsweise Erzählungen ( im Plural ), unterschiedliche , jedoch gültige Varianten von verhältnismäßigen Deutungen. Edward Said plädiert in diesem Sinne für die Akzeptanz mehrfach kodierter historischen Erzählung : „Es gibt viele verschiedene palästinensische Erfahrungen , die nicht alle in einer einzigen Geschichtsschilderung zusammengefasst werden können. Deswegen müsste man parallele Geschichten der Gemeinden im Libanon , den besetzten Gebieten und so weiter schreiben. Das ist das zentrale Problem. Es ist praktisch unmöglich , sich eine einzige Geschichtsschreibung vorzustellen.“45 Es sind dies Geschichten des Dazwischen , Geschichten von Zwischenräumen , Geschichten von Diasporen , die die reale Existenz von kontinuierlichen Migrationen , Mobilitäten und Überlappungen widerspiegeln. Die Analyse solcher mehrdeutiger kultureller Erfahrungen und Prozesse sollte daher , wie Clifford Geertz fordert , in erster Linie darin bestehen , „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen , diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“, und nicht „den Kontinent Bedeutung 42 Homi K. Bhabha : Die Verortung der Kultur , Tübingen 2011 ( 2000 ), S. 56. 43 Sebastian Conrad , Shalini Randeria : Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt , in : Sebastian Conrad , Shalini Randeria ( Hg. ): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kuturwissenschaften , Frankfurt–New York 2002 , S. 9–49. 44 Michael Werner , Bénédicte Zimmermann : Penser l’histoire croisée : entre empirie et réflexivité , in : Michael Werner , Bénédicte Zimmermann ( Hg. ): De la comparaison à l’histoire croisée , Paris 2004 , S. 15–49. 45 Salman Rushdie : Über die Identität der Palästinenser. Ein Gespräch mit Edward Said , in : ders. : Heimatländer der Phantasie , S. 200–220 , hier S. 214 ( wie Anm. 31 ).

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zu entdecken und seine nichtkörperliche Landschaft zu kartographieren.“46 Solche hybriden kulturellen Gemengelagen , solche kulturellen Transiträume sind nicht zuletzt die urbanen Milieus , in denen sich Personen bewegen , die aus unterschiedlichen Kommunikationsräumen stammen und sich nun in in einem neuen städtischen Kommunikationsraum vorfinden. Dies trifft freilich auch auf die Kulinarik in den Städten zu , die ein Abbild solcher hybrider Gemengelangen ist. Man kann hier die Beobachtung Rolf Schwendters nur bestätigen , der die Speisen und Essgewohnheiten in den Städten zu Recht als „Syntheseküchen“ apostrophiert hat.47 Es handelt sich hier insgesamt um grenzüberschreitende Prozesse , die zu Kreolisierungen ( auch von Speisen und Essgewohnheiten ) führen , in denen der regionale Polyzentrimus im Zentrum der Stadt gebündelt aufscheint , das Zentrum jedoch zugleich durch solche assimilatorische Tendenzen destabilisiert wird , was einem subversiven Protest gegenüber anscheinend stabilisierenden Machtkonstellationen entspricht. Wenn man sich von der Vorstellung frei zu machen versucht , Kultur im Sinne von Nationalkultur vornehmlich auf nationalstaatliche oder sogenannte ethnische Vorgaben zu reduzieren , wird eine Vielzahl von gegenläufigen Diskursen und Asymmetrien , zugleich jedoch auch von Vernetzungen und grenzüberschreitenden Prozessen sichtbar. Und diese prägen in der Realität das Bewusstsein von Individuen und sozialen Gruppen konkreter und nachhaltiger als künstlich implementierte nationale oder nationalpolitische Vorgaben. Kultur als Kommunikationsraum schließt ganz wesentlich auch ökonomische Aspekte mit ein. Kommunikatives „Verhalten“ zielt ursprünglich darauf ab , als Individuum in einer Gruppe und als Gruppe in einem weiteren sozialen Kontext biologisch zu überleben : „Das richtungweisende Motiv oder der Trieb war bei all dem zunächst der Wille zum biologischen Überleben“, meinte Malinowski.48 Und dies bezieht sich gerade in erster Linie auf die Kulinarik. Im Marx’schen Sinne könnte man die Elemente , Zeichen , Symbole und Codes , die in einem Kommunikationsraum zirkulieren , in einem übertragenen Sinne ebenso gut auch als Waren charakterisieren. Der „Fetisch“ dieser Waren besteht dann einerseits darin , dass sie sich einem übergreifenden gesellschaftlichen Kontext , gesellschaftlichen Vorgaben verdanken und diese reflektieren. Sie erweisen sich , wie Marx sich ausdrückt , „als sachliche Ver46 Clifford Geertz : Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur , in : ders. : Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme , Frankfurt a. Main ³1994 , S. 7–43 , hier S. 30. 47 Rolf Schwendter : Arme essen , Reiche speisen. Neuere Sozialgeschichte der zentraleuropäischen Gastronomie , Wien 1995 , S. 201. 48 Malinowski : Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur , S. 51 ( wie Anm. 24 ).

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hältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“49 Andererseits verlieren manche dieser Waren ihren ursprünglichen Gebrauchswert , ihren kommunikativen Tauschwert. Sie können in der kulturellen „Warenzirkulation“ überbewertet oder ideologisch aufgeladen werden , wie bestimmte Symbole , die zum Beispiel für die nationale Identitätsstiftung instrumentalisiert , also mit einem „realitätsfernen“, pathetischen Mythos umgeben werden. Sie wandeln sich also , wie Walter Benjamin meinte , zu „Phantasmagorien“. Dies hat weiterhin zur Folge , dass durch kulturelle Differenzen oder – wie oben angedeutet – die Konkurrenz von Kommunikationsräumen unterschiedliche sozial-ökonomische Realitäten nicht ausgeblendet werden : Kommunikationsräume werden von Individuen und Gruppen gebildet , die sich auch von ökonomischen und sozialen Zielvorstellungen leiten lassen. Kultur als Kommunikation beinhaltet die Konkurrenz von sich rivalisierenden Personen und Gruppen und hat daher auch Armut , Elend und Not von Menschen und Gruppen zur Folge. Dies betrifft auch Speisen oder Essgewohnheiten. Durch das Auftischen eines möglichst umfangreichen Menüs mit der Abfolge von erlesenen oder besonders teuren Speisen wird anderen gegenüber , die sich das nicht leisten können , ganz offenkundig Überlegenheit und Macht demonstriert. Kulturelle Prozesse sind folglich auch Prozesse der Repräsentation , der Machkonstruktionen im öffentlichen Raum , wobei es neben den Gewinnern immer auch Verlierer gibt. Dies zu thematisieren gehört ebenso zur Aufgabe eines reflexiven kulturwissenschaftlichen Argumentierens wie der Blick auf soziale Gruppen und Individuen , die in einem solchen Prozess sich ein ökonomisches und symbolisches Kapital anzueignen vermögen und auf solche , denen das nicht gelingt und die unterliegen. Kultur als ein performativer , dynamischer , ein im Lotman’schen Sinne von Grenzen durchzogener Kommunikationsraum , die nicht nur trennen , sondern stets auch verbinden , impliziert gleichermaßen , Kultur als ein komplexes System zu begreifen. Die Deutung solcher Komplexitäten erfordert , wie die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell gemeint hatte , einen „integrativen Pluralismus“ von Theorien , Methoden und Erkenntnisebenen. Die Thematisierung von Komplexitäten eröffnet Untersuchungsfelder , die vorher nicht beachtet wurden und impliziert eine pluralistische Herangehensweise , die sich nicht einzig von dem Modell Ursache – Wirkung leiten lassen kann. Daraus folgt weiterhin , dass es nicht nur einen Weg gibt , sondern dass es mehrere richtige , sich ergänzende Wege gibt , solche Komplexitäten zu analysieren , die sich 49 Vgl. Karl Marx : Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis , in : ders. : Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie , Bd. 1 , Berlin 1989 , S. 85–98 , hier S. 86.

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in analoger Weise auch im sozialen Bereich vorfinden.50 Überträgt man dieses Modell von Komplexitäten auf Kultur , dann gilt auch für kulturelle Phänomene und Prozesse , dass Ursache und Wirkung nicht eindeutig bestimmbar sind , dass beispielsweise die performative , dynamische Inklusion oder Exklusion von Elementen und Zeichen , die zu neuen , zuweilen unerwarteten performativen kulturellen Konfigurationen , Bricolagen vergleichbar ,51 führen , zwar wahrnehmbar sind , jedoch nicht auf nur eine Deutungsebene reduziert und von einer Deutungsebene aus erklärt werden können. Dies gilt auch für die Erforschung und Analyse von kulturellen Prozessen in der Vergangenheit. Und dies trifft auch auf kulturelle Kommunikationsräume insgesamt zu , wenn man sie unter der Perspektive von Komplexitäten beziehungsweise komplexen Systemen zu begreifen versucht. Demnach ist Kultur nicht einfach oder eindeutig , Kultur ist vielmehr stets mehrdeutig , dynamisch und performativ und eben komplex.

III. Komplexe kulturelle Prozesse lassen sich auf verschiedenen Ebenen auch empirisch nachweisen. Jurij M. Lotman zum Beispiel macht in einem solchen Zusammenhang auf die permanenten , dynamischen Veränderungen aufmerksam , denen die Mode ausgesetzt ist. Und nicht nur Georg Simmel oder Walter Benjamin , auch Roland Barthes bezieht sich auf die Mode , konkret : die Kleidung , als einem Signifikanten , der auf einen gesellschaftlichen Kontext , das Signifikat , weist ; er versucht damit die komplexen Abläufe innerhalb eines kulturellen Zeichensystems zu verdeutlichen , kultursemiotische Prozesse insgesamt sichtbarer werden zu lassen.52 Wie für die Mode gilt Ähnliches auch für Speisen und Essgewohnheiten. Sie können als kulturelle Mikroebenen angesehen werden , denn die Verschränkung beziehungsweise die „Kommunikation“ so unterschiedlicher wie zahlreicher Elemente beziehungsweise Zeichen – Substanzen , die für die Zubereitung einer Speise notwendig sind , sich in ihr verflechten und deren Konsistenz ausmachen – und nicht zuletzt deren kontinuierliche „kommunikative“ Verbreitung und Rezeption , deren mediale Konstruktion 50 Vgl. Niklas Luhmann : Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie , Frankfurt a. Main ³1988. 51 Claude Lévi-Strauss : Das wilde Denken , Frankfurt a. Main 91994 , S. 29–48. 52 Vgl. z. B. Georg Simmel : Philosophie der Mode ( 1905 ), in : Georg Simmel : Gesamtausgabe , hg. von Otthein Rammstedt , Bd. 10 : Philosophie der Mode u. a. , hg. von Michael Behr , Volker Krech und Gert Schmidt , Frankfurt a. Main 1995 , S. 7–40. Walter Benjamin : Mode , in : Benjamin : Passagen-Werk , S. 110–132 ( wie Anm. 33 ). Roland Barthes : Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann , Frankfurt a. Main 1985.

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durch Kochbücher oder Rezepte , die translatorische Praktiken voraussetzen , sind kulturellen Prozessen nicht nur vergleichbar , vielmehr sind sie ein kons­ titutiver Teil dieses Prozesses. Nicht nur die einzelnen Elemente , aus denen sich die Speisen zusammensetzen , sondern Speisen insgesamt sind nonverbale „Vokabeln“, mittels derer Individuen und Gesellschaften unter- und miteinander kommunizieren beziehungsweise sich zu erkennen geben. Sie sind Zeichen innerhalb eines komplexen kulturellen Zeichensystems , der Semiosphäre , die letztlich immer auch auf etwas Bezeichnetes ( Signifikat ), auf einen konkreten sozialen Kontext , auf das Selbstverständnis jener verweisen , die diese Speisen herstellen und sich mit ihnen identifizieren. Speisen und ihre Produktion sind daher nicht nur ein integraler Teil von Kultur , gerade ihre Analyse vermag in einem übertragenen Sinne ganz allgemein kulturelle Prozesse widerzuspiegeln. Oder anders ausgedrückt : Die Komplexität und Hybridität kultureller Prozesse lassen sich in der Tat verdeutlichen , wenn man sie in einen Vergleich setzt mit der Zubereitung von Speisen und mit der Vielfalt von Speisenabfolgen bei einem Mahl.53 Unterschiedliche Elemente und Zutaten , die für die Zubereitung einer Speise notwendig sind , gehen hier zwar eine Symbiose ein , sie werden aber dadurch keineswegs vollständig absorbiert oder beseitigt. Sie bleiben noch immer wahrnehmbar , zum Beispiel die Qualität des Fleisches oder die Art und Herkunft des Gewürzes. Speisenabfolgen , aus denen sich zum Beispiel das Menü einer typischen Wiener Küche zusammensetzt , sind nicht nur ein Spiegelbild der kulturellen Realität der zentraleuropäischen Region , sie sind gleichermaßen auch die Spuren und der Widerschein einer innerstädtischen Situation , die sich den Immigranten aus der Gesamtregion in die Stadt verdanken. Eine solche Speisenabfolge kann folglich als ein Kommunikationsraum im Kleinen bezeichnet werden. Speisen avancieren im Alltag zu wichtigen Symbolen , die im Bewusstsein präsent sind und deren kontinuierliche , erinnernde Aneignung – deren Verzehr – eine für die Individuen und für die Gesellschaft identitätsstiftende Funktion übernimmt. Auf die Relevanz dieses Sachverhalts verweist auch die konkrete Sprache , die sich Wörtern beziehungsweise einer reichen Metaphorik bedient , die direkt Speisen beziehungsweise dem Essen entlehnt sind : Schmecken , Geschmack , Duft , das Eingemachte , Schmoren , Versalzen , Versüßen , Verdünnen , schal , bitter , sauer , herb , süß , saftig usw. Einzelne Speisen repräsentieren darüber hinaus zumindest noch Folgendes : Erstens das „Ursprungsland“, die Genealogie , die Geschichte , aus dem beziehungsweise aus der sie entlehnt sind ( zum Beispiel die Kolatsche aus Böhmen beziehungsweise Mähren ). Speisen sind daher von transregionaler kommunikativer Bedeutung. Zweitens jene charakteristische Veränderung , die sie zum 53 Vgl. dazu Csáky : Gedächtnis der Städte , S. 109–111 ( wie Anm. 32 ).

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Beispiel in der diasporischen Situation des urbanen Milieus erfahren haben ( unter anderem die Veränderung des ungarischen „gulyás“ zur Wiener Gulaschsuppe beziehungsweise des „pörkölt“ zum typischen Wiener Gulasch ). Drittens das stets differente , als „einzigartig“ bezeichnete Produkt als das Ergebnis einer individuellen Zubereitungsweise durch einen Koch oder eine Köchin. Das hat zur Folge , dass die gleiche Speise immer etwas anders schmecken kann. Die Repräsentation ein und derselben Speise ist immer unterschiedlich , die „Identität“ ein und derselben Speise weist vielfältige Varietäten auf , weil ihr Konstrukt von konkreten , unter anderem von „translatorischen“ Reproduktionspraktiken abhängt. Viertens könnte man noch einen weiteren Aspekt von Speisen hervorheben , der kulturelle Prozesse zu verdeutlichen vermag. Kultur als ein offener Kommunikationsraum ist ein dynamischer , performativer Prozess , der keineswegs in einem abgegrenzten , abgezirkelten sozialen Kontext stattfindet. Vielmehr ist für kulturelle Prozesse charakteristisch , dass sie kontinuierlich „Fremdelemente“ aufnehmen , Fremdes „übersetzen“ beziehungsweise vereinnahmen. Speisen , die für die zentraleuropäische Region oder für ihre spezifischen subregionalen Räume charakteristisch sind , werden auf diese Weise kontinuierlich „übersetzt“, in andere kulturelle Konfigurationen integriert und zu Symbolen einer jeweiligen kulturellen Identität. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen : Das gefüllte Kraut , in seiner ursprünglichen ungarischen Variante als „töltött káposzta“ bekannt , ist in Wirklichkeit osmanischer Herkunft und für den gesamten südöstlichen Bereich der zentraleuropäischen Region typisch. Ähnlich verhält es sich mit einer traditionellen Teigware , der aus Mehl und Eiern zubereiteten „tarhonya“ ( die Bezeichnung entspricht dem ursprünglich türkischen „tarhana“ ) oder mit dem über Ungarn hinaus verbreiteten ( Kraut- )Strudel ,54 die ebenfalls osmanischer Provenienz sind. Der geriebene , scharfe rote Paprika , der seit dem 19. Jahrhundert für Ungarn als ein „nationales“ Symbol ausgegeben wurde , ist in der ungarischen bäuerlichen Küche freilich erst seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar und stammte aus den osmanisch besetzten Regionen des Balkans , man nannte ihn deshalb auf Ungarisch auch „török-bors“, das heißt „Türkenpfeffer“.55 Es wäre lohnend , die Alltagskultur inklusive der Essgewohnheiten und der Speisen Zentraleuropas , denen oft nachträglich sogar ein nationaler Repräsentationswert zugespro54 Ortutay Gyula ( Hg. ): Magyar Néprajzi Lexikon ( Ungarisches Volkskunde-Lexikon ), Bd. 5 , Budapest 1982 , S. 210 , S. 332–333. 55 Magyar Néprajz ( Ungarische Volkskunde ), Bd. 4 : Balassa Iván ( Hg. ): Életmód ( Lebensweise ), Budapest 1997 , S. 534. Vgl. auch István György Tóth : Hungarian Culture in the Early Modern Age , in : László Kósa ( Hg. ): A Cultural History of Hungary. From the Beginnings to the Eighteenth Century , Budapest 1999 , S. 154–228 , insbesondere S. 177–187.

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chen wurde , aus einer solchen „translatorischen“, „postkolonialen“ Perspektive eingehender zu untersuchen und sie dadurch einem dekonstruktivistischen Verfahren zu unterziehen. Denn die Relevanz , die Speisen als Identifikatoren zukommt , zeigt sich in der Tat gerade auch daran , dass sie seit dem 19. Jahrhundert zu ethnischen Stereotypen oder national codiert beziehungsweise instrumentalisiert wurden , wie , um auf ganz beliebige Beispiele zurückzugreifen , die Gulyássuppe oder das Pörkölt in Ungarn , die Borschtsch ( Barszcz ) in Russland ( oder Polen ), das Wiener Schnitzel und der Tafelspitz in Österreich , Pierogi oder Bigos und Żurek in Polen , Knedlíky v Prášku beziehungsweise Houskové Knedlíky in Tschechien , die slowakischen Bryndzové Halušky oder Brindzové Pirohy , die Ciorba in Rumänien , das Fleischgericht Čobanac und das Fischpaprikasch oder Čevapčići und Ražnjići in Slawonien beziehungsweise in Kroatien.56 „Wie der Wein“, meinte Roland Barthes in einem solchen Zusammenhang , mit Blick auf seine französische Heimat , „ist das Beafsteak in 56 Vgl. dazu u. a. Tobias Weger : Ethnische Stereotypen mit kulinarischem Beigeschmack. Lokale , regionale und nationale Bezeichnungen , in : Kalinke , Roth , Weger ( Hg. ): Esskultur und kulturelle Identität , S. 67–85 ( wie Anm. 1 ). Über die historische Herkunft „österreichischer“ Speisen informiert u. a. Franz MaierBruck : Das Große Sacher Kochbuch. Die österreichische Küche. Fachliche Beratung : Ernest Richter , Weyarn o. J. Susanne Breus : Einverleibte Heimat. Österreichs kulinarische Gedächtnisorte , in : Emil Brix , Ernst Bruckmüller , Hannes Stekl ( Hg. ): Memoria Austriae , Bd. 1. Menschen , Mythen , Zeiten , Wien 2004 , S. 301–329. Julia Danielczyk , Isabella Wasner-Peter ( Hg. ): „Heut’ muß der Tisch sich völlig bieg’n“. Wiener Küche und ihre Kochbücher , Wien 2007. Über die zentraleuropäische beziehungsweise k. u. k. Küche bieten manche Informationen die populären Darstellungen von Christiane Marie Magenschab : K & K Kulinarium. Ein Fest für Mitteleuropa. Mit Rezeptbeiträgen u. a. von Christiane Hörbiger , Agi Buchbinder , Traudi Reich-Portisch , Fritz Muliar und Alfons Dalma. Nachwort von Michael Reinartz. Photos von Pia Duesmann , Wien 1991 und Gerhard Tötschinger : „Wünschen zu speisen ?“ Ein kulinarischer Streifzug durch die Länder der österreichischen Monarchie. Geschichten und Gerichte , Wien 1996. Zur „böhmischen“ Küche vgl. u. a. das einschlägige Standardwerk aus dem 19. Jahrhundert von Magdalena Dobromila Rettig : Die Haus-Köchin , oder eine leichtfaßliche und bewährte Anweisung auf die vortheilhafteste und schmackhafteste Art die Fleisch- und Fastenspeisen zu kochen , zu backen und einzumachen [ … ] nebst vielen andern Sachen , Königgrätz–Prag ³1838 ( ursprünglich tschechisch : Magdaléna Dobromíla Rettigová : Donáčí kuchařka aneb Pojednání o masitých a postních pokrmech , 1826 ). Vgl. ferner Jana Hrušová , Libusa Janáčeková : Von Liwanzen , Kolatschen und Budweiser Biersuppe. Was die böhmische Köchin Blažena ihrer Herrschaft auf den Tisch gebracht hat , Wiesbaden 1978. Michael Korth , Eva Lechner : Schwejks Böhmisches Kochbuch , Frankfurt a. Main 2001.

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Frankreich ein Grundelement und mehr noch nationalisiert als sozialisiert.“57 Abgesehen von ihrem allgemeinen materiellen , das heißt biologischen Nutzen , erfahren also Speisen eine durchaus unterschiedliche , äußerst emotionale Wertschätzung , bis hin zu ihrer Mythisierung. Sowohl an der Zubereitung als auch am Endprodukt „Speise“ lässt sich der Ablauf kultureller Prozesse nicht nur ablesen , sondern gleichsam bildlich veranschaulichen. Speisen und deren Elemente können also jeweils verschiedenen lokalen , subregionalen sozial-kulturellen Kontexten entlehnt sein und sich gleichsam in Form einer „Zirkulation sozialer Energie“ auf eine Gesamtregion und über diese hinaus ausbreiten. Infolge solcher translatorischer Prozesse erfahren sie freilich Veränderungen , die mit den Augen und durch den Gaumen wahrnehmbar sind. Es entsteht also eine spezifische neue Speisenkonfiguration gegenüber der Herstellung in jenem gleichfalls bereits flexiblen , hybriden kulturellen Kontext , aus dem sie rezipiert wurden. Sie erfahren eine performative „Vermischung“, eine erneute Hybridisierung , indem sie sich zum Beispiel jeweils einem unterschiedlichen , konkreten „Geschmack“ angleichen , der seinerseits historisch beziehungsweise sozial und kulturell bedingt ist. Speisen sind Signifikanten , die auf ein Signifikat , auf einen ganz bestimmten gesellschaftlichen Kontext verweisen. Versteht man unter Kultur einen Kommunikationsraum , stellt sich Zentraleuropa als eine Region von von miteinander konkurrierenden und sich überlappenden Kommunikationsräumen dar. Ähnliches gilt für seine kleineren Subregionen , wie zum Beispiel Slawonien , das Hugo von Hofmannsthal bei der Konzeption des Textbuches für Arabella als „komplexen hybriden Vermittlungsraum zwischen Orient und Okzident“ besonders fasziniert hatte.58 Daraus folgt unter anderem , dass die Kommunikation im nonverbalen Bereich , also beispielsweise in der architektonichen Gestaltung , in der ( Populär- )Musik , in den Lebensgewohnheiten und letztlich auch in den Essgewohnheiten , zwar nicht gleich , jedoch immer ähnlicher wird. Dies betrifft vor allem die migrationsbedingten , von ethnisch-kulturellen und sprachlichen Heterogenitäten , das heißt von vielfachen Kommunikationsräumen geprägten urbanen Milieus. Doch trotz zahlreicher Unterschiede entstand hier gerade im nonverbalen Bereich , zum Beispiel im Bereich von Speisen- und Essgewohnheiten , auch ein allen verständlicher Kommunikationsraum ( man denke an die böhmischen Köchinnen in den bürgerlichen Haushalten Wiens im 19. Jahrhundert , durch 57 Roland Barthes : Beafsteak und Pommes frites , in : Roland Barthes : Mythen des Alltags , Frankfurt a. Main 1964 , S. 36–38 , hier S. 37. 58 Vgl. dazu Boris Previšić : Hofmannsthals „Arabella“ und die Mythologisierung Südosteuropas zwischen Orient und Okzident , in : Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne Bd. 19 , Freiburg i. Breisgau 2011 , S. 321–355 , hier S. 355.

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die viele Elemente der ländlichen böhmisch-tschechischen Küche zunächst erst als solche gekennzeichnet und dann zu einem festen Bestandteil einer urbanen Wiener Küche wurden ), eine „Metasprache“ gleichsam , die Erklärungen anbot , als Orientierung diente und zu einer identitätsstiftenden Funktion avancierte , die Differenzen zu akzeptieren wusste. Folglich blieb innerhalb eines solchen komplexen kulturellen Systems das wesentlichste unterscheidende Merkmal die konkrete verbale Sprache. Es ist daher nicht verwunderlich , dass einerseits kulturelle und politische Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Kommunikationsräumen – konkret : zwischen den von der nationalen Ideologie zunehmend politisch vereinnahmten Völkern ( Nationalitäten ) – in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie immer in Sprachenstreitigkeiten mündeten ( zum Beispiel in den Sprachenstreit um die Badenische Verordnung 1897 , die die Anerkennung des Deutschen und Tschechischen in der Verwaltung , die wechselseitige beziehungsweise gleichwertige Anerkennung von zwei verbalen Kommunikationsräumen , zum Ziele hatte ), nachdem die konkreten verbalen Sprachen als die am deutlichsten differenzierenden Merkmale durch den nationalen Diskurs instrumentalisiert , „nationalisiert“, für das „nationbuilding“ als „Nationalsprache“ in Anspruch genommen wurden , und dass andererseits die Sensibilisierung für Sprache hier , in einem mehrsprachigen Kontext , eine besonders wichtige Rolle spielte und Sprachkritik und Sprachskepsis zur Folge hatte. Eine solche Skepsis zeigte sich zum Beispiel bei dem Philosophen Bernard Bolzano zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder auch im Wittiko Adalbert Stifters , sie führte , verkürzt ausgedrückt , über Fritz Mauthner , Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein zu Robert Musil und letztlich zu Thomas Bernhard. Das heißt , die zentraleuropäische „Semiosphäre“ war von flottierenden Zeichen , Symbolen und Codes durchsetzt , die einerseits große Ähnlichkeiten aufwiesen und andererseits dynamische kulturelle Hybriditäten , „Third Spaces“ ( Homi K. Bhabha ) hervorbrachten. Ein solcher „Dritter Raum“, als ein verbindender „Grenzort“, zeichnet sich dadurch aus , dass in ihm Differenzen aufeinander treffen und , nicht zuletzt aufgrund der Aushandlung von spurenhaften „Ähnlichkeiten“,59 miteinander zu einer hybriden Gemengelage verschmelzen , ohne jedoch ihre ursprünglichen differenzierenden Merkmale völlig zu verlieren. Zeichen der Peripherie werden im Zentrum sichtbar , und umgekehrt werden vor allem vermeintliche ordnungs- und herrschaftskonstituierende „koloniale“ Symbole ( Elemente , Zeichen ) als eine verbindliche „Gram59 Vgl. dazu Anil Bhatti , Dorothee Kimmich , Albrecht Koschorke , Rudolf Schlögl , Jürgen Wertheimer : Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma , in : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36 ( 2011 ) 1 , S. 233–247 , hier S. 245.

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matik“ ( Jurij M. Lotman ) aus dem Zentrum in den peripheren Randgebieten , zuweilen unter Anwendung von politischer oder ökonomischer Gewalt , zur Geltung gebracht ( vgl. dazu unter anderem Joseph Roths Roman Das falsche Gewicht ). Ohne hier näher darauf eingehen zu können , sei im Anschluss an solche Überlegungen nur andeutungsweise auf analoge Prozesse im Zeitalter der Globalisierung hingewiesen. Nun handelt es sich nicht mehr um translatorische Phänomene in einem vornehmlich „räumlichen“ ( zum Beispiel Zentraleuropa ), sondern um solche in einem weltumspannenden kommunikativen Kontext , in welchem sich das Globale und das Lokale überschneiden , beeinflussen , vernetzen und – vergleichbar dem „Dritten Raum“ – „Globalisierung“ zur Folge haben , was bedeutet , dass Elemente des Globalen im Lokalen sichtbar werden , dieses performativ mitbestimmen und in ihm die Fragmentiertheit der „Übermoderne“, der surmodernité ,60 zur realen Erfahrung werden lassen. Die Wiener Gulaschsuppe ist , wie ich bereits angedeutet habe , einem „ungarischen“ Kontext entlehnt , durch ihre spezifisch neue , kulturell bedingte variable Zubereitungsweise erfährt sie in andere soziale Kontexte übertragen ihrer ursprünglichen Herstellung gegenüber eine merkliche Veränderung. Ganz ähnlich verhält es sich beispielsweise mit der Herstellung von Piroggen , die in weiten Teilen der zentraleuropäischen Region ( zm Beispiel die „Kasnudeln“ oder Fleischnudeln in Kärnten oder die Bryndzové Pirohy in der Slowakei ) in einer unterschiedlichen Herstellungsweise , zunächst wohl als „Arme-Leute-Essen“,61 Verbreitung fanden und von denen vermutlich nur schwer festzustellen sein wird , woher sie ursprünglich stammen. Solche kulturellen Diffusionen folgten einem Muster , das auch im Bereich der Volksmusik nachweisbar ist. Béla Bartók hat dazu bemerkt , dass durch die Rezeption eines bestimmten Volksliedes durch verschiedene Völker zwar deren Melodik oder deren Rhythmus modifiziert beziehungsweise adaptiert werden kann , dass aber ein und dasselbe Volkslied auch bei verschiedenen Völkern der Region unverändert vorzufinden wäre , was sich „irgendeinem osteuropäischen internationalen musikalischen Jargon“ verdanken könnte.62 Mit den Speisen verhält es sich ganz ähnlich. Erkenntnisse aus einer kulturwissenschaftlichen Analyse von Speisen und ihren Elementen , die grenzüberschreitend hin und her flottieren , zirkulieren , kontinuierlich variieren und 60 Vgl. Marc Augé : Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité , Paris 1992. Deutsch : Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff , München ³2012. 61 Vgl. dazu u. a. Schwendter : Arme essen ( wie Anm. 47 ). 62 Zit. in Dobossy László : A keleteurópai irodalmak összehasonlító vizsgálatának tanulságaiból ( Lehren aus einer vergleichenden Untersuchung der osteuropäischen Literaturen ), in : ders. : Két haza között. Esszék , tanulmányok ( Zwischen zwei Heimatländern. Essays , Studien ), Budapest 1981 , S. 313–338 , hier S. 331.

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sich verändern , könnten daher ein Beispiel dafür sein , dass nicht nur kulturelle Prozesse im Allgemeinen sich nationalen Abgrenzungen prinzipiell verschließen , sondern dass analog dazu auch eine Analyse von historischen Prozessen – wenn man sie aus dem künstlichen nationalen Korsett zu befreien versucht und unter einer kulturellen , das heißt kommunikativen Perspektive in den Blick nimmt , Nationalgeschichte , die ja historisch gesehen erst neueren Datums ist und mit deren Begrifflichkeit sich daher gesellschaftliche Prozesse früherer Jahrhunderte oder einer globalisierten Welt in der Gegenwart nicht adäquat analysieren lassen – fragwürdig , wenn nicht obsolet erscheinen lässt , vor allem dann , wenn man bedenkt , dass auch Nation und Nationalkultur keine in sich geschlossenen , homogenen Gebilde darstellen , wie es das nationale Narrativ vorgibt , sondern von Differenzen , Brüchen und Heterogenitäten bestimmt werden. Dies lässt sich auch an Speisen verdeutlichen. Ich habe bereits darauf hingewiesen , dass selbst die Herstellung ein und derselben Speise in einem gleichen sozialen , oder wenn man so will , in einem „homogenen nationalen“ Kontext unterschiedlich sein kann und sich der „Kunst“ jener verdankt , die sie herstellen. „Die gleichen Speisen schmecken verschieden bei jedem Koch“, hat Walter Benjamin im Zusammenhang mit der neapolitanischen Küche festgestellt , „nicht aufs Geratewohl wird verfahren , sondern nach erprobten Rezepten. Wie im Fenster der kleinsten trattoria Fische und Fleisch vor dem Begutachtenden aufgehäuft liegen , darin ist eine Nuance , die über die Forderung der Kenner hinausgeht.“63 Die Zubereitung von Speisen von ihrem rohen in ihren gekochten Zustand entspricht folglich dynamischen , performativen Prozessen , sie verdankt sich der Verschränkung zahlreicher Elemente , vielfältiger Ingredienzien , und ihr Endprodukt kann insofern als hybrid bezeichnet werden , als die einzelnen Elemente in ein und derselben Speise zwar zu einer spezifischen Einheit verschmelzen , jedoch als differente Einzelelemente immer noch – vor allem geschmacklich , oder in Bezug auf ihre Färbungen und ihre Düfte – wahrgenommen werden können , durchaus vergleichbar und in Analogie zu einem komplexen , hybriden Kommunikationsraum. Insofern könnten Speisen als kulturelle Kommunikationsräume im Kleinen angesehen werden. Walter Benjamin , der sich als Journalist ausführlich mit Speisen und Essgewohnheiten auseinandergesetzt hat ,64 bemerkte dazu in dem Essay Gedanken zu einer Analysis des Zustands von Mitteleuropa : „Die Basis oder conditio sine qua non jeden Wohlgeschmacks ist das Herausschme63 Walter Benjamin : Neapel , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , hg. von Rolf Tiedemann , Hermann Schweppenhäuser , Bd. IV / 1 : Kleine Prosa , Baudelaire-Übertragungen , hg. von Tillman Rexroth , Frankfurt a. Main 1991 , S. 314–315. 64 Vgl. u. a. Walter Benjamin : Denkbilder : Essen , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , Bd. IV / 1 S. 374–381 ( wie Anm. 63 ).

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cken einer oder mehrerer bestimmter Substanzen aus der Mischung. Die echte Mischung muß nun so komponiert sein , daß von der einen oder auch den mehreren Substanzen , die überhaupt distinkt geschmeckt werden , gleichsam nur die Geschmacksgipfel über die Schwelle des Totalgeschmacks hervorragen.“ Dem gegenüber wären die Gerichte der Gegenwart freilich oft so zubereitet , daß der Totalgeschmack nicht schwebend über den Geschmacksgipfeln der singulären Substanzen sich hält ( wobei dann „mächtiges Überraschen“ beim „Wiederfinden“ eines bekannten Geschmacks in diesem Elysium stattfindet ) sondern so , daß der Totalgeschmack unterhalb der Basis der singulären Geschmackpyramiden liegt , d. h. also im Brei , im Mus , in der Tunke ( wobei dann das Herausschmecken eines Einzelgeschmacks von dem Gefühl der Erleichterung begleitet wird , mit welchem wir etwa einem befreundeten Halunken in der Hölle begegnen würden ).65

Speisen betreffen freilich nicht nur den Geschmack , sie werden mit den Augen betastet , man kann sie mit den Fingern berühren , man riecht sie und atmet ihr Aroma ein , man schmeckt sie schließlich wenn man sie in den Mund nimmt und genießt sie während ihres Verzehrs – ein „multipler“ Speisenverzehr , auf den auch Walter Benjamin auf seiner Weise aufmerksam macht : Wie wenig wißt ihr von der Magie der Speise , und wie wenig wußte ich selbst davon bis zu dem Augenblick , von dem ich hier spreche. Dies zu schmecken war gar nichts , war nur der entscheidende , geringfügige Übergang zwischen jenen beiden : erst , es zu riechen , dann aber , davon gepackt , gewalkt zu werden , ganz und gar , von Kopf zu Fuß , von dieser Speise durchgeknetet , von ihr wie von den Händen [ … ] ergriffen , gepreßt und mit ihrem Safte [ … ] eingerieben zu werden.66

Es finden sich in Speisen Spuren von verschiedenen Elementen , und der Verzehr der Speisen macht solche Spuren als „Erscheinung[ en ] einer Nähe , so fern das auch sein mag , was sie hinterließ[ en ]“67 durch die Sinne erfassbar. „Solche Produkte“ sind nicht Auswüchse überfeinerter Kulturen , wie man an65 Walter Benjamin : Gedanken zu einer Analysis des Zustands von Mitteleuropa , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Bd. IV /  2 : Kleine Prosa , Baudelaire-Übertragungen , hg. von Tillmann Rexroth , Frankfurt a. Main 1991 , S. 916–935 , hier S. 922. 66 Walter Benjamin : Pranzo caprese , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , Bd. IV / 1 S. 379 ( wie Anm. 62 ). 67 Benjamin : Passagen-Werk , S. 560 ( wie Anm. 33 ).

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gibt, so Walter Benjamin , „sondern bilden schon den Urbestand aller volkstümlich lokalen Ernährungsweisen , die durch Jahrhunderte sich forterben.“68 Speisen können sich insofern auch zu „Gedächtnisorten“ verdichten und unabhängig von ihrer historischen Dimension , auf die Benjamin verweist , im Sinne von Marcel Proust unwillentliche Erinnerungen ( mémoires involontaires ) hervorrufen. Speisen könnten daher auch mit Palimpsesten verglichen werden , die über- und untereinander geschichtete Spuren unterschiedlicher Geschmacks- und folglich Erinnerungsschichten aufweisen , welche dann , wie im Roman À la recherche du temps perdu , zum Beispiel beim Genuss der „Petites Madeleines“ mit einer Tasse Tee , plötzlich sichtbar und gegenwärtig werden.69 Speisen und Getränke weisen also den Sinnen zunächst entrückte „Spuren“ auf , die nun bei ihrem Verzehr , im Akt eines plötzlichen „Erwachens“ ( Walter Benjamin ), Assoziationen , das heißt Erinnerungen an Erlebnisse , an Personen oder Orte ins Bewusstsein , also in eine subjektive Gegenwart treten lassen , denn , so Proust , „all das , was nun Form und Festigkeit annahm , Stadt und Gärten , stieg aus meiner Tasse Tee“.70 Oder anders ausgedrückt : Doch wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert , nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge , dann verharren als einzige , zarter , aber dauerhafter , substanzloser , beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack [ Hervorhebung M. Cs. ], um sich wie Seelen noch lange zu erinnern , um zu warten , zu hoffen , um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfaßbaren Tröpfchen , ohne nachzugeben , das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.71

In Anspielung an Prousts Madeleine-Erlebnis ist wohl folgende Beobachtung Walter Benjamins aus Café crème zu verstehen : „Und was nimmst du mit diesem Kaffee nicht alles zu dir : den ganzen Morgen , den Morgen von diesem Tag und manchmal auch den verlorenen des Lebens.“72 Sollte ein solcher Vorgang , fragt Walter Benjamin in einem anderen Zusammenhang , als ein Akt der Erinnerung

68 Benjamin : Mitteleuropa , S. 922 ( wie Anm. 51 ). 69 Marcel Proust : Auf der Suche nach der verlorenen Zeit , 1. Unterwegs zu Swann. Marcel Proust , Frankfurter Ausgabe Werke II , Bd. 1 , hg. von Luzius Keller , Frankfurt a. Main 42002 , S. 66–71. 70 Proust : Auf der Suche , S. 71 ( wie Anm. 69 ). 71 Proust : Auf der Suche , S. 70 ( wie Anm. 69 ). 72 Walter Benjamin : Essen. Café crème , in : Walter Benjamin : Gesammelte Schriften , Bd. IV / 1 , S. 375 ( wie Anm. 62 ).

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die Synthesis sein aus der Thesis des Traumbewußtseins und der Antithesis des Wachbewußtseins ? Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem „Jetzt der Erkennbarkeit“, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene aufsetzen. So ist bei Proust wichtig der Einsatz des ganzen Lebens an der im höchsten Grade dialektischen Bruchstelle des Lebens , dem Erwachen. Proust beginnt mit einer Darstellung des Raums des Erwachenden.73

Dieses „Erwachen“ ist ein Moment , in dem ein weites Land von Erinnerungen sich plötzlich aus dem traumhaften Unbewussten in das Bewusstsein drängt. In diesem Augenblick ist es auch möglich , „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.“74 Ähnlich umschrieb es bereits Friedrich Nietzsche , der in der erinnernden Aneignung der Vergangenheit , in der Historie , nicht „den allgemeinen Gedanken , als einer Art von Blüthe und Frucht“ gelten lassen wollte , sondern , indem er ein Beispiel aus der Musik bemühte , ihren Wert gerade darin erblickte , „ein bekanntes , vielleicht gewöhnliches Thema , eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben , zu erheben , zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn , Macht und Schönheit ahnen zu lassen.“75 Ließe sich Ähnliches nicht auch über Speisen sagen ? Denn abgesehen von Speisen als Gedächtnisorten , abgesehen von der Proust’schen und Benja­min’­ schen Koinzidenz von Speisen und Erinnerungen , die ein Essen zu einem an­ge­nehmen , überwältigenden Fest , aber zuweilen auch zu einem beängstigenden Erlebnis werden lassen kann , eröffnet eine kulturwissenschaftliche , dekonstruktivistische Analyse von Speisen einen guten Einblick in das Regelwerk von ganz allgemeinen Abläufen kommunikativer kultureller Praktiken. Speisen sind Signifikanten , sie beziehen sich auf den gesamten Background des sozialen und kommunikativen „Totalgeschehens“ eines Signifikats. Speisen sind also Zeichen , die auf etwas Bezeichnetes verweisen , nämlich auf jenen umfassenden sozio-kulturellen Kontext , dem sie sich letztendlich verdanken. So oder ähnlich , wie es der aus Marseille gebürtige Schriftsteller Jean-Claude Izzo einmal so treffend metaphorisch umschrieben hatte : „Wenn ich esse , dann liebe ich es zu spüren , wie Marseille unter meiner Zunge vibriert.“76 73 74 75 76

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Benjamin : Passagen-Werk , S. 579 ( wie Anm. 33 ). Benjamin : Passagen-Werk , S. 575 ( wie Anm. 33 ). Nietzsche : Vom Nutzen und Nachtheil , S. 292 ( wie Anm. 36 ). Jean-Claude Izzo : Mein Marseille. Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié. Mit Fotografien von Edwin Ganett , Zürich 2010 ( 2003 ), S. 29.

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Jennifer A. Jordan

INVESTIGATING THE EDIBLE POINTS OF INQUIRY IN THE STUDY OF FOOD, CULTURE, AND IDENTITY

Introduction I have long been interested in the tensions between remembering and forgetting , and between memory and materiality.1 My investigations of heirloom food ­came about in part by observing puzzles in the landscape – little apple trees meticulously labeled to convey the local history , or gardens serving as archives of old seeds , or unpruned and century-old fruit trees covered in white blossoms in the midst of suburban subdivisions. As the other essays in this volume so clearly demonstrate , food operates not only as physical sustenance , but also as a symbol , as a code , as identity. It is constitutive of place , but also constituted by place. And food settles into landscapes , habits , and memories over expanses of time both large and small. The meanings and uses of food are also spectacularly changeable over the longue durée , and yet few things in this life are as resolute and true as our tastes – and distastes – for particular foods. This may seem like unusual terrain for a sociologist , but it is a field rich in social activity. Memory , meaning-making , politics , economics , transformations of physical landscapes and cultural practices all shape , and are shaped by , culinary and agricultural worlds. Following Griswold , it is possible to ask both what food means and what it does.2 Over the years of researching tomatoes and turnips , apples and artichokes , I have found several consistent processes involved in these interactions. The links between food , culture , and identity happen in concrete places , and over measurable expanses of time , in patterned but also under-determined ways. In particular , I find the notions of the edible heirloom , remembering and forgetting , gastronomic palimpsests , and imagined culinary communities to be particularly helpful in this context , and I will expand on these ideas below. Culture reveals itself to be both stalwart and malleable. Paying attention to these processes may also prove useful in investi1

Jennifer Jordan : Structures of Memory : Understanding Urban Change in Berlin and Beyond , Stanford : Stanford University Press , California 2006 ; Jennifer Jordan : Landscapes of Memory , in : History and Memory 22/2 ( 2010 ) p. 5–33. 2 Wendy Griswold : The Sociology of Culture : Four Good Arguments ( and One Bad One ), in : Acta Sociologica 35 ( 1992 ) p. 323–328 , here p. 327.

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gating other connections between food , culture , and place , and indeed in the process of investigating culture more broadly.

Edible Heirlooms In the later decades of the twentieth century , a new idea about vegetables , fruit , and livestock began to emerge in Europe and the United States. Tomatoes that were once simply tomatoes began to be described – and understood and experienced – as heirlooms , or alte Sorten , tomates anciennes , or légumes oubliés , as something precious handed down from one generation to the next.3 This reconceptualization of something once mundane and everyday as precious and set apart affected not only tomatoes but also apples and grain , chickens and cattle. It also presented , for me , a sociological puzzle. Such ultimately peri­ shable plants and animals came to be conceived of as something that can be handed down across generations. This change in meaning also leaves its traces in the social and material landscape. My research into food really began with tomatoes , with an attempt to understand how we could even begin to think of a tomato as an heirloom , how something so perishable could also be understood as a valuable object to be handed down from one generation to the next.4 The heirloom tomato as a cultural object has its origin in countless gardens across the USA. But by 2006 the heirloom tomato had also taken on a symbolic weight as a marker of status , evidenced first in its appearance on the menus of expensive restaurants and at substantial prices in farmer’s markets , then for $7 a pound at Whole Foods and other specialty markets , and imported from Mexican hothouses in February. There was a marked transformation of an heirloom tomato from something humble and off the beaten path to an often expensive status symbol. Tomatoes moved across the globe in the wake of the Columbian Exchange , as seeds in the pockets of sailors or in the holds of Spanish ships returning from the shores of Central America , vital parts of global transfers of appetites and genetic material.5 Once tiny fruits on Andean plains , then important ingredients in Aztec cooking pots , when tomatoes arrived in Europe many peo3

Evelyne Bloch-Dano : La Fabuleuse histoire des légumes , Paris : Grasset & Fasquelle 2008. 4 Jennifer Jordan : The Heirloom Tomato as Cultural Object : Investigating Taste and Space , in : Sociologia Ruralis 47/1 ( 2007 ) p. 20–41. 5 Sophie D. Coe : America’s First Cuisines , Austin : University of Texas Press 1994. Charles C. Mann : 1493 : Uncovering the New World Columbus Created , New York : Knopf 2011. Jessica B. Harris : High on the hog : a culinary journey from Africa to America , New York : Bloomsbury 2011. James C. McCann : Maize and

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ple believed them to be toxic due to their relation to the deadly nightshade , or at the very least were offended by the pungent smell of their foliage and the dangerously seductive appearance of their fruit.6 However they eventually became quite beloved , and indeed essential culinary traditions around the world but far away from their American origins. Imagine Italian , Spanish , or West African cooking without the presence of tomatoes. In the United States , tomatoes began to be a more widespread element of the national cuisine in the mid 19th century , but until the mid-twentieth they were still largely consumed from local farms and in season – or else , of course , in cans and jars. But there was still a wide array of tomatoes being grown , better-suited to local growing conditions than to cross-country transport. In the mid-twentieth century , however , tomato production shifted significantly to larger scale agriculture , the use of hybrid ( rather than open-pollinated ) varieties , and more emphasis on uniformity and transportability than flavor and biodiversity. The wide array of tomatoes began to disappear , replaced by reliable predictability in grocery stores – and arguably a loss of flavor and texture.7 However farmers and gardeners in the United States were saving seed all along. But the fruits of these seeds became increasingly popular with restaurant-goers and shoppers beginning in the 90s and expanding exponentially.8 A combination of structural changes ( increasing industrial farming on the one hand , and the turn to organic , local and “authentic” food experiences on the other ) as well as the activities of individual activist chefs and seedsavers has led to the tomatoes’ emergence in a broader arena of consumption. Both elites and seedsavers are motivated by pleasure , albeit pleasure in multiple forms – the visual feast of a plateful of jewel-coloured tomato slices , the satisfaction of roGrace : Africa’s Encounter with a New World Crop , 1500–2000 , Cambridge , Mass. : Harvard 2005. 6 Andrew F. Smith : The Oxford companion to American food and drink , New York : Oxford University Press 2007. 7 This story is greatly truncated here , but elements of it are told very well by Andrew Smith ( The Tomato in America : Early History , Culture , and Cookery , Champaign : University of Illinois Press 2001 ) and Barry Estabrook ( Barry Estabrook : Tomatoland : How Modern Industrial Agriculture Destroyed our Most Alluring Fruit , Riverside New Jersey : Andrews McMeel Publishing 2012 ). See also Jordan : “The Heirloom Tomato as Cultural Object” ( as in Note 4 ); Kurt Michael Friese , Kraig Kraft , and Gary Nabhan : Chasing chiles : hot spots along the pepper trail. White River Junction , Vermont : Chelsea Green Pub. 2011. Virginia D. Nazarea : Local Knowledge and Memory in Biodiversity Conservation , in : The Annual Review of Anthropology 35 ( 2006 ) p. 317–35. 8 Jordan : The Heirloom Tomato as Cultural Object ( as in Note 4 ).

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bust tomato plants , self-dried tomatoes eaten in the dark of February , or the satisfaction of ordering something so lovely at a restaurant where it is almost impossible to get a reservation. But the tomato’s adoption by elites does not make it inaccessible to its original caretakers. The growing taste for heirloom tomatoes among elites opens up new spaces of consumption ( high-end restaurants , farmer’s markets and grocery stores ) and production ( whether in smaller organic farms in the Midwest or larger industrial greenhouses in northern Mexico ) for the heirloom tomato.9 While the tomato did become prohibitively expensive in the U. S.’s elite restaurants , and off-season in gourmet supermarkets , this popularity among well-heeled eaters did not mean that fewer heirloom tomatoes were available to the rest of the populace. In fact , due to the popularity of the seed , and the dramatic increase in the popularity of groups and companies like the Seedsavers Exchange , Baker Creek , and Seeds for Change , the seed for heirloom tomatoes became more rather than less accessible , and people who were gardening all along – in rural backyards or urban allotments – could now access an even broader array of edible biodiversity , tomato and otherwise. A change in tastes coincided with a very grassroots saving of seeds , and in fact helped to contribute to overall tomato biodiversity. The heirloom tomato emerged as a symbol of elite status in the pages of popular magazines and newspapers by the early twenty-first century. But the act of “distinction” and the marketplace in which it happens are spatially demarcated and do not interfere with the access of non-elites to the object. A tomato becomes an heirloom over time , and its meaning changes significantly , which also changes its physicality. This kind of memory has been responsible for pulling many plant and animal species and varieties back from extinction. The meanings of particular foods change dramatically over time , and these changes in meanings also have significant consequences for biodiversity , and for the social and material world. The heirloom tomato is nested in the intersection of macro-level shifts – industrial agriculture , species loss , the development of GMOs , efforts to preserve biodiversity , the Slow Food movement and a broader turn to organic , local and seasonal foods , and micro-level practices – dining out , gardening , shopping , cooking , and newspaper reading. These broader factors contribute to taste-making , but taste in turn leaves its mark on social and physical landscapes. In the phenomenon of the heirloom , taste shapes the world. Appetites for the flavors and stories of heirloom foods lead both to their preservation by farmers and gardeners off the beaten path , and to their pursuit by urban diners and shoppers – all of which contributes to the preservation of edible biodiversi9 Estabrook : Tomatoland ( as in Note 7 ).

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ty. Bourdieu calls upon us to take breakfast ( and other meals ) seriously as sites of cultural practice and sociological inquiry.10 A meal as intimate as breakfast can reveal the depth of the habitus – unspoken , automatic , a driver of desires , appetites , and deep-set habits. Appetites and tastes are handed down from one generation to another. But like other cultural practices , great changes or slight adjustments may take place in this process , the workings of both continuity and change. Heirloom status , for example , is just the most recent phase in centuries , even millennia of changes in the uses and meanings of tomatoes.

Remembering and Forgetting In my earlier research on real estate and memory in post-1989 Berlin , my investigations revealed ( unintentionally ) the importance of studying forgetting alongside remembering.11 Yet I somehow forgot ( ! ) to look for forgetting as I embarked on my research about food. This kind of forgetting involves the loss of appetites , tastes , habits , ingredients , tools , and techniques. One day in the library at the Universität für Bodenkultur in Vienna on a cold winter day , snow falling steadily in the empty courtyard outside the great walls of windows , I read through stacks and stacks of books on fruits and vegetables. One very small book described seven estates in the eastern German county of Prignitz.12 Skimming along through the detailed accounts , I paused when I came across the description of a single apple tree in the garden of a former country estate – the tree abandoned , unloved , unnecessary. Its size reflected its great age ( not because apple trees grow significantly larger with age , but because newer trees tend to be planted on rootstock that produces shorter trees ). The disarray of its limbs reflected decades of neglect , and thus the absences of anyone’s urgent need for the sweetness of its fruit in an era of global transport and year-round apple availability , not to mention the ubiquity of all forms of sweetness.13 This abandoned apple , in an instant , made clear the inseparability of memory and forgetting in the study of food , and of memory and 10 Pierre Bourdieu : Distinction : A Social Critique of the Judgement of Taste , Cambridge , Mass. : Harvard 1984. Also see Josee Johnston and Shyon Baumann : Foodies : Democracy and Distinction in the Gourmet Foodscape , New York : Routledge 2009. 11 Jordan : Structures of Memory ( as in Note 1 ). 12 Bernhard von Barsewisch and Torsten Foelsch : Sieben Parks in der Prignitz : Geschichte und Zustand der Gutsparks der Gans Edlen Herren zu Putlitz , Berlin : Bäßler 2004. 13 Sidney Mintz : Sweetness and power : the place of sugar in modern history , New York : Penguin Books 1986.

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biodiversity in particular. When we are talking about the genetic codes for the foods we are talking about the loss of biodiversity. Apples originate in Kazakhstan , but found their way westward via Persians and Romans , Benedictine monks and Victorian gentlemen orchardists.14 Today apples also appear in intentionally “remembered” ways – historically accurate , linked to the histories of particular people and places , outdoor museums and arboreal archives.15 Take , for example , two gardens in northwestern England – Acorn Bank , and the William Wordsworth House.16 A fruit originally from the foothills of the Tian Shen mountains becomes a marker and conduit of memory , and a communicative tool for representing particular elements of the past. At Acorn Bank , the walled garden includes an herb garden and a little greenhouse on a spot that may have held a greenhouse before as well. Some fruit trees , a heated wall , this definitely seemed like one of those smaller sections of a walled garden necessary for more delicate plants. A bigger section of the walled garden now has fruit trees , standard varieties planted in the early 1970s , and beyond that there is an orchard with newer older trees – that is , more recently planted , but older varieties than those found in the old orchard. And beyond that wall , beyond the beehives , the remnants of the real orchard of the house , stretching out into fields. In the courtyard of this stately home , we encountered a sheep farmers’ wife , sitting at a table full of apple tree cuttings , making scions like she was born to do it. I could have talked to her for hours ( we all could have ), so in love with apples. As she pointed out , standing in front of a table full of scions , in some 14 Michael Pollan : The botany of desire : a plant’s eye view of the world , New York : Random House 2001. Erika Schermaul : Pardiesapfel und Pastorenbirne : Bilder und Geschichten von alten Obstsorten , Ostfildern : Thorbecke 2005. Christopher Stocks : Forgotten fruits : the stories behind Britain’s traditional fruit and vegetables , London : Windmill 2009. Henry David Thoreau : Wild Apples and Other Natural History Essays , Athens /  GA : University of Georgia Press 2002. Willi Votteler : Altbewährte Apfel- und Birnensorten , München : Obst- und Gartenbauverlag des Bayerischen Landesverbandes für Gartenbau und Landespflege 2008. Erika Janik : Apple : A Global History , London : Reaktion 2011. Edward A. Bunyard : The anatomy of dessert : with a few notes on wine , New York : Modern Library 2006. 15 Aleida Assmann : Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses , München : C. H. Beck 1999. Aleida Assmann : Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik , München : C. H. Beck 2006. 16 http://www.nationaltrust.org.uk/Acorn-bank/ , accessed : April 2 , 2013 ; http:// www.nationaltrust.org.uk/wordsworth-house/?p=1356312075851 , accessed : April 2 , 2013.

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ways you can credit the return of heirloom apples to the insipid Golden Delicious – this , to her , deeply unsatisfying apple prompted the search for more flavor and diversity. And she is not searching these apples out with any kind of snobbery in the background , but rather a deep love of the variety they afford. She also told us that the orchards were used for lambing ( ! ) a warm safe place for the ewes and their lambs. These uses disappear – how many orchards are used for lambing today ? Across the valley , Wordsworth House seeks to recreate a garden much like what a young William Wordsworth would have seen out of his window in the late 18th century. They have planted – among other traditional apple and pear varieties , vegetables , and medicinal herbs – a Greenup’s Pippin ( 1790 ), a Lancastrian apple , also known as Yorkshire Beauty , Cumberland Favourite , Counsellor , or Red Hawthorden.17 In the northern counties [ Greenup’s Pippin ] is a popular and highly-esteemed variety , and ranks as a first-rate fruit ; it is in use from October to December. [ … ] When grown against a wall , as it sometimes is in the North of England and border counties , the fruit attains a large size , and is particularly hand­ some and beautiful [ … ]. This was discovered in the garden of a shoemaker , at Keswick , named Greenup , and was first cultivated by Clarke and Atkinson , nurserymen at that place , in the end of last century. It is now much grown throughout the Border counties , and is a valuable apple where the choicer varieties do not attain perfection.18

Today , however , many of us have never learned ( a nd the broader culture has largely forgotten ) how to grow such locally successful apples – nor have we learned how to store , process , and enjoy the wide array of apple flavors and textures once found around the globe. These trees , too , are both deeply global – the end results of empires and transfers on an epic scale – and so local that they become ideally suited to growing on particular garden walls in particular English counties. These tensions between remembering and forgetting shape far more than apples , influencing kitchen gardens , farms , and orchards across the continent

17 http://www.nationaltrustimages.org.uk/image/166361 , accessed : April 2 , 2013. 18 http://chestofbooks.com/gardening-horticulture/Robert-Hogg/The-Fruit-Manual-Great-Britain/Apples-Part-77.html “The Fruit Manual : Containing The Descriptions And Synonyms Of The Fruits And Fruit Trees Of Great Britain ,” by Robert Hogg.

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and indeed around the world.19 The landscape of European , and indeed global , gardens is deeply instructive , including those that are forgotten. Gardens , orchards , farms and fields all vanish from the face of the earth as they are superceded by other botanical agricultural , economic , and technological forms. Apples and other edible plants can anchor elements of identity and memory. De Certeau , for example , wrote that “Mr. Mulatier declares that his grandfather planted this apple tree on the edge of his field ,” so that apples ( a nd other growing things ) populate , in de Certeau’s words , “genealogies of places , legends about territories.”20 The borders of my childhood were formed by fruit trees as well , but the family is especially attached to the apple trees. We felled a diseased bay tree once , without much fuss except for the injuries incurred by multiple family members in trying to remove the stump. We recently chopped down a gangly , unproductive , largely ornamental plum tree. No one shed a tear , and three generations of the family worked together to turn the misshapen boughs and over-long branches into a magical backyard tent , with the use of a stack of indoor linens and a cushiony unstrung hammock , a perfect refuge for reading stories and building lego nations. A few days later the shelter was dismantled , the sheets washed and put away , and the boughs and branches chopped up unceremoniously for our winter fires. The tree’s absence was barely noted , except that we had more light in the yard , and it suddenly became much easier to access the compost pile. But if we had to chop down one of the six apple trees in the yard , the mood would have been far less festive. The open space would have been deeply felt as an ache in the heart , and we might have caught the ghost of the apple tree out of the corner of our eyes. These apple trees have witnessed some of the happiest and some of the most heartbreaking moments in my own life. They occupy the backdrop of countless birthday party photographs , and their fruits filled our lunchboxes and untold numbers of apple crisps. Loosely following Halbwachs , these apple trees anchor our familial memory , serve as the backdrop but also the reminder of the passage of time.21 The little trees show their age just as we do , but also appear anew in the photos ( and in the dreams and memories ) of the newest generation.

19 Jordan : Landscapes of Memory ( as in note 1 ). 20 Michel De Certeau : The Practice of Everyday Life , Berkeley : University of California Press 2011. 21 Maurice Halbwachs : The Collective Memory , New York : Harper Colophon Books 1980 ( 1950 ). Pierre Nora : Realms of Memory : Rethinking the French Past , New York : Columbia University Press 1996.

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Gastronomic palimpsests Following Halbwachs beyond the family , places also anchor memories in the city and the broader society , as we narrate landscapes and identities to each other over time. In any city it is possible to walk along in search of traces of the past. Even the most modern of cities can yield clues about what came be��� fore������������������������������������������������������������������������������  – in street names or building materials , hills and coastlines , the juxtaposed traces of past ways of producing , distributing , and consuming food , how the past is transmitted into the present. What constellation of accident and intention leads to the particular landscapes ( physical , political , social ) that we inhabit ? Culinary or gastronomic palimpsests involve , in part , the remnants of vanished nurseries , orchards , market gardens , truck farms , forgotten food and supply chains. Cities pose particular challenges for feeding large populations , and farmer’s markets are partially an urban phenomenon , getting fresh produce directly from farmers to garden-less consumers. Cities both reveal and hide the traces of old systems of food distribution. Old market halls dot cities around the world , some still in active use , others transformed into nightclubs or supermarkets , some forgotten and abandoned as the structures of food distribution have changed. Street names also tell the stories of past ways of feeding urban populations. In Vienna , the name Getreidemarkt persists long after the last grains have been bought and sold , and little flesh is traded on Fleischmarkt. Any city contains within it these gastronomic palimpsests. Paris offers one example of this kind of layering of material remembering and forgetting , persistence and disappearance. These streets full of food stand in a direct relationship to the gardens and farms of the countryside near and far. That is , food in the city means particular landscapes in the countryside – or , of course , in very far-off places as well. While much of the food available on this street comes from various reaches of the French countryside , much of it also hearkens back to the colonial era. Sugar , coffee , tea , chocolate – essential ingredients of urban culinary life , in both cheap and expensive ways , only become possible through global trade and deeply rooted in histories of slavery and imperialism , appetites and empire. The countryside , French or otherwise , makes possible the culinary ( and nutritional ) possibilities of the city. The produce shops , full of shiny produce from France but also well beyond ( as Susanne Freidberg makes clear in her book on green beans being imported to France from Africa ), from the Ile de France or the fields of northern Africa. In The Belly of Paris , Zola describes these connections that once existed and have now largely been erased by shopping malls and global trade in season-less vegetables. He describes how the vegetable seller Madame Fran-

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çois comes from Nanterre , only 12.6 kilometers from Rue Montmartre , but it seems like an epic journey , and her farm is worlds away from the grit and hunger of the city. A great sense of peace came from the invisible countryside. The May sun shone throughout the garden , the silence disturbed only by the buzzing of insects , and there was a pleasant atmosphere of drowsiness and fertility. Every now and then a faint cracking sound , or a soft sigh , suggested that one could actually hear the vegetables being born and beginning to grow. The patches of spinach and sorrel , the strips of radishes , carrots , and turnips , the beds of potatoes and cabbages , were spread out evenly across the black soil , in the green shadows cast by the trees. [ … ] The cabbages shone with well-being , the carrots looked bright and cheerful , and the lettuces lounged about with an air of carefree indolence. Les Halles now seemed [ … ] like a huge ossuary , a place of death , littered with the remains of things that had once been alive , a charnel house reeking with foul smells and putrefaction.22

Some of this carries over across the decades , some of it disappears forever. Today Les Halles is not an ossuary but an absence – torn down to make way for a shopping center in the former belly of the city , replaced by the massive wholesale market on the outskirts of the city , Rungis. But Les Halles itself had destroyed previous landscapes of culinary memory , even then the urban landscape was littered with culinary memory and loss. De Certeau , too , captures these links between memory , food , and materiality in the city : “Here , there used to be a bakery.” “That’s where old lady Dupuis used to live.”23 There are occasional culinary memorial plaques – in the village of Camembert a plaque honors the supposed inventor of the eponymous cheese. If we dig deeper , there is a complicated history where food can operate as a lens through which to see changes not only in what we eat and how we get it , but also in ways that we experience daily life and shared understandings of ourselves. ­Some things persist in the landscape and other things do not. Society shapes space and space shapes society : a long-ago regime left its mark , and subsequent eras have continued to use it. Market halls become nightclubs , urban dairies turn into desirable apartments and the last traces of grain or flesh are swept or washed away at the Getreidemarkt and the Fleischmarkt. Past uses vanish , but evocative spaces may also open up in the landscape , spaces that open up other possibilities for understanding the past and for acting in the future , making 22 Emile Zola : Belly of Paris , Oxford 2007 , p. 189. 23 Zola : Belly of Paris ( as in Note 22 ) p. 108.

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both knowledge and genotypes available – in farmer’s markets , restaurants , urban allotment gardens , and even something like the Potager du Roi at Versailles , the king’s vegetable garden still going strong centuries after Louis XIV ordered its construction on a patch of swampy but conveniently located land.24 The whole idea of a king’s vegetable garden in a country that doesn’t have a king implies a complex relationship between the present and the past. Vanished houses and places leaving traces and patterns in the landscape. Large squares , wide streets , monumental spaces , buildings and the space between buildings can be read and experienced in different and even highly contradictory ways.

Imagined and Edible Communities25 Vegetable gardens and apple trees may also become ways to imagine communities. So , too , are dishes that involve more preparation than plucking an apple from a tree or a tomato from a vine. A paradigmatic example is the dumpling.26 The dumpling figures prominently in the culinary identities of many of the regions addressed in this book ( and indeed around the world ). Here it is helpful to bring together two powerful social scientific concepts : Benedict Anderson’s imagined communities and Bourdieu’s concept of habitus.27 These things are both deeply stalwart and highly changeable. The 24 Allison Landsberg’s concept of “prosthetic memory ,” with its focus on the experiential element of contemporary remembrance , is also illuminating in this context. While she focuses on museums , film , and television , the kinds of experiential sites I examine have the added aspect of being complete sensory experiences , conveying information not only through interpretive texts but also through all of the senses. Here the viewer is not asked to feel tragedy or sorrow , as in Landsberg’s study , but rather a combination of pleasure , curiosity , and frequently a sense of nostalgia. Alison Landsberg : Prosthetic Memory : The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture , New York : Columbia University Press 2004 , here p. 2. 25 Amy Adamczyck : On Thanksgiving and Collective Memory : Constructing the American Tradition , in : The Journal of Historical Sociology , 15/3 ( 2002 ) p. 343– 365. Benedict Anderson : Imagined Communities : Reflections on the Origin and Spread of Nationalism , New York : Verso 1983. Arjun Appadurai : Modernity at Large : Cultural Dimensions of Globalization , Minneapolis : University of Minnesota Press 1996. 26 Jennifer Jordan : Elevating the Lowly Dumpling , in : Ethnology 87 :2 ( 2008 ) p. 109–121. 27 Anderson : Imagined Communities ( as in Note 25 ), Bourdieu : Distinction ( as in Note 10 ).

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­ eanings may be changeable , viewed across great geographical distances or m long expanse of time , but they also sit deep in bodies and hearts. Ben Anderson writes about learning a language at one’s mother’s knee , but that is the closest he comes to talking about habitus. Conversely , the idea of nationalism is absent from Bourdieu , but there could be serious benefits from bringing them together. Many of these foods also contributed to the imagining of the national community , and were in turn collectively imagined. The dumpling , as with so many other foods , shifts its shape and its meaning over time and place. In Central European culinary traditions , dumplings may embody national , regional , or even highly local identities – Böhmischer Knödel or Innviertler Knödel , or even the countless unnamed variations on the Bratknödel from one valley to the next , dependent on particular relationships between butchers and home cooks , mothers and daughters ( at least traditionally dumplings have been prepared by women ). Dumplings become elements of regional tourism campaigns and the objects of press conferences , and the sheer linguistic diversity of descriptions also seems to point to their significance. As I write elsewhere , “the English language is ill-suited to handle the German words for dumplings. Nockerln , Spätzle , Knödel , Kloss , Klöss­ chen , Buchteln , Krapfen , Taschen , and Tascherln are just the beginning. Many dumplings are named for their place of origin , but even in these cases the actual recipes may vary by family , village , valley , or region. The words also reflect language differences ( German , Austrian , Bohemian , Bavarian ), and to the well-trained ear and palate may imply differences of shape or substance.”28 Etzlstorfer writes of “Skubank ( skubánky , Zupfnudeln ) [ and ] Dalken ( vdolky , from vdolek , small hollow , which refers to the necessary Mulden or Dalken­ pfanne , similar to a muffin tin ). Among the Bohemian Mehlspeisen Buchteln ( Wuchteln ), Liwanzen ( a type of Palatschinke with yeast ), and Golatschen or Kolatschen ( from kolác , cake ) have found a common ally in the form of Powidl ( a thick jam of stewed prunes ).”29 Dumplings are clearly a very visceral way to consume both physical sustenance and traces of history , the overlapping of empires , languages , culinary styles , habitus , and appetites. Dumplings , too , are by no means a uniquely Central European phenomenon , and indeed figure prominently in culinary traditions ( a nd imagined communities ) around the world. Avieli’s research on dumplings in Vietnam exemplifies the way that particular arrangements of pork and rice that become banh Tet , or New Year’s dumplings /  rice cakes , 28 Jordan : Elevating ( as in Note 26 ). 29 Hannes Etzlstorfer ( ed. ): Küchenkunst und Tafelkultur : Kulinarische Zeugnisse aus der Österreichischen Nationalbibliothek , Wien : Christian Brandstätter 2006.

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are steeped in highly salient oppositional Vietnamese identity , even as they also speak to the historical transfers of recipes and cooking techniques from past and current enemies.30 Banh Tet is made of “sticky-rice loaves stuffed with green beans and fatty pork , wrapped in bamboo leaves , and boiled overnight [ … ] the preparation of banh Tet is not difficult , yet requires time , labor , equipment , and some experience. Therefore , most urban families buy them in any of the several outlets that spring up everywhere in the week prior to the festival.”31 As much as it expresses a resonant Vietnamese nationalism , Avieli finds that the Banh Tet also has Chinese influences , including being dipped in soy sauce rather than the traditional Vietnamese fish sauce. Banh Tet symbolize “an independent , pre-Chinese Vietnamese culture ( t he shaky grounds for this claim notwithstanding ).”32 The cakes are long-lived , and were once used as war rations. The banh Tet themselves can be simultaneously a highly resonant symbol distinguishing Vietnamese from Chinese culture , but the variations in the banh Tet shapes also speak to deep-seated differences between regions within Vietnam itself. “Vietnamese nationalism , when shaped into banh Tet , is not abstract but substantial , and when the cakes are digested , the nation becomes physically embodied by its subjects [ a nd banh Tet are also ] exceptionally dynamic , flexible , and multivocal , managing to convey varied and , at times , contradicting ideas that reveal much about the ways in which contemporary Vietnamese think about themselves.”33 As I point out elsewhere , “thus the simple substances of rice , green beans , and bits of fatty pork become deeply symbolic , boiled politics and cooked culture , and part of a high stakes set of struggles about meanings and power as nations and regions are mapped onto lunch and dinner.”34 We can watching dumplings move across Central Europe , and the world , occupying places of nostalgic and /  or nationalistic sentiment , or simply occupying valuable real estate on dinner plates and in soup pots. The habitus , that powerful sense of what we reach for everyday , dispositions for particular cultural goods , including food , helps us to understand how deeply these actions become etched in social , physical , and symbolic landscapes. These dispositions , and the objects of our dispositions , change over time , and can also mark 30 Nir Avieli : Vietnamese New Year Rice Cakes : Iconic Festive Dishes and Contested National Identity , in : Ethnology 44/2 ( 2005 ) p. 167–187. Nir Avieli : Roasted Pigs and Bao Dumplings : Festive Food and Imagined Transnational Identity in Chinese-Vietnamese Festivals , in : Asia Pacific Viewpoint 46/3 ( 2005 ) p. 281–293. 31 Avieli : Vietnamese New Year Rice Cakes ( as in Note 30 ) p. 172. 32 Avieli : Vietnamese New Year Rice Cakes ( as in Note 30 ) p. 180. 33 Avieli : Vietnamese New Year Rice Cakes ( as in Note 30 ) p. 183. 34 Jordan : Elevating ( as in Note 26 ).

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boundaries of inclusion and exclusion , as well as traces of shared identities and past habits. Changes in economic and political structures , and in the linguistic , cultural borders , and geopolitical borders of nations alter the terrains of food production and consumption.

Conclusion Memory , culture , and habit are both stalwart and malleable. Remembering and forgetting happen across time , and in concrete places : farmers and farmer’s markets , historical gardens and living history museums reveal these dynamics. As Fine notes , “It has become commonplace to suggest that you are what you eat. However , it is equally appropriate to suggest that you are where you eat.”35 We make food and place , and food and place make us.36 Asking how a particular food changes in meaning and use over time also becomes a question about culture , conquest , immigration , assimilation , adoption of new foods and practices and tastes. This can be a deeply multicultural process , and one that is constantly changing and being reinvented. Transfers and translations happen at physical and symbolic levels.37 The stakes in these processes can be very high – power , memory , sustenance , loss – but they can also be quite mundane , the simple texture of everyday life. 35 Gary Alan Fine : You are what you eat ( Review essay ), in : Contemporary Sociology 30/3 ( 2001 ) p. 231. 36 See for example Priscilla Ferguson : A Cultural Field in the Making : Gastronomy in 19th-century France , in : The American Journal of Sociology 103/3 ( 1998 ) p. 597–641. 37 A powerful example of the scope of such transfers is rice – its dramatic movement from western Africa to Brazil and then South Carolina , as well as its profound polyvalence in hill communities in India ( where it is seen as being far inferior to millet ) as opposed much of Asia where rice occupies a deep nutritional and spiritual significance. Finnis discusses these contrasts between millet and rice in insightful detail. Elizabeth Finnis : The political ecology of dietary transitions : Changing production and consumption patterns in the Kolli Hills , India , in : Agriculture and Human Values , 24/3 ( 2007 ) p. 343–353. See also Judith A. Carney : With Grains in her Hair” : Rice in Colonial Brazil , in : Slavery and Abolition 25/1 ( 2004 ) p. 1–27. Judith A. Carney : Rice and Memory in the Age of Enslavement : Atlantic Passages to Suriname , in : Slavery and Abolition 26/3 ( 2005 ) p. 325–347. Judith A. Carney : Black Rice : The African Origins of Rice Cultivation in the Americas , Cambridge , Mass. : Harvard 2002. Karen Hess : Carolina Rice Kitchen : The African Connection , Columbia : University of South Carolina Press 1998. Daniel Littlefield : Rice and Slaves : Ethnicity and the Slave Trade in Colonial South Carolina , Champaign : University of Illinois Press 1991.

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VERZEHREN ODER ZERREDEN ALLTAGSWISSEN IN DEN VIRTUELLEN TISCHGESELLSCHAFTEN DER GASTROBLOGSPHÄRE1 Weißt Du , was am Kochen gut ist ? Was ? Dass nach einem Tag , an dem nichts , aber wirklich gar nichts sicher war , und ich nach Hause komme , ich dennoch todsicher sein kann , wenn ich Eigelb , Schokolade , Zucker und Milch verrühre , dass daraus eine Créme entsteht. Und das bringt doch etwas Hoffnung ins Leben ! ( Julie Powell im Film Julie & Julia )

Autorschaft oder Individualität zu untersuchen , galt in der ethnologischen Forschung der Ernährungsgeschichte lange Zeit eher als zweitrangiges Problem. Das Allgemeine , das gesellschaftlich Relevante in der Ernährung konnte und musste auch nicht auf individueller Ebene erfasst werden. Die ersten ( dokumentierten ) individuellen Leistungen sind jedoch mit den → Kochbüchern verbunden. Seit den frühsten Kochbüchern versucht man hinter den Autorennamen ein Individuum auszumachen , einen Koch , einen Schreiber , einen Herausgeber oder einen Gefährten. Die mutmaßliche Persönlichkeit des Autors eines historischen Kochbuchs nachzuzeichnen war in der Ernährungsgeschichte immer Terrain der Vermutungen : woher er wohl kam , wo er gelernt , was er gesehen , wen er bekocht haben konnte. Die in den Kochrezepten versteckten Andeutungen verwiesen auf eine meist verhüllte und deshalb reizvolle Identität. Später – in der ungarischen Kochbuchliteratur erst ab dem 19. Jahrhundert – sind die Kochbuchautorinnen und -autoren aus der Unbekanntheit 1 Blogkommunikation ist nicht nur ein Medium , sondern lässt auch auf eine spezielle Form schließen , auf den Hypertext. Der Reiz , Sachverhalt und Form in Einklang zu bringen , verlockte mich , den folgenden Beitrag in klassischer Form des Hypertexts – in Form von Wörterbuchartikeln – zu schreiben. Der Text kann sowohl linear als auch → den Querverweisen folgend gelesen werden. Während der Forschungen und der Abfassung ist meine Arbeit vom Ungarischen Wissenschaftsfonds ( OTKA K81120 ) unterstützt worden.

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herausgetreten und beanspruchten für sich selbst und ihre Kenntnisse und Erfahrung Autorität und Ansehen. Das Zeitalter der individuellen Autorschaft ist angebrochen. Der Anspruch auf Persönlichkeit in Leistung und Kreativität , der Rechtschutz in der Pressewelt , die Ökonomie des Handels – d. h. die Stabilität der Produktion – erreichten auch die Kochbuchliteratur , wenn auch der Wunsch nach Spontaneität und Flexibilität im Kochen selbst dadurch nicht betroffen werden konnte. Die Kochtechniken ermöglichen eine zwar hohe , aber doch begrenzte Anzahl von Zubereitungsarten. Gleichwohl gibt es immer einen Bedarf , bestimmte , hauptsächlich symbolträchtige Speisen , Speisenamen , Verfahren oder Kombinationen zu → singularisieren , d. h. durch symbolhafte Marker ( wie Lokalität , Ethnizität oder Individualität ) aus der allgemeinen → Zugänglichkeit herauszuheben. Beispiel : Seit über hundert Jahren kann etwa die Debatte , wie ein ungarisches Gulasch zubereitet werden soll , nicht abflauen , weil in diesen hundert Jahren Benennung , Verfahren und Speise getrennte Wege gegangen sind ; und es gibt noch immer Meinungen , die ein nationales Symbol auf ein authentisiertes und exklusives Kochverfahren reduzieren wollen. Über die Authentizität einer Speise zu reden , hat nur einen Sinn , wenn es um ein Symbol geht , dem wichtige Deutungen zugemessen werden. Die Praxis des gewöhnlichen , unreflektierten Kochens als Alltagswissen bleibt im Diskurs über die Autorschaft unerwähnt. Erfahrung , Feinheit , Kreativität  , Abwechslungsreichtum  , Schnelligkeit  , Unkompliziertheit und Ähnliches in der Küche können in einem überschaubaren Kreis eines Kochs oder einer Köchin durchaus Anerkennung und Ansehen erlangen. Bevor die Hochzeitsfeier fast ausschließlich von der professionalisierten Gastronomie übernommen wurde , waren zum Beispiel in den Gemeinden sehr wohl Köchinnen bekannt , die Hochzeiten mit mehreren Hundert Gästen bekochen konnten. Dieses Alltagswissen erreicht keine Publizität , ist aber dennoch für jedermann erfahrbar. Das Alltagswissen Kochen tritt aus der Verborgenheit heraus , wenn es textualisiert wird und sich als Diskurs Ansehen verschaffen kann ( siehe → Julie & Julia ). Alltagswissen kann Anerkennung erlangen , indem die Grenze zwischen Wissensproduzenten und Wissensverbrauchern aufgelöst wird und die früher gängige Unterscheidung von Fachkenntnis und Laienwissen aufgehoben wird. Bereits 1936 schrieb Walter Benjamin , dass das Schrifttum aus der exklusiven Wissensproduktion herausgetreten sei und ein weites Feld für die Selbstrepräsentation des Menschen bietet.2 Die Eröffnung der 2 „Jahrhunderte lang lagen im Schrifttum die Dinge so , dass einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüberstand. Darin trat gegen Ende des vorigen [ 19. ] Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Ausdehnung der Presse , die immer neue politische , religiöse , wis-

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Online-Kommunikation bot für jedermann einen Zugang , dem Alltagswissen Publizität zu verschaffen. Stöbern wir etwa in → Gastroblogs , merken wir , dass der Einstiegslevel über alltägliche Kochkenntnisse bei etwa Null liegt ; d. h. wir können ohne Weiteres Gastroblogger finden , die in einem herkömmlichen Sinne nicht kochen können ; das hindert sie nicht daran , über ihre Kochversuche zu berichten , denn der Diskurs in ihrem → Blog hat weniger die Aufgabe Wissen zu vermitteln , als ihre eigene Identität zu konstruieren und zu bestätigen. Die Bloggerin oder der Blogger ist hier nicht als Urheber /  in von Wissen , sonder als Autor /  in des eigenen Ichs zu deuten. Schreiben und /  oder Kochen sind Mittel der Selbst-Bricolage. Die in ihrer Subjektivität unantastbare Autorschaft in der Blogkommunikation ermöglicht auch , dass den Aufzeichnungen Authentizität und Originalität verliehen wird , einzig und allein dadurch , dass sie in einem → Blog erscheinen. Die meisten Blogger /  innen markieren ihre Aufzeichnungen mithilfe von Lizenzen ( wie z. B. Creative Commons ) und lassen sich als Autoren , also als Schöpfer der Inhalte , erscheinen. Das bedeutet auch , dass Alltagswissen , wie zum Beispiel über allgemein bekannte Küchenverfahren , dadurch fixiert wird. Die Blogkommunikation ermöglichte es , das Alltagswissen der Küche zu textualisieren und damit zu stabilisieren sowie zu → singularisieren. Ein Beispiel : Bis in die 1960er-Jahre hinein war es in Ungarn üblich , Brot zu Hause zu backen , und das Verfahren gehörte zum Alltagswissen dieser Generationen. Mit der Verbreitung der Lebensmittelindustrie und des Lebensmittelhandels verschwand dieses Alltagswissen innerhalb einer Generation. Einer der bekanntesten und populärsten → Gastroblogs des ungarischsprachigen Raums spezialisierte sich auf hausgemachtes Brot und Mehlspeisen. Auf das bis vor Kurzem noch allgemein bekannte Verfahren , senschaftliche , berufliche , lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte , gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. Es begann damit , dass die Tagespresse ihnen ihren ‚Briefkasten‘ eröffnete , und es liegt heute so , dass es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt , der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung , einer Beschwerde , einer Reportage oder dergleichen finden könnte. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff , ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle , von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit , ein Schreibender zu werden. Als Sachverständiger , der er wohl oder übel in einem äußerst spezialisierten Arbeitsprozeß werden mußte – sei es auch nur als Sachverständiger einer geringen Verrichtung , gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft.“ Walter Benjamin : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit , S. 16–17. Zitiert nach : http://walterbenjamin.ominiverdi.org/ wp-content/kunstwerkbenjamin.pdf ( das Original erschien 1936 ).

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Sauerteig aus Altteig zu machen , wird in diesem → Blog als auf eine eigene Geschichte3 mit exklusiver Autorschaft verwiesen4 und es wird – zumindest in diesem Kreis – das Verfahren dadurch → singularisiert. Dieses Beispiel könnte auch davon zeugen , wie beständig Erzählformen sein können , da die Entdeckung des liegengelassenen Teiges als Gärmittel als Erzählmotiv in der Erzählforschung seit jeher bekannt ist. Andererseits kann die Geschichte jedoch auch beweisen , dass für die Deutungsgemeinschaft des → Blogs – und das sind immerhin mehrere Tausend Menschen – das Wissen ( die Geschichte ) über den Altteig eng mit der Autorin verbunden wird. Denn → Singularisation beginnt damit , dass das Objekt aus seinem ursprünglichen Kontext herausgehoben und seine kulturelle und kognitive Deutung verändert wird. Dadurch kann auch Alltagswissen erst → singularisiert , dann aber auch kommodifiziert werden. Aus der allgemeinen → Zugänglichkeit der alltäglichen Online-Kommunikation kann man in eine Tauschsphäre mit höherem Prestige aufsteigen. Die Herausgabe eines richtigen , → gedruckten Kochbuches kann für einen Gastroblogger durchaus als Ausbruch aus der virtuellen zur realen Autorschaft bezeichnet werden.

Blog Ein Blog ist weniger eine Textgattung als vielmehr eine Form der Online-Publikation. Der Ausdruck kommt aus der Verkürzung des englischen Wortes für Web-Tagebuch. Als Blog können wir alle Hypertextsysteme bezeichnen , die stets aktualisiert werden , wo die Aufzeichnungen abwärts chronologisch sortiert erscheinen und mit anderen ähnlichen Online-Textformen verlinkt werden. Die Aufzeichnungen können sowohl Texte und Bilder als auch Tonaufnahmen sein und haben meist ein Thema , eine Person , eine Gemeinschaft , einen öffentlichen , kulturellen oder wissenschaftlichen Diskurs zum Gegenstand. Die Hyperlinks können auf frühere Aufzeichnungen des gleichen oder auf anderen Blogs verweisen und ermöglichen dem Leser , einen direkten Kommentar hinzuzufügen. Die Blogs sind somit mit den Inhalten des Webs 3

Laut der Geschichte hat M. ( eine Bloggerin ) den vorbereiteten fertigen Teig einmal liegen lassen und vergessen. Später , als sie es merkte , wollte sie den Teig nicht wegwerfen und verwendete für einen frischen Teig ein kleines Stück davon. Die Gärung mit dem Altteig machte wunderschönes , lockeres Brot. http://limarapeksege.blogspot.hu/2008/11/regtszta-tulajdonkppen-vletlennek.html ( Zugriff : 2013. 02. 05. ). 4 http://www.halas.net/receptek/139-kenyerek-tesztak/5136-hazi-jelleg-kenyermorzsoltkaval ( Zugriff : 5. 2. 2013 ).

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vielfach vernetzt. Ein Blog kann sowohl eine Person als auch mehrere Personen als Verfasser haben. Seine Funktionen sind ebenfalls unterschiedlicher Art : Er kann als Performanz einer Persönlichkeit gewidmet sein ( wie auch Tagebücher , Starblogs oder Politikerblogs ), er kann allgemeine Diskurse der Öffentlichkeit darstellen oder eben einem entlegenen Thema Öffentlichkeit verleihen. In den Blog-Aufzeichnungen sind sowohl totale Unwissenheit als auch hochqualifiziertes , spezialisiertes Fachwissen zu finden , die eben durch die → Freiwilligkeit , durch Verlinken und → Teilen bekannt gemacht werden. Gerade diese → Zugänglichkeit ist die höchste Errungenschaft , die in der Online-Welt immer wieder gelobt wird. Fragt man nach , warum Blogger online publizieren , stößt man oft auf die Motivation oder Sinngebung , dass der veröffentlichte Text mit einem sofortigen Feedback rechnen kann. Unter den verschiedenartigen Motivationen für das Führen eines Blogs halte ich die Selbstdarstellung , die Entfaltung der Persönlichkeit , die Aufhebung einer tatsächlichen oder auch nur mutmaßlichen Abgeschiedenheit für wichtig. Diese Aspekte der Identitätskonstruktion lassen sich immer dort finden , wo die Repräsentation des Ichs gefragt wird : Wie auch in der → Ernährung , oder besser gesagt : im Diskurs über die → Ernährung. Ein Beispiel : Der von mir willkürlich ausgewählte Blog nennt sich Válság­ konyha ,5 ist ein Gemeinschaftsblog von elf Autorinnen und Autoren , wird seit 2010 geführt , der letzte Eintrag stammt vom 23. Jänner 2013 und er enthält etwa 400 Aufzeichnungen. Mit seinen etwas über 70. 000 Besuchen ist er relativ wenig besucht. Über die Zielsetzung des Blogs schreiben die Autorinnen / Autoren , dass die meisten → Gastroblogs mit besonderen Speisen und bizarren Zutaten Follower anlocken , Válságkonyha will aber für Anfänger /  innen schnelle und günstige , einfache und alltägliche Hilfe anbieten , um zu Hause günstig und abwechslungsreich zu kochen. Die Verfasser /  innen verlinken auf ihre eigenen Blogs bzw. auf andere Sites und Blogs , die wiederum weiterverlinkt werden – auf diese Weise entsteht ein Netzwerk. Die kleine Netzwerkgemeinschaft wird nicht durch Lokalität , sondern durch Interaktionen und Solidarität konstituiert und bildet somit auch eine Wissensgemeinschaft. Das folgende Zitat aus der Krisenküche zeigt , wie diese Ressourcenteilung und → Freiwilligkeit im Blog selber thematisiert wird : M. quasselt über die AutorInnen ! Super ! Lasst uns der Reihe nach sehen : Zs. weiß , welche Zutaten wir benutzen , A. sagt uns , ob es auch gesund ist , G. rechnet aus , was uns das kostet , und ich – offiziell Lehrerin mit Diplom in 5

http://valsagkonyha.blogspot.hu ( d. h. Krisenküche ).

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Kommunikationswissenschaft , kann zwar rein gar nichts , aber ich kann es gut erklären …6

Die einzelnen Autorinnen und Autoren sind meist Mitglieder mehrerer Netzgemeinschaften , die sich zum Teil überschneiden können. Die Online-Com­ munities verknüpfen sich locker , haben meist spezielle ( aber keine strenge ) Thematik , die Grenzen der Gemeinschaften sind flexibel und unkompliziert veränderbar. Einige Autorinnen / Autoren der Krisenküche treffen sich auch in den thematischen Blogs über Handarbeit oder im Topic Gedanken der Woche im persönlichen Blog der einen Bloggerin.7 Die Architektur des Netzwerks ermöglicht unterschiedliche , und zwar sehr breite , weitverzweigte Kommunikationswege und erzeugt die → Blogosphäre.

Blogosphäre kann durch die kommunikations- und informationstechnische Eigenschaft der Hypertextualität erklärt werden : Die → Blogs werden miteinander vielfach verbunden , und zwar durch das sogenannte Blogroll – eine Liste der vom Verfasser verfolgten → Blogs – , durch die Links , die vom Blogger in den täglichen Einträgen eingefügt werden , sowie durch die Kommentare der Follower. So entsteht ein transitives Netz , die Blogosphäre. Die Blogger sind ( anscheinend ) gleichberechtigte Teilnehmer dieses Netzes , das Netzwerk ermöglicht eine direkte Peer-to-peer-Verbindung. Die Stärke , der Einfluss und die unüberschätzbare Bedeutung der Blogosphäre liegt gerade in dieser Gleichberechtigung und → Zugänglichkeit. Die unmittelbaren , gleichwertigen und freiwilligen Verbindungen haben einen weit stärkeren Einfluss auf den Einzelnen als alles andere. Das haben Marketingexperten und politische Wahlkampagnenführer schon längst festgestellt und nutzen die selbst aufgebauten Netzwerke für ihre Zwecke.

Ernährung Ernährung ist Flexibilität. Ernährung ist Stabilität. Die historische Ernährungsforschung war immer schon von den Vor- und Nachteilen dieser Ambivalenz ihres Forschungsobjektes geprägt. Die historische und ethnologische Ernährungsforschung schöpfte ihre Quellen ( siehe z. B. → Kochbücher ) aus der 6 http://valsagkonyha.blogspot.hu/2010/02/maris-szosszen-egyet-szerzoi-garda. html ( Zugriff : 10. 5. 2012 ). 7 http://zugblog.blogspot.hu/p/A-het-gondolata.html ( Zugriff : 12. 2. 2013 ).

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Tatsache , dass Ernährung alltäglich ist und immer und überall von jedermann praktiziert wird , und bemängelte ihre Quellen in Bezug auf die gleichen Tatsachen der Alltäglichkeit und Vergänglichkeit. Kochen ist Sicherheit und Stabilität , sagt Julie im Film →  Julie & Julia ; Kochen ist Alltagswissen , Routine , aber auch Spontaneität und Kreativität. Fragen wir Hausfrauen , die täglich ganze Familien bekochen , sagen sie , wirklich mühsam sei einzig die Frage , was gekocht werden sollte – nicht das Verfahren an sich , sondern die Idee bis dahin. Kochen erfordert zwar täglich neue Impulse und Intuitionen , trotzdem zeigen unsere Ernährungsgewohnheiten eine wahrnehmbare Stabilität. Ernährungswissenschaftler und Sozialforscher versuchten immer schon die unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten zu ordnen und zu klassifizieren. Vor wenigen Jahrzehnten noch sprachen die Sozialwissenschaften von schichtenspezifischen Ernährungsgewohnheiten , heute spricht man eher über Lebensstil , Wertevielfalt oder Identitätskonstruktion. Untersucht man die tägliche Routine beim Essen , stößt man auf die Kontroversen des Bewussten und Unbewussten. Man ist sich der Wichtigkeit der gesunden Ernährung bewusst , aber dennoch nascht man zwischendurch immer wieder etwas. Man weiß , dass man viel trinken sollte , aber man kommt nicht immer dazu. Man weiß , was man tun sollte , aber man ist /  ißt halt spontan ! Versucht man dennoch , Trends und Gewohnheiten festzulegen , sollten nicht nur Lebensmittel betrachtet , sondern auch Zeit und Geld , die für Ernährung aufgewendet werden , sowie Bedürfnisse , die Verwendung von hausgemachten und industriell hergestellten Lebensmitteln , die Inanspruchnahme der Gastronomie usw. in Betracht gezogen werden. So entstehen charakteristische , jedoch keine statischen Ernährungsattitüden , die auch kurzlebig , leicht veränderlich , parallel oder abwechselnd Geltung haben können. Die spontanen Entscheidungen können immer wieder durch rigorose Versprechungen abgelöst werden , ernährungsbedingte Zustände können sich ändern , willkürliche Geschmäcker können abrupt „umfallen“. Diese leichte Veränderlichkeit und Spontaneität , Offenheit und Fragmentartigkeit charakterisiert das Alltagswissen und den Diskurs über die Ernährung. Der Diskurs über Ernährungsgewohnheiten , Präferenzen und Aversionen ist ein alltägliches Mittel , um mit flexiblen , dynamischen , beweglichen , offenen , leicht veränderlichen , wandlungsfähigen Bausteinen das persönliche , physikalische , körperliche , aber auch das geistige Ich aufzubauen. Die Herausforderung der Spätmoderne , das Selbst in ständiger Flexibilität zu halten und der Beständigkeit und Dauerhaftigkeit entgegenzuwirken , findet ein angemessenes und passendes Mittel im Diskurs über die Ernährung. Ein gängiges und populäres , allgemein zugängliches Mittel dieses Diskurses findet sich in den Webtagebüchern ( → Blog ), insbesondere in den → Gastroblogs.

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Freiwilligkeit ist in der Netzwerkkommunikation die Grundlage der Ressourcenteilung geworden. Wir kennen aus der Geschichte des Internets extreme Beispiele dafür , wie User /  innen die Speicherkapazitäten ihres PCs für überdimensionale Projekte freigegeben haben , aber auch Filesharing-Netzwerke und die freien Enzyklopädien fußen auf Freiwilligkeit. Diese Mitwirkung von Freiwilligen verändert die früheren Vorstellungen von Wissen , von Tatsachen und Kenntnissen. Im Vergleich zu früheren Wissensfabriken verschwimmen die Grenzen zwischen Wissensproduzenten und Wissensverbrauchern , und da → Autorschaft nicht mehr eindeutig definierbar bleibt , werden Original oder Remix bzw. Intertextualität und textuelle Stabilität neu bewertet. Bei der frei zugänglichen Wissensproduktion wird der Einstiegslevel bewusst niedrig gehalten , um möglichst viele Mitwirkende anzulocken und dadurch die Chancen für die Teilnahme eines Experten zu erhöhen. Die Gültigkeit des so erstellten Wissens beruht auf der ständigen Kommunikation und auf dem sofortigen Feedback. Diese Umstände zählen auch zu den am häufigsten angegeben Motiven , warum Menschen anfangen , einen → Blog zu schreiben. Die Freiwilligkeit in den → Gastroblogs scheint weniger außergewöhnlich zu sein , denn der Tausch von Speisenzubereitungen und anderen Haushaltsrezepten war im Alltag schon immer gängig. Der Wissenstransfer durchläuft unterschiedliche Hierarchiestufen der Tauschsphären mittels → Zugänglichkeit und → Teilen ( sharing ). Die Hierarchie der Tauschsphären wird durch → Autorschaft und durch → Singularisation gebildet.

Gastroblog Spreche ich über Gastroblogs , benutze ich eigentlich irreführenderweise eine Begrenzung , die nur mit Einschränkungen zu akzeptieren ist : Innerhalb der → Blogosphäre beanspruchen die Gastroblogs zwar einen riesigen Raum , sie können aber nicht von der restlichen Sphäre abgegrenzt werden. Sie stehen mit individuellen Blogs sowie mit anderen thematischen → Blogs der Öffentlichkeit und Ähnlichem in vielfacher Verbindung. Trotzdem kann man ein Netzwerk innerhalb der → Blogosphäre erfassen , in dem sich Gastroblogger und ihre Follower ansammeln. Es gibt Tausende von Gastroblogs , und auf den Webseiten , die die Idee von Weblogs schematisiert und schablonenhaft gestaltet übernommen haben sowie soziale Netzwerke bilden und unterhalten ( wie Facebook oder Twitter ), finden sich auch zahlreiche Gastro-Communi­ ties. Es wäre sicherlich zwecklos , gemeinsame Ziele zu vermuten , auch wenn das Führen eines → Blogs meist als Bedürfnis nach Selbstrepräsentation oder

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als möglicher Ausweg aus der tatsächlichen oder mutmaßlichen physischen oder mentalen Abgeschlossenheit erklärt wird. Dieser Gedanke erscheint im Film → Julie & Julia. Viele Gastroblogger haben auch eigene Blogs ( „EgoBlogs“ ) oder andere thematische → Blogs. Bei vielen Bloggern unterscheiden sich ihre persönlichen Aufzeichnungen im Ego-Blog von den Speisenzubereitungen in ihrem Gastroblog markant , bei anderen wiederum gibt es kaum Unterschiede. Was ist demnach ein Gastroblog ? Eine regelmäßig online publizierte , unterschiedlich strukturierte Liste von Aufzeichnungen und ein dazugehöriges Netzwerk von Querverweisen , deren Thema hauptsächlich ( nicht aber ausschließlich ) die → Ernährung ist – von der Lebensmittelerzeugung und -versorgung über deren Zubereitung , Konservierung , und Lagerung , das Servieren , Lebensmittelallergien , über gesundheitsbedingten , religiösen oder persönlichen Lebensmittelverzicht bis hin zu einzelnen Speisen. Gastroblogs können von einer Person oder mehreren geführt werden und können Teil eines virtuellen Webrings sein. Sie bilden einen Teil der → Blogosphäre durch die Verbindungen mit anderen → Blogs , dem der Blogger folgt , durch die Verbindungen , die der Blogger selber in seinen Aufzeichnungen einfügt , durch die Kommentare der Leser und durch die Hyperlinks in den Kommentaren. Zwar erscheinen die Aufzeichnungen meist chronologisch abwärts , das Netz der Hyperlinks löst jedoch diese vorübergehende , lineare Struktur sofort auf und kreiert ein weitverzweigtes Netzwerk. Das heißt , es liegt an der augenblicklichen Intention des Lesers , wann und wo er weiter liest , wann und bei welcher Abzweigung er die vorherige Struktur verlässt und auf einem anderen Weg weitergeht. Der Gastroblog ist demnach ein kontinuierlich geschriebener , offener , unabgeschlossener Text-( Bild- und Ton- )fluss , der auch den Leser zu ständiger Offenheit , Bereitschaft und Teilnahme an einen endlosen Streifzug verführt. Vergleichen wir den Gastroblog mit → Kochbüchern , dann merken wir , dass die formale Struktur der Kochbücher die klassische → Linearität des Textes verfolgt. Sie zu lesen oder gar zu benutzen wäre aber viel mehr mit dem multilinearen Lesen der → Blogs vergleichbar , wie wenn der Leser zwischen den Seiten hin und herblättern würde. Die Führung eines Gastroblogs generiert einen Grenzbereich zwischen Kochen und Erzählen. Angesehene Gastroblogger können aus der Virtualität hervortreten und als Berater , Journalisten oder Werbeträger antreten. Ähnlich wie ein → Blog , der den Reiz ausnutzt , ständig zwischen Privatem und Öffentlichem hin und her zu schwanken , steht dem Gastroblogger die Möglichkeit zur Verfügung , ein → Wohnungsrestaurant zu führen und sich wiederum als Grenzgänger zu präsentieren.

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Julie & Julia – der Film Im Film geht es um eine junge Frau , Julie Powell , die den hochgesteckten Erwartungen nicht standhalten kann , zugleich erfolgreich , glücklich , kreativ und anerkannt zu sein. Sie findet ihren Ausweg , indem sie anfängt , ein legendäres → Kochbuch nachzukochen und ihre Kochversuche gleichzeitig in einem → Blog zu dokumentieren und online zu veröffentlichen. Diese – zugegeben – nicht allzu komplexe Geschichte wurde 2009 verfilmt ( Regie : Nora Ephron ), im suggestiven Sog der Vervollkommnung der → Blogosphäre. Die Frage , die im Film durch an Werbung erinnernde Szenen ( wie z. B. das Lob der Butter ) angedeutet wird , ist die , ob die Gastroblogosphäre als Spiegel der Ernährungsgewohnheiten angesehen werden kann ? Oder ist die → Ernährung nur ein Vorwand , hinter dem die Konstruktion des Ichs durch die Narration entdeckt werden kann ? Wie kann das Verhältnis zwischen Ernährungsgewohnheiten und der Gastroblogosphäre gedeutet werden ? Im Film sehen wir die sich lang hinziehende Transformation zwischen Speisen und → Rezepten als Text : Julia Child , eine Amerikanerin im Frankreich der Nachkriegszeit , lernt in Paris französisch zu kochen , schreibt ein → Kochbuch mit ihren ausprobierten Rezepten , die Julie Powell aus New York nach nine eleven nachkocht , um ihrer Frustration und Unsicherheit Herr zu werden. Ihr → Blog wird populär und sie wird glücklich. → Rezepte als Texte sind allgemein bekannt und haben ihre eigenen formalen und inhaltlichen Regeln. Ihr Verhältnis zur → Ernährung ist aber nicht eindeutig. Der im Film gezeigte Erfolg und die Anerkennung sind weniger den Kochkünsten , als vielmehr dem Diskurs darüber – dem → Blog – zu verdanken. Nicht das tägliche Kochen bringt den Ruhm , sondern die Narration darüber.

Kochbücher waren lange Zeit herausragende Quellen der historischen Ernährungsforschung. Sie wurden eingehend untersucht und waren hoch geachtet , denn die Alltäglichkeit und Unreflektiertheit der → Ernährung verursachte auch einen Mangel an Quellen. Neben → handschriftlichen Rezeptsammlungen und → gedruckten Kochbüchern widmete sich die historische Forschung auch Menükarten , Hofordnungen , Inventaren , Anschreibebüchern und etlichen anderen Quellengattungen , die über Ernährungsgewohnheiten berichten. Die ungarischsprachige Kochbuchliteratur war zusammen mit der vergleichbaren Hausväterliteratur bis in das 19. Jahrhundert von relativ geringem Umfang ; und die wenigen Ausgaben der erhalten gebliebenen Exemplare galten als geschätzte Denkmäler der nationalsprachigen Kulturgeschichte. Die Autoren

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der Kochbücher waren teils bekannter- , teils unbekannterweise scriptores , com­ pilatores , commentatores oder auctores , dennoch wurde ihnen eine integrative Rolle bei der rezeptionsgeschichtlichen Forschung einer Ausgabe zugesprochen. Kochbücher gelten als normative Quellen , also nicht als Quellen der Alltagspraxis. Ein Beispiel : 1955 wurde eines der bekanntesten und meistverlegten ungarischen Kochbücher herausgegeben , das Horváthilona ,8 das bis heute unter dem Namen seiner Autorin bekannt ist , auch wenn die späteren Editionen unter Mitwirkung von namhaften Autoren mehrfach verbessert und ergänzt wurden.9 Es ist sehr wahrscheinlich , dass das Kochbuch anfangs deshalb so bekannt war , weil die Veröffentlichung vom Landesfrauenverband unterstützt wurde ,10 und später kann auch die Einfachheit seiner Rezepte anziehend gewirkt haben. Die Autorin starb 1969 , trotzdem ist der Name Horváth Ilona ein Markenzeichen geworden. Ob der Autorin oder dem Kochbuch eine integrative , homogenisierende Rolle zugeschrieben werden kann , ist nur schwer nachzuweisen , dennoch wird dies heute von einem Gastroblogger behauptet : Ilona Horváth , Du hast meine Generation irregeführt ! Die Zubereitungen im Kochbuch von Ilona Horváth haben die Ernährungsgewohnheiten ganzer Generationen in Ungarn bestimmt. Mein Plan ist folgender : Ich fange nichts ahnend als naiver Jüngling das Buch an … Ich beweise , Ilona tat ihr bestes , sie muss aber gehen !11

Die Zunahme der Kochbucheditionen – ungefähr seit den 1980er-Jahren – kann eventuell auch dadurch erklärt werden , dass sich das Alltagswissen in der Öffentlichkeit einen breiteren Raum erobern konnte. Kochen ist eigentlich das beste Feld der Bricolage-Techniken , und erfahrene Köche benutzen Kochbücher selbst – wenn überhaupt – als Bricolage-Mittel ( siehe auch → Rezepte als Text ). Es läge auf der Hand , die heutige Modewelle der → Gastroblogs mit den Kochbüchern zu vergleichen. Aber sind sie die Produkte des gleichen Bedürfnisses ? Oder sind → Gastroblogs Mittel eines neuen Bedarfes ?

8 Horváth Ilona : Háztartási tanácsadó szakácskönyv ( Beratendes Kochbuch für den Haushalt ), 1. Aufl. , Budapest 1955. 9 Spätere Editionen unter Mitwirkung von Angéla F. Nagy. 10 Magyar Nők Országos Tanácsa. 11 http://gasztroszex.blog.hu/2011/04/06/horvath_ilona_kiszurtal_a_generaciom­ mal#more2803194 ( Zugriff : 12. 2. 2013 ).

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Gedruckte Kochbücher unterscheiden sich in der Intention ihrer Herstellung völlig von → handschriftlichen Rezeptsammlungen. Die Struktur eines Kochbuchs gehört mit zu seiner Aussage. Kochbücher des Mittelalters zum Beispiel zeugen mit der Trennung der Abstinenztage von den Fleischtagen noch von bestimmten Kirchenvorschriften. Die neuen Editionen der Frühen Neuzeit bezeugen mit den damals neuen Salat- oder Suppenbeschreibungen die Veränderungen des täglichen Speiseplans. Zwar müssen wir davon ausgehen , dass ein Kochbuch selten oder nie in seiner linearen Struktur ( vgl. → Linearität des Textes ) gelesen wurde , trotzdem wurden dieser Struktur vielseitige Bedeutungen zugeschrieben. Kochbücher , die in der Küche tatsächlich benutzt wurden , sind wiederum weitere Zeitzeugen der alltäglichen Schriftkultur , sie sind meist voll mit Randbemerkungen oder mit beigelegten Zetteln , die erneut von der netzartigen Struktur des Alltagsverständnisses zeugen. Mit der Popularisierung der Schriftlichkeit schien die Vermittlerrolle des Buches angegriffen worden zu sein. Die Verbreitung des Internets drohte das Ende der gedruckten Medien zu sein. Heute empfiehlt es sich eher über die Veränderung der Rolle des Buches zu sprechen. Es ist dennoch wahr , dass der Wissenstransfer sich eines breiteren Medienspektrums bedient als noch vor 20 bis 25 Jahren. Dennoch behielt oder erreichte das Buch als Artefakt sogar ein höheres Prestige , um dauerhafte Werte zu bewahren und zu vermitteln. Sehen wir uns auf dem Kochbuchmarkt um , merken wir Folgendes : Gedruckte Kochbücher zu verlegen scheint immer noch ein gutes Geschäft zu sein , denn sie verkörpern mit ihrem reichen Illustrationsmaterial den Ersatzkonsum : prachtvolles Fotomaterial , ungezwungenes Stöbern , ungestrafte Lust , vergessener Diätwahn – so könnte ein Teil des Kochbuchmarktes flüchtig charakterisiert werden. Der andere Teil vermischt sich mit den zahlreichen verwissenschaftlichten Ratgebern über Lebensmittelallergien. Es kommt nicht selten vor , dass der Erfolg von Gastrobloggern gerade daran gemessen wird , ob es ihnen gelingt , sich aus der Gefangenschaft der Virtualität zu befreien und sich mit der Herausgabe eines richtigen → Kochbuches in eine alte Tradition einzufügen.

Die Linearität des Textes Versuchen wir die Unterschiede zwischen → Kochbüchern und Gastroblogs zu erfassen , bemerken wir Folgendes : Der linearen Struktur eines → gedruckten Kochbuchs wurde eine eindeutige Bedeutung zugemessen. Ein Beispiel : Das populäre ungarische Kochbuch von Ilona Horváth , geschrieben und erstmals verlegt in den 1950er-Jahren , spiegelt in ihren ersten Aus-

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gaben die Mangelwirtschaft und die Versorgungskrise im Land wider. Es ist bezeichnend , dass zu Beginn die Zuspeisen und die Gemüsespeisen – unter ihnen auch die Krautspeisen – behandelt werden und die Fleischspeisen erst im zweiten Kapitel und in einer für heutige Leser auffallend geringen Anzahl vorkommen. Speisen aus Kalbfleisch , das lange Zeit generell nicht zu kaufen war , werden kaum erwähnt. Etwas weiter hinten , unter den Beilagen , findet man mehrere Speisen , die als Fleischsurrogate angeführt werden. Es ist daher eindeutig , dass die Struktur des Kochbuchs die Zeit vor 1968 widerspiegelt , vor der Verbesserung der Lebensmittelversorgung , dem sog. neuen Wirtschafts­ mechanismus in Ungarn. Zur nichtlinearen Benutzung eines Kochbuchs behalf man sich schon seit jeher mit verschiedenen Registern und Glossaren. Diese Lesart erfordert Aktivität , Offenheit , die Bereitschaft zur Wahl , also eine aktive Leseattitüde. Wird die → Autorschaft mit der Aktivität des Lesers als Editor , als Compilator ergänzt , bedeutet dies , dass auch die Autorität der → Autorschaft infrage gestellt wird. Der Leser als Co-Autor kann demnach seine Varianten in das Deutungsverfahren mit einbeziehen. Das interaktive Aufeinandertreffen von Autor und Leser , das Verschwinden der Grenzen zwischen → Autorschaft und Leserschaft , verleiht den Online-Publikationen ihren Reiz.

Rezepte als Texte sind sehr unterschiedliche Narrative , je nachdem , ob sie mündlich oder schriftlich erscheinen. Hören wir uns ein Gespräch an , in dem zwei Frauen über das Kochen reden , bemerken wir gleich , dass die Erzählung über Speisezubereitungen meist in der Ich-Form abläuft : „Ich mache es so …“ Diese – übrigens sprachenunabhängigen – Formeln widerspiegeln die Tatsache , dass Kochen eine routineartige Praxis mit unzähligen Varianten ist. Kochen ist eine spontane , freiwillige Kombination , sie birgt Kreativität , aber auch Gewohnheit. Kochen ist immer einmalig , es ist pure Bricolage. Eben diese Vielfalt und Variabilität erscheint in den Erzählungen. Das erste gedruckte ungarische Kochbuch erschien 1695 , es wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts mehrfach verlegt und hundert Jahre lang wurde kein anderes verfasst. Die Kochkunst im Ungarn der Frühen Neuzeit war eben ein Objekt der Oralität und /  oder der alltäglichen Schriftlichkeit. Denn schriftlich fixierte Rezepte haben wiederum andere formale Merkmale , je nachdem , ob es sich um → handschriftliche Rezepte oder um → gedruckte Kochbücher handelt. Gedruckte Speiserezepte sind meist streng linear und folgen auch einer linearen Beschreibung der Zubereitung. Geübte Köche wissen Rezepte zu lesen , wie Musiker Noten lesen – sie hören die ganze Partitur zugleich. Beim Lesen sehen geübte Köche bereits die

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Umwandlung der Zutaten. Die → Linearität des Textes verschwindet in der multilinearen Wahrnehmung eines Kochs. Die strengen Formeln der gedruckten Rezepte haben dennoch beträchtlichen Einfluss auf die alltägliche Schriftkultur : Bitten wir Hausfrauen oder Köche , ein erprobtes Rezept niederzuschreiben , versuchen sie oft die strenge „literarische“ Form der → gedruckten Kochbücher zu übernehmen und schreiben einfach „man nehme“…

Handschriftliche Rezeptsammlungen sind eine sehr alte und beharrliche Quellengattung der Ernährungsgeschichte. Wir kennen solche Sammlungen oder einzelne Schriftstücke lange Zeit vor dem Buchdruck , und es ist bis heute eine lebendige Praxis , Speisenzubereitungen kurzerhand auf Notizzettel zu skizzieren und sie aufzubewahren. Handschriftliche Rezeptsammlungen waren schon immer Beispiele der alltäglichen – und in erster Linie weiblichen – Schriftkultur. Handschriftliche Rezeptsammlungen können auch entstehen , wenn erfahrene Hausfrauen ihre Kenntnisse hinterlassen wollen , meistens ihren Nachfahren. Diese Schrifttradition bewahrt geschätzte Küchengeheimnisse und generationenübergreifende Erinnerungen. Speisenbeschreibungen dieser Art sind den gedruckten Rezepten ähnlich , denn sie versuchen meist konsequent zu sein und die Zutaten mit Mengenangaben sowie das Verfahren vollständig niederzuschreiben. Einem anderen Zweck dienen Notizen für den Eigengebrauch : Lose Zettel werden oft in → gedruckten Kochbüchern aufbewahrt , oder man hatte handgeschriebene Hefte. Sie unterschieden sich in jedem Fall stark von ihren gedruckten Pendants , denn die Intention , eine Speisenzubereitung mit Hand zu schreiben , unterscheidet sich völlig von der eines → gedruckten Kochbuchs. Handschriftliche Rezeptsammlungen entstanden oft als Gedächtnisstützen für den eigenen Gebrauch. Wenn Schrift als Gedächtnisstütze benutzt wird , verändert sich die Architektur des Gedächtnisses ; Merkzettel vermischen – wie der Name schon sagt – das im Kopf und in der Schrift gespeicherte Wissen , und die niedergeschriebenen Rezepte können höchstens als Anhaltspunkt für die Speisenzubereitungen dienen , da die Praxis selbst das Geschriebene leicht übersteigen kann. Wir finden auch oft kurze Anmerkungen – sozusagen Titel – zur Zubereitung : Von XY bekommen oder Ähnliches. Diese Aufschriften – man benutzt sie oft auch als Speisennamen im täglichen Gebrauch – gelten auch als Gedächtnisstütze. Diese Rezepte können für einen Dritten ganz und gar unnachvollziehbar bleiben , z. B. wenn von allen Zutaten nur jene aufgezählt werden , die für den Schreiber bisher unbekannt waren. Es können gleichzeitig auch die bekanntesten Verfahren oder Praktiken unausgesprochen bleiben. Eben wegen dieser Spontaneität und Situativität müssen wir mit dem Unaus-

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gesprochenen in den handschriftlichen Rezepten rechnen , mit dem Verschweigen , mit dem Hiatus im Text. In dieser Hinsicht erinnern diese Notizen mehr an die mündlichen Erzählungen über → Ernährung. Und wie steht es mit den Aufzeichnungen der → Gastroblogs ? Es gibt teils eher unpersönliche → Gastroblogs , die ganz wie → gedruckte Kochbücher aussehen : Zutaten , Verfahren , extrem ästhetisierte Illustrationen. Aber die meisten sind vielmehr persönlich und scheinen eher die schriftliche Fixierung des mündlichen Diskurses zu sein. Die Einträge sind persönlich , offen , unabgeschlossen , laden zur Reflexion ein und berichten auch gern über die Verzehrsituation selber.

Singularisation /singularisieren Igor Kopytoff beschreibt in seinem Beitrag Cultural Biography of Things den Kommodifizierungsprozess als einen kulturellen , diskursiven und kognitiven Ablauf , wie ein Ding , ein Objekt im Laufe seines Lebens von Zeit zu Zeit zur Ware werden kann.12 Der Prozess kann immer wieder durch die Momente der Singularisation gestoppt , verzögert oder gar verhindert werden. Singularisation ist in diesem Sinne selbst ein Akt , während die kulturelle und kognitive Auslegung eines Dinges verändert wird und dies mit dem Anschein und Pathos der Einzigartigkeit versehen wird. Singularisation kann demnach als der kontroverse Prozess von Kommodifikation angesehen werden , wodurch auch der Tauschwert eines Objekts erhöht wird. Kopytoff behandelt weiters die Auseinandersetzung von Deutungs- und Wertegemeinschaften über die Bestimmung eines Objekts als Ware. Der Autor behauptet , dass Einzelne oder Interessensgemeinschaften den Kommodifizierungs- bzw. den Singularisationsprozess differierend und divergierend steuern können und die kontroversen Interessen inkonsistente Wertehierarchien zustande bringen. Diese Deutungsgemeinschaften bestimmen unterschiedliche Hierarchien der Tauschsphären : Das gleiche Objekt kann in unterschiedlichen Tauschsphären für andere einen unvorstellbaren Wert bekommen. Kopytoff spricht über partielle Kommodifikation , wenn bestimmte Objekte in ganz enger , partikularer Tauschsphäre kommodifiziert werden.

Teilen bedeutet das Verfahren , wie User Informationen in ihrem Netzwerk weiterleiten ( share ). Teilen verweist auch auf Grundzüge der Online-Kommunikation , 12 Igor Kopytoff : The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process , in : Arjun Appaduraj ( Ed. ): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective , Cambridge 1986 , S. 64–94.

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wie → Freiwilligkeit , Solidarität , Ressourcenteilung und → Zugänglichkeit. Hinter dem Begriff sind Grundstrukturen von ökonomischen Systemen zu erkennen. Vor dem Zeitalter des Online-Wissenstransfers war das systematische Sammeln des Wissens die wichtigste Aufgabe. Das freiwillige Teilen von grenzenlosen und nicht überprüfbaren Wissensbeständen hat zur Folge , dass das Filtern , Suchen und die zielgerichtete Auswahl als Vorstufen des Wissenstransfers anzusehen sind. Informationen oder Wissen , die uns auf dem direkten Kommunikationsweg des eigenen sozialen Netzwerks erreichen , haben einen signifikant größeren Einfluss auf unsere Entscheidungen als unpersönliche Ideen. Der Reiz , durch ein Netzwerk Informationen weiterzuleiten , also die Idee des Schneeballsystems , scheint wohl nie abzuflauen. Gerade in jener Zeit , als ich an diesem Beitrag gearbeitet habe ( Sommer 2012 ) bekam ich das folgende E-Mail. Ich übersetze es wortwörtlich , denn es scheint mir lehrreich zu sein , wie das Selbstverständnis des Kochens als harmloses Mittel ausgenutzt wird , um sehr schnell zu einem relativ großen Netzwerk zu kommen : Hallo , wir nehmen an einem gemeinsamen , konstruktiven und hoffentlich leckeren Versuch teil. Ich lade auch Dich herzlich ein im Rezepttausch mitzumachen. Wir haben diejenigen ausgewählt , die unternehmungslustig sind. Ich bitte Dich , an die Person , die hier unter Nr. 1. steht , ein Kochrezept zu schicken ( selbst dann , wenn Du sie nicht kennen solltest ). Das Rezept sollte einfach und schnell zuzubereiten sein , aus alltäglichen und leicht erreichbaren Zutaten bestehen. Das allerbeste wäre etwas , was Du jetzt sofort niederschreiben kannst. Überlege nicht viel , es sollte etwas sein , das Du kochst , wenn Du wenig Zeit hast. Nachdem Du das Rezept an die Person geschickt hast , die an der ersten Stelle steht , kopiere diesen Brief in ein neues Mail , schreibe meinen Namen und meine Adresse an die erste Stelle und deinen Namen und deine Adresse an die zweite. Nur mein Name und dein Name sollten in dem Mail stehen. Schicke an es 20 Bekannte in bcc ( Blindkopie ). Wenn Du das innerhalb von 5 Tagen nicht geschafft hast , lass mich das bitte wissen , denn so ist es fair gegenüber den anderen. Am Ende solltest Du 36 Rezepte bekommen ( sic ! ). Es ist doch lustig zu sehen , woher sie alle kommen. Es passiert selten , dass einige nicht mitmachen , denn wir alle brauchen neue Tipps. Es läuft alles schnell ab , denn nur zwei Namen stehen in der Liste , und Du sollst das auch nur einmal machen. 1. NN@ mailadresse.com 2. XY@ mailadresse.com

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Sollte der Auslöser des Spiels selbst NN sein , bekäme sie oder er ( im Idealfall ) 20 Rezepte , XY als Mitspieler der zweiten Runde 400 , und alle , die in der dritten , vierten , fünften … Runde einsteigen , könnten 203 =  8. 000 , 204 =  160. 000 , 205 = 3. 200. 000 … usw. Mails bekommen ( vorausgesetzt , dass alle Adressaten mitmachen und alle 20 neue Personen anschreiben ). Die Theorie der Pilotenspiele ist sehr wohl bekannt. Denkt man nur kurz nach , wird klar , dass hier der Rezepttausch wenig Sinn macht. Und das Teilen von Alltagswissen wohl nur ein Vorwand gewesen sein sollte.

Wohnungsrestaurants können als reale Abbildungen von virtuellen Netzwerkgemeinschaften ( friend of a friend ) angesehen werden. Es geht hier darum , dass unternehmungslustige Gastronomen kleine , geschlossene Gemeinschaften in einer Wohnung oder in einem wohnungsähnlichen Ort mit einer exklusiven Mahlzeit bewirten. Die Initiatoren können Gourmets sein , angehende Starköche , berühmte Küchenchefs von bekannten Restaurants oder Gastroblogger , die die familiäre Stimmung von Küchenwirtschaft und Gastlichkeit nur auf eine begrenzte , überschaubare öffentliche Sphäre ausdehnen wollen. Die Unternehmen bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Privatem und Öffentlichem – demnach können sie auch mit den → Blogs verglichen werden – und verursachen in erster Linie den Steuer- und Gesundheitsbehörden ein Problem , denn sie sind relativ schwer zu regulieren und zur Verantwortung zu ziehen. Uns interessiert aber weniger die Anzahl der Spiele oder der Einkommensteuer , sondern eher das Abbilden der Online-Communities im realen Raum. Die Teilnahme an einer Mahlzeit in einem Wohnungsrestaurant erfolgt nämlich nur nach persönlicher Kontaktaufnahme oder nach einer persönlichen Empfehlung , meist durch einen Anruf unter Bezugnahme auf die Netzwerkbekanntschaft. Die Teilnehmer erhalten durch das Netzwerk ein Passwort oder ein ähnliches Zeichen , mit dem man sie identifizieren kann. Außerhalb des Netzwerks , sozusagen von der Straße aus , kann man das Lokal nicht betreten. In den Wohnungsrestaurants werden an einem Abend etwa 12 bis 14 Personen bewirtet ,13 die einander teilweise kennen. Eine Mahlzeit soll hier angeblich wesentlich weniger kosten als in einem Vier- oder Fünfsterne-Restaurant. Was aber in Wirklichkeit bei einem Wohnungsrestaurantbesuch kommodifiziert wird , sind nicht die extravaganten Lebensmittel und ausgefeilten Küchentechniken , sondern die persönlichen Kontakte. Kommodifikation und → Singularisation sind kontroverse 13 Und es ist gesetzlich nicht erlaubt , mehr als einen Abend in der Woche zu veranstalten.

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und interdependente Prozesse , die von Interessens- oder Deutungsgemeinschaften gesteuert werden. Wohnungsrestaurants können als partielle Tauschsphären betrachtet werden , die ihre → Singularisation mittels Ausschluss der → Zugänglichkeit erreichen. Die Kommodifikation im Wohnungsrestaurant – der Verkauf von Speisen – ist eigentlich nur eine durchsichtige Hülle , um Objekte ( nämlich Kontakte ) zu tauschen , die über den Tauschwert der Mahlzeit hinausweisen.

Zugänglichkeit Die online erfolgten Veröffentlichungen , → Blogs , Facebook und ähnliche Netzwerke , rühmen sich mit dem Ruf der Zugänglichkeit : Sie sind für jeden erreichbar und öffentlich , bieten Kontaktflächen an , bereiten ein Feld zur Selbstrepräsentation , ermöglichen Publizität. Die Anziehungskraft der weltweiten Vernetzung begann nicht erst mit dem Internet. Bereits in die 1960erJahre hinein nutzte zum Beispiel die sogenannte Mail Art – oder anders genannt die Korrespondenz-Art – den Reiz der weltweiten Vernetzung. Mail Art-Künstler benutzten die Post als Verbindungsweg. Ziel und Zweck dieser Underground-Bewegung war es , dem professionalisierten und exklusiven Kunstmarkt auszuweichen und ein eigenes Netzwerk aufzubauen. Die Kohäsion des Netzwerks resultierte eben daraus , dass es jedem zugänglich war. Auch die Techniken der Mail Art waren allgemein verfügbar : Grafik , Collage , Scherenschnitt , Stempeldruck , Kopieren waren im Grunde Remix-Verfahren. Mail Art verkündete , dass jeder Künstler sein kann , Künstler ist. Die einfachen , günstigen , lebensnahen Bricolagetechniken waren mit der Alltäglichkeit verbunden. Die Protagonisten galten als persönlich , kooperativ , interaktiv , spielerisch und einfach. Die Werke , Installationen oder Performances der Mail Art waren für alle erreichbar , erzielten keine Einzigartigkeit , mieden sogar das Erzielen eines Warenwerts , sie basierten auf der direkten Kommunikation , waren offen für den Zufall , für das Eintreten des Wahrscheinlichen. Der Aufruf der Bewegung : Do it yourself ! war die Ermutigung zur Selbstrepräsentation , für den Ausdruck der Identität. Die Akteure der → Blogosphäre bedienen sich der gleichen Bricolagetechniken – nur diesmal auf digitale Art. Als die → Blogosphäre die früheren Mittel der Meinungsbildung überwunden hatte , galt ihr Ruf – Wir sind das Medium ! – als wichtigstes Selbstbekenntnis : Denn sie ist öffentlich , jedem zugänglich und alltäglich.

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DIE TR ANSNATIONALE DES GESCHMACKS WIENER KÜCHE ALS „ARCHIV“ VON IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN Wäre die Küche jene kleine Welt gewesen , in der die große ihre Probe hält , so hätte die europäische Geschichte möglicherweise einen ganz anderen Lauf genommen. Die Rede ist von der klassischen und weit über Österreichs Grenzen hinaus gerühmten Wiener Küche , die zur Zeit der habsburgischen Vielvölkermonarchie entstanden ist und deren Geheimnis darin liegt , daß sich in ihr in friedfertiger Symbiose eine besonders glückliche Auslese der einzelnen Nationalspeisen zu einem ebenso typischen wie harmonischen und jedenfalls bestens bekömmlichen Ganzen zusammengefügt hat.1

Mit diesen Worten setzten sich Adolf und Olga Hess für die Wiener Küche ein und machten sich als frühe „Gralshüter der fundamentalen Geschmackstraditionen“ verdient.2 Es ist eben Eigenart der Wiener Küche , „in jedes beliebige ausländische Gericht neben der entsprechenden nationalen Note auch den wienerischen , ausgleichenden und anheimelnden Geschmack unterzubringen.“3 Was Adolf und Olga Hess hier als spezifischen Wiener Geschmack formulierten , ist ein Produkt des späten 19. Jahrhunderts – eng verwoben mit dem Selbstbild der Residenzstadt Wien , das sich durch transgressive Momente auszeichnet. Dieses Selbstverständnis bewegte sich zwischen Alt-Wien und Neu-Wien , zwischen der Erfindung nationaler Tradition und der gleichzeitigen Kreation übernationaler Identität. Seinen Kulminationspunkt erreichte die Etablierung der Wiener Küche in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie.

„Olla potrida“ und die Wiener Küche Als relativ junges Konstrukt taucht die Bezeichnung Wiener Küche erstmals in Kochbüchern des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf , also während des Übergangs von der höfischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Anfänge verbin1 2 3

Adolf und Olga Hess : Wiener Küche , Vorwort zur 41. Auflage , Wien 1960. Adolf und Olga Hess : Wiener Küche , Wien 1913. Ebd. , S. 7.

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den sich mit den Trakteuren , Restaurants und Gasthäusern , die zu tragenden Säulen der „aufgeklärten“, städtischen Öffentlichkeit wurden. Die Wiener Küche rückte zu einem der Markenzeichen Wiens auf , tatsächlich gibt es weltweit kaum eine andere Stadt , die eine derart tiefe Verbindung zur Esskultur wie Wien aufweist. Nicht zuletzt hatte Papst Enea Silvio Piccolomini bereits im 15. Jahrhundert die populäre Formel von der „Phäakenstadt“ auf Wien gemünzt. Ende des 18. Jahrhunderts standen jedoch nicht mehr nur Überfluss und kunstvolle Dekors im Zentrum , sondern die Zusammenführung von Ökonomie und Geschmack. Die Grundlagen dafür lieferten die traditionellen Gerichte und Nahrungsmittel der unterschiedlichen Gebiete der Monarchie , die auf vielfältige Weise fusioniert wurden. Der Berliner Schriftsteller , Buchhändler und Kritiker Friedrich Nicolai lieferte 1781 eine besonders eindrückliche , ironisierende Schilderung der kulinarischen Genusssüchtigkeit der Wiener und Wienerinnen am Beginn der Alleinregierung Josephs II. : [ … ] wie weit Schleckerey und Gefräßigkeit bey den mittleren und niedern Ständen der Stadt geht , davon kann man keine Idee haben , wenn man es nicht gesehen hat. Ein wohlhabender Bürger isset beinahe den ganzen Tag. Schon in der Früh schlürft er im Sommer ein Paar Seidl Obers oder Milchrahm in sich , und genießt eine gehörige Anzahl Kipfl oder Milchbrödtchen dazu. Im Winter aber tunkt er seine Eierkipfl in Milchkaffee und ehe er in die Messe geht , stopft er eine gute Portion Gebetwürstl in sich [ … ]. Zu Mittage isst er gewöhnlich vier Gerichte , und von jedem nicht zuwenig. Alsdenn setzt er sich ein halbes Stündchen in den Schwungstuhl und schaukelt sich , um die Verdauung zu befördern. Dafür kann er auch gegen vier Uhr ein tüchtiges Jausen oder Vesperbrodt zu sich nehmen.4

Die Beschreibung des wienerischen Tagesablaufes endet mit aufgeschnittenem kalten Braten , geselchtem Kaiserfleisch und „gebachenen Hendln“. Nicolai wendet sich gegen leiblichen Genuss , wie auch gegen das Theater – wo vor allem über Wiener Sitten gelacht wird , aber auch Verhandlungen von Geschmacksformationen stattfinden. Ein aussagekräftiges Dokument dieser Form von Komik ist die Stranitzky zugeschriebene Hanswurstiaden-Sammlung Ollapatrida. Carl Friedrich Flögel überlieferte diese in seiner Geschichte des Groteskekomischen5 als „Olla Potrida“, 4 5

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Friedrich Nicolai : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 , Bd. 5 , Berlin-Stettin 1785 , S. 223. Olla potrida. Anno 1728 , zit. in : Carl Friedrich Flögel : Geschichte des Groteske-

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den „faulen Topf “, eine Bezeichnung , die auf ein altes Rezept zurückgeht. Olla Potrida6 ist ein bereits 1581 bei Max Rumpolt ( in seinem Ein New Kochbuch ) komischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit , Liegnitz–Leipzig 1788 , S. 125–132 , S. 129. 6 „Olla Potrida , Spanisch. 1 ) ein Pot-pourri-Topf ; 2 ) eine Speise von mehrern Fleisch­arten , welche die Spanier gern essen ; 3 ) überhaupt ein Allerlei. – Eine bekannte Deutsche Monathsschrift führt diesen Namen.“ In : Brockhaus Con­ ver­sations-Lexikon , Bd. 3 , Amsterdam 1809 , S. 298 , http://www.zeno.org/ nid/2000076292X , ( Zugriff : 16. 12. 2012 ). Hervorhebung im Original. – „Ol­ la po­dri­da heißt ein aus mehrerlei ausgezeichneten , kleingeschnittenen und mit vie­lem Speck zusammengedämpften Fleischarten bestehendes Leibgericht der Spa­nier ; von gewöhnlichen Fleischschnitten bereitet wird es Puchero genannt. Olla podrida ist aber auch gleichbedeutend mit dem franz. Potpourri ( s. d. ), das ein Gefäß mit wohlriechenden Blumen und Kräutern , einen Riechtopf und endlich im bildlichen Sinne irgend ein Allerlei bedeutet.“ In : Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon , Bd. 3 , Leipzig 1839 , S. 339 , http://www.zeno.org/ nid/2000085008X ( Zugriff : 16. 12. 2012 ). Hervorhebung im Original. – „Olla podrida , dieses nationelle Lieblingsgericht der Reichen und Armen in Spanien , wird aus den verschiedenartigsten Fleischsorten , die theils klein , theils in Tranchen geschnitten sind , bereitet und mit Gemüsen zusammengeschmort. Das Beiwort podrido ( verfault ), bekam diese Speise jedenfalls von der ekeln Weise Unbemittelter , welche oft lange an Ueberbleibseln und Fleischabgängen dazu sammeln , sie auch meist in demselben Topfe aufwärmen , wodurch dieses Gemengsel wohl zuweilen durch seinen üblen Geruch jenen Namen rechtfertigen mag.“ In : Damen Conversations Lexikon Bd. 8. , o. O. 1837 , S. 7 , http://www. zeno.org/nid/20001755218 ( Zugriff : 16. 12. 2012 ). Hervorhebung im Original. – „Olla podrīda ( span. , spr. ollja , ‚fauliger Topf‘ ), span. Nationalgericht , aus einem Gemisch von Fleischsorten und Gemüse bereitet ; Allerlei , Mischmasch.“ In : Brockhaus Kleines Konversations-Lexikon , 5. Aufl. , Bd. 2 , Leipzig 1911 , S. 307 , http://www.zeno.org/nid/20001406930 ( Zugriff : 16. 12. 2012 ). Hervorhebung im Original. – „Olla Podrida oder Oille :Eine Suppe oder ein Ragoût spanischen Ursprungs. Man unterscheidet drei Arten der Olla oder Oille , oder besser drei Varianten der Zubereitung für dieses große Gericht. Das alte ‚potage à la française‘, von den Köchen unter Ludwig XIII. auch ‚grand ouille‘ genannt , das in den Briefen der Madame de Maintenon ‚oille au pot‘ heißt. Die wirkliche Olla podrida nach ausländischem Rezept. Dies ist ein derart kompliziertes Gericht , dass die Franzosen sich keineswegs beeilen , es auf ihren Speisekarten anzubieten , und zudem so teuer , dass man es nicht gelassenen Herzens oder gar öfter servieren wird. Man muss wissen , dass dieses Ragoût bei den spanischen Botschaftern Teil der diplomatischen Repräsentation und des offiziellen Zeremoniells ist. Man sagt , es gehört laut Protokoll zwingend zum Dîner eines spanischen Granden oder einer kastilischen Titulado. Die moderne französische ‚oille‘, ein exzellentes Suppengericht , dessen Üppigkeit nicht erschreckt und durchaus bezahlbar ist.“ In : Alexandre Dumas : Das

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nachzulesendes Rezept. Es benötigte 90 verschiedene Zutaten und zeichnete sich dadurch aus , für Fürsten und Herren geeignet zu sein : Und ein Koch muß sehr geschickt sein , um alles ( rechtzeitig ) zusammenzubringen. Wer es anrichten will , muß zwei oder drei Tage zuvor anfangen , damit er alles zusammenbringt und sauber zurichtet , daß es wohlschmeckend und nicht versalzen wird. Darum nennt man es Olla Potrida , weil vieles hineinkommt , und es ist gut für König und Kaiser , für Fürsten und Herren.7

Flögels lapsus linguae „Olla potrida“ statt der auf dem Titelblatt 1711 wie auch 1722 als Ollapatrida bezeichneten Sammlung gleicht der Verführung des Doctors , Unglaubliches zu glauben aufgrund der kulinarischen Metaphorik Fuchsmundis. Ollapatrida scheint wie ein Wortgemisch aus Patria , Allotria , Apatride. Al­ lotria , ein aus dem Griechischen entlehnter Begriff für „fremde , abwegige Dinge“, in übertragener Bedeutung eine Bezeichnung , die Lärm , Tumult , Albernheiten und Dummheiten einschließt , mixt sich mit der Patria und lässt den Apatriden erkennen , womit „Vaterlandsloser“, „Staatenloser“ gemeint ist , die Assoziation oder Verwechslung von Ollapatrida zu Ollapotrida beruht einzig auf dem Vertauschen von a und o. Ob nun die Ollapatrida eine Anspielung des Verfassers der Hanswurstiaden auf das historische , dem höchstem Stand zugeordnete Gericht Olla potrida ist , oder Flögel von der kulinarischen Metaphorik Fuchsmundis derart beflügelt war , dass ihm der Name der komplexen Speise im Abschreiben des Titelblatts hineinrutschte , scheint nicht eruierbar. Die erstaunliche Koinzidenz zwischen einem historischen Rezept des deutschsprachigen Raums für Fürsten und Herren und der Bezeichnung der Hanswurstiadensammlung wiederum ist zu belegen und bietet eine reizvolle Möglichkeit , dem Witz des durchgetriebenen Fuchsmundi nachzuspüren. Kann diese Ollapatrida /  Olla potrida eine Anspielung auf die Einführung des spanischen Hofzeremoniells der Habsburger sein , schwingt hier nicht ein Spiel zwischen den dem höchsten Stand vorbehaltenen Genüssen mit jenen der Subordinierten mit ? Birgt nicht das angesprochene , menschlich basale Bedürfnis bzw. die grundlegende Notwendigkeit zu essen jene subversive Kraft der prinzipiellen Egalität ? Den sinnlich-leiblichen Aspekt der Hanswurst-Komik überlieferte Flögel mit einer ausführlichen Passage aus der 1728 veröffentlichten Ollapatrida , die große Wörterbuch der Kochkunst , übers. von Veronika Baiculescu. Hg. von Veronika und Michael Baiculescu , Bd. 2 , Wien 2002 , S. 471–474 , S. 471 ( Orig. : Grand dictionnaire de cuisine , Paris 1873 ). 7 Max Rumpolt : Ein New Kochbuch , Frankfurt a. Main 1581 , S. 139.

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Flögel als „Olla potrida“ überlieferte. In Der Kaiser am Mond werden sowohl die Selbstrepräsentation der Kaiserstadt Wien sowie soziale Distinktion angesprochen , als Rahmen gibt der Verfasser unter dem Pseudonym des „durchgetriebenen Fuchsmundi“ eine vermeintliche Reise zum Mond vor. Fuchsmundi , dessen Name Schlauheit , Weltgewandtheit und Gefräßigkeit birgt , fungiert in der Maske des Abgesandten des dortigen Kaisers , der einen ( Wiener ) Doktor von der Echtheit seiner Betrügerei folgendermaßen überzeugt : Fuchsmundi stellt sich dem Doctor Schlampanius als Abgesandter des Kaisers vom Mondlande vor , der für ihn um die Jungfer Dorothea werben soll. Der Doctor zweifelt – „Ei , ei , ei ! das geht auf eine Betrügerei loß ! , nein , man wird mich so leicht nicht bekommen. Einen regierenden Kaiser in dem Monde !“ Diese Zweifel werden von Fuchsmundi sofort ausgeräumt , da er gleich bestätigt – und die Skepsis des Doctors völlig ignoriert – , dass es sich um einen großen und mächtigen Kaiser handelt , der schließlich auf 32 Ahnen zurückblicken könne. Dieser Selbstsicherheit und der Ahnenfolge ist der Doctor nicht gewachsen , da es doch möglich sein könnte – „weil der Mond eine Welt ist , wie die unsrige , warum sollte denn nicht ein grosser Monarch darinn residieren.“8 Zudem verführt Fuchsmundi den Doctor mit einem vermeintlichen Versprechen des Kaisers , Schlampanius nämlich die vornehmste Stelle bei Hof zu geben ; und zwar im Sternbild des Skorpions , der verstorben sei – die zwölf Sternbilder fungieren als Reichsminister – , der Doctor scheint sehr beeindruckt , fühlt sich aber zu wenig vornehm für diese Position. Er fragt nach der Beschaffenheit der Residenzstadt des Kaisers. Fuchsmundi erläutert ihm eine leicht zu dechiffrierende Beschreibung von Wien : „Es ist eine schöne Hauptstadt , sauber , wohl gemacht , von einer treflichen Taille , roth und weiß , wie Milch und Blut.“9 Die Häuser der Stadt sind „auswendig“ gebaut , innen ist nichts , aber außen sind Spiegel und „Schildereien“, die Dächer aus Nürnbergischem Pfefferkuchen , der Regen aus Limonade , die Wagenschmiere aus Schokolade. Der Doctor wird durch die kulinarische Beschreibung der Residenzstadt am Mond regelrecht verführt , Fuchsmundis Reisebericht Glauben zu schenken , denn nun fragt er ganz grundlegend , [ … ] aber essen die Leute im selbigen Lande auch wie hier ?10 8

Flögel nennt ein elftes Kapitel , aus dem er eine Szene zwischen Fuchsmundi und Doctor Schlampanius zitiert , in der der Kaiser aus dem Mond beschrieben wird. Flögel : Geschichte des Groteskekomischen , S. 127 ( wie Anm. 5 ). 9 Olla potrida. Anno 1728 , zit. in Flögel : Geschichte des Groteskekomischen , S. 129 ( wie Anm. 5 ). 10 Ebd. S. 130.

Wiener Küche als „Archiv“ von Identitätskonstruktionen

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Sie essen und essen auch nicht, lautet Fuchsmundis kryptische Antwort , und er führt als Erklärung eine Beschreibung der Tafel des Kaisers an : Er speist an der leeren Tafel.11 Zur Seite rechts stehen zwanzig Personen mit massiv-goldenen Armbrüsten , so Fuchsmundis ausführliche Erläuterungen , die mit Schnepfen , Lerchen , Rebhühnern , kleinen Pasteten , Gründeln , Lachsen , Aalen , Forellen und dergleichen geladen sind ; zur Linken stehen zwanzig Personen mit silbernen Spritzen , gefüllt mit spanischem Wein , Canariensekt , Muskatwein , Champagner , Frontiniak. [ … ] wenn nun der Kaiser essen will , so wendet er sich an der Tafel zur rechten Seite , und sagt , was ihm beliebt , dann sperrt er nur das Maul auf , so wird ihm gleich , was er befohlen , mit der Armbrust hineingeschossen. Crak , so hat er eine Pastete oder dergleichen im Maul. Beliebt ihm zu trinken , so wendet er sich auf die linke Hand , wo die mit den Spritzen stehn , thut das Maul auf , so hat er Wutsch ! so viel Wein darinn , als er will [ … ]12

Was Fuchsmundi hier neben dem Überfluss der kaiserlichen Tafel anspricht , ist das strenge Hofzeremoniell an kaiserlichen Schauessen , bei denen zwar zahlreiche , aufwendige , luxuriöse Gerichte aufgetragen wurden , doch kaum jemand das Privileg hatte , davon zu essen.13 In „Sie essen und sie essen nicht“ klingt zudem das Elend eines Großteils der Wiener Bevölkerung an , das bis weit ins 20. Jahrhundert Realität der glanzvollen Metropole war ( und gegenwärtig wieder virulent wird bzw. längst schon ist ). Diese Speisenfolge des Festmahls vom Mond-Kaiser entspricht dem Plan eines Festmahls am Wiener Hof , wie den sogenannten „offenen Tafeln“ oder ritualisierten „öffentlichen Tafeln“14 , an welchen sämtliche Mitglieder der Hofgesellschaft teilnehmen durften , wenn auch nur als Zuseher und stehend. Bemerkenswert ist an der Hanswurstiade Die Reise zum Mond , dass höfische Lebensart populärkulturell verhandelt wurde , nämlich über die existenzielle Notwendigkeit , die alle Menschen gleich macht , nämlich essen. Der zur Schau 11 Ebd. S. 131. 12 Ebd. S. 132. 13 Vgl. Christian Benedik : Der Hunger der Macht. Barocke Fest- und Tafelkunst , in : Hanns Etzlstorfer ( Hg. ): Küchenkunst und Tafelkultur. Kulinarische Zeugnisse aus der Österreichischen Nationalbibliothek , Wien 2006 , S. 273–302. 14 Benedik führt vier öffentliche Tafeln an , drei in Zusammenhang mit den katholischen Feiertagen um Ostern , Pfingsten und Weihnachten , eine anlässlich des Titularfestes des Ordens vom Goldenen Vließ. Vgl. Benedik : Der Hunger der Macht , S. 276 ( wie Anm. 13 ).

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gestellte Überfluss der Mächtigen wird hier mit der Realität der hungrigen Ohnmächtigen komisch kontrastiert. Für die Analyse von Historiografien , die Wien als „Archiv“ subordinierter komischer Praxis darstellten , erscheint diese Komponente bedeutsam , da sich hier ein Topos verbirgt , der für die Konstruktion einer deutsch-österreichischen Nationalität Ende des 19. Jahrhunderts wirksam gemacht wurde. Uns scheint diese Koinzidenz zwischen Essen und Komik aufschlussreich , um den Zusammenhang von Geschmack , Werturteil und nationaler Identitätskonstruktion zu verfolgen. In der Wienbibliothek im Rathaus findet sich ein umfangreicher Bestand an Kochrezepten und Kochbüchern sowie Speisekarten seit dem späten 17. Jahrhundert ; ebenso eine bedeutende Sammlung an raren Spieltexten von wandernden Truppen.15 Diese Zusammenschau von Sammlungsschwerpunkten der wissenschaftlichen Bibliothek Wiens – die sich als „Gedächtnis der Stadt“ versteht – verdeutlicht die heterogenen Stränge , die sich zur Imago einer Stadt verweben. Für die Analyse von Wiener Küche ist diese Tendenz von höchster Bedeutung , da in den späteren Kochbüchern genau jenes Changieren zwischen Höfisch und Bürgerlich ein Spezifikum darstellt. Was in der Ollapotrida ebenfalls anklingt , sind Ansätze nationaler Zuschreibungen , verknüpft mit geschmacklichen Zuordnungen – wesentliches Charakteristikum der sich neu erfindenden Wiener Küche. Dabei werden typische wienerische Gerichte in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen verhandelt : „Fliegende Backhendel“ etwa gingen als Ausdruck für unrealistische Prahlerei in den deutschen Sprachgebrauch über. Dieses Bild lässt sich auf die komische Wiener Hanswurst-Praxis zurückführen , die ihren Witz aus den beschriebenen Kontrasten zieht.

Wiener Küche als Repräsentationsmittel In der Entwicklung der Wiener Küche spielt das Verhältnis zwischen dem Adel und seinen Untertanen eine entscheidende Rolle ; transgressive Elemente zeichnen diese Beziehung aus. Sozialhistorische Prozesse dienen hier als Folie für die sich etablierende Wiener Küche , welche sich auch als Ausdruck der Selbstrepräsentation der Residenzstadt versteht. Zur Verbreitung der Konstruktion Wiener Küche dienten vor allem Kochbücher , die zunächst vor allem von den Köchinnen aristokratischer und großbürgerlicher Haushalte verfasst wurden. Der Begriff Wiener Küche wird erstmals im 1772 veröffentlichten Wienerischen bewährten Kochbuch in 6 Absätze 15 Vgl. Julia Danielczyk , Sylvia Mattl-Wurm , Christian Mertens ( Hg. ): Das Gedächtnis der Stadt. 150 Jahre Wienbibliothek im Rathaus , Wien 2006.

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vertheilet verwendet. Das Kochbuch erschien in Würzburg bei Göbhard , die darin gesammelten 514 Rezepte gehen auf das 1724 erschienene Nützliche Koch­ buch ( Jakob Heim , Linz ) bzw. auf das 1740 bei Johann Adam Holtzmayr herausbrachte gleichnamige Kochbuch zurück. Der Verleger hatte ein zehnjähriges konkurrenzloses Druck-Privileg von Kaiserin Maria Theresia erhalten. Verbessert und ergänzt haben es schließlich Ignatz Gartler ( und später Barbara Hikmann ), die das Kochbuch unter demselben Titel im Jahr 1787 herausbrachten. Schon bald entwickelte es sich zu einem Standardwerk mit zahlreichen Neuauflagen ( nachgewiesen sind 35 ). Damit erfuhr die Wiener Küche einerseits lokale Zuschreibungen und eine Stärkung der nationalen Identität ( nicht zuletzt dominiert die Frage nach Nation das 19. Jahrhundert , geht es dabei nicht nur um geografische , politische oder sprachliche Abgrenzungen , sondern auch um kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Werte ), andererseits fand eine Internationalisierung der Wiener Küche statt , die auch an den Bezeichnungen der Speisen sichtbar wird. Franz Maier-Bruck wies darauf hin , dass in der Küche des Metternich’schen Palais ( Fürst Metternich soll großen Wert auf hohe Küchenkultur gelegt haben ) Franz Sacher wirkte , der schließlich mit dem Hotel Sacher diese Wiener Küche einem internationalen Publikum präsentierte.16 Anekdoten zufolge soll Franz Sacher auch die berühmte Torte für seinen Arbeitgeber kreiert haben. An Metternichs Beitrag zur Wiener Küche erinnern zahlreiche Namen von Gerichten wie die süßen Metternich-Schnitten oder Tournedos Metternich ; eine eigene Fleischgarnitur wird auch als à la Metternich bezeichnet. Diesen Einfluss bedeutender Herrscher und international anerkannter Persönlichkeiten ( sowie deren individuelle Geschmacks-Vorlieben ) spiegeln die Speisenbezeichnungen in den Wiener Kochbüchern wider. Die Benennung und Zubereitung von Gerichten geben aber auch beredtes Zeugnis des Transnationalen und untermauern die politische Bedeutung von Personen oder Familien : So sind etwa nach dem französischem Adelsgeschlecht Villeroy zahlreiche Speisen benannt , die alte litauische Aristokratenfamilie findet sich in der Bezeichnung des „Schill nach Fürst Raziwill“, nach dem Feinschmecker und Staatsminister unter Ludwig XIV. , Jean B. Colbert , heißt der ColbertBraten. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 tauchen zahlreiche , im Hinblick auf die Doppelmonarchie bedeutsame Speise-Namen auf : EsterházyBraten , Andrássy-Gulasch , Hunyadi-Gulasch , Károlyi- und Pálffy-Gulasch , Kossuth-Kranzerl ( nach Ludwig Kossuth , ungarischer Staatsmann ), Radetzky16 Franz Maier-Bruck : Das Hotel Sacher , in : ders. : Das Große Sacher Kochbuch. Die österreichische Küche , München 1975 , S. 35.

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Reis und Reis Trauttmannsdorff , um nur einige wenige , heute noch bekannte Gerichte zu nennen17. Bezeichnungen nach Nationen finden sich in allen Speiseabfolgen , so die russischen Eier , Salate und Soßen , der wälsche und italienische Salat , polnischer Barszsz ( in Differenz zum russischen ), spanische , schwedische , mexikanische , andalusische , böhmische , holländische Tartaren und ( im Vergleich dazu : Wiener ) Soßen , chinesische Pasteten und japanische Schweinsbraten , englischer Pudding , bayerische Dampf-Nudeln und Cremen , Karlsbader Oblaten. Indianer-Krapfen und Negerküsse verweisen auf die im ausgehenden 19. Jahrhundert florierende Beschäftigung mit dem Exotismus. Vor allem das Gulasch liefert nationale Projektionsmöglichkeiten , so existieren zahlreiche Varianten davon , das Bosnische Gulasch , Debrecziner , Ungarische , Pester , Serbische , Pressburger , Fiumer , Triester , Znaimer , Zelny ( Szegedin auf Tschechisch ) oder Szegediner Gulasch. Die These von der Wiener Küche als Archiv nationaler Identitätskonstruktionen unterstützt das Arrangement regionaler , metropolitaner und nationaler Besonderheiten , die sich allein an der Benennung von Gerichten nachvollziehen lassen. Bislang standen Speisenbenennungen bzw. Rezepte sowie deren Verschriftlichungen als historische Quellen in kulturhistorischen Zugängen sowie im kulturwissenschaftlichen Diskurs am Rande. Die vorhandene Literatur setzt sich vielmehr mit Koch- und Tafelkultur auseinander , um ethnologische oder sozialhistorische Zugänge zu deuten. Der vorliegende Beitrag bezieht Alltagsspuren mit ein , da diese ein produktives Untersuchungsfeld darstellen , um die ( Er- )Findung , Tradierung und Implementierung nationaler Identitäten ( im Sinne von Anderson und Hobsbawm18 ) zu interpretieren. Schließlich lassen sich über die der Wiener Küche zugeordneten Gerichte nationale Konstruktionen nachweisen , die hier als Folie für Identitätskonstrukte der Habsburgermonarchie um 1900 gedeutet werden können. In den zahlreichen Wiener Kochbüchern , die zwischen 1850 und 1900 die Hochblüte ihrer Produktion hatten , werden oft mehr als 4. 000 Gerichte beschrieben. Die meisten davon haben ihren Ursprung in den Kronländern. ( Betrachtet man im Vergleich die Kochbücher der letzten 100 Jahre , so lässt sich eine Reduktion auf ca. 60 Rezepte sowie ein Verschwinden der Vielfalt beobachten ).19 Von all den kosmopolitischen Gerichten , die in Wien Wurzeln 17 Vgl. Hess : Wiener Küche ( wie Anm. 3 ). Bei Hess findet sich ein ausführlicher Fußnotenapparat , der die Herkunft von den Benennungen für Speisen erklärt. 18 Eric Hobsbawm , Terence Ranger ( Hg. ): The Invention of Tradition , Cambridge 1983. 19 Vgl. Heinz-Dieter Pohl : Die österreichische Küchensprache , Wien 2007.

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schlugen , sind die Mehlspeisen am weitesten gereist. Am Strudel , an den Liwanzen , Palatschinken , Buchteln , Pofesen lässt sich diese Verquickung von Sinnlich-Leiblichem mit Identitätsprozessen und -diskursen verdeutlichen. Aber auch die Vielzahl der Würste ( Käsekrainer , Debreciner , Bosna u. a. ) sowie die Schnitzel- und Gulasch-Variationen haben sich als traditionelle Gerichte in die Stadt eingeschrieben. Die von uns als „transnational“ ausgerufene Synthese von Geschmacksvorlieben weist in ihrem transgressiven Gestus auf eine noch nicht geschriebene Geschichte des multinationalen Staatskonstrukts hin. Um 1900 bedeutete das die Apostrophierung einer spezifischen österreichischen Identität , welche als Grundlage das multinationale Gefüge als übernationales definieren sollte. Unter diesem Rahmen , der sich über Nationalismen zu erheben scheint , finden sich spezifische Anordnungen der verschiedenen Nationalitäten des Habsburgerreichs. Eines der meistrezipierten Kochbücher des 19. Jahrhunderts war Katharina Pratos Die Süddeutsche Küche bzw. La Cucina della Mitteleuropa 20. Prato schreibt 1896 , dass die „süddeutsche Küche [ … ] gegenwärtig wie ein Gewand [ erscheint ], dem der Träger desselben entwachsen ist , und hat jetzt , da mein Buch wegen der Reichhaltigkeit schon lang kein National-Kochbuch mehr ist , nur insoweit Gültigkeit , als tatsächlich in Süddeutschland die Nationalspeisen vieler Völker auf den Speisezetteln stehen.“21 Dazu gehört etwa auch die Käsekrainer , Gegenstand zahlreicher jüngerer Debatten um die Frage nach national geschätzten Gerichten. Die ältesten Anweisungen für die Herstellung der „Kranjska klobasa“ finden sich – so heißt es in der Veröffentlichung des slowenischen Antrags durch die Kommission – in zwei Kochbüchern , nämlich – wie erwähnt – in Pratos Die süddeutsche Küche und in der sechsten Auflage von Felicita Kalinseks Slovenska kuharica ( 1912 ). Auch wenn man bei Katharina Prato kaum von einem Rezept zur Herstellung der „Kranjska klobasa“ sprechen kann , so handelt es sich doch wahrscheinlich um die erste schriftliche Erwähnung dieser Wurstsorte ( 1896 ). Felicita Kalinsek erläuterte dagegen in ihrer „Slovenska kuhari ca“, wie die „Kranjska klobasa“ herzustellen ist. Die Käsekrainer bietet bis heute vielfältige Möglichkeiten zur Mythen- und Legendenbildung , so hieß es im Mai 2012 in der Kleinen Zeitung , dass vor allem Kaiser Franz Joseph von der Krainer begeistert war. Als sehr aufschlussreich wird eine Erzählung über Kaiser Franz Joseph angeführt , der „einst mit der Kutsche von Wien nach Triest unterwegs war und an der Landstraße im 20 Titel der 1892 von ihr herausgegeben italienischen Ausgabe , vgl. Christoph Wagner : Prato. Die gute alte Küche , Wien 2006 , S. 7. 21 Ebd.

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Dorf Naklo bei Kranj in dem von Fuhrleuten besuchten Gasthof Marinsek haltmachte. Er wollte sich stärken und fragte die Gastwirtin , was sie ihm anbieten könne. ‚Wir haben nur unsere gewöhnliche Hauswurst und sonst nichts‘, antwortete sie dem Kaiser. Der Kaiser bestellte die Wurst , und als er sie gekostet hatte , rief er begeistert aus : ‚Das ist keine gewöhnliche Wurst , das ist eine Krainer Wurst !‘ “ Die Begeisterung von Kaiser Franz Joseph für die Krainer Wurst findet sich auch in der von der EU-Kommission veröffentlichten Beschreibung des slowenischen Antrags auf Anerkennung dieser Wurst als geschützte Herkunftsbezeichnung. Außerdem ist eine detaillierte Beschreibung der „Kranjska klobasa“ als „pasteurisierte Halbdauerwurst aus grob gehacktem Schweinefleisch“ enthalten. Bei der Kurzbeschreibung der Abgrenzung des geografischen Gebiets heißt es , dass sich das „Herstellungsgebiet innerhalb des Staatsgebiets Sloweniens“ befinde , „das am Rande der Alpen und an der Adria liegt , im Westen an Italien und im Norden an Österreich grenzt , im Süden sich bis zur kroatischen Grenze erstreckt und im Osten sich weit zur pannonischen Tiefebene bis zur Grenze mit Ungarn öffnet“. Das „Land Krain war zur Zeit des Heiligen Römischen Reichs und später unter der österreichisch-ungarischen Monarchie die einzige rein slowenische Region , weshalb die Bezeichnung ‚Kranjec‘ ( Krainer ) zuweilen gleichbedeutend wie ‚Slowene‘ verwendet wurde.“ Seit 2003 findet in Slowenien nun auch das „Festival Kranjske klobase“ ( Festival der Krainer Wurst ) sowie der landesweite Wettbewerb zur Kür der besten „Kranjska klobasa“ statt. Vergleicht man nun Rezepte der Wiener Küche mit jenen der italienischen oder französischen , so finden sich bei diesen weitaus weniger regionale und internationale Bezeichnungen. Nach Claudio Magris’ These vom Mikronationalismus zeigen sich in der italienischen Küche häufig regionale Bezeichnungen sowie verwandtschaftliche Verhältnisse ( etwa „della nonna“ ), aber auch Benennungen nach Berufsgruppen. Als populärste Beispiele gelten Pizza Napoli , Pesto Genovese und Spaghetti Carbonara ( wobei schon die Bezeichnung „italienische Küche“ als höchst ungenau betrachtet werden kann , da die regionalen Küchen so reich und spezifisch sind ). In französischen Rezeptsammlungen finden sich viele regionale Bezeichnungen ( beispielsweise als Zusatz „basque“ ), zumeist führen sie auf Produktionsorte , Köche , Prominente oder Metaphern ( w ie Aurora , Semi-deuil ) zurück. In der französischen Küche spiegelt sich deutlich das Selbstbewusstsein der Grande Nation wider.

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Kochbücher und Kochkunst-Ausstellungen als Mittel kulturell-nationaler Hierarchisierungen Liest man die Rezeptsammlungen der Wiener Küche vor der Folie kultureller und theatraler Selbstrepräsentation der Residenzstadt Wien , lassen sich erstaunliche Koinzidenzen feststellen : Vor allem die Ende des 19. Jahrhunderts florierenden Großausstellungen boten um die Jahrhundertwende den notwendigen Raum und kreierten einen Ort , an dem sich die vornehme Welt und die Menge der Nichtprivilegierten versammelten , als bildeten sie die Einheit einer Nation. Für die Repräsentation Wiens erwies sich diese Utopie als höchst verführerisch , da einer in Nationalitätenkonflikten , Antisemitismus und Deutschtümelei zerfallenden Gesellschaft solche Spektakel einheitliche Identität vorzutäuschen vermochten. Die Präsenz von Ausstellungen , die vor allem seit der Wiener Weltausstellung 1873 die Selbstrepräsentation der kaiserlichen Residenzstadt prägten und bis in die Erste Republik in dieser Funktion nachwirkten ,22 verdeutlichen jene Konstruktionen , in der sich Nationalitätendebatten mit Fragen nach der „richtigen“ Kultur vermengen. Auf den apostrophierten Kosmopolitismus Wiens23 spielte vor allem die von 7. Mai bis 9. November 1892 anberaumte Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen im Prater an. Sie vereinte kulturelle Werte und das Selbstverständnis Wiens bzw. formulierte sie als solche.24 Dieser Anspruch leitete auch die sogenannten Internationalen Kochkunstausstellungen , die ab 1906 in den Gartenbausälen stattfanden.25 Von Beginn an 22 Allein dem Thema Theater widmeten sich 1907 die Wiener Musik- und Theaterausstellung in den Gartenbausälen , 1922 „Die Komödie“ in der Hofburg , 1924 die Internationale Theaterausstellung im Rathaus. 23 Beispiele finden sich u. a. bei Elise Richter : Summe des Lebens , Wien 1997 , S. 50– 55. Vgl. Max Reinhardt : Autobiographische Notizen ( um 1940 ). State University of New York at Binghampton , Max Reinhardt Archiv , R 5580. Zit. nach Edda Fuhrich , Ulrike Dembski , Angela Eder ( Hg. ): Ambivalenzen. Max Reinhardt und Österreich , Wien 2004 , S. 13. Stefan Zweig : Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers , Frankfurt a. Main 2006 , S. 30. 24 Wobei in dieser Studie der Musik aufgrund eines eigenen Beitrags im Buch und der bereits vorliegenden ausgezeichneten Forschungen nicht weiter nachgegangen wird. Vgl. Martina Nußbaumer : Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images , Freiburg i. Breisgau–Berlin–Wien 2007 ( Edition Parabasen 6 ). 25 1884 : Gründung der Vorstufe : Verein der Köche Wiens : Herrschafts- und Hofköche sowie Spitzenchefs der Ringstraßenhotels ; 1902 : Im Frühjahr Gründungsgespräche ( Johann Sacher , Jean Powonda , Franz Wagner ), Gründung des Verbandes am 15. 9. Herausgabe der Zeitung „Gastronom“; 1903 : Am 20. Februar erster Kochball in „Hübners Kursalon der Stadt Wien“; 1906–1912 : Kochkunst-

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stellte die Wiener Küche als einzige Stadtküche eine verpflichtende Kategorie für die teilnehmenden Köche dar. Ziel war es , den Geschmack vorzugeben , in ihrem Selbstverständnis war die großangelegte Internationale Theater- und Musikausstellung ebenso bestimmend und Orientierung gebend wie die sich parallel entwickelnden Kochkunst-Schauen. Vor allem das Arrangement und die Verteilung des Raumes an die jeweiligen Nationen gleichen einander in erstaunlichem Ausmaß. Dabei lassen sich sowohl hier wie dort kulturell-nationale Hierarchisierungen auf drei Ebenen erkennen : Zum einen galt es , die Vormachtstellung der deutschen Nationalität innerhalb der Monarchie zu behaupten , zweitens die führende Rolle des Habsburgerstaats im europäischen Kontext herauszustreichen , um drittens , Europas Dominanz gegenüber der nicht-europäischen Welt zu erklären.26 Wirft man einen Blick auf die Anordnung der Rezepte bzw. der vorgeschlagenen Anordnung von Speisen in Wiener Kochbüchern um 1890 , so zeigt sich eine immense Übereinstimmung zur Repräsentationskultur der Internationalen Theater- und Musikausstellung. Dementsprechend liefern auch die Kochbücher geschmacksvorgebende , kulturelle Werte mit. Beredtes Zeugnis dafür liefert Anna Bauers Die praktische Wiener Köchin. Ein durch vieljährige persönliche Ausübung und Erfahrung erprobtes Kochbuch für Bereitung des herr­ schaftlichen und bürgerlichen Tisches , mit Berücksichtigung der Wiener Gasthausund der nationalen Küche ( 1899 , 10. Auflage ). Sowohl in den ( zumeist preisgekrönten ) Kochbüchern als auch in den Kochkunst-Ausstellungen werden jene transgressiven Momente zur Schau gestellt , welche mit den konstruktiven Elementen eines einheitlichen , nationalen Identitätsverständnisses korrespondieren. Hinter komplexen Vorgängen und Definitionsversuchen rund um Geschmack , Theater und Spektakel verbergen sich klare Nationalitätendiskurse. Dabei erweisen sich innerhalb dieses Prozesses Distinktionen zwischen sogenannter hoher und niederer Kultur als grundlegende Intentionen , die in ihren Repräsentationen deutlich auf die Kreierung von Elitärem und Populärem abzielten. ausstellungen in den Gartenbausälen. Das Ehrenbuch ( noch heute vorhanden ) wird aufgelegt mit den Unterschriften von Kaiser Franz Joseph und Mitgliedern des Hofstaates ; 1914–1918 : Der Erste Weltkrieg schwächt die Aktivitäten des Verbandes und durch den Zerfall der Monarchie kommt das Verbandsleben zum Erliegen. Lebensmittelknappheit und das Fehlen der Gäste aus den ehemaligen Kronländern tragen dazu bei. http://www.vko.at/geschichte-verband-koeche.html ( Zugriff : 18. 5. 2012 ). 26 Vgl. Julia Danielczyk : Die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Wien 1892 und ihre imagebildende Funktion , in : Stefan Hulfeld und Birgit Peter ( Hg. ): Maske und Kothurn 55/2 ( 2009 ), S. 11–22.

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Repräsentation kultureller Unterschiede Dementsprechend versteht sich die Wiener Küche bis heute als eine Art Fusionsküche bzw. als Metapher für die Repräsentation kultureller Unterschiede sowie als Beispiel für das Dasein in der Migration. Die Kulturwissenschaftlerin Mita Banerjees beschreibt unter dem Begriff der Chutneyfication jene Art der Fusionierung. Hier wird der Zusammenhang von Migration und Identität untersucht ; der Chutneyfication-Begriff etabliert sich zur zentralen Metapher für die Beschreibung von Interkulturalität. Für diesen Aspekt des Überlebens im Exil bietet Franziska Tausig ( 1895–1985 ), Mutter des Schauspielers Otto Tausig ( 1922–2011 ), in ihrer Lebensschilderung Exil in Shanghai ein eindrückliches Beispiel. Nach ihrer Emigration erhält Franziska Tausig die Chance , in einem Restaurant in Shanghai auf Probe zu kochen. Ihr Überleben und das ihres bereits schwer erkrankten Mannes wird von der Stelle als Köchin abhängen. Tausig bereitet einen ‚typisch wienerischen‘ Apfelstrudel zu , auch wenn die Ingredienzien nur rudimentär vorhanden sind.27 Wie von Zauberhand gelenkt , gelingt ihr ein wohlschmeckender Strudel , die Zubereitung und auch die späteren Koch-Aktionen rufen bei ihr und den Gästen jedoch auch schmerzliche , verzweifelte Erinnerungen an Heimat , Familie , Vertreibung hervor. Der Apfelstrudel wird hier zur Überlebensmöglichkeit und zugleich zum Mittel des Neuanfangs : Tausig bereitet in Shanghai ab nun Wiener Mehlspeisen zu und verkauft diese als besondere Spezialität. Aus den Resten des Strudelteigs sowie aus übrig gebliebenen Gemüse für andere Gerichte kreiert sie zusammen mit einem chinesischen Co-Koch schließlich die „Spring Roll“: Und jemand von den Essenden , den Genießenden , sagte mit einem ganz unchinesischen Pathos : Wir haben den Frühling gegessen , eingepackt in einen Teig : Das war ein schönes Bild , es war so schön , daß es nicht nur nach Shanghai passte , es brachte die harte , energische Stadt zum Glänzen.28

27 Ursula Krechel : Shanghai fern von wo , Salzburg–Wien 2008 , S. 30–35. 28 Ebd. S. 40.

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Johann Heiss

WIENER FRÜHSTÜCK K AFFEE Zum Wiener Frühstück gehört der Kaffee ebenso wie das Kipferl. Johannes Feichtinger und ich haben uns das Frühstück aufgeteilt : Er wird über das Kipferl berichten , ich werde mich mit dem Kaffee beschäftigen.1

Ursprung in Äthiopien: Kaffa und Kaffee Sollten Sie einmal nach Kairo kommen und sich dort in einem Wohnviertel aufhalten , dann wird ihnen vielleicht eine Niederlassung einer kleinen Kette von Geschäften auffallen , an denen man wegen des Dufts nicht vorbei gehen kann , ohne sich auf fast unwiderstehliche Art hineingezogen zu fühlen. In diesen Lokalen wird Kaffee verschiedener Sorten geröstet , gemahlen , auf Wunsch mit Kardamom abgemischt und verkauft. Der Name dieser Geschäfte und der ganzen Kette lautet Yamanī , übersetzt : „Jemenite“, „Südaraber“. Und die relativ dunkel geröstete , mir am besten schmeckende Kaffeesorte , die dort erhältlich ist , heißt Habashī , also „Äthiopier“. Damit sind zwei Stationen auf der weiten Reise des Kaffees durch Räume und Zeiten in diesen Geschäften vereint , denn in Äthiopien liegt der Ursprung des Kaffees , und zwar in einer Provinz oder Region namens Kaffa. Sie soll dem Getränk letzten Endes auch den Namen gegeben haben , der bei uns zu Kaffee , coffee , café , kává etc. wurde. Sicher ist das jedoch nicht. Zumindest der Name des Getränks scheint auf eine einheitliche Wurzel zurückzugehen , aber ob sie der Name der äthiopischen Provinz oder das arabische Wort qahwa ist , bleibt umstritten.

Kaffee in Arabien Es lag nahe , dass der Kaffee und der Genuss davon relativ bald das Rote Meer überqueren würde , waren doch die Verbindungen zwischen der West- und der Ostseite dieses Meeres schon lange üblich und der Austausch von Personen, 1

Ich danke Moritz Csáky für die Möglichkeit , an der Konferenz „Eating – Cooking – Identity“ teilzunehmen und zu dieser Sammlung beizutragen , und für Gespräche nicht nur zu diesem Thema. Johannes Feichtinger möchte ich gleichfalls für die Zusammenarbeit und für viele aufschlussreiche Gespräche und Diskussionen danken.

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Gütern und Ideen und Ideen zwischen beiden Küsten seit vorislamischer Zeit und bis heute etwas durchaus Gängiges. Dabei blickten die Südaraber auf ihre afrikanischen Nachbarn in durchaus verächtlicher Weise hinab , sie fühlten sich ihnen überlegen : Dass man von jemandem , den man als „primitiv“ abwertet , durchaus etwas übernehmen und positiv bewerten kann , ist gerade bei Speisen und Getränken ein Phänomen , dem man später auch in Europa begegnen wird. Wann der Kaffee nach Südarabien gelangte , darüber gibt es nur Vermutungen : Etwa in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts , lautet eine gängige davon. Verbreitet genossen wurde Kaffee in Arabien erst rund 100 Jahre später. Mit Südarabien blieb der Kaffee später im Nahen Osten und in Europa verbunden , seine ursprüngliche Heimat Äthiopien geriet in den Hintergrund. So kommt es , dass man bei uns Kaffee der Marke „King Hadhramaut“ sehen kann ( obwohl dort sicherlich nie Kaffee wachsen wird ), oder in Jerusalem Kaffee der Marke „bunn malikat al-Yaman“ ( „Kaffee der Königin des Jemen“, mit der sicherlich die Königin von Saba zu assoziieren ist ) verkauft wird.

Abb. 1 : Kaffeetüte aus Jerusalem , Februar 2013. Der Text ( in schwarz unter dem Firmennamen ) lautet : „Kaffee der Königin des Jemen“ ( bunn malikat al-Yaman ).

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Johann Heiss

Die Kaffeepflanze Die Kaffeepflanze ist ein heikles Gewächs : Sie benötigt ein Klima ohne allzu große Extreme , am besten zwischen 13 und 30 Grad , Temperaturen unter dem Gefrierpunkt verträgt sie nicht. Bei Niederschlägen unter 1500 bzw. 1000 mm ( je nach Temperatur und Luftfeuchtigkeit ) im Jahr muss bewässert werden , die Luftfeuchtigkeit muss zumindest den halben Tag lang über 70 % betragen und der Boden darf nicht kalkhaltig sein. Sowohl in der Provinz Kaffa ( Gebirge bis 3000 m Seehöhe und Regenwald sagen schon genug über das Klima aus ) wie auch in Südwestarabien auf dem Roten Meer zugewandten Berghängen mit ihren häufigen Nebelbildungen und Steigungsregen findet die Pflanze ihre idealen Bedingungen. Die Sorte Arabica , die hier angebaut wird , hat zwar weniger Koffeingehalt als die Sorte Robusta , aber dafür das bessere Aroma.2

Abb. 2 : Kaffeepflanzungen im Nordwesten des Jemen , Jabal Rāzih ( Foto : Johann Heiss )

2 Zu den äußeren Bedingungen für den Kaffeeanbau vgl. Hans Becker , Volker Höhfeld , Horst Kopp : Kaffee aus Arabien. Der Bedeutungswandel eines Weltwirtschaftsgutes und seine siedlungsgeographische Konsequenz an der Trockengrenze der Ökumene , Wiesbaden 1979 ( Geographische Zeitschrift , Beiheft 46 ), hier v. a. S. 54.

Wiener Frühstück

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Die ersten Kaffeehäuser und Rechtsstreitigkeiten Zu Beginn des 16. Jahrhunderts sollen in der heiligen Stadt Mekka die ersten Kaffeehäuser entstanden sein. Sie mussten bald wieder geschlossen werden , da der Kaffee als berauschendes Getränk eingestuft und sein Genuss verboten wurde. Wie nicht anders zu erwarten , beschäftigten sich sogleich islamische Rechtsgelehrte mit dem Problem Kaffee und stellten fest , dass Kaffee doch kein berauschendes Getränk ist. Bei dieser Einschätzung blieb man bis heute. Eine Erinnerung an derartige Diskussionen wird in der Bibliothèque National in Paris in Form eines Manuskripts aus dem Jahr 1587 aufbewahrt , in dem ein Rechtsgelehrter namens ‘Abd al-Qādir ibn Muhammad al-Ansārī al-Hanbalī „Les Preuves les plus fortes en faveur de la legitimité de l’usage du Café“ ( wie der Titel im Katalog wiedergegeben wird ) liefert.3 Bereits 1532 sollen Kaffeehäuser in Kairo nachzuweisen sein. Aber der eigentliche Siegeszug des Kaffees , der mit der Ausbreitung des Osmanischen Reichs einherging , begann , als die Osmanen 1538 Teile Südarabiens eroberten , das damals Hauptanbaugebiet für Kaffee war. Rasch verbreitete sich der Kaffeegenuss bis nach Persien und natürlich in die Hauptstadt Istanbul. 1554 wurde dort angeblich hier das erste Kaffeehaus eröffnet , auch hier unter Protesten der islamischen Rechtsgelehrten und staatlicher Stellen. Sultan Murad IV. , der von 1612 bis 1640 regierte , ließ den Genuss von Kaffee sogar verbieten und Kaffeehäuser zerstören. Dennoch setzte sich der Kaffee durch. Ja , man kann von Europa aus gesehen sagen , der Kaffee war türkisch geworden.

Kaffee in europäischen Ländern Handelsniederlassungen in zahlreichen Städten des Orients , etwa in Kairo oder Aleppo , ermöglichten es , dass die Europäer zunehmend mit Kaffee als Bohne ( Samen ), Pflanze und Getränk sowie mit dem Kaffeehaus bekannt wurden. Der erste , der über den Genuss von Kaffee schrieb , war der Augsburger Arzt und Botaniker Leonhart Rauwolf ( 1635 Augsburg–1596 Vác , Ungarn ), der sich als Vertreter eines Augsburger Handelshauses zwischen 1573 und 1576 in Aleppo aufhielt. Über seinen Aufenthalt dort und in anderen Regionen des Nahen Ostens berichtete er in seinem Buch Aigentliche beschreibung der Raiß … , die 1582 erschien. In Aleppo fielen dem vor allem mit Pflanzen Befassten , aber auch weit darüber hinaus an vielem Interessierten bereits 1573 die Kaffeehäuser auf , für die er verständlicherweise noch kein deutsches Wort hatte ; Rauwolf spricht daher von „weiten , offenen Läden“, 3

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Arabisch „umdat al-safwa fī hall al-qahwa“.

Johann Heiss

darinnen sie sich zusamen auff die Erden /  oder das Pfletz setzen /  vnd mit einander zechen. Vnder andern habens ein gut getränck /  welliches sie hoch halten /  Chaube4 von jnen genennet /  das ist gar nahe wie Dinten so schwartz /  v nnd in gebresten /  sonderlich des Magens /  g ar dienstlich. Dises pflegens am Morgen frü / Auch an offnen orten /  vor jedermenigklich one alles abscheuhen zutrincken / Auß jrdinen vnnd Porcellanischen tieffen Schälein /  so warm / A lß sies könden erleiden /  setzend oft an /  thond aber kleine trincklein /  vnd lassens gleich weitter /  wie sie neben einander im krayß sitzen /  herumb gehn. Zu dem Wasser nemmen sie frücht Bunnu von jnnwohnern genennet [ … ].5

Im Gegensatz zu heute sitzen also die Besucher dieser „Läden“ am Boden und trinken den Kaffee sehr heiß aus Ton- oder Porzellanschälchen , die sie , auch wieder anders als heute , im Kreis herum gehen lassen. Rauwolf war ein Knotenpunkt in einem damals europaweiten Netz von Botanikern ( semplicisti ), die miteinander in Verbindung standen und brieflich oder persönlich Meinungen , Pflanzenzwiebeln und -samen austauschten. Viele dieser frühen Botaniker , zu einer Zeit , als sich die Botanik als eigene Wissenschaft zu konstituieren begann , waren von ihrer Ausbildung her Ärzte , wie Rauwolf selbst oder Clusius ( Arras 1526–Leiden 1609 ), der frühere Wiener Hofbotaniker , den Rauwolf bei seiner Rückreise in Wien besuchte. So wird auch verständlich , dass sich Rauwolf offensichtlich nach der Wirkung des Kaffees erkundigte und von der positiv gesehenen gesundheitlichen Wirkung des Kaffees erfuhr. Dass der Kaffee bei Magenbeschwerden nützt , ist eine Meinung , die keineswegs allgemein geteilt wurde ( und wird ): Dises tranck ist bey jhnen sehr gemain /  darumb dann deren /  so da solches außschencken /  wie auch der Krämer /  so die frücht verkauffen /  im Batzar hin vnd wider nit wenig zufinden : Zu dem /  so haltens das auch wol so hoch vnnd gesund sein / Alß wir bey vns jrgend den Wermutwein /  oder noch andere Kreü­terwein & c.6

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Kaffee , entspricht am ehesten der türkischen Form kahve. Leonhart Rauwolf : Aigentliche beschreibung der Raiß /  so er vor dieser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer /  f ürnemlich Syriam , Iudæam , Arabiam , Mesopotamiam , Babyloniam , Assyriam , Armeniam & c. nicht ohne geringe mühe vnnd grosse gefahr selbs volbracht : neben vermeldung vil anderer seltzamer vnd denckwürdiger sachen /  die alle er auff solcher erkundiget /  gesehen vnd obseruiert hat , Laugingen 1582 , S. 102–103. 6 Rauwolf : Aigentliche beschreibung , S. 103 ( wie Anm. 5 ).

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Rauwolf stellt somit fest , dass viel Kaffee getrunken wird , und dass es im „Batzar“ ( er gebraucht das persische Wort für den Markt , nicht das arabische oder das türkische ) viele „Läden“ gibt , wo die bunn-Früchte verkauft und der Kaffee getrunken wird. Dann vergleicht er mit daheim und kommt nahezu standardmäßig auf den Wein zu sprechen , wie die meisten Europäer , die den Kaffee beschreiben und mit den Verhältnissen ihrer jeweiligen Heimat vergleichen.7 Ein weiteres Mitglied des Mediziner /  Botaniker-Netzwerks , Prospero Alpino ( 1553 Marostica in der Repubblica Venezia–1617 Padova ), bildete 1592 zum ersten Mal den Zweig eines Kaffeestrauchs ab. Alpino war als Arzt des venezianischen Botschafters 1580 nach Kairo gegangen , wo er drei Jahre lang blieb. In seinem 1592 veröffentlichten De plantis Aegypti liber beschrieb er den Kaffeestrauch , den er „im Garten des Türken Halybeg“ gesehen hatte :8 Aus ihm [ dem Kaffeestrauch ] werden jene dort sehr verbreiteten Samen gewonnen , die Bon oder Ban genannt werden. Aus ihnen bereiten alle Ägypter wie auch Araber jene sehr verbreitete Abkochung , die sie an Stelle von Wein trinken , und sie wird in öffentlichen Weinschänken verkauft , genau wie bei uns der Wein , und sie nennen ihn Caoua. Diese Samen werden aus dem glücklichen Arabien hergebracht. Der Baum , von dem ich sagte , ihn gesehen zu haben , ist als dem Euonymus9 ähnlich angesehen worden , aber er hatte dennoch dickere , härtere Blätter , die intensiver grün und immergrün waren.10

Auch hier sehen wir wieder einen guten Beobachter und Zuhörer am Werk : Bon /  Ban ( eigentlich bunn ) ist das vielleicht aus Ostafrika ins Arabische über7 Zu Rauwolfs Bemerkungen über Kaffee vgl. Heinrich Eduard Jacob : Kaffee – Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes , München 2006 ( orig. Hamburg 1934 , als : Sage und Siegeszug des Kaffees. Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes ), S. 45 und Martin Krieger : Kaffee. Geschichte eines Genussmittels , Köln–Weimar–Wien 2011 , S. 125–128. 8 [ … ] ex qua semina illa ibi uulgatissima Bon , uel Ban appellata , producuntur : ex his omnes tum Aegyptij , tum Arabes parant decoctum uulgatissimum , quod uini loco ipsi potant , uenditurque in publicis oenopolijs , non secusquàm apud nos uinum : illique ipsum uocant Caoua. Hæc semina ex fœlici Arabia asportantur. Arbor , quam me inspexisse dixi , euonimo similis obseruata est , sed tamen folia crassiora , durioraque habebat , uiridiora , perpetuoque uirentia. 9 Euonymus ist heute die botanische Bezeichnung für verschiedene Arten von Spindelsträuchern , deren bekanntester Vertreter , der Euonymus europæus , bei uns Pfaffenhütchen oder Pfarrerkappl genannt wird. 10 Prosperus Alpinus : De plantis Aegypti liber , Venezia 1592 , S. 26r.

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nommene Wort , das letzten Endes dazu geführt hat , dass für uns die Frucht des Kaffeebaums eine „Bohne“ ist. Den Kaffee , den Alpino als sehr verbreitet beschreibt , bezeichnet er durchaus treffend als decoctum , als „ein durch Kochen hergestelltes Getränk“. Das Wort weist , wie bei der Ausbildung des Autors nicht weiter verwunderlich , in die medizinische Fachsprache. Auch er kommt beim Vergleichen wieder auf den Wein.11 Für die Kaffeehäuser hat er zumal im Lateinischen keine Bezeichnung , also nimmt er das ursprünglich griechische Wort oenopolium , das einen Ort bezeichnet , an dem Wein verkauft wird , also eine Weinschänke. Alpino verdeutlicht hier seinem erwarteten Publikum , von dem er annehmen muss , dass es die Institution des Kaffeehauses nicht kennt , diese sozusagen mit einer interpretatio europaea oder italiana. Darüber hinaus hat Alpino in Erfahrung gebracht , dass die Kaffeebohnen aus Arabia Felix , also aus Südarabien , importiert werden. Ein weiteres Beispiel möchte ich anführen , um zu verdeutlichen , wie Vorstellungen von Kaffee und Kaffeehaus nach Europa gekommen sind. Der Nürnberger Wolffgang Aigen , der sich im Auftrag und als Vertreter eines venezianischen Handelshauses zwischen 1656 und 1663 in Aleppo aufhielt , schrieb im Bericht über diese Jahre : So findet man auch viel schöner Cauvengi Häußer , darinen viel Hundert Personen Zu frie vnd Abendt ein schwarzes gesottenes Wasser sonsten Cauue genannt , trinken , solche seint mit allerley entspringenden Fontainen gezihret , darinen dann die Türken ihren größten Lust vnd ergäzlichkeit des Morgends vnd abend mit Cauue vnd Taback trincken , suchen.12

Und an anderer Stelle berichtet Aigen : [ … ] wann sie aber ein ander nur Bloß besuchen , presentiren sie von stundt an eine Taback Pfeiffe vndt folgends ein schällen mit Cauè darbey sie Zum öffteren Zwey oder drey Stund hocken vndt ihre Gespräch halten werden , 11 Er sieht „in der Tradition muslimischer Diskurse den Kaffee als Ersatzstoff für den Alkohol“, meint Krieger : Kaffee S. 130 ( w ie Anm. 7 ), wobei er wohl meint „in der Tradition europäischer Diskurse über Muslime“. Diskurse dieser Art sind vergleichender , oft auch abwertender Art. Vgl. auch Jacob : Kaffee S. 19 ( wie Anm. 7 ), der das erste Buch seines Werks „Der Wein des Islam“ nannte. Zu Alpino vgl. Jacob : Kaffee , S. 56–57 ( wie Anm. 7 ), ( wo irrtümlich Prosper Albanus genannt wird ) und Krieger : Kaffee , S. 129–130 ( wie Anm. 7 ). 12 Wolffgang Aigen , in Andreas Tietze ( Hg. ): Sieben Jahre in Aleppo ( 1656–1663 ). Ein Abschnitt aus den „Reiß-Beschreibungen“ des Wolffgang Aigen , Wien 1980 , S. 32–33.

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wie dann auch in solchen ihr ganze ergözlichkeit bestehet. Zu frie ehe sie Zur Arbeit gehen , besuchen sie gemeiniglich Zuvor das Caue hauß vndt dann auch Zunachts wann sie wieder von der Arbeit Kommen , vnd wird in solchen Häußern nichts anders als Taback vnndt Cauè getruncken , vnd rieget manigsmal darin , daß einer vor Rauch vnndt taback gestanck vergehen mögte [ … ]13

Aigen wusste sich bereits zu helfen , er fand Möglichkeiten , dem Kaffeehaus eine passende Bezeichnung zu geben , die er zunächst dem Türkischen entnimmt : einmal spricht er von „Cauvengi Häußer“ ( S. 32 ), wobei man das türkische Wort für Kaffee ( k ahve ) kombiniert mit einer Nachsilbe , die eine Berufsbezeichnung ausdrücken kann , erkennt : „das Haus von einem , der berufsmäßig Kaffee anbietet.“ Später spricht der Autor von einem „Caue hauß“, und damit hat er in seiner eigenen Sprache genau das Wort , das wir bis heute verwenden , gefunden. Die Kaffeehausbesucher reden bzw. diskutieren dort miteinander , Kaffeetrinken wird mit Tabakrauchen kombiniert , wie das bis vor wenigen Jahren auch bei uns oft der Fall war. Meist besucht man ( wir dürfen annehmen , dass anfangs auch in Europa nur Männer das Kaffeehaus besuchten ) das Kaffeehaus am Morgen und am Abend. Der Tabakgestank störte den Autor offensichtlich. Er berichtet weiter , dass es in diesen Häusern auch fallweise eine Musikantengruppe sowie Märchenerzähler gab. Es ist damit recht deutlich , durch wen die Kenntnis von Kaffee , Kaffeezubereitung , auch von Kaffeehäusern nach Europa kam : Es waren hauptsächlich Leute , die im Auftrag großer Handelshäuser unterwegs waren , oder solche , die in der Umgebung von Diplomaten sich für längere Zeit im arabischen oder türkischen Ausland aufhielten. Dabei waren es zunächst die Kaffeebohnen , die hierzulande bekannt wurden , dann erst die Pflanzen aufgrund von Abbildungen , und schließlich die Zubereitung des Kaffees und die Kaffeehäuser.

Legendenbildungen: Klöster im Jemen Schon bald begannen sich um den Kaffee Legenden zu ranken , die seinen Ursprung und später auch seine Verbreitung in Mitteleuropa verbrämten. Die mittlerweile oft und verschiedentlich abgewandelte Ursprungslegende geht auf eines der frühesten Werke zurück , das sich ausschließlich mit dem Kaffee beschäftigte. Es heißt De saluberrima potione Cahve , seu Cafe nuncupata discur­ sus , wurde im Jahr 1671 in Rom gedruckt und stammt von Faustus Naironus Banesius oder Fausto Naironi ( 1635–ca. 1707 ), einem maronitischen Christen , 13 Tietze : Sieben Jahre , S. 53 ( wie Anm. 12 ).

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Sprachlehrer und Autor , der aus dem heutigen Libanon nach Rom kam , wo er unter anderem auch ein Buch über die maronitischen Christen veröffentlichte. In seinem Buch über den Kaffee lesen wir :14 [ … ] ein Hirte von Kamelen oder , wie andere sagen , von Ziegen , beklagte sich , wie eine verbreitete Überlieferung der Orientalen berichtet , bei Mönchen [ monachi ] eines Klosters [ monasterium ] in der Region Ayaman , welche das glückliche Arabien ist , dass seine Tiere mehrmals in der Woche wach blieben , ja sogar die ganze Nacht hindurch mehr als üblich umhersprängen. Der Vorsteher [ prior ] dieses Klosters [ monasterium ], von Neugierde geplagt , glaubte , dass dies von den Weiden käme , und schaute sich zusammen mit einem Gefährten aufmerksam den Ort an , wo die Ziegen oder Kamele in jener Nacht , in der sie umhersprangen , geweidet hatten. Da fand er dort ein Bäumchen , von dessen Früchten oder eher Beeren sie gefressen hatten. Er wollte selbst die Eigenschaften dieser Früchte in Erfahrung bringen , kochte sie daher in Wasser auf und machte sogleich die Erfahrung , dass der Trank aus ihnen das Wachbleiben fördert , weshalb es dazu kam , dass er den Mönchen [ monachi ] anordnete , ihn täglich des Wachbleibens wegen anzuwenden , damit sie bereitwilliger an den Gebeten in der Nacht teilnähmen. Weil sie jedoch aus diesem täglichen Trinken sowohl unterschiedliche , zum menschlichen Wohl und zur Gesundheit beitragende Auswirkungen von Tag zu Tag erfuhren , wurde diese neue Art von Getränk allmählich in jener gesamten Region , schließlich auch in anderen Provinzen und Reichen des Orients mit dem Fortschreiten der Zeit zufällig und infolge der wunderbaren Vorsehung Gottes wegen jener heilsa14 Conquerebatur enim quidam Camelorum , seu vt alij aiunt , Caprarum Custos , vt communis Orientalium fert traditio , cum Monachis cuiusdam Monasterij , in Ayaman Regione , quæ est Arabia Fęlix , sua armenta non semel in hebdomada vigilare , imò per totam noctem , præter consuetum saltitare ; Illius Monasterij Prior curiositate ductus , hoc ex pascuis prouenire arbitratus est , & attentè considerans vna cum eius socio locum vbi Capræ , vel Cameli illa nocte , qua saltitabant pascebantur , inuenit ibi quædam arbuscula , quorum fructibus , seu potius baccis vescebantur ; huiusce fructus virtutes voluit ipsemet experiri , ideoque illos in aqua ebulliens statim illorum potum noctu vigilantiam excitare expertus est , ex quo factum est , vt à Monachis quotidiè adhiberi propter nocturnas uigilias iusserit , vt promptiores ad noctis assisterent orationes ; at quia ex hoc quotidiano potu , cùm varios ac saluberrimos pro humana salute , ac bona valetudine effectus in dies experirentur , per vniversam paulatim regionem illam , deindè per alias Orientis Prouincias , ac Regna temporis progressu nouum huius potionis genus , fortuitò , ac mirabili Dei prouidentia ea diffusum est salubritate , vt ad Occidentales etiam , ac præsertim Europæas peruaserit plagas.

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men Wirkung verbreitet , sodass er auch zu den Okzidentalen und insbesondere in die europäischen Gegenden gelangte.15

Die Mönche ( monachi ) in diesem Kloster ( monasterium ) im Jemen , in der Arabia felix , in dem der Abt ( prior ) die an den Tieren beobachtete Wirkung an sich selbst und an den Mönchen mit Erfolg erprobt : Das ist eine nette , wenn auch gänzlich sagenhafte Vorstellung , denn christliches Kloster gab es in Südarabien schon länger keines mehr. Wie fast schon zu erwarten , wird der Ursprung des Kaffees in den Jemen verlegt. Wie der Prior des Klosters auf die Idee kommt , die Früchte des Kaffeestrauchs zu kochen ( u nd womöglich vorher noch zu rösten ), wo die Weidetiere doch die Beeren roh von den Sträuchern gefressen hatten , darüber werden wir nicht informiert. Auch die heilkräftige Wirkung des Kaffees kommt wie so oft zur Sprache. Dann fährt der Autor fort :16 Die ersten Entdecker dieses Tranks , so sagt man , waren aufgrund der Hinweise , um es so zu sagen , der Ziegen oder Kamele die oben genannten christlichen Mönche , wie die Türken selbst sehr oft einzugestehen pflegen. Aus Dankbarkeit und Ergebenheit ihnen gegenüber verrichten sie Gebete für sie , vor allem haben jene Türken , die diesen Trank ausschenken und verteilen , spezielle und tägliche Gebete für Sciadli und Aidrus , denn das waren , so erklären sie , die Namen der oben genannten Mönche.17

Die beiden Namen , die der Autor hier als die der christlichen Mönche und Entdecker des Kaffees ausgibt , sind ein weiteres deutbares Element der Legende : Der Sciadli genannte war natürlich kein christlicher Mönch , sondern ein Sufi namens al-Shadhili , der aus dem Jemen über Mekka und Syrien nach Ägypten gelangte und dort von einem ihrer bekannten Meister in die bis heute existente Sufi-Schule ( Tariqa ) namens Shadhiliya aufgenommen wurde. Er hieß eigentlich Abū al-Hasan ‘Alī b. ‘Umar al-Qurashī , entstammte 15 Faustus Naironus Banesius : De saluberrima potione Cahve , seu Cafe nuncupata discursus , Roma 1671 , S. 15–17. 16 Primos igitur huius potionis Inuentores ex Caprarum , seu Camelorum , vt ita dicam nutibus , supradictos ferunt extitisse Monachos Christianos , vt ipsimet Turcæ fateri vt plurimum assolent , in quorum gratiam , animique obsequium pro illis fundunt preces , ac præsertim Turcæ illi , qui sunt huius potionis ministratores , ac distributores , proprias enim hi , ac quotidianas habent precationes pro Sciadli , & Aidrus , quia hæc supradictorum Monachorum fuisse nomina asserunt. 17 Naironus : Cahve , S. 17–18 ( wie Anm. 15 ).

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der Familie des Propheten Muhammad und führte , seinem Lehrer folgend , den Beinamen al-Shadhili. Nach seinem Aufenthalt in Ägypten und seiner Aufnahme in die Shadhiliya lebte er zunächst in Äthiopien ( in al-Habasha ), dann kehrte er in den Jemen zurück und ließ sich in al-Mukhā’ nieder , wo er im Jahr 821/1418 verstarb. „Und sein Grab in der erwähnten Stadt ist bedeutend , es wird zum Ziel von Reisen , um es zu besuchen , Segnungen zu erhalten und erfolgreich zu sein in Notwendigem.“ So formuliert es einer seiner jemenitischen Biografen , der 1487 verstorbene Abū al-‘Abbās Ahmad al-Sharj.18 Sein Grab in der nach ihm benannten Moschee befindet sich bis heute in der Stadt , die bei uns bekanntlich dem Mokka den Namen gegeben hat , und ist immer noch eine Art Wallfahrtsort. Damit sind wir auch beim Ursprung der Legende vom christlichen Kloster im Jemen angelangt : Vor allem in der Küstenregion des Roten Meeres , der Tihama , hatte sich das Sufitum verbreitet , es gab zahlreiche Orte , an denen heiligmäßige Männer lebten , die als Lehrer eigene Schulen und ( K löstern ähnliche ) Konvente gründeten oder in Moscheen lehrten. Ein Teil ihrer Zeremonien bestand aus ständigen Wiederholungen bestimmter Formeln und Anrufungen Gottes , oft begleitet von Musik , zu der auch getanzt wurde. Diese dhikr ( „Erinnerung“ ) genannten Veranstaltungen fanden meist bei Nacht statt. Um die Konzentration zu fördern und die Schüler wach zu halten , wurde Kaffee getrunken , und zwar in rauen Mengen , wenn man den Archäologen glauben darf. Die für den Genuss von Kaffee bestimmten Schalen wurden im Lauf der Zeit jedenfalls deutlich größer. Der zweite Name , den Naironi anführt , Aydarūs , entspricht dem Namen einer großen Sippe von Nachkommen des Propheten Muhammad , die Aydarus heißt. Ihre Mitglieder waren ( u nd sind ) vor allem im Hadhramaut , aber auch in der Küstenebene des Roten Meeres verbreitet. Nach ihnen ist eine eigene Sufi-Richtung benannt , sodass dieser Name , wenn mit ihm auch keine konkrete Person identifiziert werden kann , in eine ähnliche Richtung weist wie der erste. Diese Sufi-Gemeinschaften wurden von Naironi oder seinem Vorbild einfach „christianisiert“ und damit die Erfindung des Kaffees noch dazu von Rom aus als etwas Christliches popularisiert. Die Geschichte ist ein netter , wenn auch etwas plumper Versuch von Aneignung , der seine Spuren bis ins Computerzeitalter hinterließ. Ein Beispiel soll genügen : Auf einer Website zur Geschichte des Kaffees lautet der Beginn der Geschichte wie folgt :

18 Abū al-‘Abbās Ahmad b. Ahmad b. ‘Abd al-Latīf al-Sharjī al-Zabīdī : tabaqāt al-khawāss ahl al-sidq wa-al-ikhlās. Ed. ‘Abdallāh Muhammad al-Hibshī , Beirut /  Sanaa 1986/1406 , S.  233.

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Einer Legende nach wird der Kaffee dadurch entdeckt , dass ein Maronitenmönch namens Naironus Banesius eine Viehherde beobachtet , die sich sonderbar benahm. Wie die Hirten im Lande Kaffa in Abessinien sich beklagten , waren die Tiere ungewöhnlich lebhaft und fanden bis spät in die Nacht keine Ruhe und zeigten keine Anzeichen von Müdigkeit.19

Hier wurden die einzelnen Bestandteile der Geschichte gleichsam in eine Mischmaschine oder vielleicht eher in eine Kaffeemühle geworfen und gründlich durchgemischt , wie dies seit 1671 immer wieder geschah. Die Geschichte erzählt natürlich auch Heinrich Eduard Jacob ;20 er weiß auch , dass das jemenitische Kloster „Schehodet“ hieß , das „Zeugnis“ ( arab. šahāda ).

Kaffeehäuser in Europa Kaffeehäuser waren bis vor nicht allzu langer Zeit meist Etablissements , wo – wie auch im Nahen Osten – nur Männer verkehrten. Man setzte sich an den Tischen , oft ohne Rücksicht auf den Stand , zusammen und diskutierte bzw. politisierte. Frauen waren nur als Serviererinnen anwesend , bald jedoch auch als Prostituierte , die im Kaffeehaus ihre Dienste anboten. Das hatte zur Folge , dass ab der Mitte des 17. Jahrhunderts auch in Europa Kaffeehäuser rasch in Verruf gerieten und ihr Bestehen – ähnlich wie im Nahen Osten , wenn auch aus anderen Gründen – zunächst gefährdet schien. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts etablierte sich in Europa die Kaffeehauskultur zunächst in Hafenstädten , wo eine Verbindung zum Orient durch die großen Handelshäuser gegeben war. Städte im Inland ohne Zugang zum Meer folgten meist später. Wien nahm dabei durch seine Nähe zum Osmanischen Reich eine Art Sonderstellung ein , dennoch war es nicht die erste Stadt Europas , wo Kaffeehäuser gegründet wurden. Ich möchte hier nicht mit Jahreszahlen der Entstehung von Kaffeehäusern in verschiedenen Städten Europas langweilen , sondern werde mich auf Wien beschränken. In der Sage wird die Entstehung der Kaffeehäuser in Wien eng mit der erfolgreich abgewehrten sogenannten Zweiten Türkenbelagerung verknüpft. Unter den ersten , die Kaffeehäuser in Europa eröffneten , waren viele Orientalen ( oft Armenier , in Wien Johannes Diodato und Isaac de Luca ) oder hatten mit dem Orient Kontakt. Zu letzteren gehört Georg Franz Kolschitzky. Er stand seit 1667 im Dienst der Orientalischen Compagnie mit Dienstort in Istanbul. Als Herkunftsort gab er die polnische Freistadt Sambor ( heute Sambir in der Westukraine ) an. 19 So http://www.geschichte-kaffee.de/html/kaffee1.html ( Zugriff : 6. 5. 2013 ). 20 Jacob : Kaffee , S. 19–20 ( wie Anm. 7 ).

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Abb. 3 : Georg Franz Kolschitzky in türkischer Kleidung , aus Feigius , Adler-Schwung , 2. Bd. , S. 48

Seine Sprachenkenntnisse waren es wahrscheinlich , die ihn für seinen berühmten Botengang vom belagerten Wien zur kaiserlichen Hauptarmee besonders geeignet scheinen ließ. Er hatte Wien am 13. August verlassen und war am 17. August 1683 wieder zurückgekehrt. Dabei war jedoch Kolschitzkys Kurierdienst weder die erste noch die letzte derartige Unternehmung. Was ihn von den anderen Kurieren unterschied , war geschickte Selbstvermarktung : Er berichtete über seinen Botengang in einem Flugblatt , das „zur Keimzelle des gesamten Traditionskomplexes um Koltschitzky“ wurde.21 Der Text stammt wahrscheinlich von ihm selbst , aber der Wiener Kupferstecher und Verleger Johann Martin Lerch hatte ihn dem Zeitgeschmack entsprechend aufbereitet. Das in Wien und Salzburg noch 1683 veröffentlichte Flugblatt wurde umgehend in Ulm , Nürnberg und Strassburg nachgedruckt , was Kolschitzky zu einer weit über Wien hinaus bekannten Persönlichkeit machte. Die Verknüpfung mit der Erfindung , 21 Karl Teply : Die Einführung des Kaffees in Wien. Georg Franz Kolschitzky , Johannes Diodato , Isaak de Luca , Wien 1980 , S. 21. Vgl. dazu auch die ältere Darstellung von Gustav Gugitz : Das Wiener Kaffeehaus. Ein Stück Kultur- und Lokalgeschichte , Wien 1940 , S. 9–47.

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er sei der erste gewesen , der in Wien ein Kaffeehaus eröffnete , geht möglicherweise auf eben dieses Flugblatt Kolschitzkys zurück , wo er berichtete , er sei auf seinem gefährlichen Botengang „auff eines Türckischen vornehmen Aga Gezelt /  welcher ihn zu sich ruffte“ getroffen. Auf dessen Fragen , was er hier mache , gab er zur Antwort , „er wolte etwas von Weinbeeren und anderen Früchten einsamblen“, worauf ihm der Türke den „Türkischen Chavve-Trunck“ reichte und ihn mit der Mahnung , sich vor den Christen in Acht zu nehmen , wieder entließ ( I. M. L. [= Johann Martin Lerch ] 1683 ).22 Das Flugblatt von Lerch und Kolschitzky wurde zu einer beliebten und oft abgewandelten Vorlage , die darin geschilderten Ereignisse zu gleichsam verpflichtenden Bestandteilen späterer Schilderungen der Zweiten Türkenbelagerung : Der abenteuerliche , dem barocken Zeitgeschmack entgegenkommende Botengang Kolschitzkys durfte nicht fehlen. So verarbeitet es Ioannes Constantinus Feigius in seinem 1694 erschienenen und bemerkenswerten barocken Geschichtswerk Wunderbahrer AdlersSchwung 23 ebenso wie Christian Wilhelm Huhn in seinem Augenzeugenbericht über die Ereignisse 1683 , denen er den dem Zeitgeschmack entsprechenden Titel gab : Nichts Neues und Nichts Altes /  Oder umbständliche Beschreibung /  Was An­ no 1683. vor /  bey /  und in der Denckwürdigen Türckischen Belagerung Wien /  vom 7 Julii biß 12 Septembr. täglich vorgelauffen.24 Diese Ansätze zur Legendenbildung um Kolschitzky und Kaffeehaus wurden in der 1783 veröffentlichten Geschichte der zweyten türkischen Belagerung Wiens , bey der hundertjährigen Gedächtnißfei­ er , dem damals einflussreichen und sozusagen „offiziellen“ Geschichtswerk zum Thema , von Gottfried Uhlich verschriftlicht und weitertradiert : Zuletzt vergaß man endlich auch nicht den berühmten Koltschüzky , dessen Muth , daß er sich mitten durch das feindliche Lager zu dem Herzog von 22 I. M. L. [= Johann Martin Lerch ]: Warhaffte Erzehlung , Welcher Gestallt In der ängstlichen Türckischen Belägerung der Kayserl. Haupt vnd Residentz-Stadt Wien in Oesterreich Durch das feindliche Lager gedrungen , vnd die erste Kundschafft zur Kayerlichen Haupt-Armee , wie auch von dar glücklich wider zurück gebracht worden. Wien , Salzburg 1683 , ohne Paginierung. 23 Vgl. Joannes Constantinus Feigius , Wunderbahrer Adlers-Schwung , oder , Fernere Geschichts-Fortsetzung Ortelii Redivivi et continuati etc. , Wien 1694 , Bd. 2 , S. 50–52. 24 Vgl. Christian Wilhelm Huhn : Nichts Neues und Nichts Altes /  Oder umbständliche Beschreibung /  Was Anno 1683. vor /  bey /  und in der Denckwürdigen Türckischen Belagerung Wien /  vom 7 Julii biß 12 Septembr. täglich vorgelauffen , Breslau 1717 , S. 141–150. Zu Huhn s. Johann Heiss : Huhn , Christian Wilhelm , http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/person/huhn-christian-wilhelm ( Zugriff : 6. 5. 2013 ). Vgl. auch Jacob : Kaffee S. 49–55 ( wie Anm. 7 ).

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Lothringen hinaus wagte , dadurch belohnt wurde , daß man ihm die Erlaubniß ertheilte , das erste Cafeehaus in Wien zu errichten ; nebstbey wurde ihm von der Stadt ein neben dem kleinen Bischofshof bey dem rothen Kreuz genanntes Haus als freyes Quartier eingeräumet ; das erste Cafeehaus aber eröffnete er nicht ferne von St. Stephan.25

Wie weit Uhlich dabei mündliche Überlieferungen verarbeitete , ist nicht mehr eruierbar.26 Das sagenhafte erste Wiener Kaffeehaus soll sich angeblich am heutigen Stock-im-Eisen-Platz 4 ( Wien I ) im späteren „Haus zur Blauen Flasche“ befunden haben ( das in Lviv /  Lemberg wiederbelebt wurde als „Art-Cafe zur blauen Flasche“ ). Der erste , dem am 17. Jänner 1685 in Wien tatsächlich die Erlaubnis gewährt wurde , Kaffee auszuschenken , war jedenfalls der Armenier Johannes Diodato. Andere folgten bald , die zunächst alle aus dem Orient stammten , weshalb man das Wiener Kaffeehaus zu Recht als eine aus dem Orient übernommene Institution bezeichnen könnte. Kolschitzky jedenfalls blieb weiter aktuell : Als 1933 das 250-jährige Jubiläum der Zweiten Türkenbelagerung gefeiert wurde , wurde Kolschitzky zum Zankapfel polnischer und ukrainischer nationaler Ansprüche. Beide Seiten bezeichneten ihn als einen der ihren. Diese Vereinnahmung mit nationalem Hintergrund dauert bis heute an , verstärkt seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991. Eine Folge dieser wechselseitigen Ansprüche ist auch , dass man heute in Lemberg ( Lviv ) ein „Art-Cafe zur blauen Flasche“ besuchen kann. Es gibt es nur wenige Persönlichkeiten , die am Entsatz Wiens 1683 mitgewirkt haben und so viele Denkmäler und Gedenktafeln in Wien besitzen und besaßen wie Kolschitzky. An ihn erinnern bzw. erinnerten ( nicht alle sind erhalten ) insgesamt sechs Denkmäler in Wien , von denen vier im vierten zwei im ersten Gemeindebezirk zu sehen sind bzw. waren , die bekanntesten davon sind : Gedenktafel am Wohn- und Sterbehaus Kolschitzkys in Wien I , Domgasse 8 ( 1983 , errichtet von polnischer Seite ), die Statue von Kolschitzky mit einem Kaffeeservice in der linken und einer Kaffeekanne in der rechten Hand , Ecke Kolschitzkygasse 2–4 und Favoritenstraße ( 1884 ) über dem Eingang zum

25 Gottfried Uhlich : Geschichte der zweyten türkischen Belagerung Wiens , bey der hundertjährigen Gedächtnißfeyer , Wien 1783 , S. 205. Zu Uhlich vgl. Johann Heiss : Die Ereignisse zum hundertjährigen Jubiläum 1783 , in Johannes Feichtinger , Johann Heiss ( Hg. ): Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“, Wien 2013 , S. 72–74. 26 Teply : Einführung S. 58 ( wie Anm. 22 ).

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Grand Café Zwirina ,27 und die Kolschitzkygasse ( neu benannt 1862 ).28 Kolschitzky-Hof , Ecke Graf Starhemberg-Gasse /  Kolschitzkygasse ( erbaut 1911 ).29

Abb. 4 : Straßenschild Kolschitzkygasse ( Foto Johannes Feichtinger ): Wie Kolschitzky in Wien erinnert wird

Es überrascht nicht , dass Kolschitzky für das Wiener Gremium der Kaffeehausbesitzer zu einer Art Patron wurde. Ein Porträt Kolschitzkys hing lange Zeit in seinem Versammlungsraum. Auf der alten Zunftfahne befand sich eine Darstellung , wie Leopold I. dem angeblichen Begründer des ersten Wiener Kaffeehauses das Privileg für die Eröffnung übergab. Noch Ende des 18. Jahrhunderts war Kaffee teuer , deshalb dachte man bald daran , wie man ihn verbilligen konnte. Man versuchte , den Kaffee mit den Absuden einheimischer Pflanzen zu verdünnen und ihn damit auch gesünder und bekömmlicher zu machen. Man war nun offenbar nicht mehr so überzeugt von der positiven gesundheitlichen Wirkung des Kaffees wie zu jener Zeit , als man mit ihm bekannt wurde. Im eben erst neu gegründeten Wiener­ 27 Johannes Feichtinger , Johann Heiss , Martina Bogensberger : Favoritenstraße / Kolschitzkygasse , Kolschitzky-Denkmal , http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw. ac.at/ort/kolschitzkydenkmal-ecke-favoritenstrasekolschitzkygasse ( Zugriff : 6. 5.  2013 ). 28 Johannes Feichtinger , Johann Heiss : Kolschitzkygasse ( 4. Bezirk ), http://www. tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/kolschitzkygasse-4-bezirk ( Zugriff : 6. 5. 2013 ). 29 Johannes Feichtinger , Johann Heiss : Graf Starhemberg-Gasse , Kolschitzkyhof , http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/kolschitzkyhof-in-der-graf-starhemberg-gasse ( Zugriff : 6. 5. 2013 ).

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blättchen , der ersten wirklichen Tageszeitung Wiens , erschien am 6. Sept. 1783 folgendes Inserat : Joseph Pollitzer , Bürger allhier fabrizirt und verkauft mit höchster Genehmhaltung den bekannten Wurzel- oder sogenannten Gesundheitskaffee , welcher nach dem Zeugnisse der ansehnlichsten und verständigsten Aerzte eines der gesündesten und nützlichsten Getränke , in seiner Art ist. Der Wurzelkaffee verdünnet das Geblüt , eröfnet die Verschleimten Kresadern , stärcket den Magen , vermehrt die Eßlust , Befördert dadurch die Verdauung , und versüsset das Geblüt. Der Ausländerkaffe ist nach den Ausspruche vieler Aerzte der Gesundheit weniger zuträglich doch kann 1. Loth ausländer30 unter 4. Loth Wurzelkaffee des Geschmaks wegen gemischt werden ; den dieser benimmt jenem die Eigenschaft , die er hat das Blut zu erhitzen. Ein Loth von diesen Kaffee reicht zu 6. Schalen daraus zu bereiten. Welche Erspahrung im Allgemeinen ! Zum Vortheile seiner Mittbürger setzt der Fabrikant noch den Preis herab und verkauft ihn gebrant und gemahlen das Pf. pr. 48. kr. jedes einzelne Loth aber ein halben kr. Die Art , ihn zu kochen , ist die nemliche wie bey dem ausländischen , nur muß es in einem reinen Geschirre geschehen. Seine Verkaufsniederlage ist zunächst den Eisgrübel auf dem Bauernmarkt beym goldenen Benediktuspfening. Nro. 544.31

Mittlerweile ist es bei uns nicht mehr üblich , dem Kaffee positive gesundheitliche Wirkungen nachzusagen , vielmehr wird immer wieder davor gewarnt.

Conclusio Mit dem Kaffeehaus schuf man ( bzw. Mann ) sich einen physischen Raum zum Austausch von Gedanken und Meinungen oft über soziale Grenzen hinweg , wo soziales Gedächtnis ausgehandelt und implementiert und wo Neues diskutiert und weitergegeben werden konnte. Im privaten Bereich eröffnete und eröffnet man sich mithilfe des Kaffees einen virtuellen Raum zur Begrüßung , zum einander Kennenlernen. Diese Funktion hatte und hat der Kaffee , auf der Arabischen Halbinsel zum Teil vom Tee verdrängt , bis heute und bis in die heimischen Regionen , wo man Besuche ( Fremder wie auch Bekannter ) oft mit den Worten „Willst du /  Wollen Sie einen Kaffee ?“ empfängt. Kaffeehäuser sind in Wien jedoch üblicherweise keine von lauten Gesprächen der Besucher erfüllten Orte mehr ( was sie im Nahen Osten durchaus noch sein können ). 30 Etwa 17 , 5 g. 31 Wienerblättchen , 6. September 1783 , S. 74–75.

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Jetzt geschehen Meinungsaustausch und Weitergabe von Neuem auch – so man das Kaffeehaus alleine besucht – oft durch Zeitunglesen. Ursprünglich wurde offenbar nicht zwischen Adel und Bürgertum getrennt , Fremde setzten sich an großen Tischen zusammen , während jetzt Ecken , Nischen und kleine Tische in den Kaffeehäusern dafür sorgen , dass man auch alleine oder in kleinen Gruppen Platz nehmen und sich ungestört fühlen kann. Kaffeetrinken zu Hause ( im privaten Bereich ) gehört zum Frühstück , an den Beginn des Tages , wie das bereits Wolfgang Aigen in den Kaffeehäusern im Aleppo des 17. Jahrhunderts ( im öffentlichen Bereich ) feststellte. Bei den Vorgängen des Transfers aus arabisch-islamischen Ländern und aus der Türkei wurden , was das Kaffeetrinken betrifft , überraschend einige wesentliche Züge aus dem Orient beibehalten. Aber auch Unterschiede ergaben sich im Lauf der Übernahmeprozesse , so der häusliche Gebrauch von Kaffee zum Frühstück , den es im Orient in dieser Form nicht gibt. Auch was das Kaffeehaus betrifft , gibt es Parallelen : Man trifft sich , es gab Gegenströmungen zum Kaffeehaus , Verbote , was im Orient rasch geklärt werden konnte und in Europa dazu führte , dass aus dem Kaffeehaus als einem lärmenden Ort ein Ort der Stille , fast könnte man sagen : der Konzentration wurde. Die Zubereitung von Kaffee selbst hat sich jedoch in Teilen Europas – mit Ausnahme des früher osmanischen Südens – im Lauf der Zeit gänzlich gewandelt : Man fügt gerne Milch dazu , um den Kaffee bekömmlicher zu machen , ab dem frühen 19. Jahrhundert , als die Herstellung von Rübenzucker eine Verbilligung auslöste , auch Zucker ( das geschah zum Teil auch im Orient ). Man hat sich bald mit verschiedenen Hilfsmitteln zur Herstellung des Getränks beschäftigt ; die erste Vorform einer modernen Kaffeemaschine wurde 1881 erfunden , was schließlich zur Erfindung der Espressomaschine mit ihren schönen futuristischen Formen führte. Zunächst eroberte sie die Kaffeehäuser , aber seit 1985 gibt es den Kaffee-Vollautomat , der die Bohnen portioniert , reibt und das Getränk fertig bereitstellt. Er fand mittlerweile auch in privaten Haushalten große Verbreitung. In vielen europäischen Gebieten ging es auch darum , den Kaffeesud aus dem Getränk zu verbannen – er wurde als lästig empfunden. Schon die Bezeichnungen im Umfeld von Kaffee lassen auf einen regen Austausch in einigen Regionen Europas schließen – Espresso , Mélange , Grand Café Zwirina , Schanigarten ( eine Wiener Bezeichnung , die an Gianni Taroni erinnert , der um 1750 am Graben ein Kaffeehaus führte ). Am Kaffee lässt sich einiges ganz Typisches für derartige „Übersetzungen“ erkennen : Manches bleibt annähernd so erhalten wie im Ursprungsgebiet , anderes wird Neuerungen unterworfen , die auf die vielfältigen Vernetzungen hindeuten. Dazu kommen noch die verschiedenen Anbaugebiete des Kaffees und die Einflüsse aus ihnen sowie die am Kaffeeanbau und seiner Verwertung

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beteiligten kolonialen – osmanischen , europäischen – Interessen. Am Beispiel des Kaffees lässt sich auch zeigen , dass die Annahme einer „imperial divide“32 zwischen Orient und Okzident , zwischen Afrika , Asien und Europa , zwischen Islam und Christentum nichts zum Erkenntnisgewinn beträgt und deswegen relativ sinnlos ist.

32 Ich übernehme diesen Ausdruck von Edward Said : Always on the Top , in : London Review of Books vol. 25 , No. 6 ( 20 March 2003 ), s. auch : http://www.lrb. co.uk/v25/n06/edward-said/Always-on-top ( Zugriff : 6. 5. 2013 ).

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DAS WIENER KIPFERL ZUM SYMBOLWERT EINES GEBÄCKS Kipferl und Kaffee werden der Legende nach mit dem Entsatz von Wien 1683 verknüpft : der Kaffee mit dem kaiserlichen Kundschafter Kolschitzky , das Kipferl mit dem „türkischen“ Halbmond. „Kaffee und Kipferl sind ,die gar köstlichen Folgen einer mißglückten Belagerung‘ “,1 so der Titel eines satirischen Hörspiels , „der eine von Kolschitzky erkannt , gebrannt , gesüßt ; die anderen von den Wiener Bäckern dem türkischen Halbmonde künstlerisch nachempfunden“. Kaffee und Kipferl haben nach wie vor Symbolwert. Die Geschichte des Kaffees ist – wie Johann Heiss in diesem Band ausführt – eine Geschichte der Aneignung , die des Kipferls eine der Verspottung ; letztere ist heute global verbreitet. 2009 resümierte ein Cartoon in der New York Times „Vienna was saved. [ … ] In celebration , a special pastry was baked in the shape of a cresent ( a ‘croissant’ )“.2 „Essgewohnheiten“ sind ein integraler Bestandteil von Kultur.3 Kultur wird hier als eine symbolische Ordnung verstanden , die auf Differenzen beruht.4 Differenzen stellen die klare Artikulierbarkeit von Identität sicher. Eine Speise erfüllt die Identität stiftende Funktion besonders , das Kipferl , das in der Vergangenheit das Wir-Gefühl stärkte und auch noch heute an solche Abgren1 Franz Hiesel : Die gar köstlichen Folgen einer mißglückten Belagerung. Hörspiel , Stuttgart 1978 ( Reclams Universalbibliothek 9878 ), S. 59. Das Hörspiel wurde am 4. Jänner 1975 bezeichnenderweise vom Sender „Freies Berlin“ erstmals gesendet. Auf den Perchtoldsdorfer Sommerspielen wurde dieses Stück im Jahr 1983 anlässlich des 300. Jahrestages des sogenannten „Massakers“ von Perchtoldsdorf /  Niederösterreich inszeniert. Vgl. Andrea Sommer-Mathis : 300 Jahre König Jan III. Sobieski im Drama und auf den Wiener Bühnen. Türkengedächtnis , mediale Inszenierung und politische Propaganda , in : Johann Heiss , Johannes Feichtinger ( Hg. ): Der erinnerte Feind ( Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 2 ), Wien 2013 , S. 43–72. 2 The Birth of the Croissant & the Bagel , in : The New York Times , 6. 4. 2009 , http://www.nytimes.com ( Zugriff : 1. 5. 2013 ). 3 Über „kulturelle Prozesse und Essgewohnheiten“ vgl. Moritz Csáky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa , Wien 2010 , S. 109–111. 4 Stuart Hall : Das Spektakel des  „Anderen“ ( Original 1997 ), in : Ders. , Ideologie , Identität , Repräsentation. Ausgewählte Schriften Bd. 4 , Hamburg 2004 , S. 108– 166 , hier S. 119.

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zungsvorgänge erinnert. Im 19. Jahrhundert wurde die Verbindung zwischen dem halbmondförmigen Gebäck und dem „Türkensieg“ vor und an den Mauern Wiens hergestellt. Wie es in einem populären Geschichtswerk heißt , sollte das Kipferl den Wienerinnen und Wienern die Möglichkeit geben , „den Halbmond [ … ] ebenso mit den Zähnen zu vernichten , wie sie es gleichzeitig mit den Fäusten auf den Stadtmauern muthig übten“.5 Über die Herkunft dieses köstlichen Gebäcks weiß jedes Schulkind in Österreich Bescheid. Das Lebensministerium führt das „Kipfel“ ( Registriernummer 174 ), als „ein halbmondförmiges bzw. hörnchenförmiges Brauchtumsgebäck , hergestellt aus Germteig ( Hefeteig ), in verschiedenen Varianten“ und bezeichnet es als ein „traditionelles Lebensmittel“ von Wien , beliebt zur Wiener Kaffeejause und zum Wiener Frühstück.6 In diesem Beitrag wird die Identität stiftende Funktion des Wiener Kipferls ( ungarisch kifli , kroatisch kifla , italienisch kifel ) untersucht. Sie liegt – wie erwähnt – im Symbolwert der Halbmondform. Zwei Probleme stehen im Mittelpunkt , nämlich die Übersetzung eines zunächst weitgehend bedeutungsneutralen Zeichens – der Mondsichel – in ein islamisches , genauer : den Islam abwertendes , d. h. bedeutungsstarkes Symbol , sowie die Verfestigung dieses Symbolswerts , seine Übertragung auf ein Genussmittel und die Popularisierung dieser Verknüpfung durch Kirche , Historiker und Bäcker zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen. Die Geschichte zeigt , dass sich das Gebäck in seiner Form und Konsistenz im Laufe der Zeit veränderte , während – und das lässt aufhorchen – die mit dem Kipferl verbundene Symbolik trotz globaler Transfer- und Aneignungsprozesse relativ stabil blieb. Davon leitet sich die These ab , die kürzest gefasst lautet : Die Bedrohung ist allgegenwärtig , sie kann aber durch Zusammenhalt überwunden werden. Das Kipferl ist der Beleg dafür.

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Moriz Bermann : Alt- und Neu-Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen. Seit dem Entstehen bis auf den heutigen Tag und in allen Beziehungen zur gesammten Monarchie , Wien–Pest–Leipzig 1880 , S. 974. 6 Vgl. Traditionelle Lebensmittel in Österreich : http://www.lebensministerium. at/lebensmittel/trad-lebensmittel/speisen/kipfel.html ( Zugriff : 1. 5. 2013 ). Zu den Essgewohnheiten als Ausdruck für den entgrenzen Kommunikationsraum Zentraleuropa vgl. Csáky : Das Gedächtnis der Städte ( siehe Anm. 3 ), S. 109–111. Zu den österreichischen Nationalspeisen und nationaler Identitätsbildung vgl. Roman Sandgruber : Österreichische Nationalspeisen : Mythos und Realität , in : Hans Jürgen Teuteberg , Gerhard Neumann und Alois Wierlacher ( Hg. ): Essen und kulturelle Identität , Berlin 1997 ( Kulturthema Essen 2 ), S. 179–203.

Das Wiener Kipferl

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Das Kipferl: Sage und Wirklichkeit Der Volksmund weiß , dass die gekrümmten Kipferl erstmals vom Wiener Bäcker Peter Wendler erzeugt und vertrieben wurden.7 Wendler habe , so heißt es , im Jahr 1683 die Idee gehabt , zur Verspottung des vor Wien vernichtend geschlagenen „Türkenheeres“ von Kara Mustafa einem Weißgebäck die Halbmondform zu geben. Dieses habe er nach der den Stephansdom bekrönenden Mondsichel Gipfel bzw. Kipfel genannt und in seiner Bäckerei im Haus Grünangergasse 8 ( dem sogenannten „Kipferlhaus“ im Wiener Bäckerviertel ) erzeugt und verkauft ( Abb. 1 ).

Abb. 1 : „Kipferlhaus“, Grünangergasse 8 , 1010 Wien ( Foto : Lisa Bolyos )

Diese vielleicht bekannteste „Türkensage“ wurde – wie erwähnt – im ausgehenden 19. Jahrhundert vom Wiener Historiografen Moritz Bermann ( 1823– 7 Vgl. http://www.sagen.at , und Gust[ av ] Andr[ eas ] Ressel : Das Archiv der Bäckergenossenschaft in Wien. Ein Beitrag zur Geschichte des Wiener Handwerkes , Wien 1913 , S. LIII.

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1895 ) durch seine populäre Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen Alt- und Neu-Wien 1880 verbreitet.8 Darin heißt es : Endlich sollen unsere zweigehörnten Kipfeln ( halbmondförmige Gebäcksgattung ) aus jenen Tagen stammen. Peter Wendler , bürgerlicher Bäckermeister und Stadtgerichtsbeisitzer , Besitzer des Hauses in der Grünangergasse ( heute Nr. 8 , alt 841 , das Bäckergewerbe haftete bereits seit 1585 auf diesem Hause ), soll mit seinem Weibe Eva , geborene Albrechter ( Nachkomme jenes Michael Albrechter , dem die Minenentdeckung im Jahre 1529 zugeschrieben wird [ … ]), auf den ebenso patriotischen als humorvollen Einfall gerathen sein , den türkischen Halbmond in einer besonderen Art von Gebäck zu persifliren und so den Wienern Gelegenheit zu geben , denselben ebenso mit den Zähnen zu vernichten , wie sie es gleichzeitig mit den Fäusten auf den Stadtmauern muthig übten. Da zu gleicher Zeit auf dem Stefansthurme an die Stelle des späteren Adlers und Kreuzes ein Kreuz mit einem Halbmond angebracht war , so ertheilte man dem neuartigen Gebäcke den Namen Gipfel oder Kipfel. Diese Form des neuen „Ayrener-Gebäckes“ ( so hieß nämlich gewöhnlich das Luxusgebäck , weil demselben Eier beigemischt waren ) erwarb sich gar bald Beliebtheit , und der Volksmund nannte den Bäcker selbst den „Ayrener=Kipfel=Bäcken“ und sein Haus „zum grünen Anger“ das Kipfelhaus.9

Im Zusammenhang mit der Kipferlsage ist dreierlei gesichert. Erstens : Sie ist frei erfunden. Zweitens : Sie wurde nicht vor dem 19. Jahrhundert durch Druckwerke überliefert , und drittens ist davor auch die Verbindung zwischen dem Kipferl und der alten Turmbekrönung des Wiener Stephansdoms – Halbmond und Stern – nicht nachweisbar. Stadt- , Wirtschafts- und Sozialhistoriker haben gezeigt , dass es schon im Mittelalter Mondsichelgebäcke ( panes lunati ) gab. Die älteste Darstellung des Kipferls befindet sich im Hortus deliciarum , einer Enzyklopädie des 12. Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundert berichtete Jans Enickel im sogenannten Fürstenbuch , dass die Wiener Bäcker ihrem Landesfürsten Herzog Leopold VI. 1227 als Weihnachtsgabe „chipfen u. weize fleken“ gaben. Auch im 17. Jahrhundert , Jahrzehnte vor der zweiten „Türkenbelagerung“, wurden in Wien schon „ayrenes gebächt oder kipfl“ gebacht , auch geschmalzenes kipfl-gebächt erzeugt und vertrieben. Kipferl werden unter den Schutzpatenten Kaiser Ferdinands III. und Leopolds I. genannt , schon 1670 besaß der Bäcker Adam Spiegel in Wien das kaiserliche Privileg „ayren khüpflgebächt“ 8 Bermann : Alt- und Neu-Wien , S. 974 ( wie Anm. 5 ), und vgl. Felix Czeike : Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden Bd. 3 , Wien 1992 , S. 511. 9 Bermann : Alt- und Neu-Wien , S. 974 ( wie Anm. 5 ).

Das Wiener Kipferl

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zu verkaufen.10 Als die Stadt Wien 1683 zum zweiten Mal von den Osmanen belagert wurde , war in ihr schon ein halbes Jahrtausend lang das Kipferlgebäck in den unterschiedlichsten Formen zum Verzehr angeboten worden. Abraham a Santa Clara , der sich vor und nach der „Türkenbelagerung“ in Wien aufhielt , ortete unter den Wiener Gebäcken sowie auch unter seinen Zeitgenossen „vil lange , kurze , krumpe und gerade kipfel“.11 Die lange Geschichte des Wiener Kipferls zeigt , dass der Zusammenhang zwischen „Türkensieg“ und Kipferl frei erfunden ist : Peter Wendler war 1683 bereits verstorben und sein gleichnamiger Sohn , ebenfalls Inhaber des Kipferlhauses , kein Bäcker , sondern Jurist. Zwar führte der Wiener Stadtarchivar Gustav Andreas Ressel ( 1861–1933 ) Anfang des 20. Jahrhunderts den Nachweis darüber ,12 dennoch hält sich die Legende bis heute. Ressel führte ihren Ursprung auf einen Bäcker namens Johann Fischer zurück , der als „burgerl. statt und kipfel beck“ im Kipferlhaus Grünangergasse 8 für das von ihm erzeugte „ayrene kipfel und gerbn gebächt“ das besondere kaiserliche Privilegien besaß. Sein kipfel gebächt bezaiget, so heißt es in den einschlägigen Akten , „daß dieses in der guette alle andere weith ubertreffe“.13 1970 versuchte der Wiener Stadthistoriker und Archiv Rudolf Till in Anlehnung an Ressel nachzuweisen , dass das Kipferl nicht Wiener , sondern Mödlinger Herkunft sei : Bäcker der Wiener Vorstädte hätten es eine Zeitlang nach Wien gebracht , bevor Wiener Bäcker erwählt worden seien , das Weißgebäck in der Art zu backen , wie es zuvor aus dem Wiener Umland eingeführt wurde. In den Jahren 1526/27 hatten manche Bäckermeister aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses die Stadt verlassen und von ihrer Umgebung aus Wien mit Mödlinger Gebäck versorgt.14 Im 19. Jahrhundert war die Kipferlsage fixer Bestandteil der Wiener Lokalhistoriografie. Zunächst wurde die Sage als Legende enthüllt , um 1880 wurde sie aber in der Art einer Tatsache verbreitet. Sie erfüllte offenbar eine Funktion , auf deren Spur uns die Geschichte des Halbmondsymbols führt.

10 Ressel : Archiv S. XIII f. und S. XXIV ( wie Anm. 7 ), und Czeike : Historisches Lexikon Wien , Bd. 3 , S. 511 ( wie Anm. 8 ). 11 Ressel : Archiv , S. LIII ( wie Anm. 7 ). 12 Ressel schrieb : Die Behauptung , „ein Bäcker in der Grünangergasse in Wien , namens Peter Wendeler , habe nach der Befreiung Wiens von der zweiten Türkenbelagerung zum Spotte der Türken zum ersten Male ein halbmondförmiges Gebäck , Kipfel genannt , gebacken [ … ], wird auch in keinem der angeführten zahlreichen Akten erwähnt.“ Ebd. , S. LIII f. 13 Ebd. , S. LIV. 14 Vgl. Rudolf Till : Woher und wie die Kipfel nach Wien kamen , in : Wiener Geschichtsblätter 25 ( 1970 ), S. 66–69 , hier S. 68 f.

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Das Halbmondsymbol, seine Übersetzungen und Funktionen In der christlichen Ikonografie bezeichneten Halbmond und Stern Anfang und Ende , Kaiser und Papst , irdische und himmlische Mächte. Spätestens 1683 wurde diese ältere Bedeutung aber von einer jüngeren überlagert , derzufolge die Mondsichel in ein islamisches bzw. den Islam abwertendes Symbol umgedeutet wurde. Der Halbmond symbolisierte seither den habsburgischen „Erbfeind“. Der Zeitpunkt dieser Symbolumkehr ist signifikant : Solange die osmanischen Heere den habsburgischen Truppen ebenbürtig waren , wurden die „Türken“ nicht auf erniedrigende Art dargestellt. Ihre Abwertung wäre auf die Verteidiger zurückgefallen , denn über schwache Angreifer konnten keine großen Siege errungen werden. Seit der Überwindung der „Türkengefahr“ wurden die Osmanen verhöhnt , barbarisiert und exotisiert.15 Zeugnis davon legt u. a. die Kapistrankanzel ( 1738 ) an der Außenseite des Wiener Stephansdoms ab , auf der der populäre Kanzelredner , „Türkenprediger“ und heiliggesprochene Hussiten- und Judenfeind Johannes Kapistran ( 1386–1456 ) gezeigt wird , wie er auf einen liegenden , durch Bart und Haartracht als Barbar dargestellten Janitscharen tritt.16 Der Halbmond war das Zeichen , das die Unterlegenheit des „Erbfeindes“ überzeugend und eindringlich vermitteln konnte. Der Zusammenhang von Halbmondsymbol und Kipferl , durch das die „Türken“ verspottet werden konnten , war im 19. Jahrhundert plausibel , die Kipferlsage wurde niedergeschrieben und von Historikern vermittelt. Der erste mir vorliegende schriftliche Nachweis der Umdeutung des Mondsichelsymbols in ein islamisches Zeichen stammt aus dem Jahr 1683. Seit dem 16. Jahrhundert war der hohe Turm des Wiener Stephansdoms mit Halbmond und Stern bekrönt. Dass der sogenannte „Mondschein“ auf Wunsch Sultan Suleimans I. schon 1529 aufgesetzt worden war , ist Legende. Tatsache ist , dass unmittelbar nach dem Entsatz von Wien 1683 der Wunsch auftauchte , die alte Turmbekrönung , Halbmond und Stern , durch ein Kreuz zu ersetzen. Der Hofhistoriograf Johann Peter Vælckeren berichtete schon im Entsatzjahr in seiner Chronik der zweiten „Türkenbelagerung“, dass der Wiener Bischof Emerich Sinelli Kaiser Leopold I. ersucht habe , Halbmond und Stern , „diese gottlosen Waffenzeichen der Türken ( hæc impia Turcarum arma ), herab zu werfen und das 15 Vgl. Johannes Feichtinger , Johann Heiss : Einleitung , in : Johannes Feichtinger , Johann Heiss ( Hg. ), Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“, Wien 2013 ( Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“ 1 ), S. 7–21 , hier S. 10. 16 Vgl. Johann Heiss , Marion Gollner : Stephansdom , Kapistrankanzel , in : http:// www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/kapistrankanzel-an-der-ausenseite-desstephansdoms ( Zugriff : 1. 5. 2013 ).

Das Wiener Kipferl

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Zeichen des heilbringenden Kreuzes an Stelle des Vorigen wieder zu errichten.“17 Dieselbe Begebenheit erwähnte auch der Breslauer Advokat Christian Wilhelm Huhn , der 1717 seinen Augenzeugenbericht über die Denckwürdige Türkische Be­ lagerung veröffentlichte : „So lag hochbedachter Hr. Bischoff zu Wien Ihro Käys. Maj. bittseligst an , daß Ihme erlaubet werden möchte , den halben Monden des meineidigen Feindes herunter zu nehmen , und das Zeichen des Heil. † an dessen Stelle zu setzen.“18 Die alte Turmbekrönung wurde schließlich am 14. Juli 1686 abgenommen und am 14. September , als auch Ofen ( Budapest ) zurückerobert worden war , durch das Kreuz ersetzt. Halbmond und Stern wurden dem „Türkenbischof“ Leopold Kollonitsch überbracht und angeblich vom Kupferstecher Martin Lerch mit einer Neidfeige und Spottinschrift versehen : „Haec Solymanne Memoria tua Ao. 1529“ [ Dies Soliman zu deinem Andenken 1529 ]. Der Mondschein ( Abb. 2 ) wurde daraufhin öffentlich zur Schau gestellt.19

Abb. 2 : „Halbmond und Stern“ oder „Mondschein“, ehemalige Turmbekrönung von St. Stephan ( 1686 entfernt ), Inschrift : „Haec Solymanne Memoria tua Ao“. 1529 ( Wien Museum )

17 Johann Peter von Vælckeren : Vienna à Turcis Obsessa à Christianis Eliberata : Sive Diarium Obsidionis Viennensis , Inde à sexta Maii ad decimam quintam usque Septembris deductum , Wien 1683 , S. 88 ( Übersetzung Johann Heiss ). 18 Christian Wilhelm Huhn : Nichts Neues und Nichts Altes /  Oder umbständliche Beschreibung /  Was Anno 1683 vor /  bey /  und in der Denckwürdigen Türckischen Belagerung Wien /  vom 7 Julii biß 12 Septembr. täglich vorgelauffen , Breslau 1717 , S. 239. 19 Vgl. Albert Camesina : Wiens Bedrängniß im Jahre 1683. Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien. Bd. 8 , Wien 1865 , S. XXVIII f.

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Die Verwandlung des Halbmondsymbols in ein den Islam abwertendes Zeichen manifestiert sich deutlich in der Ikonografie von Mariendarstellungen : Die Gottesmutter Maria wurde als Siegerin über die Osmanen verehrt und häufig auf einem Halbmond stehend dargestellt. Dieses Motiv ist älteren Ursprungs , und es stand lange Zeit in einer anderen ikonografischen Tradition. Im vorliegenden Zusammenhang sind drei Schritte seiner Umdeutung relevant : erstens die Übersetzung der apokalyptischen Frau – ein schwangeres , mit der Sonne bekleidetes und auf dem Mond stehendes „Weib“ ( Apokalypse 12 , 1 ) – in Maria ; zweitens die Translation der Maria-auf-dem-Halbmond-Symbolik in ein die „Türken“ und den Islam abwertendes Zeichensystem ; und drittens die Übertragung des Halbmondsymbols auf das Kipferl als Zeichen der Verspottung der „Türken“. Der abwertende Gebrauch des Mondsichelsymbols

Abb. 3 & 4 : Mariensäule Fürstenfeld , Steiermark , Hauptplatz 1664 ( Fotos : Johannes Feichtinger )

ist seit den „Türkensiegen“ des 17. Jahrhunderts für den innerkirchlichen Bereich quellenmäßig belegbar. Davon zeugen zum einen die Mariensäulen , die unmittelbar nach der siegreichen „Türkenschlacht“ von St. Gotthard /  Mogersdorf am 1. August 1664 in Graz , Fürstenfeld , Klagenfurt und in anderen Orten errichtet wurden ( Abb. 3 & 4 ); auf diesen „Siegessäulen“ wurde der Jungfrau als Zeichen des Triumphes anstatt der Schlange ( Apokalypse 12 , 1 ) häufig eine Mondsichel zu Füßen gelegt , auf die sie tritt. Zum anderen lässt sich der ab-

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wertende Gebrauch der Halbmondsymbolik auch durch eine vom Hofprediger Abraham a Sancta Clara 1697 ( unmittelbar vor der Schlacht bei Zenta ) gehaltene Rede belegen , in der es heißt : „Sie [ Maria ] ist diejenige , welche den Mondschein mit Füssen tritt ; sie ist diejenige , welche die Machometanische Hund in Haasen verkehrt ; sie ist diejenige , welche [ … ] die Ottomanische Porten kann aus dem Angel heben. Salutate Mariam !“20 Im Jahr 1717 deutet der Historiograf der zweiten „Türkenbelagerung“ Christian Wilhelm Huhn „das entsetzliche Panier des [ … ] halben Monden“ ebenso als ein „türkisches“ Zeichen wie eine andere im selben Jahr veröffentlichte offiziöse Schrift , die „den osmanischen Mond unter den Füßen Mariens“ als Zeichen des Triumphes und Sieges vorstellt : „Lunam Ottomannicam sub Mariæ pedibus , inter Austriæ triumphos & victorias“. In der Kärntner Wallfahrtskirche Maria Elend ist noch heute eine auf 1731 datierte Malerei zu bewundern , auf der Maria auf der Mondsichel gezeigt wird : Schwebend auf einer Wolke über dem belagerten Wien wird auf diesem Bild das Motiv der apokalyptischen Frau , die der Schlange den Kopf zertritt , auf die siegreiche Maria übertragen. In der Inschrift heißt es : „Luna sub pedibus eius“ ( Apokalypse 12 , 1 ). Auf einer nicht mehr entzifferbaren Beschriftung unter dem Bild soll es geheißen haben : „Maria verehren wir als Siegerin über den Halbmond und als Retterin der Christen“. Andere Bildnisse zeigen die Erniedrigung der „Türken“ noch deutlicher : Dabei tritt Maria nicht auf das Halbmondsymbol , sondern gleich direkt auf einen ihr zu Füßen liegenden „Türken“. Die dem Bildhauer Matthias Schwanthaler ( 1645–1686/87 ) zugeschriebene , in Krems ursprünglich und heute wieder öffentlich hergezeigte Skulptur aus dem Jahre 1684/85 zeigt die Madonna auf der Halbfigur eines „Türken“ stehend ( A bb.  5 ).21

20 Abraham a Sancta Clara : Brunst zu Wien von Wasser , das ist : Eine kurze Sermon , welche zu Wien , als solche sehr inbrünstig sich gezeiget gegen dem Gnaden-Bild Mariä , so vor einem Jahr zu Böötz in Ober-Ungarn den 4. November geweinet , gehalten worden in der kayserl. Hof-Kirchen der PP. Augustinern Baarfüssern , dazumal als obbenntes Wunder-Bild daselbst von einem unbeschreiblichen Volk verehret worden , den 8. August 1697 , in : Abraham a Sancta Clara : Geistlicher Kramer-Laden voller Apostolischen Waaren und Wahrheiten. Zweite Lindauer , sorgfältig nach dem Originaltext revid. Auflage , Lindau 1867 , S. 384–398 , hier S. 395. 21 Vgl. Simon Hadler : Krems an der Donau , Türkenmadonna , in : http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/krems-an-der-donau-turkenmadonna ( Zugriff : 1. 5. 2013 ).

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Abb. 5 : „Türkenmadonna“ in Krems 1684/85 ( Foto : Herbert Karner )

In einer anderen Variante der Überlegenheitsbezeugung triumphiert nicht Maria , sondern das Kreuz über den Halbmond. Von dieser Symbolkonstellation zeugen u. a. die Dreifaltigkeitssäule in Klagenfurt ( 1689 ), die Minarette von Eger und Pécs ( Ungarn ) und das 1902 errichtete Monument auf dem VeziracHügel nahe von Peterwardein /  Novi Sad ( Abb. 6 ).

Abb 6. : Denkmal auf dem Vezirac-Hügel nahe von Peterwardein /  Novi Sad ( Postkarte , 1902 )

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Bemerkenswert ist , dass in Wien auch noch im 20. Jahrhundert Sakralbauten mit der Maria-Halbmond-Symbolik dekoriert wurden. Ein Beispiel dafür ist die moderne Mariendarstellung von 1962 auf dem Pfarrhaus der Herz-JesuSühnekirche in Wien-Dornbach ( Abb. 7 ). Diese Kirche wurde auf dem sogenannten Frauenfeld am Alserbach errichtet und 1932 geweiht. Der Maria gewidmete Ort ist angeblich der authentische Schauplatz des entscheidenden Sieges von Jan III. Sobieski vor Wien im Jahr 1683. Das drei Stockwerke überragende Sgrafitto zeigt Maria , der dieser Sieg zugeschrieben wurde , auf dem Halbmond stehend. Die der Mondsichel beigefügte Aufschrift : „1683 Sieg an der Als 12. Sept.“ erinnert unmissverständlich an den dem Halbmond seit Jahrhunderten zugeschriebenen Symbolwert.

Abb. 7 : „Marien-Darstellung“, Herz-Jesu-Sühnekirche , Wien Dornbach 1962 ( Foto : Johannes Feichtinger )

Diachrone Übersetzungsprozesse Die Kipferlsage , der zufolge die siegreichen Wiener Bäcker zur Verspottung der „Türken“ dem Halbmond eine Backware nachbildeten , taucht in der Wiener

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„Türkenliteratur“ nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Hierdurch unterscheidet sie sich wesentlich von der Legende über die Einführung des Kaffees in Wien durch den kaiserlichen Kurier und Dolmetscher Georg Franz Kolschitzky ,22 dem auf einem seiner mutigen Botengänge von einem osmanischen Aga der „Türkische Chavve-Trunck“ serviert worden sein soll. Kolschitzky veröffentlichte diese Begebenheit schon 1683 in einer Flugschrift des Wiener Kupferstechers und Verlegers Martin Lerch ,23 die umgehend in Ulm , Nürnberg und Straßburg nachgedruckt wurde. Die Legende über Kolschitzkys Kaffeekränzchen mit dem Feind verzeichnete Mathias Fuhrmann in seiner Stadtchronik Alt- und Neues Wien ( 1739 ),24 und der Chronist Gottfried Uhlich verknüpfte sie in seinem Werk Geschichte der zweyten türkischen Be­ lagerung Wiens , bey der hundertjährigen Gedächtnißfeier , erschienen anlässlich der Hundertjahrfeier des Entsatzes von Wien 1783 ,25 mit den Anfängen des Kaffeeausschanks in Wien. Obwohl historisch unzutreffend , wurde auf sie von den meisten Historikern zurückgegriffen ; sie wurde , fantasievoll ausgestaltet , in unterschiedlichen Varianten überliefert. Der Wiener Stadthistoriker Karl Teply hat die Legende in seinem Standardwerk zur Einführung des Kaffees in Wien ( 1980 ) schließlich zerstört.26 Die Kipferlsage befindet sich weder in Mathias Fuhrmanns Stadtchronik , noch erwähnt sie Johann Pezzl , der in seiner Skizze von Wien in den 1780erJahren auf die Beliebtheit des Kipferls aufmerksam machte.27 In den Eipeldauer 22 Vgl. Johannes Feichtinger , Johann Heiss , Martina Bogensberger : Favoritenstraße /  Kolschitzkygasse , Kolschitzky-Denkmal , in : http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/kolschitzkydenkmal-ecke-favoritenstrassekolschitzkygasse ( Zugriff : 1. 5. 2013 ). 23 I. M. L. [= Johann Martin Lerch ]: Warhaffte Erzehlung , Welcher Gestallt In der ängstlichen Türckischen Belägerung der Kayserl. Haupt vnd Residentz-Stadt Wien in Oesterreich Durch das feindliche Lager gedrungen , vnd die erte Kundschafft zur Kayerlichen Haupt-Armee , wie auch von dar glücklich wider zurück gebracht worden , Wien–Salzburg 1683. 24 Vgl. Matthias Fuhrmann : Alt- und Neues Wien , Oder Dieser Kayserlich- und Ertz-Lands-Fürstlichen Residentz-Stadt Chronologisch- und Historische Beschreibung. Anderer Theil , Wien 1739. 25 Gottfried Uhlich , Geschichte der zweyten türkischen Belagerung Wiens , bey der hundertjährigen Gedächtnißfeier , Wien 1783. 26 Karl Teply : Die Einführung des Kaffees in Wien. Georg Franz Kolschitzky , Johannes Diodato , Isaak de Luca , Wien 1980 ( Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte ). 27 Vgl. Johann Pezzl : Skizze von Wien. Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit , hg. v. Gustav Gugitz und Anton Schlossar , Graz 1923 , S. 367. Hier heißt es : „Darum stehen in allen Vorstädten bis gegen Mittag hölzerne Ständ-

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Briefen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird vom „Kipfelweib“ berichtet ,28 das das Gebäck in Wien feilbot ; auf die Kipferlsage nahm der Verfasser Joseph Richter aber nicht Bezug. Die Sage tauchte vermutlich erstmals verschriftlicht im Jahr 1845 in einer vermischten Nachricht des Wiener Buchhändlers und Chronisten Franz Gräffer ( 1785–1852 ) in der Oesterreichisch-Kaiserlichen privilegierten Wie­ ner Zeitung auf. Inwieweit Gräffer auf eine mündliche Überlieferungstradition zurückgriff , lässt sich nicht eruieren. In einer kurzen Abhandlung über „Historische Bürgerhäuser Wiens“ berichtete er über die Geschichte des Hauses in der Grünangergasse , das er mit der Einführung des Kipferls in Verbindung brachte : Unter anderem rührt auch die Gestalt jener Brotgattung , welche man „Kipfel“ nennt ( auswärts Hörndl , Hörnchen ) von einem der Bäckermeister des besagten Hauses her. Zur Zeit der zweyten Türkischen Belagerung nämlich , 1683 , waren die Eheleute Peter und Eva Wendler auf diesem Gewerbe , und hatten den patriotisch-humoristischen Einfall , dieser Gattung des Gebäckes , dem moslemischen Halbmond zum Trotz und Hohn , die Form desselben zu geben. Dieß ist thatsächlich der Ursprung einer in der ganzen Welt verbreiteten Brotgestalt.29

Weiters nahmen Realis im Curiositäten- und Memorabilienlexikon ( 1846 ), Gräffer in seinen Wiener Dosenstücken ( 1852 ) und der Wiener Stadthistoriograf Moriz Bermann in seiner populären Geschichte der Wiener Stadt und Vorstäd­ te ( 1866 ) auf die Kipferlsage Bezug.30 In der im Verlag von Albert A. Wenedikt erschienenen Wiener Stadtgeschichte erinnerte Bermann , dass Wendler „auf den Einfall gerathen“ sei , den „türkischen“ Halbmond in einer neuen Art von Gebäck zu verspotten , welches von dem Halbmond auf dem Gipfel des

chen , wo man für die Liebhaber aus dem Pöbel die Schale samt einem Kipfel für 1 Kreuzer ausschenkt.“ 28 Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran , über d’Wienstadt. Aufgefangen und mit Noten herausgegeben von einem Wiener , Wien 1785–1797 , S. 12. 29 [ Franz Gräffer ]: Vermischte Nachrichten. Historische Bürgerhäuser Wiens , in : Oesterreichisch-Kaiserliche privilegierte Wiener Zeitung , 13. April 1845 , S. 788. 30 Vgl. Realis : Curiositäten- und Memorabilien-Lexicon von Wien. Ein belehrendes und unterhaltendes Nachschlag- und Lesebuch in anekdotischer , artistischer , biographischer , geschichtlicher , legendarischer , pittoresker , romantischer u. topographsicher Beziehung , hg. von Anton Köhler , Bd. 2 , Wien 1846 , S. 105 , Franz Gräffer , Wiener-Dosenstücke ; nämlich : Physiognomien , Conversationsbildchen , Austritte , Genrescenen , Caricaturen und Dieses und Jenes , Wien und die Wiener betreffend ; thatsächlich und novellistisch. Zweiter Theil , Wien 1852 , S. 100 f. [ Moriz Bermann ]: Geschichte der Wiener Stadt und Vorstädte , Wien 1866 , S. 460.

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Stephansthurmes Gipfel oder Kipfel genannt wurde.31 Bermann stellte diese Legende zu diesem Zeitpunkt jedoch sogleich richtig : „Wie unrichtig dies ist , ergeht daraus , daß bereits zur Zeit Leopolds des Glorreichen von den Chiphen ( Kipfel ) die Rede ist , welche ihm die Bäcker überbrachten , woraus zu ersehen , daß diese Art Gebäck ein uraltes wienerisches ist.“32 Anderthalb Jahrzehnte später erzählte der gleiche Autor die Legende in seiner neuen Stadtgeschichte Alt- und Neu Wien ( 1880 ), aber in der Art , als ob sie tatsächlich so vorgefallen wäre : Diese „besondere Art von Gebäck“ sollte „den Wienern Gelegenheit [ … ] geben“, den „türkischen Halbmond“ „ebenso mit den Zähnen zu vernichten , wie sie es gleichzeitig mit den Fäusten auf den Stadtmauern muthig übten.“33 Was hatte sich seit 1866 in Wien verändert ?

Zurück auf die Barrikaden: Neue Feinde von innen, neue Feinde von aussen Um 1880 hatten sich die politischen Gegensätze in Wien verschärft. In der Auseinandersetzung zwischen der liberalen und der konservativen Partei wurden zwei Feindbilder gebrauchsfähig , das der „Türken“ und das der Slawen. In den Augen der Konservativen gefährdeten die „Türken“ die zivilisatorische Mission Österreichs in den neu verwalteten Provinzen Bosnien-Herzegowina , in den Augen der Liberalen gefährdete eine antizentralistische , slawenfreundliche und konservativ-klerikale Staatsverwaltung die Vormachtstellung der deutschliberalen Metropole Wien. Auf Staatsebene verfolgte der 1879 zum Ministerpräsidenten berufene Eduard Taaffe ( 1833–1895 ), ein Jugendfreund Kaiser Franz Josephs , einen streng antiliberalen Kurs. Taaffe , der nahezu eineinhalb Jahrzehnte an der Macht war , untergrub durch seine „staatssozialistische“34 Politik die drei zentralen Fundamente des Altliberalismus – den deutschen Zentralis31 [ Bermann ]: Geschichte der Wiener Stadt und Vorstädte , S. 460 ( wie Anm. 30 ). Ähnlich hatte auch Constantin von Wurzbach in seiner Sammlung Historischer Wörter ( 1863 ) das Wort Kipfel erläutert : „Das Wort Kipfel selbst dürfte eine Umbildung von Gipfel , d. i. oberste Spitze sein , da der Stephansthurm , wie jetzt mit dem kaiserlichen Adler , damals mit Kreuz und Halbmond gekrönt war.“ Vgl. Historische Wörter. Sprichwörter und Redensarten in Erläuterungen. Gesammelt und herausgegeben von Constantin von Wurzbach , Prag 1863 , S. 229. 32 [ Bermann ]: Geschichte der Wiener Stadt und Vorstädte , S. 460 ( wie Anm. 31 ). 33 Bermann : Alt- und Neu-Wien , S. 974 ( wie Anm. 5 ). 34 Vgl. Ernst Hanisch , Peter Urbanitsch : Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen , in : Die Habsburgermonarchie 1848– 1918 , hg. von Helmut Rumpler , Peter Urbanitsch , Bd. VIII / 1 : Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft , Wien 2006 , S. 15–111 , hier S. 34–79.

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mus , den Antiklerikalismus und die unregulierte Marktwirtschaft – und somit seine Vormachtstellung. Den Tschechen wurden Zugeständnisse gemacht ; die Arbeiterschaft wurde beschwichtigt und das Wahlrecht auf untere Schichten der Bevölkerung ausgeweitet. Durch die Politik der „Decentralisation“ drohte Wien „von ihrer im Laufe der Jahrhunderte erklommenen Höhe als Capitale eines großen Reiches herabgestürzt“ zu werden , so kommentierte die Neue Freie Presse , und mit ihr die Vormachtstellung der deutschen Kultur und des deutschen „Volksstamms“.35 Im öffentlichen Diskurs wurden die Slawen zunehmend mit jener Bedrohung gleichgesetzt , der Wien 1683 ausgesetzt war. Der Entsatz von damals gab aber Hoffnung , dass auch die neue „Türkengefahr“, die nun von innen kam , überwunden werden konnte. Im Jahr 1878 hatte Österreich-Ungarn das osmanische Paschalik Bosnien okkupiert und seine Verwaltung übernommen. Bosnien-Herzegowina wurde nicht nur zu einem Experimentierfeld kolonialistischer Abenteuer , sondern auch zu einer Musterprovinz , an der die habsburgische Verwaltung die Überlegenheit der staatsnationalen Idee demonstrieren konnte : Der nationalpolitische Wille der Serben , Kroaten und „Türken“ sollte durch die Konfessionalisierung der Bevölkerung gebrochen werden : Die Serben wurden als Griechen bzw. Orthodoxe , die Kroaten als Lateiner bzw. Katholiken , und die Muslime als Bosniaken klassifiziert ; von der Propaganda wurden letztere in slawische und „türkische“ Muslime aufgeteilt. Diese stilisierten konservative Meinungsmacher zum Feindbild schlechthin. Der Wiener Politiker , Jurist und Historiker Joseph Alexander Helfert ( 1820–1910 ) klassifizierte sie in seiner Hetzschrift Bosnisches ( 1879 ) als zivilisierungsunfähig , während „der muslimische Bosnier und Hercegove eines Stammes mit dem katholischen und dem orthodoxen“ sei ; er spreche „eine und dieselbe Sprache“ und er teile „einen großen Theil seines Ideenkreises“ mit den Österreichern. Die autochthonen Slawen befänden sich „in einer Art Urzustand“, der – wie von Helfert und von anderen immer wieder betont wurde – hinreichend Anlass gäbe zu einer vorsichtigen , „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung. Die mit der Zivilisierung verbundene Absicht hieß offenkundig : Annexion „von altersher uns zugehöriger Landschaften.“36 Der integrierbare Slawe sollte inkludiert werden , der unintegrierbare „Türke“ musste wieder nach Asien zurückgedrängt werden : „Dann erst wird“, so Helfert , „die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Sieges von 1683 bis in ihre letzten Consequenzen erfüllt sein !“37 35 Neue Freie Presse 13. 9. 1883 , S. 1. 36 Frhr. [ Joseph ] von Helfert : Bosnisches , Wien 1879 , S. 259 , S. 17 , S. 285 , S. 172. 37 [ Joseph ] Freiherr von Helfert : Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Siegs von 1683. Vortrag , gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katholisch-politischen Casinos der inneren Stadt , Wien 1883 , S. 32.

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Vor dem Hintergrund dieser neuen Bedrohungen ( Verlust der deutschliberalen Vormachtstellung und Gefährdung der zivilisatorischen Mission in Bosnien-Herzegowina ) mobilisierten die Wiener Stadtväter und staatliche Machteliten in einer Art Zweifrontenkrieg die siegreichen Vorfahren des Jahres 1683 , um auf ihrem Rücken die neuen Feinde abzuwehren : Das liberale Bollwerk Wien wurde von dynastietreuen Konservativen , Slawen und der Kirche angegriffen , der integrative Kulturstaat durch „türkische Miswirthschaft“, „lüderlichen Schlendrian“ und „muslimische Tyrannei“.38 Angesichts der neuen Feinde wurde die Chiffre des unterworfenen „türkischen“ Halbmonds 1880 wieder bedeutungsvoll. Die Legende von dem halbmondförmigen Gebäck , das angeblich 1683 erfunden worden war , um den Feind , „mit den Zähnen zu vernichten , wie sie [ die Wienerinnen und Wiener ] mit den Fäusten auf den Stadtmauern muthig übten“, musste motivierend wirken.39 Die Legende konnte konnte daher in Geschichtswerken ohne Hinweis auf ihren zweifelhaften Wahrheitwert vermittelt werden.

Die Wiener Bäcker, das Kipferl und das „Türkenfeindbild“ Auszugehen ist davon , dass nicht nur Politik und Kirche , sondern auch Berufsstände wie die Bäckerzunft das „Türkenfeindbild“ wiederbelebten und wachhielten : Vorrechte und Privilegien mussten verteidigt werden , das Anrecht darauf bezeugten heroische Taten in der Vergangenheit. Die Wiener Bäcker stellten daher die im Jahr 1683 patriotisch erfüllte Bürgerpflicht eine Zeit lang demonstrativ zur Schau. Zum einen erinnerten sie an ihre Verdienste mit einem öffentlichen Aufzug am Ostermontag eines jeden Jahres , dem sogenannten Bäckeraufzug. Zum anderen wurden auch Gegenstände wie der Innungsbecher direkt mit der patriotischen Tat verknüpft. Legenden verleihen Legitimität. In der von der Wiener Bäcker-Innung anlässlich der zu ihrem 700-Jahr-Jubiläum veröffentlichten Festschrift 1927 wird berichtet , dass „in den alten Handwerksliedern der Bäckergesellen [ … ] im38 Helfert : Bosnisches S. 193 , S. 265 , S. 273 , S. 194 ( wie Anm. 42 ). Vgl. auch Johannes Feichtinger : Orientalismus und Nationalismus. Abgrenzungskonzepte in der Habsburgermonarchie und in der frühen Republik Österreich , in : Gerald Lamprecht , Ursula Mindler , Heidrun Zettelbauer ( Hg. ): Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne , Bielefeld 2012 , S. 187–202 , und ders. : „Auf dem Zauberhaufen“. Der Burgravelin und die Funktionalisierung des Gedächtnisses an den Entsatz Wiens von den Türken 1683 , in : Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 64 , 1/2 ( 2010 ) ( Sonderheft : Wiener Stadt- und Burgbefestigung ), S. 108–115. 39 Bermann : Alt- und Neu-Wien , S. 974 ( wie Anm. 5 ).

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mer wieder von den Ruhmestaten der Wiener Bäcker in der Türkennot die Rede“ war. „ ,Die Löwen und das blanke Schwert – hat Kaiser Karl uns verehrt‘ heißt es in einem dieser Lieder.“ 1927 war klar , dass „historisch [ … ] von jenen legendären Heldentaten wenig nachweisbar und von einer ,kaiserlichen‘ Anerkennung als solcher nichts vorhanden“ war. Was darüber erzählt werde , „namentlich soweit sich diese Sagen auf die erste ,Türkenbelagerung‘ ( 1529 ) beziehen“, sei „historisch nicht nachweisbar“. Über die tatsächlichen Verdienste der Wiener Bäcker während der „Türkenbelagerungen“ sei nichts überliefert , die Erzählung , dass ein Bäckerjunge die Unterminierung der Stadtmauer im Bereich von Hof und Freiung entdeckt und vereitelt haben soll , sei Sage. Was sich indes belegen lässt , ist , dass die Bäcker so wie andere Zünfte während der zweiten osmanischen Belagerung eine Kompanie von 150 bis 230 Mann zu Verteidigung Wiens stellten , die im zentralen Verteidigungsbereich der Osmanen – auf der Mölker- und Löwelbastei – eingesetzt wurde. Lange Zeit herrschte die Auffassung vor , dass mit dem Aufzug der Bäckergesellen , der jedes Jahr über den Burgplatz zum Platz am Hof führte , das Andenken an die erste „Türkenbelagerung“ ( 1529 ) gefeiert wurde. Der Aufzug ist erstmals für das Jahr 1700 belegt ; später wurde er von den Bäckern als ein Privileg bezeichnet , das sie angeblich aufgrund ihrer Verdienste 1683 erhalten hatten.40 Während in Wien die Bäckeraufzüge 1809 auf Antrag des Zunftvorstehers und mit Zustimmung der Gesellenversammlung abgeschafft wurden , werden solche Aufzüge im westfälischen Münster noch heute veranstaltet : 1683 soll ein Münsteraner Bäckergeselle vor dem Feind gewarnt haben , wofür – der Sage nach – Leopold I. den Bäckern in Ausbildung das Privileg eines freien Montags – den sogenannten Guten Montag – gewährte. Auf den Bäckerumzügen in Wien wurde auch der Innungsbecher der Wiener Bäcker mitgeführt , auf dem die Tradition der Umzüge auch bildlich verewigt wurde. Der Innungsbecher ist nicht , wie die Legende vom sogenannten „Heidenschuss“ erzählt , ein Geschenk , das dem Bäckerjungen 1529 zum Dank für seine Aufmerksamkeit gemacht wurde , sondern eine spezielle Anfertigung zum 100-Jahr-Jubiläum des Entsatzes und der Befreiung Wiens 1783.41 Durch dieses Prunkstück sollte der Anteil der Bäcker an dieser heroischen Tat in Erin40 Vgl. Ressel : Das Archiv der Bäckergenossenschaft in Wien , S. XLIX–LIV ( wie Anm. 4 ), Realis : Curiositäten- und Memorabilien-Lexicon , S. 123–125 ( w ie Anm. 32 ), und Erwin Steinböck : Die Feier historischer Gedenktage in Wien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. , Wien 1947 , S. 17–23. 41 Vgl. Czeike : Historisches Lexikon Wien , Bd. 1 , S. 228 ( wie Anm. 8 ), und Marion Gollner , Martina Bogensberger , Johann Heiss : Florianigasse , Innungsbecher der Wiener Bäcker , in : http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/innungsbecher-der-wiener-backer ( Zugriff : 1. 5. 2013 )

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nerung gehalten werden. Was den Innungsbecher im Zusammenhang mit dem Wachhalten des „Türkenfeindbildes“ bedeutend erscheinen lässt , ist , dass die Abwertung des vernichtend geschlagenen Feindes durch zwei Halbmondmotive Ausdruck erfährt : durch das Kipferl und – am Deckel – durch den Adler , der mit seinen Klauen den Halbmond zerbricht. Die Erniedrigung des besiegten Feindes wird besonders darin manifest , dass am Fuß des Pokals drei liegende getötete „Türken“ gezeigt werden ; auf den Kopf eines Osmanen tritt der Fahnenträger als Zeichen tiefster Herabwürdigung.42 Hier ist das sogenannte Calcatio-Motiv , das Auf-den-Feind-Treten , das uns schon in der Darstellung des Heiligen Johannes Kapistran an der Außenseite des Stephansdoms sowie in Ausführungen Marias und des Kreuzes über dem Halbmond begegnete , in säkularisierter Form ausgeführt.

Übersetzung im Raum Die in Wien erfundene und durch Legenden , Gegenstände und Lokalgeschichtsschreibung bewahrte Tradition , die das Kipferl mit dem osmanischen Halbmond verbindet und diesen zugleich dem Verzehr preisgibt , wurde spätestens im 19. Jahrhundert global verbreitet. Die Kipferlsage ist heute in unterschiedlichen Varianten von globaler Bedeutung. Im 19. Jahrhundert bezeichnete der Schriftsteller Realis Wien als „die Pflanzschule der Kunst , Brot zu backen“. Von Wien aus sei diese Kunst „auf Frankreich , auf England , auf Neapel , auf die meisten europäischen Hauptstädte“ übergegangen. Das Kipferl war zunächst als „croissant viennoise“ in Paris heimisch geworden , durch Napoleon eroberte es Europa : als Hörnchen , Cornetto oder Gipfeli.43 Nach der Weltausstellung 1889 verdrängte das Kipferl in geblätteter Form die ältere Wiener Zubereitungsart. Während sich Konsistenz und Form des Kipferls mit jeder Übersetzung in einer andere Kultur wandelten , blieb der mit ihm verbundene Symbolgehalt aber dauerhaft stabil. Davon zeugt u. a. eine Inschrift , in der zuletzt in einem US-amerikanischen Supermarkt um Käufer geworben wurde. Auf ihr heißt es : According to legend , the bagel was produced as a tribute to Jan Sobieski , King of Poland , who had just saved Austria from an onslought by Turkish invaders. In gratitude , a local baker shaped yeast dough into the shape of a stirrup to ho42 Vgl. Zwei Denkwürdigkeiten aus der Türkenzeit. I. Das Kugelkreuz bei Schwechat. II. Der Pokal der Bäcker-Innung , in : Die Heimat. Illustriertes Fremdenblatt 8 ( Wien 1883 ), S. 815. 43 Realis : Curiositäten- und Memorabilien-Lexicon , S. 105 ( wie Anm. 36 ).

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nor him and called it a ‘beugel’. The roll was a hit and its shape soon evolved into one we know today and its name converted to ‘bagel’.44

In dieser Variante der Kipferlsage wurde der Bagel in Anlehnung an Sobieskis halbmondförmigen Steigbügel erfunden. Damit wurde die ältere , im deutschsprachigen Raum gängige Version der Kipferlsage für amerikanische Bedürfnisse übersetzt. Sobieski wird als Retter Wiens vor den türkisch-muslimischen Invasoren gefeiert. Auch die Übersetzung der Kipferlsage in die Sobieski-Steigbügel-Legende hat eine Geschichte. Ihr Ursprung liegt in der Vermittlung beider Legenden durch deutschsprachige und durch yiddisch-polnische Bäcker , die um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert waren und das Bäckereigewerbe der USA bald beherrscht hatten. Der historische Jan III. Sobieski hatte die Juden der polnisch-litauischen Adelsrepublik unterstützt , und er hatte in der von seinem Großvater gegründeten Stadt Zolkiew eine Synagoge errichtet.45 Sobieskis heroische Tat scheint noch heute mit der Hoffnung auf neue Siege verbunden zu werden : Bagel und Kipferl – „die gar köstlichen Folgen einer mißglückten Belagerung“ – bieten dafür Gewähr. Als Symbol taugen sie sogar zur Karikatur. Im Wiener Gemeinderatswahlkampf 2005 wurde dem Spitzenkandidaten der Freiheitlichen Partei ( FPÖ ) der Slogan „Brot statt Kipferl – NEIN zu Gebäck in Halbmondform !“ in den Mund gelegt.46 2009 griff die New York Times in einer Karikatur mit dem Titel „The Birth of the Croissant & the Bagel“ auf den historischen Sieg von 1683 zurück ,47 und die radikale Internetplattform „Gates of Vienna“ zeigte Sobieski am 11. Septemer 2007 vor den brennenden Türmen des World-Trade-Centers reitend unter dem Motto „We are in a new phase of the old war.“ Im beigefügten Kommentar heißt es : „The route of the Ottoman troops before the gates of Vienna by the Polish hussars gave us a little breathing room , a coffee-and-croissants break that lasted for the next three hundred and eighteen years. But no longer. From now on in , every day is September 11th.“48

44 Vgl. Maria Balinska : The Bagel. The Surprising History of a Modest Bread , Yale 2008 , S. 20. 45 Ebd. , S. 31–43. 46 NEIN zu Gebäck in Halbmondform ! , in : Augustin ( 14. 10. 2005 ), S. 18. 47 The Birth of the Croissant & the Bagel , in : The New York Times , 6. 4. 2009 ( http://www.nytimes.com ). 48 All Our September Elevenths , in : http://gatesofvienna.net/2007/09/All-ourseptember-elevenths ( Zugriff : 1. 5. 2013 ).

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Konrad Köstlin

DIE WIENER KÜCHE EIN ALLEINSTELLUNGSMERKMAL AVANT LA LETTRE

Von der Küche zur Stadt Von Wien aus gesehen gilt die Wiener Küche als die einzige Küche Europas , die nach einer Stadt benannt ist. Zwar gibt es früh schon das Bremische Koch­ buch der Betty Gleim ( zuerst Bremen und Aurich 1808 ). Doch das ist nie Anlass gewesen , von einer Bremischen Küche zu sprechen. Das Buch ist in Bremen verfasst , enthält aber keine spezifisch mit Bremen konnotierten Gerichte , sondern vielmehr Gerichte , die es anderswo auch gab. Bremen war Ort einer von Betty Gleim wesentlich beförderten Frauenbewegung : Bremisches Kochund Wirthschaftsbuch enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände gut zubereiten [ … ] lernt. Für junge Frauenzimmer , welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben wollen. Neben allen Rezepten enthält das Buch , wie die weiteren seiner Autorin , ganz deutlich einen emanzipatorischen Akzent. Auch frühe Wiener Kochbücher erlauben eine solch großräumige Zuordnung. Titel wie Die praktische Wiener Köchin der Anna Hoffbauer ( 1825 ), die Wiener Küche der Anna Dorn ( Neues Universal- oder großes Wiener Kochbuch , 1827 ), das der Rosalia Neumann ( 1873 ), der Louise Seleskowitz ( 10. Aufl. 1899 ) oder das der Marie Dorninger mit dem Titel Bürgerliches Wiener Kochbuch gehören hierher. „Bürgerlich“ markiert die wichtige Zuordnung : Bürgerliches Wiener Kochbuch für 3 bis 4 Personen. 1651 Rezepte mit Angaben des Herstellungspreises ( Wien 1900 ; Josef Deublers Verlag , 3.Aufl. 1909 ). Die Süddeutsche Küche der Katharina Prato , 1858 in Graz erschienen , verzeichnet neben österreichischen Speisen auch solche der ungarischen , südund ostslawischen , polnischen und böhmischen , italienischen und jüdischen Überlieferung , mithin mehr Gerichte , die auf die Vielvölker-Genese verweisen als alle Wiener Kochbücher dieser Zeit. Als das Standardwerk der Wiener Küche gilt „die Hess“, eine universale Sammlung von Kochrezepten , die Olga Hess für eine Frauen-Bildungsanstalt versammelte. Das dickleibige Werk hat seit seinem Erscheinen 1911 immerhin 44 Auflagen ( zuletzt 2001 ) erlebt. Auch „die Hess“ hat mit dem praktischen Hintergrund als Lehrbuch , als Sammlung von Kochrezepten der Bildungsanstalt für Koch- und Haushaltungsschullehren und der Kochschule der Gastwirte in Wien , keine plausible Wiener Erzählung anzubieten. Die Deutung Wiens als Völkertopf und dessen Verknüpfung mit

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„der Hess“ haben Gastroliteraten , die Propagandisten dieser Idee , gestern und heute erst mit der Verwienerung der Küche verknüpft.

Das Alleinstellungsmerkmal Bemerkenswert ist , wie diese Wiener Küche den Aufstieg aus der Masse der Universalküchen zur ortsspezifischen Gattung schafft , die heute als ihr Alleinstellungsmerkmal gilt. Dieser Begriff „Alleinstellungsmerkmal“, die Unique Selling Proposition ( USP , Rosser Reeves , 1940 ), stammt als Begriff aus der Marketingtheorie und -praxis und meint dort das Verkaufsversprechen , einzigartig zu sein. Längst gilt als ausgemacht , avant la lettre und nicht nur in der Werbebranche , dass Küchen als identitätsproduktiv gelten. An der Propagierung des Wienerischen und der Rede von der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der Stadt und ihrer Merkmale arbeiten die Kulturinstitutionen der Stadt , das Wien Museum , der ORF und die Printmedien ( und hier nicht nur der sog. Boulevard ). Da geht es nicht nur um den Wiener Würstlstand mit seiner gepflegten kabarettistischen Derbheit der Würstelstandsprache. Auch ein sonst kritisches Blatt wie die Wiener Stadtzeitung Falter widmet sich regelmäßig dem Wiener Essen und dem Würstelstand in einer Art Dauer-Ranking des Scheinproletarischen. Am Wiener Würstelstand übrigens gibt es die Wiener Wurst nicht. Eben erscheint ein Fotobuch : 95 Wiener Würstelstände ( Sebastian Hackenschmidt , Stefan Oláh , 2013 ). Dieses konzertierte Marketing des Wienerischen wird immer wieder mit dem Begriff der Identität verknüpft : Ob es sich um eine halbstündige Rundfunksendung zur Wurstsemmel im Kultursender Ö 1 oder um eben die kurzzeitig als Markenbezeichnung gefährdeten und als mediales Erregungsangebot traktierten Käsekrainer handelt , um Ausstellungen zum Essen und zur Kulturgeschichte der Wiener Gaststätten. Akademisierte und popularisierte Diskurse als Angebot zur Dauerreflexion über das Eigene sind angesagt. Vorab schon lässt sich also fragen , ob die Konturen der Wiener Esskultur nicht Ergebnis dieser Dauerreflexion eines Auto-Marketings sind. Man kennt , verbunden mit Orten , einzelne Gerichte : Linzer Torte und Leipziger Allerlei , Spaghetti Bolognese oder das Wiener Schnitzel. Insbesondere sind es die Würste gewesen , die den Namen einer Stadt tragen – Braunschweiger , Frankfurter und Wiener , Regensburger und Lyoner. Man hat Küchen nach Ländern und Regionen eingeteilt , kennt die französische , italienische , auch die deutsche und die ungarische Küche , redet von der Küche der Toskana , Bayerns oder Istriens , der Tiroler Küche , der Umbriens , oder des Elsass und der Provence , Badens und der Emilia Romagna. Je weiter entfernt vom Ort einer Küche man urteilt , umso großräumiger und allgemeiner

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werden sie wahrgenommen. Gulasch steht dann für ganz Ungarn , daneben scheint es nichts zu geben ( obwohl die ungarische Küche vielfältig ist ). Für Bayern stehen dann vielleicht Schweinsbraten und Weißwürste ( obwohl die Bayern selbst eine Vielzahl von Gerichten aufzählen würden , die sie als bayerisch bezeichnen würden ). Küchen bleiben üblicherweise Ländersache. Es gibt zwar Berliner Kochbücher , doch die Behauptung einer Berliner Küche wird ernsthaft nicht einmal in Berlin geteilt , außerhalb verdiente sie allenfalls ein nachsichtiges Lächeln , obwohl auch sie , und so vergleichbar der Wiener , die Einflüsse der Küchen vieler Zuwanderer amalgamiert hat. Außer Eisbein und Erbsenpüree und jüngst der Currywurst hat sie zu wenig aufzuweisen , was als Typik durchginge. Ohne Frage haben auch andere Großstädte von ihren Zuwanderern kulinarisch profitiert. Es mag also hier oder dort ein , zwei , drei oder auch vier Gerichte geben , die als typisch angesehen werden. In der Wiener Küche aber tanzt ein ganzes Ensemble. Es repräsentiert eine besondere Vielfalt , die dieses kulinarisch-ideologische Gesamtarrangement ausmacht und in weite Bezüge einbettet. Dessen Marketing war gut und die Geschichte zur rechten Zeit hochplausibel , weil das Ethnisch-Vielvölkermäßige Nationalistisches zu kompensieren schien und Wien gegenüber den Bundesländern eine Kontrastkulinarik verpasste. Und : Wien ist – und das scheint für den Erfolg wichtig – im Marketing ständig superlativistisch auf der Spur. Die Stadt ist dabei eine Nehmende , alles zum eigenen Nutzen Verwertende. Exkurs , der Vollständigkeit halber : Die „Frankfurter Küche“ gibt es. Aber die ist ein Küchengehäuse , das den Namen der Stadt trägt , für die es entworfen wurde. Die dort tätige , aus Wien stammende Architektin Grete SchütteLihotzky hatte sie 1926 für 10. 000 Frankfurter Arbeiterwohnungen als Mitarbeiterin des Amts-Architekten Ernst May entworfen. Sie wird heute in zwei Wiener Museen so ausgestellt , dass man nach dem Provenienzprinzip glauben könnte , sie wäre eine Wiener Küche. Diese Küche ist den Ideen August Bebels über Die Frau und der Sozialismus nachgebaut , also für die berufstätige Frau gedacht und ergonomisch so praktisch wie die Kombüse eines Schiffes oder eines Speisewagens – also nicht wirklich ein Platz zum „richtigen“ Kochen , sondern eher zum Aufwärmen von bereits Gekochtem , das man sich aus der sozialistischen Gemeinschaftsküche holen sollte , die sich auch im „Roten Wien“ nicht durchsetzen konnte.

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Das Wien-Arrangement Es ist gewiss richtig , dass die Wiener Küche das Ergebnis einer vielschichtigen Beziehung von Kommen und Gehen , Bringen und Nehmen , Umformen und Aussondern ist , das sich im Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie in der Metropole Wien ausgedrückt hatte. Aber das ist kein Phänomen , das allein in Wien zu beobachten gewesen wäre. Auch wenn bereits im 19. Jahrhundert über das Essen in Wien Lobendes etwa vom verfressenen Adalbert Stifter festgehalten und oft zitiert wird , und wenn das Wohlleben , aufklärerisch auch als Genusssucht gegeißelt , in Wien früh belegt ist : Die eigentliche Geschichte der Verwienerung der Küche zur „Wiener Küche“ beginnt erst spät. Sie ist Ergebnis und Begleiter eines Traums vom harmonischen Vielvölkerreich , der seinen Höhepunkt nach dessen Ende hatte : die Krise als Motor.

Kontrastives Für Wien steht offenbar mehr und Wien steht offenbar für mehr. Während sich Wien als Stadt des Gemüts und der Gemütlichkeit und des guten und reichlichen Essens profilieren konnte , galt und gilt Berlin als Stadt einer – von Wien aus gesehen – eher unsympathischen Moderne und des Tempos. Das ist jüngst mit dem Marketing-Slogan „Baustelle Berlin“ für den Städtetourismus erfolgreich ins Positive umgemünzt worden. Heute haben , daneben , österreichische Köche das obere Ess-Segment Berlins fest in der Hand , so wenigstens berichten es immer wieder Wiener Medien. Österreich und insbesondere Wien verwalten dieses Genusssegment , wie auf der Expo 2000 in Hannover , als Österreich mit seiner Selbstdeutung „Lebenskunst“ aufwartete. Die Nagelprobe ist leicht gemacht : Niemand führe – wie nach Wien – nach Berlin , um dort besonders gut zu essen. In Wien sucht man kein metropolitanes Tempo ( obwohl es das wohl auch gab und gibt ). In Wien gehen die Menschen langsamer als in allen deutschen Städten , so haben es Wiener Verhaltensforscher um Klaus Atzwanger ermittelt und damit dem kontrastiven Selbstbild wissenschaftlich aufgeholfen , das eine gemütvolle , ausdrücklich „andere“ Langsamkeit als Markenzeichen Stadt punziert. Hier , im gespielten Antimodernismus von Lebenskunst und Genuss , Gemächlichkeit und Gemüt , liegt der Plot der Ess-Geschichten. Die Wiener Küche als Deutungsphänomen ist ein Ergebnis lokaler Selbstfeier , in deren Mitte eine die Antimoderne umspielende Lebenskunst steht. Doch wäre – das sei sogleich eingeräumt – diese Selbstfeier ohne die Anderen , die touristischen Nutzer , nicht denkbar. Sie sind ebenso Akteure wie die Bewohner Wiens , die auf diese Weise Nutzer des Tourismus sind. Im Sinne eines touristischen Marketings wird die Wiener Küche ebenso und oft gemeinsam mit der

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Wiener Musik , dem Wiener Charme ( den man kürzlich als UNESCO-Weltkulturerbe nominieren wollte ) und dem Nationalbarock ( den der Kunsthistoriker des Ständestaats , Hans Sedlmayer , „Reichsstil“ nannte ) zum Merkmal erhoben. Merkmale generieren freilich nur dann einen Nutzen , wenn es gelingt , sie zu ritualisieren , als Themen zu installieren und zu besetzen. Die ideologische Begründung der Wiener Küche als gesellschaftliche Wunschvorstellung war als politische Deutung bereits um die vorletzte Jahrhundertwende formuliert worden. Etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen „der Hess“ schreibt 1909 Erich Felder , ein Autor ansonsten eher leichter Feder : Die politische Bedeutung der Wiener Küche wurde bisher viel zu wenig gewürdigt. Die Wienerin kocht Versöhnung der Nationalitäten , Eintracht der Völker. Schon in späteren Morgenstunden , bei den erzwienerischen , vorkostenden Tafelfreuden des Gabelfrühstückes , treten die heimischen Würstel mit serbischem Rindfleisch und Szegediner Gulyas einträchtig auf den Plan. Tiroler Knödel , serbischer Sterz , böhmische Dalken , all diese Urgebilde der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder sind in der Wiener Küche neutralisiert. Von den Italienern hat Wien den Risotto , von den Türken das Pilaf freundnachbarlich übernommen , während die Grenzen österreichischer Kochkunst nach dem barbarischen Norden verschlossen sind , auch mit den französischen Konkurrentinnen , die sich bisweilen in „Pudding an Semul“ und ähnlich verdächtig semmelblonden Mehlspeisen versuchten , werden keine engeren Beziehungen gepflogen. Bei den aus der Provinz und den Nachbarländern übernommenen Kochkunstgegenständen geht es oft wie bei manchen Lenbach’schen Kopien : sie übertreffen das Original.

Man muss nicht genau lesen , um – neben der amalgamierend-vereinnahmenden Rolle Wiens – unfreundliche Töne in deutsche und französische Richtung herauszulesen. Barbarisch sind die Einen und Angst machend verfeinert die Anderen. Dominant ist die herrische Attitude Wiens , die Deutungshoheit gegenüber den aus der Provinz und den Nachbarländern übernommenen Speisen , die ihre Verbesserung erst in Wien erfahren.

Hybridität als Herrschaftsprojekt – der erhabene Schmelztiegel Die lokale Küche , die nun als Wiener Küche Karriere macht , wird gesellschaftlich-politisch eingebettet in einen Kontext , der vertieft werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg scheint die Ideologie der Wiener Küche auf eigenartige Weise in einen retrospektiven , biederen Mythos eingebunden. Da beginnt

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man – und hier setzt dann wirklich das Ende der Selbstverständlichkeiten ein – bisherige und unbefragte Selbstverständlichkeiten umzudeuten. Sie werden reproduziert , indem man die bislang gewöhnliche Küche in Wien nun ganz ausdrücklich als etwas Besonderes verhandelt. Bürger beginnen in der funktionslos ( und fremd ) gewordenen Metropole eine Vergangenheit und die Ästhetik der Habsburger-Monarchie zu verklären. In absurdem Negieren der ethnischen und religiösen Vielfalt gerade in Wien wird die kulinarische Vielfalt herrisch-eingemeindend als Gewinn bilanziert. Man erfindet in Wien , herrisch auch von den Bundesländern absehend , ein neues Österreich , das sich durch Kunst , Geschichte und Kultur auszeichnet und sich mit seinen Tugenden als das bessere Deutschland versteht. Als raison d`être gehören dazu neben Musik , Operette als „rückwärtsgewandter“ Utopie ( Moritz Csáky ), Walzer ( heute selbst auf dem WC in der Opernpassage ) und Schrammeln , Kunst , Kultur und Geschichte , dem barocken Reichsstil , auch die Wiener Küche. Die Wiener Küche hat einen ausgesprochen hegemonialen Zungenschlag , der in die Erinnerungskultur des Geschmacks vom Eigenen eingeschrieben wird. Die lokale Selbstfeier macht das an sich Banale zum Alleinstellungsmerkmal. Das kulinarische Resultat ethnischer Vielfalt als Ergebnis von Migrationsverläufen wird nun als Ausdruck von Herrschaft gedeutet. Es hat dabei nur eine Richtung : Es kommt von außen , wird vereinnahmt und ins Eigene verbessert. Der Prozess der Eingliederung fremder Küchen mutiert als Verwienerung des Fremden zu einer Kulinarik des Eigenen , findet sich als „Wiener Küche“ anverwandelt wieder. Dominant bleibt die Deutungsmacht der metropolitanen Zentrale , auch wenn die Herkunftsrichtung der Zutaten der „Wiener Küche“ genannt wird , ob das Ungarn mit jenem verwienerten Gulasch ist , die alpinen Gröstl oder die böhmischen Mehlspeisen. Die „Wiener Küche“ etikettiert sie als bodenständig , „echt“ und „authentisch“. Heute wird mit dem Schild Wiener Küche geworben wie andernorts mit „Hausmannskost“, wenn das als bodenständig bezeichnete Blunzngröstl , aber auch die feineren Nierndln gemeint sind. Gewiß schlägt die Binnenexotik nicht total durch. Nicht alle kochen und essen , was in den Kochbüchern steht. Auch in Wien hat man sich , geht man zum Essen , zu entscheiden. Man kann in ein Lokal mit italienischer , thailändischer oder türkischer Küche gehen – oder sich eben der Wiener Küche zuwenden. Da liegen Exotik und Binnenexotik nahe beieinander , ja haben sich verschwistert. Andersherum : Die Wiener Küche ist prinzipiell genauso „besonders“ wie alle anderen in der Stadt verfügbaren Küchen. Auch die Wiener Küche ist in Wien ausdrücklich zu wählen , sie wird damit , genauso exotisch wie alle anderen Küchen , zu einer Option unter vielen. Als besonderer Akzent des Eigenen vorgeführt , ist sie zwar ein Deutungsphänomen , das freilich seine Wirklichkeit selbst generiert. Das muss nicht befremden angesichts der Mel-

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dung , dass das Kochbuch des Wiener Rindfleisch-Spezialisten Plachutta gerade mehrere Auflagen erlebt und auf die Million verkaufter Exemplare zugeht. Angesichts des Zuspruchs wird deutlich , dass nicht nur die Touristen nach ihr suchen. Nimmt man ihre Anzahl als Anhalt und ihre Funktion als repräsentatives Geschenk , das als Ausweis und Vorzeige der Identität und der Unverwechselbarkeit taugt , dann gibt es diese Wiener Küche zumindest im öffentlichen Bewusstsein. Sie scheint in Wien keineswegs flächendeckend , sondern höchst ungleich und ungerecht (  ? ) verbreitet zu sein. Dort , wo die meisten Menschen wohnen , in den Bezirken 9 bis 22 , gibt es sie kaum , wie es den Autorinnen des Handbuchs Wien für Frauen auffällt. Trotzdem wird sie als Essen der Vielen und als eine Art Wiener Kommunion traktiert.

Ein Autonarrativ als lokale Selbstfeier Die Wiener Küche ist Resultat einer Selbsterzählung vor allem des 20. Jahrhunderts. Sie ist verknüpft mit anderen gut erzählten Geschichten , dem Tourismus und der Behaglichkeit einer harmoniesüchtigen Mittellage , die in Heimatfilmen , schwarzweiß und dann bunt , in den Gefühlshaushalt der Menschen zuhause und anderswo eingedrungen ist. Zur metropolitanen , aber eher biederen Rede von der Vielvölkerküche , die sich in Wien am Herde friedlich vereint habe , gehören die böhmischen oder ungarischen Kochfrauen , die eine Mixtur aus den Ländern der Monarchie zusammenkochen , die dann aber in der ländlich anmutenden grün-weißen Gmundner Fayence aus der Welt der Sommerfrische aufgetragen wird. In der bis heute als Endlosschleife wiederholten TV-Serie des ORF Julia – eine ungewöhnliche Frau ( 1998–2002 ) gab es eine ungarische Köchin. Alles hat sich , so das Lese- und Deutungsangebot des Autonarrativs , zu einem harmonischen Geschmack der Stadt Wien gefügt. Es ähnelt den zärtlich-kakanischen Träumen vom Ende des 19. Jahrhunderts , die sich bis in die Gegenwart im Donauraum abspielen und als abgrenzender Entwurf gegen den Westen gelesen werden können. Erst in diesem Kontext wird die Geschichte des Wiener Schnitzels wirkmächtig , erinnert in allen Varianten nicht nur an Italien , sondern vor allem an die Herrschaft der Habsburger über Norditalien , Venetien etc. , wie die Sissi-Filme zeigen , die eine tragfähige Basis populären Wissens bilden. Auch wenn die Verbreitung des Ruhmes der Küche mit dem Wiener Kongress erklärt und mythisiert wird , ist sie nicht wirklich alt. Gewiss , dieser Kongress tanzte , was heute als Signal der Verweigerung gilt , als Zeichen , dass Wien anders sei. Was einstmals eher spöttisch gemeint und die lange Dauer der Veranstaltung ebenso wie ihre Nutzlosigkeit brandmarken sollte , wurde im Nachhinein zu einem entscheidenden Identity-Marker ausgebaut – etwa

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als Kontrastprogramm zum effektiv-kalten Piefke-Deutschland. Gerade von diesem Deutschland geht dieses Lob der Wiener Küche immer wieder aus , wie seit langem und gerade jüngst wieder durch den ZEIT-Gourmisten Wolfram Siebeck. Es sind die Eigenen , die sich da an der Wiener Küche laben , jene , die dort das verlorene Eigene wieder zu finden hoffen : die Fremden im Eigenen , ohne die jene Küche ihre Bestimmung „Wiener“ gar nicht bräuchte. Über das Wiener Schnitzel gibt es Geschichten , und die sind im Reiseführer zu lesen. Der wird zum Belegbuch über die Wahrheit des Erlebens. Die Binnenexotik verfestigt sich – im Erkennen und Erkanntwerden – in den Hymnen auf die Wiener Küche. Jener bemerkenswerte Wiener Aktionismus , der das Hauptgericht Wiener Schnitzel zum Weltgericht und auch zum Allerweltsgericht machte , begann mit der Erfindung einer Geschichte. Jedes Essen braucht heute seine Geschichte , die sie als legitimen Bestandteil der Küche erzählbar macht. Die Namen der Gerichte sind heute nicht nur Namen. Und : Gerichte sind nur dann gut , wenn sie etwas symbolisieren und einen zusätzlichen , nämlich kulturellen lokalen Geschmack bekommen , der als identitätsproduktiv deklariert ist. Wenn wir ausdrücklich essen , nehmen wir einen kulturellen Geschmack auf die Zunge , schmecken mittlerweile Identität. Die Wiener Küche , kompensatorisch zum Abbild eines imaginierten Reiches der Vielvölkerharmonie geworden , bildet in der Verortung der Spezialitäten sowohl die Weite der alten Monarchie ab , wie auch die Herrschaft über sie. Das Zentrum Wien , das sich immer größer und gegen das Fremde ( auch gegen die Bundesländer ) immer wienerischer geriert , erhebt sich über die umliegenden Länder , die als Zulieferer gelten. Dahinter steckt ein Anspruch , der Unterwerfung verlangt , als Abbild des Reiches : Böhmen liefert die Köchinnen und die Mehlspeisen , Ungarn das Gulasch , die Alpen das feste Geselchte sowie das Wild , und Italien die Feinspitzeleien. Vor allem aber sind es die einst billigen Innereien , die Nierndln und die Leber , das ( lange verachtete ) Rindfleisch , die heute für Kenner das Besondere dieser Küche ausmachen. Sieht man genau hin , dann wäre es eine Küche der Armut , die sich hier ( wie auch andernorts ) veredelt dem Besucher und dem Wiener darbietet. Vergoldet durch das Etikett „Wiener Küche“, zur biederen Hochkultur veredelt , werden die Gewöhnlichkeiten der Esskultur neu formatiert. Orte dieser Kulinarik sind oft die von lokalen ( etwa dem Wien Museum ) und fremden Deutern ( Wolfram Siebeck ) nostalgisch verklärten Beisln , die heute ein breites Spektrum umfassen. In ihnen werden die einst als Arme-Leute-Essen gesehenen Kutteln sowie andere Innerien und Bruckfleisch als Bodenständigkeit , als „Soul Food“, als Exotik des Eigenen zelebriert. Backhendl und Rahmstrudel , Ochsenschlepp und Topfengolatschen , Wiener Schnitzel und Kalbsnieren : Heutzutage wird im Alltag keiner regionalen Küche

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das gegessen , was als typisch gilt. Nicht nur so ist die Wiener Küche als touristisches Angebot auch den Wienern zugänglich. Sie werden zu Touristen im Eigenen , sich selbst feiernd und touristisch erlebend. Im Alltag realisiert aber werden der Schinken-Käse-Toast und der Pizza-Pasta-Komplex , das sog. Functional Food , häufiger als die Knöcherlsulz. Die Wiener Küche ist eine gute Geschichte , sie ist eine Erfindung , die sich immer wieder selbst nachbildet. Mit ihrer Anmutung des Echten und Originären fügt sie sich in die Ideologien fortschrittlicher Multikulturalisten ( die die k. u. k. Monarchie als gelungenes Modell preisen ) ebenso passgenau ein , wie in die verhockter Fremdenhasser. Die Rede vom Sammelbecken der Kulturen trägt trotz der selbstattestierten Weltoffenheit hegemoniale Merkmale , sieht von klassen- und milieuspezifischen Kontexten ab. Die Rede von der Wiener Küche imaginiert selbstverklärend eine soziale Homogenität , die es so nicht gibt – in Wien nicht und anderswo ebensowenig.

Identity when Das als Wiener Küche bezeichnete Ensemble erweist sich als eine sozio-kulturelle Vereinbarung in dem Sinne der „Wahrheitstheorien“ ( Jürgen Habermas , 1972 ). „Aushandeln“ ist dafür ein gängiger Begriff geworden. Das nimmt nichts von ihrer Bedeutung. Ob das in einem Prozess geschehen ist , den man als kontingent benennen kann , der in seinem Verlauf offen blieb , oder ob es sich um eine gezielte Planung handelt , bleibt zweitrangig. Aber als Frage bleibt , was diese Benennung immer wieder aus den Wienern machte. Die stadtethnologische Sichtweise , die sich nicht mehr als „Ethnology in the City“, sondern als „Ethnology of the City“ versteht ( U lf Hannerz , 1980 ), zielt auf die Alltagspraxis der Vielen und sucht die Stadt als Ganzes zu verstehen. In ihr gehört die Ausbildung einer Wiener Küche zu den Prozessen , die eine Stadt als Zusammenhang funktionieren lassen und damit urbane Gesellschaften erst zustande bringen. Dieser Zugang fragt dann eher nach dem Bild der Stadt und danach , wie dieses Bild in die Alltage der Menschen hineinwirkt , indem kulturelle Unterschiede in einem territorialisierten Konzept kollektiviert werden. Ethnografische Konzepte , die sich mit Kulturen in Großstädten beschäftigen , ethnisieren diese zwangsläufig. Sie produzieren Fremdes und exotisieren es gleichzeitig , wie das auch mit dem so verstandenen Eigenen geschieht , das , nun selbst binnenexotisiert , aus dem Bereich der Selbstverständlichkeiten herausgelöst wird. Ein solches Ende der Selbstverständlichkeiten verbringt das einst Alltägliche hinüber in einen neuen Kontext und führt zum Glauben an die Idee der kulturellen Identität. Vor dieser Folie können sich die Wiener als Wiener inszenieren oder die Türken in Wien als Türken , wie die Wiener Inder als Inder und die Wiener Kroaten als Kroaten – identity when , als temporäre Option.

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Die ethnografische Aufmerksamkeit kann sich wohl der ethnischen Labels annehmen , sich aber mehr der Frage zuwenden , wann und warum sich in gegenwärtigen Gesellschaften Menschen dieser Idee der kulturellen Vielfalt und der ethnisch genannten Kultur anvertrauen , in der man sie als identitätsproduktiv nutzt und sich – wiederum nicht ständig – wienerisch oder kroatisch gibt. So glauben es nicht nur die Fremden , sondern auch die Einheimischen selbst : dass es etwas Eigenes , Identitätsproduktives mit der Wiener Küche auf sich habe. Es ließe sich von einer Permanenz einer lokalen Selbstfeier , von Ethnofestivals im Eigenen reden , wenn sich Metropolen sowohl als transnationale wie auch als lokalistische Städte zu inszenieren suchen. Die Wiener Küche gehört zum Bestand der symbolischen Ökonomie der Stadt. Dabei soll nicht übersehen sein , dass es in Randmilieus die alten Selbstverständlichkeiten – als solche – weiter geben mag. Als Ausdruck der Identität werden sie aber dort nicht gebraucht , weil Wort und Sache nicht in den Formelvorrat frühmoderner Gefühlshaushalte gehören. Nach dem Ende der Selbstverständlichkeiten geht es , so gesehen , mehr um die Stadt als um die nach ihr benannte Küche. Deren Inszenierung ist dann die öffentliche Darstellung einer als ethnisch deklarierten Andersheit , einer Besonderheit.

Nachsatz Zentral ist die Bedeutung des Dialogs mit der Vergangenheit in europäischen Gesellschaften. Das gilt auch und besonders für Wien und seine symbolische Ökonomie , die sich hier in ihrem Akzent auf der Küche ausdrücken. Kulturelle Güter , das ‚Erbe‘, und die Berufung auf Traditionen produzieren hier eine euro-anthropologische Disposition , in der Herkunft und Geschichte so figurieren , dass Gegenwart europaspezifisch verstanden und behauptet werden soll. Dieser in einem historischen Prozess gewachsene Umgang mit Vergangenheit führt zu einer Lebensform , in der Kunst und Kultur , Landschaft und Geschichte als Schätze , als Erbe , gehandelt werden. In diesem Sinne gehören die Wiener Küche und ihre gelegentlich liturgisch anmutende Zelebration zu Europa und dessen Umgang mit dem Erbe.

Literatur zum Thema Moritz Csáky : Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität , Wien–Köln–Weimar 1996. Ders. : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa , Wien–Köln–Weimar 2010.

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Konrad Köstlin : Heimat geht durch den Magen. Das Maultaschensyndrom – Soul Food in der Moderne ? In : Beiträge zur Volkskultur in Baden-Württemberg 4 ( 1991 ) S. 157–174. Ders. : Ethno-Wissenschaften : Die Verfremdung der Eigenheiten , in : Beate Binder , Wolfgang Kaschuba , Peter Niedermüller ( Hg. ): Inszenierungen des Nationalen. Geschichte , Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts , Köln–Weimar–Wien 2001 , S. 43–63. Lutz Musner : Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt , Frankfurt a. Main 2009. Martina Nußbaumer : Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images , Freiburg i. Br.–Berlin–Wien 2007. Roman Sandgruber : Österreichische Nationalspeisen : Mythos und Realität , in : Gerhard Neumann , Hans Jürgen Teuteberg , Alois Wierlacher ( Hg. ): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven , Berlin 1997 , S. 179–203. Brigitta Schmidt-Lauber : Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung , Frankfurt a. Main 2003. Gisela Welz : Inszenierungen kultureller Vielfalt , Frankfurt a. Main–New York 1996.

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DIE VERORTUNG EINES GEBÄCKS TRIEST, DER PRESNITZ UND PELLEGRINO ARTUSI Wie der Mittelalterforscher Massimo Montanari in der Einleitung zu dem von ihm herausgegeben Sammelband Il mondo in cucina. Storia , Identità , Scambi festgestellt hat , weist das Essen eine starke , unverkennbare Analogie mit der Sprache auf.1 So wie die Sprache ist auch die Nahrung Ausdruck einer Kultur und eine identitätsstiftende Praxis , die Selbstdarstellungen und Kommunikation ermöglicht. Diese Sicht auf die Küche – also : auf den performativen Moment der menschlichen Aushandlung mit Nahrungsstoffen – basiert zum einen auf der bekannten Levi-Strauss’schen Darlegung der Nahrung als Kultursystem2 und zum anderen auf Roland Barthes’ Beschreibung der Alimentation als Zeichenverbundsystems. In seiner bahnbrechenden Schrift Vers une psycho-sociologie de l’alimentation moderne ,3 die ich hier auf Englisch zitiere , erklärt Barthes : For what is food ? It is not only a collection of products that can be used for statistical or nutritional studies. It is also , and at the same time , a system of communication , a body of images , a protocol of usages , situations , and behavior.4

Nahrung ist nach Barthes erstens ein „system of communication“, zweitens ein „body of images“ und schließlich ein „protocol of usages , situations , and behavior“. Diese knappe , aber sehr komplexe Definition der Nahrung ist heute immer noch anwendbar. Sie macht sehr deutlich , inwiefern eine Analogie zwischen Sprache und Nahrung nicht nur möglich , sondern grundlegend und notwendig ist , um die Letztere besser zu verstehen. Barthes’ Perspektive bedarf jedoch einer Ergänzung. Es fehlt ihr nämlich das Performanz-Moment. Nahrung ist nicht nur System , Bildkorpus und Protokoll , sondern auch , wie die 1

Massimo Montanari ( Hg. ): Il mondo in cucina. Storia , identità , scambi , Bari 2002. 2 Claude Lévi-Strauss : Le triangle culinaire , in : L’arc [ Aquae Sextiae ] 26 ( 1965 ), S. 19–29. 3 Roland Barthes : Vers une psycho-sociologie de l’alimentation moderne , in : Annales. Economies , Societés , Civilisations , 5 September-October ( 1961 ), S. 977–986. 4 Roland Barthes : Toward a Psychosociology of Contemporary Food Consumption , in : Carole Counihan , Penny Van Esterik ( ed. ): Food and Culture. A Reader , London 1997 , S. 20–27 , hier S. 21.

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Sprache , Performativität – oder besser gesagt : Sie besteht aus performativen Prozessen , die wie Aushandlungen zwischen und Inszenierungen von Identitätskonstruktionen funktionieren. Diese performativen Prozesse nenne ich Translationen. Eine Beschreibung des Translationsprozesses habe ich andernorts auf diese Weise formuliert : Following the furrow carved by Benjamin , Derrida and Bhabha [ … ], I propose cultural translation – or translatio /  n – as a performative negotiation of differences across identities and world constructions [ … ]. This performative processuality of translatio /  n works at many different levels and is obviously not confined to the linguistic one. [ … ] Paradoxically , we can only speak so naturally of a linguistic or verbal translation because we intuitively comprehend the cultural dimension of translation – i. e. a negotiation of differences – and the spatial metaphor of transferre. As “negentropic process” [ Michael Cronin ], translatio /  n produces “newness” out of precarious negotiations , out of ties of impossibility.5

Da die kulinarischen Praktiken in einer bestimmten Geografie und einem präzisen historischen Moment stattfinden , ist die Küche als eine Art „translation zone“ zu verstehen. Emily Apter beschreibt aus einer sprachlichen und literarischen Perspektive eine „translation zone“ als [ … ] a broad intellectual topography that is neither the property of a single nation , nor an amorphous condition associated with postnationalism , but rather a zone of critical engagement that connects the “l” and the “n” of transLation and transNation. The common root “trans” operates as a connecting port of translational transnationalism ( a term I use to emphasize translation among small nations or minority language communities ), as well as the point of debarkation to a cultural caesura–a trans––ation–where transmission failure is marked.6

Ein weiteres Element , das diese Analogie zwischen Küche und Sprache nicht nur bestätigt , sondern durch eine Translation zwischen Zeichenverbundsystemen – dem der Nahrung und dem der Schrift – untermauert , sind die ricetta­ ri , also die Rezeptsammlungen , die Kochbücher. Diese wurden nicht umsonst oft von Nahrungsforschern zu Grammatiken der Nahrung erklärt. Vereinfacht 5

Federico Italiano : Orientation as Translatio /  n : Monks , Pygmies and the Spaghetti Western , in : Federico Italiano , Michael Rössner ( ed. ): Translatio /  n : Narration , Media and the Staging of Differences , Bielefeld 2012 , S. 203–222 , hier S. 206–207. 6 Emily Apter : The Translation Zone. A New Comparative Literature , Princeton 2006 , S. 5.

Die Verortung eines Gebäcks

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ausgedrückt , sind Kochbücher die Verbalisierung nicht-verbaler Kommunikationspraktiken ,7 die mehr oder weniger einem normativen , ordnungsgebenden Prinzip folgen. In diesem Sinne sind Rezeptsammlungen , Kochbücher et similia die Metaisierung der Küche , die als Teil des Diskurses analysiert werden soll. Gerade diese von den Kochbüchern erzeugte Textualität der Küche zeigt einen wichtigen Aspekt der Analogie zwischen Sprache und Nahrung auf. Sowohl die Sprache als auch die Küche werden oft mit dem Adjektiv „national“ kombiniert : Dies essenzialisiert sie und setzt sie als politisch-kulturelle Konstruktion strategisch ein. Wie der Nahrungsforscher Sidney Mintz schreibt : „A national cuisine , like a national language , is in some sense a political artifact , on its way to becoming a touristic artifact.“8 Ein augenfälliges Beispiel dafür ist die italienische Küche , die vor dem berühmten Kochbuch-Autor und Gastronomen Pellegrino Artusi nicht einmal existierte. In gewisser Hinsicht existiert sie immer noch nicht , aber seit La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene ( 1891 )9 wurden die unzähligen lokalen und regionalen Rezepte der italienischen Halbinsel zumindest „national“ textualisiert , protokolliert und auf eine domestizierende Weise übersetzt. Damit will ich nicht das großartige und besonders lesenswerte Werk Artusis schmälern , vielmehr möchte ich hervorheben , dass die italienische Küche als kulturelles Artefakt und Translationsprozess zu verstehen ist – sowie auch die italienische Nation eine politische Konstruktion ist. Außerdem ist es kein Zufall , dass Artusi gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf diese Weise nationalistisch und mit solchen homogenisierenden Intentionen operierte. Dies war jene post-risorgimentale Zeit der ersten euphorischen Identitätsbildung. In dieser skizzenhaften Annäherung an die komplexe Welt der Triestiner Küche möchte ich zum einen das genannte Hauptwerk Artusis näher betrachten und es mit dem ebenso erfolgreichen Buch Die Süddeutsche Küche der aus Graz stammenden Katharina Polt , alias Katharina Prato , in Vergleich setzen. 7 Siehe dazu Moritz Csáky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa , Wien 2010 , S. 101 und S. 101 ff. 8 Sidney Minz : Eating Communities. The Mixed Appeal of Sodality , in : Tobias Döring , Markus Heide , Susanne Mühleisen ( ed. ): Eating Culture : The Poetics and Politics of Food. ( American Studies – A Monograph Series , 106 ), Heidelberg 2003 , S. 19–34 , hier S. 26. 9 Pellegrino Artusi : La scienza in cucina e l’arte di mangiare bene. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Alberto Capatti , Milano 2010. Zusammen mit dem oben genannten Massimo Montanari ist Alberto Capatti auch der Autor eines fundamentalen Werks zur Kulturgeschichte der italienischen Küche : Alberto Capatti , Massimo Montanari : La cucina italiana. Storia di una cultura , Bari 2005.

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Während der Inhalt von Artusis Kochbuch in den folgenden Neuauflagen kaum wichtige Ergänzungen fand , haben die sukzessiven Addenda bei Katharina Prato , nach der ersten Auflage im Jahr 1858 , eine große Bedeutung für unseren Parcours durch die Triestiner Küche. Insbesondere berufe ich mich hier auf die 26. Auflage , die 1897 in Graz erschienen ist , da sie zum einen zeitlich Artusis Buch näher ist und zum anderen , weil diese die erste revidierte Auflage ist , nach der umfassenden Erweiterung des Buches , die mit der 25. Auflage stattfand. Bereits in dem Vorwort zur 25. Auflage ( 1896 ) informiert Katharina Prato mit kaum verstecktem Enthusiasmus ihre Leser , dass „kürzlich [ … ] die zweite Auflage der italienischen Übersetzung meines Kochbuches im Buchhandel erschienen [ ist ], welches mitteilen zu können mir ebenfalls zur Befriedigung gereicht.“10 Der Grund , warum ich diese zwei Bücher besprechen möchte , liegt in der geohistorischen Kontextualisierung , die sie durch einen kontrastiven Vergleich ermöglichen. Artusi und Prato betrachten die Triestiner Küche als etwas , das ihnen – obgleich peripherisch und marginal ( ja , sogar unheimlich im Falle Artusis ) – im Sinne ihrer geografischen Imagination11 eigen ist. Wobei jedoch Artusi die Triestiner Speisen explizit in die deutsche Tradition einschreibt , subsumiert Prato diese Speisen kommentarlos in der von ihr erdachten süddeutschen „imagined community.“12 Den Vergleich zwischen Artusi und Prato möchte ich anhand von zwei kleinen Fällen vornehmen. Hierbei werde ich den sogenannten „Presnitz“ und die „Pinza“ – zwei „typische“ Triestiner Gebäcke – behandeln. Das erste Gebäck , der „Presnitz“, wird von Artusi in sein Kochbuch aufgenommen und diskutiert ; das zweite , die sogenannte „Pinza“, taucht in der Süddeutschen Küche von Katharina Prato auf. Wichtig scheint mir zuerst , dass das Gebäck , dessen Name eher „deutsch“ klingt , der Presnitz , im italienischen Kochbuch vorkommt , während das andere , das eine italienische klingende , aus dem Triestiner Dialekt stammende Bezeichnung hat , nur im Buch der Prato besprochen wird. Die Strategie dieser Auswahl deutet bereits auf eine bewusste Praxis des Transfers hin , auf eine Reterritorialisierung des Anderssprachigen , auf eine Appropriation. In beiden Fällen , sowohl in Artusis La scienza als auch in Pratos Die Süd­ 10 Katharina Prato : Vorwort zur fünfundzwanzigsten Auflage ( Graz , Mai 1896 ), in : Katharina Prato : Die Süddeutsche Küche. 26. Auflage , Graz 1897 , S. VIII. 11 Zum Thema geografische Imagination /  imaginative geographies siehe Edward Said : Orientalism , London 2003 und Federico Italiano : Translating Geographies. The Navigatio Sancti Brendani and its Venetian Translation , in : Translation Studies 5/1 ( 2012 ), S. 1–16. 12 Benedict Anderson : Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism , London 1991.

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deutsche Küche , sehe ich sogar eine strategische , ja ideologische Appropriation des exophonischen Speisennamens. Insbesondere ist die kommentarlose Aufnahme der Pinza bei Katharina Prato auffallend. Erstens taucht die Pinza nur in den späteren Ausgaben des Buches ( ab der 25. Auflage ) auf , ausgerechnet nachdem sich der Konflikt in den 1880erund 90er-Jahre zwischen der österreichischen , anti-italienischen Machtinstanz und der irredentistischen Bewegung dramatisch verschärfte. Diese spätere , strategische Ergänzung markiert also deutlich die imaginierten Grenzen des süddeutschen Territoriums aus der Sicht Pratos. Diese Rezeptsammlung mag auch als unschuldiges Handbuch für Damen aus der habsburgischen middle class beschrieben werden , aber gerade durch ihre kapillare Verbreitung reflektiert und amplifiziert sie den Diskurs über kulturelle Zugehörigkeit. In diesem Sinne ist es von nicht geringer Bedeutung , dass Pratos Kochbuch ein wahrer Bestseller in Triest war. Wie auch Maura Elise Hametz anmerkt , war Katharina Pratos Süddeutsche Küche „in Habsburg Triest the best known cookbook“,13 sowohl in deutscher als auch in italienischer Sprache. Der Aufnahme der Pinza können wir also eine doppelte Funktion zuschreiben. Zum einen ist dieser Aneignungsakt die Markierung einer imaginierten „süddeutschen“ Geografie , zur der Triest gehören soll. Zum anderen scheint Prato damit die Triestiner Leserschaft quasi huldigend überzeugen zu wollen , dass es keine kulturelle Differenz zwischen „süddeutscher“ und „Triestiner“ Gastronomie gibt ; dass die letztere selbstverständlich zur ersten gehöre. Pinza ( Oster= oder Thee=Gebäck ). Man nimmt 1 Kilo vom feinsten Mehle , 20 Dotter , 28 Deka Schmalz , 28 Deka Zucker , 8 Deka Anis , 1 Deciliter Cyprowein ( oder Piccolit ), 1 bis 3 Stück Weindampfel oder 4 Deka Hefe und 2 Deciliter Milch. Abends gibt man den gestoßenen Anis in den Wein , damit dieser den Geruch auszieht , den Morgen darauf das Dampfel in die Milch. Wenn es aufgeweicht ist ( nach 1 Stunde ), seiht man es , rührt ungefähr den vierten Theil vom Mehle dazu und läßt es bis Nachmittag 3 oder 4 Uhr gehen. Nun stellt man einen irdenen Topf in nicht zu heißes Wasser und rührt in diesem den sehr fein gestoßenen Zucker mit den Dottern 1 Stunde lang , worauf man das laue Schmalz und den geseihten Wein nach und nach dazu rührt und dies dann mit einem Messer unter das auf das Nudelbrett gesiebte , ein wenig gesalzene Mehl mischt. Dann arbeitet man auch das Dampfel dazu und knetet den Teig über 1 Stunde ab , bis er recht fest wird ; hierauf formiert man davon 2 runde Laibe ( oder viele sehr keine ). Man legt sie auf Papier zum Gehen , stellt sie über Nacht in ein warmes Zimmer , 13 Maura Hametz : Making Trieste Italian 1918–1954 , Woodbridge 2005 , S. 145.

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wo sie sehr stark aufgehen , und bäckt sie des Morgens , mit Papier bedeckt , ziemlich kühl. Man sendet sie dazu zum Bäcker , da man sie in einem Ofen , nicht im Sparherde backen soll. Wenn man sie in den Ofen gibt , bestreicht man sie mit Dottern und macht von der Mitte drei seichte Schnitte in regelmäßiger Entfernung gegen den Rand zu. Die große Oster-Pinza kann mehrere Wochen aufbewahrt werden und wird zu Kaffee und Thee gegeben , die kleinen Laibchen gibt man neugebacken zu Thee. ( aus Pratos Süddeutsche Küche , 26. Auflage , Das Pinza-Rezept )

In diesem Sinne übt Katharina Prato eine mehr oder weniger bewusste Aneignung der exophonischen „Pinza“ aus ; eine Appropriation , die sich nur durch die politische und administrative Macht der Donaumonarchie über Triest rechtfertigen lässt. Die Pinza scheint der Autorin , wenn nicht im ethnischen Sinne , so zumindest aus geopolitischen und topografischen Gründen ein „süddeutsches“ Rezept zu sein. Heutzutage findet man die Pinza – Osterpinza oder „Ostergebäck“, wie Katharina Prato in Klammern bereits über-setzte – nicht nur in Gorizia oder Triest , sondern zu Osterzeit auch in Südösterreich und Slowenien. In Artusis La scienza in cucina wird das Gebäck „Presnitz“ an zweiter Stelle des Kapitels Pasticceria besprochen. Es ist nicht von geringer Bedeutung , dass die ersten vier Speisen dieses Kapitels deutsche Produkte sind oder zumindest deutsch klingende Namen tragen. Damit meine ich : „Strudel“, „Presnitz“, „Kugelhupf “ ( sic ! ) und „Krapfen“. Artusi nennt dieses süße Quartett „tedescheria“. Dieses Wort setzt sich aus dem Adjektiv „tedesco“ ( ital. für „deutsch“ ) mit der Endung „-eria“ zusammen und hat hat einen leicht witzigen , fast sarkastischen Unterton. Die erste Speise aus dieser Reihe ist vielleicht die immer noch bekannteste Süßspeise aus dem zentraleuropäischen , süddeutschsprachigen kulinarischen Kontext : der Apfelstrudel , den Artusi einfach Strudel nennt. Das Strudel-Rezept [ Rezeptnummer : 529 ] wird von Artusi mit folgendem Kommentar eingeleitet : Non vi sgomentate se questo dolce vi pare un intruglio nella sua composizione e se dopo cotto vi sembrerà qualche cosa di brutto come un’enorme sanguisuga , o un informe serpentaccio , perché poi al gusto vi piacerà.14

In diesem Satz konnotiert Artusi den Strudel insgesamt drei Mal negativ. Zuerst sagt er , die Komposition des Strudels sähe aus wie ein „intruglio“ ( Ge14 Artusi : La scienza in cucina , S. 549 ( wie Anm. 9 ).

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bräu ) , dann vergleicht er ihn mit zwei unangenehmen Vertretern der zoologischen Welt : mit einer „sanguisuga“, dem Blutegel ( hirudo medicinalis , Abb. 3 ) und dem „serpentaccio“, einer „schlimmen“ ( wegen der pejorativen Endung : -accio ) Schlange. Wenn man bedenkt , dass der Apfelstrudel wie keine andere Speise die österreichische Küche in Italien repräsentierte ( und das bis heute tut , wenigstens im Zusammenspiel mit Südtirol ), kann man vielleicht schon erahnen , was die Symbolkraft dieses zoologischen Vergleichs für einen Gastronomen , der aus seiner patriotischen , nationalistischen Perspektive15 Triest als besetztes Land betrachtete , zu bedeuten hatte. Kommen wir nun zum „Presnitz“ und beginnen wir mit Artusis Rezept. Eccovi un altro dolce di tedescheria e come buono ! Ne vidi uno che era fattura della prima pasticceria di Trieste , lo assaggiai e mi piacque. Chiestane la ricetta la misi alla prova e riuscì perfettamente ; quindi , mentre ve lo descrivo , mi dichiaro gratissimo alla gentilezza di chi mi fece questo dono. Uva sultanina , grammi 160. Zucchero , grammi 130 Noci sgusciate , grammi 130 Focaccia rafferma , grammi 110. Mandorle dolci sbucciate , grammi 60. Pinoli , grammi 60. Cedro candito , grammi 35. Arancio candito , grammi 35. Spezie composte di cannella , garofani e macis , grammi 5. Sale , grammi 2. Cipro , decilitri 1. Rhum , decilitri 1.16

Im Internet , zwischen Wikipedia-Einträgen und mehr oder weniger seriösen und chic gestylten Gastro-Blog-Seiten , kann man einiges , leider nicht immer präzises , über den Presnitz erfahren. In den Taccuini Storici , einer „multimedialen Zeitschrift“ für „traditionelle Nahrung“ werden z. B. folgende Informationen über den Presnitz gegeben : Due le ipotesi sull’origine del nome : una lo ricollegherebbe alla città boema di Pressnitz , l’altra ad un evento accaduto a Trieste nel 1832. Secondo questa ultima 15 Siehe Capatti , Montanari : La cucina italiana , S. 239 ( wie Anm. 9 ). 16 Artusi : La scienza in cucina , S. 550–551 ( wie Anm. 9 ).

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opzione , il dolce sarebbe stato creato per un concorso bandito in occasione della visita alla città di Francesco I e dell’imperatrice d’Austria. Il pasticciere che lo avrebbe ideato lo presentò con il motto „Se giri il mondo ritorna qui“ vincendo il titolo di „Preis Prinzessin“ ( Premio Principessa ), poi abbreviato in Presnitz.17

Laut dieser Beschreibung existieren zwei unterschiedliche Hypothesen über den Namen Presnitz. Die eine verbindet den Namen des Gebäcks mit der heute verschwundenen böhmischen Bergstadt Preßnitz.18 Diese Vermutung basiert ausschließlich auf einer zufälligen phonetischen Ähnlichkeit und soll daher nicht weiter diskutiert werden. Die andere evoziert dagegen ein Ereignis , das „in Triest 1832“ ( sic ! ) stattgefunden haben soll. Nach der zweiten Option wurde das Gebäck anlässlich des Triest-Besuchs von Franz Joseph I. und der Kaiserin Sissi erfunden. Allerdings war Sissi 1832 noch nicht geboren und Franz Joseph erst zwei Jahre alt. Wenn man wirklich den Anlass des kaiserlichen Besuchs als causa efficiens des Gebäcks deklarieren möchte , müsste man eher an das Jahr 1882 denken , als das kaiserliche Paar gemeinsam offiziell Triest besuchte. Dieses Datum ist dann aus ganz anderen Gründen in die Geschichte der irredentistischen Bewegung in Triest eingegangen : Wegen des berühmten missglückten Attentats von Guglielmo Oberdan auf Kaiser Franz Joseph I.. Vom Tippfehler des Online-Verfassers abgesehen19 ist diese zweite Hypothese sehr interessant , weil sie eine wahrscheinliche linguistische Erklärung beifügt : Das Wort „Presnitz“ scheint aus einer dialektalen Kontraktion von „Preis Prinzessin“ zu entstammen. Mit dem „Preis Prinzessin“ oder „Preis der Prinzessin“ wurde der Gewinner des gastronomischen Wettbewerbs zu Ehren der Kaiserin Sissi gekürt.20 Dieser musste letztendlich der vermeintliche Erfinder des Presnitz 17 http://www.taccuinistorici.it/ita/news/contemporanea/pani---dolci/Presnitz-ela-festa-imperiale.html ( Zugriff : 26. 03. 2013 ). 18 Die Bergstadt Preßnitz ( Tschechisch : Přísečnice ) wurde am 6. Juni 1973 gesprengt. An ihrer Stelle wurde eine Talsperre des Flusses Preßnitz erbaut. 19 Ich hebe diesen Fehler der Webseite Taccuini storici hervor , weil dieser sich , wie üblich im Internet , auf vielen anderen Seiten reproduziert hat. Z. B kommt dieser auf der deutschen Wikipedia vor ( http://de.wikipedia.org/wiki/Presnitz  ; Zugriff : : 26. 3. 2013 ). Zum Thema „Sissi in Triest“ müsste außerdem erwähnt werden , dass die Kaiserin ab dem Jahr 1861 mehrmals in Triest eintraf , insbesondere wegen des Schlosses Miramare , wo sie immer wieder gerne verweilte , aber auch wegen des Hafens , von wo aus sie öfters abreiste. 20 Der Name des Preises ist ein weiterer Grund , diese Hypothese zu bezweifeln : Als Elisabeth Triest besuchte , war sie selbstverständlich bereits Kaiserin. Warum denn Preis „Prinzessin“? Vieles lässt also vermuten , dass dieser Preis eine ziemlich moderne Rekonstruktion ist.

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gewesen sein , der Bäcker von der „prima pasticceria di Trieste“21 ( die beste Konditorei Triests ), jene Konditorei , die Artusi selbst besuchte und von welcher er das Rezept bekam. Diese Vermutung ist selbstverständlich mehr Legende als eine überzeugende onomatologische Beschreibung des Wortes „Presnitz“ , aber sie zeigt exemplarisch , wie eine pseudo-deutsche Wortkreation aus dem Triest des 19. Jahrhunderts durchaus akzeptabel sein kann. Ein weiterer Grund , warum diese Hypothese nicht mehr als eine nette Legende betrachtet werden kann , liegt nicht weit entfernt von Triest. Die slowenische Küche kann nämlich ein traditionsreiches Backwerk vorweisen , das Presnec heißt und interessante Ähnlichkeiten mit dem Presnitz aus Triest aufweist.22 Die plausibelste Erklärung für den Namen Presnitz wäre somit die Germanisierung des slowenischen Namens. Insofern kann das pseudo-deutsche Wort Presnitz als eine exemplarische performative Aushandlung von Differenzen zwischen Identitätskonstruktionen beschrieben werden. Zum Schluss eine Fragenkonstellation , die ich hier nicht komplett beantworten kann und dennoch für entscheidend halte : Warum ist das PresnitzRezept das einzige als „triestinisch“ markierte Rezept in dem gesamten Buch von Artusi ? Warum hat Artusi weder die berühmte , ur-triestinische jota ( eine Art Kraut- und Bohnensuppe ) noch die canocie alla buzara ( Muscheln in einem Tomatensud ) aufgenommen ? Aus welchem Grund hat er gerade die pinza ausgelassen , jenes italienisch klingende Gebäck , das Katharina Prato für ihre Süddeutsche Küche ausgewählt hat ? In der Einleitung gibt uns Artusi zwei wichtige Informationen : Erstens , dass der Presnitz ein „dolce di tedescheria“ ist ; zweitens , dass er ihn in der „prima pasticceria Triestina“ kostete. Dort hörte Artusi mit höchster Wahrscheinlichkeit die Geschichte über den Wettbewerb , die Prinzessin Sissi und den Namen des Presnitz. Für diese Vermutung gibt es jedoch keine stichhaltigen Belege. Sicher ist nur , dass er das Rezept notierte und für seine Rezeptsammlung für würdig erklärte. Wie Capatti und Montanari gezeigt haben , ist das Artusi-Projekt ein Versuch , das in Regionen und Dialekte fragmentierte kulinarische Italien in eine einzige , nationale Sprache zu übersetzen.23 Dass Pellegrino Artusi ein Gebäck mit deutsch klingendem Namen auswählte , scheint zuerst ein Widerspruch zu sein – meiner Meinung 21 Artusi : La scienza in cucina , S. 550 ( wie Anm. 9 ). 22 Und nicht nur : In Hinblick auf Zutaten und Herstellung scheinen Presnec und Presnitz auch mit der Gubana di Gorizia ( oder Strucolo à la goriziana , wie Katharina Prato dieses Gebäck nannte ), das traditionsreichste Ostergebäck der Stadt Görz , eng verwandt zu sein. Dazu siehe : http://www.fuarceudin.it/dynamic/index.php?option=com_content&view=article&id=6:notizie-storiche-sulla-gubana ( Zugriff : : 26. 3. 2013 ). 23 Capatti , Montanari : La cucina italiana , S. 238–341 ( wie Anm. 9 ).

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nach ist das aber keiner. Gerade durch diese Appropriation des „deutschen“ Triests markiert Artusi auf radikalste Weise die Zugehörigkeit Triests zu Italien : Eine Zugehörigkeit , die nicht verbal begründbar ist , sondern die Konsequenz einer non-verbalen24 geografischen Fiktion , einer „imaginative geography“ ( Edward Said ). Die Beispiele aus Artusis und Pratos Werken zeigen letztendlich , dass die Küche als „translation zone“, als Übersetzungsraum par exellence funktionieren kann. Insbesondere beweisen sie , dass der Prozess des Aufnehmens , Protokollierens und Beschreibens von sogenannten traditionellen Rezepten ideologische Raumentwürfe und geografische Konstruktionen hervorbringt. Die mediale Darstellung eines traditionellen Kochrezepts ( durch ein Kochbuch zum Beispiel oder heutzutage auch durch Gastro-Blogs und Fernsehformate u. a. ) ist in diesem Sinne die Inszenierung einer Geografie der Zugehörigkeit.

24 Und in diesem Sinne nicht weniger kulturell , siehe dazu Csáky : Das Gedächtnis der Städte , S. 101 ( wie Anm. 7 ).

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„NATIONAL-MENÜ“ ÜBER DIE MUSIK ALISIERUNG VON ESSEN UND TRINKEN Um Emotion für einen Konsumationsprozess fruchtbar zu machen , braucht es nach Eva Illouz Imagination.1 Imaginationen wiederum speisen sich oft aus künstlerischen Formulierungen , die gemeinhin akzeptiert und dadurch zu kollektiven Wahrnehmungskonventionen werden. Der künstlerischen Repräsentation von Konsumationsakten und deren Objekten , zumal alltäglichen wie Essen und Trinken , kommt somit eine wichtige Funktion in symbolischer „Welterzeugung“2 und Identitätsbildung zu. Dementsprechend wird auch dem musikalischen Diskurs über Gusteme Unterschiedliches eingeschrieben : Gusteme – so hat der Strukturalist Ulrich Tolksdorf die verschiedenen Komponenten einer Mahlzeit , zu denen auch deren Zubereitung zählt , benannt.3 Historisch betrachtet spielte die Ästhetisierung , die musikalische Repräsentation von Essen und Trinken lange Zeit keine Rolle : Musik wurde dem – vorzugsweise priviliegierten – Einnehmen von Mahlzeiten beigestellt , sie sollte Atmosphäre schaffen und auf diese Weise den Konsumationsakt überhöhen. Aus dieser Praxis etablierte sich im Barock eine eigene institutionalisierte Gattung , die an allen größeren Höfen Europas gepflegt wurde und mit der Tafel­ musik von Georg Philipp Telemann und den Symphonies pour les Soupers du Roy von Michel-Richard Delalande ( de Lalande ) ihre artifiziellsten Ausprägungen fand. Erst die zunehmende Differenzierung und Reflexion von Lebenswelten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts führte dann zum Bedarf an phänomeninterpretierender bzw. Orientierung suggerierender Musik und damit auch zur Repräsentationspraxis von Gustemen , deren Spielarten im Folgenden angesprochen werden sollen. Die grundlegende dieser Facetten ist zweifellos die dramaturgische Dimension von Gustemen , ihr Einsatz als Requisiten in theatralischen Handlungen : Sei es , dass sie als Katalysatoren von latenten Gefühlsregungen fungieren ( wie 1

Eva Illouz : Emotionen , Imagination und Konsum : Eine neue Forschungsaufgabe , in : Heinz Drügh , Christian Metz , Björn Weyand ( Hg. ): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum , Kultur und Kunst , Frankfurt a. Main 2011 , S. 49. 2 Terminus von Nelson Goodman : Weisen der Welterzeugung , Frankfurt a. Main 1990. 3 Zit. nach Martin Reuter : Eingeklemmt zwischen Auster und Currywurst. Letzter Versuch über das deutsche Essen , in : Daniele dell’Agli ( Hg. ): Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle , Frankfurt a. Main 2009 , S. 190.

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in Gaetano Donizettis L’elisir d’amore [ 1832 ] oder Richard Wagners Tristan und Isolde [ 1865 ]), sei es , dass fiktionale Akteure beinahe selbst zu Konsumationsobjekten werden ( wie es dem Titelhelden in Wagners Siegfried [ 1876 ] geschieht oder dem Geschwisterpaar Hänsel und Gretel in Engelbert Humperdincks gleichnamiger Märchenoper [ 1893 ]) – oder sei es , dass der Akt gemeinschaftlicher Nahrungsaufnahme als Anlass mörderischer Vorhaben oder als politische Parabel dient ( z. B. in Umberto Giordanos später Oper La cena delle beffe [ 1924 ] und Paul Dessaus umstrittenem Verhör des Lukullus [ 1951 ]). In all diesen Situationen ist die theatralische Vorstellung von Essen und Trinken immer eng an ihre musikalische Repräsentation gebunden. In einzelnen Fällen sind es Essen und Trinken selbst , die in musikalischen Bühnenwerken zum Gegenstand von Allegorisierung bzw. Personifizierung werden : So in Richard Strauss’ „Heitere[ m ] Wiener Ballett in zwei Aufzügen“ Schlagobers. Entstanden im Sommer 1920 und an der Wiener Staatsoper im Mai 1924 uraufgeführt ( zu Ehren des 60. Geburtstages des Komponisten ),4 ist Schlagobers ein Programm vorangestellt , das von Strauss persönlich stammt : Wer an einem sonnigen Pfingstsonntag die von üppigen Kastanien beschattete „Hauptallee“ des Wiener Praters durchwandert , wird einer Unzahl von mit zwei feschen Juckern bespannten Wagen begegnen , die , mit weißem Flieder und Rosen geschmückt , Scharen von weißgekleideten Mädchen und schwarzbewamsten Buben , von ihren Herrn Onkels und Frau Tanten begleitet , gemächlich nach dem berühmten Lusthause der großen Kaiserin Maria Theresia fahren sehen. Es sind dies die Firmlinge , die nach einer festlichen Mahlzeit meist zum ersten Male in ihrem jungen Leben das Vergnügen einer Spazierfahrt in einem der altgeliebten Wiener Fiaker genießen. Wo anders könnte der schöne Ausflug beendet werden als in dem Eldorado der Jugend , einer der nicht minder berühmten Konditoreien , bei Sacher- , Linzer- , Pischinger- , Dobosch-Torte mit „Schlagobers“ [ … ].5

Ausgehend von dieser Einleitung begleitet das Ballett einen Firmling , der sich von diesem traditionellen Wiener Gastronomie-Ausflug den Magen verdorben hat und in einer Halluzination personifizierte Speisen und Getränke erlebt , wie zum Beispiel General Marzipan , Prinzessin Teeblüte , Prinz Kaffee , Prinz Kakao , Prinzessin Pralinee :6 Personifikationen , die Strauss , in der Tradition des 4 Ernst Krause : Richard Strauss. Gestalt und Werk , München–Zürich 1988 , S. 485. 5 Zit. nach Krause : Richard Strauss , S. 484–485 ( wie Anm. 4 ). 6 Zu Schlagobers siehe G. Brandstetter : Hunger im Schlaraffenland – „Schlagobers“ oder : das Essen und der Tanz , in : Gerhard Neumann , Alois Wierlacher , Rainer

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Divertissement , anhand einer Reihe von normierten Tanzformen ( Gavotte , Menuett , etc. ) vorführte und damit eine weitere Ebene der Realitätsverneinung konstruierte : Denn zum Zeitpunkt der Uraufführung , ein halbes Jahr vor dem österreichischen Währungsumstellungsgesetz , am Höhepunkt der Inflation und der damit verbundenen Not , gehörten weder die musiktheatralisch ästhetisierten Süßspeisen und Getränke zum alltäglichen Standard noch die eingesetzten Tänze , die mehrheitlich bereits anachronistisch waren. Strauss’ theatralische Essensfantasie war als ausdrücklich hedonistische Gegenwelt zur frühen österreichischen Zwischenkriegszeit konzipiert , ihr eskapistisches Potenzial wurde vom Publikum aber nicht genutzt : Schlagobers geriet zu einem der größten Misserfolge von Strauss. Dass Strauss dem krönenden Schlagobers seines Balletts die Form des damals längst allgemein akzepierten Walzers vorbehielt , zeigt indes eine weitere Konvention in der musikalischen Repräsentationspraxis von Gustemen , nämlich die Parallelisierung von Süßspeisen und populärer Musik. Zahlreich lassen sich Kompositionen anführen , die mit der Form des Walzers Konditorwaren vorstellen : Camille Saint-Saëns’ Caprice-Valse Wedding Cake oder Erik Saties Valse du Chocolat aux Amandes ( Mandelschokoladenwalzer ) aus der Sammlung Menus propos enfantines. Selbst in Humperdincks Hänsel und Gretel , ansonsten unmissverständlich an Wagner’schen Paradigmen orientiert , ist es ein Walzer , der die lukullische Begeisterung des Geschwisterpaares angesichts des Knusperhäuschens der Hexe indiziert. Eingeschrieben ist der musikalischen Imagination von süßem Essen und Trinken häufig auch eine naheliegende metaphorische Dimension , indem deren Süße als Synonym für Erotik , Sexualität herangezogen wird : „Süß wie die Liebe und zart wie ein Kuss“ sind die Salzburger Nockerln aus Fred Raymonds Saison in Salzburg ( 1938 ), „You’re the Cream in My Coffee“ heisst es in Ray Hendersons Musical Hold Everything ! ( 1928 ), „heißer noch als Gulaschsaft“ brennt die Leidenschaft im Foxtrott „Komm mit nach Varaždin“ aus Emmerich Kálmáns Gräfin Mariza ( 1924 ). Letzteres Beispiel zeigt darüber hinaus eine Semantisierung , die als besonders signifikant in der musikalischen Evokation von Gustemen bezeichnet werden kann. Verführt von der Tatsache , dass es sich bei der Nahrungsaufnahme um kollektive Praktiken handelt , werden Gerichte oft „national“ konnotiert : Eine Konvention , die sich gut im Kontext des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn aufzeigen lässt. Hier gehörten Gerichte mit den ihnen zugeschriebenen Attributen zu den vorrangigen Codes des Nationalen und wurden dementsprechend kollektivsymbolisch rezipiert. Eine Wild ( Hg. ): Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven , Frankfurt a. Main 2001 , S. 215–232.

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Paral­le­lisierung fanden diese Codes bisweilen durch ( wie es in der Operette Die Fledermaus heißt ) „Klänge der Heimat“, nämlich bestimmte Nationalitäten konnotierende musikalische Formkonventionen , vorranging Tanzformen ( Mazurka , Csárdás , Polka , Tarantella , Kolo usw.7 ), die im populären Musiktheater dann suitenartig aneinandergereiht wurden und den Pluralismus der Monarchie bedeuten sollten. Ein Beispiel für die Verschränkung beider Kollektivcodes , jener der Gerichte und jener der Tänze , ist das Couplet „National-Menu“ aus der 1896 uraufgeführten Operette Mister Menelaus von Josef Bayer , Text von Pius Rivalier und Alexander Krakauer : Wer jemals hat auf dieser Welt studiert Gastronomie , der weiss , dass überall bestellt verschieden das Menu. Was just der Eine köstlich fand , dem Andern schmeckt es nicht , so hat beinah’ ein jedes Land sein National-Gericht.8

An diese Einleitung über gastronomisch-nationale Differenz schließen sich Beschreibungen verschiedener Konsumationspratiken und Mahlzeiten an , die jeweils von stereotypen Tanzcodes musikalisiert sind : Tarantella für italienische Macaroni , Polka für böhmische Mehlspeisen , Ländler für steirischen Sterz , Csárdás für ungarisches Gulyas und Walzer für Wiener Schnitzel , das erneut in einem „Praterwirthshaus“ eingenommen wird : Was werden für Delicatessen im schönen Italien gegessen ! Der Lazaroni frisst Macaroni oder Polenta , nichts anderes kennt er , sitzt auf der Strada , sauft Limonada , speist ganz comoto seinen Rosotto ! 7 Moritz Csáky , Ideologie der Operette und Wiener Moderne , Wien–Köln–Weimar 21998 , S. 264 ff. 8 „National-Menu“ aus „Mister Menelaus“ von P. Rivalier , A. Krakauer. Musik von Josef Bayer , Wien–Leipzig o. J. [ 1896 ], S. 2.

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Dann Orange , Mandarine , Mandoletti , mit Salami , duri , duri und Confetti ! Confetti , Mandeletti , Polpetti ! Nun kennen Sie das wälische Menu ! In Budweis , Czaslau und in Prag , das kochen’s Mehlspeis tojetak ! Und Bramburi wer’n durt gekocht , dass ein’ der Mag’n im Leibe locht ! Golatschen , Wuchteln süss und mild und Alles ist mit Powidl g’füllt. D’rum munkelt man schon allgemein , es muss dort s’Powidlbergwerk sein ! Es muss dort , so sagt man allgemein , ein Powidlbergwerk sein ! Nun kennen Sie das böhmische Menu ! A steirisches Bürscherl , das sitzt bei sein Nürscherl , und röhrt wie a Hirscherl in Load und in Schmerz ; sei flachshoarterts Dirnderl will net aus sein’ Hirnderl ; sie kocht so guat Niernderl , sie kocht so guat Sterz ! Und was ihm sein Nanderl hat kocht vor acht Tag’n , das liegt wie a Standerl ihm heut’ noch im Mag’n ! A so a Bauernknödel wie a Wasserschädel und a Milisuppen mit Was d’rinn’ , wann’s a Fremder kriegt , so ist er hin ! Juhu ! Juhu ! Nun kennen Sie das steirische Menu ! Auch in Ungarn thun’s net hungarn , bestes Gulyas isst man da ,

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doch vergessen sie beim Essen : alles nur nit Paprika ! Backnedel mit Paprika ! Gugelhupf mit Paprika ! Kaiserschmarrn mit Paprika ! Chocolad’ mit Paprika ! Gross und Klein frisst Paprika ! Säugling sträut auf seine Ammel Paprika ! Nun kennen Sie das ungarische Menu ! In sein’n Firmungsg’wanderl führt den kleinen Xanderl in a Praterwirthshaus der Herr Göd’ ; auf a Tellerfleischerl und a saures Beuscherl , lauter Wiener Spezialität ! Dann a Schaumstarnitzerl und a Wiener Schnitzerl , endlich Krautfleisch , nachher geht’s schon schwer ; vor lauter Wiener Speisen thut sein Mag’n entgleisen und er braucht ka Wiener Trankel mehr !9

Der Text des Couplets spielt ferner auf Diskurse über einzelne Nationalitäten an , wenn etwa für Böhmen ein Nahrungsüberfluss ( „Powidlberg“ ) behauptet wird , dem gegenüber eine ( hier unausgesprochene , jedoch anderenorts beständig beklagte ) Nahrungsknappheit in Wien steht – ein Klischee des Ungleichgewichts , das vor allem von der deutschnationalen Presse verbreitet wurde.10 Essensentzug ist schließlich ein Aspekt der musikalischen Repräsentation von Gustemen , der selten behandelt wird. Ein Beispiel ist Erik Saties kurzes Klavierstück mit dem ironischen Titel Lui manger sa tartine ( Jemandem sein Butterbrot wegessen ) aus dem Zyklus Peccadilles Importunes ( Unwillkommene Kavaliersdelikte , 1914 ). In der Klassifikation von musikalischen Gustemen bleibt zuletzt die Vorstellung von Zubereitungsprozessen zu erwähnen , die mit Mitteln des kompositorischen Impressionismus geschehen kann ( wie in der 9 „National-Menu“, S. 2–9 ( wie Anm. 8 ). 10 Brigitte Hamann : Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators , München 1996 , S. 444.

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Suggestion des Zaubertrank-Brauens in Paul Dukas’ symphonischer Dichtung L’Apprenti sorcier ( Der Zauberlehrling ; 1897 ) oder im Stil des Neoklassizismus ( so in der von unaufhörlicher Motorik geprägten Cuisine des Klavierzyklus La muse ménagère [ 1944 ] von Darius Milhaud ).

Conclusio Katalysator theatralischer Latenzen , Synonym des Erotischen , Symbol des Nationalen : Die musikalische Imagination von Gerichten , ihrer Zubereitung und ihrer Konsumation bezeichnet neuralgische Positionen der Identitäts- und Wahrnehmungskonvention : Wie es schmeckt , verdankt sich vielfach , wie es gehört wird.

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LITER ARISCHE MENÜS AUS ZENTR ALEUROPA Das erste Erlebnis des Wohlgeschmacks ist richtunggebend. Es ist ein wichtiges Element der Heimatliebe und bestimmt die Sympathie mit , die der Mensch für Völker und Länder hegt. ( Franz Werfel : Barbara oder Die Frömmigkeit. )

In einem der bekanntesten Stücke Georg Kaisers , Von morgens bis mitternachts , das schon im Titel so aufdringlich den Verlauf eines Tages suggeriert , findet man eine knappe aber apodiktische Behauptung : „Wenn der Vater kommt , ist es Mittag“. Dass die Bürger des 19. Jahrhunderts eine sichere und geordnete Welt geliebt und über sie gewacht haben , ist wohl bekannt. Zu seiner Lebensphilosophie erhebt sie beispielsweise Theobald Maske in Sternheims Komödie Die Hose : Da bin ich lieber in gesicherten Bezirken , meinem Städtchen. Man soll sich sehr auf das Seine beschränken , es festhalten und darüber wachen. ( … ) Hat man seine Stübchen. Da ist einem alles bekannt , nacheinander hinzugekommen , lieb und wert geworden. Muss man fürchten , unsere Uhr speit Feuer , der Vogel stürzt sich aus dem Käfig gierig auf den Hund ? Nein. Es schlägt sechs , wenn es wie seit dreitausend Jahren sechs ist. Das nenne ich Ordnung. Das liebt man , ist man selbst.1

Dabei sind die Mahlzeiten zweifelsohne Höhepunkte auf den Etappen dieser bürgerlichen Selbstzufriedenheit und Behaglichkeit. Deswegen können die Begriffe „Vater“ und „Mittag“ bei Kaiser so leicht substituiert werden : pater familias ist Mittelpunkt des familiären Lebens und das Mittagessen spielt in der Alltagsgeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Mahlzeit stellt die tägliche Zäsur dar , die Kontinuität garantiert , ist der Angel- und Orientierungspunkt im Wechsel von Arbeitsleben und Häuslichkeit. In „gutbürgerlichen“ Familien wurde immer zur gleichen Zeit diniert , im Falle der Verspätung eines Familienmitglieds , wurde sein Teller umgedreht , er bekam nichts zu Essen , weil er sich am Ritual des Essens versündigt hatte. Der Esstisch wird zum Prüfstein der Bürgerordnung. Indem Kaisers Kassierer zu unerwarteten Zeit nach Hause kommt , bricht die bürgerliche Ordnung zusammen ; indem er aber noch vor dem Mittagessen weggeht , rührt seine Mutter der Schlag. Bei Sternheim wiederum wird 1

Carl Sternheim : Die Hose , Frankfurt a. Main 1973 , S. 10.

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die so gerühmte Sicherheit dieser Gesellschaftsschicht durch die Nachlässigkeit der jungen Ehefrau gefährdet. Frau Maske verliert auf offener Straße ihre Hose , Theobald spricht von „Not , Schande“, fürchtet „aus Brot und Dienst gejagt“ zu werden. Nur ein Gespräch über das bevorstehende Mittagessen ( „Hammelschlegel. Und gut gesalzen.“ ) kann ihn besänftigen und zur Besinnung bringen. Ansonsten ist Theobald auf seine reich gedeckte Speisetafel sehr stolz , prahlt mit eigener Gesundheit und Kraft , lässt den schwächlichen Barbier seine Muskeln betasten , will den „armen Kerl , der infolge langjähriger Misshandlung durch unzureichende Ernährung ruiniert ist“, in Pflege nehmen und ihn „ein wenig aufpäppeln“. Die Ehefrau des Kassierers hat ebenfalls andauernd von „Koteletts“ gesprochen , die zum Sinnbild des gestiegenen Wohlstands der mittleren Klasse geworden sind. So ist es verständlich , dass das Essen in der Literatur der Jahrhundertwende in einer erstaunlichen Opulenz präsent ist , was durchaus dem vitalen Stellenwert entspricht , den – nach Proudhon – Essen und Arbeiten als einzigen auf der Hand liegenden Lebenszweck des Menschen darstellen. Die beiden angeführten Beispiele , bei Kaiser und Sternheim , weisen auf Berlin hin , obwohl Wien viel eher als ein Hort der Schlemmerei und Genusssucht gegolten hat. Roman Sandgruber hat eine beachtliche Sammlung von Notizen zum Phäakentum der Wiener angefertigt : „Beim Lesen von Reiseeindrücken aus dem 18. und 19. Jahrhundert muss man zum Schluss kommen – die Bezeichnung Backhendlzeit sei dem österreichischen Biedermeier doch nicht ganz zu Unrecht verliehen worden“.2 Diese willkürlich klingende Behauptung wird aber auch von kompetenten Autoren von Kochbüchern bestätigt : „In der Zeit des Biedermeier war das Backhendl Inbegriff der feinen Wiener Küche , der Aristokratie und dem gehobenen Bürgertum vorbehalten“.3 Noch einprägsamer lässt sich das belegen mit dem Schlager Papagenos aus Mozarts Zauber­ flöte : „Kämpfen ist meine Sache nicht. Ich verlange auch im Grunde gar keine Weisheit. Ich bin so ein Naturmensch , der sich mit Schlaf , Speise und Trank begnügt.“ Obwohl man das schelmische Liedchen nicht als objektive Wahrnehmung annehmen darf , eine Veranlagung der Wiener zu hedonistischen Vergnüglichkeiten ist nicht zu übersehen. Die Metropole an der Donau stand Modell für alle Bestrebungen und Moden der Zeit , wurde bewundert und nachgeahmt in allen Provinzhauptstädten und so ist anzunehmen , dass auch die Ergebenheit zu den Freuden des Gaumens einen verzückten Widerhall fand. 2 3

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Roman Sandgruber : „Träume vom Schlaraffenland“, in : „Lesezirkel“ der Wiener Zeitung , Literaturmagazin Nr. 29 : „Literatur und Essen“, Wien Dezember 1987 , S. 4. Joseph Wechselberg : Die Küche im Wiener Kaiserreich , Reinbeck b. Hamburg 1979 , S. 35.

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Literarische Zeugnisse der drei bekannten Autoren und Zeitgenossen : Zweig , Werfel und Roth , verglichen mit Spuren der Vergangenheit aus der Frauenfeder einer erst neulich entdeckten Chronistin der Stadt Essek , Wilma von Vukelich , könnte in Bezug auf die Esskultur von damals interessante Einsichten vermitteln. Der nur ein Jahr jüngere Stefan Zweig hat in seiner viel gelesenen und zitierten Chronik Die Welt von gestern gleich am Anfang von „einem goldenen Zeitalter der Sicherheit“ gesprochen : „Jeder wusste , wie viel er besaß oder wie viel ihm zukam , was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm , sein bestimmtes Maß und Gewicht“.4 Dieses Gefühl der Sicherheit , die klare Orientierung und die Selbstzufriedenheit , die Sternheim so treffend mit dem Frohlocken von Theobald „Gott lacht zu unserem Dasein !“ charakterisiert , war keineswegs ein Privileg der Wiener. Die Zuversicht , dass es um die Welt bestens bestellt ist , hat die gesamte gut situierte Population der Monarchie in Hochstimmung versetzt. Vom Ufer der Drau berichtet darüber auch Wilma von Vukelich. Die gutmütigen Esseker waren zufriedene Leute , die bewusst den gemütlichen , mittleren Weg gewählt haben ; ohne zu übertreiben , sowohl im Guten , als auch im Bösen :5 Enthusiasmus war in der Stadt der siebziger , achtziger und neunziger Jahre eine unbekannte Eigenschaft. Man hielt sich an das Sprichwort „Das Hemd ist einem näher als der Rock“ und kümmerte sich um fremde Angelegenheiten nur insoweit , als sie einen gelungenen Unterhaltungsstoff abgaben. Leute , die in ihrer Jugend noch gewisse Ideen verfolgt und die Spur eines über das allgemeine Niveau hinausgehenden Ehrgeizes besessen hatten , mussten in einem solchen Milieu rasch verflachen. Denn dies ist der Fluch der kleinen Stadt : Es gibt keine Flucht aus ihrem Bannkreis. Dies war besonders in Essek der Fall , wo zu den beschränkten Ideen auch noch ein außerordentlich reiches Essen hinzukam. Der Mensch wird im Allgemeinen weder als Heros noch als Märtyrer geboren. Wozu kämpfen , fragten sich auch die Esseker der damaligen Jahre , wo doch das Leben wie von selbst in der größten Sorglosigkeit dahin floss ? Man verdient sein Geld ohne große Mühe , man hat täglich sein gutes Essen auf dem Tisch , Brat- und Backhühner , fette Donaukarpfen , Enten und Gänse , Würste und Schinken , ein feines gefülltes Kraut mit allen Zutaten , Knödel , Strudel und Krapfen , dazu noch ein frisch gezapftes Scheppersches Bier und seine Kartenpartie im Kasino oder doch wenigstens in den kleinen Beiseln der Peripherie , wo man sich 4 5

Stefan Zweig : Die Welt von gestern , Frankfurt a. Main 1992 , S. 14. Diese Wahrnehmungen der Esseker Autorin erlebt man fast wie einen Kommentar zum häufig verwendeten Ausdruck juste milieu bei Carl Sternheim.

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dem Laster heimlich hingeben konnte , während man zu Hause je nach seiner Veranlagung den guten Ehemann oder den kleinen Haustyrannen spielte. Jeder gute Essker , der es sich leisten konnte , trug sein Speckbäuchlein stolz vor sich her und fuhr sommers , wenn er die Mittel hatte , nach Marienbad , um die überflüssigen Kilos wieder loszuwerden. Zu fruchtbar und reich war diese viel bewässerte slavonische Tiefebene , in großen Massen gedieh das Wildgeflügel in ihren ausgedehnten Schilfwäldern , zu süffig und leicht war der Wein der nahen Baranya und der Fruška Gora , zu ergiebig das Leben in den schönen schwäbischen Dörfern mit fetter Milch , Butter , Käse und weißem Brot , zu süß und saftig die im Herbst auf den Markt gebrachten Äpfel , die Melonen , Trauben , Pfirsiche und Birnen. Wo es aber keine großen Sorgen gibt , da gibt es auch keine großen Gedanken.6

In diesem Bericht ist die kritische Einstellung gegenüber der kleinbürgerlichen Lebensweise nicht zu überhören. Zweig hat seine Erinnerungen eines Europäers im brasilianischen Exil geschrieben und daher wahrscheinlich unbewusst „die Welt von gestern“, d. h. Wiener Wohlstandsbürgertum vor dem Ersten Weltkrieg , mit nostalgischer Hingabe leicht idealisiert. Als exponierter Wortführer des Bildungsbürgertums berichtet er beschwingt und detailliert über Gouvernanten und Hauslehrer , elitäre Schulen und ausländische Universitäten , lässt keinen der bekannten Vertreter der „Jung Wien“- und Kaffeehausliteratur unerwähnt , schwärmt für die bejubelten Schauspieler des Burgtheaters , bewundert die eminenten Repräsentanten des geistigen Lebens … , die Sphäre des Alltags entgeht aber seinem Zugriff. Als gut erzogener Mensch weigert er sich , mit indiskreten Blicken fremde Teller zu streifen. Im Gegensatz zu ihm hat die Chronistin aus der Provinz andauernd die alltäglichen Sorgen und Freuden der bürgerlichen Mittelschicht und weniger der Honoratioren vor Augen. Deswegen scheut sie sich nicht , die leidenschaftlichen Lobgesänge an die Speisen in ironischer Brechung anzustimmen. Während die Beamten mit leeren Mägen und mit zerrissenen Hosenrändern herumlaufen und sich ihrer politischen Unzufriedenheit durch Straßenkrawalle und Inzidenzien im Magistrat Luft machen , haben „die satten Esseker“ das nicht nötig : Sie haben Achtung vor der Behörde sowie vor allen Leuten von Stand und Rang und sind gleichgültig gegen alle Fragen , die sie persönlich nicht betreffen. Was die Politik anbelangte , mochten die großen Herren sich nur den Kopf darüber zerbrechen , die Esseker waren keine Oppositionellen. Ihnen wa6 Wilma von Vukelich : Spuren der Vergangenheit. Osijek um die Jahrhundertwende , hg. von Vlado Obad , München 1992 , S. 283–284.

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ren ein spießgebratenes Lämmernes in der Unterstädter „Hölle“, ein mundgerechtes „Hallaszle“ im Wirtshaus an der Brücke , ein paar feine Backhendl mit Hauptsalat im „Goldenen Brunnen“ weit wichtiger als die von den Zagreber Stänkerern aufgestellten politischen Forderungen , bei denen ja doch nichts anderes herauskam als neue Steuern !7

Die Essgewohnheiten haben bei der Autorin Vukelich also nicht nur einen kulinarischen Reiz , sie sind illustrativ auch für eine soziologisch geprägte Analyse. Da die Schriftstellerin einem respektablen Bürgerhaus entstammt , ihr Vater war Vorsitzender der Handels- und Gewerbekammer für Slavonien , war sie prädestiniert , die first lady der deutschsprachigen Literatur in Essek zu werden. Gemäß dieser Damen-Rolle musste sie dem Speisezimmertisch eine zusätzliche ästhetische Funktion beimessen : Wie genau ich mich an dies alles erinnere ! Ich sehe den Tisch vor mir und die Menschen , die darum herumsaßen , mit all ihren Freuden und Kümmernissen , ihren Komplexen und Aspirationen , mit ihrer kleinlichen Ranküne und ihren kindlichen Eifersüchteleien , ihrem Wunsch nach Selbstbehauptung und ihrem Geltungstrieb. Ich sehe den runden Speisezimmertisch , er stand auf einer schön geschnitzten breiten Säule , mit Tiermotiven in einem imitierten späten Renaissancestil. Ich sehe das beige gewürfelte Tischtuch mit dem roten A-la-grecque-Muster und den langen geknüpften Fransen. Oder das noch schönere in feinstem rosa Seidendamast , mit eingewebten riesigen Vögeln , Schmetterlingen und sonst allerlei Gaukelwerk. Sechzig Jahre sind seither vergangen , und ich bin froh , über dies alles schreiben zu können und damit die mir einst teuer gewesenen Gegenstände der Vergessenheit zu entreißen und in diesen Blättern zu fixieren. Ich sehe die großen Teetassen , innen weiß , außen von einem besonders schönen Mittelblau , mit verschlungenen goldenen Wellenlinien , goldenen Henkeln und Rändern. Auf dem Tisch standen die silbernen Körbe und Aufsätze. Auf den gläsernen Schalen das Monogramm meiner Mutter. Es gab der Gelegenheit entsprechend die verschiedensten Bäckereien , zu Weihnachten Nussbeugel , im Fasching Krapfen mit hohen Rändern , zur Zeit des jüdischen Purimfestes die herrlichen Purimkindl , deren Zubereitung für uns Kinder schon Vorgeschmack des Festes ergab : Mandeln , Rosinen , schwarze Weinbeeren , Aranzini , Zitronensaft , Zimt und Vanille ergaben eine so himmlische Fülle , die meine Vorstellungen von dem Manna der Wüste weit übertraf.8 7 Ebd. , S. 176. 8 Ebd. , S. 155–156.

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Die liebevolle Beschreibung dieser festlich gedeckten Tafel verrät dem Leser eine zart besaitete Frauenseele , die sich manchmal für die althergebrachten Bräuche und die häusliche Gemütlichkeit hinreißen lässt. Bei Vukelich sind es aber eher die Ausnahmen. Durch ihren scharfen Intellekt und ihre kritische Beobachtungsgabe nimmt sie in der Regel die Position eines wachsamen Außenseiters ein. Wenn sie die rituellen Nachmittagsjausen oder die Festmahle beschreibt , tut sie es nicht der Speise zuliebe , sondern weil sie der Versuchung nicht widerstehen kann , diesen alltäglichen , zeitraubenden Verkehr mit oberflächlichen und kleinlichen Menschen bloßzustellen. Das , was aufgetischt wird , kann sie manchmal schon rein ästhetisch beflügeln , während sie die restriktive Mentalität der Gruppe in Empörung versetzt. Dabei hat die Autorin weniger eine jüdische , als eine typisch bürgerliche Koterie ins Visier genommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag diesen gesellschaftlichen Beziehungen eine fast mystische Pietät für den Klan zugrunde. Man mochte persönlich Hass oder Liebe für einander empfinden , der Klan stand außerhalb aller Zweifel. In seinem Zeichen war man bereit , einander in allen Schwierigkeiten beizustehen , und tat dies auch wirklich in vielen Fällen. Man verteidigte einander gegen dritte und namentlich gegen Außenstehende. Man stand , wenn man im Einzelnen auch noch so verschieden war , im großen Ganzen doch auf der gleichen Grundlage. Alles war standardisiert : Kleider , Wohnungseinrichtungen , der Grad der geistigen Bildung , Redeweise und Allüren. Man stand unter dem Gesetz des „Man sagt“ und „Man soll“, und jede Abweichung von demselben wurde als Taktlosigkeit , Geschmacklosigkeit , ja in besonders eklatanten Fällen sogar als ein Angriff auf die innere Geschlossenheit der maßgebenden Gesellschaftskreise gewertet. Und was darüber hinausging , der persönliche Geschmack und das angeborene Talent , wurde unter dem Druck der öffentlichen Meinung schon im Keime erstickt.9

Nun aber zurück zu Tisch ! Die allerwichtigste Mahlzeit , wenigstens für Frauen , war nicht das die Körperkraft stärkende Mittagessen , sondern die Nachmittagsjause , auch „Altwiener Jause“ genannt. Im Leben einer bürgerlichen Frau , die von allen praktischen Aufgaben des Haushalts befreit war ( denn in der Küche herrschte die Köchin , die Aufräumarbeiten erledigten Stubenmädchen , um die Kinder sorgten sich Gouvernanten , Waschfrauen holten die Wäsche ab ), wurde die Jause zum Höhepunkt des Tages , zur rituellen Institution der Selbstbestätigung. Die Kaffeejausen waren ziemlich zwanglos und man konnte auch ohne besondere Einladung kommen und gehen. In gastfreundli9 Ebd. , S. 140.

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chen Familien waren immer Leute anzutreffen ; es gab nicht nur erfreute Gesichter , sondern auch immer eine kleine Erfrischung. Der Tisch war gedeckt , und man erhielt immer etwas Gutes vorgesetzt , denn die Essekerinnen waren musterhafte Hausfrauen , ihre Speisekammer mit köstlichen Vorräten angefüllt , aus denen man im Notfall immer etwas herausgreifen konnte. Es gab außer den rotbäckigen Äpfeln , die sich den ganzen Winter über hielten , feines Dunstobst in länglichen Flaschen , alle mit einem entsprechenden Etikett versehen , Quittenkäse , Nüsse und trockenes Gebäck , öfter auch noch Schinken und Leberpasteten , so dass man bei diesen improvisierten Besuchen niemals zu kurz kam.10

Üblich war auch das reichhaltige Angebot an Süßigkeiten : „Es gab täglich Jausen mit herrlichem Schlagoberskaffee , Gugelhupf mit Rosinen , kleinem Gebäck , Nuss- , Schokoladen- und Punschtorten“11. Mondäne Versuche aus Budapest , die Altwiener Jause durch „Jours am Donnerstag“ nur mit Tee und Sandwiches mussten in Essek kläglich scheitern. Die Jause ist ursprünglich als kleiner Imbiss eingeführt worden , in Essek hat sie sich gelegentlich in ein echtes Fest verwandelt. In der fruchtbaren Tiefebene der Drau hat es anscheinend an verwöhnten Schlemmern nicht gefehlt. Vukelich wird nicht müde , echte Festmahle , ja sogar Bankette zu beschreiben , bei denen es eine Reihenfolge von zehn Gängen gab , abwechselnd Gesalzenes und Süßes , Gebratenes und Gebackenes. Am lebhaftesten ging es natürlich in der Wintersaison zu , wo der ersten Soiree automatisch eine ganze Reihe folgte , denn jeder Eingeladene musste sich für die ihm erwiesene Ehre revanchieren. Bei all diesen Einladungen bildeten die kulinarischen Genüsse natürlich den wichtigsten Teil des Programms , und ich kann heute noch nicht verstehen , wie es den Menschen möglich war , solche Quantitäten an Nahrungsmitteln in sich hineinzuschlingen , besonders die Frauen , die alle fest geschnürt waren , so dass sie bei Anlegung ihrer Stahlpanzer häufig ein bis zwei Hilfskräfte benötigten , die rechts und links an den Schnüren zogen , bis alles in der richtigen Form war und saß ! Um nur einige der Rundgänge zu erwähnen , die bei solchen Gelegenheiten obligat waren : Man begann mit einer Tasse Bouillon ( um den Appetit zu eröffnen ), die an und für sich ein ganzes Festmahl darstellte. Zum Entree wurde gewöhnlich kalter Schill in sauce tartare gereicht , garniert mit harten Eiern , 10 Ebd. , S. 247. 11 Ebd. , S. 89.

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Zitronenscheiben und Kaviar. Dann warmer Fisch mit Kartoffelpüree , Lungenbraten in einem farbigen Kranz junger Gemüse , Wild in pikanter Rahmsoße mit Preiselbeeren – man darf nicht vergessen , dass Essek sich in einer der wildreichsten Gegenden Europas befindet – , Geflügel , Salat , Kompott , Eisbomben mit Schlagobers , Torten , kleines Gebäck , jardinetto , das heißt Äpfel , Orangen , Südfrüchte , kandiertes Obst und Krachmandeln. Dazu die feinsten Weine , Liköre und schwarzer Kaffee. Es dauerte gute drei Stunden , bis man dies alles konsumiert hatte , und im Verlaufe dieser anstrengender Beschäftigung , ja auch nach derselben waren die Blicke nur auf die Schüsseln und Teller gerichtet im Bestreben , von all den guten Stücken immer noch das beste zu erwischen.12

Im Laufe ihres späteren Lebens war Wilma von Vukelich stets eine Gefangene der großen Städte , heimisch in Budapest , Zagreb und Paris , doch in ihren Memoiren hat sie auch Erinnerungen an die ländliche Idylle in Baranya aufbewahrt. Auf den großen Bauernhöfen hausten dort die arbeitsamen Donauschwaben , die von der einheimischen Bevölkerung bestaunt und beneidet wurden. Wilmas dortige Gastgeberin galt als „die Beraterin des ganzen Dorfes in allen praktischen Fragen , und viele Dorfmädchen waren durch ihre Schule gegangen , hatten in ihrem Dienst kochen , waschen , bügeln , Ordnung und die Grundlagen häuslicher Hygiene gelernt“13. Es ist daher verständlich , dass auf ihren Tisch keine karge Kost aufgetragen wurde. Das äußerst üppige Mittagessen wurde von zwei Jausen , am Vormittag und Nachmittag unterstützt. Anders als Zuhause wurden die Speisen nicht im Esszimmer eingenommen : Der Tisch für die Vormittagsjause wurde z. B. unter den schattigen Akazien gedeckt – „herrlicher Hausschinken , Eier , Radieschen und ein wunderbares , zu Hause gebackenes weißes Brot“14. Auf eine ähnliche Weise , in Saus und Braus , lebten die Donauschwaben nicht nur in Slavonien und Baranya , sondern auch in der benachbarten Wojwodina. Der bekannteste Schlagersänger dieser Region , Balašević , gedenkt noch heute in einem überaus beliebten Lied „Wie gut einst gegessen wurde !“ der längst vergangenen Zeiten. Etliche Zeitungsberichte belegen ebenfalls , dass die obige Präsentation Esseks als einer Stadt der edlen Kochkunst weder erfunden noch übertrieben ist. Wohl die bekannteste Journalistin im slawischen Südosten , Jelica Belović – Bernadžikowska , schreibt beispielsweise im Jahre 1915 , also in der Zeit als die Jugend Europas auf vielen Schlachtfeldern blutete , von unverändert gebliebe12 Ebd. , S. 248–249. 13 Ebd. , S. 115. 14 Ebd. , S. 115.

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nen Essgewohnheiten in ihrer Vaterstadt : Auf dem Osijeker Wochenmarkte scheint das Leben zu fluten wie sonst. In den Taschen der tüchtigen Osijeker Hausfrauen liegen sorgsam eingekauft allerlei bunte Materialien für das „gute Papperl“, das in dieser lieben Stadt so sehr geschätzt wird , in den weichen Armen der holden Weiblichkeit quitschen fette Spannferkel ihr lustiges „oui , oui“, und der bekannte Weg zu den Osijeker Männerherzen ( die noch übrig geblieben sind ), führt noch wie vor ganz hoffnungsvoll durch einen mit knusprigen Braten vollen Magen.15 Die schreibenden Zeitgenossen der Frau von Vukelich haben weder ihre Breite noch ihre Genauigkeit in der Darstellung der Schlemmermahle erreicht , erstens , weil sie als Männer weniger Augenweide am prächtig gedeckten Tisch fanden und zweitens , weil sie keine Lebenserinnerungen schrieben , die das Reale unvermittelt wiedergeben – sondern fiktive Werke , in denen die „prosaische“ Gegenwart weniger beachtet wird16. In dem sonst umfangreichen Opus von Franz Werfel findet man nur selten Belege für eine bürgerliche Esskultur. Häufiger tauchen die armen , „die Tage-essenden Kinder“ auf , als selbstzufriedene Genussmenschen. In der bekannten Erzählung Eine blassblaue Frauen­ schrift beispielsweise betreibt die weibliche Protagonistin Amalie eine strenge Diät : „Sie stochert im grünen Salat , der eigens für sie ohne Essig und Öl , nur mit ein paar Zitronentropfen angerichtet war“17. Ihr Gemahl , ein Emporkömmling , kann sich dagegen das Leben ohne Behaglichkeit nicht mehr vorstellen und schwärmt , durchaus im Geiste der bürgerlichen Oberschicht , für opulente Menüs : „Das Essen brillant , üppig , mittags a drei Gänge , abends a vier Gänge. Hören Sie : Eine Suppe , eine Vorspeise , Braten mit zwei Gemüse , eine Nachspeise , Käse , Obst , alles mit Butter oder bestem Fett zubereitet“.18 Die Titelheldin seines 800 Seiten starken Romans Barbara oder Die Frömmig­ keit ist der Inbegriff der Häuslichkeit , wird aber dem Leser nur einmal in typischer Ausstattung präsentiert , nicht als „Heimchen am Herd“, aber als Köchin mit Nudelbrett : Auf dem Brett lagen zwei schöne gelbe Teigblätter. Barbara nahm eine kleine Handvoll Mehl und streute es über ihr Werk. Eine alte , überflüssige Gewohnheit. So geht ein Maler zum letzten Mal mit dem Pinsel über das vollendete 15 Jelica Bernadžikowska : „Das gute Papperl in Osijek“, in der Zeitung Die Drau am 20. Februar 1915 , Nr. 41 16 Zweigs Die Welt von gestern ist dabei eine Ausnahme , aber auch dort wird eine Geistesgeschichte angestrebt , während die Wahrnehmungen der materiellen Bedingungen des bürgerlichen Daseins fehlen. 17 Franz Werfel : Eine blassblaue Frauenschrift , Frankfurt a. Main 1990 , S. 99. 18 Ebd. , S. 72.

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Bild , nicht um etwas zu verändern oder auszubessern , sondern nur , weil er sich von seiner Arbeit schwer trennen kann.19

Viel ergiebiger für unsere Interpretation ist das Werk von Joseph Roth , insbesondere aber sein wohl bekanntester Roman Radetzkymarsch. Der Bezirkshauptmann eines mährischen Städtchens , Franz Freiherr von Trotta , fühlt sich mit Habsburgern „ein wenig verwandt“ und repräsentiert bzw. verteidigt dort ihre Macht. Auf diese Weise werden seine Überlegungen und Haltung repräsentativ für das gesamte österreichische Beamtentum. Alle seine Tagesaktivitäten werden ordnungsgemäß wie die amtlichen Pflichten verrichtet : Morgenspaziergänge , Frühstücke , kein Tag ohne dienstliche Post , das feierliche Mittagessen , am Nachmittag zwischen fünf und sieben im Kaffeehaus das Fremdenblatt lesen … Das Leben ist zur Routine geworden , die Eintönigkeit der Tage eine Wehrmauer gegen die Veränderungen. Das gern wiederholte Leitwort des alten Bezirkshauptmanns lautet „Nur nicht überstürzen !“ Man wird an Zweigs „Welt der Sicherheit“, oder an Vukelichs ironische Kommentare erinnert : „Man fühlte sich sicher in seiner Haut , saß zufrieden auf dem angewiesenen Platz innerhalb des fest gefügten Systems , von dem man annahm , es würde die Ewigkeit überdauern.“20 Den Mittelpunkt dieses Ordnungswahns bildete aber „die feierliche Zeremonie des Essens“. Jeden Sonntag , während vor dem Amtshaus der Militärmarsch schmetterte , hörte man aus dem Speisezimmer ein leises Tellerklirren. „Während des Essens klang die Musik fern , aber deutlich. [ … ] Sie war gut und nützlich , sie umrankte die feierliche Zeremonie des Essens mild und versöhnend.“21 Zwei gegensätzliche Sphären des Lebens : das Familiäre und das Private auf der einen Seite , und das Dienstliche bzw. das Staatliche auf der anderen , werden auf diese Weise miteinander verwoben , feierlich inszeniert , bekommen fast eine sakrale Bedeutung. Der alte Diener Jacques erscheint mit blendend weißen Handschuhen und mit einem dunklen Auftragebrett , darauf stand die dampfende Suppenschüssel : Ein warmer , goldener Schimmer wallte in den Tellern ; es war die Suppe : Nudelsuppe. Durchsichtig , mit goldenen , kleinen , verschlungenen , zarten Nudeln. [ … ] Nach der Suppe trug man den garnierten Tafelspitz auf , das Sonntagsgericht des Alten seit unzähligen Jahren. Die wohlgefällige Betrachtung , die er dieser Speise widmete , nahm längere Zeit in Anspruch als die halbe Mahlzeit. Das Auge des Bezirkshauptmanns liebkoste zuerst den zarten Speckrand , 19 Franz Werfel : Barbara oder Die Frömmigkeit , Wien 1933 , S. 780. 20 Wilma von Vukelich : Spuren der Vergangenheit , S. 286 ( wie Anm. 6 ). 21 Joseph Roth : Radetzkymarsch , München 1981 , S. 32.

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der das kolossale Stück Fleisch umsäumte , dann die einzelnen Tellerchen , auf denen die Gemüse gebettet waren , die violett schimmernden Rüben , den sattgrünen Spinat , den fröhlichen , hellen Salat , das herbe Weiß des Meerrettichs , das tadellose Oval der jungen Kartoffeln , die in schmelzender Butter schwammen und an zierliche Spielzeuge erinnerten. Er unterhielt merkwürdige Beziehung zum Essen. Es war als äße er die wichtigsten Stücke mit den Augen , sein Schönheitssinn verzehrte vor allem den Gehalt der Speisen , gewissermaßen ihr Seelisches ; der schale Rest , der dann in Mund und Gaumen gelangte , war langweilig und musste unverzüglich verschlungen werden.22

Mag ein Schriftsteller eine Schokoladentorte auf die Tafel zaubern wie Vukelich ,23 oder ein saftiges Hüftstück vom Rind wie Roth , oder bauchige Kirschknödel wie Werfel , das ist geringfügig. Es handelt sich immer nur um ein Statussymbol für den gehobenen Bürgerwohlstand. Roths Herr von Trotta besteht daher auf einem „bürgerlichen Essen“, das zu seiner Gesinnung passt und trotz dem vorzüglichen Geschmack immer noch bescheiden wirkt : „Die schöne Ansicht der Speisen bereitete dem Alten ebensoviel Vergnügen wie ihre einfache Beschaffenheit.“24 Beim Besuch des Grafen Chojnicki kommt er nicht aus dem Staunen heraus über die Fülle von Delikatessen , die auf ungewöhnliche Art und zu ungewöhnlicher Stunde angeboten werden. Er konnte sich nicht einmal erinnern , wann er zum letzten Mal so „außergewöhnlich“ gegessen hatte. Das Bankett wurde an der russischen Grenze veranstaltet , sozusagen außer der Reichweite der österreichischen Speisekultur , und nur diese Tatsache verleitet den Bezirkshauptmann , so bereitwillig die ungewohnte Nahrung zu schmecken : „Sein Blick streifte ein paar Mal über den reichen Tisch und genoss und verweilte hier und dort im Genießen. Er hatte die geheimnisvolle , ja etwas unheimliche Umgebung beinahe vergessen.“25 Daheim , im Gleichmaß der Tage , ist es nur einmal passiert , dass Herr von Trotta nicht essen konnte , am Tage als sein treuer Diener im Sterben lag. Nur der Tod vermochte die Festigkeit seiner Lebensgrundsätze und seiner Essgewohnheiten ins Wanken zu bringen. Am Ende des Romans kehrt diese Situation wieder , diesmal mit einer fatalistischen Untermalung. Inzwischen hat Herr von Trotta in den ersten Gefechten des Krieges den einzigen Sohn verloren und wurde von der Einsicht überwältigt , dass ihm der Krieg auch das Letzte nehmen wird , was ihn noch 22 Ebd. , S. 33–34. 23 Sie beschreibt sowohl die ungarischen „Nationaltorte“, die der Konditor Dobos kreierte , als auch die österreichische Sachertorte. 24 Roth , Radetzkymarsch , S. 34 ( wie Anm. 21 ). 25 Ebd. , S. 193.

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ans Leben bindet – das Kaiserreich , dem er so inbrünstig gedient hatte. Die ganze Tragik vom Einsturz eines scheinbar wie eine Festung errichteten Lebens verpackt Roth in einen schlichten Satz : „Herr von Trotta aß , ohne zu merken , was man ihm vorsetzte.“26 Der Verlust jeglichen elan vitals wird durch das Fehlen des Appetits veranschaulicht. Die durchgeführte Untersuchung hat auf ein ähnliches Verhalten am bürgerlichen Tisch in Deutschland und Österreich hingewiesen. Die auffallenden Übereinstimmungen verbinden insbesondere Joseph Roth und Wilma von Vukelich. Den beiden ist die Anhänglichkeit an die tradierten Tischgewohnheiten gemeinsam , doch bei dem rückwärtsgewandten und wehmütigen Roth funkelt dabei eine Träne im Auge , während Vukelich merklich distanzierter auch von Mängeln der „gestrigen Welt“ berichtet. Die Esseker Chronistin urteilt im Allgemeinen viel schärfer als ihre drei österreichischen Kollegen über die versunkene Monarchie , schon deswegen weil sie ihre Memoiren Anfang der fünfziger Jahre verfasst hat , während die drei den großen Krieg nicht überlebt haben : Roth verschied am Anfang des Krieges in Paris , Zweig im Jahre 1942 in Brasil und Werfel unmittelbar nach seiner Beendigung in den Vereinigten Staaten. Das Thema der bürgerlichen Esskultur im Zentraleuropa ist damit keineswegs erschöpft worden. Auch weiterhin geistert durch die Literatur die Erinnerung an die einstige leidenschaftliche Hingabe an die Gaumenfreuden. Die Wiener Autorin Ilse Tielsch hat beispielsweise 1980 den Roman Die Ahnenpyramide veröffentlicht , in dem sie bestrebt ist , der „versunkenen Welt Böhmens und Mährens“ zu neuer Anschaulichkeit zu verhelfen. Zahlreiche orttypische Gerichte der deutschen Gemeinschaft werden erwähnt , beschrieben , sogar als Rezept angeboten ; im Text werden sie aber nicht literarisch integriert und funktionalisiert. Keine der Gestalten findet im Kulinarischen sein ureigenes Wesensmerkmal , die häusliche Atmosphäre wird nicht vom Tisch her ausgestrahlt. Berichte über das Essen bleiben informativ und rein dokumentarisch , mit einer Vorliebe für das durchaus Gewöhnliche , in den seltenen Fällen auch für das Kuriose.

26 Ebd. , S. 395.

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KULINARIK ALS INDIK ATOR VON MISCHKULTUREN GREGOR VON REZZORI UND DIE KÜCHE DER BUKOWINA Knoblauch ist der Lotos Magrhebiniens. ( Gregor von Rezzori : Maghrebinische Geschichten. )

Die Erforschung des Essens und Trinkens stellt ein weites Arbeitsfeld dar , in dem materielle , soziologische wie kulturwissenschaftliche Gesichtspunkte gleichermaßen von Bedeutung sind.1 Den verschiedenartigen Aspekten dieser Thematik entspricht eine nicht minder vielfältige Quellenbasis für dieses Untersuchungsgebiet : Kochbücher , Reiseberichte zählen ebenso dazu wie alltagsgeschichtliche und ernährungswissenschaftliche Bestandsaufnahmen. Da es sich bei Essen und Trinken um elementare , universelle und tagtäglich wiederholte Verrichtungen handelt , kann es nicht verwundern , dass dieses Themenfeld darüber hinaus auch Eingang in die bildende Kunst , in die Musik und in die Belletristik gefunden hat – allesamt Einlassungen , die unbedingt in die Betrachtung einzubeziehen sind , wenn man den subjektiven Aspekten dieser Thematik gerecht werden will. Zu allen Zeiten haben Schriftsteller und Dichter immer wieder entsprechende Motive aufgenommen und mal gezielt , häufiger jedoch beiläufig zur Darstellung gebracht. Auch wenn solche Textstellen häufig im gesamten Werk zerstreut sind , dürfen sie nicht mit bloßem Dekor gleichgesetzt werden , dienten sie doch der gezielten Charakterisierung , Modellierung und Profilierung von Einzelpersönlichkeiten oder ganzer Milieus. Kulinarische Themen und Andeutungen in der Belletristik sind aber nicht nur als literarische Stoffe und Motive von Interesse , sie lassen darüber hinaus auch Rückschlüsse auf die Lebensge-

1 Vgl. aus der Fülle der Literatur zur Einführung Dorothee Kimmich , Schamma Schahadat : Vorwort , in : dies. ( Hg. ): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 ( 2012 ): Essen , S. 7–17. Die Beiträge von Uwe Spiekermann u. a. in dem Kapitel : Ernährung , in : Wulf Köpke , Bernd Schmelz ( Hg. ): Das gemeinsame Haus Europa , München 1999 , S. 801–853. Alois Wierlacher u. a. ( Hg. ): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder , Berlin 1993. Alois Wierlacher , Regina Bendix ( Hg. ): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis , Berlin 2008. Hans-Jürgen Teuteberg u. a. ( Hg. ): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven , Berlin 1997.

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wohnheiten des betreffenden Autors zu und können unter Umständen sogar zur Rekonstruktion realer Esskulturen herangezogen werden.2 Historisch betrachtet wird es seit der späten Neuzeit freilich immer schwieriger , Esskulturen exakt zu bestimmen und voneinander abzugrenzen , weil in der Moderne vordem verbindliche religiöse , regionale , ethnisch-nationale und soziale Ordnungen der Essgewohnheiten allmählich ihre Bindungskraft verloren und damit zwangsläufig auch an Trennschärfe eingebüßt haben. Verantwortlich dafür war in erster Linie die seit dem 19. Jahrhundert zunehmende und im 20. Jahrhundert beschleunigte soziale und geografische Mobilität , in deren Gefolge es zu einer stärkeren Durchmischung der Esskulturen gekommen ist. Der Siegeszug der Paprika in ganz Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist ein gern zitiertes Beispiel für diese rasante Entwicklung.3 Das noch im 19. Jahrhundert gültige Bonmot : „Sage mir , was Du isst und ich sage Dir , wer du bist !“ büßte im Laufe des 20. Jahrhunderts in dem Maße an sozialer wie an geografischer Aussagekraft ein , als sich die Essgewohnheiten von heimischen Produkten und von den Jahreszeiten lösten , sodass heutzutage nahezu alle Speisen der Welt überall und jederzeit genossen werden können. Damit gingen auch vordem verlässliche kultursemiotische Sicherheiten verloren : Essen und Essverhalten haben in zunehmendem Maße ihre gemeinschaftsstiftende und -bindende Kraft verloren , sie können darum unbeschadet ihrer touristischen Inszenierungen mittlerweile nicht mehr ohne Weiteres zur kollektiven Selbstund Fremdidentifikation herangezogen werden.4 2 Vgl. dazu u. a. Gerald Heidegger : Essen und Charakter. Inszenierte Mahlzeiten in der Literatur , in : Hannes Etzelstorfer ( Hg. ): Küchenkunst und Tafelkultur. Culinaria von der Antike bis zur Gegenwart , Wien 2006 , S. 377–388. Anne Rabensteiner : Literatur und Geschmack , in : http://rcswww.urz.tu-dresden. de/frnz/trinken/esse5.htm ( Zugriff : 1. 2. 2012 ). Außerdem den Themenblock : „Sprach- , literatur- und medienwissenschaftliche Konstellationen des Kulturthemas Essen“, in : Alois Wierlacher u. a. ( Hg. ): Kulturthema Essen , Berlin 1993 , S. 245–384. Alois Wierlacher : Vom Essen in der deutschen Literatur. Mahlzeiten in Erzähltexten von Goethe bis Grass , Stuttgart 1987. 3 Vgl. zum Folgenden : Roman Sandgruber : Mahlzeit ! Zwischen wirtschaftlicher und kultureller Dimension des Essens , in : ders. u. a. ( Hg. ): Mahlzeit ! Katalog zur Oberösterreichischen Landesausstellung 2009 , Linz 2009 , S. 11–21. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. Hana Dvořáková : Strava jako nositel kulturnich stereotypu ( Nahrung als Träger kultureller Stereotypen ), in : Eva Ditterová ( Hg. ): Stolečku , prostři se. Strava jako interkulturní fenomén v muzeu ( Tischlein deck dich. Nahrung als interkulturelles Phänomen im Museum ), Eger 2009 , S. 16–19. Heinke M. Kalinke , Klaus Roth , Tobias Weger ( Hg. ): Esskultur und kulturelle Identität , München 2010. Eszter Kisbán : Dishes as Samples and Symbols : National and Ethnic Markers in Hungary , in : Hans Jürgen Teuteberg ,

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Doch selbst solche Diffusionsprozesse regional und ethnisch codierter Esskulturen sind von erheblicher kulturgeschichtlicher Aussagekraft. Erste Anzeichen und Vorformen können beispielsweise im multinational und plurikulturell zusammengesetzten Habsburgerreich exemplarisch studiert werden. Die mittlerweile reichhaltige Forschungsliteratur zum Thema Essen und Trinken in Vergangenheit und Gegenwart wird aber generell noch kaum von Historikern bestritten und wenn man von der Wiener Küche einmal absieht , so fehlt es bislang an entsprechenden , vergleichend angelegten Untersuchungsgängen zur Donaumonarchie. Von zerstreuten Erwähnungen und einzelnen Fallstudien einmal abgesehen , hat sich die kulturwissenschaftliche Forschung außerdem bislang noch verhältnismäßig wenig mit den Esskulturen im östlichen Europa befasst.5 Im Folgenden sollen nun die kulinarischen Reminiszenzen des Schriftstellers Gregor von Rezzori ( geb. 1914 in Czernowitz ; gest. 1998 in der Toskana ) an seine Bukowiner Heimat für eine Charakterisierung dieser Region herangezogen und in die kulinarische Landschaft der Habsburgermonarchie samt ihrer Nachfolgestaaten eingeordnet werden. Gregor von Rezzoris stark autobiografisch geprägte Texte bieten hierfür ein dankbares und ergiebiges Untersuchungsfeld.6 Das Werk dieses Autors ist voll von Hinweisen und Erinnerungen , in denen sich die kulinarischen Versuchungen seiner Heimat , der Bukowina , widerspiegeln. Seine Texte werden hier also nicht um ihrer selbst willen untersucht , sondern auf ihren Aussagegehalt für die Rekonstruktion eines lebenswichtigen Sektors dieser nicht nur für Rezzori inzwischen längst versunkenen Kulturlandschaft hin befragt.7 Rezzoris Familie stammte urGerhard Neumann , Alois Wierlacher ( Hg. ): Essen und kulturelle Identität , Berlin 1997 , S. 204–211. 5 Relativ fortgeschritten sind mittlerweile freilich einschlägige Untersuchungen in Polen mit seiner traditionsreichen Küche. Vgl. stellvertretend den Tagungsbericht von Olga Miriam Przybyłowicz : Smak i historia. Metodologia , źródła , perspektywy ( Geschmack und Geschichte. Methodologie , Quellen , Perspektiven ), in : Kwartalnik Historii Kultury Materialnej 58 H. 3–4 ( 2010 ) S. 465–468 , sowie die bibliografischen Angaben bei Krystyna Bockenheim : Przy polskim stole ( Zu Tisch in Polen ), Wrocław 1998 , S. 202 f. 6 Zur Bedeutung autobiografischer Zeugnisse für die Ernährungsgeschichte vgl. Dirk Reinhardt , Uwe Spiekemann , Ulrike Thoms ( Hg. ): Neue Wege zur Ernährungsgeschichte. Kochbücher , Haushaltsrechnungen , Konsumvereinsberichte und Autobiographien in der Diskussion , Frankfurt a. Main 1993. 7 Vgl. dazu allgemein die autobiografischen Erinnerungen von Gregor von Rezzori : Mir auf der Spur , München 1997. Und jetzt vor allem Cristina Spinei : Über die Zentralität des Peripheren. Auf den Spuren von Gregor von Rezzori , Berlin 2011.

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sprünglich aus Sizilien , Großvater und Vater waren aber bereits in gehobener gesellschaftlicher Position in Czernowitz tätig gewesen , das Familienhaus lag in der vornehmen Oberstadt. Gregor von Rezzori wurde in diesen plurikulturellen Mikrokosmos hineingeboren , wuchs mehrsprachig auf und war von Anfang an auch mit der kulinarischen Vielfalt seiner Heimatstadt und der Bukowina konfrontiert.8 Essgewohnheiten und -rituale bestimmten in dieser traditionell geprägten nordöstlichen Ecke des Habsburgerreiches ( 1774 österreichisch besetzt und seit 1849 eigenständiges Kronland ) nicht nur den Alltag , sondern strukturierten zudem maßgeblich den Feiertagskalender. Stellvertretend sei nur an das rumänische Osterfest , an die „pasca“ erinnert , einschließlich der ihr vorausgehenden Fastenzeit , die zusammen eine kulinarische Einheit bildeten , welche gleichfalls für die dort ansässigen Polen und Ruthenen von größter Bedeutung gewesen ist. Die beeindruckend vielfältige Küche der Bukowina ergab sich aus dem bunten Völkergemisch ; zusammengenommen wurden in diesem kleinen Kronland immerhin mehr als ein Dutzend verschiedener Volksgruppen gezählt , die hier auf engstem Raum zusammenlebten : Rumänen , Ruthenen , Deutsche , Juden und Polen – um nur die wichtigsten Ethnien zu nennen , bereicherten mit ihren verschiedenartigen Gerichten die Speisekarte der Bukowina. Die Ruthenen brachten beispielsweise einen eintopfartigen Kraut-Borschtsch ein , die Polen den klaren Rote-Beete-Borschtsch , die Rumänen ihre eigenen , sehr gehaltvollen und variantenreichen Suppen ( die Ciorbas ), die Juden wiederum ihre delikaten Fischgerichte.9 Eine zusätzliche Dynamik für diese Durchmischung ergab sich aus der geografischen Lage der Bukowina zwischen Galizien , Siebenbürgen und Rumänien , weil wechselnde Zuwandererströme aus den angrenzenden Ländern nicht nur die Nationalitätenverhältnisse permanent veränderten , man denke nur an das schwankende Zahlenverhältnis von Rumänen und Ruthenen in den vergangenen beiden Jahrhunderten , sondern auch von außen her die Küche und 8 Siehe aus der Fülle der Literatur zu Czernowitz stellvertretend Helmut Braun ( Hg. ): „Czernowitz“. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole , Berlin 2005. Raimund Lang ( Hg. ): Spurensuche – Czernowitz und die Bukowina einst und jetzt , St. Pölten 2000. Kurt Scharr : Die Landschaft Bukowina. Das Werden einer Region an der Peripherie 1774–1918 , Wien 2010. Karl Schlögl : Czernowitz – City upon the hill , in : Karl Schlögl : Promenade in Jalta und andere Städtebilder , München 2001 , S. 74–99. 9 Siehe dazu Jusefina Weidhofer  , Natalia Danler-Bachynska  , Valerie Meindl ( Hg. ): Das Czernowitzer Kochbuch. Ukrainische , rumänische , jüdische , deutsche und polnische Köstlichkeiten aus der Bukowina , Graz 2010.

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Essgewohnheiten in Fluss gehalten haben. Auf diesem Wege kam aus Ungarn schließlich auch das Gulasch ( Pörkölt ) in dieses Kronland. Darüber hinaus haben beispielsweise deutschböhmische Zuwanderer kulinarische Termini und Gerichte wie die böhmischen Buchteln und Povidltaschen in ihren neuen Lebensraum eingeführt. Überwölbt wurde dieser reichhaltige Speisekatalog zusätzlich von älteren kulinarischen Traditionen aus der Zeit osmanischer Vorherrschaft , die seit Beginn des 16. Jahrhunderts eingesetzt hatte und immerhin bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts andauern sollte. Der Einfluss dieses informellen Kulturimperialismus sollte sich nachhaltig auf die Küchensprache in der Bukowina , auf dem Balkan und in ganz Osteuropa auswirken , wenn man stellvertretend nur einmal an den türkischen Ausdruck „fasulye“ für Bohnen denkt , der in allen slawischen Sprachen , im Rumänischen , im Ungarischen ( paszuly ) und selbst in Österreich gebräuchlich ist.10 Gregor von Rezzori selbst verwendete in seinen Schriften immer wieder kulinarische Begriffe aus seiner Heimat , um regional Typisches hervorzuheben. Das eingangs zitierte Motto seiner „Magrhrebinischen Geschichten“ zählt ebenso dazu wie seine poetische Umschreibung des Knoblauchs als „die Zehe Gottes“.11 Nicht selten nutzte er Küchentermini in metaphorischer Abwandlung. So gab er beispielsweise dem Onkel des Ich-Erzählers in den Magrhebinischen Geschichten den Namen „Kantakukuruz“12 und nahm damit die auf dem ganzen Balkan , Osteuropa und Österreich gängige Bezeichnung Kukuruz für Mais auf , also für eine Nutzpflanze , die in der Bukowina populärer gewesen ist als die Kartoffel und zu „Mămăligă“ ( einer Art Maisbrei ) verarbeitet wurde. Wenn Rezzori von seinem Magrhebinien schwärmte , so hatte das nur bedingt mit der historischen Region der Bukowina zu tun und schon gar nichts mit dem realen Maghreb an der nordafrikanischen Küste. Vielmehr umschrieb er damit einen imaginären Bogen , der in der Bukowina beginnt , über Siebenbürgen , Kroatien , das nördliche Serbien , Bosnien-Herzegowina verläuft und im südlichen Dalmatien ausmündet. Im Sinne einer „unscharfen Menge“ mögen davon noch weitere Teile Rumäniens , Bulgariens , Mazedoniens und 10 Siehe dazu stellvertretend Gabriele Birken-Silvermann : Die Verfeinerung der rumänischen Esskultur im 19. Jahrhundert : Eine Analyse der Neologismen im Rumänischen , in : Gerhard Ernst , Peter Stein , Barbara Weber ( Hg. ): Beiträge zur rumänischen Sprache im 19. Jahrhundert , Tübingen 1992 , S. 201–206. 11 Siehe Gregor von Rezzori : Maghrebinische Geschichten , Hamburg 1958 , S. 5–7. Gregor von Rezzori : Die Zehe Gottes , in : Spiegel Spezial H. 4 ( 1996 ): Prost Mahlzeit. Essen , Trinken und Genießen , S. 54–57. 12 Rezzori : Maghrebinische Geschichten , S. 43–46 ( wie Anm. 11 ).

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Albaniens berührt werden.13 Es war eben diese geografische Unschärfe seiner Wunschlandschaft , welche Rezzori ausreichend Raum für die Entfaltung seiner nicht minder unscharf begrenzten kulinarischen Landkarte bot. Die Küche der Bukowina war mithin ein mixtum compositum und setzte sich aus verschiedenerlei Nationalgerichten zusammen , die als Ensemble den regional typischen Speisen- und Getränkekatalog einer ganzen Region widerspiegelten. Identifikationspotenzial lag also in der Mischung bzw. in der Komposition aller dieser Elemente und nicht in ihren einzelnen Bestandteilen. Küche und Essgewohnheiten lassen sich demzufolge selbst im Zeitalter des Nationalismus nur schwer nach nationalen Kriterien unterscheiden. Die sogenannten Nationalküchen verweisen nämlich bei näherem Zusehen einerseits auf viel größer geschnittene kulinarische Einflusszonen hin und gehen andererseits auf kleiner dimensionierte regionalspezifische Besonderheiten zurück. Vergleichbare Überschneidungen und Überlappungen der Essgewohnheiten lassen sich unschwer auch in anderen Teilen der Doppelmonarchie nachweisen , man braucht nur einmal an die kroatisch-slowenisch-bosnischen Landesteile , an Triest oder aber genauso auch an die Reichshauptstadt Wien zu denken. Denn auch dort lässt sich einerseits die Herkunft einzelner Speisen und Getränke aus diversen Nationalkulturen benennen , die aber erst in der Summe die unverwechselbare und spezifische Signatur der betreffenden Region oder Stadt ausmachten.14 Insofern stellten entsprechende Konfigurationen im Herkunftsland Rezzoris prinzipiell nichts Außergewöhnliches dar , waren hier aufgrund der kulturell und ethnisch besonders bunt gemischten und dicht gedrängten ethnischen und konfessionellen Gemengelage vielleicht nur besonders augenfällig. Folgt man Rezzoris Beschreibungen und Erinnerungen , so zeichnete sich die Esskultur seiner Heimat vor allem durch eine schier unbegrenzte Üppigkeit aus. Dabei fällt auf , dass Rezzori in seinen literarischen Verarbeitungen und autobiografischen Erinnerungen weder eine strikte Unterscheidung zwischen den nationalen Komponenten noch zwischen der kargen , einfachen Armeleuteküche und der exquisiten Esskultur der gehobenen adeligen bzw. bürgerlichen Schichten vorgenommen hat. In seiner eigenen Kochpraxis mischte sich der Speisezettel dementsprechend , wie einer handschriftlichen Rezeptesamm13 Siehe dazu Rolf Schwendter : Arme essen , Reiche speisen. Neuere Sozialgeschichte der zentraleuropäischen Gastronomie , Wien 1995 , S. 138 f. 14 Vgl. dazu u. a. Susanne Breuss : Einverleibte Heimat. Österreichs kulinarische Gedächtnisorte , in : Emil Brix , Ernst Bruckmüller , Hannes Stekl ( Hg. ): Memoria Austriae , Bd. 1. Menschen , Mythen , Zeiten , Wien 2004 , S. 301–329. Rolf Schwendter : Arme essen , S. 127–200 ( wie Anm. 13 ).

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lung aus dem Jahr 1943 leicht zu entnehmen ist. Darin finden sich polnische , rumänische und andere Gerichte in bunter Reihenfolge aufgeführt , ebenso einfache deftige Eintopfgerichte neben raffinierten und aufwendig zubereiteten Speisen. Die abwechslungsreiche Palette reichte von Auberginenmus ( Salată de vinete ), Krautfleisch ( Bigos ), über Rehrücken , gefülltem Hecht bis hin zu diversen Süßspeisen , etwa den Apă rece cu dulceaţă ( kandierte Früchte auf Eiswasser ).15 Es wäre nun aber voreilig und irreführend dazu , wollte man dieses allseitige Nehmen und Geben im kulinarischen Bereich gleich zum Beweis für ein durchgängig friedliches und harmonisches Verhältnis der Nationalitäten in diesem Kronland nehmen und damit dem altbekannten Bukowina-Mythos eine weitere Komponente hinzufügen.16 Man braucht in diesem Zusammenhang stellvertretend nur einmal an den grassierenden Antisemitismus auf dem Lande und an die nationalistischen Händel zwischen den Studentenverbindungen an der Czernowitzer Universität zu erinnern. Andererseits kann aber die hybrid zusammengesetzte Küche der Bukowina sehr wohl als verlässlicher Indikator dafür gelten , wie sehr Alltag und Politik auch in diesem kleinen Kronland auseinanderklaffen konnten und wie nahe nationalpolitisch motivierte Unverträglichkeiten und ein einvernehmliches Miteinander im täglichen Leben beieinander lagen. Gregor von Rezzori war sich der Widersprüchlichkeit dieser beiden Erfahrungsebenen sehr wohl bewusst , umso nachdrücklicher pflegte er aber die positiven Erinnerungen an die Küche der Bukowina , deren Komponenten sich für ihn zu einem unverwechselbaren Amalgam verbanden , das auch nach dem Anschluss dieses österreichischen Kronlandes an das „Altreich“ Rumänien im Jahre 1918 während der gesamten Zwischenkriegszeit und darüber hinaus seine Faszination nicht verlieren sollte. Gregor von Rezzori erweist sich in seinem literarischen Werk wie in seinen biografischen Aufzeichnungen als ein kun15 Wertvolle Quelle für diese Zusammenstellung bildet ein Konvolut handschriftlich verfasster Rezepte von insgesamt 17 Seiten auf losen unlinierten DIN-A– 8-Zetteln dar , die Rezzori Ende der 1950er- , Anfang der 1960er-Jahre zu spezifisch bukowinerischen Gerichten zusammengestellt hatte und das dem Autor dieser Studie freundlicherweise von meinem Kollegen Andrei Corbea Hoisie ( Jaşi ) als Kopie aus dem Familiennachlass der Rezzoris zur Verfügung gestellt worden ist. 16 Und zum Folgenden Trude Maurer : Eintracht der Nationalitäten in der Bukowina ? in : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52/3 ( 2001 ), S. 180–191. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die kritische Studie von Marie Lehmann : La transposition littéraire des conflits en Bucovine. L’Hermine souillée de Gregor von Rezzori , in : Chroniques allemandes 11 ( 2006–2007 ) S. 243–256.

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diger Wegweiser auf diesem Terrain , denn für diesen Weltenbummler sollte die Erinnerung an die leiblichen Genüsse der Bukowina stets präsent bleiben , wenn nicht sogar zum Maßstab für seine Beurteilung der Esskulturen anderer Länder werden. Zum Erinnerungsort und zur verklärten Wunschlandschaft „Bukowina“ gehörte für ihn ganz selbstverständlich die landestypische Küche , und das , obwohl Gregor von Rezzori die Bukowina schon in jungen Jahren verlassen hatte , um danach in Österreich , Deutschland , Frankreich und dann vor allem in Italien zu leben.17 Küchengerüche und Lieblingsspeisen zählen aber bekanntlich zu den frühesten und nachhaltigsten kindlichen Erinnerungsspuren. Gregor von Rezzori hat sie in seinem geistigen Reisegepäck mitgenommen , durch spätere Aufenthalte in Rumänien wieder aufgefrischt und nicht zuletzt durch seine eigene aktive Küchenpraxis lebendig gehalten. Er folgte damit einem Verhaltensmuster , das generell bei Migranten , welcher Couleur auch immer , zu beobachten ist : Heimatliche Küchenreminiszenzen erfahren in der Fremde stets eine zusätzliche Steigerung und Bedeutungsaufladung , denn die verlorene oder zurückgelassene Heimat kann mithilfe vertrauter Speisen in sehr konkreter Gestalt zurückgeholt bzw. präsent gehalten werden. Eher werden Sprache , Beruf und Kleiderkonventionen gewechselt als vertraute Essgewohnheiten aufgegeben. Dieses Einstellungsmuster lässt sich vergleichsweise am Lebensweg und Werk der aus Galizien stammenden Schweizer Schriftstellerin Salcia Landmann verdeutlichen , die ihre Heimat schon als kleines Mädchen verlassen hatte , für die aber die ostjüdische Küche bis zu ihrem Lebensende ein zentrales Thema geblieben ist , ein unschätzbares Kulturgut , das es aus ihrer Sicht unbedingt zu bewahren und zu tradieren galt.18 Kulinarische Anspielungen und Erinnerungen in Rezzoris Werk lassen sich indes nicht auf bloße Gaumen- und Schluckfreuden reduzieren , sie erscheinen vielmehr in erheblichem Ausmaß an bestimmte gastliche Orte gebunden , deren Ambiente für ihn niemals zur äußerlichen Kulisse erstarrte , sondern von ihm als integraler Bestandteil des kulinarischen Genusses verstanden wurde. Essen und Trinken waren für diesen Schriftsteller in erheblichem Maße immer auch ein gesellschaftliches Ereignis und Gemeinschaftserlebnis , das Gelegen17 Siehe dazu Cristina Spinei : Das Bukowina-Bild als Gedächtnisort bei Gregor von Rezzori , in : Andras F. Balogh , Christoph Leitgeb ( Hg. ): Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa. Zur Geschichte einer literarischen und kulturellen Chance , Wien 2012 , S. 257–269. 18 Siehe dazu stellvertretend Salcia Landmann : Die jüdische Küche. Rezepte und Geschichten , München 1995. Vgl. in diesem Zusammenhang auch allgemein Elke Regine Maurer : Der Geschmack des Heimwehs. Biographische Gespräche über Heimweh und Esskultur , Freiburg i. Breisgau 2011.

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heit zu vielfachem Informations- und Gedankenaustausch geboten hat. Mahlzeiten waren für ihn darum in erheblichem Ausmaß als zwischenmenschliche Kommunikationsforen bedeutsam gewesen , die nicht notwendigerweise an bestimmte geografische Orte gebunden gewesen sind. Sehr schön lässt sich diese Sehweise an Rezzoris literarischer Verbeugung vor der Institution des Wiener Cafehauses demonstrieren , einem Ort der Begegnung , den er selber gerne aufgesucht hat. Unter dem mehrdeutigen Titel „Cafe Sehnsucht. Die große Liebe zum kleinen Braunen“ veröffentlichte er einen kleinen Essay , in welchem er die Einmaligkeit des Wiener Kaffeehauses relativierte. Denn – so führte er aus – es kam und kommt in seiner Form und Bestimmung , seiner charakteristischen Ausstattung und Atmosphäre ebenso gut auch in Triest und Przemysl , Dornbirn und Kronstadt in Siebenbürgen , Linz und Sarajewo , Laibach und Czernowitz und schon erst recht in Budapest und Kecskemét – kurz : kreuz und quer und überall im ehemaligen Großraum der Schwingenspannweite des kaiserlich und königlichen Doppeladlers vor [ … ].19 Mit Bemerkungen dieser Art gab sich Rezzori als ein überzeugter , k. u. k. geprägter Zentraleuropäer alten Stils zu erkennen , für den sich in der ehemaligen Reichsmetropole Wien nur etwas konzentriert hatte , was er – vielleicht etwas kleiner und bescheidener dimensioniert – auch in anderen urbanen Milieus der Doppelmonarchie über ihren Untergang hinaus vorgefunden und geschätzt hat. Diese Beobachtung führt zu einem weiteren Gesichtspunkt : Der kulinarische Transfer und die Durchmischung unterschiedlicher Esskulturen vollzog sich in der Bukowina , wie anderswo auch , vornehmlich im urbanen Milieu und lange Zeit sicher weniger auf dem flachen Land , wo eine Separierung ethnisch codierter Ess- und Trinkgewohnheiten eher möglich gewesen ist , auch wenn lokale Märkte mit ihrem Nebeneinader unterschiedlichster Lebensmittel und Gewürze immer wieder Begegnungen mit anderen Esskulturen erlaubt haben , wie z. B. in Sarajewo. Rezzori hat diesen Sachverhalt einmal an der fiktiven Metropole „Tschernopol“ (= Czernowitz ) des ebenso fiktiven Märchenlandes Maghrebiniens verdeutlicht , dessen Bevölkerung seiner Beobachtung nach „polyglott und buntscheckig“ zusammengewürfelt war und „doch auf eine gewis19 Gregor von Rezzori : Begegnungen , Wien 1992 , S. 197. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Richard Kardiovsky : Das Kaffeehaus in der Doppelmonarchie. Zwischen Wiener Typus und nationalem Ausdruck , in : Balogh , Leitgeb ( Hg. ): Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa , S. 189–206 ( wie Anm.17 ). Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem Claudia Schirrmeister : Bratwurst oder Lachsmousse ? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur , Bielefeld 2012 , S. 23– 30 , S. 105–104.

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se Weise einheitlich. Was auf dem flachen Lande an Nationalitäten , Zungen , Trachten mehr oder minder auskömmlich , aber doch deutlich getrennt und unterscheidbar beieinander lebte , war hier [ … ] zivilisatorisch eingemaischt und zum Menschenbrei vergoren.“20 Rezzori machte hier die sicher auch für andere Teile der Monarchie und später für die Nachfolgestaaten zutreffende Beobachtung , dass erst die Enge des urbanen Raums ideale Bedingungen für die Vermischung der Esskulturen nicht nur in diesem Teil Europas geboten hat. Ohne diese und andere vergleichbare Phänomene jemals in größerem Umfang und in einem gesonderten Textkorpus thematisiert zu haben , liefert Rezzori mit seinen Reminiszenzen den schlagenden Beweis , dass eine präzise Unterscheidung einzelner Nationalküchen in der Bukowina gar nicht möglich war und es folglich zahlreiche Überschneidungen und Mischformen gegeben hat. Dementsprechend scheitern bis heute alle nationalen Sortierversuche der Bukowina-Küche , weil sich die einzelnen Gerichte in vielen Fällen nicht eindeutig einer einzigen Nationalität zuordnen lassen. Irgendwelche Urheberrechte auf bestimmte Speisen erheben zu wollen , war und bleibt somit bei näherem Zusehen ein vergebliches , gewissermaßen sogar ein sinnloses Unterfangen. Stellvertretend erwähnt sei nur das in der Bukowina beliebte und auch in Rezzoris handschriftlicher Rezeptesammlung erwähnte Reisgericht Pilav , das seinen weiten Weg von Indien und Persien über die osmanische Küche schließlich bis in die nordöstliche Ecke des Habsburgerreiches gefunden hatte , darüber hinaus bis nach Russland ( russ. : Plov ) gelangt war und dabei mancherlei Metamorphosen durchgemacht hatte. Vielfach lässt sich auch die genaue geografische Herkunft einzelner Speisen nicht rekonstruieren und eindeutig bestimmen. Denn Speisen wandern ja nicht nur von einem Land zum anderen , sie können bei ähnlichen Lebensmittelbasen und Anbaupräferenzen auch unabhängig voneinander kreiert werden , wie z. B. der Maisbrei in Rumänien ( Mămăligă ) und in Italien ( Polenta ). Esskulturen fügen sich nun einmal nicht in einen festgefügten Kanon im Sinne statisch unveränderlicher Nationalküchen , sie taugen darum auch nicht für einen Chauvinismus der Kochtöpfe , sondern unterliegen wie andere Kulturphänomene auch einem schier unbegrenzten Transfer , einem permanenten Austauschprozess mit allen dazugehörigen Begleiterscheinungen wie der Vermischung , der Adaption oder der Hybridisierung der Speisenzubereitung. Es ist aber genau diese Eigenschaft , die sie für die kulturwissenschaftliche Forschung erst interessant macht und zu einem äußerst ergiebigen Beobachtungsfeld werden lässt. Permanente Wanderbewegungen innerhalb der Habsburger20 Gregor von Rezzori : Ein Hermelin in Tschernopol. Ein maghrebinischer Roman , Berlin 2004 , S. 47.

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monarchie schufen ihrerseits die Voraussetzung , dass bestimmte Speisen und ihre Zubereitungsarten die Grenzen der diversen Regionen und Kronländer überschritten haben. So haben beispielsweise kroatische Zuwanderer nach Oberungarn den Gänsebraten in ihrer neuen Lebenswelt heimisch gemacht und zu einer kulinarischen Spezialität der Westslowakei werden lassen.21 Der tschechische Geologe Václav Cílek ging einmal sogar so weit , die Verbreitung des Apfelstrudels als Parameter für eine Definition ganz Mitteleuropas zu nehmen : „[ … ] würden wir eine Karte der Gebiete erstellen , wo man Apfelstrudel kennt , würde sie mit dem Teil von Europa übereinstimmen , wo man Stefan Zweig [ … ] und eine bestimmte Dachneigung gut versteht. Ich wage fast zu behaupten“, schrieb Cílek 2005 , „dass , sofern für die Mitteleuropäer eine Grenze wichtig ist , dies gerade das Gebiet des Apfelstrudels ist.“22 Auch wenn es sich bei der „Apfelstrudeltheorie“ sicher nicht um eine vom Autor allzu ernst gemeinte These gehandelt haben dürfte , deren Geltungsbereich nämlich schon in den südöstlichen Regionen der Habsburgermonarchie fraglich wurde , so verweist dieser Autor dennoch auf einen wichtigen Tatbestand : Kulinarische Prägungen machten weder an Ländergrenzen noch an ethnischen Zugehörigkeiten halt. Wenn überhaupt , so können bestimmte Essgewohnheiten und Vorlieben also höchstens in größeren geografischen Zusammenhängen gesehen werden , verlieren dann aber wiederum zwangsläufig an Trennschärfe. Als weiterer nicht zu unterschätzender Diffusionsfaktor kommt noch hinzu , dass es wohl kaum Kochrezepte gibt , die unverändert und allgemeingültig praktiziert und tradiert werden , vielmehr werden sie permanent durch individuelle Varianten verändert und modifiziert. Das kaum zu übertreffende und keinesfalls nur im deutschen Sprachgebrauch übliche Prädikat „Wie-bei-Muttern-zu-Hause“ weist unmissverständlich auf derartige Privatisierungsprozesse hin , die sich wiederum nur mithilfe autobiografischer Zeugnisse erschließen lassen. Gregor von Rezzoris kulinarische Reminiszenzen und seine eigene experimentierfreudige Küchenpraxis liefern hierfür wertvolles Anschauungsmaterial.

21 Siehe Júlia Domaracká : Gänsebraten – eine Spezialität der kroatischen Bewohner in der Slowakei , in : Dittertová ( Hg. ): Stolečku , prostři se , S. 61–66 ( w ie Anm. 4 ). 22 Václav Cílek : Krajiny vnitřní a vnější ( Innere und äußere Ränder ), Praha 2005 , S. 79. Zit. nach : Blanka Petráková : Teorie jablkového štrúdla ( Theorie des Apfelstrudels ), in : Ditterová ( Hg. ): Stolečku , prostři se , S. 115 ( wie Anm. 4 ).

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GYULA KRÚDYS LETZTES MAHL IN SÁNDOR MÁR AIS ROMAN SINDBAD GEHT HEIM Der einstige Esterházy aß den nach ihm benannten Rostbraten , der durch die weltweit reisenden Köche sogar nach Wien und auch anderswohin gelangte ; selbstverständlich mit weniger Szegediner Gewürzpaprika , als bei uns zu Hause.1 Seine Helden essen mal Paprikaschoten , mal Leberwurst mit viel Knoblauch , und flirten mit der schwerfälligen Wirtin einer am Stadtrand gelgenen Gaststätte , doch in allen vulgären Varianten ertönt und leuchtet die Atmosphäre der Welt Krúdys.2

„Allenthalben in diesem Vaterland hatte der Seefahrer gegessen , maßvoll doch sehr aufmerksam , als lebte in Geschmäckern , Würzen , Saucen , aromatischen Zutaten eine ungeschriebene Kultur weiter.“3 Dieser zusammenfassende Satz des im Titel des Beitrages erwähnten Márai-Romans weist in zwei Richtungen : Als Romanstoff wurde die Lebensgeschichte eines ungarischen Schriftstellers , Gyula Krúdy , gewählt , der in unmittelbarer Vergangenheit ( 1933 ) verstorben war ; somit wurde zugleich auch auf eine Legende verwiesen , indem die biografische „Authentizität“ der gastronomischen Erzählungen und Romane unter die Lupe genommen wurde ; damit im Zusammenhang wurden auch Überlegung angestellt , die Artikulierung einer Geistesrichtung vor Augen zu führen , die in den gastronomischen Novellen oder Romanen ( Krúdys ) zutage treten. Aus den Welt- und Kulturanschauungen seiner Helden versuchte die Forschung auch auf Krúdys Lebensdaten und auf jene Folgerungen zu schließen , die die materielle Kultur , in gewissen Fällen die Esskultur4 , mit der geistigen Kultur verband und zwischen diesen beiden eine Art Gegenseitigkeit in Bezug auf die Art der Lebensweise herstellte. Indem der Kontext von Krúdys Lebens1

Gyula Krúdy : A has ezeregyéjszakája ( Tausendundeine Nacht des Magens ), hg. Zsuzsa Krúdy , Budapest o. J. ( 1990 ), S. 203. Ders. : Schlemmergeschichten. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki , Berlin ³1982. 2 Sándor Márai : Krúdy , in : Ders. : Ihlet és nemzedék [ 1946 ] ( Inspiration und Generation ), Budapest o. J. ( 1992 ), S. 79. 3 Sándor Márai : Sindbad geht heim. Übertr. von Markus Bieler , Vaduz 1978 , S. 125. 4 Heinke M. Kalinke , Klaus Roth , Tobias Weger ( Hg. ): Esskultur und kulturelle Identität. Ethnologische Nahrungsforschung im östlichen Europa , München 2010. Vgl. Julia Danielczyk , Isabella Wasner-Peter ( Hg. ): „Heut’ muß der Tisch sich völlig bieg’n“. Wiener Küche und ihre Kochbücher , Wien 2007.

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werk die österreich-ungarische Monarchie ( u nd nur in einem weiteren Sinne deren Literaturen , jedoch dominant deren Geistigkeit und Kultur ) darstellte , wird die komplexe Materialität dieser Welt mithilfe der Speisen und Getränke vor unsere Augen geführt und gleichsam deren virtuelle Geografie artikuliert. Dadurch wird durch die Einbezugnahme der landschaftlichen Charakteristika und des aus unterschiedlichen Aspekten ableitbaren „Nationalen“ die Ortsgebundenheit von Kultur infrage gestellt. Es zeigt sich , wie all das , was später in den gastronomischen Romanen als vergangenes ( österreichisch-ungarisches ) Dasein präsentiert wird , sich verändert , von hier verlegt und später wieder zurückverlegt wird. Sándor Márais Roman Sindbad geht heim ( 1940 ) wurde im Zweiten Weltkrieg zunächst in Tageszeitungen in Form von Fortsetzungen publiziert und erst später als selbstständiger Band herausgegeben.5 Der Roman baut eine intertextuelle Beziehung mit den verschiedensten Orten von Krúdys Lebenswerk auf und vergegenwärtigt so einerseits die Alltage von Krúdys Biografie , größtenteils in Form von inhaltlichen Zitaten , andererseits werden durch die inneren Monologe seiner Hauptfigur , durch die Art und Weise seines Verhaltens , so zum Beispiel bei seinen Mahlzeiten , in den Kommentaren über Speisen , die im Roman vorgestellt werden , als „gastronomische Erzählungen“ vor Augen geführt , die einen wichtigen Ort der Erinnerungen der „gastronomischen Erzählungen“darstellen ; es werden Verhaltensformen ( die die gesellschaftlichen Umstände zu rekonstruieren vermögen ) und solche aus der nahen Vergangenheit , größtenteils aus der Periode vor dem Ersten Weltkrieg vergegenwärtigt , in denen die Esskultur , die einzelnen Speisen ihrer Qualität entsprechend beurteilt werden ; es werden die lokalen Charakteristika und der genius loci der Speisen in Erinnerung gerufen und als Orte der Erinnerung weitervermittelt. Die in der materiellen Kultur verankerte Erinnerung wird somit zu einer Erzählung , beziehungsweise zu einer Geschichte umgeformt ; eine solche Rekonstruktion vermag jedoch den konstruktivistischen Ansatz nicht gänzlich auszuschließen. Ganz im Gegenteil : Es wird das legendenumwobene Leben Krúdys , die aus der mündlichen Überlieferung bekannte Tradition und das schriftlich übermittelte Erbe in den literarischen Werken so präsentiert , dass in ihnen die geistige , intellektuelle und materielle Kultur nicht bloß als ein besonderes Merkmal einer bestimmten Epoche , gleichsam als eine exzentrische Offenbarung hervortritt , sondern das von Márai bezeichnete „andere Ungarn“6 näher umschrieben wird. Die Beschwörung der Romanhelden Márais erinnern nämlich einerseits an verstorbene Autorenkollegen , an die Handelnden der „Heldenzeit“ der un5 Sándor Márai : Szindbád hazamegy [ 1940 ] ( Sindbad geht heim ), Budapest 1992. 6 Vgl. das Nachwort Márais zum Roman „Sindbad geht heim“ ( wie Anm. 3 ).

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garischen Moderne ; andererseits an seine gastronomischen Abenteuer , während er das ganze Land bereist und sogar bis nach Wien gelangt , in die am weitesten entfernte Stadt , in der er gewesen ist , und in der er sich heimisch fühlen kann ( dieses Wien fügt sich selbstverständlich vollständig in die gastronomische Erdkunde der Romane Krúdys ein ).7 All dies zusammen bildet jenes Kapitel des Romans , in dem Sindbad gerade schreibt , und der Zeitungsredakteur kommentiert fast unverständlich , dass nichts geschieht und nur ein Gast einen Fisch verzehrt. In Márais Roman bildet diese Erzählung die letzte Handlung des Titelhelden und kann beinahe als sein geistiges Testament , als Zusammenfassung all dessen aufgefasst werden , was in den erwähnten gastronomischen Erzählungen für die Beschreibung des Landes , der materiellen Kultur , und darüber hinaus für alles , was in der vergangenen Zeit zur Bildung , zur Kultur zählte. Obwohl Sindbad geht heim gerade wegen der gastronomischen Bezüge jene Sprechweise annimmt , die in den 1930er-Jahren von dem bekanntesten Budapester Gastronomen Karl Gundel verwendet wurde – nämlich in Bezug auf die Charakteristika , auf die vornehmlichen Besonderheiten der ungarischen „Nationalküche“  – ,8 betont der Roman dennoch das damalige Zusammenleben , die Gemeinsamkeit der Erinnerung , Sindbads heimische Gefühle für Wien , die Erinnerung an die Literatur der Monarchie , die nicht ganz frei war von einem habsburgischen Mythos , deren organischer und charakteristischer Bestandteil jedoch auch die Aufrechterhaltung von kulinarischen Erinnerungen war. Die Essgewohnheiten des als eine Vaterfigur etablierten Monarchen Franz Joseph erscheinen in den Schriften Krúdys ebenso wie der Genuss einiger Wiener und österreichischer Speisen oder Getränke. Doch die Erinnerungen bezogen sich nicht nur darauf ; Franz Joseph war mit seiner puritanischen Lebensweise , mit seinen Lieblingsspeisen in bestimmten ungarischen Kreisen ganz eindeutig ein Vorbild. Das Wirtshaus mit dem Namen „Zur Stadt Wien“ ist der Ort der Handlung des einen Romans ,9 der Weg der ungarischen und österreichischen Varianten von Speisen verläuft ähnlich wie die Wanderungen von literarischen Motiven : Segmente der materiellen und geistigen Kultur 7 Ebd. , S. 99. 8 Karl Gundel : Ungarische Kochrezepte , Budapest o. J. ( 1935 ). Károly Gundel : A magyar vendéglátás emlékei. Gyakorlati gasztronómia ( Denkmale der ungarischen Gastlichkeit. Praktische Gastronomie ), Budapest 1940 ( Reprint 1990 ). 9 Gyula Krúdy : Boldogult úrfikoromban ( In meiner seligen Jungherrenzeit ), Budapest 1920. Gyula Krúdy : Meinerzeit. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen , hg. von Christina Viragh , Berlin 1994. S. 39 : „Herr Vájsz [ … ] fühlte plötzlich , dass er in Budapest ein Wirtshaus eröffnen musste , eines mit dem Bier , das er in Schwechat brauen half. [ … ] Schwechater Lagerbier , wie man es damals nannte“.

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wandern auf dem als Thematologie bezeichneten „Weg“. Die Aufeinandergewiesenheit kultureller Zusammenhänge wird durch die Sprachgeschichte ganz genau und präzise bestimmt. Hier könnte man an die ins Ungarische übernommenen Speisebezeichnungen österreichisch-bairischer Herkunft denken , die sich entsprechend unterschiedlicher Sprachgesetze der ungarischen Sprache anglichen , während ihr „materielles“ Dasein im Großen und Ganzen unverändert blieb. Ich möchte hier einerseits an Gulasch , Debreziner und andere Ausdrücke in der deutschen Sprache erinnern , andererseits an populäre österreichische Bezeichnungen auf den ungarischen „spájzcetli“s ( Speisezettel ), wie virstli ( Würstel ), krigli ( Krügel ), pájsli ( Beuschel ).10 Wir begegnen einem ähnlichen Phänomen , wenn wir in neuere , galizisch-polnische Romane hineinblättern. Folgende ( leicht ) polonisierte Wörter , die aber österreichischer Herkunft sind , deuten auf gemeinsame Erinnerungen in der Gastronomie : wiedeński strudel ( Wiener Strudel ), kajzerki ( Kaisersemmel ), buchta ( Buchtel , Wuchtel ), knedle , knedli ( Knödel ), kapucyn ( Kapuziner , Capuccino ) oder calkelner ( Zahlkellner ).11 Wir können so auf die Präsenz umgangssprachlicher Elemente aufmerksam werden , die nicht bloß eine gewisse Atmosphäre anzudeuten , sondern die vor allem auf die durchgehende Verwendung einer für die Monarchie typischen Koine hinzuweisen vermögen. All jene , die sich mit „Erinnerungen an die Gastronomie“ befassen , erwähnen zum Beispiel alte ungarische Speisekarten , die ihr Angebot etwa folgendermaßen umschreiben : roszpradli ( rostélyos , Rostbraten auf Esterházy-Art , der laut dem in der Zwischenkriegszeit verfassten Kochbuch Gundels die Spezialität der ungarischen „Nationalküche“ wäre , jedoch infolge seiner Bezeichnung auch einen umgekehrten Weg durchlaufen haben konnte , die Bezeichnung kehrte nämlich aus Wien in die ungarische Küche zurück ), „bornyú snitzli“ ( Wiener Schnitzel aus Kalb ), Karmonadli ( karaj , Kotelett ).12 In anderen Schriften Krúdys stoßen wir immer wieder auf virsli ( Würstel , Würschtel ), parizer ( Lyoner Wurst ), ringli ( Ringel , Sardellenringel ), szaft ( Saft ) usw. Im kurzen Prosastück Gabelfrühstück aus dem Jahre 1929 findet sich eine Rekonstruktion von Speise- und Tagesgewohnheiten ; der Kellner und der Gast ver10 Die gastronomischen Novellen und Feuilletons sind im Sammelband „A has ezeregyéjszakája“ publiziert worden. Z. B. : A konyha művészete. Esterházy rostélyosai ( Die Kunst der Küche. Die Esterházy-Rostbraten ), S. 211 ( wie Anm.1 ). 11 Alois Woldan : Der Österreich-Mythos in der polnischen Literatur , Wien–Köln– Weimar 1996 , S. 57. Andrzej Kątny : Zum kulinarischen Wortschatz des Polnischen im Lichte der deutsch-polnischen Sprach- und Kulturkontakte , in : Kalinke u. a. ( Hg. ): Esskultur , S. 64–66 ( wie Anm. 4 ). 12 Imre Gundel , Judit Harmath : A vendéglátás emlékei ( Denkmale der Gastlichkeit ), Budapest 1979 , S. 23.

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stehen sie und benutzen beide , die an die Umgangssprache der „guten alten Zeit“ und an die Alltagskultur , an die „Sprache“ einer Person erinnert , die sich einer Mischsprache bedient. Der Gast richtet sich an seinen Freund , den Kellner : „Kérek egy ájnspennert és egy krigula svecháti sört“ ( bitte um einen Einspänner und ein Krügel Schwechater Bier ). Die in der ungarischen Rechtschreibung geschriebenen Wörter sind in den Wirtshäusern , Gaststätten und Kneipen weit verbreitet , ein Beispiel ist das „Gábelfrustuk“ ( Gabelfrühstück oder auch gemütlich : gábli ), bei dem auch immer zwei knusprige Kaisersemmeln serviert wurden.13 Die während der Zeit des Weltkriegs in friedlichere Zeiten zurückreichende Erinnerung bezieht sich in den Erzählungen , die persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse darstellen , immer wieder auf Speisen , Mahlzeiten und die Existenz und den Alltag von Restaurants , die sowohl dem Alltag angehörten als auch zu einer zur Sakralität stilisierten Lebensgeschichte wurden. Mahlzeiten vollziehen sich nicht nur anstelle von etwas , sondern sie heben die materielle Kultur in einen Bereich von Spiritualität ; sie weisen nicht nur auf eine bestimmte Lebensweise , sondern vermitteln Informationen über das Heimische , über vertraut gewordene Orte , die für das Dasein geschaffen und gesichert wurden. Ein Feuilleton mit dem Titel Gasthof zur alten Welt ,14 das zu den Erzählungen gehört , deutet schon mit seiner Überschrift an , dass es aus dem üblichen Rahmen der alltäglichen Wirtshäuser und Kneipen heraustritt , als wollte es das Jahr vor dem Krieg zeitlos darstellen und zugleich eine Tradition zu Leben erwecken , die sich hinter einer erlebten Existenz versteckt und der Versuchung zu trotzen vermag. Während das „Chronotop“ einer Kneipe die Illusion der Vertrautheit , der Berechenbarkeit erweckte , zählte aus der Perspektive von 1917 das Jahr 1914 bereits als eine weit entfernte Vergangenheit. Im Jahre 1917 erhält „der alte Reisende“ in der alten Gaststätte ein ungenießbares Brot ; die „Küche ist mager , ohne Geschmack und Würze“, der Hahn kräht zur Mittagszeit , denn „nicht einmal er weiß , wie spät es eigentlich ist“. Von 1914 auf 1917 verwandelt sich der heilige zu einem profanen Ort ; früher fand der Reisende auf der Suche nach kulinarischen Genüssen die Gesellschaft von Hochzeitsreisenden , von Unglücklichen , von solchen , die ein Abenteuer suchten , von Wilden , Melancholikern , Feinschmeckern , und eine solche Gemeinschaft realisierte sich gerade während der Reisen zu den Gaststätten. Im Jahre 1917 hingegen blieb der alte , einsame Reisende auf sich selbst gelassen und wurde heimatlos in der „neuen“ – vom Krieg erschlagenen – Welt. Das Fenster 13 Vgl. Krúdy : A has , S. 171–174 ( wie Anm. 1 ). Ders. : Schlemmergeschichten , S. 5–14 ( wie Anm. 1 ). Hier : „Bitte einen Einspänner in Soße und ein Krügelchen Bier.“ 14 Ebd. , S. 25–27.

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im Gasthof zur alten Welt richtete sich „auf eine alte Kirche , wo sonntags die Glocken so rein und voll Andacht ertönten , dass der Mensch sich von seinen Sünden erlöst fühlte“; in den „Gespensterstunden“ beginnen sich Lebensgenüsse zu artikulieren , das festliche Mahl , dessen „mehrere ritualvollen Aktivitäten“ diejenigen unterstützen , die sich nach kulinarischen Erlebnissen sehnen. Eine solche Welt , die sich aus der normalen „Welt“ herauslöste , artikulierte sich nicht bloß durch ihre Materialität : Der Reisende wird einmal zu Sir John Falstaff oder wir erleben ihn in der Gesellschaft von Mister Pickwick und „gegen Mitternacht“ erscheint der Onkel des „einäugigen Agenten“ von Boz ( Dickens ) „zwischen den ausgedienten Edinburgher Postkutschen“. Neben der materiellen Kultur kommt auch die literarische Erinnerung zu Wort ; die aus der Literatur sich abzeichnenden Figuren erhalten ihren Platz in diesem Alltag und diese zwiespältige Kultur , die aber dennoch ein und dieselbe ist , erhebt den alten Gasthof zu einem heiligen Ort , dessen „Äußerlichkeiten“ – „der mit weiß bedeckte Tisch“, „die mit einem Blumenstrauß geschmückte Suppenschale aus Porzellan“, „der Teller mit blauem Rand“, „die mit einem Schweinskopf, mit Geflügel geschmückte Speisekarte“ – mit der Ästhetik der Beständigkeit und der Vertrautheit den Rahmen für die kulinarischen Freuden abgeben. Die Tischgesellschaften finden ebenfalls in einer oft erprobten Lebensweise diese „festlichen“ Stunden ihres Alltags. Folgende treffende Charakterisierung bedarf freilich einer Ergänzung : Krúdys Lebenswerk erscheint manchmal als eine würzige Anekdotenreihe von Bierschenken und Weinschenken , die von sehr ausführlichen Rezepten unterbrochen wird : seine über reiche und tiefe Lebenskenntnisse verfügenden Figuren träumen bewegungslos bei den weiß gedeckten Tischen mit ihrer einzigen Lektüre , der Speisekarte.15

Das ist vielleicht tatsächlich der Fall bei zahlreichen Figuren der Romane und Erzählungen , doch es trifft keinesfalls auf den Erzähler zu. Denn obwohl er mit großer Sympathie seine Figuren beobachtet , die mit ausgezeichneten Fachkenntnissen speisen , hält er sich ihnen gegenüber dennoch auf Distanz. Oder auf die Art und Weise , mit der sie in der Literatur umgesetzt werden , konfrontiert sie der Erzähler auch mit seinen eigenen Leseerlebnissen , wodurch sie in einen authentischen ungarischen und weltliterarischen Kontext versetzt werden. Dies bezieht sich auf archetypische literarische Persönlichkeiten und 15 István Sőtér : Krúdy Gyula , in : Ködlovagok. Írói arcképek ( Nebelritter. Schriftstellerporträts ). Red. von Gábor Thurzó , eingel. von Sándor Márai , Budapest o. J. ( 1942 ), S. 187.

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gleichfalls auf archetypische literarische Räume , die eventuell mithilfe versteckter Zitate , Verweise oder Allusionen entstehen , oder auf eine Art , dass mit in Klammern gesetzten Bemerkungen , eingefügten Kommentaren , Gesten , Körperbewegungen , sich wiederholenden Wortwendungen die Roman- oder die Erzählfiguren in eine ironische Perspektive positioniert werden. Das Schweigen des Erzählers , seine eingefügten Bemerkungen , transponieren vieles in eine andere Stilart , während die humorvolle Spannung der Taten und der Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Das obige Zitat des Vortragenden begann bei Krúdy und setzte sich bis zum Roman Sándor Márais fort , während freilich die Gültigkeit seiner Aussage eine gewisse Einschränkung erfahren muss : „Es stimmt , dass Márais Sindbad aus den Speisekarten die vollständige , tausendjährige ungarische Geschichte zum Ausdruck bringen und wieder auferstehen lassen kann , mit ihren Gegenden , ihrer Geschichte , ihrer Kultur und Literatur.“16 Mit dieser Beobachtung kann man zwar einverstanden sein , man muss jedoch ergänzend hinzufügen , dass die Quellen dieser Teile des Márai’schen Romans fast ausschließlich aus dem Lebenswerk Krúdys stammen. Márai spinnt eigentlich das Lebenswerk Krúdys weiter , teilweise wird das bei Krúdy Gelesene umstrukturiert , ebenso das Legendenhafte Krúdys wie auch die gastronomischen Erzählungen als die Grundlage eines solchen Legendariums. Ich möchte abermals betonen : Krúdys ironische Sichtweise erhält durch Márais Vermittlung nicht nur eine „epische Ironie“, sondern vermittelt demgemäß auch die von den Lesern oft unreflektiert mit Krúdy gleichgesetzte Figur des Sindbad. Denn wir können festhalten : Zahlreiche Episoden des Lebens von Krúdy , die eine oder andere Krúdy-Legende , treten aus dem Text hervor und selbst der Name Sindbad erinnert uns an Krúdys Lieblingshelden.17 Sindbads Wege führen uns zum Teil in die alten Gasthöfe , in die galanten Abenteuer oder in die Labyrinthe des Daseins. Márai wusste jedoch ganz genau , dass Krúdy selbst heftig dagegen protestierte , dass Sindbad sein Alter Ego wäre ;18 in den Geschichten Sindbads können wir wohl kaum auf ( auto )biografische Ereignisse stoßen. Und was noch wichtiger ist : Die Novellenzyklen entfalten einerseits das Wander-Motiv der Erzählung zum alten Gasthof , andererseits wird das Unterwegsseins als Determinante des Sindbad-Daseins definiert ( auf 16 Ebd. 17 Gyula Krúdy : Sindbad. Reisen im Diesseits und Jenseits , übers. von Franz Mayer , Nachwort von György Sebestyén , Wien–Hamburg 1967. Ders. : Serenade vom durchstochenen Herzen , übertr. von Hans Skirecki , Berlin 1984. 18 Gyula Krúdy : Mikor az író találkozik regényalakjaival ( Wenn der Schriftsteller seinen Romanfiguren begegnet ), in : Ders. : Vallomás ( Bekenntnis ). Ausgewählt , redigiert , mit einem Nachwort versehen von Sándor Kozocsa , Budapest 1967 , S. 145–147.

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dem Weg , unterwegs zwischen zwei Städten , zwei Gasthöfen , zwei Frauen ). Während des ständigen Unterwegsseins erhebt sich Sindbad aus dem Alltag zu den heiligen Orten der Kneipen ( von Lemberg bis Fiume , von Wien bis Budapest , in kleineren Provinzstädten , von Bahnhofsrestaurants – in vertrauter ungarischer Sprache „resti“ genannt – bis zu den Kaffeehäusern ) und es kommt dabei zu einem Aufeinandertreffen von Heimatkunde mit einer literarischen Erinnerung. Bei diesem Aufeinandertreffen werden die Realien und die Vorstellungen von der „Welt“ vor der Zeit von 1914 eingefangen. Als Sándor Márai Sindbads letzten Tag , den letzten Besuch in Budapest , sein letztes Mahl zum Gegenstand seines Krúdy-Romans macht und zugleich an ein „Krúdy-Ungarn“ erinnert – und ich wiederhole : In dieser Erinnerung fordern die Gegenstände , die Realien , die Speisen , die Getränke , die Reisen sowie die Literatur für sich ebenfalls einen bedeutenden Platz – , werden die Ereignisse dieses einzigen Tages in ein intertextuelles Netzwerk verlegt. Noch dazu wird Sindbad an diesem letzten Tag gezwungen , sich über den Epochenwechsel bewusst zu werden : Ungarn und Budapest riechen nicht mehr nach Kneipen , wie es „damals“, im Jahre 1914 , der Fall war. Die alten Kneipen und Gasthöfe Ungarns leben nur noch in Sindbads Erinnerung und artikulieren sich in ihrer Beziehung zu Personen , Gegenständen , Realien , Speisen , Getränken , Dichtern , Redaktionen , was eigentlich heißt , dass die in seinen Schriften ( bereits ärmlich ) lebende Persönlichkeit als Erste das Verschwinden ihrer früheren Lebensform und die unverständige Rezeption ihrer Schreibkunst erfährt. Und dennoch : Diese Kultur repräsentiert etwas , trotz ihres geschichtlich-vergangenen und nicht gegenwärtigen Daseins ; Sindbad sagt ( beziehungsweise schreibt ) etwas , was man spüren kann und „materielle“ Gestalt annimmt , durch die an die Zeitung geschriebenen und später in Druck erschienenen Erzählungen. In Márais Roman sind diese beiden Teile , nämlich Sindbads Novellenschreiben beziehungsweise Sindbads Mahl zwei Varianten der durch ihn repräsentierten Kultur , in der die eine die andere ergänzt , ja sogar verstärkt und die gleichen Inhalte mit verschiedenen Mitteln entfaltet. Mit beiden beschreitet er den gleichen Weg : Die Gegenden des geschichtlichen Ungarn. In seinem Roman liest sich dies folgendermaßen : Sindbad aß „nach dem Muster einer oto- und hydrographischen Landkarte“, „ebenso bewahrte er [ … ] in seiner Seele Erinnerungen an die Speisesäle der ungarischen Provinzbahnhöfe , den Geschmack und die Besonderheiten der Speisecharakteristika der größeren Provinzgasthöfe.“19 Ich beziehe mich auf einen früheren Satz Márais , wenn ich den Begriff „ungeschriebene Kultur“ erwähne , der den ganzen Roman durchzieht , die „genau so gut Ungarn bedeutet , wie das Jahrtausenddenkmal oder Gyula Varghas ge19 Márai : Sindbad , S. 128 ( wie Anm. 3 ).

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sammelte Werke.“20 Hier wird thesenhaft festgehalten und definiert , welche Rolle die ( schriftliche und ) ungeschriebene Kultur in Sindbads Weltbild spielt. Das auf dem Budapester Heldenplatz errichtete Denkmal ist der Ort der Erinnerung an das „tausendjährige Ungarn“, der Dichter21 mit konservativer Gesinnung , Gyula Vargha , repräsentierte eine Periode vor der Moderne ; mit seinen Übersetzungen gelangte er bis zu den französischen Parnassiens , bis zu Sully Prudhomme und mit seiner Beamtenkarriere , mit seiner Weltanschauung repräsentierte er das Ungarn des 19. Jahrhunderts , von dessen offiziellem Dasein sich Gyula Krúdy distanzierte , da er ja im modernen prosa-poetischen Durchbruch des 20. Jahrhunderts seinen Platz inne hatte. Das zur geistigen Kultur zählende Heldendenkmal und Gyula Varghas Dichtungen sind als Kulturkonzept nicht ganz frei von einer gewissen Dissonanz , allein schon deswegen , weil die Stimme des Erzählers , Sindbads innerer Monolog , mit den Strömungen des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden kann , während das historisierende Denkmal und der Dichter der volksnationalen Schule eigentlich auf die Widersprüche der Modernität einer früheren Periode reagieren. Doch gerade in den Erinnerungen Sindbads wird die Zusammengesetztheit , die Vielfalt , die Offenheit und zugleich die Bedrohung jener Kultur sichtbar , die durch ihn und seine Schriften vergegenwärtigt wird. Das beweist auch die von der offiziellen Literaturkritik am Leben erhaltene Dichtung , die an jene Gyula Varghas anknüpft ; es ist dies keinesfalls das Zeugnis einer starren Literaturanschauung , es ist vielmehr ein Zeichen dafür , dass diese keinesfalls vollständig minderwertige Literatur nicht an die Vergangenheit verloren geht und verschwindet. An jene Vergangenheit , die in Sindbads Erinnerungen und Schriften vielleicht zum letzten Mal artikuliert und umschrieben wird. Ein ganz anderes Problem ist freilich , dass gerade Márais Roman dieser These widerspricht , denn Sindbad geht heim setzt sozusagen ein Denkmal für die Orte , Sitten , Bräuche und Gewohnheiten eben dieser Lebensweise. Des Weiteren kann es lohnend sein , wenn man mithilfe eines längeren Zitats veranschaulicht , wie der Erzähler ( Márai ) Sindbads Welt präsentiert ; es handelt sich eigentlich um einen willkürlich herausgegriffenen Absatz , der die ungeschriebene Kultur mit den bereits erwähnten Bräuchen und Gewohnheiten vermittelt. Auch wenn der Erzähler sich bemüht , die Denkweise Sindbads wiederzugeben , weicht das Zitat vom Lebenswerk Krúdys insofern ab , als die Sprechweise des Erzählers sich verstärkt , die Zeremonie des Mahls mythische 20 Ebd. , S. 125. 21 Gyula Vargha ( 1853–1929 ), Politiker , Statistiker , Dichter und Übersetzer deutscher und französischer Gedichte ( u. a. von Schiller , Goethe , Heine , Hérédia , Hugo , Musset , Gautier ).

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Züge annimmt und in diese Sakralität uralte oder vermeintlich uralte Elemente einfließen. Eine Folge davon ist , dass die in einem Familienheim lokalisierte Szene zu einer geschichtlichen hochstilisiert wird , dadurch allmählich ihre konkrete Zeitdimension verliert und sich ihre eigene Mythologie schafft : Im alten Ungarn bedeutet das Mittagessen die festliche Stunde im Alltagsleben , wo sich mitten der Sorgen und Hoffnungslosigkeit des Lebens der ungarische Mensch für einen Augenblick sich selber niederließ , die Augen seiner Seele von den schwarzen Landschaften der Sorge wegdrehte und sich in einer Art an den mit weißen Tuch gedeckten Tisch niederließ , als opfere er jetzt irgendeinen uralten heidnischen Zeremoniell. Und auch das war keinesfalls , daß der Ungar nach schönem altem Brauch vor dem Mittagessen das Kreuz schlug , das Familienoberhaupt die Hände faltete und während das Hausvolk wohlerzogen wartete , ein kurzes Gebet murmelte und erst danach seinen Löffel in die Suppe eintauchte. Ja , das Mittagessen war ein Fest , das andächtigste , in drei Akten sich vollziehende Schauspiel des Lebens [ … ]. Jeder Ungar setzte sich mit Gebärden an den Mittagstisch , als begänne er jetzt mit der Ausübung , der Exerzitien , irgendeines uralten Ritus , als wäre er ein Magier und begänne mit Wort , Spruch , Hand und Mund ein heidnisches Opfer.22

Man könnte ohne Schwierigkeit aufzählen , wo und in welchem Zusammenhang der Erzähler Márai das eine Mal auf christliche , das andere Mal auf „uralte heidnische“ Riten hinweist ; wesentlich ist eigentlich die Hervorhebung , die Betonung des Festes : Das Mittagsmahl ist ein Heraustreten aus den Ereignissen des Alltags ( die Sorgen und Hoffnungslosigkeiten des Lebens beinhalten ) und das Eintreten in ein anderes Geschehen , das über eine bestimmte Zeitdimension verfügt und die Macht der Umstände nicht aufhebt , sondern lediglich für eine kurze Zeit unterbricht. Darauf verweist auch eventuell diese Feststellung : Das in drei Akten sich vollziehende Schauspiel ist ein Synonym für die drei Gänge des Mittagessens , aber es kann sogar eine noch detailliertere Bedeutung haben , nämlich den temporären Entzug von den alltäglichen Sorgen ; früher oder später muss man freilich zu den Sorgen zurückkehren. Diese Rituale können auch eine solche Funktion haben , die Hoffnungslosigkeiten zu verdecken , das ganze Ritual kann eventuell ein Schauspiel sein , das zwar sakrale Elemente heraufbeschwört , das aber lediglich für diese bestimmte Stunde die Sorgen vergessen zu machen vermag. Es scheint , als würde die Tatsache dies unterstützen , dass Sindbads Träumereien in die Vergangenheit verlegt werden. Und dies ist nicht bloß eine Vergangenheitsform im gramma22 Márai : Sindbad , S. 115 ( wie Anm. 3 ).

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tikalischen Sinne. Während Sindbad schreibt , vergegenwärtigt er sich das geschichtliche Ungarn , beziehungsweise die Monarchie. In Márais Roman wird das auch von Krúdy zitierte Rindfleisch von Meissl und Schadn23 in einem anderen Akzent erwähnt , und während Sindbad „Suppenfleisch“ aß , „feierte er die Lebensgewohnheiten einer vergangenen Welt“.24 Karl Gundels ungarisches Kochbuch25 nennt unter den ungarischen Suppenspezialitäten nur die Újházi tyúkhúsleves ( Hühnersuppe nach Újházi Art ), und es ist keineswegs klar , welche Fleischsuppe Sindbad zu sich nimmt , es ist jedoch nicht ganz unvorstellbar , dass er mit der in der ganzen Monarchie verbreiteten und bekannten Suppenart sein Mittagessen beginnt. Und obwohl sich Sindbad im Roman Márais stets von allem , das keine ungarische Spezialität darstellt , distanziert , wird dennoch zu Beginn des Romans sein Wien-Aufenthalt erwähnt , die Inhaberin des Hotel Sacher tritt ebenfalls auf und die verräterische Aussage Sindbads , Wien gehöre zu den Orten seiner Wanderungen , widerspricht meiner Annahme keinesfalls. Umso weniger , weil im Gegensatz zu Márai in Krúdys Werken nicht nur die Speisenamen und einige sprachliche Wendungen an die Esskultur der Monarchie erinnern ( die Esskultur der Monarchie wird durch Gegenseitigkeit charakterisiert ), sondern weil auch überraschende Parallelen zwischen den Biertrinkern in der Betyár( Räuber )-Kneipe und Franz Josephs Gewohnheiten Bier zu trinken entdeckt und artikuliert werden. „[ … ] in dieser Zeit ist also jeder staatlicher Beamte verpflichtet“ Bier zu trinken. „Franz Joseph weiß schließlich , was zu tun ist.“26 All dies erscheint in Sindbad geht heim als in eine vergangene Zeitepoche zurückversetzt , der Hauptheld wandert in seinen Träumen , seinem Schreiben , seinen Abhandlungen über Ungarn einerseits durch die Vergangenheit und andererseits durch die Landschaften ; er erweckt für sich die ungarischen Dichter und mit seiner letzten Mahlzeit vollführt er noch einmal , zum letzten Mal , seine eige23 Gyula Krúdy : Mit ebédelt Ferenc József ? ( A bécsi csonthús legendája ) [ 1931 ] ( Was speiste Franz Joseph zu Mittag ? Die Legende des Wiener Tafelspitz ), in : Krúdy : A has , S. 247–250 ( wie Anm. 1 ). ( „bécsi csonthús“ = Tafelspitz ). Ders. : Was aß Franz Joseph zu Mittag ? ( Die Legende des Wiener Beinfleisches ), in : Krúdy : Schlemmergeschichten , S. 197–211 ( wie Anm. 1 ). 24 Márai : Sindbad , S. 115 ( wie Anm. 3 ). 25 Vgl. Gundel : Ungarische Kochrezepte , S. 14 ( wie Anm. 8 ). 26 Gyula Krúdy : A déli sör , vagy üdvözlet Tisza Kálmánnak [ 1929 ] ( Das Mittagsbier , oder Gruß an Koloman Tisza ), in : Krúdy : A has , S. 189 ( wie Anm. 1 ). Ders. : Das Mittagsbier oder Gruß für Kálmán Tisza , in : Krúdy : Schlemmergeschichten , S. 36–51 ( wie Anm. 1 ). S. 48 : „Franz Joseph trinkt zur selben Zeit in der Wiener Burg das gleiche Bier , es sei also die Pflicht aller Staatsangestellten. Franz Joseph wisse schließlich , was er tue.“

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nen Rituale und macht das Restaurant des Hotels London zu einem sakralen Ort.27 Damit verweist er auch auf die essenden Figuren der Erzählungen Krúdys , von denen die eine oder andere mit jener Überzeugung speist , als wäre sie die letzte Vertreterin der alten Welt. Der Sindbad des Romans von Márai scheint aus der Zeitdimension heraus zu fallen ; auf seiner letzten Reise fragt er die Mitreisenden mit großer Neugier , was mit den einstigen Gewohnheiten geschehen wäre , ob sie so ( u nd das ) essen und trinken würden wie früher , wer die ehemaligen Gewohnheiten und Lebensformen noch weiterführen würde und ob diese überhaupt noch weitergeführt würden oder nicht ; was haben die neuen Jahre gebracht ? Seine Erfahrungen sind nicht besonders vielversprechend. Als er seine Mahlzeit beginnt , verursacht der Kellner schon mit seinem ersten Satz eine Enttäuschung : Er empfiehlt Sindbad eine „fals“ ( falsche ) Suppe. Diesmal wird seine Aufmerksamkeit nicht bloß dadurch geweckt , dass wir die magyarisierte Form von „falsch“ wiedererkennen , sondern auch durch die Tatsache , die über die reine Essgewohnheit hinaus führt. Eine „fals“ ( falsche ) Suppe imitiert bloß eine Suppe und ist so , als ob sie eine wäre , aber es wurde etwas aus ihr ausgespart, was eben das Wesentliche einer Suppe ist. Aus der „falschen“ Gulaschsuppe wurde bloß das Fleisch ausgespart , was die Suppe zu einem „Gulyás“ macht , zur Spezialität der „nationalen“ ungarischen Küche , dessen zahlreiche Varianten auch über die Landesgrenzen hinweg zur Suppe für Feinschmecker wurde. Dieser Versprecher des Kellners , den er schnell wieder zurücknimmt – und den Sindbad vielleicht gar nicht erst gehört hat , weil er darauf nicht reagiert – , ist auch dann ein Warnzeichen , wenn das Essen entsprechend den gewohnten Ritualen vor sich geht und Sindbads ausgesprochen feinen , empfindlichen Geschmack befriedigt. Die Tatsache jedoch , dass so ein unvorsichtiges Angebot ausgesprochen wurde , überschattet einigermaßen Sindbads Mahl. Eigentlich ist es im Grunde genommen so , wie es sein sollte , und als letztes Mahl wird seine Bedeutung noch weit mehr vergrößert , plötzlich wird jedoch auch bewusst , dass einige Leute eine „falsche“ Suppe verlangen ( wenn folglich der Bedarf danach besteht ) und so von den „guten alten“ Gewohnheiten abweichen , sich also mit etwas begnügen , was nicht das Wahre ist und nur so tun , als ob es das Wahre wäre. Dieses „Falsche“ erscheint immer öfter und an immer mehr Orten in der Welt ; Sindbad schreibt ganz vergeblich eine Erzählung über einen Mann , der Fisch isst , den Redakteur interessiert es nicht mehr , auch wenn Sindbad gleichsam der Schöpfer dieser gastronomischen Erzählung ist , in welcher „Falsches“ keinen Platz hat , weder was die Speisen noch die Dialoge oder Beschreibungen betrifft. Jenes Budapest , das er noch einmal näher in 27 Das Restaurant befand sich im 5. Bezirk in der Nähe des Westbahnhofs.

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Augenschein nimmt , glitzert und glänzt zwar , aber der Glanz scheint nur eine Kulisse zu sein , eine Scheinwelt , ein Ort des „Als ob“, aus dem jener Inhalt , den Sindbad durch seine Lebensweise , seine Schreibkunst und sein Gefühl für Kulinarik hinzugefügt hatte , bereits verloren gegangen zu sein scheint. Sindbads Rückbesinnung auf die Kulinarik durchschweift während seiner letzten Mahlzeit alle Schauplätze seiner Abenteuer , zu denen – wie seinen Erzählungen und Romanen zu entnehmen ist – neben seinen galanten Erlebnissen eben auch gastronomische hinzukamen. Damit evoziert der Sindbad des Romans mit seinem Mahl , mit seinen Ritualen , die das Essen zu einem Fest werden lassen , das in den Erzählungen konstituierte Ungarn. Márais Roman nimmt vom Ungarn Krúdys Abschied , indem der Protagonist des Romans die einstigen Schauplätze des Lebens von Krúdy nacheinander aufsucht. Gebäude , die zum Abbruch verurteilt oder bereits abgerissen sind , werden in der Erzählung noch einmal aufgebaut und auch die kulinarischen Erlebnisse von Krúdys Helden werden uns noch einmal vor Augen geführt. Der Epochenwechsel erfolgt auf allen Gebieten , sowohl in der geistigen als auch in der materiellen Kultur. Wie aus den letzten Seiten des Romans klar ersichtlich wird : Es ist etwas endgültig zu Ende gegangen. Und da Sindbads letzter Besuch , sein letztes Mahl lediglich ein blasses Endspiel von etwas Vergangenem sein kann , gibt es im letzten Abenteuer auch humorvolle Elemente : Zum Beispiel erscheint Sindbad manchmal als Don Quijote und der Erzähler verschont Sindbad nicht einmal , der anscheinend den anderen Gewohnheiten der neuen Zeiten unverständlich gegenüber steht. Obwohl Sindbads aphoristische Sätze aus dem Legendarium Krúdys stammen , erscheinen sie eigentlich eher als bloße Wichtigtuerei , doch in die Welt Sindbads zurückversetzt , sind sie ganz offenkundig von Bedeutung und zwar mit ihrem kulturellem Hintergrund , und diese kulturellen Elemente sind ebenso in ihnen enthalten wie die geistigen Elemente ; „[ … ] aber die Nation lebte in ihrem Bauch , und man durfte auch diese andere , materielle Kultur , die in den Kannen von Provinzköchinnen brodelte und in den Pfannen von Pester Köchinnen ( ! ) 28 in der Gestalt eines Schweingeschmorten , eines Paprikafischs oder eines Schusterstrudels29 zu zauberhaftem Leben erstand , nicht unterstützen“.30 Sindbad findet einen solchen „Zauber“ des Alltagslebens nicht mehr , nicht einmal auf seiner letzten Reise , dieser ist vielmehr wäh28 Im Original : „der Köche“. 29 Vargabéles : „Diese Süßspeise ist die Erfindung eines Klausenburger Gastwirtes namens Varga.“ Vgl. Anikó Gergely : Genießen wie in Ungarn. Ungarische Spezialitäten. Fotografien von Christoph Büschel , Ruprecht Tempell , Budapest 2012 , S. 116. 30 Márai : Sindbad , S. 126 ( wie Anm. 3 ).

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rend des Epochenwechsels verloren gegangen , wird jedoch gerade durch sein Lebenswerk weiter vererbt. Im Roman Márais beinhaltet Sindbads letzter Tag eine Lebens- und Weltphilosophie , eine schriftliche und vor allem eine ungeschriebene Kultur , den Abschied von einer „materielleren Kultur“. Krúdys Lebenswerk ist jedoch nicht der eigentliche Gegenstand ; Hinweise und Allusionen auf diesen „Gegenstand“ stellen lediglich einige Segmente dieses Lebenswerkes dar. Im Roman verbleibt Sindbad innerhalb der Landesgrenzen und die alte Welt ist für ihn das geschichtliche Ungarn , dessen kulinarische „Oto- und Hydrographie“ er sich selbst erschafft. Wie bereits erwähnt , wird Wien mit nur kurzen Hinweisen vergegenwärtigt , Wien als jener Ort , der in zahlreichen Romanen und Erzählungen Krúdys eine Rolle spielte. Wie auch das Wiener und das ungarische Rindfleisch nur mit kurzen Hinweisen miteinander verglichen werden ( nur in einem kurzen Satz ), wobei der Vergleich zugunsten des ungarischen Fleisches ausfällt. Das Lebenswerk Krúdys ( und ein anderes Stück des Lebenswerkes von Márai ) erwähnt nicht nur die Restaurants , die Gaststätten Wiens , sondern auch die österreichische Küche mit großer Hochachtung. In der Erzählung , die den Titel Herbstliche Wettrennen ( 1922 ) trägt , steht folgendes : „Der Dichter mochte das gekochte Tellerfleisch , denn er kam nur selten nach Wien , wo das beste Rindfleisch der Welt serviert wird.“31 Ich zitiere hier auch die Worte einer seiner Frauenfiguren : In meiner Trunkenheit wanderte ich durch ganz Pest , ganz Wien , lernte den storchbeinigen , alten Herrn Dreher mit seinem Zylinder und seinen Bieren kennen , das nach Hopfen schmeckende , goldenfarbige Exportbier ; die aus der Burg ertönende Marschmusik hörte er sich aus seinem Kulmbacher Keller an ; es schien als ob alle alten Kaiserskulpturen auf dem Burghof Bier getrunken hätten , und die Nase der weißen Hofkamm tragenden Gendarmen war rötlich. Das Schwechater Bier trank ich neben der Ziehharmonika-Musik. In Grinzing oder in Baden , kehrte ich mit grünen Ästen Walzer tanzenden , Zylinder tragenden Bürgern , Bürgerfrauen mit blonden Haaren , weißen und roten Gesichtern , beweglichen Röcken aus dem Biertrinken heim [ … ].32

All dies muss man in Sindbad geht heim vermissen , fehlt jedoch nicht im Lebenswerk Márais. In seinem Buch Die Glut erwähnt er das Wien der Kadettenschu31 Gyula Krúdy : Őszi versenyek ( Herbstwettkämpfe ), in : Ders. : Jockey Club. Hét kisregény ( Jochey Club. Sieben kleine Romane ), hg. von András Barta , Budapest 1964 , S. 245. 32 Gyula Krúdy : Kleofásné kakasa [ 1919 ] ( Der Hahn der Frau Kleofas ), in : ders. : Jockey Club , S. 245 ( wie Anm. 31 ).

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len , jedoch wird bei dem späten Wien-Besuch des emigrierten Schriftstellers ( ein Abschied von den Schauplätzen seiner Kindheit und seiner Verwandten ) auch die Kulinarik gewürdigt.33 Was aus den zitierten ( und mit weiteren Zitaten ergänzbaren ) Erzählungen und Romanen Krúdys und aus zahlreichen weiteren Stellen des Lebenswerks von Márai hervorgeht ist , dass die ungeschriebene Kultur ebenfalls jene Zusammengesetztheit erfährt , die nicht nur in der durch die Belletristik konstruierte Monarchie repräsentiert wurde. Gerade bei der Esskultur können wir Zeugen davon sein , dass sich das „Nationale“ nicht durch autochthone „Entwicklungen“ formte , sondern ( und dafür war unter anderem gerade die Gaststätten-Kultur der Monarchie und ihrer Nachwelt Zeuge ) die Summe verschiedener Spezialitäten darstellte. Die ungeschriebene Kultur zeigt keinesfalls in geringerem Maße die Zeichen von dynamischen Veränderungen als die Schriftkultur. Die Alltagssprache reagierte sehr empfindlich auf die Einbürgerung von Speisen. Entweder übernahm die Sprache die Bezeichnung entsprechend der sprachlichen Lautgesetze , sie gewährleistete in Form von „Calques“ einen Platz in der heimischen Sprachverwendung , oder sie wies durch deren Fremdheit darauf hin , dass es sich um eine übernommene Speise handelte , die aus einer anderen Region , einem anderen Land stammte. Was jedoch die Kochkunst betrifft , liegt in der Adaptierung oder in der Verwendung der Speisen entsprechend einem regionalen Geschmack die eigentliche Rezeption. Ich möchte dem noch hinzufügen , dass auch innerhalb eines Landes regionale Charakteristika oft bedeutende Unterschiede aufweisen können. Die Lieblingsspeisen Franz Josephs und seine Essgewohnheiten waren in einem relativ breiten Kreise bekannt und populär , sodass man an zahlreichen Orten Menschen finden konnte , die beispielsweise nicht nur mit ihrer Barttracht , sondern auch mit der Wahl der Speisen dem Monarchen folgen und ihn nachahmen wollten. Damit wollte man einerseits auch darauf hinweisen , dass man nun in jenen Kreis eingetreten ist , in dem solche Sitten oder Gewohnheiten akzeptiert waren , andererseits ließ sich damit andeuten , dass man dadurch dem Monarchen ( auf diesem Gebiete ) zumindest ähnlich geworden ist. Auch die Belletristik tat eigentlich nichts anderes , als dass sie einerseits auf jene sprachlichen Erscheinungen oder Varietäten achtete und reagierte , die die Modifizierungen der Esskultur mit sich brachten , andererseits wurde aber damit auch jene Lebensweise verewigt , die sich in den Essgewohnheiten artikulierte. In der ungarischen Literatur erhielt in erster Linie und am vielseitigsten in Gyula Krúdys gastronomischen Erzählungen diese „ungeschriebene“ Kultur eine wichtige Rolle , und dass diese tatsächlich als Kultur bezeichnet werden kann , wurde in erster Linie und am besten durch Márais Sindbad-Roman be33 Sándor Márai : Napló 1968–1975 ( Tagebuch 1968–1975 ), Budapest 1993 , S. 144–167.

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wusst. Die materielle Kultur wird bereits bei Krúdy mit sakralen Charakteristika ergänzt ( die Kneipe wird an einer Stelle als Gnadenort bezeichnet ).34 Márais Roman geht in dieser Hinsicht noch weiter : Er verschränkt solche sakrale Charakteristika mit Sindbads Figur und lässt ihn dadurch zu einer symbolischen Persönlichkeit werden. Diese „materielle Kultur“ erhielt im Ungarn Krúdys beziehungsweise bei Krúdy ihre literarische Ausformung , die dann später , in Márais Roman , ergänzt wurde , in einer Zeit , in der die Modernität zu Ende ging und eine neue Periode begann , die sich der Attribute „eines anderen Ungarn“ bediente. Die Esskultur des Ungarn Krúdys war an eine bestimmte Epoche gebunden , Márais Roman hingegen hilft uns , diese Epoche neu zu denken.

34 Márai : Sindbad , S. 134 ( wie Anm. 3 ): „Die wahre Schenke war etwas anderes gewesen. Ein Gnadenort war sie gewesen , einer der Wallfahrtsorte des Männerlebens , der ernste , festliche Versammlungsort des Sinnens , in die Vergangenheit Schauens und der die Zukunft betrachtenden Fantasie.“

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EINFLÜSSE UNTERSCHIEDLICHER KULTUREN BEI ZUBEREITUNG VON SPEISEN EIN PERSÖNLICHER ERFAHRUNGSBERICHT Erst mal ein herzliches Grüß Gott , Dobar dan und Jó napot … Als mich Vlado Obad fragte , ob ich Lust hätte , ein wenig über meine Kochbücher zu plaudern , war mir zunächst nicht klar , wie man daraus einen interessanten Vortrag machen könne … Aber nun , nachdem ich mich intensiv mit dem Thema beschäftigt habe , ist mir klar , warum ich heute hier bin und Ihnen ein paar Geschichten aus meiner Küche erzählen werde. Eigentlich könnte mein Thema ja auch lauten : „Transformation von Speisenzubereitungen entlang der Donau“ – denn aufgewachsen bin ich in Bayern an der Donau , meine Oma hat während des Zweiten Weltkrieges die böhmische Küche mit nach Deutschland gebracht. Dort kam dann noch die fränkische Kochkunst dazu , als mein Vater meine Mutter heiratete. Als ich dann meinen Mann geheiratet habe , bekam ich durch meine Schwiegermutter eine reichhaltige Anzahl an slawonischen Rezepten dazu , die wiederum durch deren ungarischen Vater beeinflusst sind. Und nun lebe ich mit meiner Familie in Aljmaš , ebenfalls an der Donau.

Das gemeinsame Essen der zubereiteten Speisen – ein Vergnügen und ein Genuss Erste Begegnungen und Erfahrungen Den ersten Zusammenstoß der slawonischen mit der deutschen Küche hatte ich schon vor 18 Jahren in Deutschland. Meine Schwiegereltern in spe hatten mich am Sonntag zum Mittagessen eingeladen und es gab Hühnersuppe zur Vorspeise. Das ganze Haus duftete verlockend und ich hatte wirklich Hunger. Als meine Schwiegermama dann den Deckel vom Suppentopf nahm , schauten mir als erstes zwei Hühnerfüße entgegen. Ich schluckte ganz tapfer mein Entsetzten hinunter und verneinte ganz cool die Frage , ob ich einen Hühnerfuß in die Suppe möchte. Genauso tapfer verneinte ich die Frage , ob ich Herz oder Magen möchte. Bis zu diesem Moment kannte ich Hühnersuppe nur als klare Brühe mit Nudeln. Als ich dann die Suppe hinter mir hatte , die übrigens fantastisch geschmeckt hat , kam die nächste Überraschung. Auf einer großen Platte angerichtet kamen die restliche Hühnerbrust , das mitgekochte Suppengemüse , Weißbrot und zwei Schalen mit kalter Tomaten- und Meerrettichsoße.

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Als ich dann 1998 das erste Mal mit zwei kleinen Kindern und meinem Mann auf dem Weg von Deutschland nach Aljmaš war , um die restliche Familie meines Mannes kennenzulernen , hätte ich jeden für verrückt erklärt , der mir gesagt hätte , fünf Jahre später wirst du dort leben. Doch genau so ist es passiert. Wir haben alles , was wir nicht mehr brauchten , verkauft und verschenkt , den Rest in einen Laster gepackt , die Kinder ins Auto gesetzt und sind in unser neues Leben gefahren. Dies ist jetzt fast zehn Jahre her und seither mische ich ganz fleißig jeden Tag die slawonische mit der deutschen Küche. Angefangen hat die Kochstil-Mischerei schon sehr bald , da viele deutsche Produkte hier nicht zu kaufen waren. Ich hatte viele neue Lebensmittel zur Verfügung , die ich noch nicht kannte. Plötzlich hatte ich einen Gemüse- und Kräutergarten , eigene Hühner , Nachbarinnen , die Gemüse und Wurst vorbeibrachten und ich kein Wort verstanden habe , was das ist , geschweige denn , was man daraus kocht. Wie sich später herausstellte , war das geschenkte Gemüse Wirsing und die Wurst hausgemachte Kobasice. Ich habe mir damals gedacht , das alles wird schon irgendwie zusammen schmecken und habe den Wirsing kleingeschnitten , genauso die Kobasice und habe die beiden mit Kartoffeln , Knoblauch , Karotten und Zwiebeln in Öl scharf angebraten und einen Eintopf mit Nockerln draus gekocht. Etwas Salz , Pfeffer und frische Petersilie … fertig war der Eintopf. Im Grunde habe ich ja nur einen normalen deutschen Gemüseeintopf um ein paar Zutaten erweitert , aber da Wirsing und Kobasice doch einen sehr intensiven Eigengeschmack haben , hat sich der Geschmack des Eintopfes komplett verändert. Seit diesem Tag steht Wirsing bei uns auf der Familienspeisekarte und wenn ich sage : „Leute , heute gibt es Kelj“, weiss jeder , welchen Geschmack er zu erwarten hat. Und mittlerweile weiß ich auch , welches von dem „vielen Grünzeug im Garten“ Wirsing ist. Kommen wir nun zu einer klassischen Rezepttransformation , bei der lustigerweise immer wieder die Diskussion entsteht , mit welchen Beilagen sie gegessen wird.

Beispiel einer Rezepttransformation – oder „Das Schweinetina“, ein Schweinebraten ohne Sosse mit warmem Kartoffelsalat Die Vorbereitung beginnt bereits am Vortag. Das Schweinefleisch wird mit Kümmel , Salz und Pfeffer kräftig eingerieben und mit grob geschnittenen Zwiebeln und Karotten bedeckt über Nacht im Kühlschrank gelagert. Am nächsten Morgen wird dann das Fleisch von allen Seiten kräftig in heißer Butter angebraten , der Deckel kommt drauf , und für die nächsten zwei Stunden

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schmort der Braten im Ofen. In Österreich reicht man dazu Serviettenknödel oder im Bayrischen den Semmelknödel , und wir alle hier wissen ja , dass dies ein und der selbe Knödel ist. Anders ist die slawonische Variante des Schweinebratens. Hier wird das Fleisch nicht eingelegt , sondern nur mit Salz und rotem Paprika eingerieben und sofort gebraten. Wenn geschnitztelte Kartoffeln mitgebraten werden , haben wir als Zuspeise gleich noch dinstani krompir , oder wie es in meiner Familie heißt , warmen Kartoffelsalat. Die Petrijevcanin-Familien-Geheimvariante der dinstani krompir sind noch zusätztlich mitgeschmorte Karotten und viel frische Petersilie. Und wenn sie dann noch etwas Platz im Magen haben und den Rest im Teller mit einem Stück frischem Weißbrot auftunken können , ist das Essvergnügen pur.

Beispiele für sprachliche Transformationen oder „das kleine Küchenquiz“ Ein weiterer Beweis für den kulinarischen Transfer aus Österreich sind Mengenangaben in Dekagramm und viele Begriffe , die ich auch ohne Wörterbuch verstehe. Jetzt habe ich ein kleines Küchenquiz vorbereitet. Erraten sie , welche Begriffe gemeint sind ? Putra = Butter Germ = Germ oder Hefe Šnešlager = Schneebesen Ajnprensupa = Einbrennsuppe Šufnudle = Schupfnudeln Putertajg = Butterteig Štaubšećer = Puderzucker Šnenokle = Schneenockerl Kuglof = Guglhupf Prezle = Brösel Grincajg = Suppengemüse

Dies sind nur einige der Begriffe in alten kroatischen Kochbüchern. Das handgeschriebende Kochbuch der Uroma meines Mannes liest sich im Grunde wie das Kochbuch meiner Uroma. Abgesehen davon , dass ich jetzt nicht unbedingt Hirnsuppe koche , die übrigens in beiden Kochbüchern als besonders geschmackvoll angepriesen wird , sind die Bücher ein wahrer Quell an Inspiration für mich , da die beiden Damen

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damals wirklich alles gekocht haben , was irgendwie kochbar war. Beide lebten auf dem Land , die eine hier in Aljmaš , die andere im früheren Sudetenland.

Homologisierung von kulturell unterschiedlichen Mengenangaben bei der unmittelbaren Speisenzubereitung Die Mengenangabe „eine Handvoll“ oder „bis der Teig geschmeidig ist“ oder „wenn die Eier besonders groß sind , dann …“, ließen mich als Frau , die mit einer Digitalwaage aufgewachsen ist , anfangs oftmals verzweifeln. Nach einigen klebrigen und nicht erkennbaren Versuchen , Nudeln selbst herzustellen , habe ich mir meine Schwiegermutter in die Küche geholt um gemeinsam Nudeln herzustellen. Nachdem geklärt war , dass zehn Dekagramm hundert Gramm sind und wenn man die altdeutsche Schrift lesen kann , viele Wörter plötzlich einen Sinn ergeben , hat sie mich in die Geheimnisse der kroatischen Waage eingeweiht. Mengenangaben wie „noch a bisserl mehr Mehl , der Teig muss griffig sein“ und „da musst halt schaun , das geht nach Gefühl“ waren mir zwar anfangs keine wirkliche Hilfe , aber ich wusste zumindest , was damit gemeint ist. Mit beiden Ellbogen tief im Mehl vergraben , knetete ich meinen Nudelteig , bis er gefühlsmäßig fertig war.

Den Rest der Nudelherstellung übernahm dann die italienische Nudelmaschine , allerdings sehr , sehr skeptisch beäugt von den kritischen Augen meiner Schwiegermutter. Gelernt habe ich aus dieser Kochstunde , dass ich nach wie

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vor meine Waage benutze , die Endkontrolle des Teiges erfolgt allerdings durch meine Hände. Die italienische Nudel besteht aus Hartweizenmehl , Öl , Salz und Wasser. Die deutsche Variante aus einer Mischung von Wiener Griessler und „normalem weißen“ Mehl , Eiern , Salz und Wasser. Die Aljmašer Nudel ist eine reichhaltige Nudel , sie besteht aus weißem Mehl , Salz und so vielen Eiern eben , bis der Teig gefühlsmäßig passt. Mein Nudelrezept ist mittlerweile eine variable Mischung aus allen drei Rezepten , je nach Legelust meiner Hühner und der Füllmenge des Mehlsackes in der Speisekammer.

Die kulturell beinflusste Nachspeise – oder wie man eine Kremschnitte macht Nachdem wir ja jetzt schon Vorspeise und Hauptspeise hatten , kommen wir jetzt zur Nachspeise – mein persönlicher Lieblingsbereich. Ich betreibe ja seit vier Jahren eine kleine Tortenmanufaktur in Aljmaš. In der Küchenvitrine finden sie am Wochenende immer eine Auswahl an Kuchen und Torten aus aller Welt. Die Rezepte sind alle durch viel Kleinarbeit und viel persönliches „Testessen“ so verfeinert worden , dass sie dem Gaumen meiner Kundschaft entsprechen und ich mit dem Geschmack zufrieden bin. Eines aber haben alle Kuchen und Torten gemeinsam : Keine Fertigmischungen , Geschmacks- und Farbstoffe. Die Eier sind von glücklichen Hühnern , die Mais , Gras und Regenwürmer im Freien fressen. Die Buttercreme von Hand gerührt , das Obst ist frisch und variiert nach Saison , die Sahne kommt frisch von der Kuh. In meinen Kuchen stecken gute Zutaten , viel Liebe und Zeit – und das schmeckt man auch. Kein Kuchen hat mich so beschäftigt wie die Krempita oder auch Kremschnitte. Ob die Krempita nun von unseren österreichischen , ungarischen oder kroatischen Vorfahren erfunden wurde , weiß keiner mehr so ganz genau. Für mich aber gehört dieser Kuchen zu Slawonien wie Šunka , Kobasice und Kulen. Das erste Mal habe ich Krempita in Osijek gegessen , beim legendären Herrn Ambruš noch direkt in seinem Laden in Donij Grad. Unvergleichlich lecker , locker und vanillig mit locker aufgeschlagenem frischen Rahm zwischen selbst gemachten knusprigen Blätterteigböden. Eine wunderbare Kombination aus gelber Füllung und weißem Schlag. Der Staubzucker kitzelte beim Reinbeißen in der Nase und dann kam der unvergleichliche Geschmack. Diese Krempita war ein Gedicht. Und die ließ mich einfach nicht mehr los. Kurz nachdem wir nach Aljmaš gezogen waren , begann ich , Krempitarezepte zu sammeln und nachzubacken. Meine Enttäuschung war groß , denn die nach den Rezepten gemachten schmeckten alle nicht annähernd so lecker wie bei Herrn Ambruš.

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Die Krempitarezepte sind sich alle ziemlich ähnlich , alle basieren auf einer Art Brei aus Eigelb , Zucker , Vanille , Mehl , Stärkemehl , die in kochende Milch eingerührt und aufgekocht werden. Anschließend wird in die nicht mehr kochende Masse das steifgeschlagene Eiweiß untergehoben. In den ältesten Rezepten , die ich bekommen konnte , sind noch Mehl und Stärkemehl enthalten , teilweise wird in diesen Rezepten das Eiweiß mit einem Teil Zucker im Wasserbad steif geschlagen. Auf die Krempita-Masse wird steifgeschlagene Sahne gegeben und mit einem zweiten Blätterteigdeckel bedeckt. In den Rezepten der mittleren Generation ist dann plötzlich Vanillepuddingpulver enthalten und das Stärkemehl fehlt , außerdem wird das Eiweiß einfach nur noch ohne Zucker mit dem Mixer steifgeschlagen. Die Sahneschicht besteht nicht mehr aus tierischer Sahne , es wird pflanzliche Sahne verwendet. Seit ein paar Jahren nun gibt es eine neue Variante , die Krempita aus der Tüte. Man kippt die fertige Krempitamischung einfach nur noch in die heiße Milch , rührt ein paarmal um und fertig ist die Krempita. Wenn man sich die Mühe macht und die Inhaltsstoffe auf der Rückseite der Tüte durchliest , entdeckt man nach unzähligen Farb- und Geschmacks-E-Nummern noch Stabilisatoren wie Gelatine. Außerdem , immerhin noch nachweisbar , Spuren von getrocknetem Eigelb. Der Geschmack ist mir persönlich aber dabei schon beim Durchlesen verloren gegangen. Sie fragen sich jetzt sicher ,was ich Ihnen mit diesem detaillierten Vergleich aufzeigen will ? In welche Krempita würden sie lieber mit Ihrer Gabel stechen ? Nach gefühlten tausend gekochten Krempitavarianten waren einige teilweise nicht essbar , farblos , zu süß oder ohne erkennbaren Geschmack , bei manchen , nach anderen Rezepten hergestellten brauchte ich einen Löffel zum Essen , bei anderen wäre eine Säge nicht schlecht gewesen. Manche schmeckten einfach nur wie Vanillepudding , andere waren in Geschmack und Konsistenz gar nicht einmal so schlecht. Ich habe es wirklich schon fast aufgegeben , eine leckere Krempita hinzukriegen. Die Lösung war , im Nachhinein betrachtet , ganz einfach. Ich habe mich in die Zeit zurückgedacht , in der es noch keine Hilfsmittel aus der Tüte gab. Frische Eier , frische Vollfettmilch , Zucker , Mehl , Maisstärke , Vanille und richtigen Rahm. Fertig. Jetzt schmeckt die Krempita , wie Krempita schmecken muss. Jetzt sieht Krempita aus , wie Krempita aussehen muss. Und ich freue mich jedesmal , wenn Leute meine Krempita essen und sagen , Ihre Krempita schmeckt wie die von Herrn Ambruš , damals.

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Blick in die Zukunft Der Einfluss unterschiedlicher Kulturen ist eine große Bereicherung bei der Speisenzubereitung in meiner täglichen Praxis. Der Kombination von Rezepturen sind dabei keine Grenzen gesetzt. Langfristig , glaube ich , werden sich die auf diese Weise entstandenen neuen Rezeptkreationen weiter vererben und zumindest in meiner Familie zu einem neuen kulturellen Bewusstsein und einer Offenheit und einer Toleranz gegenüber anderen Kulturen , weit über die Grenzen der Esskultur hinaus beitragen – ohne dabei seine eigene Identität zu verlieren.

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Susi Petrijevčanin

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Moritz Csáky , em. Univ. Prof. , Historiker , Kulturwissenschaftler. Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften , Wien. [email protected] Julia Danielczyk , Mag.a Dr.in MSc. , Theater- und Literaturwissenschaftlerin. Literaturreferentin der Kulturabteilung der Stadt Wien. [email protected] Johannes Feichtinger , Univ. Doz. Mag. Dr. , Historiker und Kulturwissenschaftler. Mitarbeiter des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften , Wien. [email protected] István Fried , em. Prof. Dr. , Literaturhistoriker. Vergleichende Literaturgeschichte der slawischen und nicht-slawischen Literaturen in dem ostmitteleuropäischen Raum , Universität Szeged. [email protected] Johann Heiss , Dr. , Sozialanthropologe und Arabist. Mitarbeiter des Instituts für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften , Wien. [email protected] Federico Italiano , Dr. , Literatur- und Kulturwissenschaftler , Dichter. Universitätsassistent an der Innsbrucker Vergleichenden Literaturwissenschaft , Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Dozent am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität , München. [email protected] Rudolf Jaworski , em. Univ. Prof. , Osteuropahistoriker. Historisches Seminar der Universität Kiel. [email protected]

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Jennifer A. Jordan , Associate Professor. Director of Graduate Studies , Department of Sociology and Urban Studies Programs , University of Wisconsin-Milwaukee. [email protected] Konrad Köstlin , em. Univ. Prof. , Volkskundler , Kulturanthropologe. Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. [email protected] Klára Kuti , Dr. , Kulturwissenschaftlerin. Institut für Europäische Ethnologie und Kulturelle Anthropologie der Universität Pécs , Ungarn. [email protected] Georg Christian Lack , Mag. , Botschaftsrat , Direktor des Österreichischen Kulturforums Zagreb , Österreichisches Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. [email protected] Vlado Obad , Univ. Prof. , Literaturwissenschaftler. Philosophische Fakultät Osijek , Kroatien. [email protected] Birgit Peter , Mag. Dr. , Theaterwissenschaftlerin , Leiterin des Archivs und der theaterhistorischen Sammlungen des Instituts für Theater- , Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. [email protected] Susanne Petrijevčanin , Dipl. Krankenschwester. Selbtständige Tortendesignerin. Hausfrau und Mutter. Aljmaš , Kroatien. [email protected] Stefan Schmidl , Mag. Dr. , Musikwissenschaftler. Univ. Prof. am Konservtorium Wien , Privatuniversität. Mitarbeiter des Instituts für kunst- und musik­ historische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften , Wien. [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren