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German Pages [417]
Moritz Csáky
Das Gedächtnis der Städte Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa
Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar
Gedruckt mit Unterstützung durch
die Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 und das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78543-9
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© 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Druck: General Druckerei, Szeged
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. Genealogien der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . 13
Mehrdeutigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Unterschiedliche Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Die Stadt in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Urbane Milieus in Zentraleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Verlust der Stabilität der Dinge und des Ichs . . . . . . . . . . . . 30 Delegitimationen und Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . 33
II. Zentraleuropa: Pluralitäten und Differenzen . . . . . . . . . . . . 37 Mitteleuropa – ein politisch belasteter Begriff . . . . . . . . . . . . 38 Zentraleuropa – Genese einer Region . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Föderalisierung einer Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Ostmitteleuropa – Zentraleuropa? . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Zentraleuropa – ein dynamischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . 55 Ost-„Mitteleuropa“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Zentraleuropa – ein analoges kulturelles Gedächtnis? . . . . . . . . 61 Zentraleuropa – Heterogenität und Übereinstimmung . . . . . . . 66 Endogene und exogene Pluralität einer Region . . . . . . . . . . . 69 Region der Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Hungarus-Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 „Europa im Kleinen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Sprachliche Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
III. Kultur als Kommunikationsraum . . . . . . . . . 89
Kultur als Nationalkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Historische Gedächtnisforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Kultur – Palimpsest und Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Kultur und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Kultur als Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Kultur – ein hybrider Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . 104 Beispiel: Kulturelle Prozesse und Essgewohnheiten . . . . . . . . 109 Entgrenzter Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Mehrdeutiger Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . .117 Vielsprachiger Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kultur und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Kultur – ein komplexes System . . . . . . . . . . . . . . . . . . .125
IV. Ein urbanes Milieu in der Moderne: Wien . . 129
Wien – Porta Orientis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 „Wer was hat werden wollen, hat müssen Deutsch reden“ . . . . . .133 „Böhmisches“ Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 Kulturelle Initiativen einer „Minderheit“ . . . . . . . . . . . . . .145 Schnittstelle Kaffeehaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Marginalisierte Wiener Slawen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Schnittstelle Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .157 Stereotypisierungen des „Fremden“ im Alltag . . . . . . . . . . . .165 Konstruktionen von „Fremdheiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Tschechisches Wiener Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Ungarisches Wien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ungarn in Wien – ein intellektueller Schmelztiegel? . . . . . . . . 182 Wien und die Kroatische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Slowenisches Wien – Ivan Cankar . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Fazit: Wiener Literaturen in der Mehrzahl? . . . . . . . . . . . . 200 Hybride Polyfonie der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Schnittstelle Prater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Schnittstelle Secession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Alte Furcht vor „Überfremdung“: Verwelschung Wiens? . . . . . . 220 Plurikulturelles Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Wien – keine „deutsche“ Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Wiens „kreolisierende“ Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 „Mémoire culturelle juive“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Jüdische Theater- und Unterhaltungskultur . . . . . . . . . . . . 248 Judentum – Bildung – Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251 „Aufstieg ins Geistige“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Alltagsantisemitismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 „Mehrsprachigkeit“ des Wiener urbanen Milieus . . . . . . . . . 266 Homogenisierung versus Pluralitäten . . . . . . . . . . . . . . . 268
V. Peripherie oder Zentrum? Urbane Milieus einer Region . . . . . . . . . . . . 273 Heterogenität der ungarischen Metropole . . . . . . . . . . . . . 275 Polyglottes Budapest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Polyglossie der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Kulturelle Interferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sprachliche Interferenzen: Josefstädter Deutsch . . . . . . . . . . 292 Zum Vergleich: zweisprachige Schriftsteller in Wien . . . . . . . . 298 Pressburg/Bratislava/Pozsony zum Vergleich . . . . . . . . . . . . 303 „Klein-Wien“ am Pruth: Czernowitz/Tscherniwzi/Cernăuţi . . . . 309 Triest/Trieste/Trst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .314 Mikrokosmos Breslau/Wrocław . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Leutschau/Levoča/Lőcse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Prager Kommunikationsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Multiple Prager Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .331
VI. Zentraleuropa – Laboratorium für die Gegenwart . . . . . . . . . 345
Innere Kolonisierungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 „Heimat? Kenn ich nicht“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 7
ausflüge
Komplexe, hybride Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Urbane Milieus – Laboratorien für die Gegenwart? . . . . . . . . 364 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
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Vorwort
Migrationen und Mobilitäten von Personen und Gruppen gehören ohne Zweifel zu den großen Herausforderungen der Gegenwart, denen sich die Gesellschaft und die Politik der jeweils betroffenen Länder zu stellen haben. Die vermehrte Zuwanderung von „Fremden“, vor allem in die urbanen Ballungszentren, stellt nicht nur die Kommunen vor ein großes Problem, sie wird in der Öffentlichkeit medial wirksam gelenkt und immer weniger rational verhandelt – denn die europäischen Länder benötigen schon aus wirtschaftlichen Gründen Immigranten – als immer öfter rein emotional diskutiert, was in der Folge ganz einfach in eine pauschale Ablehnung von Zuwanderungen münden kann. Freilich bemüht man sich einerseits auch durch regulierte Integrationspraktiken einer zunehmenden sozialen, kulturellen und sprachlichen Asymmetrie gegenzusteuern. Man verlangt zum Beispiel von den Einwanderern die Akzeptanz von kulturellen Werten und vor allem die möglichst perfekte Aneignung der Sprache des Gastgeberlandes, ohne darüber nachzudenken, ob es nicht ebenso sinnvoll und bereichernd wäre, eine der Sprachen der Immigranten zu erlernen. Andererseits stellt sich zugleich die Frage, inwiefern „Parallelgesellschaften“, das heißt die Etablierung von autonomen „fremden“ kulturellen Gemeinschaften, nicht zur Auflösung des traditionellen kulturellen Gefüges der Aufnahmegesellschaften beitragen, inwiefern also Toleranz zugewanderten Fremden gegenüber überhaupt möglich und zweckdienlich sein kann. Diese soeben skizzierte Situation wird immer wieder als ein vollkommen neues Phänomen dargestellt, das erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Problem geworden wäre. In Wahrheit gehörten Migrationen und Mobilitäten bereits in der Vergangenheit zur Realität des alltäglichen Lebens. Freilich wurden erst aufgrund der großen ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationen seit dem 19. Jahrhundert, die unter anderem Folgen der Industrialisierung waren, Migrationen zu einem Massenphänomen. Menschen aus ländlichen Gebieten, die dort aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Konditionen kaum zu existieren vermochten, zog es vor allem in die Industriezentren, die sich zumeist am Rande städtischer Ballungszentren befanden. Es waren dies, um eine heute gängige Bezeichnung aufzugreifen, 9
Vorwort
„Wirtschaftsflüchtlinge“, die, um zu überleben, gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und sich dort anzusiedeln, wo sie Arbeit finden und überleben konnten. Ein besonders hervortretendes Kennzeichen der zentraleuropäischen Region war schon immer die Dichte von „Fremdheiten“, das heißt von Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen, die sich hier vorfand. Im Vielvölkerstaat der habsburgischen Monarchie war daher seit der Frühen Neuzeit die Präsenz von sprachlich-kulturellen Heterogenitäten in den urbanen Milieus keine Ausnahme. Diese Fremden im städtischen Raum trugen ganz wesentlich zum Funktionieren des Alltagslebens bei. Man begegnete ihnen freilich immer wieder und zunehmend mit einer gewissen Skepsis, die aufgrund der massenhaften Zuwanderung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Ablehnung dieser Zugewanderten führen konnte, die als Eindringlinge angesehen wurden und die ansässigen Bewohner zu verdrängen schienen, sie mit ungewohnten Sprachen und Sitten konfrontierten und dadurch verun sicherten, auch wenn es sich nur um Binnenwanderungen handelte und diese Fremden in Wirklichkeit Angehörige der Region, das heißt des Gesamtstaates waren, im Unterschied zur Gegenwart, in der Migrationen zu einem weltweiten, globalen Phänomen geworden sind. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte man sich mit dieser Problematik auseinander und versuchte Fremdheiten, wenn schon nicht als gleichwertig anzuerkennen, so zumindest zu dulden. Dazu ein Beispiel: Während die katholische Konfession noch immer als Staatsreligion galt, die, so die allgemeine Meinung, die Anerkennung der politischen Herrschaft garantierte, wurden die „accatholischen“, das heißt die im Grunde genommen staatsfremden Konfessionen, durch die josephinischen Toleranzpatente (1781) zwar geduldet, sie sollten aber die Dominanz der staatstragenden Religion nicht gefährden (der „katholischen Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religions-Exercitii verbleiben“) und daher im öffentlichen Raum möglichst wenig sichtbar hervortreten. So wurde ihnen die Errichtung von Gotteshäusern („Betthäusern“ [sic!]) zwar gestattet, doch wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein „accatholisches“ Bethaus, „wo es nicht schon anders ist, solches kein Geläut, keine Glocken, Thürme, und keinen öffentlichen Eingang von der Gasse“ haben dürfe.1 Die Duldung 1 Toleranzpatent für die Nichtkatholiken in Österreich ob der Enns, in: Harm Klueting (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-
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vorwort
beinhaltete also ganz offensichtlich auch weiterhin eine gewisse Diskriminierung von (religiösen) Minderheiten und trug zugleich das Ihre dazu bei, die in der Region vorhandenen (religiösen) „Fremdheiten“ auf eine neue Weise festzuschreiben beziehungsweise sich diese erst bewusst zu machen. Eine gewisse Analogie zu vergleichbaren Verhaltensweisen und Maßnahmen in der Gegenwart ist nicht von der Hand zu weisen. Meine Ausführungen beziehen sich freilich weniger auf das 18. Jahrhundert als auf die Jahrzehnte um 1900, exemplarisch auf die heterogenen urbanen Milieus der zentraleuropäischen Region (Kapitel II). Ich versuche dabei auf die sich überlappenden und sich konkurrenzierenden kulturellen Räume einzugehen (Kapitel III) und vor allem klarzumachen, dass solche kulturellen Prozesse, die in den Mikrokosmen der Städte stattgefunden und die Situation des Makrokosmos, der zentraleuropäischen Region, widergespiegelt haben, ähnlich wie in der Gegenwart stets von Zwängen, entweder von kolonisatorischen Vereinnahmungsversuchen oder von Ausgrenzungsstrategien, das heißt aber letztlich von Krisen und Konflikten begleitet waren (Kapitel I, Kapitel VI). Dabei richtet sich meine Aufmerksamkeit vor allem auf Wien, um 1900 die viertgrößte Stadt Europas (Kapitel IV), und beispielhaft auch auf andere größere und kleinere urbane Milieus der Region (Kapitel V), die insgesamt von dichten sprachlichen und kulturellen Heterogenitäten geprägt waren, die sich in das Gedächtnis der Städte eingeschrieben haben und bis in die Gegenwart, vor allem im nonverbalen kulturellen Bereich, zum Beispiel im Alltagsleben, sichtbar, wahrnehmbar und erfahrbar geblieben sind. Meine Überlegungen verdanken sich zum Teil ausführlichen Diskussionen, die ich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften führen durfte, sowie zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen. Meinem ehemaligen Grazer Mitarbeiter Mag. Josef Schiffer bin ich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts sehr dankbar. Ebenso danke ich ganz besonders den stets geduldigen, begleitenden, offenen Anregungen vonseiten meiner Frau, die den Text einer gründlichen Durchsicht unterzogen hat. Vor allem gilt meine aufrichtige Verbundenheit dem Böhlau Verlag, insbesondere seinem Inhaber Herrn Dr. Peter Rauch und Frau josephinischen Reformen (Ausgewählte Quellen zu deutschen Geschichte der Neuzeit Bd. XIIa), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 252–255, Zit. S. 253.
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Vorwort
Dr. Eva Reinhold-Weisz, die sich bereit erklärt haben, meine Untersuchung in das Verlagsprogramm aufzunehmen. Nicht zuletzt danke ich Frau Prokuristin Ulrike Dietmayer und ihrem Team für die Betreuung und druckfertige Einrichtung der Textvorlage. Wien, im Januar 2010
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Moritz Csáky
I. Genealogien der Gegenwart
Die Absicht, die ich mit diesem Essay verfolge, lässt sich mit wenigen Worten umschreiben: Ich möchte auf die vielfältigen, zuweilen widersprüchlichen Erfahrungen, auf die heterogenen gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen und als deren Folge auf die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis aufmerksam machen, die auch jeder historischen Erinnerung eingeschrieben sind. Dabei konzentriere ich mich im Konkreten auf Beispiele aus den kulturell und sprachlich überaus komplexen urbanen Milieus der zentraleuropäischen Region, vor allem in den Jahrzehnten um 1900. Ich versuche Bilder einer Vergangenheit freizulegen, die in den von nationalen Vorgaben beeinflussten geschichtlichen Darstellungen in der Regel mehr oder weniger bewusst ausgespart bleiben, vergessen und verdrängt oder zumindest marginalisiert werden. Zum Beispiel gibt es zahlreiche Darstellungen über Wien, über seine Geschichte und seine Kultur, doch mit Ausnahme von Spezialuntersuchungen wird in fast keiner auf die Tatsache eingegangen, dass Wien eine plurikulturelle und vielsprachige Stadt war und von den Zeitgenossen auch als eine solche wahrgenommen wurde, ob im positiven oder im negativen Sinne. Demgegenüber wird bis heute in den meisten Wien-Monographien das Bild einer sprachlich und kulturell überwiegend homogenen Stadt vermittelt. Der nationale Geschichtsdiskurs verdankt sich bekanntlich der großen Erzählung von homogenen Gesellschaften und Kulturen, denen sich minoritäre Gruppen anzugleichen hätten oder aus welchen diese ausgeschieden werden müssten. Doch gerade auf der kulturellen Ebene, beispielsweise mit dem Blick auf die Alltagskultur, lässt sich im Prinzip relativ leicht aufzeigen, dass eine solche Sicht der historischen Realität in der Regel nicht entspricht, dass vielmehr die Vorstellung von einer homogenen (National-)Kultur, vor allem im Bereich der nonverbalen Kultur, letztlich ein Wunschbild bleibt und dass die konkreten, oft auch von der Politik forcierten Versuche, eine homogene Gesellschaft und Kultur zu errichten, in der Vergangenheit gerade deshalb minoritären Gruppen gegenüber von Repressionen begleitet waren und zuweilen zu kollektiven Irritationen und pathologischen Reaktionen selbst jener gesellschaftlichen Gruppen führen konnten, die im nationalen Diskurs eine hegemoniale Position eingenommen haben. 13
I. Genealogien der gegenwart
Mehrdeutigkeiten Es wurde bekanntlich immer wieder versucht, nationale Zielvorstellungen und Homogenisierungsversuche mit dem Hinweis auf eine ursprüngliche, „reine“, „unvermischte“ Volkskultur zu untermauern und diese reine Volkskultur in den Dienst eines Nation-Building zu stellen, sie als beispielgebend und normativ für eine Nationalkultur zu erklären. Die Erforschung und Pflege der Volkskultur und der lebendige Umgang mit ihr wurde daher seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein wichtiges Instrumentarium bei der Konstruktion von national homogenen Gesellschaften. Doch wie ist es um eine solche reine Volkskultur in Wirklichkeit bestellt? Ich möchte dies an einem Beispiel aus der Volksliedforschung verdeutlichen. Der Komponist Béla Bartók, der bei verschiedenen Völkern der zentraleuropäischen Region, aber auch in Nordafrika und in der Türkei alte Volkslieder und Melodien gesammelt hatte, kam freilich sehr bald zu einer sehr kritischen, gegenteiligen Erkenntnis, dass nämlich auf dieser kulturellen, auf der volksmusikalischen Ebene von einer nationalen Reinheit, von einer kulturellen „Rassenreinheit“ (Race Purity), wie er sich ausdrückt, keine Rede sein könne. In einem kurzen Artikel, den er 1942 bereits während seines Amerikaaufenthaltes in „Modern Music“ veröffentlichte und der nach seinem Tode in einem von Benjamin Suchoff betreuten Sammelband dreißig Jahre später wieder erschienen war und seitdem, auch in seiner ungarischen Übersetzung, immer wieder zitiert wird, hat Bartók auf die musikalische Verwobenheit und Komplexität der Volksmusik, insbesondere in Zentraleuropa, aufmerksam gemacht. Zum Beispiel wandern ungarische Melodien zu slowakischen Nachbarn, erfahren dort durch die unterschiedliche Sprachstruktur, den unterschiedlichen Sprachrhythmus oder die unterschiedliche sprachliche Intonation eine Veränderung und kehren derart verändert möglicherweise wieder zu ihrem Ausgangsort zurück, wo sie sich „zum Glück“, so Bartók, nicht wieder in ihre ursprüngliche Form zurückversetzen, sondern ihre „fremden“ Elemente beibehalten und so als veränderte, neue Melodien akzeptiert und zu einem integralen Bestandteil der ungarischen Volksmusik werden. Dieses permanente „crossing and re-crossing“ betreffe nicht nur Melodien, sondern ebenso musikalische Stilelemente. „Unzählige Faktoren“, meinte Bartók, „erklären diesen ununterbrochenen Austausch von Melodien: Gesellschaftliche Umstände, die freiwillige oder erzwungene Wanderung von Personen oder Völkern, ihre Kolonisierung.“ Ebenso historische Faktoren, von 14
Mehrdeutigkeiten
denen Zentraleuropa betroffen war, zum Beispiel die Neubesiedelung von ganzen Landstrichen nach der sogenannten Türkenbefreiung, die zum Teil eine vielfältige, heterogene Bevölkerung auf einem engen Raum zur Folge hatte, was das „crossing and re-crossing“ begünstigte, nicht nur von musikalischen, sondern ebenso von sprachlichen und anderen kulturellen Elementen.1 Dabei schloss Bartók diachrone historische Aspekte keineswegs aus: Es gebe beispielsweise in der ungarischen Volksmusik Melodien, die mit Melodien anatolischer türkischer Volksstämme fast identisch wären, sie müssten daher älter sein als andere volksmusikalische melodische Formationen. Ob diese Ähnlichkeit von ungarischen und anatolischen Melodien in der Tat auf deren gemeinsame Provenienz zur Zeit des Zusammenlebens der Turkvölker vor der ungarischen Landnahme hinweist, wie Bartók meinte, oder ob sie vielleicht nicht doch, zumindest partiell, folgt man der Argumentation Bence Szabolcsis, eher auf Einflüsse aus der Zeit der hundertfünfzigjährigen osmanischen Präsenz in Ungarn zurückzuführen sei, bleibt freilich offen. Doch wenn es sich hier auch um die Freilegung älterer, ursprünglicher musikalischer Elemente beziehungsweise Melodien handelt, worauf auch die in der ungarischen Volksmusik und in der Volksmusik der Turkvölker gebräuchliche Pentatonik weist, auf die Zoltán Kodály zum ersten Mal 1917 aufmerksam gemacht hat,2 bedeutete dies für Bartók keineswegs eine historische Wertung oder „nationale“ Codierung. „Du hast jede Volksmusik geliebt“, schrieb daher zu Bartóks sechzigstem Geburtstag der Film- und Kunsttheoretiker Béla Balázs, dessen Textbücher, zum Beispiel „Herzog Blaubarts Burg“, Bartók vertont hatte, „die slowakische, die rumänische, die serbische […]. Deshalb war deine Liebe zur Volksmusik nie nationalistisch gefärbt, sondern international.“3 1
Bartók Béla, Faji tisztaság a zenében (Rassenreinheit in der Musik), in: Kenyeres Zoltán (Hg.), Esszépanoráma 1900–1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 1, Budapest: Szépirodalmi 1978, S. 935–939, Zit. S. 937. – Vgl. auch die ursprünglich englische Version: Béla Bartók, On Race Purity in Music [1942], in: Benjamin Suchoff (Hg.), Béla Bartók Essays, London: Faber and Faber 1976, S. 29–31. Reprint: Lincoln Neb. u. a.: University of Nebraska 1992. 2 Vgl. Szabolcsi Bence, A Magyar népzene nyomában, kelet felé (Auf der Spur der ungarischen Volksmusik, gegen Osten), in: Kenyeres Zoltán (Hg.), Esszépanoráma 1900– 1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 3, Budapest: Szépirodalmi 1978, S. 405–413. 3 Balázs Béla, Messziről messzire (Aus der Ferne in die Ferne), in: Kenyeres Zoltán (Hg.),
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I. Genealogien der gegenwart
Wie dem auch sei, wichtig ist, dass durch das „permanent crossing and re-crossing of melodies“ sich nicht nur die ungarische, sondern auch die Volksmusik anderer Völker der zentraleuropäischen Region als eine durchaus inhomogene, hybride musikalische Gemengelage erweist, die performativen translatorischen Prozessen von Beeinflussungen, Wechselwirkungen und Veränderungen ausgesetzt war. Auch die ungarische Volksmusik erweist sich damit als eine lebendige, durchmischte, mit zahlreichen Elementen ihrer Nachbarn durchsetzte Musik. Dies gelte, so Bartók, auch für die Volksmusik der Nachbarn und sei unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass in Zentraleuropa viele kleine Kulturen präsent wären, die sich gegenseitig beeinflussen, überlappen und in vielen Bereichen nicht klar abgrenzbar seien. Diese transnationale und translokale Perspektive bei der Definition einer von Pluralitäten geprägten Volksmusik und die Absage an eine reine nationale Volkskultur vertrat auch Bartóks Freund und Kollege Zoltán Kodály. Kodály, der ähnlich wie Bartók in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Volkslieder gesammelt hatte, hat zwar später (1941) gemeint, es gebe sehr wohl eine authentische ungarische Volksmusik, man könne sie jedoch erst dann wahrnehmen, wenn man das Volkslied von nachweislichen Fremdeinflüssen der Kunstmusik befreit und aus ihr jene Elemente ausscheidet, die sie aus dem Liedgut der Nachbarvölker entlehnt hat.4 Die nachweislichen Beeinflussungen des ungarischen Volkslieds durch die Kunstmusik hat unter anderem der Musikwissenschaftler Bence Szabolcsi zu Beginn der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts besonders hervorgehoben. Volkslieder veränderten sich nicht nur permanent durch die unterschiedliche Vortragsweise, durch die Intonation oder durch hinzugefügte Variationen vonseiten eines Sängers, sie unterlagen auch im Verlaufe der Jahrhunderte durch Einflüsse von „oben“, durch Prozesse eines „fallenden Kulturguts“, kontinuierlichen Veränderungen: Durch die mittelalterliche Gregorianik, durch die metrische Form der Esszépanoráma 1900–1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 2, Budapest: Szépirodalmi 1978, S. 280–292, Zit. S. 283. 4 Vgl. über die Forschungen Bartóks in der Türkei: Bartók Béla, Népdalgyűjtés Törökországban (Volksliedsammlung in der Türkei), in: Kenyeres Zoltán (Hg.), Esszépanoráma 1900–1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 1, S. 920–935. – Kodály Zoltán, Népzene és műzene (Volksmusik und Kunstmusik), in: Kenyeres Zoltán (Hg.), Esszépanoráma 1900–1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 1, S. 1055–1064, hier S. 1064.
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Unterschiedliche Erinnerungen
Renaissancemusik, durch die Musik des Barock, durch die Ornamentik der höfischen Adelsmusik, durch die Rhythmik des Rokoko, durch die ungarische Kunstmusik der Jahrzehnte um 1800 mit ihren typischen Tänzen, durch das romantische Kunstlied und schließlich durch die musikalischen Volksschauspiele und die Vortragsweise von Zigeunerkapellen. „All das zusammen“, schließt Szabolcsi, „verschmolz im Sammel- und Aufbereitungsbecken der Volksmusik zu einer organischen nationalen Tradition.“5 Wenn Szabolcsi hier von einer „nationalen“ Tradition spricht, folgt er nur dem Sprachjargon seiner Zeit und möchte, hält man sich die Grundzüge seiner Argumentation vor Augen, damit nur zum Ausdruck bringen, dass die von ihm genannten Einflüsse zu einem Spezifikum der als „national“ apostrophierten ungarischen Volksmusik geworden sind. Das heißt, auch er bringt damit zum Ausdruck, dass bei der Volksmusik, um auf die Diktion Bartóks zurückzugreifen, von „race purity“ keine Rede sein könne.
Unterschiedliche Erinnerungen Solche Erkenntnisse lassen sich auch auf andere kulturelle und historische Bereiche übertragen. Abgesehen von solchen Mehrfachcodierungen gilt es vor allem, auch die jeweiligen sozialen Kontexte jener zu beachten, die sich einer Vergangenheit erinnern. Denn jede Rückbesinnung auf die Vergangenheit wird nicht nur von den konkreten sozialpolitischen und kulturellen Rahmungen der jeweiligen Gegenwart beeinflusst, unter anderem zum Beispiel auch von nationalideologischen Voreingenommenheiten, sie ist vor allem selektiv, indem sie, keineswegs immer bewusst, konkreten, aktuellen gesellschaftlichen Vorgaben folgt, die die Fragen an die Vergangenheit steuern und bestimmen. Zum Beispiel lässt ein Zusammentreffen mit Jugendfreunden, die wir lange nicht gesehen haben, in diesem spezifischen sozialen Kontext partielle Erinnerungen wach werden, die wir womöglich jahrzehntelang nicht mehr hatten. Oder begegnet man einer Person in einer ungewohnten Umgebung, ist es möglich, dass man die Person zunächst nicht erkennt, das heißt sich erinnert, und selbst wenn man sie erkennt, vermag man sie vielleicht 5 Szabolcsi Bence, Régi kultúremlékek a magyar népzenében (Alte kulturelle Erinnerungen in der ungarischen Volksmusik), in: Kenyeres Zoltán (Hg.), Esszépanoráma 1900–1944 (Essay-Panorama 1900–1944) Bd. 3, S. 376–380, Zit. S. 379.
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I. Genealogien der gegenwart
nicht sofort einzuordnen, denn man begegnet ihr nicht in ihrer gewohnten, räumlich-gesellschaftlichen Umgebung. So unterliegen sowohl der Gegenstand der historischen Wahrnehmung als auch die Art der Wahrnehmung, die Wahrnehmungsweisen, spezifischen sozial-kulturellen Voraussetzungen beziehungsweise einem jeweils konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontext. Die bewusste erinnernde Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist aber auch zweckorientiert, und zwar insofern, als sie auf die individuelle und kollektive Orientierung in der jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwart ausgerichtet ist. Das hat zur Folge, dass sich das Bild von der Vergangenheit von Generation zu Generation verändern oder dass die Vergangenheit, entsprechend unterschiedlichen sozialen Kontexten, auch zeitgleich unterschiedlich erinnert werden kann. Daraus folgt, dass es nicht nur eine einzige gültige historische Erzählung gibt, die Vergangenes, das nicht mehr existiert, „erinnernd“ vergegenwärtigt, sondern historische Erzählungen (im Plural), die sich unter anderem unterschiedlichen sozialen Kontexten verdanken können, denen unterschiedliche Erinnerungsweisen eigen sind. Diese vielen historischen Erzählungen haben, auch wenn sie selektiv sind und unterschiedliche Perspektiven beleuchten, trotz der Kontingenz oder teilweisen Fiktionalität (Hayden White), die ihnen innewohnt, jeweils ihre relative Gültigkeit und Berechtigung. Zum Beispiel kann eine Erzählung über den Kolonialismus aus einer zentralen, „metropolitanen“ Perspektive der Kolonisatoren erfolgen. Diese Art von Geschichtsschreibung mit dem Blick aus dem Zentrum auf die Peripherie war lange Zeit vorherrschend. Sie hatte und hat immer im Wesentlichen auch mit der Konstruktion beziehungsweise Festigung von „Macht“ über die Kolonisierten zu tun. Demgegenüber kann eine Erzählung des Kolonialismus auch aus der Perspektive der kolonisierten Peripherie, der „Provinz“, ihren Ausgang nehmen und nicht zuletzt auf die Macht untergrabenden, subversiven Veränderungen im sogenannten Zentrum durch die kolonisierte Peripherie, gleichsam auf die „Provinzialisierung“ des Zentrums, aufmerksam machen.6 Diese Art der Erzählung entspricht einer postkolonialen Perspek6 Vgl. dazu Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 2002, S. 283–312.
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Unterschiedliche Erinnerungen
tive, die sich nicht an einer historischen Epoche nach dem Kolonialismus ausrichtet, sondern jene tief greifenden Prozesse ins Auge fasst, die permanent zu wechselseitigen, performativen Einflüssen und Veränderungen sowohl der Kolonisierten als auch der Kolonisatoren führen. Diese postkoloniale Perspektive, folgen wir Stuart Hall, „liest vielmehr die ‚Kolonisierung‘ als Teil eines im wesentlichen transnationalen und transkulturellen ‚globalen‘ Prozesses neu – und bewirkt ein von Dezentrierung, Diaspora-Erfahrung oder ‚Globalität‘ geprägtes Umschreiben der früheren imperialen großen Erzählungen mit der Nation im Zentrum“.7 Aus einer solchen postkolonialen Sicht lassen sich, in analoger Weise zum klassischen Kolonialismus, auch alle Prozesse von kulturellen Konkurrenzierungen, Überlappungen, Veränderungen oder Zwischenräumen im Allgemeinen deuten. Damit öffnen sich aber auch gewissermaßen „Archive des Schweigens“ (Jacques Le Goff), die sich in solchen Zwischenräumen verborgen halten und sich einer metropolitanen Perspektive in der Regel verschließen. Um solche „Archive des Schweigens“, um diese „zones de silence“, um das „Ungesagte“ (Michel de Certeau) geht es auch mir in meinen Ausführungen, die sich auf konkrete empirische Beispiele stützen. Man sollte, meint Jacques Le Goff, „die historischen Belege in bezug auf ihre Auslassungen untersuchen, sich nach dem Vergessen, den Löchern, den weißen Flecken der Geschichte fragen ( … ). Es gilt, ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und Geschichte auf der Grundlage von Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten.“8 Lenkt man die Aufmerksamkeit auf Inhalte solcher „Archive des Schweigens“, beispielsweise auf die zumeist verschwiegene, jedoch empirisch durchaus nachweisbare, sprachlich-kulturell überaus heterogene Situation der Städte Zentraleuropas, dann erkennt man jenseits der nationalideologisch suggerierten Eindeutigkeit und „Einsprachigkeit“ dieser urbanen Milieus deren Mehrdeutigkeit und „Mehrsprachigkeit“, das heißt sowohl die Vielfalt als auch die Differenzen, die Komplexität und Hybridität von städtischen kulturellen Formationen und die verwirrenden Verflechtungen von kulturellen Praktiken. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, zeitgleich durchaus 7 Stuart Hall, Wann gab es „das Postkoloniale“? Denken an der Grenze, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, S. 219–246, Zit. S. 227. 8 Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1992, S. 228.
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unterschiedliche, voneinander abweichende Selbstdarstellungen, (Selbst-) Repräsentationen der urbanen Milieus wahrzunehmen und so zuzugeben, dass, im Unterschied zum nationalen Narrativ, das diese Perspektivenvielfalt nicht wahrhaben will, es eben nicht nur eine, sondern viele einander zuweilen widersprechende, aber dennoch gleichberechtigte (historische) Erzählungen über eine Stadt, zum Beispiel über Wien, gibt, dass Städte als ein komplexes Geflecht von „geteilten Geschichten“, von „shared histories“ (Shalini Randeria)9 zu begreifen sind. Wenn Kultur, wie ich ausführen werde, begriffen werden kann als ein Ensemble von Elementen, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren, erweist sich der übergeordnete kulturelle „Text“ des urbanen Milieus nicht nur als die Addition von unterschiedlichen, sich konkurrenzierenden und überlappenden entgrenzten Kommunikationsräumen, sondern auch als ein hybrider „Text“, als ein Gewebe, eine Melange von tief greifenden Verflechtungen und Netzwerken, die sich im Konkreten kontinuierlichen Mobilitäten und Migrationen, das heißt diasporischen Verhältnissen und Marginalisationen verdanken. Von da her ließe sich, wie Jan Neverdeen Pieterse argumentiert, eine „andere historische Darstellung (…) auf der Grundlage des Beitrags konstruieren, den Diaspora, Migration, Fremde und Vermittler zur Kulturformation und -verbreitung geleistet haben. Damit verbunden wäre eine Geschichtsschreibung der Hybridbildung von metropolitanen Kulturen, d. h. eine alternative Geschichtsschreibung, die sich gegen die imperiale wendet.“10
Spuren Mein Blick richtet sich im Konkreten auf eine europäische Region, die von sprachlich-kulturellen Heterogenitäten geprägt war und ist, von unterschiedlichen sozial-kulturellen Kontexten also, die auch unterschiedliche Erinnerungsweisen insinuieren. Mein Blick richtet sich auf kulturelle Phänomene der zentraleuropäischen Region, wenn man so will sowohl aus einer post9 Sebastian Conrad und Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, S. 9–49, v.a. S. 17–19. 10 Jan Neverdeen Pieterse, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1998, S. 87– 124, Zit. S. 119.
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kolonialen Perspektive, das heißt aus der Perspektive der Peripherie auf das Zentrum, beziehungsweise aus der Perspektive der Peripherie, die sich auch im Zentrum, im metropolitanen urbanen Milieu vorfindet, als auch aus dem Erfahrungshorizont der eigenen Gegenwart, aus der Perspektive translokaler und transnationaler Mobilitäten, Migrationen und Kommunikationsweisen, mit denen wir gelernt haben, tagtäglich umzugehen. Manche Theorien und Erklärungsmuster, die analoge Phänomene der Gegenwart zu deuten versuchen, können daher auch für die Erklärung ähnlicher Phänomene in der Vergangenheit hilfreich sein und zu einem neuen Erkenntnisgewinn beitragen. Es geht dabei insgesamt um die Rekonstruktion von Einzelmomenten, um eine Spurensicherung dieser heterogenen, hybriden kulturellen Verfasstheit in den urbanen Milieus, die das Leben des Alltags bestimmte, jedoch von den dominanten nationalen Diskursen, denen ein essenzialistisches, geschlossenes Konzept von (National-)Kultur zugrunde lag, schon seinerzeit ganz bewusst ausgeblendet wurde, was zur Folge hatte, dass die Spuren dieses heterogenen, mehrdeutigen, entgrenzten kulturellen Gewebes, das dem Gedächtnis der Städte eingeschrieben ist, sich der Erinnerung nachfolgender Generationen und somit auch der historischen Aufmerksamkeit weitgehend entzogen hat. Die nationalen Erzählungen haben solche Spuren zu verwischen versucht oder diesen ihre Bedeutung abgesprochen. Doch Spuren lassen sich nicht völlig auslöschen, ähnlich wie gelöschte Dateien eines Computers sich nicht gänzlich beseitigen lassen, sich vielmehr als Spuren auf die Festplatte eingeschrieben haben und von Spezialisten wieder reaktiviert werden können. Jan Nederveen Pieterse zufolge sind aufgrund der Dominanz dieses nationalen Paradigmas „kulturelle Errungenschaften regelmäßig für die ‚Nation‘ beansprucht, ist die Kultur ‚nationalisiert‘ und territorialisiert worden“.11 Mit anderen Worten geht es mir, um mit Walter Benjamin zu argumentieren, eben auch darum, diese Spuren wieder sichtbar zu machen und „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.“12 Dieses kleine Einzelmoment ist eben jeweils eine Spur, die es in den Blick zu bekommen und zu analysieren gilt. Es ist im Konkreten ein Blick auf die kulturellen Praktiken des „provinzialisierten“ städtischen All11 Jan Neverdeen Pieterse, Der Melange-Effekt, S. 119. 12 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1982, S. 575.
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tags der Jahrzehnte um 1900, deren Rekonstruktion zumindest ebenso aufschlussreich sein kann wie die Rekonstruktion von politischen Praktiken und Machtkonstruktionen einer vergangenen Zeit. Dies eröffnet die Möglichkeit, einerseits Differenzen, Heterogenitäten und individuelle und kollektive Mehrfachidentitäten in der Vergangenheit sichtbar zu machen, andererseits Erfahrungen von Mobilitäten und Migrationen und die daraus resultierenden komplexen kulturellen Kommunikationsweisen in der Diaspora, die uns heute durchaus geläufig sind, nicht als etwas völlig Neues darzustellen, sondern in ihnen einen komplexen, für die Moderne/Postmoderne typischen Prozess zu erkennen und von da aus, wie Arjun Appadurai gefordert hat, auch „die Gegenwart als eine historische Epoche zu betrachten und unser Verständnis von ihr zu benutzen, um Probleme ihrer historischen Entwicklung aufzuwerfen“. Es geht um die Erstellung von „Genealogien der Gegenwart“.13 Es geht also darum, zu versuchen, Erklärungsmodelle für Prozesse in der Vergangenheit zu finden, die von ähnlichen Faktoren bestimmt waren wie vergleichbare Prozesse in der Gegenwart, das heißt Theorien, die die Gegenwart zu deuten versuchen, auch auf die Vergangenheit anzuwenden. Zugleich geht es umgekehrt auch darum, zu versuchen, die aus der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse für die Erklärung analoger Prozesse in der Gegenwart nutzbar zu machen. Das sind Fragestellungen, die im Grunde genommen auch im Mittelpunkt von Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ stehen. Hinter Musils Kennzeichnung von „Kakanien“ – der ehemaligen k. u. k Monarchie, oder, in einem erweiterten Sinne: von Zentraleuropa – steht der Versuch, individuelle und kollektive Befindlichkeiten in der Moderne und, in einem übertragenen Sinne, in der Postmoderne zu umschreiben. Denn Kakanien stellt sich dabei nur als eine Folie dar, von der sich die „Realität“ der Gegenwart abhebt und dieser deutlichere Konturen zu verleihen vermag. Diese Gegenwart wirft aber auch auf Kakanien selbst ein völlig neues Licht, Prozesse der Gegenwart spiegeln sich auf dieser Matrix. Andererseits bekommen Prozesse, die sich auf dieser Matrix beobachten lassen, zeitübergreifende Gegenwartsrelevanz. Typisch für diese von Musil beschworenen Welten sind 13 Arjun Appadurai, Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 11–40, Zit. S. 37.
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Mehrdeutigkeiten, Differenzen, Asymmetrien und Widersprüchlichkeiten, „Eigenschaftslosigkeiten“ also und die daraus sich ergebenden Multipolaritäten von kollektiven und individuellen Identitäten. Es sei immer falsch, meint Musil im berühmten achten Kapitel des „Mann ohne Eigenschaften“, in welchem er eine inhaltliche Umschreibung Kakaniens vornimmt, „die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume [...]. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.“14 Der zehnte Charakter, „die passive Phantasie unausgefüllter Räume“, oder „eben ein leerer, unsichtbarer Raum“, kommt einer Heterotopie gleich und insinuiert in ähnlicher Weise, wie es die postkoloniale Perspektive nahelegt, die Relativierung beziehungsweise den Verlust des Zentrums, der, wie Michael Rössner ausgeführt hat, zugleich „eine Art ‚prä-poststrukturalistische‘ Aufhebung des Subjekts“ bedeutet.15 Diese wurde freilich bereits mit Ernst Machs „unrettbarem Ich“ vorweggenommen und hatte Literaten des Fin de Siècle, wie Hermann Bahr oder Hugo von Hofmannsthal, nachhaltig beschäftigt. Eine solche Situation ist nicht nur auf Kakanien als Ganzes anwendbar, das folglich, wie Musil meint, den „fortgeschrittenste[n] 14 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 34 (Kap. 8). 15 Michael Rössner, Das leere (zentraleuropäische) Zentrum und die lebendige Peripherie – Gedanken zu Musils „Kakanien“-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften in einem lateinamerikanischen Kontext, in: Johannes Feichtinger, Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König, Peter Stachel, Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 269–277, Zit. S. 271.
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Staat […] der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte“16 darstellte, sondern erst recht auf die rhizomartigen sozial-kulturellen Verflechtungen in den Städten der Moderne. Diese Sicht ist auch im Musil’schen Sinne insofern berechtigt, als die handelnden Personen im „Mann ohne Eigenschaften“ nicht Landbewohner, sondern Städter sind. Musil geht es vordergründig wohl nicht um die Frage nach einer Problematisierung von Subjektivität im Sinne von Individualität, sondern um die Problematisierung von Identität – Individualität ist mit Identität nicht gleichzusetzen – oder besser von Identifizierungen. Musil reflektiert das Problem der zunehmenden Inkonsistenz von personalen Orientierungen in einem brüchig gewordenen kulturellen Kontext, der vielfältige Identifikatoren zulässt und folglich mehrere oder multiple Identifizierungen, das heißt mehrere Charaktere, die ein Individuum aufweisen kann, als einen normalen Zustand zulässt, sowohl in Kakanien als auch in einem übertragenen Sinne in der Moderne.
Die Stadt in der Moderne Die Stadt der Moderne hat sowohl eine integrative als auch eine differenzierende Funktion. Ihre Bewohner, die unterschiedlichen, heterogenen sozialkulturellen Schichten, also unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen angehören, sind gezwungen, vor allem wenn sie neu zugewandert sind, sich ihrer städtischen Situation anzupassen, das heißt sich (neue) Identitäten anzueignen, nicht zuletzt um die sozialen, ökonomischen, kulturellen, sprachlichen oder intellektuellen Unterschiede zu bewältigen, in denen sie sich nun vorfinden. Diese integrative beziehungsweise assimilatorische Tendenz des urbanen Milieus – der Ethnologe Gottfried Korff nennt sie die „innere Urbanisierung“17 – wurde schon in der Vergangenheit nicht zuletzt durch Formen der Kommunikation ermöglicht, die sich der technischen Modernisierung verdankten, die, von den neuen Verkehrsmitteln über das moderne Pressewesen und den Fernsprecher bis zu öffentlichen Unterhaltungsorten, wie die Theater- oder Tanzsäle, immer größeren Teilen der Bevöl16 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 35. 17 Gottfried Korff, Berlin – Berlin. Menschenstadt und Stadtmenschen, in: Ulrich Eckhardt (Hg.), 750 Jahre Berlin – Stadt der Gegenwart, Berlin: Ullstein 1986, S. 144–155, Zit. S. 144.
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die Stadt der Moderne
kerung zur Verfügung standen und die Stadt als Ganzes zu einem allgemein „lesbaren Text“, zu einer verständlichen „Sprache“ werden ließen, welche nicht nur wechselseitige Interaktionen, sondern ebenso Autonomie und individuelle Freiheit ermöglichte. Die Stadt der Moderne blieb freilich trotz allem auch ein Ort, der von Differenzen, von Mehrdeutigkeiten, von „Vielsprachigkeiten“ in einem wörtlichen und metaphorischen Sinne geprägt war. London in der Beschreibung von Friedrich Engels (1845)18, Paris zur Zeit Charles Baudelaires, Johann Nestroys Wien oder Stanisław Przybyszewskis Krakau waren folglich nicht Orte, die Ruhe verhießen oder in denen man einfach nur verweilen wollte, sondern steinerne Landschaften, Orte von kantigen, harten Gegensätzen und Widersprüchen, „Passagen“, Orte von Menschenansammlungen, denen zu entkommen zum Beispiel der Flaneur in Paris sich anschickte, indem er in diese einfach eintauchte, Orte also, in denen das Potenzial für Krisen und Konflikte lag, die Orientierungen, das heißt kommunikative Interaktionen, ins Wanken geraten ließen und Identitätsbildungen erschwerten. Der Soziologe Georg Simmel sprach daher in diesem Sinne den städtischen Bewohnern zwei Eigenschaften zu: Blasiertheit, worunter zu verstehen sei, „dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird“, und Reserviertheit, mit der die städtischen Bewohner einander begegneten.19 Andererseits barg die Großstadt ein Potenzial von sozial-kulturellen Vernetzungen ganz neuer Art, von kollektiven Typenbildungen, innerhalb derer Individuen ihre Freiheiten immer wieder neu zu konstituieren und auszuleben vermochten und genötigt waren. Die Beschleunigung, die mit der Entwicklung technischer Innovationen einherging, die Akzeleration von neuen Kommunikationsweisen oder die rasche Vermehrung der zunehmend arbeitsteiligen Warenproduktion und folglich des wachsenden Angebots an Waren trugen zwar für manche Personen und für ganze soziale Schichten zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen bei, diese hatten aber zugleich zur Folge, dass für sehr viele in den Städten lebende 18 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke Bd. 2, Berlin: Dietz 121990, S. 225–506, v.a. S. 256 ff. 19 Georg Simmel, Die Großstadt und das Geistesleben, in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1995, S. 116–131, Zit. S. 121.
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Menschen, vor allem für jene, die unteren Schichten angehörten, auch die soziale Not zunahm, durch die sie in eine ökonomische und soziale Marginalität abdrängt werden konnten. Insgesamt wurde für die Städter nicht zuletzt aufgrund der sich beschleunigt verändernden Umweltbedingungen Verunsicherung, „Nervosität“ – „Steigerung des Nervenlebens“, wie Georg Simmel sich ausdrückte20 – zunehmend zu einem mentalitätsprägenden Habitus. Das „Passagenwerk“ von Walter Benjamin ist ein Versuch, sich dieser Situation am Beispiel von Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, anhand einer stadtsemiotischen, sozialhistorischen und literarischen Analyse von Charles Baudelaires Œuvre anzunähern. Es wäre gleichermaßen lohnend, eine solche Annäherung auch aus einer anderen, beispielsweise aus der Perspektive von Honoré de Balzacs „Père Goriot“, zu versuchen oder in analoger Weise eine Rekonstruktion Wiens im 19. Jahrhundert zum Beispiel aus der Sicht Johann Nestroys oder Adalbert Stifters zu unternehmen.21 Die kontinuierliche und rasche räumliche Vergrößerung und die rapide Bevölkerungszunahme der Städte in der Moderne verdankten sich der Industrialisierung und einer zumeist wirtschaftlich motivierten Zuwanderung ihrer Bewohner von außen. Diese Entwicklung kann bereits als ein Ansatz für die spätere „Megapolis“ der Postmoderne, des Zeitalters der Globalisierung, angesehen werden, einer Stadt, die zwar von einem übergreifenden Kommunikationssystem zusammengehalten wird, eine volle Integration jedoch nicht mehr zu leisten vermag. Die Stadt der Postmoderne ist vornehmlich zu einem Ort von individuellen und kollektiven Segregationen geworden, in der aufgrund der zunehmend „globalen“ Herkunft ihrer Bewohner, die zunächst von der politischen, sozialen und ökonomischen Partizipation weitgehend ausgeschlossen bleiben, Konflikte ausgetragen werden, die vordergründig oft als ethnisch, kulturell oder sprachlich motivierte Auseinandersetzungen wahrgenommen werden. François Ascher plädierte daher für eine „Metapo20 Georg Simmel, Die Großstadt und das Geistesleben, S. 116. 21 Vgl. Richard Reichensperger, Das Zusammenwirken von Hoch- und Populärkultur. Das karikatureske Verfahren als Ursprung der Moderne bei Charles Baudelaire und Johann Nestroy, in: Johannes Feichtinger, Peter Stachel (Hg.): Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2001, S. 11–45. – Vgl. auch David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, RhedaWiedenbrück: Daedalus 1989.
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lis“ der Zukunft22, deren charakteristische Merkmale diese wären, dass ihre Bewohner, um tägliche Konflikte zu vermeiden, rund um die Städte angesiedelt und bloß mithilfe eines Kommunikationsnetzes virtuell miteinander verbunden bleiben. Ich möchte im Folgenden versuchen, diese sehr allgemeine Charakterisierung moderner beziehungsweise postmoderner urbaner Milieus in einem engeren regionalen Kontext zu verdeutlichen, freilich weniger mit einer systematischen Darstellung als vielmehr zunächst mit einigen bruchstückhaften Andeutungen über die spezifischen Konditionen der zentraleuropäischen Region. „Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teilnimmt“, meint Walter Benjamin, „wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zugrunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird.“23
Urbane Milieus in Zentraleuropa Die wirtschaftlichen Transformationen, Modernisierung, Industrialisierung und Technisierung hatten im 19. Jahrhundert auch in Zentraleuropa beziehungsweise in der historischen Donaumonarchie eine vereinheitlichende, im regionalen Zusammenhang eine „globalisierende“ Funktion.24 Freilich bewirkte die akzelerierte Modernisierung große ökonomische, soziale und auch politische Veränderungen, die eine nicht geringe Verunsicherung zur Folge hatten. Die rasche Vermehrung und Ausdifferenzierung von neuen Produktionsweisen beschleunigte auch Prozesse von gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen. Die Zuordnung zu neuen wirtschaftlichen und Dienstleistungssektoren ging für die Betroffenen freilich sehr oft mit einem sozialen Abstieg einher und ließ alte Orientierungsmuster als obsolet erscheinen. Die 22 François Ascher, La République contre la ville, Paris: Éditions de l’Aube 1998. 23 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 595. 24 David F. Good, The Economic Rise of the Habsburg Empire 1740–1914, Berkeley: University Press of California 1984 (= Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, Wien/Graz: Böhlau 1986).
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Gründung moderner Massenparteien, die zum Ziele hatten, anstehende soziale Fragen zu lösen, kann daher auch als eine Re-Aktion auf diese konkrete sozialökonomische Situation angesehen werden. Auch die nationale Ideologie versprach eine neue, gesicherte Existenz innerhalb eines zunehmend demokratischen politischen Systems, eingebettet in einer imaginierten, „konstruierten“ Gemeinschaft, der Nation. Ich will auf diesen Aspekt zunächst nicht näher eingehen.25 Vielmehr möchte ich hier vor allem darauf hinweisen, dass durch die akzelerierte ökonomische Entwicklung und die innergesellschaftliche Ausdifferenzierung auch die individuellen und kollektiven Referenzsysteme komplexer, vielfältiger und beliebiger wurden. Kultur als das Ensemble von Elementen, mittels derer Individuen in einer Gesellschaft verbal und nonverbal kommunizieren,26 wurde zunehmend als inkonsistent erfahren. Inkonsistent auch insofern, als überkommene gesellschaftliche Ordnungsmuster brüchig wurden und ihre Geltung verloren. Während noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Personen sich mit ihrer traditionellen Zuweisung zu bestimmten sozialen Schichten zu identifizieren vermochten, die ihnen als Orientierung, als Rahmung dienten, wurde es aufgrund der wirtschaftlichen Transformationen, die eine zunehmende Durchlässigkeit dieser sozialen Gruppierungen zur Folge hatte, auch für andere möglich, sich in diesen traditionellen Schichten zu etablieren. Das heißt, die Gesellschaft wurde offener. Konkret hieß das, dass beispielsweise die aus der Region in die Stadt Zugewanderten, und nicht zuletzt die Repräsentanten der zweiten Generation, in 25 Vgl. dazu v.a. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1988. – Isaiah Berlin, Der Nationalismus, Frankfurt a. Main: Hain 1990. – Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. Main: Campus 1991. – Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin: Rotbuch 1991. – Ernest Gellner, Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin: Sieder 1999. – Krzysztof Pomian, Europa und seine Nationen, Berlin: Wagenbach 1990. – Vgl. auch: La tyrannie du national. Entretien avec Gérard Noiriel, in: Jean-Claud Ruano-Borbalan (Hg.), L’histoire aujourd’hui, Auxerre: Sciences Humaines Éditions 1999, S. 113–118. 26 Vgl. dazu v.a. die Untersuchungen von Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ³1994, S. 7–43. – Clifford Geertz, Kulturbegriff und Menschenbild, in: Rebekka Habermas, Nils Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin: Wagenbach 1992, S. 56–82.
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Berufs- und Gesellschaftsschichten vorrückten, die bis dahin relativ geschlossen geblieben waren, und dass die „Alteingesessenen“ sich nun plötzlich von sozialen „Aufsteigern“ oder von zugewanderten „Fremden“ umgeben sahen; das war keineswegs beruhigend, es war die Ursache von Krisen und förderte innergesellschaftliche Konflikte. Ernst H. Gombrich ortet in der Tatsache, dass nun zahlreiche zunächst zugewanderte oder zum Teil assimilierte Angehörige des Judentums plötzlich in beruflichen und Arbeitsbereichen, durch Nobilitierungen selbst in alteingesessenen Führungsschichten aufschienen, wie zum Beispiel die Wodianers, Rothschilds, Todescos, Wertheimsteins, Gutmanns oder Gomperz, Bereiche, die ihnen bislang verwehrt geblieben waren, eine der Ursachen einerseits für eine gewisse Orientierungslosigkeit der Juden selbst und andererseits für den zunehmenden Antisemitismus, da sich solche „Eindringlinge“ als Fremde fühlten und man sie auch als „Fremde“, als Juden, klar zu kennzeichnen und sich ihrer zunehmend zu entledigen versuchte. Denn, so Gombrich, „zum Unterschied von einer hierarchischen Gesellschaft, wo jeder wußte, wo er hingehörte und sich damit begnügte, dem Vater im Beruf zu folgen, gab es keine derartigen Einschränkungen im industriellen und kommerziellen Bereich. Im Gegenteil, wenn sich die Neuankömmlinge aus der Armut des Stetls emporgearbeitet hatten, hofften und erwarteten sie, daß es ihre Kinder noch weiter als sie bringen würden. Mit anderen Worten, sie wußten wirklich nicht, wo sie hingehörten und wurden daher von den anderen als opportunistische Emporkömmlinge verschrien, auch wenn sie sich bemühten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“27 Analog zu der Einschätzung von Gombrich, der sich auf die Jahrzehnte um 1900 bezieht, ist auch jene von Stuart Hall in Bezug auf die anscheinende Destabilisierung von Identitäten im Zeitalter der Globalisierung, in dem man die Auflösung von alten sozialen Ordnungsmustern zu orten vermag: Denn die „großen sozialen Kollektivitäten, die unsere Identitäten stabilisiert haben – die großen stabilen Kollektivitäten von Klasse, Rasse, Gender und Nation –, sind in unserer Zeit zutiefst von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unterminiert worden.“28 Freilich stellt sich sogleich die Frage, ob Identitäten in der Ver27 Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung, Wien: Passagen 1997, S. 55–64, Zit. S. 61. 28 Stuart Hall, Ethnizität: Identität und Differenz, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen
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gangenheit tatsächlich so stabil waren, wie wir uns das, angesichts der nachfolgenden großen sozialökonomischen Veränderungen vorstellen. Dennoch scheint die Differenzierung, die Stuart Hall vorschlägt, zunächst einleuchtend. Er unterscheidet zwischen drei Konzepten von Identität: erstens jenem der Aufklärung mit einem festen, konsistenten Subjekt – Identität war etwas Stabiles, das ein Leben lang anhielt –, zweitens einem soziologischen Konzept, das individuelle und kollektive Identität aus einem dauernden Prozess von sozialen und kulturellen Interaktionen erklärt, und drittens dem Konzept der Spätmoderne oder Postmoderne, in der das Individuum von fragmentierten, nach Ernesto Laclau „dislozierten“ und inkohärenten Identifikatoren bestimmt wird. Individuen und Gruppen können daher synchron oder in rascher zeitlicher Abfolge mehrere, unterschiedliche, brüchige Identitäten aufweisen.29
Verlust der Stabilität der Dinge und des Ichs Im Bereich der repräsentativen Kultur, das heißt zum Beispiel in der Literatur, in der Musik, in der Kunst, wurden bereits in der Moderne um 1900 kulturelle Elemente mit unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Symbolen aufgeladen und durch diese Mehrfachcodierung mehrdeutig, zuweilen beliebig. Die „Sprache“ – in einem wörtlichen und übertragenen Sinne – wurde als brüchig empfunden. Friedrich Nietzsches überspitzte Charakterisierung dieser als „décadence“ umschriebenen Befindlichkeit, die eine fast wörtliche Übernahme aus Paul Bourgets „Essai de psychologie contemporaine“ ist, wird immer wieder zur Kennzeichnung dieser als Zerfall empfundenen Situation und ihrer unmittelbaren Folgen im ästhetisch-literarischen Bereich bemüht; sie spielt unter anderem auch bei Robert Musil für die Kennzeichnung der „Eigenschaftslosigkeit“ des Menschen der Moderne eine wichtige Rolle.30 „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence?“ fragt Nietzsche. „Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souUnterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1999, S. 83–98, Zit. S. 87. 29 Stuart Hall, Die Frage der kulturellen Identität, in: Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument ²2000, S. 180–222, insb. S. 181–187. 30 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 607.
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Verlust der stabilität der Dinge und des Ichs
verain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘, moralisch geredet, – zu einer politischen Theorie erweitert ‚gleiche Rechte für Alle‘. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“31 Auch der junge Hugo von Hofmannsthal empfand ähnlich und notierte bereits 1893 in einem seiner ersten Essays und nicht erst im „Chandos-Brief“ von 1902: „Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher.“32 1910 bezog sich der junge Philosoph Georg Lukács im „Nyugat“ („Der Westen“), der renommierten ungarischen Zeitschrift der Moderne, gegen einen solchen Relativismus und Impressionismus: „Mit dem Verlust der Stabilität der Dinge ging auch die Stabilität des Ichs verloren; mit dem Verlust der Fakten gingen auch die Werte verloren. Es blieb nichts außer Stimmungen. In einem einzelnen Menschen und zwischen den Menschen gab es nur Stimmungen von gleichem Rang und gleicher Bedeutung [...]. Jede Eindeutigkeit war aufgehoben, denn da war alles nur subjektiv; die Behauptungen hörten auf, etwas zu bedeuten [...]. In dieser Welt vertrug sich alles mit allem, und es gab nichts, das irgend etwas hätte ausschließen können. [...] Aber je subjektiver und augenblicksbezogener etwas ist, umso problematischer ist seine Mitteilbarkeit. In Wirklichkeit kann nur etwas Gemeinsames mitgeteilt werden, aber diese Kunst wollte um jeden Preis einen Augenblick der Individualität des Künstlers, das Unmitteilbare mitteilen. Alles Eindrucksvolle wurde dadurch zufällig [...]. So ist alles zur Kunst der Oberfläche geworden, 31 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner (1888), in: Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Bd. 6, München: dtv 1980, S. 9–53, Zit. S. 27. Vgl. dazu das Bourget-Zitat, ebd. Bd. 25, S. 405. 32 Hugo von Hofmannsthal, Gabriele D’Annunzio (1893), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I: 1891–1913, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 174–184, Zit. S. 175.
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der Oberfläche, hinter der nichts ist.“33 Wenige Jahre zuvor hatte bereits der ungarische Dichter, Schriftsteller und Publizist Endre Ady, einer der sensibelsten Beobachter der Transformationen der Moderne, diese Situation mit dem Bild einer Krankheit umschrieben: „Ich möchte es jemandem sagen, weinend möchte ich es eingestehen: ich bin ein jämmerlicher, ein kranker Mensch ... Das Lächeln meiner Lippen, die Heiterkeit meines Antlitzes, der leuchtende Stolz meiner Augen sind nichts als eine kümmerliche Verstellung, als eine trügerische Maskerade ... Ich bin krank, sehr krank, vielleicht tut mir mein Herz nur weh, vielleicht – ist mein Herz tot ... “34 Etwas später notierte Ady: „Dies ist die Krankheit des modernen Nervenmenschen, wer weiß es von sich, dass er krank ist. Nur Fieber, nervöses Leben braucht er. Dies ist sein Glaubensbekenntnis.“35 Es sind dies insgesamt Benennungen jener Krisensymptome von Fragmentiertheit, von Orientierungslosigkeit, von einer Dezentrierung des Ichs, im Robert Musil’schen Sinne von „Eigenschaftslosigkeit“, die sich unter anderem einer modernisierungsbedingten, prozesshaften inneren, vertikalen Differenziertheit der Gesellschaft verdankten und zu bestimmenden Kriterien der Moderne wurden. Die vertikale Differenziertheit der Gesellschaft bezeichnet die sozialen Schichten und Gruppen, die eine Gesellschaft aufweist; sie markiert im Kontext meiner Überlegungen vor allem die zunehmende gesellschaftliche Durchlässigkeit und bezieht sich im Konkreten auf die beschleunigte Ausdifferenzierung traditionaler gesellschaftlicher Formationen in zahlreiche synchrone, neue soziale Schichten und Gruppen: „Das ist der Menschenschlag“, meint Musil, „den die Gegenwart hervorgebracht hat.“ Um, fast in Anlehnung an Nietzsche, fortzufahren: „Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge haben das Menschenherz geteilt.“36 Doch nicht erst in der Moderne um 1900, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Vormärz, begannen diese Krisensymptome infolge der 33 Georg (György) Lukács, Die Wege gingen auseinander, in: Aranka Ugrin, Kálmán Vargha (Hg.), „Nyugat“ und sein Kreis 1908–1941, Leipzig: Reclam 1989, S. 64–70, Zit. S. 66. 34 Ady Endre, Betegen (Krank), in: Ady Endre, Publicisztikai írásai (Publizistische Schriften), hg. Erzsébet Vezér, Budapest: Szépirodalmi 1987, S. 5–6 (31. 10. 1898). 35 Ady Endre, A hétről (Die Woche), in: Ady Endre, Publicisztikai írásai, S. 158 (22. 3. 1903). 36 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 64, 66.
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sozioökonomischen Transformationen aufzubrechen beziehungsweise sichtbar zu werden und trugen zu einer allgemeinen Verunsicherung, zu einer „Zerrissenheit“ bei, die, ähnlich wie später bei Endre Ady, als eine Krankheit diagnostiziert wird. „Die Zerrissenheit“, meinte der böhmische Schriftsteller Alfred Meißner, Enkel des bekannten Prager Ästhetikprofessors August Gottlieb Meißner, in einem Schreiben an Moritz Hartmann, „ist nichts Erheucheltes. Zerrissenheit ist die Krankheit unserer Zeit. Wir sind zerrissen im Glauben, im Dichten, in der Philosophie, in der Moral. Die alte Welteinheit des Altertums und des Mittelalters ist hin. Wir wissen, daß Freiheit kommen muß, und wir sind gefeßelt und werden wie Schuljungen gehalten, das schmerzt, das zerreißt [...]. Wir schweben zwischen Erde und Himmel, wir wissen nicht woran wir glauben sollen, der Spalt zwischen Religion und Philosophie ist gar zu groß, das zerreißt. Das Christenthum fordert Enthaltsamkeit, das Fleisch braust und fordert egoistische Befriedigung, das zerreißt auch. Genug Risse für den Menschen des 19. Jahrhunderts.“37 Diese Krisensymptome waren von gesamteuropäischer Relevanz und dominierten im Verlaufe des Jahrhunderts zunehmend das Denken, die Literatur oder die Kunst, vor allem der Jahrhundertwende um 1900. Sie umschrieben eine Krise des Subjekts, eine Krise von subjektbezogenen Identitäten, wie sie etwa von Karl Marx’ Erkenntnis, der Mensch als Individuum sei nicht das bestimmende Subjekt der Geschichte, von Sigmund Freuds Analyse des Unbewussten, wonach Identität von „außen“ mitbestimmt wäre oder von Ferdinand de Saussures Sprachtheorie, die die Bedeutungen, die wir in Sprechakten auszudrücken versuchen, bereits als vorausbestimmt annimmt.
Delegitimationen und Wiener Moderne Warum aber wurden diese Krisensymptome, wie der französische Philosoph der Postmoderne Jean-François Lyotard in seinem zum Kultbuch avancierten „La Condition postmoderne“ („Das postmoderne Wissen“) meinte, zum Beispiel in Wien um 1900 deutlicher wahrgenommen und reflektiert als an37 Brief Alfred Meißners an Moritz Hartmann (24. 8. 1839), in: Otto Wittner (Hg.), Briefe aus dem Vormärz. Eine Sammlung aus dem Nachlaß Moritz Hartmanns, Prag: Calve 1911, S. 20 (= Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen, Mähren und Schlesien, Bd. 30).
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derswo, so dass man hier zu einer ganz bewussten Delegitimierung von traditionalen Ordnungsmustern, das heißt zur bewussten Infragestellung alter Identifikatoren kommen konnte? Die „großen Erzählungen“ (grands récits), das heißt holistische Konzepte, mit deren Hilfe individuelle und kollektive Legitimierungen, die Konstruktion von Identitäten, stattgefunden hätten oder stattfinden sollten, wären zu Ende und hätten keine Valenz mehr: „Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung“, stellt Lyotard lapidar fest, „ist für den Großteil der Menschen selbst verloren.“38 An ihre Stelle wären eine Vielzahl von sich konkurrenzierenden Erzählungen, das heißt Delegitimierungen von alten Wertemustern, und die immer wieder neu zu leistende Konstituierung von wechselnden Referenzbezügen getreten, die nun zu variablen Ordnungsmustern avancierten. Auch der kulturelle Globalisierungsdiskurs gründet auf dieser Erkenntnis und hat die Einsicht über die Postmoderne noch vertieft. „In dem Maß, wie die Vorstellung zeitlicher Homogenität unplausibel geworden ist“, meint Roland Robertson, „hat sich andererseits auch der Glaube an einen einheitlichen ‚Repräsentations‘-Raum, in den alle Arten von Erzählungen eingepaßt werden können, überlebt.“39 In einem seiner Werke hat Richard Sennett solche Überlegungen aufgegriffen und gemeint, dass eine der Folgen dieser in der Tat heute objektiv wahrnehmbaren Instabilität das Entstehen von und die Forderung nach subjektiver Flexibilität wäre. 40 Der französische Soziologe Marcel Gauchet sprach gar davon, dass anstelle von Identifikationen heute zunehmend Desindentifikationen („désidentification“) von alten Identifikatoren und Desidealisationen („désidéalisation“) von gewohnten Wertemustern gefordert wären.41 Freilich folge daraus nicht ein Chaos, eine Barbarei, denen die Menschen ausgeliefert wären, vielmehr entstünden nun, wie Lyotard meinte, vielfältige neue Legitimationsweisen „durch die sprachliche Praxis und ihre kommunikationelle Interaktion“. 38 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen 1986, S. 122. 39 Roland Robertson, Globalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192–220, Zit. S. 204. 40 Richard Senett, The Corrosion of Character, New York: W. W. Norton 1998 (= Der fle xible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Verlag 1998). 41 Marcel Gauchet, Essai de psychologie contemporaine I. Un nouvel âge de la personnalité. II. L’inconscient en rédéfinition, in: Le débat 99 (mars-avril 1998), 100 (mai-août 1998) S. 164–181, S. 189–206.
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Nach Lyotards Meinung ist jedoch die Erfahrung von Delegitimierung nicht erst ein Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, nämlich der Postmoderne, die Erfahrung von Delegitimierung hätte man vielmehr bereits zur Zeit der Jahrhundertwende gemacht, vor allem im Wien – in Zentraleuropa – der Jahrzehnte um 1900. Freilich wäre man damals mit dieser Situation noch nicht zurechtgekommen, was jenem Pessimismus und jener Trauerarbeit („travail de deuil“) Vorschub geleistet hätte, „der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hat: die Künstler Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, aber auch die Philosophen Mach und Wittgenstein. Sie haben ohne Zweifel das Bewusstsein wie die theoretische und künstlerische Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich ausgedehnt.“ Wittgenstein hätte dann „in seiner Untersuchung der Sprachspiele die Perspektive einer anderen Art von Legitimierung als die der Performativität“, oder vermutlich besser: „einer anderen Art von Legitimierung als Performativität“ (d’une autre sorte de légitimation que la performativité) entworfen: „Mit ihr hat die postmoderne Welt zu tun.“42 Ist dieser Bezug auf Wien um 1900, den Lyotard hier nahelegt, richtig und wenn ja, wie lässt er sich erklären? Lässt er sich vielleicht, so meine Hypothese, aus einem übergreifenden sozial-kulturellen und historischen Kontext begreifen und in einen solchen einordnen? Spiegeln sich im Mikrokosmos Wiens nicht nur Symptome von Prozessen der Modernisierung, sondern zugleich der Makrokosmos der zentraleuropäischen Region? Nicht nur die Modernisierung, deren Folge unter anderem die Infragestellung von traditionellen sozialen Stabilitäten war, nicht nur die seit der Mitte des 19. Jahrhun42 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 121–122. – Die französische Originalausgabe: Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris: Les Éditions de Minuit 1979, S. 68: „Ce pessimisme est celui qui a nourri la génération début-de-siècle à Vienne: les artistes, Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, mais aussi les philosophes Mach et Wittgenstein. Ils ont sans doute porté aussi loin que possible la conscience et la responsabilité théorique et artistique de la déligitimation. On peut dire aujourd’hui que ce travail de deuil a été accompli. Il n’est pas à recommencer. Ce fut la force de Wittgenstein de ne pas en sortir du côté du positivisme que développait le Cercle de Vienne et de tracer dans son investigation des jeux de langage la perspective d’une autre sorte de légitimation que la performativité. C’est avec elle que le monde postmoderne a affaire. La nostalgie du récit perdu est elle-même perdue pour la plupart des gens.“
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derts begonnene räumliche Erweiterung durch die sukzessive Eingemeindung der Vororte und die radikale topographische und architektonische Umgestaltung des urbanen Stadtbildes, die eine Sehnsucht nach einem „Alt-Wien“ wachrief,43 in dem, wie man meinte, Halt und Sicherheit noch vorhanden gewesen wären, vor allem die großen demographischen Veränderungen, das heißt insbesondere die Präsenz von sprachlich-kulturellen Heterogenitäten im Wiener urbanen Milieu, die sich der massenhaften Zuwanderung von Personen aus der zentraleuropäischen Region verdankten, die von einer traditionalen sprachlich-kulturellen horizontalen Differenziertheit, das heißt von nebeneinander existierenden kulturellen Konfigurationen, von zahlreichen „kleinen Kulturen“ geprägt war, trug zu einer Potenzierung von Verunsicherungen bei und führte zur Infragestellung von überkommenen Orientierungsmustern. Um eine solche Hypothese zu verifizieren, ist es notwendig, zunächst einen Blick auf den Makrokosmos, auf Zentraleuropa zu richten, in dem die Mikrokosmen der urbanen Milieus, eben auch Städte wie Wien, Prag oder Budapest, aufgehoben waren. Zentraleuropa war die Matrix, auf der sich diese Städte verteilten und aus der sie sich speisten.
43 Sándor Békési, Die Erfindung von „Alt-Wien“ oder: Stadterzählungen zwischen Pro- und Retrospektive, in: Monika Sommer, Heidemarie Uhl (Hg.), Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identitäten, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2009, S. 45–67.
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II. Zentraleuropa: Pluralitäten und Differenzen
Meine Überlegungen über Zentraleuropa konzentrieren sich sowohl auf eine Begriffs- als auch auf eine inhaltliche Klärung. Es stellt sich dabei zunächst die Frage nach der Bezeichnung der Region: Soll man sie Mitteleuropa oder Zentraleuropa nennen? Ich selbst habe mich schon seit längerer Zeit für die Bezeichnung Zentraleuropa entschieden. Freilich scheint Zentraleuropa auf den ersten Blick nur ein Synonym für Mitteleuropa zu sein, es sind zwei unterschiedliche Benennungen, die anscheinend auf ein und denselben europäischen Raum, auf ein und denselben inhaltlichen Kontext abzielen. Ist daher eine bewusste Unterscheidung zwischen Zentral- und Mitteleuropa überhaupt angebracht und warum sollte man einer dieser Bezeichnungen den Vorzug geben? Um konkreter zu werden: Warum vermeide ich die Bezeichnung Mitteleuropa und gebe jener von Zentraleuropa den Vorzug? Zugegebenermaßen ist die Unterscheidung zwischen Mittel- und Zentraleuropa und eine Gegenüberstellung dieser beiden Bezeichnungen nur im deutschen Sprachgebrauch sinnvoll. In anderen Sprachen ist eine solche Unterscheidung nicht nur wenig verständlich, sondern zum Teil auch nicht möglich, weil es für das Bezeichnete, für Mittel- beziehungsweise Zentraleuropa im Prinzip nur ein Wort gibt. Das ungarische „Középeurópa“ oder das tschechische „Střední Evropa“ ist eindeutig und lässt kaum analoge Wortvarianten zu, während zum Beispiel im Französischen statt des gebräuchlichen „L’Europe centrale“ das deutsche Wort „Mitteleuropa“ nur dann wörtlich und unübersetzt aus dem Deutschen übernommen wird, wenn mit Mitteleuropa bestimmte, ganz konkrete inhaltliche Zusammenhänge, bestimmte historisch-politische Entwicklungslinien angedeutet werden sollen, die dem deutschen Begriff Mitteleuropa eingeschrieben sind. Jacques Le Rider hat daher im Titel seiner kritischen Monografie über Mitteleuropa statt „L’Europe centrale“ wohl ganz bewusst die deutsche Bezeichnung „La Mitteleuropa“ beibehalten und nicht ins Französische übersetzt.1 1 Jacques Le Rider, La Mitteleuropa, Paris: PUF 1994 (Que sais-je? 2846) (= Jacques Le Rider, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1994).
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
Mitteleuropa – ein politisch belasteter Begriff? Die Einteilung Europas in Regionen, die Zuordnung von Ländern und Gesellschaften zu den einzelnen Regionen und vor allem die in verschiedenen historischen Epochen unterschiedlichen Zuweisungen spiegeln ein „Mental Mapping“ wider, das bestimmten gesellschaftlich-politischen Konstellationen entspricht.2 Es handelt sich dabei zuweilen um nichts anderes als um die Implementierung eines kollektiven Gedächtnisses, aufgrund dessen ein Land einmal dieser, das andere Mal einer anderen Region zugeordnet wird. So wurden im 20. Jahrhundert infolge der politischen Aufteilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg jene Länder, die der östlichen sowjetischen oder „sozialistischen“ Machthemisphäre zugeordnet wurden, pauschal als Osteuropa bezeichnet. Nicht nur in der politischen oder ökonomischen Alltagssprache hat sich diese regionale Verortung eingebürgert, auch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen folgten diesem neuen Ordnungsmuster, das eben auch einer politischen und gelegentlich einer weltanschaulichen Wertung entsprach. Bekannte wissenschaftliche Forschungsstellen, wie zum Beispiel das Österreichische Ost- und Südosteuropainstitut in Wien, übernahmen ein solches „Mapping“ und prolongierten es sogar noch bis ins beginnende 21. Jahrhundert. Das hat freilich schon vor 1989 in den betroffenen sogenannten „Ostländern“ zu manchen Irritationen geführt, da sie sich nicht dem Osten zugehörig fühlten. Die westlich dieser östlichen Hemisphäre gelegenen Länder wurden selbstverständlich Westeuropa zugerechnet und galten pauschal als der Westen. Insbesondere betraf dies auch die Bundesrepublik Deutschland, eines der Gründungsmitglieder der EU; die Einwohner der Bundesrepublik fühlten sich entschieden als Westeuropäer. Die binäre Opposition Europas in Ost und West, die auch in die Wissenschaftssprache Eingang gefunden hatte, war also weniger von geografischen als von politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Vorgaben, wenn nicht Voreingenommenheiten geprägt. Ähnliche soziale und politische Vorgaben sind auch mit der Geschichte, der historischen Verwendung des Begriffs und mit der Zuweisung von Ländern zu 2 Vgl. die unter Geografen geführte Diskussion über Mitteleuropa in: Hans-Dieter Schultz, Deutschlands ‚natürliche‘ Grenzen. ‚Mittellage‘ und ‚Mitteleuropa‘ in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Politische Sozialgeschichte 1867–1945. Geschichte und Gesellschaft 15 (1989) S. 248–281.
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mitteleuropa – ein politisch belasteter begriff
Mitteleuropa verbunden. Wenn ich für die Bezeichnung Zentraleuropa statt Mitteleuropa plädiere, lasse ich mich freilich unter anderem von Überlegungen leiten, die vor allem mit der historischen und politischen Genealogie des Begriffs Mitteleuropa etwas zu tun haben. Erstens: Mitteleuropa als Bezeichnung für jene Region, die zum Beispiel nicht nur die Länder der ehemaligen Donaumonarchie, sondern auch ganz Deutschland mit einschließt, scheint mir nicht zuletzt deshalb problematisch, weil der Begriff in der Vergangenheit, wie bereits angedeutet, nicht nur bestimmte politische Absichten und Zielvorstellungen transportiert hat, sondern mehrfach auch ganz bewusst politisch instrumentalisiert worden war. Auf diesen Umstand hat in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Bezeichnung Mitteleuropa erneut in Mode kam, der französische Historiker Joseph Rovan mehrfach hingewiesen und folglich vor einer „unschuldigen“ Verwendung dieses Begriffs gewarnt: „Von Frankreich aus gesehen ist Mitteleuropa weder ein geografischer noch ein historischer, sondern ein politischer Begriff, der allerdings seine Geschichte hat. Nicht die historischen Zusammengehörigkeitsreminiszenzen von Ungarn und Polen sind problematisch, sondern die im Wilhelminischen Deutschland entstandene imperialistische Blickrichtung des Konzepts […]. Man kann sich nur darüber wundern, wie wenig Gespür für solche doch wohl mehr als natürlichen Reaktionen diejenigen aufbringen, die in jüngster Zeit vor allem auch in der Bundesrepublik den Begriff ‚Mitteleuropa‘ mit politischen Absichten aus den Abgründen der Geschichte wieder hervorgeholt haben.“3 Politisch eindeutig konnotiert ist der Begriff vor allem deshalb, weil mit ihm seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die ökonomische, politische oder kultu3 Joseph Rovan, Mitteleuropa gegen Europa, in: Sven Papke, Werner Weidenfeld (Hg.), Traumland Mitteleuropa. Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse, Darmstadt: Wissenschaftiche Buchgesellschaft 1988, S. 1–14, Zit. S. 1, 3. – Vgl. auch Andreas Pribersky, Europa und Mitteleuropa? Eine Umschreibung Österreichs, Wien: Sonderzahl 1991. – Ferner sei verwiesen auf einen profunden Beitrag, der zwar im Wesentlichen die Diskussion der ausgehenden Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts widerspiegelt, in seiner überarbeiteten Fassung jedoch auch spätere Positionen mit einbezieht: Rudolf Jaworski, Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in: Eckhard Hübner, Mathias Niendorf, Hans-Christian Petersen (Hg.), Ostmitteleuropa im Fokus. Ausgewählte Aufsätze von Rudolf Jaworski, Osnabrück: fibre 2009, S. 97–115.
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relle Vormachtstellung der Deutschen beziehungsweise des Deutschen Reiches in einem bestimmten Teil Europas zum Ausdruck gebracht wurde. Nach 1848 hatte zwar der österreichische Finanzminister Karl Ludwig Freiherr von Bruck gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Felix Fürst Schwarzenberg gegenüber einem drohenden Führungsanspruch Preußens und gegenüber dem „Germanismus der Paulskirchengeneration“ einen „mitteleuropäischen“ Zollverein der Deutschen und der Donauländer gefordert, in welchem die österreichische Monarchie, als Bindeglied zwischen dem Deutschen Bund und den östlichen Ländern der Monarchie, die Führung übernehmen sollte.4 Demgegenüber setzte sich beispielsweise der 1904 in Berlin gegründete „Mitteleuropäische Wirtschaftsverein“ zum Ziel, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn wirtschaftlich zusammenzuschließen, nun jedoch ganz offenkundig unter reichsdeutscher Führung. Damit wurde Mitteleuropa, wie der Historiker Arnold Suppan feststellt, „zu einer wohlkonturierten Funktion in der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik […]. Mit dem Begriff ‚Mitteleuropa‘ verband sich somit ein erstrangiges Ziel der deutschen Expansionspolitik.“5 Hinter einem solchen Konzept verbarg sich unausgesprochen ein nationales Machstreben: Das wilhelminische Deutschland und Österreich-Ungarn verfügten über politische Territorien, die, denkt man nur an das geteilte Polen, weit in den Osten hineinreichten. Die Mitteleuropakonzeption zielte somit auch auf diese östlichen Interessengebiete der beiden „deutschen“ Monarchien. Friedrich Naumanns während des Ersten Weltkriegs publiziertes, viel beachtetes Buch „Mitteleuropa“ (1915)6 konnte sich bereits auf diese Tradition stützen und versuchte die Kriegsziele des mit Österreich-Ungarn verbündeten Deutschen Reiches zu umschreiben, das 4 Gérard F. Bauer, Le Pluralisme économique de l’Empire: Quelques aspects décisifs, in: Miklós Molnár, André Reszler (Hg.), Le Génie de l’Autriche-Hongrie, Paris: PUF 1989, S. 99–112. – Werner Drobesch, Die ökonomischen Aspekte der Bruck-Schwarzenbergschen „Mitteleuropa“-Idee. Eine wirtschaftlich-politische Vision im Spiegel der Wirtschaftsdaten, in: Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Anna M. Drabek (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Wien: ÖAW 1997, S. 19–42. 5 Arnold Suppan, Der Begriff „Mitteleuropa“ im Kontext der geopolitischen Veränderungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 132 (1990) S. 192–213, Zit. S. 199. 6 Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin: Georg Reimer 1915.
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heißt zumindest die deutsche wirtschaftliche Vormachtstellung in einem „Großstaat“, der die „mitteleuropäischen“ Länder umfassen würde, inklusive jener östlich von Deutschland, zu rechtfertigen. Lapidar hielt Naumann fest: „Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen, muß aber vom ersten Tage an Nachgiebigkeit und Biegsamkeit gegenüber allen mitbeteiligten Nachbarsprachen zeigen, weil nur so die große Harmonie emporwachsen kann, die für einen allseitig umkämpften und umdrängten Großstaat nötig ist.“7 Mitteleuropa, das „in erster Linie durch preußische Siege“ entstanden wäre8 und in Zukunft ein übernationaler „Militärstaat“ sein würde: „Auch er muß über die Landesgrenzen der Nationalstaaten hinausgehen und muß die Schützengrabengemeinschaft umfassen.“9 Während Vertreter der linksorientierten, radikal-demokratischen Ungarischen Soziologischen Gesellschaft, unter anderem Oszkár Jászi, dem Naumann’schen Mitteleuropa-Konzept zunächst einiges abgewinnen konnten, sprach sich der namhafte Vertreter der Moderne in Ungarn, der kritische Essayist, Schriftsteller und Dichter Endre Ady, der sich auf der Seite der politisch Radikalen befand, entschieden dagegen aus; Mitteleuropa wäre nicht Deutschland, sondern unter anderem beispielsweise ein gerade von Deutschland unabhängiges Ungarn mit einer eher nach dem Osten – Ady nennt symbolisch „Byzanz“ – ausgerichteten Orientierung: „Ich liebe geistreiche Schriftsteller“, meinte Ady in Bezug auf Naumann zu Beginn des Jahres 1916, „aber mehr noch liebe ich die tatsächlich vorhandene Realität […]. Die finanzkräftigen Ökonomen und geistreichen Menschen mögen daher endlich aufhören mit diesen hundertfachen Mitteleuropaplänen.“10 Auch Tomáš G. Masaryk hatte verständlicherweise einem solchen Konzept in seiner 1918 publizierten „Nová Evropa“ aus einer politischen Sicht heftig widersprochen und dem Naumann’schen „Pangermanismus“, der martialischen deutschen Vorherrschaft in der Mitte Europas, eine klare Absage erteilt.11 7 8 9 10
Friedrich Naumann, Mitteleuropa, S. 101. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, S. 57. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, S. 254. Ady Endre, Ellenségekkel egy szándékon (Mit Widersachern über das eine Vorhaben), in: Ady Endre, Publicisztikai írásai (Publizistische Schriften), hg. Erzsébet Vezér, Budapest: Szépirodalmi 1987, S. 898. 11 Vgl. Rudolf Jaworski, Tomáš G. Masaryk versus Friedrich Naumann. Zwei Europavisionen im Ersten Weltkrieg, in: Zdeněk Pousta, Pavel Seifter, Jiři Pešek (Hg.), Occur-
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Masaryk ging es auch in der von ihm in Washington initiierten „Democratic Mid-European Union“ um die demokratische Umstrukturierung der nichtdeutschen Nationalitäten der Monarchie und „um die Schaffung einer politisch fundierten Kultursynthese“.12 In Washington hatten daher Vertreter tschechischer, polnischer, litauischer, ruthenischer und südslawischer Organisationen zu einer „Demokratischen Union Mitteleuropas“ aufgerufen, unter anderem auch der spätere polnische Ministerpräsident Ignacy Paderewski. Mit einem dem Naumann’schen entlehnten Mitteleuropakonzept versuchte wenige Jahre später auch der Nationalsozialismus seine Expansionsbeziehungsweise Lebensraumpolitik vor und während des Zweiten Weltkriegs zu legitimieren. Die wichtigsten Vertreter der deutschen Geopolitik, Albrecht und Karl Haushofer, unternahmen es, eine solche Sicht auch wissenschaftlich zu untermauern. Für Albrecht Haushofer stand nach einer „eingehenden Analyse der geopolitischen Verhältnisse in Mitteleuropa“ fest, „daß ‚Mitteleuropa mit dem deutschen Volk gebaut […] oder nicht gebaut‘ würde, schließlich habe von allen Völkern, die den innereuropäischen Raum bewohnen, nur das deutsche jene Weite des Siedlungsraumes, ob geschlossen oder unter anderen Völkern verstreut, die zur einheitlichen Erfassung des ganzen Gebietes zwischen Nordsee und Adria, Ostsee und Pontikum zwinge“.13 Gemäßigter, auf die alte Reichsidee, den Deutschen Bund und den Zweibund von 1879 erinnernd, doch in einer ähnlichen Tonlage forderte der großdeutsch gesinnte Wiener Historiker Heinrich von Srbik, der 1938 bis 1945 Mitglied des Großdeutschen Reichstages war, in einer Rede im Jahre 1937 einen Zusammenschluss aller Deutschen in der Mitte Europas, indem er vor allem deren kolonisatorische Aufgaben im ökonomischen wie im kulturellen Bereich in den östlich gelegenen slawischen Gebieten hervorhob. Im Ersten Weltkrieg, so die Argumentation Srbiks ein Jahr vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, wäre „Mitteleuropa zur wirklichen seelischen, politischen und militärischen Einheit geworden […]. Die Not hat das deutsche Volk zusammengeschweißt, es hat angefangen, sich als Einheit zu begreifen und sus – Serkáné – Begegnung. Sborník ku počtě 65. narozenin prof. Jana Klena, Praha: Carolinum 1996, S. 123–134. 12 Rudolf Jaworski, Tomáš G. Masaryk versus Friedrich Naumann, S. 131. 13 Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne europäischer Neuordnung (1918–1945), Stuttgart: Franz Steiner 1999, S. 163.
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deutsche Volkspflicht mit staatlicher Pflicht zu vereinen […].“ Srbik plädiert für ein starkes, gemeinsames deutsches Volkstum jenseits von Staaten, dem eine wichtige politische Sendung und Führungsrolle zukäme: „Vom deutschen Gesamtvolke aus muß das Gestaltungsprinzip für die durch Schicksalsgemeinschaft verbundene gesamte Erdteilmitte ausgehen, die bisher volklich unvollendet war und in ihrem Osten heute unvollendeter ist denn je. Dann mag sich an die deutsche Lebensgemeinschaft des Reichs und Österreichs eine lose politische Gemeinschaft ostmitteleuropäischer Staaten angliedern, deren Deutsche eine Bluts- und Herzensgemeinschaft mit dem staatlich getrennten Hauptkörper ihres Volkes bilden. Es wäre die Auflösung des ewigen mitteleuropäischen Streits zwischen Raum und Volk, Staat und Natur, Wirklichkeit und Idee, Macht und Geist; es wäre ein in sich selbst beruhendes und befriedetes Mitteleuropa, die Erfüllung eines ewigen deutschen Traumes und eine große Bürgschaft für den alten Erdteil und die Welt.“14 Hält man sich all diese Argumente vor Augen, wird klar, ein wie eindeutig historisch, politisch und ideologisch belasteter Begriff Mitteleuropa geworden ist. „Hitlers Drittes Reich“, meint John Neubauer, „war eine Travestie, ja eine Inversion des Mitteleuropa-Gedankens.“15 Wer angesichts einer solchen historischen Genealogie des Begriffs Mitteleuropa unhinterfragt in den Mund nimmt, muss gewärtig sein, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, warum sie/ er gerade diesen und statt seiner nicht einen anderen, eben einen weniger belasteten Begriff verwendet. Zweitens: Trotz eines solchen politisch, wirtschaftsexpansionistisch und national aufgeladenen Mitteleuropakonzepts bedienten sich während der letzten Kriegsjahre und unmittelbar nach 1918 freilich auch Intellektuelle der Länder der ehemaligen Donaumonarchie des Mitteleuropabegriffs, vermutlich mangels des noch nicht eingebürgerten Begriffs Zentraleuropa. Die unter der Federführung des Historikers und Journalisten Heinrich Friedjung 1915 verfasste „Denkschrift aus Deutsch-Österreich“ trat zwar, ähnlich wie Naumann, für einen Ausbau einer engen wirtschaftlichen Kooperation mit 14 Heinrich von Srbik, Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte, Weimar: Böhlau 1937, S. 37, 39. 15 John Neubauer, Ist Mitteleuropa noch zu retten? Zur Geschichte und Aktualität des Begriffes, in: Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen/Basel: A. Francke 2002, S. 309–321, Zit. S. 313.
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dem Deutschen Reich und den angrenzenden Ländern ein, darüber hinaus jedoch auch für die Festigung der Position Österreichs nach dem Krieg. Friedjungs Schrift war von einem slawenfeindlichen Akzent durchzogen und plädierte für die Führungsposition der Deutschen in Mitteleuropa und in der Monarchie: „Es sei Österreichs Bestimmung, ein Nationalitätenstaat unter deutschösterreichischer Führung zu werden.“ Friedjung hatte sich bereits 1910 in einem Aufsatz mit den „Mitteleuropäischen Zollunionsplänen 1849– 1853“ auseinandergesetzt. Seine Ideen fanden während der Kriegsjahre vor allem unter zahlreichen Intellektuellen, die auch mit Naumann in Verbindung gestanden waren, regen Zuspruch.16 Nach 1918 bezogen sich die vagen Mitteleuropa-Vorstellungen Hermann Bahrs, Robert Musils oder Stefan Zweigs, nun unter völlig veränderten politischen Umständen und unter vornehmlich kulturellen Aspekten, explizit auf die Länder jener Region Europas, die zuvor der Monarchie angehört hatten, das heißt auf die sogenannten „Nachfolgestaaten“, zunächst unter bewusstem Ausschluss von Deutschland. Hugo von Hofmannsthal hatte schon während der letzten Kriegsjahre ein solches Mitteluropa als eine „österreichische Idee“ beschworen, die beispielgebend für eine Neuorganisation Europas sein könnte, inhaltlich angereichert mit dem Erbe der Monarchie und dem Erbe des alten Heiligen Römischen Reiches; nach dem Krieg sollte dann Hofmannsthal einerseits zunehmend der apolitischen Fiktion eines gemeinsamen „deutschen Kulturraums“ erliegen, andererseits sich intensiv für den Europa-Gedanken einsetzen. Die „österreichische Idee“ Hofmannsthals diente zunächst als ein vergeblicher intellektueller Versuch, die Monarchie zu retten und ihr eine Mittlerfunktion in Europa zuzuweisen: „Das Europa, das sich neu formen will“, schrieb Hofmannsthal 1917, „bedarf eines Österreich […] es bedarf seiner, um den polymorphen Osten zu fassen. Mitteleuropa ist ein Begriff der Praxis und des Tages, aber in der höchsten Sphäre, für Europa […].“17 Im Gegensatz zu 16 Günther Ramhardter, Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914–1918, Wien: Geschichte und Politik 1973, S. 20–23, 73–99, 171–195. Zit. S. 81. 17 Hugo von Hofmannsthal, Die österreichische Idee (1917), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II, 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 454–458, v.a. S. 457–458. – Vgl. dazu auch Markus Erwin Haider, Im Streit um die österreichische Nation. Nationale Leitwörter in Österreich 1866–1938, Wien u.a.: Böhlau 1998, S. 170–179.
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den Vorstellungen Friedjungs, dem ein deutsch dominiertes Österreich und Mitteleuropa vorschwebte, sollte nach den Überlegungen Hofmannsthals nun den Slawen, insbesondere den Tschechen, eine führende Rolle zukommen. Doch umsonst warb Hofmannsthal bei seinen tschechischen Freunden um Unterstützung seiner „Österreichischen Bibliothek“, die die Gleichwertigkeit aller Sprachen, Literaturen und Kulturen innerhalb der Monarchie und der Region betonen wollte. Ihre politische Unerfahrenheit und der realitätsferne Charakter eines solchen Unterfangens wurden Bahr und Hofmannsthal erst etwas später klar, vor allem in Gesprächen mit tschechischen Freunden, die sich bereits für eine nationalpolitische Emanzipation aussprachen, unter anderem mit dem Prager Regisseur und Schriftsteller Jaroslav Kvapil.18 Abgesehen von solchen Initiativen Hermann Bahrs und Hugo von Hofmannsthals, die die tatsächliche politische Lage völlig missverstanden und durchaus retrospektiv, kulturkonservativ agierten, gab es nach 1918 auch Überlegungen, unter der Bezeichnung Mitteleuropa ehemalige Länder der Monarchie und die angrenzenden östlichen Staaten in einer lockeren Wirtschaftsföderation zu vereinen. Der Wiener Unternehmer Julius Meinl machte Mitte der Zwanzigerjahre den Vorschlag zu einer „mitteleuropäischen Friedensbewegung“, zu der er Politiker aus Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Deutschland, Großbritannien und Frankreich einlud. Eine konkrete Folge solcher Initiativen war unter anderem die „Mitteleuropäische Wirtschaftstagung“ in Wien im September 1925, die die Aufhebung der Schutzzölle beziehungsweise des Wirtschaftsprotektionismus und die Schaffung einer mitteleuropäischen Zollunion ins Auge fasste, ähnlich wie sie zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie bestanden hatte, nach dem Krieg jedoch in sieben Teile zerfallen war. Der Ungar Elemér Hantos sprach sich aus ähnlichen Überlegungen für die Errichtung einer Föderation der Donauländer aus, welcher, unter bewusstem Ausschluss Deutschlands, Österreich, Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien angehören sollten. Verschiedene in diesen Ländern seit 1925 ins Leben gerufene „Mitteleuropainstitute“ (zum Beispiel in Wien, Brünn/Brno oder 18 Martin Stern, Hofmannsthal und das Ende der Donaumonarchie, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 709– 727.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
Budapest) spiegelten ebenso die Ambitionen dieser Initiative wider wie das von Hantos 1928 verfasste Werk „Europäischer Zollverein und mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft“.19 Diese Initiativen, die im Vergleich zu manchen politischen Perspektiven der Alliierten, zum Beispiel des Tardieu-Plans, von Intellektuellen dieser Region entwickelt wurden, hatten eine lockere ökonomische Föderalisierung der Region von der Schweiz bis nach Bulgarien, mit den Kernländern Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn, zum Ziel. „Such conception was aimed partly at a narrow conception of Central Europe“, meint der Brünner Historiker Vladimír Goněc, „in configuration Czechoslovakia + Austria + Hungary, as an outright to the reverting scheme of Mitteleuropa as German-dominated Central Europe and to some innovated German concepts defining Central Europe in configuration Germany + Czechoslovakia + Austria. That is why against German term Mitteleuropa soon a new neology Donaueuropa, that is Danubian Europe, l’Europe danubienne, etc. started to be used.“20 Vergleicht man diese Mitteleuropavarianten mit dem erwähnten deutschen Mitteleuropakonzept, handelte es sich um zwei durchaus unterschiedliche, zuweilen gegenläufige Entwürfe: Ein „großdeutsches“ und ein „österreichisches“ oder kurz darauf ein „donauländisches“ Mitteleuropa, wobei dem ersten ein hegemoniales politisches Programm zugrunde lag, das geopolitisch, ökonomisch und kulturimperialistisch konnotiert war oder, um mich vor19 ������������������������������������������������������������������������������� Elemér Hantos (1881–1942) ist auch der Verfasser eines Werkes über den Geldverkehr in Mitteleuropa: „A pénz problémája Középeurópában“ (Budapest 1925), und einer Abhandlung über Mitteleuropa „L’Europe Centrale“ (Paris 1932). Vgl. Reinhard Frommel, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925–1933, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1977 (= Schriftenreihe der Vierteljahrsschrift für Zeitgeschichte 34), S. 23, 51. – György Gyarmati, Zoltán Szász, Reformpläne für die Umgestaltung der osteuropäischen Region, in: Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Anna M. Drabek (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Wien: ÖAW 1997, S. 1–17. – Vgl. über Hantos und seine weiteren Publikationen: Új magyar életrajzi lexikon (Neues ungarisches biographisches Lexikon), hg. von Markó László, Bd. 3, Budapest: Magyar Könyvklub 2002, S. 106–107. 20 Vladimír Goněc, Milan Hodža before „Milan Hodža“. His Early Schemes and Concepts of Europe, in: Vladimír Goněc (Hg.), In between Enthusiasm and Pragmatism: How to Construct Europe? Six Studies, Brno: Masarykova univerzita 2008, S. 64–112, Zit. S. 83–84.
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mitteleuropa – ein politisch belasteter begriff
sichtiger auszudrücken, zumindest so kolportiert und verstanden wurde, während das zweite, ob wirtschaftlich oder kulturell ausgerichtet, von keinen eindeutigen politischen hegemonialen Ansprüchen geleitet war, Deutschland wohl gerade deshalb ausschloss und statt der Bezeichnung Mitteleuropa nun bewusst von Donaueuropa sprach. Und erst in weiterer Folge sollte, nach den Intentionen des tschechoslowakischen Politikers Milan Hodža, eine lockere Kooperation zwischen einem solchen Mitteleuropa mit Frankreich und Deutschland erfolgen. Insgesamt kann freilich diesem Mitteleuropakonzept, deren Vertreter zum Teil der Paneuropabewegung um Richard CoudenhoveKalergi nahestanden, zumindest indirekt auch eine gewisse Reminiszenz an die untergegangene Monarchie nicht immer abgesprochen werden. Freilich: Abgesehen von der Genese dieser beiden Mitteleuropakonzepte erscheint mir jedoch die Frage von besonderer Bedeutung zu sein, welche Mitteleuropavariante für historische, sozialwissenschaftliche, politologische oder kulturwissenschaftliche Analysen brauchbarer, praktikabler erscheint. Hält man am ersten, am deutschen Mitteleuropakonzept fest, ist zum Beispiel, was den geografisch-historischen Umfang Mitteleuropas betrifft, evident, dass zwischen Westfalen oder dem Rheinland kaum strukturelle Übereinstimmungen mit Polen, Litauen oder Ungarn nachgesagt werden können; das deutsche Mitteleuropa erscheint aus der Perspektive der Länderagglomeration eher als ein künstliches Konstrukt, das freilich von einem zuweilen unhinterfragten politischen Kalkül geleitet wird, das heißt, dieses Mitteleuropa bleibt ein politisch belastetes Konzept. Das andere Mitteleuropa oder besser „Central Europe“, Zentraleuropa, um von einem deutsch dominierten Mitteleuropa Abstand zu nehmen, bezieht sich auf die Länder und Gesellschaften östlich von Deutschland mit strukturellen und inhaltlichen Übereinstimmungen und Wechselwirkungen und mit permanenten Differenzen, die sich nicht zuletzt solchen Übereinstimmungen verdanken, gegen die man sich zu behaupten versuchte; es ist ein Konzept, dem politische hegemoniale Bestrebungen nicht nachgesagt werden können. Jacques Le Rider hat sich vor Kurzem in einem Beitrag über Mitteleuropa als „lieu de mémoire“ für eine solche Mitteleuropa-Variante ausgesprochen, freilich ohne eine eingehende Begriffsanalyse vorzulegen. Angesichts der historischen Belastung des Mitteleuropabegriffs meint jedoch auch er feststellen zu können, freilich ohne daraus für seinen Beitrag die Konsequenzen zu ziehen, dass gerade deshalb, wie Jacques Le Rider feststellt, „German-speaking historians and political 47
II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
scientists today tend to avoid the word Mitteleuropa, preferring the terms Zentraleuropa (closer to the French ‚Europe central’ and the English ‚Central Europe’) or Mittelosteuropa.“21 Es liegt mir freilich ferne, die beiden Konzepte polemisch gegeneinander auszuspielen. Beide haben ihre Geschichte, sind in der wissenschaftlichen Literatur geläufig, doch ist das erste, abgesehen von der fragwürdigen territorialen Ausdehnung, historisch durch hegemoniale politische Machtansprüche belastet, während das zweite auf der Gleichberechtigung der Gesellschaften und auf historischen Gemeinsamkeiten dieser östlich von Deutschland gelegenen Region beruht. Freilich unterstelle ich niemandem, der an der Bezeichnung Mitteleuropa – oder Ost-Mitteleuropa – festhält, deutsche hegemoniale Ansprüche; der Begriff bleibt aber, das muss man sich eingestehen, vor allem auch dann, wenn er ganz einfach unreflektiert verwendet wird, historisch und ideologisch belastet. Es ist daher, im Unterschied zu Zentraleuropa, stets ein zusätzlicher Erklärungsbedarf angesagt, wenn nachgefragt wird, warum von Mitteleuropa gesprochen wird, was unter Mitteleuropa – und auch Ostmitteleuropa – gemeint sei und welche Inhalte damit verbunden wären. Drittens: Zwar wurde seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts durch die Gründung und die Programme des „Istituto per gli Incontri Culturali Mitteleuropei“ in Gorizia/Görz, an denen, wie schon anlässlich seiner ersten Tagung 1966 über „La poesia oggi“, auch Intellektuelle aus den damaligen „sozialistischen“ Ländern teilnahmen, Mitteleuropa ganz bewusst nicht politisch, sondern, fast in Analogie zu Hofmannsthals und Bahrs Mitteleuropavorstellung, vornehmlich als eine von Deutschland unterschiedliche Kulturregion definiert; dabei versuchte man die nostalgische Reminiszenz an die ehemalige Monarchie entschieden in Abrede zu stellen. Dies und die vornehmlich kulturell ausgerichtete Definition Mitteleuropas wurde in einer Retrospektive auf die ersten zwanzig Jahre des Instituts eigens hervorgehoben: „Si trattava di ritrovare, della Mitteleuropa, lo spirito, non il corpo. Sarebbe completamente fuori strada chi volesse scorgere negli Incontri Culturali Mitteleuropei di Gorizia una nostalgia ‚politica‘ proiettata verso il passato
21 Jacques Le Rider, Mitteleuropa as a lieu de mémoire, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin u.a.: Walter de Gruyter 2008, S. 37–46, Zit. S. 37.
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Zentraleuropa – Genese einer Region
[…].“22 Bereits auf der Tagung von 1978 setzten sich dann unter anderem die Triestiner Arduino Agnelli („Mitteleuropa: le diverse espressioni“) und Elio Apih („Mitteleuropa e pangermanismo“) kritisch mit der deutschen Mitteleuropakonzeption auseinander; vermutlich hatte man inzwischen wahrgenommen, wie politisch vorbelastet der Mitteleuropabegriff sein konnte, auch wenn man ihn als einen ausschließlich kulturellen vermittelt und in einen italienisch-sprachigen Kontext übertragen hatte. Einer Kulturregion Mitteleuropa anzugehören wurde freilich in der Folge abermals politisch instrumentalisiert und von manchen Intellektuellen des damaligen Ostblocks für einen subversiven politischen Protest genutzt: Die Länder hinter dem Eisernen Vorhang, so wurde argumentiert, wären nicht dem sozialistischen Osten zuzurechnen, sie wären vielmehr aufgrund ihrer historischen und kulturellen regionalen Verankerung Teil einer demokratischen Mitte Europas. Auch in Österreich schlossen sich manche Intellektuelle einer ähnlichen Sichtweise an,23 die, wenn ich mich nicht irre, bis in die Neunzigerjahre, bis zur Aufnahme Österreichs in die EU, anhielt. Es ging dabei, aus der österreichischen Perspektive, unter anderem um eine auch von der Außenpolitik unterstützte kulturpolitische Positionierung des eigenen Landes in der Mitte Europas (unter stillschweigendem Ausschluss Deutschlands), freilich mit zuweilen „kulturkolonialistisch“ anmutenden Attitüden den Nachbarn gegenüber, die zuweilen fatal an die hegemoniale Rolle und Kulturmission des „deutsch“ dominierten Österreich zur Zeit der Monarchie erinnerten und zu Recht kritische Reaktionen hervorriefen.24
Zentraleuropa – Genese einer Region Neben der Verwendung von Mitteleuropa etablierte sich der Begriff Zentraleuropa (L’Europe centrale, Central Europe, Europa Centrale), der unter einem vornehmlich geografischen Aspekt zwar zuweilen auch ganz Deutschland mit einschließen konnte, sich aber vor allem seit den Pariser Friedens22 Renato Tubaro (Hg.), Cultura Mitteleuropea. Vent’anni di lavoro, di studi e ricerche, Gorizia: Biblioteca Cominiana 1986, S. 11. 23 Erhard Busek, Emil Brix, Projekt Mitteleuropa, Wien: Ueberreuter 1986. 24 Vgl. u.a. Timothy Garton Ash, Does Central Europe Exist? In: The New York Review of Books, 9. 10. 1986, S. 45–54.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
verträgen als eine politische Bezeichnung vor allem für die sogenannten Nachfolgestaaten durchgesetzt hatte, inklusive der baltischen Staaten, Polens, Rumäniens, Bulgariens oder der südslawischen Staaten. Zentraleuropa bezog sich also vornehmlich auf Länder, die ehemals der Habsburgermonarchie angehört hatten, und auf solche, die an diese ehemals historisch-politische Region angrenzten. Blättert man heute zum Beispiel in amerikanischen oder englischen Verlagskatalogen, die historische Neuerscheinungen ankündigen, wird einem in der Regel eine Differenzierung zwischen Werken, die „Germany“, „Central Europe“ und „Eastern Europe“ betreffen, deutlich vor Augen geführt. Zentraleuropa unter einem solchen Gesichtspunkt beinhaltet demnach weder eine Identifikation mit der deutschen Mitteleuropavorstellung noch eine rein nostalgische Reminiszenz an die untergegangene Habsburgermonarchie; die Bezeichnung bezieht sich vielmehr auf Gesellschaften und Kulturen östlich von der „deutschen Mitte“, auf die Nachfolgestaaten und darüber hinaus auch auf solche, die weit über die ehemalige Monarchie hinausreichen. Trotz vorhandener Unterschiede weisen diese Staaten und Gesellschaften vor allem vergleichbare oder analoge sozioökonomische und soziokulturelle Gegebenheiten auf. Zentraleuropa befindet sich unter einem solchen Aspekt in einer binären Opposition sowohl zu „Westeuropa“ als auch zu „Osteuropa“, ohne freilich in Abrede stellen zu wollen, dass Zentraleuropa, trotz solcher Unterschiede, tendenziell zumeist viel eher auf den „Westen“ als auf einen wie immer verstandenen „Osten“ ausgerichtet ist.
Föderalisierung einer Region Diese engen strukturellen, sozial-ökonomischen oder kulturellen Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten und das gemeinsame außenund sicherheitspolitische Kalkül der unterschiedlichen Länder dieser Region – gegenüber dem Zugriff vom Westen oder Osten oder etwa dem Osmanischen Reich gegenüber – führten in der Vergangenheit immer wieder zu konkreten Initiativen von politischen Föderalisierungen beziehungsweise Vereinheitlichungen. Was nachträglich als eine ausschließliche dynastische Machtpolitik erscheinen mag, entsprach in Wirklichkeit zumeist dem Bedürfnis einer tieferen ökonomischen Vernetzung und politischen Absicherung innerhalb der Region, die auch die jeweiligen Herrschaftsgebiete stärken sollte. Unter diesem Aspekt können die im 13. Jahrhundert zwar missglückten 50
Föderalisierung einer region
Versuche des ungarischen Arpaden Béla IV. gesehen werden, Teile der babenbergischen Länder, vor allem die Steiermark, an das Königreich Ungarn anzubinden; ebenso die mehr als zwanzig Jahre währende Ländervereinigung Böhmens und Mährens mit den Kernlanden der Babenberger unter König Přemysl Otakar II., wodurch ein Wirtschaftskorridor entstehen konnte, der knapp bis an die Adria reichte. Unter Ludwig I. von Anjou gehen, zwar nur für zehn Jahre (1370–1380), die Königreiche Ungarn und Polen eine Personalunion ein. Der Luxemburger Kaiser Sigismund, Schwiegersohn Ludwig I. von Ungarn, vereinigt im 15. Jahrhundert Ungarn, Böhmen und Mähren unter seiner Krone, sein Schwiegersohn, der Habsburger Albrecht V. (II.), antizipiert mit seiner Herrschaft über die österreichischen Erblande, Ungarn und Böhmen für zwei Jahre (1437–1439) die zukünftige Donaumonarchie. Der großdeutsche Mitteleuropapropagator Heinrich von Srbik sieht die Versuche Otakars und der Luxemburger freilich etwas anders, nämlich aus einer absurden pangermanischen Sicht, die der Mitteleuropabegriff eben auch beinhaltet: „Wohl ist von Prag aus unter Ottokar und unter den Luxemburgern der Versuch gemacht worden, ein mitteleuropäisches Reich wieder einheitlich zusammenzufassen, aber nur deutsche Idee und deutsche Kraft unter deutscher Führung hätten das große Werk zustande bringen können.“25 Unter dem Polen Władysław III. wird abermals für kurze Zeit Polen mit Ungarn vereinigt (1440–1444), und seit dem böhmischen Jagiellonenkönig Władislaw II. wachsen abermals Böhmen, Mähren und Ungarn zu einer Personalunion zusammen. Ähnlich wirtschaftlich motiviert waren auch die Bemühungen von König Matthias Corvinus, Einfluss in Böhmen und später im habsburgischen Herrschaftsgebiet zu erlangen; er verlegte von 1485 bis 1490 nicht nur seine Residenz nach Wien, sondern sicherte sich, vornehmlich aus handelspolitischen Überlegungen, auch wichtige erbländische Städte bis ins Salzburgische. Eine vergleichbare wirtschaftliche Motivation war bereits der internationalen Konferenz von Visegrád (1335) zugrunde gelegen, an der die Könige von Ungarn, Polen und Böhmen und Abgesandte aus Lothringen und Bayern teilnahmen, mit dem Ziel, das Wiener Stapelrecht zu umgehen und neue Wirtschaftsrouten vom Westen in die Länder der zentraleuropäischen Region zu erschließen. Die Vereinheitlichung der Region wurde freilich auch auf der dynastischen Ebene vorangetrieben, beispielsweise im Vertrag von Wie25 Heinrich von Srbik, Mitteleuropa, S. 6.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
ner Neustadt und Ödenburg 1463, mit dem die jeweilige Erbfolge zwischen Matthias Corvinus und Friedrich III. geregelt wurde, später vor allem im bekannten Wiener Heiratsvertrag von 1515, der nach dem Tod des ungarischen Jagiellonen Ludwig II. in der Schlacht von Mohács (1526) den Habsburgern neben den Erblanden die Krone von Ungarn und Böhmen (inklusive Mährens) sicherte. Die Habsburger bedienten sich also eines Know-how, dessen sich auch mächtigere Dynastien, wie zum Beispiel die Jagiellonen, bedient hatten, mit dem Ziel, eine Föderalisierung der Region unter einer dynastischen Herrschaft zustande zu bringen. Flankiert wurden solche Bemühungen unter anderem auch durch Vertreter der Stände, die sich in unterschiedlichen Ländern ihre ökonomische Position und ihr sozialpolitisches Prestige durch die Aufnahme in die jeweiligen ständischen Landtage sicherten; nur durch ein solches Indigenat war es ihnen möglich, in den jeweiligen Ländern legal Grundbesitz und politische Mitsprache zu erwerben. Ähnlich intensiv kooperierten die Handels- und Kaufleute der Städte der Region. Dazu kam auch eine regionale Intensivierung des Bildungswesens: Nach Bologna und Padua wurden die Universitäten von Prag (1348) und vor allem von Krakau (1364) und Wien (1365), Wortführer des Humanismus in Zentraleuropa, zu bevorzugten Ausbildungsstätten vor allem für Studierende aus der Gesamtregion. Die ungarischen Literaturwissenschaftler Tibor Kardos und Tibor Klaniczay vertraten daher zu Recht die Ansicht, dass Renaissance und Humanismus mit ihren landesübergreifenden personellen Kontakten und Gelehrtenfreundschaften vom 14. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert zu einem wesentlichen, verbindenden intellektuellen Element in Zentraleuropa geworden wären.26 „Wie eng auch die Zusammenhänge zwischen der ungarischen Renaissance und Italien, Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern waren“, meinte Tibor Klaniczay in einem bereits 1963 erschienenen Beitrag, „ihre allernächste Verwandtschaft besteht mit der benachbarten kroatischen, polnischen, tschechischen und mit der von den übrigen Teilen Deutschlands sich verselbständigenden österreichischen Kultur.“27 Auf die späten Föderalisie26 Vgl. u.a. Kardos Tibor, A virtuális Magyarország (Das virtuelle Ungarn), in: ders., Élő humanizmus (Lebendiger Humanismus), Budapest: Magvető 1972, S. 9–21. – Kardos Tibor, Reneszánsz királyfiak neveltetése (Über die Erziehung der Söhne von Renaissancekönigen), in: ebd. S. 36–68. 27 Klaniczay Tibor, A magyar reneszánszkutatás másfél évtízede 1948–1963 (Eineinhalb Jahrzehnte ungarische Renaissanceforschung), in: ders., A múlt nagy korszakai
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Ostmitteleuropa – Zentraleuropa?
rungspläne innerhalb der Habsburgermonarchie, die dann im Laufe des 19. Jahrhunderts diskutiert wurden (zum Beispiel am Reichstag von Kremsier) beziehungsweise gegen diese gerichtet waren (zum Beispiel Ludwig Kossuths Plan einer Donauföderation), will ich hier nicht näher eingehen. Insgesamt freilich bilden vor allem die in der Vergangenheit unternommenen politischen Anstrengungen, die Region zu föderativen Einheiten zu vereinigen, die Folie für die topographische Übereinstimmung einer europäischen Region; sie hinterließen andererseits gemeinsame, zum Beispiel durch die Schule oder durch Bilder und Denkmäler kontinuierlich vermittelte Erinnerungsspuren, die in das individuelle und kollektive Gedächtnis eingeschrieben und für das Bewusstsein der Gesellschaften und der Länder dieser Region bis heute von einer gewissen Relevanz geblieben sind.
Ostmitteleuropa – Zentraleuropa? Aus jener Perspektive, die an der Bezeichnung Mitteleuropa und an seiner räumlichen Positionierung, inklusive Deutschlands, festhält, handelt es sich bei dem östlichen Teil dieses Mitteleuropa um „Ostmitteleuropa“. Ostmitteleuropa, ganz offenkundig ein unscharfer Begriff, werden in der Regel jene Gebiete beziehungsweise Länder zugerechnet, die östlich von einem „west“mitteleuropäischen oder, wenn man so will, vom „mittel“-mitteleuropäischen Deutschland liegen (zugegebnermaßen werden diese beiden Bezeichnungen bezeichnenderweise nie verwendet), auch wenn zum Beispiel die unmittelbar an Deutschland angrenzenden Gebiete der Tschechischen Republik westlicher gelegen sind als etwa Berlin oder ein Teil Sachsens.28 Schon der Historiker Oskar Halecki, der die Zweiteilung Mitteleuropas in West- und Ostmitteleuropa (East Central Europe) befürwortete, hat freilich fast in gleichem Atemzug auf die Fragwürdigkeit einer realen Übereinstimmung dieser beiden Teile auf einer gemeinsamen Matrix Mitteleuropa hingewiesen: Es (Große Epochen der Vergangenheit), Budapest: Szépirodalmi 1973, S. 123–165, Zit. S. 161. 28 Vgl. dazu u.a. die problemorientierten Überlegungen von Rudolf Jaworski, Ostmitteleuropa – Versuch einer historischen Spurensicherung, in: Eckhard Hübner, Mathias Niendorf, Hans-Christian Petersen (Hg.), Ostmitteleuropa im Fokus S. 117–129. – Ders., Ostmitteleuropa. Zur Tauglichkeit und Akzeptanz eines historischen Hilfsbegriffs, in: ebd., S. 131–140.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
scheine klar zu sein, „daß die Geschicke der beiden Teile Mitteleuropas nicht durch irgendeine echte Gemeinsamkeit, sondern eher durch einen jahrhundertelangen Kampf gegen eine Vereinigung verbunden sind, die der kleinere, aber homogenere und darum stärkere Teil erzwingen wollte“.29 Wenn mit der Bezeichnung Mitteleuropa bis heute, zumindest indirekt, noch immer ein gewisses politisches und ein kulturelles hegemoniales Kalkül mitschwingt, sind solche ideologischen Belastungen in der Tat auch der Bezeichnung „OstMitteleuropa“ eingeschrieben, auch hier ist daher bei der Hinterfragung dieses Begriffes ein akuter Erklärungsbedarf angesagt. Aus einer anderen, einer strukturhistorischen Perspektive gibt auch der deutsche Osteuropahistoriker Klaus Zernack unumwunden zu bedenken, dass als „historiographischer Terminus […] die Bezeichnung Ostmitteleuropa gewiß problematisch“ sei: Brandenburg zum Beispiel wäre in der Vergangenheit mit Böhmen, Polen und Litauen enger verbunden gewesen als mit Württemberg oder Westfalen.30 Neuestens hat auch Philipp Ther auf die Problematik der bisherigen Verwendung des Begriffs Ostmitteleuropa hingewiesen und für eine kulturgeschichtliche Erweiterung und Vertiefung der Area Studies im Sinne der von mir postulierten zentraleuropäischen Perspektive plädiert.31 Wie verhält es sich all dem gegenüber mit der Bezeichnung Zentraleuropa? Freilich wurde auch Zentraleuropa zunächst in einem politischen Zusammenhang genannt, etwa zur Zeit der Pariser Friedensverträge als „Cordon sanitaire“ zwischen Deutschland und Russland; Zentraleuropa umfasste hier konkrete, neue, jedoch differente nationalstaatliche Entitäten. Trotzdem beinhaltete der Begriff Zentraleuropa in der Folge weder ein klares politisches Kalkül oder eindeutige politische Zukunftsperspektiven von nachhaltiger Dauer noch politische oder kulturelle hegemoniale Absichten. Zentraleuropa konnte daher schon vorher, während des Ersten Weltkrieges, in einem explizit apolitischen Sinne verwendet werden, als Bezeichnung für die Länder der Donaumonarchie. So unterbreitete bereits im Jahre 1916 das „Wiener Institut 29 Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957, S. 115–116. 30 Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München: C. H. Beck 1977, S. 33. 31 Philipp Ther, Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa. Kulturgeschichte als Area Studies, in: H-Soz-u-Kult 02.06.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2006-06-004.
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Zentraleuropa – ein dynamischer prozess
für Kulturforschung“ den Vorschlag, „anstatt ‚Österreich-Ungarn‘ oder ‚Monarchie‘ das Wort ‚Zentraleuropa‘“ zu verwenden, um dadurch die Region von ihrer historischen und politischen Konnotation mit der monarchischen Staatsform des Vielvölkerstaates zu entlasten. Dennoch sei, so heißt es weiter, unter Zentraleuropa vornehmlich an jene Staaten zu denken, „welche die Kulturgrenzaufgaben der ehemaligen Monarchie übernommen haben.“32 Hinter der Festlegung solcher Aufgaben Zentraleuropas verbirgt sich hier also ganz offenkundig noch eine dem deutschnationalen Programm geschuldete Vorstellung, die zwar nicht den politischen Zielvorstellungen des Deutschen Reiches, jedoch der deutschsprachigen Kultur in der ehemaligen Monarchie eine leitende, kulturmissionarische Aufgabe eingeräumt hat; Zentraleuropa hätte hierin, im Sinne des „Wiener Instituts für Kulturforschung“, eindeutig eine historische Aufgabe zu erfüllen. Ich möchte solche Überlegungen nicht weiter diskutieren, vielmehr auf eine mögliche inhaltliche Begriffsbestimmung zurückkommen und fragen, was unter Zentraleuropa verstanden werden könnte.
Zentraleuropa – ein dynamischer Prozess Wie lässt sich also Zentraleuropa erfassen? Lenkt man die Aufmerksamkeit in erster Linie auf real nachweisbare transnationale und translokale gesellschaftliche und kulturelle Prozesse – nachweislich überschreiten kulturelle Prozesse nationale, nationalstaatliche, geografische oder verschiedene lokale Abgrenzungen –, ist es evident, dass Zentraleuropa, im Unterschied zu Mitteleuropa, weder ein ausschließlich geografisch oder physisch-territorial noch ein politisch konnotierter Begriff sein kann; Zentraleuropa ist vielmehr ein dynamischer Prozess, es ist ein übergreifender, performativer, hybrider Kommunikationsraum, ein „Zwischenraum“, angesiedelt in einem gesamteuropäischen Kontext, zwischen dem Osten und dem Westen. Zentraleuropa markiert also einen Raum mit flüssigen, durchlässigen Grenzen sowohl gegen den Westen als auch gegen den Osten. Es ist ein „relationaler Raum“ (Martina Löw),33 das heißt ein Raum, der sich der Dynamik von kontinuierlichen 32 Victor Bauer, Zentraleuropa. Ein lebender Organismus, Brünn/Leipzig: Irrgang o.J. (1936), S. 221. 33 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2001.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
sozial-kulturellen Praktiken verdankt; es handelt sich dabei also nicht um einen geografisch oder politisch klar abgegrenzten „absolutistischen“ Raum, einen „Containerraum“, vielmehr lässt sich, in Anlehnung an die von Doris Bachmann-Medick beschriebene kulturwissenschaftliche Raumtheorie, auch dieser Raum definieren „als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten)“. Vor allem wird aber auch hier „die Verflechtung von Raum und Macht zu einer wichtigen Untersuchungsachse“.34 Raum meint also „soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf Veränderbarkeit von Raum hindeuten“.35 Kennzeichnend für einen solchen Raum, der auch als ein „Zwischenraum“ bezeichnet werden kann, sind folglich kontinuierliche historische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Verflechtungen, Vernetzungen, Wechselwirkungen, Übergänge und gerade deshalb auch kontinuierliche Konkurrenzierungen, Krisen und Konflikte, die im Konkreten vor allem seit dem 19. Jahrhundert in einem eruptiven Fremdenhass, in jeglicher Form von Antisemitismen, in potenzierten Nationalismen und Chauvinismen deutliche Formen angenommen haben. Erst im Verlaufe von nationalen Homogenisierungsbestrebungen wurde man gewahr, dass der Migrant, der sogenannte „Fremde“, hier Teil des Eigenen geworden war, in dem Sinne, wie bereits Georg Simmel den Fremden gekennzeichnet hatte: „Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens ganz überwunden hat […]. Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen ‚inneren Feinde‘ – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.“36 Eine solche 34 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen ������������������������������������������� in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg: rowohlt 2006, S. 292. 35 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 292. 36 Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt = Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1992, S. 764–771, Zit. S. 764–765.
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Ost-„Mitteleuropa“?
Diagnose betraf vor allem die Mikrokosmen der Region, die urbanen Milieus der Jahrzehnte um 1900, wo folglich Chauvinismen sich am deutlichsten um die Konstruktion, die Exklusion oder die Inklusion des Fremden und von Fremdheiten, bis zu deren Unkenntlichkeit und Auslöschung, bemühten. Weil das Fremde zu einem Teil des Eigenen geworden war, wandelte sich daher Fremdenhass zuweilen auch in Selbsthass. Auf eine solche Bündelung von Konflikten in diesem europäischen Zwischenraum hat unter anderem der Literaturwissenschaftler Egon Schwarz aufmerksam gemacht, um im Lichte dieser Erkenntnisse die Einheit, die Übereinstimmung der Region freilich auch infrage zu stellen.37 Schon aus diesen wenigen Hinweisen beziehungsweise inhaltlichen Umschreibungen wird klar, dass Zentraleuropa keineswegs nur ein Synonym für Mitteleuropa und nicht einfach die Übersetzung von Mitteleuropa sein kann. Um es verkürzt auszudrücken: Zentraleuropa ist nicht, wie Mitteleuropa, ein ideologisch belasteter Raum beziehungsweise ein politisch konnotierter Begriff. „Der Begriff Mitteleuropa läßt sich nicht einfach als Central Europe übersetzen“, meinte daher schon Claudio Magris. „Das Wort Mitteleuropa wurde im letzten Jahrhundert als eine historisch-politische Bezeichnung geprägt – es ist eigentlich ein politisches Programm. Es charakterisierte die Begegnung der deutschen Kultur mit anderen Kulturen im Gebiet, aber seine dominante Implikation war eine deutsche, oder im besten Fall eine deutsch-ungarische Hegemonie in Zentral-Europa: List, Bruck, von Stein, später Naumann und Srbik stützten diese These, und sie dominierte (mit Schattierungen und Abstufungen) das Zeitalter vom Liberalismus bis zum Nationalsozialismus.“38
Ost-„Mitteleuropa“? Könnte dieser vage zentraleuropäische Zwischenraum, der nicht so sehr strukturgeschichtlich, vielmehr entsprechend den vorangegangenen Überle37 Egon Schwarz, Was Mitteleuropa ist und nicht ist, in: Markus Bauer (Hg.), Zum Thema Mitteleuropa: Sprache und Literatur im Kontext (= Jassyer Beiträge zur Germanistik VIII), Iaşi: Editura Universităţii und Konstanz: Hartung-Gorre 2000, S. 147–164. 38 Claudio Magris, zit. in: John Neubauer, Ist Mitteleuropa noch zu retten? Zur Geschichte und Aktualität des Begriffes, S. 314.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
gungen in erster Linie als „Referenzraum“ (Rudolf Jaworski) erfasst werden kann, nicht ebenso gut Ostmitteleuropa genannt werden?39 Während Oskar Halecki vorgeschlagen hatte, Europa in vier Regionen zu unterteilen (Westeuropa, Westmitteleuropa, Ostmitteleuropa, Osteuropa), hielt der ungarische Mediävist Jenő Szűcs an drei historischen europäischen Regionen fest, nämlich an Westeuropa, Osteuropa und „Ostmitteleuropa“. Ostmitteleuropa ist eine Bezeichnung, die sich in der neueren ungarischen Historiografie nach 1945 vielfach eingebürgert hat und von Szűcs fast unhinterfragt übernommen werden konnte. Szűcs zufolge ist dieses Ostmitteleuropa vor allem eine rückständige europäische Region, wobei er, in Anlehnung an die Thesen des Soziologen István Bibó, nicht zuletzt Ungarn im Auge hatte.40 Freilich ist gegenüber der zuweilen doch national und ideologisch gefärbten Sichtweise von Bibó41 durchaus Kritik angesagt: Zum Beispiel gegenüber einem auf den Nationalstaat ausgerichteten teleologischen Geschichtsbild, nämlich gegenüber der gezielten Ausrichtung der europäischen Geschichte auf einen, wie sich Bibó ausdrückte, „demokratischen Nationalismus“; gegenüber einer ausschließlich negativen Bewertung der historischen Bedeutung der Habsburgermonarchie, die demokratische und nationale Bestrebungen andauernd unterdrückt hätte; oder gegenüber der einseitigen, pessimistischen Sicht auf die schicksalhafte, leidgeprüfte Geschichte des ungarischen Volkes: Dieses hätte während seiner jahrhundertelangen Geschichte, infolge seiner äußeren 39 Vgl. dazu: Philipp Ther, Vom Gegenstand zum Forschungsansatz. Zentraleuropa als kultureller Raum, in: Johannes Feichtinger, Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König, Peter Stachel, Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 55–63. – Rudolf Jaworski, Ostmitteleuropa als Gegenstand der historischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur, in: Johannes Feichtinger, Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König, Peter Stachel, Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 65–71. 40 Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957. – Szűcs Jenő, Vázlat Európa három történeti régiójáról, Budapest: Magvető 1983. Deutsch: Jenö Szűcs, Die drei historischen Regionen Europas. Mit einem Vorwort von Fernand Braudel, Frankfurt a. Main: Neue Kritik ²1994. 41 Vgl. v.a. Bibó István, A kelet-európai kisállamok nyomorúsága (Das Elend der kleinen Staaten Osteuropas), in: ders., Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften), Bd. 2: 1945–1949, Budapest: Magvető 1986, S. 185–265.
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Ost-„Mitteleuropa“?
und inneren Verfasstheit, nie einen „demokratischen Nationalismus“ erreicht. Ungarn, Böhmen und Polen, die Kernländer Ostmitteleuropas, wären im Verlaufe ihrer Geschichte vielmehr die großen europäischen Verlierernationen. Ähnliche Perspektiven finden sich in der Argumentation auch anderer ungarischer Intellektueller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von der „traumatischen“ Erfahrung von Trianon, der Aufteilung des alten ungarischen Königreichs geprägt waren. Auch der einflussreiche Schriftsteller und Essayist László Németh, mit dem sich Bibó eingehend auseinandergesetzt hat, vertrat eine solche Auffassung.42 Dennoch sind solche Gedankengänge nicht gar so neu, sie gehören vielmehr, mit unterschiedlicher Gewichtung, bereits im 19. Jahrhundert zum Repertoire eines ungarischen nationalen Geschichtsbildes, das sich unter anderem der intensiven Auseinandersetzung mit der These Herders verdankt, wonach die von Slawen umgebene ungarische Sprache und Kultur nicht mehr von langer Dauer sein würde. Was die erwähnte Unterdrückungsthese betrifft, wurzelte diese unter anderem in der Ideologie eines retrograden „ständischen Nationalismus“: Nicht nur die protestantische ständische Propaganda artikulierte ihre politischen Interessen mit dem Hinweis, ihre Prärogativen seien seit der Frühen Neuzeit durch die Fremdherrschaft der katholischen Habsburger nachhaltig gefährdet gewesen und unterdrückt worden. Diese ständische, antihabsburgische Perspektive projizierte man im frühen 19. Jahrhundert unmittelbar auf die „moderne“ ungarische Gesellschaft, sie wurde im Reformzeitalter (vor 1848) vom „bürgerlichen Nationalismus“ politisch instrumentalisiert. Dadurch konnte die Unterdrückung von Freiheitsbewegungen, wie zum Beispiel der Revolution von 1848/49, in eine längere historische Kontinuität gestellt und in der Folge zu einem kollektiven, autoreflexiven pathologischen Trauma einer historisch nachweisbaren Unterdrückung von ungarischen Interessen hochstilisiert werden, das in einem kollektiven Gefühl der Minderwertigkeit und politischen Handlungsunfähigkeit mündete. Wie wirkungsmächtig eine solche Übertragung von Inhalten der ständischen Nation auf den bürgerlich-demokratischen Nationalismus funktionierte, beweist die Tatsache, dass selbst nach 1947, also zur Zeit des „Realen Sozialismus“, die ungarische Historiografie den ständischen Widerstand als einen gesellschaftlich revolutionären Akt 42 Vgl. v.a. Németh László, Kisebbségben (In der Minderheit), Budapest: Első Kecskeméti Hírlapkiadó o.J. (1939).
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
positiv bewerten und durchwegs als fortschrittlich, als einen Vorläufer der sozialistischen Revolution, einstufen konnte. Oskar Haleckis Bemühungen um eine Definition der zentraleuropäischen Region sind freilich andere, sie sind nüchterner, analytischer, jedoch einer deutschen Mitteleuropakonzeption durchaus gegenläufig. Die „nichtdeutschen Mitteleuropäer“, so argumentiert Halecki, „die die Herrschaft der stärksten Nation dieses Raumes über ganz Mitteleuropa befürchteten, haben immer betont, daß ihr Mitteleuropa, der östliche Teil, das Recht auf eine eigene, unabhängige Existenz habe, ohne seinerseits eine Suprematie über den westlichen zu beanspruchen“.43 Damit knüpft Halecki, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, an die während der polnischen Aufstände Mitte des 19. Jahrhunderts und dann vor allem nach dem Ersten Weltkrieg lancierte Konzeption eines „Zwischeneuropa“ an. Zwischeneuropa sollte jüngst auch von Lajos Pándi wieder aufgegriffen werden: „Unter Zwischen-Europa (Europe-Between) als bewegliche ‚Grenzzone‘ der Geschichte der Neuzeit wird die Region der Kleinnationen von Finnland bis Griechenland, von Tschechien bis Moldawien verstanden, die durch ethnische Vielfalt, Gemischtheit und Zersplitterung gekennzeichnet ist.“44 Haleckis Text erschien zunächst auf Englisch, das Wort „Mitteleuropa“ ist die deutsche Übersetzung des von ihm im Original verwendeten Ausdrucks „Central Europe“ (in französischen Vorarbeiten spricht Halecki über „Mitteleuropa“ als „L’Europe central“). 45 Diese Region war, folgt man der Argumentation Haleckis, im Laufe der Geschichte Vereinnahmungsversuchen vom Westen und vom Osten ausgesetzt: Die Bezeichnung „Mitteleuropa“ stünde für die Dominanz des „westlichen“ Deutschland in dieser Region, die nach 1945 übliche Bezeichnung „Osteuropa“ für die Länder dieser Mitte wäre Ausdruck dafür, dass sie sich nun in der politischen Machthemisphäre der „östlichen“ Sowjetunion befinden. Aus meiner Perspektive könnte man folglich zu Recht argumentieren, diese europäische Region der „nichtdeutschen Mitteleuropäer“ oder in meiner Diktion: der „nichtdeutschen Zentraleuropäer“, die historisch gesehen andauernden Vereinnahmungs- beziehungsweise Kolonisierungsversuchen 43 Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, S. 115. 44 Pándi Lajos, Köztes-Európa 1763–1993. Térképgyűjtemény (Zwischeneuropa 1763–1993. Kartensammlung), Budapest: Osiris 1997, S. 25. 45 Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, S. XIII, Anm. 1.
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Zentraleuropa – ein analoges kulturelles Gedächtnis?
ausgesetzt war, kann als Kern von Zentraleuropa bezeichnet werden, unabhängig davon, dass hier ebenso Deutsch sprechende Minoritäten, deutsche kulturelle oder wirtschaftliche Einflüsse aufgrund von Verflechtungen mit dem Heiligen Römischen Reich wie auch Spuren östlicher kultureller oder ökonomischer Einflussnahmen nachweisbar bleiben. In der Bezeichnung „Ostmitteleuropa“ schwingt hingegen noch immer eine historisch begründete koloniale Attitüde, eine intellektuelle Kartierung mit, die diesen Raum gegenüber dem „westlichen“ Mitteleuropa als unterentwickelt auffasst. Der Bezeichnung Zentraleuropa ist eine solche Sicht nicht eingeschrieben. Darüber hinaus entspricht Zentraleuropa auch dem französischen, englischen oder italienischen und ebenso dem tschechischen, polnischen, slowakischen oder ungarischen Sprachgebrauch; die Bezeichnung ist daher insofern eindeutig, als es in diesen Sprachen nur ein Wort für das Bezeichnete gibt und eine Unterscheidung zwischen Mittel- und Zentraleuropa, wie im Deutschen, nicht zur Disposition steht. Zentraleuropa weckt nicht jene Reminiszenzen, die mit dem belasteten und stets erklärungsbedürftigen deutschen Begriff Mitteleuropa verbunden und daher auch in der Bezeichnung „Ostmitteleuropa“ enthalten sind. Zentraleuropa ist hingegen meiner Meinung nach, unter Abwägung all dieser Gesichtspunkte, ein – zwar weniger in der deutschen Wissenschaftssprache – historisch durchaus eingebürgerter Begriff, der sich auf einen ganz bestimmten regionalen europäischen Kontext, auf Gesellschaften und Kulturen zwischen dem Osten und Westen des Kontinents bezieht, jenseits von nationalen Begrenzungen und Kartierungen, die weitgehend erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts waren. Freilich bleibt zugegebenermaßen jede regionale Klassifizierung relativ und daher stets hinterfragbar, auch der geografische Umfang und die Lokalisierung Zentraleuropas lässt sich nicht eindeutig bestimmen, beide müssen daher von Epoche zu Epoche oder zum Beispiel entsprechend dem jeweils konkreten Forschungsgegenstand immer wieder neu gefasst und umschrieben werden.
Zentraleuropa – ein analoges kulturelles Gedächtnis? Wie könnte man daher Zentraleuropa konkreter fassen, welche Kriterien ließen sich dafür namhaft machen, hier von einer eigenen Region zu sprechen, und zwar unabhängig und jenseits der zitierten Halecki’schen Sicht auf die „nichtdeutschen Mitteleuropäer“, eine Sicht, die ohne Zweifel in die 61
II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
Nähe eines methodischen Nationalismus gerückt werden kann? Zentraleuropa bezieht sich meiner Meinung nach auf eine Gemeinsamkeit sowohl von strukturellen als auch von inhaltlichen, vor allem kulturellen Gegebenheiten und Prozessen, auf ein gemeinsames oder analoges historisches-kulturelles Gedächtnis, zwar mit unterschiedlichen und sich widersprechenden Erinnerungsweisen, von Differenzen also, ebenso aber auf konkrete, historisch belegbare analoge wirtschaftliche, soziale und kulturelle Erfahrungen, wie, historisch gesehen, zum Beispiel auf den Primat der Agrarwirtschaft, die Jahrhunderte andauernde Hörigkeit der Landbevölkerung, die verzögerte Entwicklung eines städtischen Bürgertums, die lange anhaltende ökonomische, politische und kulturelle Rolle, die hier die im Vergleich zu Westeuropa zahlenmäßig übermächtigen Stände einnahmen und vor allem eine analoge Alltagskultur (auch wenn Ähnliches auch für andere europäische Randzonen gilt). All dies freilich mit dem inhärenten Potenzial von Differenzen, von permanenten Krisen und Konflikten. Solche Phänomene von Übereinstimmungen und Differenzen lassen sich freilich weder geografisch, territorial noch national eindeutig eingrenzen, sie haben von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Person zu Person unterschiedliche Gewichtungen. Die Versuche einer lockeren politischen Föderalisierung der Länder dieser Region weisen darauf hin, dass die Einsicht in die Notwendigkeit zumindest einer wirtschaftlichen Kooperation schon seit dem Mittelalter das politische Bewusstsein geprägt hat. Ich habe auf diese Initiativen bereits kurz hingewiesen. Zentraleuropa, so eine meiner Schlussfolgerungen, bleibt daher, jenseits von territorialen oder nationalen Eindeutigkeiten, die Bezeichnung für ein Netzwerk von soziokulturellen Interaktionen und sozioökonomischen Verflechtungen, ebenso aber auch für die enge Kohabitation von Pluralitäten, von Heterogenitäten und Differenzen, die sich nicht nur den unterschiedlichen sprachlichen Kommunikationsformen verdanken. Zentraleuropa ist folglich ein „entgrenzter Raum“, eine zum Teil vielleicht nur nachträgliche virtuelle Projektion, vergleichbar dem Konzept der Fernand Braudel’schen Mediterranée. Aus einer ähnlichen Perspektive hatte bereits 1931 der ehemalige tschechoslowakische Ministerpräsident Milan Hodža versucht, Zentraleuropa als eine eigene europäische Region zu umschreiben: „Zwischen Deutschland und Rußland wächst ein neues Zentraleuropa mit seiner eigenen konstitutiven Geschichte, mit verwandten, manchmal fast gleichen Richtlinien der sozialen Entwicklung, mit 62
Zentraleuropa – ein analoges kulturelles Gedächtnis?
den gleichen Problemen der nationalen Reunifikation und der nationalen Minderheiten, mit der gleichen zivilisatorischen Aufgabe zwischen Westen und Osten und – trotz aller Schattierungen – mit unbestreitbaren Verwandtschaften in der Zivilisation.“46 Betrachtet man Zentraleuropa nicht unter rein geografisch-politischen Gesichtspunkten, sondern aus dem Blickwinkel struktureller beziehungsweise vor allem kultureller Voraussetzungen und den daraus sich ergebenden Analogien und Widersprüchen, muss Zentraleuropa, was seine räumliche Vorstellung anlangt, je nachdem, auf welche historische Epoche oder auf welche inhaltlichen Perspektiven die konkrete Untersuchung fokussiert, das eine Mal weiter, das andere Mal enger gefasst werden. So war Jenő Szűcs zufolge aufgrund von übereinstimmenden Wirtschafts- und Sozialstrukturen, die sowohl von jenen West- als auch Osteuropas abwichen, Brandenburg und Preußen bis in die Frühe Neuzeit ebenfalls ein integraler Bestandteil dieser Region. Untersucht man zum Beispiel den Beginn der Aufklärung in den Ländern der ehemaligen Habsburgermonarchie, ist Sachsen mit Leipzig dieser Region zuzurechnen, das für die Frühaufklärung in Böhmen und mittelbar für jene in Wien von zentraler Bedeutung gewesen ist. Wendet man sich der Moderne um 1900 zu, kann Berlin nicht ausgeklammert bleiben; und darüber hinaus, aus dem Blickwinkel einer postkolonialen Perspektive, müssen auch andere europäische urbane Zentren, wie Paris, zumindest mitbedacht werden. Wenn man solche Überlegungen konsequent weiterverfolgt, könnte Zentraleuropa als ein kontinuierlicher, dynamischer, performativer Prozess begriffen werden, ein nicht abgeschlossenes, unvollendetes Projekt. Milan Kundera hat in diesem Sinne sein Zentraleuropa einmal sehr treffend als „eine nichtintentionale Einheit“ charakterisiert.47 Das heißt: trotz Nichtintentionalität eine Einheit. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch der Literaturwissenschaftler György M. Vajda in dem bislang wohl gelungensten Entwurf einer – nach der damaligen Diktion – „mitteleuropäischen“ Komparatistik. Vajda, der die Literaturen der Region vor al46 Zit. nach Arnold Suppan, Der Begriff „Mitteleuropa“ im Kontext der geopolitischen Veränderungen, S. 203. – Vgl. auch Vladimír Goněc, Milan Hodža before „Milan Hodža“. His Early Schemes and Concepts of Europe, in: Vladimír Goněc (Hg.), In between Enthusiasm and Pragmatism, S. 66–112. 47 Milan Kundera, Einleitung zu einer Anthologie oder Über drei Kontexte, in: Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, S. 7–22, Zit. S. 22.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
lem zur Zeit der Monarchie in den Blick nimmt, versucht, ganz ähnlich wie seinerzeit László Mátrai,48 auf analoge literarische und kulturelle Strukturen jenseits der historischen Monarchie aufmerksam zu machen. Abgesehen von der überwiegend politisch konnotierten Standortbestimmung stünde fest, „daß nämlich literaturmäßig und kulturell ein Mitteleuropa da ist, das auf ähnlichen und verwandten kultur- und literaturgeschichtlichen Grundlagen basiert und dessen Ausdehnung von den Tschechen und Polen und Slowaken und Ungarn bis zu den Kroaten und Slowenen reicht, etwa auch die Ukrainer, die Rumänen, die Serben umfaßt, und als früheres ‚Kraftzentrum‘ auch die heutigen Österreicher in sich schließt“.49 Freilich: Selbst wenn Zentraleuropa zuweilen bloß ein sprachliches Kons trukt, ein intellektuelles, ein epistemisches Vehikel, ein semantisches Hilfsmittel, im Kontext unüberbrückbar scheinender Differenzen ein „imaginaire“ bleiben sollte, ist der Begriff dennoch insofern brauchbar, als mit ihm ganz bestimmte, spezifische kulturelle Konfigurationen oder soziokulturelle und sozioökonomische Gegebenheiten analysiert und erklärt werden können, die sich zwar auch mit dem Westen oder Osten Europas in einem performativen Zusammenhang befinden, sich jedoch, wie wir gesehen haben, was ihre speziellen strukturellen Merkmale und kulturellen Konfigurationen betreffen, von diesen ebenso deutlich unterscheiden. Das heißt: Auch wenn Zentraleuropa jenseits seiner konkreten Lokalisierung nur ein brauchbares Behelfsmittel sein sollte, bleibt es ein durchaus praktikables Modell, das dazu dienen kann, sowohl spezifische, täglich erfahrbare kulturelle Analogien und Übereinstimmungen als auch Differenzen, Diversitäten, Krisen und Konflikte in einem umfassenderen Kontext in den Blick zu bekommen und einer Reflexion zu unterziehen. Zugegebenermaßen bleibt der Begriff unter solchen Aspekten noch offener, vager, mehrdeutiger und daher, was seine Aussagekraft betrifft, vielleicht noch weniger befriedigend. Doch wie verhält es sich mit ähnlichen Begriffen, mit Begriffen regionaler oder territorialer Zuordnungen, derer wir uns täglich bedienen? Ebenso offen und vage bleibt vergleichsweise die Vor48 Mátrai László, Alapját vesztett felépítmény (Der Überbau, der seine Grundlage verloren hat), Budapest: Magvető 1976. 49 György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740–1918, Wien u.a.: Böhlau 1994, S. 230–231. – Vgl. auch György M. Vajda, Kontakt und Konflikt in der Monarchie. Gedanken über ein kulturelles Mitteleuropa, in: Neohelicon XXIII/1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1996, S. 155–172.
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Zentraleuropa – ein analoges kulturelles Gedächtnis?
stellung von Europa. Europa scheint zwar zunächst ein geografisch eindeutig definierbarer Raum zu sein, seine westliche Grenze wird durch den Atlantik markiert, auch wenn diese Markierung bei näherer Betrachtung sich zu verwischen droht. Wo jedoch Europa im Osten endet, lässt sich nur schwer bestimmen. Inhaltlich wird Europa als eine relativ homogene kulturelle Einheit gegenüber etwas „Anderem“, Nichteuropäischem gedacht, und dies trotz seiner realen inneren Differenziertheit in unterschiedliche Sprachen, Kulturen, politische Subeinheiten und Wirtschaftsformen, die in der Vergangenheit oft Anlass für heftige Konflikte und blutige kriegerische Auseinandersetzungen waren. Das Adjektiv „europäisch“ kann mit Europa als einem geografischen Begriff beziehungsweise mit bestimmten vorgefassten „Werten“, die angeblich (nur) hier vertreten würden, übereinstimmen, weist aber andererseits weit über diesen hinaus, es kann oft auch ein Synonym für das sein, was wir als „westlich“ bezeichnen. Und westlich kann sich auch auf einen Teil der europäisch-atlantischen Zivilisation beziehen, der ideell auch die Vereinigten Staaten oder die Kulturen Lateinamerikas angehören. Europäisches kann auch auf außereuropäischen Kontinenten nachweisbar sein: Mit dem Kolonialismus wurden „europäische“ Lebensweisen auch auf den asiatischen Kontinent (zum Beispiel Indien) übertragen, was zur Folge hatte, dass die Repräsentation europäischer, das heißt westlicher Kultur ebenso in Bombay oder Kalkutta stattfinden kann, das heißt außerhalb eines geografisch-kulturell definierten Europa. Auf der anderen Seite wurde das, was wir unter „europäisch“ verstehen, von der kolonisierten Außenwelt, von nichteuropäischen Kontinenten und Kulturen ganz entscheidend mitbestimmt und geformt. Ähnlich verhält es sich auch mit Zentraleuropa. Nicht nur dass die genaue Bestimmung von Zentraleuropa, auch wenn man es geografisch möglichst einzuengen versucht, vage bleibt, ist Zentraleuropäisches oder eine zentraleuropäische Kultur ebenso in einem „Wiener“ Kaffeehaus in London oder New York zu finden wie in einem Restaurant im italienischen Trento, in dem „Goulasch suppe“ oder „Würstel con crauti“ angeboten werden, Speisen also, die entweder in Zentraleuropa entstanden oder für Zentraleuropa repräsentativ sind und folglich das Gedächtnis einer ganzen Region evozieren. Andererseits evozieren diese Speisen auch ein kulturelles Gedächtnis und verweisen auf die einstmalige Zugehörigkeit des Trentino und anderer Gebiete des nördlichen Italien zu der historischen Habsburgermonarchie, das heißt auf deren ehemalige Verwobenheit in einen entgrenzten zentraleuropäischen Raum. 65
II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
Zentraleuropa – Heterogenität und Übereinstimmung Zwar war die rasche Vergrößerung der urbanen Milieus auch in der zentraleuropäischen Region eine Folge der Modernisierung, sie erfolgte wie im Europa des 19. Jahrhunderts ganz allgemein durch die Zuwanderung von Bewohnern aus den umliegenden Regionen. Was jedoch diesen Prozess hier von vergleichbaren Urbanisierungsprozessen in Europa, etwa in Paris, unterschied, war die Tatsache, dass die zentraleuropäische Region, aus der der Zustrom in die Städte erfolgte, eine sprachlich und ethnisch-kulturell äußerst heterogene, differenzierte Region war. Einer solchen traditionalen horizontalen Differenziertheit der Region war man sich zwar schon früher bewusst, sie wurde aber erst jetzt in den rasch anwachsenden städtischen Ballungszentren tagtäglich sichtbar, erfahrbar und zum Problem, das heißt subjektiv oft als störend und bisweilen als existenzgefährdend empfunden. Denn die Präsenz von „ethnischen“, sprachlichen und kulturellen Unterschieden in der Dichte des urbanen Raumes war keineswegs beruhigend und stabilisierend, die Anwesenheit von „Fremdheiten“ potenzierte vielmehr jene Verunsicherungen, die sich den radikalen innergesellschaftlichen Veränderungen verdankten, die durch den akzelerierten Prozess der Industrialisierung ausgelöst wurden; diese modernisierungsbedingte vertikale Differenziertheit hatte bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer vertieften Orientierungslosigkeit nicht nur der städtischen Bewohner beigetragen, vor allem weil durch die Lockerung des überkommenen sozialen Gefüges und die Etablierung neuer sozialer Gruppierungen traditionale gesellschaftliche Zuordnungen schwieriger beziehungsweise zunehmend obsolet geworden waren. Die zentraleuropäische Region war in der Tat schon seit Jahrhunderten von einer Vielzahl von Völkern, Sprachen und Kulturen bestimmt. Es ist dies ihr charakteristisches Merkmal, und man könnte, so paradox dies auch klingen mag, sagen, dass die Übereinstimmung, das heißt die Einheit der Region, gerade in dieser ihrer Pluralität, Heterogenität beziehungsweise Differenziertheit begründet war. Diese Heterogenität der zentraleuropäischen Region lässt sich in den verschiedensten Bereichen nachweisen. Sie bestand in einer Vielzahl von Völkern und in der Polyglossie ihrer Bewohner, das heißt in einer reichen soziokulturellen Differenziertheit und Übereinstimmung, die freilich mit unterschiedlichem symbolischem Kapital, mit unterschiedlichem Sozialprestige verbunden sein konnte. Polyglossie bezieht sich vor allem auf mehr66
Zentraleuropa – heterogenität und Übereinstimmung
sprachige Kommunikationsgemeinschaften, in denen die Mehrsprachigkeit zumeist „an die funktionale Distribution der Sprachen in bestimmten gesellschaftlichen Domänen gebunden ist, und das Verhältnis zwischen den beteiligten Sprachen hierarchischer Natur ist“.50 Die Pluralität beziehungsweise Heterogenität der Region manifestierte sich darüber hinaus in der Tatsache, dass hier drei monotheistische Weltreligionen, nämlich das Judentum, das Christentum und der Islam in ihren vielfältigsten Ausformungen präsent waren und bis heute präsent sind. Die Heterogenität der Region bestand zum Beispiel, historisch gesehen, auch in unterschiedlichen politischen und Verwaltungstraditionen jener Königreiche und Länder, die seit dem 16. Jahrhundert zu einer Staateneinheit, der Habsburgermonarchie, vereinigt, trotz verschiedener Zentralisierungsbestrebungen nicht beseitigt werden konnten, vielmehr durch Reaktionen auf diese, wie auf die verwaltungstechnisch motivierte vereinheitlichende Sprachenverordnung Josephs II. (1784) oder auf den Neoabsolutismus im 19. Jahrhundert, nur noch vertieft wurden und daher später vom nationalen Narrativ instrumentalisiert werden konnten. Diese vielfache, pluralistische Situation begünstigte zwar die Chancen von permanenten Austauschprozessen, von Ethnogenesen, von Akkulturationen, sie inkludierte jedoch aufgrund ihrer Plurizentrik auch die ständige Präsenz von Differenzen und folglich von Widersprüchen, Gegensätzen, Krisen und Konflikten. Bereits Robert Musil hat diese Situation richtig erkannt und in einer literarischen Verfremdung die ehemaligen Länder des Vielvölkerstaates, also sein „Kakanien“, als einen „mitteleuropäischen Ideenvorrat voller Gegensätze“ charakterisiert: General Stumm von Bordwehr „hatte nach vollzogener Bestandaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen gefunden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen“.51 Dieses „ineinander Übergehen“ bedeutet demnach, 50 Stefaniya Ptashnyk, Sprachen im Konflikt: Zur diskursiven Reflexion der Galizischen Polyglossie in Lemberger Zeitungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren Mittelund Osteuropas. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Wien: Praesens 2008, S. 139–162, Zit. S. 143. 51 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1983, S. 373.
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dass sich hier die heterogenen kulturellen Räume, die kulturellen Differenzen überlappen, ineinander übergehen und „verzahnen“; ganz klare Abgrenzungen und Markierungen sind hier, frönt man nicht einem exklusiven Nationalismus, nur schwer auszumachen. Die nationalpolitischen Trennungen versuchten freilich auch zwischen diesen „entgrenzten“ Kulturen klare Linien einzuziehen und diese in den Köpfen der Menschen festzuschreiben. Dies schien für die nationalen Ideologen nicht zuletzt insofern gerechtfertigt, als Zonen sozialer und kultureller Interaktionen stets verunsichern, eine Abgrenzung vom Anderen erschweren und daher ein Feld von Krisen und Konflikten darstellen können. So machten die nationalen Grenzzieher, um ein metaphorisches Bild Ernest Gellners zu zitieren, aus einem Bild Kokoschkas ein Bild Modiglianis: „[…] betrachten wir zwei ethnographische Karten – eine, die vor dem Zeitalter des Nationalismus gezeichnet wurde, und die andere, nachdem das Prinzip des Nationalismus seinen Einfluß geltend gemacht hat. Die erste Karte ähnelt einem Gemälde von Kokoschka. Die verschiedenen Farben befinden sich in einem solchen Aufruhr, daß sich in den Details keine klaren Muster abzeichnen […]. Eine große Diversität und Pluralität und Komplexität charakterisiert alle Einzelteile des Ganzen […]. Betrachten wir nun die ethnographische und politische Karte eines Gebiets der modernen Welt. Sie erinnert nicht an Kokoschka, sondern eher, sagen wir, an Modigliani. Es gibt nur sehr wenige Farbabstufungen; klare glatte Flächen sind deutlich voneinander geschieden, im allgemeinen ist klar erkennbar, wo die eine beginnt und die andere endet; Mehrdeutigkeiten und Überlappungen kommen so gut wie gar nicht vor.“52 Ganz konkret beschwört Gregor von Rezzori diese problematische ethnisch-kulturelle Symbiose am östlichen Rand der zentraleuropäischen Region, in der Bukowina beziehungsweise in seinem Czernowitz, und macht auf die komplexen Identitätsbildungen in einer solchen Situation aufmerksam. Diese Komplexität machte es nicht nur für die Erwachsenen, sondern schon für die Kinder schwer, sich eine klare Orientierung zu verschaffen. Das ist die andere Seite einer zentraleuropäischen Realität. „Wir Kinder“, meint von Rezzori, „hatten uns auseinanderzusetzen mit dem Heranwachsen in einer Welt, in der die Orientierungslosigkeit der Erwachsenen uns keinen Anhalt gab.“53 52 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin: Rotbuch 1991, S. 202–203. 53 Gregor von Rezzori, Mir auf der Spur, München: C. Bertelsmann 1997, S. 30.
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Endogene und exogene Pluralität einer region
Endogene und exogene Pluralität einer Region Für Zentraleuropa war und ist eine endogene, in der Region schon immer vorhandene, und eine exogene, transregionale „globale“ Heterogenität beziehungsweise Pluralität kennzeichnend. Diese Heterogenität betraf jedoch nicht nur die Region als Ganzes, sondern ebenso ihre Subregionen, die einzelnen Königreiche, Länder und Provinzen. Unter endogener Pluralität verstehe ich die in der Gesamtregion, das heißt eben die auch in der Habsburgermonarchie nachweisbare „ethnische“ und sprachlich-kulturelle Dichte. Spätestens seit der Völkerwanderungszeit hat sich hier, auf einem relativ begrenzten Raum eine Vielzahl von Völkern angesiedelt, die zum Teil bis in das 20. Jahrhundert erhalten geblieben sind und sich im Laufe der Jahrhunderte gegenseitig beeinflusst haben. So hat die Ethnogenese der in dieser Region ansässigen Völker eine ganz spezifische inhaltliche beziehungsweise qualitative Form angenommen. Das heißt Elemente fast aller hier nachweisbaren Völker befanden sich in einem wechselseitigen Austauschprozess, aufgrund dessen gleiche oder analoge Elemente, Zeichen und kulturelle „Codes“ zu verbindenden Merkmalen der Kulturen dieser Region werden konnten.54 Dasselbe gilt auch für Wechselwirkungen auf der sprachlichen Ebene. Somit konnten die einzelnen Völker und Sprachen, die stets starken „Fremdeinflüssen“ ausgesetzt waren, zwar ihren Eigencharakter bewahren, sie spiegeln aber bis in die Gegenwart einen spezifischen Prozess von Ethnogenesen und Sprachausbildungen.55 Ähnlich intensiv verlief auch der alltägliche kulturelle Austauschprozess, sodass hier „nationale“ Volkskulturen, die immer wieder auf das Ursprüngliche und jedem Volk Eigene rekurrierten, wobei solche „nationalen“ Traditionen vielfach erst erfunden werden mussten, in Wahrheit auch von sogenannten „fremden“ Elementen durchsetzt waren und bis heute bestimmt werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang abermals auf die bereits erwähnten Erkenntnisse der ungarischen Volksmusikforschung, auf 54 Vgl. dazu Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien: Kremayr & Scheriau 1987. – Ders., Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien: Ueberreuter 1995. 55 In Bezug auf spezifische sprachliche Wechselwirkungen zwischen der ungarischen Sprache und den Nachbarsprachen vgl. Gabriella Schubert, Ungarische Einflüsse in der Terminologie des öffentlichen Lebens der Nachbarsprachen, Berlin/Wiesbaden: Harrassowitz 1982.
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das permanente „crossing and re-crossing of melodies“, auf das Béla Bartók, Zoltán Kodály oder Bence Szabolcsi aufmerksam gemacht haben. Als exogene Pluralität kann man die Summe jener von außen hinzukommenden Einflüsse bezeichnen, die in dieser Region wirksam wurden und zu einer spezifischen kulturellen und sprachlichen Konfiguration, gerade auch in der Habsburgermonarchie, beigetragen haben. Es sind dies Einflüsse, die vor allem aus anderen Teilen Europas und Außereuropas stammten, hier wirksam wurden und die Verflechtung der Region mit „globalen“ Einflüssen deutlich werden lassen, die ihrerseits die innere Kohärenz der Region mit begründeten. Ein solcher expliziter Einfluss ist zumeist auf eine besondere politische oder kulturelle Vernetzung beziehungsweise auf ein – wenn auch zeitlich begrenztes – Naheverhältnis der Gesamtregion zu anderen europäischen Regionen zurückzuführen. Um diesen etwas ungewohnten Gedankengang zu verdeutlichen, möge in aller Kürze auf folgende konkrete Zusammenhänge hingewiesen werden. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist im habsburgischen Zentraleuropa ein spezieller, besonders intensiver spanischer Einfluss zu verzeichnen. Die Habsburger des 16. Jahrhunderts, vor allem Ferdinand I., Maximilian II., Rudolf II. und Matthias, hatten eine spanische Erziehung genossen, waren in einem spanischen Milieu ausgebildet worden. Sie waren also aus der Sicht des „nationalen“ 19. Jahrhunderts primär Spanier und nicht Deutsche und wurden vor allem wegen der Sprache, die sie sprachen, von den Zeitgenossen zunächst auch dafür gehalten. Der anfängliche Widerstand gegen die Herrschaft des „Spaniers“ Ferdinand I. in Österreich richtete sich nicht zuletzt gegen eine solche „Überfremdung“. Nicht nur spanische Verwaltungsinstitutionen wurden auf die Erblande übertragen, auch wichtige Ratgeber des Herrschers stammten aus Spanien (zum Beispiel Salamanca oder Hoyos). Ein wesentlicher spanischer Impuls erfolgte durch die Träger der Gegenreformation, die Jesuiten, deren Spiritualität spanisch geprägt war. Sie übertrugen mit ihrem rigorosen religiösen Engagement den Ernst des spanischen Barock nach Zentraleuropa, der auch für niedere Bevölkerungsschichten mentalitätsprägend wurde. Mentalitätsprägend für die soziale Führungsschicht und, durch einen Prozess des „sinkenden Kulturguts“, für mittlere urbane Bevölkerungsschichten wurde nicht zuletzt die spanische Hofetikette der Habsburger, die besonders unter Karl VI. um 1700 erneut maßgebend wurde; Karl VI. brachte nach seiner Absetzung in Spanien auch eine große Zahl wichtiger Persönlichkeiten nach Wien mit (die sogenannte „Spanische 70
Endogene und exogene Pluralität einer region
Partei“). Der nicht zuletzt durch Arthur Schopenhauer und Richard Wagner propagierte Rekurs auf das spanische Barock – die Schopenhauer’sche Übertragung von Baltasar Graciáns „Oracolo manual“ fand in bürgerlichen Schichten allgemein Verbreitung – bedeutete für manche Vertreter des österreichischen Bildungsbürgertums und der Wiener Moderne (zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal oder Hermann Bahr) eine Rückbesinnung auf eine eigene Vergangenheit, hatte sich doch kurz zuvor auch Franz Grillparzer eingehend mit der spanischen Literatur und Kultur beschäftigt; auch Adalbert Stifter bekundete, zwar nur indirekt, jedoch mehrfach, ein ähnliches Interesse am Spanischen.56 „Spanien grenzt historisch an Österreich“, meinte folglich treffend Joseph Roth. „Es gibt keinen Klassiker deutscher Sprache, der vom Spanischen herkäme, außer Grillparzer. Er stammt aus Spanien – wie die Habsburger. Er stammt von Calderón.“57 Französische Einflüsse wurden in Zentraleuropa beziehungsweise im Bereich der Habsburgermonarchie vor allem seit dem ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert wirksam. Und zwar nicht nur infolge des gesamteuropäischen Einflusses der französischen Aufklärung, vielmehr auch aufgrund ganz spezifischer Umstände. Die Übersiedlung Franz Stephans von Lothringen von Lunéville über Florenz nach Wien wurde von einer bedeutenden französisch sprechenden Immigration begleitet. Nicht nur Repräsentanten der lothringischen Oberschicht übersiedelten nach Österreich, auch Gelehrte und Künstler siedelten sich vor allem in der Kaisermetropole an. Die Zeitgenossen wissen von einer Lothringerkolonie in Wien zu berichten, die von den Einheimischen nicht immer freundlich behandelt wurde, die aber dem ganzen kulturellen Geschehen in der Stadt eine bestimmende Note verlieh.58 Bekanntlich folgte Franz 56 Vgl. unter anderem Grillparzers Studien zum spanischen Theater, in: August Sauer (Hg.), Grillparzers sämtliche Werke. Fünfte Ausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 17, Stuttgart o.J. – In Adalbert Stifters „Nachsommer“ findet sich eine ganze Reihe von Indizien für das Interesse, das zur Zeit des österreichischen Biedermeier dem Spanischen entgegengebracht wurde. Vgl. Adalbert Stifter, Der Nachsommer, München: dtv 1977, S. 277 f., S. 310, 316, 364, 384, S407, 413 f. 57 Joseph Roth, Grillparzer. Ein Porträt, in: Joseph Roth Werke Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939, hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 742–751, Zit. S. 746. 58 Vgl. u.a. Moritz Csáky, La contribution des Lorrains à la formation de la culture autrichienne, in: J. P. Bled, E. Faucher, R. Taveneaux (Hg.), Les Habsbourg et la Lorraine,
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
Stephan auch seine Hofkapelle nach Wien. Unter seiner Regentschaft erlebte das französische Theater in Wien seine Glanzzeit, nicht nur was die Anzahl der aufgeführten Stücke, sondern auch deren Qualität betraf. Dieser französische Einfluss, der durch den Austausch mit den Österreichischen Niederlanden noch verstärkt wurde und in der Bildung, in der Musik, in der Architektur oder in der Mode einen nachhaltigen Niederschlag fand, blieb keineswegs nur auf höhere soziale Schichten beschränkt. Die Verwendung französischer Lehnwörter etwa in der Wiener Umgangssprache, die unter anderem auch auf die Breitenwirkung des Wiener französischen Theaters zurückzuführen ist, die in der österreichischen Literatur nachweisbaren französischen Elemente – man denke etwa nur an Ferdinand Raimund, Johann Nestroy59, an die Schriftsteller der Jahrhundertwende bis zu Heimito von Doderer –, sind ein indirekter Beleg für die Breiten- und Tiefenwirkung des französischen „Kulturtransfers“ in der Habsburgermonarchie. Exogene Pluralität in Form von französischem Einfluss hatte auch einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung eines der beliebtesten Unterhaltungsgenres des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Rezeption französischer Vaudevilles und die Übertragung der Offenbach’schen Pariser Operette durch die anfängliche Vermittlung Johann Nestroys nach Wien ließ hier in einem plurikulturellen Ambiente ein populäres Kunstgenre, die „Wiener Operette“, entstehen, die repräsentativ wurde für eine breite, mittlere, urbane Bevölkerungsschicht der Gesamtregion.60 Hugo von Hofmannsthal meinte, hier Nancy: Presse Universitaire 1987, S. 129–137. – Ders., L’Aufklärung et la conscience autrichienne, in: R. Mortier, H. Hasquin (Hg.), Unité et diversité de l’Empire des Habsbourg à la fin du XVIIIe siecle. Études sur le XVIIIe siècle XV., Bruxellles: Université de Bruxelles 1988, S. 174–185. – Ders., Aufklärung und Österreichbewußtsein, in: Festschrift Helmut J. Mezler-Andelberg, Graz: Institut für Geschichte 1988, S. 153–160. 59 Felix Kreissler, Das Französische bei Raimund und Nestroy, Wien: WVÖ 1967. 60 Moritz Csáky, Märchenwelt und Wirklichkeit. Zur ‚Ideologie‘ der Wiener Operette, in: Pannonia 12 (1984) Nr. 3, S. 11–13. – Franz Hadamowsky, Heinz Otte, Die Wiener Operette. Ihre Theater- und Wirkungsgeschichte, Wien: Bellaria 1947, S. 29 ff. – Carlo Runti, Sull’ onda del Danubio blu. Essenza e storia dell’ operetta viennese, Trieste: LINT 1985. – Die Offenbach-Rezeption fand nicht nur in Wien, sondern gleichzeitig auch in Ungarn (Ofen, Pest) statt und wurde von dort sogar wieder nach Wien zurückgetragen. Vgl. u.a. Sándor Galambos, A magyar operett elsö évtizedei (Die ersten Jahrzehnte der ungarischen Operette), in: Budapesti Szemle 204 (1926) S. 360–390. – Vgl. auch Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay, Wien u.a..: Böhlau ²1998.
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Endogene und exogene Pluralität einer region
gingen die „mimetischen Differenziertheiten der Stände“ Hand in Hand mit „den sprachlichen“, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen: „In der Schauspielkunst floß dies zusammen mit der musikalischen Begabung, im Walzer und im Couplet lebte sich dasselbe aus wie in der Farce und im Melodram, und es ist, unter anderm, nichts merkwürdiger, als daß hier an einer bestimmten Stelle Europas etwas sozusagen allgemein Menschliches entstehen konnte wie die Wiener Operette, das sich von Wien bis San Francisco und von Stockholm bis Buenos Aires allen so verschiedenen Menschen einschmeichelte wie etwas Selbstverständliches, und das man nirgend zu adaptieren brauchte, weil es überall zuhause erschien.“61 Der italienische Einfluss war zwar von gesamteuropäischer Relevanz – man denke nur an die Musik, die bildende Kunst oder an die Literatur (Humanismus) –, erfuhr aber in der zentraleuropäischen Region eine spezifische Konnotation. Er wurde mehr als anderswo zu einem inhärenten Element der eigenen Kultur. Pannonien war seit dem 14. Jahrhundert von der Renaissance geprägt, die sich über Dalmatien bis nach Südpolen ausgebreitet hatte und die Architektur in den Städten nachhaltig geprägt hat. Während im ehemaligen Oberungarn, der heutigen Slowakei, diese Spuren noch heute sichtbar sind, wurden sie infolge der militärischen Auseinandersetzungen mit den Osmanen im heutigen Ungarn weitgehend ausgelöscht beziehungsweise unterbrochen. Die italienische Renaissance bestimmte aber auch den bäuerlichen Baustil, die typischen Arkadenhöfe sind ein deutliches Relikt aus dieser Epoche. Italienische Provinzen bildeten einen wichtigen Teil der habsburgischen Staatenunion, deren politische und Bildungseliten waren daher immer wieder stark italienisch durchsetzt. Ich verweise auf zahlreiche italienische Familien, die zu einem festen Bestand des österreichischen Adels wurden. Somit war das Italienische nicht nur ein Teil der exogenen, vielmehr auch der endogenen Pluralität der Region. Die wenigen Jahrzehnte der Herrschaft der Wiener Habsburger nach dem Spanischen Erbfolgekrieg über Neapel waren sowohl für die bildende Kunst als auch für das Theater und die Musik entscheidend. Der mehr als vier Jahrzehnte am Wiener Hof wirkende Pietro Metastasio war zwar gebürtiger Römer, kam aber in jenen Jahren über Neapel in die 61 Hugo von Hofmannsthal, Wiener Brief [I], in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 272–284, Zit. S. 273.
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Kaisermetropole. Auf die wichtige Funktion des deutschen Elements in der ethnischen und sprachlich-kulturellen Symbiose der zentraleuropäischen Region soll hier nicht eigens eingegangen werden. Im Kontext der Monarchie war das Deutsche gewiss ein „nationales“ Element neben vielen anderen, es war aber vor allem in den „deutschen“ Erblanden, in den urbanen Mittelschichten und beim Adel infolge der dort vorherrschenden Lingua franca, der deutschen Umgangs- und Bildungssprache, ein wichtiges Vehikel im kulturellen Diffusionsprozess Zentraleuropas.62 Wegen dieser sprachlichen Kohärenz war der Zuzug aus dem deutschen „Ausland“63 in die Habsburgermonarchie besonders groß. Folglich betrachtete man sich unter anderem in einem pränationalistischen, politisch wertfreien Sinne als ein Teil des „Deutschen“, das heißt des „Heiligen Römischen Reiches“, ohne daraus, wie dann im späteren 19. Jahrhundert, ein Differenzierungs- und Ausschließlichkeitsprinzip konstruieren zu wollen. Wenn freilich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Berliner Friedrich Nicolai von einer „österreichischen Nation“ sprach,64 steht hinter dieser Bezeichnung wohl nicht nur die Polemik des protestantischen Norddeutschen gegen den katholischen Süden, vielmehr auch eine Einsicht in die Andersartigkeit des Österreichischen, das von viel62 Vgl. dazu u.a. die informative und materialreiche Studie von Georg Schreiber, Deutschland und Österreich. Deutsche Begegnungen mit Österreichs Wissenschaft und Kultur, Köln/Graz: Böhlau 1956. 63 Besonders zur Zeit des „Oesterreichischen Kaiserthums“ (ab 1804) spricht man gerne von den übrigen deutschen Ländern als vom Ausland. Vgl. zum Beispiel Oesterreichische National-Encyklopädie, hg. von Franz Gräffer und Johann Jakob Czikann, Bd. 6, Wien: Friedrich Beck 1837, S. III. Schon allein der Titel dieser Enzyklopädie ist programmatisch und beweist, dass man sich, zwar unter anderen Voraussetzungen, bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine „österreichische Nation“ Gedanken gemacht hat; ihr Inhalt ist eine Zusammenfassung jener oben angedeuteten endogenen und exogenen kulturellen Pluralität zu einer nicht als „national“ im Sinne der nationalen Ideologie zu verstehenden „österreichischen Kultur“. 64 Wolfgang Albrecht (Hg.), Friedrich Nicolai, ‚Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig.‘ Satiren und Schriften zur Literatur, Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer 1987, S 293. – Vgl. zum Begriff einer österreichischen Nation zu Ende des 18. Jahrhunderts Edith Rosenstrauch-Königsberg, Erste Schritte auf dem Weg zum österreichischen Nationalbewußtsein, in: Österreich im Europa der Aufklärung, Bd. 2, Wien: ÖAW 1985, S. 895–918. – Dazu auch: Elisabeth Kovács, Die ‚Herausentwicklung Österreichs aus dem Heiligen Römischen Reich‘ im Reflex der Beziehungen von Kaisertum und Papsttum während des 18. Jahrhunderts, in: Ebd. Bd. 1, S. 421–436.
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Region der Differenzen
fältigen Elementen von innen und von außen mitbestimmt wurde, so dass man mit der deutschen Sprache alleine als nationsbestimmendem Kriterium kaum sein Auslangen finden konnte; freilich erst recht nicht mit einer ethnischen Zugehörigkeit mancher Bevölkerungsteile zu einem wie auch immer zu bestimmenden Deutschtum. Weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen und kaum mehr erinnert scheint jene Einfallsschiene, durch welche osmanische kulturelle Elemente auf die kulturelle Realität dieser Region nachhaltig eingewirkt haben, aufgrund einer über hundertfünfzig Jahre andauernden osmanischen Herrschaft vor allem in ihren östlichen und südöstlichen Gebieten. Sie sind in der Volkstracht (ungarische Hirtentracht, Magnatentracht),65 in der Architektur (Minarette, die Rezeption „osmanischer“ architektonischer Elemente bei der Suche nach einem autochthonen ungarischen Nationalstil im ausgehenden 19. Jahrhundert, bäuerliche Bauweisen auf dem Balkan), in der Musik (Rezeption von Elementen aus der Janitscharenmusik durch die Militärkapellen der österreichischen Regimenter, ihr Einfluss auf die Wiener Klassik) oder in der Küche (gefülltes Kraut, Strudel, der „Heidensterz“ oder der „Türkensterz“ in der Steiermark) bis in die Gegenwart sichtbar, werden aber nur mehr selten als solche wahrgenommen.66
Region der Differenzen Diese kurzen Hinweise auf eine endogene und exogene Pluralität der zentraleuropäischen Region erhalten auch im Kontext des gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurses eine besondere Relevanz. Die Diskussion 65 Vgl. István György Tóth, Hungarian Culture in the Early Modern Age, in: László Kósa (Hg.), A Cultural History of Hungary. From the Beginnings to the Eighteenth Century, Budapest: Corvina/Osiris 1999, S. 154–228, v.a. S. 167–176. 66 In Bezug auf die Kleidung vgl. Gabriella Schubert, Die Rolle der Kleidung in den Nationalbewegungen der Donauvölker, in: Moritz Csáky, Horst Haselsteiner u.a. (Hg.), A magyar nyelv és kultúra a Duna völgyében. Die ungarische Sprache und Kultur im Donauraum Bd. 1, Budapest/Wien: NMFT 1989, S. 314–332. – Zur Musik: Horst Reichenbach, Zur Frage des Populären bei Mozart. Ein Beitrag zur Mozartforschung. Ungedr. Habil.-Schrift, Halle-Wittenberg 1975. – Bence Szabolcsi, Die Exotismen bei Mozart. Mozart Konferenz, Prag 1956. – Emil Rameis, Die österreichische Militärmusik, von ihren Anfängen bis zum Jahre 1918, Tutzing: L. Schneider 1976.
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über die Eurozentrik oder die Dominanz einer westlichen, euro-atlantischen Welt, die das Geschichtsbild seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert noch bis heute weitgehend dominiert, gepaart mit „Orientalismen“, das heißt mit der Konstruktion einer „otherness“ außerhalb oder gegenüber einer europäischen Vorherrschaft,67 oder der Versuch, die imperialen Kolonisierungsbestrebungen der Vergangenheit nicht nur unter dem Aspekt der Kolonisatoren zu betrachten, sondern zugleich die Rückwirkungen und Rückflüsse zu beachten, die von den Kolonien ausgingen und das kulturelle und soziale Bewusstsein der kolonisierenden Gesellschaften ganz wesentlich mitbestimmten und dauernd veränderten, erlauben es, endogene und exogene kulturelle Prozesse in der zentraleuropäischen Region unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten. Zentraleuropa ist demnach nicht nur eine in sich geschlossene, abgekapselte Region, ein historisches Konzept, unberührt von äußeren Einflüssen, vielmehr werden in ihr Prozesse von Querverbindungen, hybriden Interaktionen und Verflechtungen sichtbar, die nicht nur innerhalb der endogenen, pluralistischen Verfasstheit der Region stattfinden: Sie betreffen vor allem grenzüberschreitende, dichte exogene Vernetzungen, die kontinuierliche Einflüsse und Rückflüsse beinhalten, die insgesamt für das regionale Selbstverständnis konstitutiv geworden sind und die Region in dynamischer und performativer Weise andauernd formen und verändern. Dabei sollten nicht nur kulturelle Aspekte, sondern auch politische und ökonomische Perspektiven, Hegemoniekonstruktionen und Unterdrückungen berücksichtigt werden. In Analogie zur Einsicht, dass die Vergangenheit sich nicht nur in einer Erzählung beziehungsweise einer Geschichte darstellen lässt, vielmehr, im Sinne einer histoire croisée oder von shared histories, unterschiedliche, oft widersprüchliche Erzählungen, das heißt Geschichten, die Vergangenheit erst verständlich machen, ist auch Kultur kein eindeutiges, geschlossenes, homogenes Konzept. Shalini Randeria hat auf die Bedeutung solcher Verflechtungen (entanglement) auch im kulturellen Bereich hingewiesen.68 Auf 67 Zu Konstruktion eines Anderen im europäischen und globalen Kontext vgl. Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument ²2000, S. 137–179. 68 Vgl. u.a. Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kuturwissenschaften, Frankfurt a. Main u.a. 2002: Campus, S. 9–49, v.a. S. 17–22 (hier auch weitere Literaturhinweise).
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Region der Differenzen
die zentraleuropäische Region übertragen heißt das, dass in dieser sowohl weitgehende kulturelle Übereinstimmungen vorhanden sind – in der Vergangenheit zum Beispiel infolge der lateinischen oder deutschen Verkehrssprache als Lingua franca, die innere Austauschprozesse begünstigte –, als auch Differenzen und Abgrenzungen sichtbar bleiben, auf denen man gegenüber Vereinheitlichungstendenzen beharrt – zum Beispiel durch die Betonung der unterschiedlichen endogenen „nationalkulturellen“ Konfigurationen, unterschiedlichen „nationellen“ Sprachen oder Nationskonstruktionen seit dem 19. Jahrhundert: „Die ‚gemeinsame Geschichte‘ der Beziehungen und Tauschverhältnisse produzierte also Demarkationslinien und Grenzmarkierungen, die wiederum die ihnen zugrunde liegenden Interaktionen kaschierten.“69 Solche Grenzmarkierungen betrafen im kolonialen Diskurs auch den akademischen Bereich, indem jene transeuropäischen Gebiete, die bis ins ausgehende 18. Jahrhundert aufgrund eines universalistischen Ansatzes der Aufklärung zu einem festen Bestandteil eines einheitlichen Geschichtsbildes gehörten, wie zum Beispiel Ostasien oder China, nun ausdifferenziert, separiert und als eigene Disziplinen wie Sinologie, Indologie oder Japanologie etabliert wurden: „Diese Separierung der akademischen Disziplinen brachte es mit sich, daß für die Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen geographischen Regionen kein methodischer Platz existierte.“70 Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf die Thematisierung von historischen und kulturellen Feldern in der zentraleuropäischen Region feststellen: Während bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Region, im Konkreten auch die historische Monarchie, trotz ihrer sprachlich-kulturellen Differenzen als eine Einheit gesehen wurde, zum Beispiel bis in die Darstellungen von Joseph von Hormayr oder Franz von Sartori, erfuhren in der Folge die Geschichten, Kulturen und Literaturen der Völker der Region eine Ausdifferenzierung und eine Wertung, die auch in der Etablierung neuer akademischer Disziplinen innerhalb der Sprach- und Literaturwissenschaft oder der Geschichtsschreibung ihren Niederschlag fanden. Die Gegenposition des dynastischen 69 Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, S. 20. 70 Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, S. 21.
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Staatsnarrativs, das die Zusammengehörigkeit der Gesamtregion und die Anerkennung der kulturellen Gleichwertigkeit aller Völker zum Ziele hatte, eine Position, die beispielsweise in den „Reichsgeschichten“ und auch noch im Kronprinzenwerk „Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild“ zu Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, hatte nun auf den intellektuellen Diskurs fast keine praktischen, realen Auswirkungen mehr. Dem gegenüber wurde in der Geschichtsschreibung späterer Jahrzehnte eine Wertung eingeführt, die, in einer kolonialen Attitüde, zwischen historischen und, in Anlehnung an die Argumentation von Karl Marx, Friedrich Engels oder Otto Bauer, „geschichtslosen“ Völkern der Region unterschied, das heißt zwischen solchen, die bereits in der Vergangenheit ein eigenes, mehr oder weniger geschlossenes Staatsterritorium aufweisen konnten, zum Beispiel die Tschechen und solchen, die dies nicht vermochten, zum Beispiel die Slowenen. Diesem Konzept lag freilich unausgesprochener Weise die Vorstellung des Nationalstaates als teleologischem Endpunkt der Entwicklung der Völker zugrunde. Ähnlich argumentierte auch die hegemoniale Historiografie der Kolonialherren, die die Kolonisierten als „Völker ohne Geschichte“ darzustellen versuchte.71 Dennoch kann man festhalten, dass die Repräsentation, die Darstellung der Region, ihrer unterschiedlichen Völker und Kulturen, nicht ohne die Berücksichtigung des jenseits ihrer zugegebenermaßen flüssigen, „ideellen“ Grenzen liegenden „Anderen“ geschehen kann, das als ein integraler Bestandteil des „Eigenen“ gesehen werden muss und für dieses konstitutiv wurde.
Hungarus-Bewusstsein Dies betrifft auch die großen Untereinheiten der Region. Im pluriethnischen und plurikulturellen Königreich Ungarn erhielt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ein die endogene Heterogenität dieser Subregion übergreifendes „Hungarus“-Bewusstsein, das heißt das Bewusstsein einer festen Verankerung der Zugehörigkeit zum ungarischen Königreich, unabhängig von Sprache und Abstammung.72 Dieser Sicht entspricht zum Beispiel die 71 Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt S. 36. 72 Moritz Csáky, Die Hungarus-Konzeption. Eine ‚realpolitische‘ Variante zur magyarischen
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Hungarus-bewusstsein
1711 erschienene Kategorisierung von Gelehrten des Königreichs Ungarn durch David Czwittinger: „Während ich in der Wissenschaft von berühmten Ungarn spreche, möchte ich unter diesen nicht nur jene verstanden wissen, welche in engerem Sinne aus Ungarn stammen, vielmehr halte ich es für richtiger, in einem umfassenderen Sinne auch all jene Völker zu verstehen, die dem Königreich Ungarn angehören oder jenem angeschlossen sind, so die Dalmatiner, die Kroaten, die Slawen und die Siebenbürger verschiedener Konfession.“73 Und der aus Siebenbürgen stammende Schriftsteller Peter Bod umschrieb dies Ende des 18. Jahrhunderts so: „Es gibt in der Schar der ungarischen Gelehrten auch solche, die ihrer Herkunft nach Siebenbürger Sachsen oder ungarländische Slowaken sind: auch ihnen kann man die Bezeichnung Ungarn nicht absprechen. Denn in fremden Ländern bezeichneten sie sich ja selbst auch als Ungarn, durch ihre Schriften trugen sie zum Ruhme des ungarischen Volkes bei und wurden von den Bewohnern fremder Länder auch als Ungarn bezeichnet. Mit ihrem Fleiß haben sie bewiesen, dass sie es sehr wohl verdient haben, Patrioten genannt zu werden.“74 Zu den Vertretern der Hungarus-Idee, die in der Regel mehrere regionale Sprachen, zum Beispiel im ehemaligen Oberungarn (Slowakei) Deutsch, Ungarisch, Slowakisch und selbstverständlich Latein beherrschten, gehörten keineswegs nur „Nichtmagyaren“; der ungarische Reformpolitiker der Jahrzehnte um 1800, Gregor von Berzeviczy, ist ebenso Vertreter dieser Idee wie der Geschichtsschreiber Johann von Mailáth oder die Zipser Sachsen Johann Genersich und Johann Christian Engel. Übrigens wurde der in Ungarn auch heute noch geläufige Leitspruch „Extra Hungariam non est vita, et si est, non est ita“ nicht von ungarischsprachigen Magyaren, sondern zu Beginn der Neuzeit von deutsch-
Nationalstaatsidee, in: Anna-Maria Drabek, Richard G. Plaschka (Hg.), Ungarn und Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. Neue Aspekte im Verhältnis der beiden Länder, Wien: ÖAW 1982, S. 223–237. 73 David Czwittinger, Specimen Hungariae litteratae, Frankfurt/Leipzig 1711. Zit. nach Tarnai Andor, Csetri Lajos (Hg.), Rendszerek. A kezdetektől a romantikáig (Systeme. Vom Beginn bis zur Romantik) = Sőtér István (Hg.), A Magyar Kritika évszázadai (Jahrhunderte der ungarischen Kritik). Bd. 1, Budapest: Szépirodalmi 1981, S. 220. 74 Peter Bod, Magyar Athenas, Nagyszeben (Hermannstadt) 1766. Zit. nach Sőtér István (Hg.), A Magyar Kritika évszázadai (Jahrhunderte der ungarischen Kritik). Bd. 1, S. 226.
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sprachigen Zipser Sachsen geprägt und in Umlauf gebracht.75 Vergleichbar der Hungarus-Idee ist der Bohemismus in Böhmen und Mähren, der gleichermaßen Deutsche und Tschechen umfasste, ein mehrere Sprachzugehörigkeiten umschließendes Krainbewusstsein, das im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Beispiel der Historiker Peter Radics vertrat, und später ebenso auch ein Österreichbewusstsein, das sich seit 1804 auf die gesamte österreichische Monarchie bezog und nach 1867 auf das vielsprachige Zisleithanien, auf die „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ beschränkte. Insgesamt ist das Bild der Region von mehrdeutigen Heterogenitäten, Komplexitäten und Differenzen bestimmt. Sie beziehen sich einerseits auf die Unterscheidung von Gesellschaften innerhalb von jenen außerhalb der Region, auch wenn jene, die außerhalb gedacht werden, lange Zeit sich auch im Inneren der Region befanden, wie beispielsweise die Osmanen; andererseits innerregionale binäre Oppositionen, die sich dem nationalen Narrativ verdanken und zu einer Einengung auf Nationen, Nationalgeschichten und Nationalkulturen führen. Die epistemische Dimension einer postkolonialen Theorie und einer multiperspektivischen kulturwissenschaftlichen Analyse hilft uns, solche polaren Sichtweisen zu dekonstruieren und ihrer ideologisch bedingten Kategorisierung zu entheben. Dabei wird nicht nur die Mehrfachcodierung von Gedächtnisorten oder Erinnerungsweisen, sondern ebenso auch ein Netzwerk von individuellen und kollektiven Mehrfachidentitäten sichtbar, die sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart kennzeichnend sind.
„Europa im Kleinen“ Die erwähnten Theorievorgaben verdanken sich zwar dem postkolonialen Diskurs der Gegenwart, ähnliche Überlegungen, ohne sie theoretisch zu fundieren oder weiter auszubauen, finden sich freilich schon in der Vergangenheit, in Darstellungen über die ehemalige Monarchie, in einem übertragenen Sinn über die zentraleuropäische Region. Bereits 1876, in der Einleitung des ethnographisch-statistischen Handbuchs der österreichisch-ungarischen Monarchie, machte unter anderem der Wiener Geograf Friedrich Umlauft nach75 Tarnai Andor, Extra Hungariam non est vita … Egy szállóige történetéhez (Zur Geschichte eines geflügelten Wortes), Budapest: Akadémiai Kiadó 1969.
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„Europa im kleinen“
drücklich auf diese einzigartige Situation aufmerksam: „Wie unser Vaterland den Uebergang vom gegliederten und gebirgigen Westen des europäischen Continents zu dessen ungegliedertem und ebenen Osten bildet, so schließt es in Folge seiner bedeutenden Längen- und Breitenausdehnung auch die grellsten Gegensätze in Beziehung auf physische Verhältnisse, Bevölkerung und geistige Cultur in sich, weshalb man die Monarchie auch einen Staat der Contraste zu nennen berechtigt ist.“ So wären „in ethnographischer Hinsicht [...] auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie alle HauptVölkergruppen Europa’s und zwar durch bedeutende Massen vertreten: Germanen im Westen, Romanen im Süden, Slaven im Norden und Süden; dazu kommt noch die Gesammtheit der Magyaren zwischen diesen Hauptvölkern“. Diese Tatsache wäre auch für das „historische Gedächtnis“ von Bedeutung, das nicht nur von einer, sondern von mehreren Geschichten bestimmt wird: „Daher fließt auch Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarns und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.“ Die verschiedenen Völker, die hier wohnen, wären zuweilen ineinander verschränkt und seien daher kontinuierlichen Prozessen von Ethnogenesen ausgesetzt: „Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen, sondern sich in vielen Gegenden gegenseitig durchdringen, so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden. Ja die Vermischung der verschiedenen Nationalitäten lässt sich nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten, wie eben in unserem Vaterlande.“76 Schon 1841 hatte, wie noch zu zeigen sein wird, das bekannte Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker auf diese ethnisch-sprachliche Pluralität als auf ein für die Region charakteristisches Merkmal hingewiesen: „Die Stellung und der Umfang der mehreren Hauptnationen der Monarchie hat auf den Gedanken geführt, diese als ein Europa im Kleinen zu betrachten und, neben einem europäischen, ein besonderes östreichisches Gleichgewicht vorauszusetzen.“77 76 Friedrich Umlauft, Einleitung, in: ders., Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien/Pest: Hartleben 1876, S. 1–4. 77 „Oestreich“, in: Carl von Rotteck, Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften Bd. 12, Altona: J. F. Hammerich 1841, S. 143.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
1915, während des Ersten Weltkriegs, rechtfertigte ebenso wie Hermann Bahr auch Hugo von Hofmannsthal seine Europa-Idee mit dem Hinweis auf das Know-how der Monarchie, deren völkervermittelnde Mission unter anderem in ihrer plurikulturellen Situation begründet wäre: „Österreich bedarf mehr als alle anderen eines Europa – es ist ja doch selber ein Europa im Kleinen.“78 Später sollte Richard Coudenhove-Kalergi die Vorstellung von einem vereinigten Europa ebenfalls einer solchen Erfahrung entlehnen. Es war hier zumindest etwas von dem enthalten, was heute als „la multination“ vorgestellt wird,79 auch wenn dieses Europa im Kleinen, das sich in der Habsburgermonarchie wiederfand, angesichts der zentrifugalen nationalen Bestrebungen, sich zunehmend als eine politische Utopie erweisen sollte. Oder: Als ein Märchen, mit dem der aus Mähren stammende Arzt Jan Evangelista Purkyně seine Überlegungen über die erwünschte Polyglossie in „Austria Polyglotta“80 1867 einleitete und ausklingen ließ. Nachdem die Einführung einer Hauptsprache nicht durchzusetzen war, stellt sich für Purkyně, nach dem Ausgleich mit Ungarn, der die staatsrechtliche Gleichstellung der slawischen Nationalitäten, vor allem der Tschechen, hintanstellte, die für alle verpflichtende Erlernung aller Hauptsprachen der Monarchie als ein letzter Ausweg dar, um – zwar eine romantische Vorstellung – die „Liebe zwischen den Völkern“ herzustellen. Ist doch „der österreichische Staat vor allen Staaten Europas ein vielsprachiger […]. Diese Verschiedenheit der Sprachen erklärt auch zum Teil die Verschiedenheit der österreichischen Völker, wie es ihre ganze Geschichte beweiset.“81 Ähnliches galt auch für einzelne Subregionen. Die Einschätzung des Rotteck- und Welckerschen Staatslexikons hat zwanzig Jahre zuvor, 1820, Johann von Csaplovics vorweggenommen, der in Bezug auf das pluriethnische und plurikulturelle Königreich Ungarn gemeint hatte: „Aber nicht nur in Hinsicht der physischen Beschaffenheit und der Natur-Producte ist Un78 Hugo von Hofmannsthal, Krieg und Kultur, in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 417–420, Zit. S. 417. 79 Vgl. Stéphane Pierré-Caps, La multination. L’avenir des minorités en Europa centrale et orientale, Paris: Odile Jacob 1995. 80 Jan Evangelista Purkyně, Austria Polyglotta, in: Ludger Hagedorn (Hg.), Tschechische Philosophen von Hus bis Masaryk (= Tschechische Bibliothek), Stuttgart/München: dva 2002, S. 303–368. 81 Jan Evangelista Purkyně, Austria Polyglotta, S. 353.
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sprachliche differenzen
gern [sic!] Europa im Kleinen; auch in Hinsicht der Bevölkerung des Landes gilt diese Behauptung. Fast alle europäischen Volksstämme und Sprachen sind hier zu Hause. Mehrere größere und kleinere, in Hinsicht der Abkunft sowohl, als der Sprache und ihren physischen und moralischen Eigenschaften nach, wesentlich von einander unterschiedene Völker bewohnen es, und trotz der täglich mehr und mehr überhand nehmenden Vermischung hat jedes derselben seine Eigenthümlichkeit, jedes seine besondere Lebensart, eigene Gewohnheiten und Erwerbszweige beybehalten.“82 Neun Jahre später bedauert Csaplovics bereits, dass in Ungarn, wo „so vielerlei Sprachen gesprochen werden“, der zum Beispiel durch die Geistlichkeit bewirkte „Sprachwechsel“ die nationale Identität der in Ungarn lebenden Völker gefährde, „denn man kann ein Volk nur so lange als solches betrachten, bis es seine eigenthümliche Sprache nicht mit einer andern vertauscht. Religions- oder Sittenwechsel entnationalisiren es weit weniger als jener der Sprache.“83 Übrigens ist der ungarische Polyhistor Csaplovics, der slowakischer Abstammung war und die meisten seiner Werke deutsch oder lateinisch verfasst hatte, selbst ein Spiegelbild dieser pluralistischen Situation.
Sprachliche Differenzen Ähnlich argumentierte später der bereits erwähnte, aus Mähren gebürtige und an der Universität von Breslau und später in Prag lehrende Jan Evangelista Purkyně, nur verglich er die ungarische Subregion nicht, wie Csaplovics, mit Europa, sondern mit dem Gesamtstaat der Monarchie: „Ungarn ist schon für sich selbst ein vielsprachiger Staat, wie ein kleines Österreich. Es sind dort alle österreichischen Sprachen in bedeutenden Ziffern vertreten.“ Deshalb, und vor allem weil die Völker Ungarns ganz offenkundig von den Magyaren unterdrückt würden, sollte hier die gelebte Vielsprachigkeit zuerst verordnet werden, „damit Ungarn die wahre Hungaria polyglotta werde, nicht bloß wegen ihrer verschiedenen Völkerschaften, sondern auch als Einheit im Schulwesen und 82 Johann Csaplovics, Das Königreich Ungern [!] ist Europa im Kleinen, in: Erneuerte Vaterländische Blätter für den Österreichischen Kaiserstaat 13 (Wien 1820) S. 408–418, Zit. S. 410. 83 Johann v. Csaplovics, Gemälde von Ungern. Erster Theil, Pesth: E. A. Hartleben 1829, S. 217–218.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
im öffentlichen politischen Leben“.84 So wenig politisch realisierbar Purkyněs Staatsutopie war, auch er selbst glaubte wohl kaum an ihre Durchsetzbarkeit: Kleidet er doch seine Ausführungen in die Rahmenerzählung eines „politischen Märchens“ ein, das von einem friedlichen Reich handelt, das aus sieben Ländern bestand und in dem sieben Sprachen gesprochen wurden, von dem aber niemand wusste, wie es zustande gekommen und wie es zugrunde gegangen ist: „Auf welche Weise die allererste Vereinigung dieser Völker erfolgt sei, hat uns die Sage nicht erzählt, auch haben wir keine Nachrichten, wie dieses Siebenvölkerreich zugrunde gegangen; denn, wenn wir umhersehen nach den Begebenheiten der uns bekannten Länder und Völker, sind wir nicht im Stande auch die geringste Spur davon zu entdecken.“ Es sei, wie er abschließend bemerkt, von den umliegenden Ländern vereinnahmt worden: „So floss allmählich das Königreich der sieben Nationen mit den benachbarten mächtigen Reichen zusammen und hinterließ nach sich keine Spur.“85 Was freilich Purkyně hier fordert, ist von einem kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen der Wunsch, die konkreten Sprachen in einem übergreifenden Kommunikationsraum nicht als gegenseitig differenzierende Kriterien einzusetzen, was das nationale Narrativ forderte, sondern auch zwischen den konkreten sprachlichen Kommunikationsräumen, durch die Kenntnis möglichst vieler Sprachen, Differenzen und Konflikte zu minimieren. Mit einer ähnlichen Argumentation hatte sich schon 1852 der Orientalist Hammer-Purgstall in einer Akademie-Rede zumindest für die passive Kenntnis der Sprachen der Monarchie eingesetzt, um deren Bestand zu sichern, denn die „Vielsprachigkeit ist in Österreich durch die staatlichen Verhältnisse zur Nothwendigkeit geworden. Der lateinische Spruch: ‚Quot linguas calles, tot homines vales‘ erhält weiteren und höheren Sinn durch die Anwendung auf die politischen Verhältnisse Österreichs. Er sagt: ‚Je mehr du Sprachen des österreichischen Kaiserthums verstehst, desto mehr wirst du ein ganzer Österreicher‘.“86 In der Praxis funktionierte eine solche Polyglossie, zumindest partiell, bis in die ländlichen Bevölkerungsschichten. Der sogenannte „Kinder-Wechsel“ 84 Jan Evangelista Purkyně, Austria Polyglotta, S. 363. 85 Jan Evangelista Purkyně, Austria Polyglotta, S. 315–316, 368. 86 Joseph von Hammer-Purgstall, Vortrag über die Vielsprachigkeit, in: Die Feierliche Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1852, Wien: W. Braumüller 1852, S. 87–100, Zit. S. 96.
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sprachliche differenzen
war vor allem in sprachlichen Grenzregionen, zum Beispiel in Südmähren, Oberungarn (Slowakei) oder Westungarn (Burgenland) durchaus üblich.87 Er bedeutete, dass Kinder für einige Zeit zu benachbarten, anderssprachigen Familien geschickt wurden, damit sie die Sprache ihrer Nachbarn erlernen. Karl Renner beschreibt diese Gewohnheit aus eigener Erfahrung im mährischen Unter-Tannowitz: „Bis zu meinem zwölften Lebensjahre saß zur Schulzeit fast täglich an unserem Tische auch ein Fremder, der uns doch nicht fremd war. […] Der Landessitte gemäß gaben meine Eltern jeden Knaben, nachdem er drei oder vier Jahre in der Volksschule des Ortes deutschen Unterricht genossen hatte, auf Wechsel zu einer bäuerlichen Familie in Eibis und nahmen dafür einen Knaben dieser Familie zu sich. […] Der tschechische Bube nannte natürlich meine Eltern Vater und Mutter, wie unsere Knaben die tschechischen Eltern Otec und Matka. Jedes hatte so zugleich einen tschechischen und einen deutschen Vater, eine tschechische und deutsche Mutter und sprach auch nicht anders von ihnen als mit diesen Bezeichnungen. Jedesmal zog, wenn man dort Kirchtag hatte, die ganze deutsche Familie nach Eibis und umgekehrt. […] Zeitlebens blieben die Familien und die einzelnen Tauschkinder die besten Freunde und begrüßten sich auf das herzlichste, wenn man sich auf dem Wochenmarkte von Nikolsburg traf.“88 Trotz solcher kommunikativer Praktiken nahmen freilich Dissense und Spannungen zu. „Ich nahm mir vor“, erinnerte sich der spätere österreichische Politiker und Bundespräsident Karl Renner, „künftig die soziale Schichtung an den Sprachgrenzen und in den Mischgebieten in allen Teilen der Monarchie sorgfältig zu prüfen, um einmal in der Lebensfrage des Reiches ein wirklich zutreffendes Urteil zu gewinnen.“89 Zentraleuropa oder „Europa im Kleinen“ – der japanische Diplomat Kume Kunitake nahm im ausgehenden 19. Jahrhundert die ehemalige Monarchie in ganz ähnlicher Weise wahr, wobei er jedoch insbesondere auf die Schwierigkeiten hinwies, mit den hier vorhandenen Heterogenitäten, insbesondere 87 Helmut Paul Fielhauer, Kinder-„Wechsel“ und „Böhmisch-Lernen“. Sitte, Wirtschaft und Kulturvermittlung im früheren niederösterreichisch-tschechoslowakischen Grenzbereich, in: ders., Volkskunde als Demokratische Kulturgeschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, Wien: Helmut-P.-Fielhauer-Freundeskreis 1987, S. 132–165. 88 Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien: Danubia 1946, S. 45–46. 89 Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten, S. 277.
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II. Zentraleuropa: pluralitäten und differenzen
den kontroversiell agierenden Nationalitäten politisch umzugehen: „Dieses Land Europas gilt als Vielvölkerstaat, ist somit Heimstatt vieler verschiedener, in höchstem Maße miteinander vermischter Völker. Rußland oder Preußen bestehen überwiegend aus einem Volk, so daß sich die Gleichberechtigung der Völker als eine einfache Angelegenheit erweist. In Österreich aber gibt es keine Provinz, in der ausschließlich Angehörige eines einzigen Volkes wohnen. Daraus folgert die immense Schwierigkeit, in den einzelnen Ländern politisch einheitliche Ziele umzusetzen.“90 Dreißig Jahre später, zu Ende des Ersten Weltkriegs, ist es unter anderem der ungarische linksorientierte Intellektuelle, Soziologe und Politiker Oszkár Jászi, der den Erhalt dieser Einheit der Monarchie von einer radikalen Neuordnung abhängig macht, das heißt von einer Konföderation von fünf demokratischen Staaten, nämlich Deutsch-Österreich, Böhmen, Ungarn, Galizien und Illyrien unter einer Dynastie, und vor allem von einer Personalisierung der Nationalitätenrechte; es sei kein Wunder, meint Jászi, dass der Weltkrieg gerade in dieser „gefährdeten Zone“ ausgebrochen ist: „Wahrhaftig, diese Region Europas war eine in ihrem Frieden dauernd ‚gefährdete Zone‘. Rassen- und Nationalitätenkämpfe haben hier so viel Zündstoff an Hass, Wut und Unwissenheit angehäuft, dass schon seit Jahrzehnten jeder eine Heidenangst hatte vor dem Funken, der dieses Völkerchaos von einem Tag zum anderen in Flammen versetzen konnte […]. Es ist also kein Wunder, sondern nur die logische Folge einer jahrhundertealten historischen Entwicklung, dass der jetzige Weltkrieg hier, in Europas ‚gefährdeter Zone‘, ausgebrochen ist. Die Katastrophe Europas wurde von diesem seinem halbfertigen Teil ausgelöst, der unter dem oberflächlichen Anstrich der modernen Demokratie noch immer von feudalen Vorstellungen bestimmt wird, wo der Zusammenschluss zu stabilen nationalen Einheiten stecken geblieben ist oder nur unvollkommen zur Geltung kam.“91 90 Peter Pantzer (Hg.), Die Iwakura-Mission. Das Logbuch des Kume Kunitake über den Besuch der japanischen Sondergesandtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Jahre 1873, München: iudicium 2002, S. 250. 91 Jászi Oszkár, A Monarchia jövője, a dualizmus bukása és a dunai egyesült államok (Die Zukunft der Monarchie, der Sturz des Dualismus und die vereinigten Donaustaaten), Budapest 1918, in: Berend T. Iván, Ring Éva (Hg.), Helyünk Europában. Nézetek és koncepciók a 20. századi Magyarországon (Unser Platz in Europa. Ansichten und Konzeptionen im Ungarn des 20. Jahrhunderts) Bd. 1, Budapest: Magvető 1986, S. 84–114, Zit. 87–88.
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sprachliche differenzen
Unter dem Aspekt einer nationalen Geschichtsschreibung wird zuweilen freilich auch noch heute diese pluralistische oder heterogene Verfasstheit Zentraleuropas, die Differenzen, von denen diese Region geprägt ist, als ausschließlich negativ vorgestellt, das heißt multiple Inhalte des historisch-kulturellen Gedächtnisses bewusst vergessen oder verdrängt, da ja die Überführung einer Gesellschaft, eines Volkes in eine Nation das eigentliche Ziel jeder historischen Entwicklung wäre. Der französische Historiker Jean-Pierre Rioux hat unter diesem Gesichtspunkt der Entwicklung einer nationalen kollektiven Identität, die die Vollendung jeder staatlich-politischen Gemeinschaft darstellen würde, Zentraleuropa bis in die Gegenwart als „vouée aux cacophonies des langues et des peuples“ charakterisiert und daraus den Schluss gezogen, dass in Zentraleuropa das Bewusstsein einer nationalen Identität, die in Frankreich vorbildhaft verwirklicht worden wäre, niemals entstehen konnte und könnte; unter allen Nationsbildungen in Europa wäre daher jene Frankreichs einzigartig, „une construction politique et morale: culturelle au sens le plus noble“.92
92 Jean-Pierre Rioux, La mémoire culturelle, in: Jean Pierre Rioux, Jean-François Sirinelli (Hg.), Pour une histoire culturelle, Paris: Seuil 1997, S. 325–353, Zitat S. 343.
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III. Kultur als Kommunikationsraum
Kultur ist ohne Zweifel zu einem Modebegriff geworden. Ich will das zunächst an einem Beispiel, nämlich am Selbstverständnis der Universitäten, erläutern. Die fast inflationäre Verwendung des Begriffs Kultur betrifft nicht zuletzt Disziplinen der Geistes-, Sozial- und Kunstwissenschaften, die sich seit den Neunzigerjahren an den Universitäten vielfach mit dem Beinamen „Kultur“ schmücken: Die früheren „geisteswissenschaftlichen“ Fakultäten deutscher und österreichischer Universitäten wurden vielfach in „kulturwissenschaftliche“ Fakultäten umbenannt. Vielleicht war dies auch nur der Versuch, angesichts der Kritik an den Human- und Geisteswissenschaften und der daraus resultierenden Verunsicherung sich an ein neues, sehr erfolgreiches Paradigma oder an einen Wissenschaftstrend anzuschließen, nämlich an die neuen „Kulturwissenschaften“, die die öffentliche Aufmerksamkeit und das wissenschaftliche Interesse zunehmend zu dominieren begannen. Freilich ist „Kulturwissenschaft“ in diesem engeren und ursprünglichen Sinne nicht die Summe aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen, es ist auch nicht eine neue Disziplin, vielmehr ein eigenes Verfahren jenseits disziplinärer Abgrenzungen, das sich zwar den Wissensbeständen und Methoden verschiedener Disziplinen verdankt, diesen jedoch auf einer transdisziplinären Ebene neue Problemstellungen und Erkenntnisperspektiven eröffnet, die von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz sind. „Statt einem festen Grund nachzuspüren“, meint Uwe Wirth, „sucht die Kulturwissenschaft einem ‚Denken und Arbeiten an Übergängen‘ den Weg zu bereiten, das sich aus den fachspezifischen Methoden und Wissensbeständen verschiedener Disziplinen speist.“1 Kulturwissenschaft(en) in diesem Verständnis „hat nicht nur Gemachtes zum Gegenstand, sie bringt ihre Gegenstände durch ihre Herangehensweise überhaupt erst hervor. Sie ist also zugleich ‚Poetik der Kultur‘. Die Forschungsmethode wird zwar durch die Forschungsmaterie
1 Uwe Wirth, Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung, in: ders. (Hg.), Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008, S. 9–67, Zit. S. 10–11.
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III. Kultur als kommunikationsraum
beeinflußt, konstituiert aber gleichwohl den Forschungsgegenstand.“2 Zwischen Kulturwissenschaft(en) in diesem eigensten, ursprünglichen Sinne und Kulturwissenschaften als Bezeichnung für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen wird seitdem oft nicht klar unterschieden. Die ursprünglich den „Cultural Studies“ der Birmingham-School geschuldeten und weiterentwickelten „Kulturwissenschaften“ werden irrtümlicherweise oft mit „Geisteswissenschaften“ identifiziert, ohne zu begreifen, dass Erstere weder eine eigene Disziplin noch einfach nur die Summe aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen sein können, sondern dass „Kulturwissenschaft(en)“, wie bereits angedeutet, ein spezifisches, problemorientiertes transdisziplinäres Verfahren darstellt. Wenn daher heute über Kulturwissenschaften diskutiert wird, begegnet einem sehr oft sowohl eine inhaltliche als auch semantische Unschärfe, was zur Folge hat, dass die diskutierenden Personen einfach aneinander vorbeireden: Diskussionen, die sich Problemen und Inhalten der Kulturwissenschaften im engeren Sinne zu stellen vorgeben, driften daher oft ab in eine zuweilen wenig ergiebige Kontroverse über die Inhalte und die Positionierung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen.
Kultur als Nationalkultur Die inflationäre Verwendung von Kultur betrifft freilich auch die Alltagsund Mediensprache und es ist oft schwer, sich darüber zu einigen, was unter Kultur eigentlich zu verstehen sei. Der öffentliche, medial vermittelte Diskurs über Kultur beschränkt sich zumeist auf jenen Bereich, der die repräsentative Kultur darstellt, also beispielsweise auf Literatur, Musik, Theater, Film, Kunst oder Architektur. Doch abgesehen von einer solchen eher vagen inhaltlichen Verwendung von Kultur ist es heute darüber hinaus noch oder wieder durchaus üblich, kulturelle Phänomene vornehmlich unter dem formalen Aspekt von sich ausdifferenzierenden oder anscheinend ausdifferenzierten homogenen „Nationalkulturen“ zu thematisieren. Von einer solchen Perspektive, die vor allem in der politischen Sprache noch immer oder schon wieder eine nachhaltige Rolle spielt – ich denke hier nicht nur an die politischen Diskurse über die Schaffung von kollektiven nationalen Identitäten in den postsozialistischen Ländern, sondern ebenso an die Diskussion über eine 2 Uwe Wirth, Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung, S. 12.
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kultur als nationalkultur
durch vermeintliche gemeinsame „Werte“ definierte kulturelle Einheit Europas3 –, lassen sich unter anderem nicht zuletzt auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Historiker oder Literaturhistoriker, leiten. Dass sie mit der Verwendung solcher nationaler Narrative, ohne es sich bewusst zu machen, so wie im 19. Jahrhundert zuweilen auch nationalistischen Tendenzen Vorschub leisten, ohne zu bedenken, welche Konsequenzen dies haben könnte, wird man kaum in Abrede zu stellen vermögen. Freilich: „Der Nationalismus“, meint der polnische Schriftsteller Rychard Kapuściński, „nicht anders als der Rassismus, ist ein Instrument der Identifikation und Klassifizierung, verwendet vom Anderen bei einer jeden Gelegenheit [...]. Für einen Nationalisten hat die Person des Anderen nur eine einzige Beschaffenheit, nämlich die der nationalen Zugehörigkeit. Ob jemand jung oder alt, weise oder unklug, brav oder gemein ist, spielt keine Rolle.“4 Andererseits kann eine überlegte, reflexive und kritische Verwendung nationaler Narrative durchaus von gewisser Berechtigung sein, vor allem dann, wenn man historische Prozesse oder literarische Zeugnisse in und aus jenen konkreten zeitlichen Zusammenhängen, das heißt aus einer bestimmten historischen Perspektive beziehungsweise aus ihren historischen Narrativen, zu rekonstruieren versucht, die seit dem 19. Jahrhundert für die Konstruktion einer intendierten Nation, einer „imagined community“, als konstitutiv angesehen oder von den jeweiligen Zeitgenossen für die Schaffung eines nationalen Diskurses nachweislich eingesetzt wurden. Zum Beispiel wenn es darum geht, die Nationalisierung von Kultur aus der Argumentation, das heißt aus dem Selbstverständnis der nationalen Ideologie selbst, verständlich zu machen, oder, anders gewendet, wenn sich eine historische Analyse darauf beschränkt, die „nationale Gesellschaft“ als eine kulturelle Idee vorzustellen, die durch eine durch die (Geschichts-)Wissenschaft gefilterte Aneignung von Überlieferungen, die oft erfunden werden und denen Bedeutungen eingeschrieben werden mussten, erst möglich wurde. „Da der Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert das dominante Paradigma war“, meint Jan Nederveen 3 Vgl. Moritz Csáky, Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld: transcript 2007. 4 Zit. in: Hubert Orłowski, Ihr „privates Vaterland“. Laudatio auf Leonie Ossowski, in: Silesia Nova. Vierteljahresschrift für Kultur und Geschichte 5/1 (2008) S. 81–84, Zit. S. 82.
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III. Kultur als kommunikationsraum
Pieterse, „sind kulturelle Errungenschaften regelmäßig für die ‚Nation‘ beansprucht, ist die Kultur ‚nationalisiert‘ und territorialisiert worden.“5 Territorialisiert wurde Kultur nicht zuletzt dadurch, dass Nation in einen politischen beziehungsweise staatlichen Raster überführt und mit diesem gleichgesetzt wurde. Auf diesen umfassenderen Zusammenhang und dessen Folgen für die „nationalen“ Identitäten macht auch Niklas Luhmann aufmerksam: „Um das, was Nation sein soll, von Imagination in Realität zu überführen, muß man mit politischen (staatlichen) Mitteln für sprachliche und religiöse, kulturelle und organisatorische Vereinheitlichung in dem Territorium sorgen, das der Nationalstaat für sich in Anspruch nimmt. Insofern verschmelzen Sprache, Kultur und Staatlichkeit zu einer politischen Aufgabe, die sich nur noch nach ihrer jeweils unterschiedlichen historischen Ausgangslage unterscheidet. Nationale Identität ist nicht gegeben, sie muß definiert, gewonnen und gesichert werden.“6 Wenn freilich solche nationalen Narrative des 19. Jahrhunderts, die einer „nationalen“ kulturellen Idee dienten, noch immer, ohne es sich einzugestehen und ohne sie einer kritischen, dekonstruktivistischen Analyse zu unterziehen, zu allgemein dominanten Kriterien einer methodischen Herangehensweise und Deutung der Geschichte werden, ist große Vorsicht geboten. Vor allem dann, wenn sozial-kulturelle Aspekte unter vornehmlich nationalen Kriterien eine Klassifikation erfahren und solche Erklärungsmuster anachronistisch auf Prozesse in der Vergangenheit übertragen werden, in der weder nationale noch ethnische Maßstäbe, die sich erst im 19. Jahrhundert herausgebildet und verfestigt haben, eine Rolle gespielt haben. Vorsicht gilt auch in Bezug auf die Bewertung der Gegenwart, in der infolge der globalen Zeit-Raum-Verdichtung die ökologischen Probleme, die Wirtschaft oder die Finanzmärkte nicht mehr nationalstaatlich, sondern der jeweiligen staatlichen Kontrolle entzogen und transnational, global ausgerichtet sind und die Menschen mithilfe der modernen, immer höher entwickelten Kommunikationsweisen zunehmend an kulturellen beziehungsweise Bildungsinhalten partizipieren, die sich nicht ihrer eigenen, lokalen, das heißt in 5 Jan Nederveen Pieterse, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1998, S. 87– 124, Zit. S. 119. 6 Niklas Luhmann, Der Staat des politischen Systems. Geschichte und Stellung der Weltgesellschaft, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft S. 345–380, Zit. S. 365.
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der Sprache des 19. Jahrhunderts: „nationalen“ Lebenswelt verdanken. „Der Nationalstaat“, meint Stuart Hall daher zutreffend, „wird zunehmend von oben her von der Interdependenz des Planeten belagert – von der Interdependenz unseres ökologischen Lebens, von der gewaltigen Interpenetration des Kapitals als globaler Macht, von den komplexen Arten, auf die Weltmärkte die Wirtschaft von unterentwickelten, entwickelten und überentwickelten Nationen aneinanderbinden. Diese gewaltigen Systeme unterminieren zunehmend die Stabilität jeglichen nationalen Gebildes.“7 Eine der Folgen dieser Entwicklung ist jene, dass (nationale) Identität insgesamt als brüchig, fragmentiert, dezentriert, porös und hybrid oder als eine Möglichkeit erfahren wird, sich täglich mit etwas Neuem zu identifizieren und dass die Metaerzählung einer homogenen „nationalen Identität“ prinzipiell zur Disposition steht und in Frage gestellt werden muss. Freilich: Wo nationale Identitäten abhandenzukommen beginnen, werden, zumindest im politischen Diskurs, anscheinend neue Differenzen vor allem mithilfe der Repräsentation von sogenannten Minderheiten aufgebaut, die, im Sinne der Erhaltung alter oder der Schaffung neuer hegemonialer Positionen, auf einer Neukonstruktion von differenzierenden Merkmalen beruhen, ob das nun die Hervorkehrung der Hautfarbe, des sozialen Status, der Religion, der „ethnischen“ Zugehörigkeit oder der vermeintlich unterschiedlichen Lebenswelten, zum Beispiel „zivilisiert“ versus „primitiv“, ist.
Historische Gedächtnisforschung Ein gutes Beispiel für eine zum Teil sicher zu wenig reflektierte, anachronistische Verwendung nationaler Maßstäbe ist für mich unter anderem die gegenwärtige historische Gedächtnisforschung, die in erster Linie solche Gedächtnisorte zu rekonstruieren versucht, die für eine Nation, für ein Volk relevant waren, das heißt für die Bildung von Nation in einem positiven, konstitutiven Sinne, nachweislich instrumentalisiert wurden. Freilich: Gedächtnisorte unter einer solchen Perspektive historisch zu rekonstruieren birgt die Gefahr, unvermittelt neuerdings an einer Konstruktion von eindeutigen, homogenen 7 Stuart Hall, Ethnizität: Identität und Differenz, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1999, S. 83–98, Zit. S. 89.
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nationalen Erinnerungsorten beteiligt zu sein, die auch für die Gegenwart von Relevanz sind, anstatt sich eines dekonstruktivistischen Verfahrens zu bedienen, um dadurch auf deren prinzipielle Mehrdeutigkeit aufmerksam zu machen. Denn die „Konstruktion und Erfindung eines Gedächtnisortes“, meint Anil Bhatti treffend, „ist ein notwendiger Teil des Homogenisierungsprozesses, in dem Identifikationsfelder aus Mythos, Geschichte und politischer Bewegung konstruiert werden“.8 Ein solcher Vorbehalt erscheint mir angesichts recht eindeutiger Aussagen, wie etwa der folgenden, nicht unberechtigt zu sein: „Unsere Bände“, heißt es zum Beispiel in der Einleitung des dreibändigen Werkes „Deutsche Erinnerungsorte“, Friedrich Nietzsche paraphrasierend, „sind nicht entstanden, ‚damit das Leben verkümmert und entartet‘, sondern sind als Aufruf zur ‚Tat‘ und zum ‚Leben‘ gedacht. Weit entfernt davon, ‚bloße Belehrung‘ zu sein, möchten sie eher zur ‚Belebung‘ beitragen.“9 Das heißt: Bemüht man sich nicht um eine Dekonstruktion von solchen „Orten“, bleibt man, ohne es sich bewusst sein zu müssen, einem hegemonialen nationalen Narrativ des 19. Jahrhunderts verhaftet. Man bedient sich einer essenzialistischen, holistischen Vorstellung von (National) Kultur und übernimmt darüber hinaus die Vorstellung einer teleologischen Ausrichtung und Fortschrittsentwicklung von unterschiedlichen, „national codierten“ Kulturen, die von einer durchgehenden Kohärenz und von formalen (nationalen) Ordnungen geprägt sind. „Nur zu leicht fällt man der Versuchung anheim zu glauben“, mahnt Stuart Hall, „daß der Essentialismus, weil er theoretisch dekonstruiert wurde, auch politisch verdrängt (displaced) worden sei.“10 Schon Herder vergleicht die Volks- beziehungsweise Nationalkulturen mit Kugeln oder autonomen Inseln, die in sich geschlossen sind und „die mit der territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes de-
8 Anil Bhatti, Der koloniale Diskurs und Orte des Gedächtnisses, in: Moritz Csáky, Monika Sommer (Hg.), Kulturerbe als soziokulturelle Praxis, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2005, S. 115–128, Zit. S. 122. 9 Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte Bd. 1, München: H. C. Beck 2001, S. 24. 10 Stuart Hall, Wann gab es „das Postkoloniale“? Denken an der Grenze, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 2002, S. 219–246, Zit. S. 230.
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ckungsgleich sein sollten.“11 Diesen formalen nationalen Ordnungen, dieser „Kohärenz“ entspricht es auch, dass Kulturen zunächst voneinander profitieren, sich jedoch mit der Zeit naturgemäß voneinander abschotten und „zu ihrem Mittelpunkt“ drängen: „Der Grieche“, führt Herder aus, „macht sich so viel vom Ägypter, der Römer vom Griechen zu eigen, als er für sich braucht; er ist gesättigt, das Übrige fällt zu Boden, und er strebt’s nicht an! Oder wenn in dieser Ausbildung eigner Nationalneigungen zu eigner Nationalglückseligkeit der Abstand zwischen Volk und Volk schon zu weit gediehen ist, siehe, wie er den leichtsinnigen Griechen verachtet! So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich stoßen. Man nennt’s Vorurteil, Pöbelei, eingeschränkten Nationalism! Das Vorurteil ist gut zu seiner Zeit, denn es macht glücklich. Es drängt die Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste, das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes.“12 Doch es ist eben nicht „Kohärenz“, wie Clifford Geertz einmahnt, „der ausschlag gebende Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur“.13 Es ist daher nicht verwunderlich, ich möchte sagen fast folgerichtig, dass auch in den Veröffentlichungen der historischen Gedächtnisforschung nationale Kriterien die jeweiligen Untersuchungsfelder beherrschen und sie jeweils voneinander abgrenzen: Die historischen Gedächtnisprogramme rekonstruieren authentische „deutsche“, „französische“, „italienische“ oder „österreichische“ Erinnerungsorte und nicht solche, die von transnationaler und translokaler Bedeutung waren oder sein könnten,14 weil sich in diese, wie in 11 Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela Schneider, Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln: Wienand 1997, S. 67–90, Zit. S. 68. 12 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts, in: Herders Werke Bd. 3, Berlin/Weimar: Aufbau 51978, S. 69–70. 13 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ³1994, S. 26. 14 Vgl. Moritz Csáky, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Joseph Jung, Franziska Metz-
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einen Palimpsest, stets mehrere, eine nationale Ordnung störende Inhalte als Gedächtnisschichten eingeschrieben haben. Die Programme der historischen Erforschung von Gedächtnisorten versucht diese dagegen eindeutig und authentisch erscheinen zu lassen und die in ihnen vorhandenen vielfältigen „Spuren“ zu kaschieren, zu verwischen oder auszulöschen.
Kultur – Palimpsest und Spur Doch gerade eine solche „Erstellung einwandfreier Abbildungen von formalen Ordnungen, an deren Existenz niemand so recht glauben kann“, hat, so Clifford Geertz, auch „zur Diskreditierung von Kulturanalysen beigetragen“.15 In der Tat fungiert hier der Vergleich mit einem Palimpsest, wie Anil Bhatti ausführt, als „Gegenkonzept zur Homogenisierung“, er negiert „sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese“.16 Im Palimpsest kommt keiner der Schichten eine dominante, die übrigen Schichten übertönende Bedeutung zu, vielmehr haben alle Schichten ihre eigene, autonome Relevanz: „Dieses bedeutet“, wie Bhatti an einer anderen Stelle ausführt, „Fülle und Reichtum im historischen Prozess. Dies kehrt sich ins Gegenteilige, wenn die Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird.“17 Mit einer ähnlichen Metapher argumentierte auch Adalbert Stifter in der Erzählung „Die Pechbrenner“, wo von einem großen viereckigen Stein berichtet wird, auf dem seit vielen Generationen Kinder gesessen und ihre Eindrücke hinterlassen haben mochten: „Wenn jeder unserer Vorfahren ein unterscheidbares Merkmal auf ihm hätte eindrücken können, so wäre der Stein ein weit in die Zeit hinauf reichendes Denkzeichen unserer Voreltern
ger (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, Frauenfeld/Stuttgart/Wien: Huber 2002, S. 25–49. – Moritz Csáky, Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung, in: Georg Kreis (Hg.), Erinnern und Verarbeiten. Zur Schweiz in den Jahren 1933–1945. Itinera 25 (2004) S. 7–30. 15 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, S. 26. 16 Anil Bhatti, Der koloniale Diskurs und Orte des Gedächtnisses, S. 121. 17 Anil Bhatti, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2003, S. 55–68, Zit. S. 64.
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kultur – Palimpsest und spur
gewesen.“18 Oder, um als Vergleich Robert Musils plastische, literarisch verfremdete Beschreibung des aus mehreren Schichten bestehenden Hauses zu bemühen, in dem Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, wohnte: „Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder [Hervorhebung M. Cs.].“19 Sigmund Freud hat sich mit seinem „Wunderblockmodell“ auf eine ähnliche Metapher wie Palimpsest oder „übereinander photographierte Bilder“ gestützt, um die Interdependenz zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis zu erläutern: Der Wunderblock ist eine Wachstafel, auf der sich eine Zelluloid-Papierfolie befindet, die mit einem Griffel beschriftet werden kann. Die Spur der Schrift auf dem Papier bleibt lesbar, solange das Papier auf der Wachstafel ruht, wird es abgenommen, glättet sich das Papier und es bleibt nur mehr eine Spur von der Schrift im Wachs. Das auf der Wachstafel befindliche Papier kann so, ohne Schaden zu nehmen, mehrfach und unterschiedlich beschriftet werden, wodurch freilich dem Wachs unterschiedliche Schriftspuren eingeschrieben werden, von denen jede eventuell bei einem gewissen Lichteinfall gelesen werden kann: „Es ist aber“, so Freud, „leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung lesbar ist. Der Block liefert also nicht nur eine immer von neuem verwendbare Aufnahmefläche wie die Schiefertafel, sondern auch Dauerspuren der Aufnahme wie der gewöhnliche Papierblock […]. Es braucht uns dabei nicht zu stören, daß die Dauerspuren der empfangenen Aufzeichnungen beim Wunderblock nicht verwertet werden; es genügt, daß sie vorhanden sind.“20 Im Wachs des Wunderblocks sind, wie in einem Gedächtnisort, verschiedene Spuren eingeschrieben, die 18 Adalbert Stifter, Die Pechbrenner, in: Adalbert Stifter, Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, hg. von Wolfgang Matz, Bd. 2, München: Carl Hanser 2005, S. 1159–1200, Zit. S. 1159. 19 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 12. 20 Sigmund Freud, Notiz über den „Wunderblock“, in: ders., Essays III. Auswahl 1920– 1937, hg. von Dieter Simon, Wien: Böhlau und Berlin: Volk und Welt ³1990, S. 121– 126, Zit. S. 124–125.
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III. Kultur als kommunikationsraum
auf Texte verweisen, die unterschiedlich gelesen beziehungsweise erinnert werden können. Unwillkürlich denkt man bei dieser Freud’schen Metapher an Platons „Theaitetos“: Zum Unterschied zu Freud versetzt jedoch Platon einen „wächsernen Guss“ in die Seele des Menschen, welcher vom Wahrgenommenen „Abdrücke aufnehmen kann“. „Dieser, wollen wir sagen“, lässt Platon Sokrates erklären, „sei ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne, und wessen wir uns erinnern wollen von dem Gesehenen oder Gehörten oder auch selbst Gedachten, das drücken wir in diesen Guss ab, indem wir ihn den Wahrnehmungen und Gedanken unterhalten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes.“21 Aurelius Augustinus bedient sich im berühmten zehnten Buch seiner „Confessiones“ zwar nicht der WachsMetaphorik, doch auch er spricht von „Spuren“ (vestigia), die alles Wahrgenommene in der Seele hinterlässt, von Bildern in den weiten Hallen des Gedächtnisses, die jederzeit erinnert werden können: „Da ist auch nicht ein Ton erklungen und verhallt und hat beim Eindringen ins Ohr eine Spur gelassen, mit deren Hilfe er zurückgerufen werden kann, als erklänge er wieder, obschon er’s nicht tut.“22 Einem Gedächtnisort nur eine Schicht, nur eine Spur als „Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“,23 nur eine dominante Erinnerungsweise zuzugestehen, ihm einen eindeutigen, eben nicht „verwackelten Sinn“ zu geben, bedeutet nichts anderes, als im Interesse der (nationalen) Homogenisierung einer Gesellschaft nur eine Schicht als authentisch anzusehen und die vielen in ihm vorhandenen anderen Schichten beziehungsweise Gedächtnisebenen zu marginalisieren, zu negieren und sie bewusst nicht zu erinnern. Dazu kommt noch, dass man sich in Bezug auf die konkreten Untersuchungsgegenstände überwiegend von einem Kulturbegriff leiten lässt, der vornehmlich auf die repräsentative Kultur abzielt, also im Max Weber’schen Sinne auf Politik, Religion, Wis21 Platon, Theaitetos, in: Platon Sämtliche Werke Bd. 4: Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes. Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 103–181, Zit. S. 159. 22 Aurelius Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Übersetzt von Wilhelm Thimme. Mit einer Einführung von Norbert Fischer (= Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, S. 445. 23 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1982, S. 560.
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kultur und Kommunikation
senschaft, Literatur, Kunst, Architektur oder Musik, auch wenn diese den Alltag betreffen.
Kultur und Kommunikation Solche eindeutigen, holistischen Sichtweisen, die ich am Beispiel der historischen Gedächtnisforschung aufgezeigt habe, werden vor allem auch dann höchst fragwürdig, wenn man die kulturellen Kontexte, die „Felder“ (Pierre Bourdieu)24, die „Rahmungen“ (Erving Goffman)25 mitberücksichtigt, das heißt, um mich verkürzt auszudrücken, wenn man davon ausgeht, dass Kultur äußerst komplexe Prozesse beinhaltet. Kultur stellt sich, wie der Ethnologe Bronislaw Malinowski gemeint hat, „als der umfassende Zusammenhang menschlichen Verhaltens“ dar.26 Kultur sei etwas Umfassendes, „das sich zusammensetzt aus Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen“.27 Kultur kann demnach als ein dynamischer Prozess von „Verhaltensweisen“ begriffen werden, über die andauernd, performativ neu verhandelt wird. Denn soziale Gruppen verhalten und orientieren sich, so Simon Frith, nicht so sehr nach vorgegebenen Werten, sondern erwerben Orientierungen, das heißt Werte, durch soziale Handlungspraktiken immer wieder aufs Neue: „Mit anderen Worten möchte ich vorschlagen“, meint Simon Frith, „dass sich soziale Gruppen nicht auf Werte einigen, die sich dann in ihren kulturellen Aktivitäten ausdrücken (das wäre die Annahme der homologischen Modelle), sondern dass sie sich als Gruppen (als eine besondere Organisationsform individueller und sozialer Interessen, von Identität und Differenz) durch kulturelle
24 Vgl. u.a. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1999. 25 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1980. – Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, New York: Doubleday & Company 1959. 26 Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), in: ders., Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²2004, S. 45–172, Zit. S. 47. 27 Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, S. 74–75.
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III. Kultur als kommunikationsraum
Aktivitäten, durch ästhetische Urteile erst konstituieren.“28 Auch Stephen Greenblatts Kulturbegriff beruht gewissermaßen auf einer Weiterführung der Malinowski’schen Vorgaben: „Eine Kultur ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen [negotiations] über den Austausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und – durch Institutionen wie Sklaverei, Adoption oder Heirat – Menschen. […] In jeder Kultur gibt es einen allgemeinen Symbolhaushalt, bestehend aus den Myriaden von Zeichen, die Verlangen, Furcht und Aggression der Menschen erregen.“29 Ich möchte mich diesen Überlegungen anschließen und nun noch einen Schritt weiter gehen. Während Malinowski meinte, dass Personen in ihrem kulturellen Verhalten sich in Gruppen, in „Institutionen“ organisieren, schlage ich vor, Kultur als „Verhaltensprozesse“ unter der Perspektive von Kommunikation zu sehen: Sich gegenseitig in einer verständlichen Weise zu verhalten heißt miteinander zu kommunizieren. Es ist dies die Vision von Kultur, wie Zygmunt Bauman sich ausdrückt, als eines „spontanen Prozesses, der frei ist von administrativen oder leitenden Zentren“.30 Clifford Geertz ergänzt die These, Kultur als Verhaltungsprozesse aufzufassen, und verweist auf die funktionale Komponente von Kultur, indem er die Bedeutung von Kontrollmechanismen ins Spiel bringt: Man sollte „Kultur besser nicht als einen Komplex von Verhaltungsmustern – Sitten, Bräuchen, Traditionen, Bündeln von Gewohnheiten“ begreifen, „wie es bislang der Fall war, sondern als eine Menge von Kontrollmechanismen – Plänen, Rezepten, Regeln, Anweisungen (was Informatiker ein ‚Programm‘ nennen) – zur Regelung von Verhalten“.31
28 Simon Frith, Musik und Identität, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1999, S. 149– 169, Zit. S. 154. 29 Stephen Greenblatt, Kultur, in: Moritz Bassler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. Main: Fischer 1995, S. 48–59, Zit. S. 55. 30 Zygmunt Bauman, Gesetzgeber und Interpret: Kultur als Ideologie von Intellektuellen, in: Hans Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1990, S. 452–482, Zit. S. 479. 31 Clifford Geertz, Kulturbegriff und Menschenbild, in: Rebekka Habermas, Niels Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Beiträge zur historischen Anthropologie, Berlin: Klaus Wagenbach 1992, S. 56–82, Zit. S. 70.
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kultur als Kommunikationsraum
Kultur als Kommunikationsraum Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte könnte man unter Kultur folglich das gesamte Ensemble von Elementen, das heißt von Zeichen, Symbolen oder Codes verstehen, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext, nach einem gewissen Regelsystem, verbal und nonverbal kommunizieren. Diese Perspektive entspricht auch dem Kulturkonzept von Clifford Geertz, wonach „der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“32 Das kulturelle Ensemble kann demnach, in einem übertragenen Sinn, als ein dynamischer Kommunikationsraum begriffen werden, in dem durch die Setzung oder Verwerfung von Elementen, von Zeichen, Symbolen und Codes – auch in Form von Artefakten – kontinuierlich und performativ soziale Lebenswelten konstruiert, konstituiert, repräsentiert und reproduziert, individuelle und kollektive Identitäten geschaffen und Machtverhältnisse ausgehandelt werden. Diese Vorstellung von Kultur als Kommunikationsraum, die Kultur nicht als ein Objekt, sondern als Konstellationen von Differenzen begreift, bezieht sich auf einen Raumbegriff, der Raum nicht als einen Container oder Behälter auffasst, eine Voraussetzung übrigens für die nationalkulturelle Raumvorstellung, in dem bestimmte Inhalte verortbar erscheinen, sondern als einen gesellschaftlichen „Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten).33 Zeichen, Symbolen oder Codes werden in unterschiedlicher Weise Bedeutungen immer wieder erst eingeschrieben. Zeichen sind „Entitäten“, die wahrnehmbar, hörbar, lesbar sind und auf etwas anderes hindeuten, es sind in der Begrifflichkeit der Semiotik Signifikanten, die auf ein Signifikat, auf einen Referenten verweisen. Das Aufleuchten der Farbe Grün ist nicht nur angenehm anzusehen, es bedeutet 32 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ³1994, S. 7–43, Zit. S. 9. 33 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen ������������������������������������������� in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006, S. 292.
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III. Kultur als kommunikationsraum
bei einer Straßenkreuzung etwas ganz Spezifisches: Die Farbe verweist auf etwas, das erst sozial ausgehandelt wurde, nämlich dass Grün soviel bedeutet, dass die Straße überquert werden kann. Die Menschen, die auf beiden Seiten einer Kreuzung warten, müssen sich nicht mündlich erst darüber verständigen, dass die Straße überquert werden kann, es genügt das Aufleuchten des Zeichens Grün und alle setzen sich in Bewegung; das heißt die Menschen kommunizieren nonverbal mittels des Zeichens der Farbe Grün. Das Denkmal des Prinzen Eugen vor der königlichen Burg in Budapest ist eine Skulptur, die nicht nur auf einen bedeutenden Feldherrn verweist, der 1736 verstorben ist und dessen Bedeutung mit dem Bestand und der Neupositionierung der Habsburgermonarchie eng verbunden ist. Nachdem mit der Erinnerung an den Prinzen Eugen unweigerlich der Krieg gegen die Osmanen assoziiert wird, ist das Denkmal ein deutliches Zeichen für den Krieg gegen und den Sieg über die Osmanen. Diese spezifische Zeichenfunktion wird auch dadurch unterstrichen, dass das Denkmal nach Südosten ausgerichtet ist, woher die sogenannte „Türkengefahr“ einstens drohte. Zeichen und Symbole sind eng mit- und ineinander verwoben. Ein kleines Kreuz kann ein Zeichen für den Galgen sein, auf dem in der römischen Antike Verbrecher hingerichtet wurden. Es ist aber mehr als nur das. Ein Kreuz ist darüber hinaus ein Erkennungszeichen für Menschen, die an den Kreuzestod Christi glauben, es ist ein Symbol für die Gemeinschaft von Gläubigen, es ist ein Symbol für die christliche Religion und die Christenheit. Das Kreuz wird erst zum Symbol, weil wir ihm diese Funktion oder Bedeutung einschreiben und ihm eine solche Authentizität zusprechen. Einfache Zeichen werden zuweilen dann zu Symbolen, wenn sie in der Kommunikation von besonderer Bedeutung sind. Daher nimmt auch jedes einzelne der Symbole oder das Ensemble von Symbolen als symbolisches Kapital bei der Etablierung von intellektueller, religiöser oder politischer Macht eine besondere Rolle ein: Das Symbol des Kreuzes wurde zum Beispiel nicht nur für die Unterwerfung unter ein religiöses System, für die Anerkennung von verbindlichen Glaubenssätzen oder für die Missionierung „heidnischer“ Völker verwendet, es wurde ebenso für politische Zwecke instrumentalisiert, um beispielsweise für einen Krieg zu rekrutieren oder die vermeintliche Gerechtigkeit eines Krieges zu verkünden. Unter einem Code schließlich kann man ein Regelsystem verstehen, in dem eine Summe von Zeichen verortet ist, die zusammen genommen eine 102
kultur als Kommunikationsraum
besondere Deutung erlangt. Eine solche Verortung und Deutung wird in der Regel zunächst selten hinterfragt und ist daher für ein Individuum und für eine Gesellschaft von präformativer Relevanz. Codes als Zeichensysteme decken zum Beispiel Verhaltensnormen auf, nach denen man sich auszurichten hat, ohne sie immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Sie können in einer Gesellschaft von Generation zu Generation, in schriftlicher oder ritueller Weise als „kulturelles Gedächtnis“ weitergegeben werden, und sie werden, weil sie von besonderer Bedeutung sind, oft ideologisch beziehungsweise religiös begründet oder umschrieben. Kulturelle Codes können unterschiedliche Denkmodelle sein, zum Beispiel unterschiedliche Zeitvorstellungen (zyklische, lineare Zeitvorstellungen), Ursprungsmythen (Abstammung des Menschen), Geschlechterstereotype, das konkrete Verhalten in einer ehelichen Gemeinschaft (Familie) oder die von Kindheit an tief eingeprägte, geregelte Abfolge von Speisen, das heißt die Etikette bei der geregelten Aufnahme von Nahrung (die Reihenfolge Vorspeise, Suppe, Hauptspeise, Nachspeise, Kaffee und nicht umgekehrt), die natürlich in verschiedenen Kulturen unterschiedlich geregelt sein kann. Erst ein kritisches Hinterfragen, zum Beispiel durch die Aufklärung, führt zur De-Codierung, das heißt zur Entflechtung oder Auflösung mancher dieser verhaltenspräskriptiven, normativen Bilder. Auch wenn die Akzeptanz von Codes – einem Gesellschaftsvertrag vergleichbar – die Kommunikation innerhalb eines sozialen Kontextes erst ermöglicht, heißt das nicht zugleich, dass sich Codes in Bezug auf die Mitteilungen und vor allem die Bedeutungen, die ihnen innewohnen beziehungsweise die in sie eingeprägt wurden, im Hinblick auf den Aussagewert der Summe ihrer Zeichen, nicht verändern könnten. Alte Codes können an Bedeutung verlieren, neue Codes können entstehen oder übernommen und in eine Gesellschaft integriert werden. Sowohl durch die christliche Missionierung der Inkulturation als auch durch den Kolonialismus wurden in zunächst „fremde“ Gesellschaften neue Codes, neue Verhaltensregeln implementiert. Oder: In spezifischen regionalen Kontexten gibt es nicht nur Zeichen und Symbole, sondern auch Verhaltensmuster, die wir Codes nennen, jenseits der konkreten gesprochenen Sprachen (langues), die allgemein verständlich sind, die jedoch durch ihre Verwendung oder Inanspruchnahme in der konkreten Kommunikation, im Sprechen (parole) beziehungsweise im individuellen Sprechakt (Idiolekt), der zwar vom sozialen Kontext nicht zu trennen ist, immer wieder neu aufgeladen, individuell oder kollektiv erinnert werden und dadurch auch zu 103
III. Kultur als kommunikationsraum
Differenzen innerhalb eines Sprach- oder Kommunikationsraums beitragen können. Ich werde weiter unten kurz auf das Beispiel der Funktion des Doppelkreuzes als eines verbindenden und zugleich trennenden kommunikativen Symbols beziehungsweise Codes in Zentraleuropa zu sprechen kommen.
Kultur – ein hybrider Kommunikationsraum Kultur ist also ein Kommunikationsraum mit durchlässigen, offenen Grenzen, da immer wieder neue Elemente hinzukommen, andere an Aussagekraft verlieren, umgedeutet oder ausgeschieden werden. Kultur ist somit ein Geflecht von differenten Anhaltspunkten, von differenten Ausdrucksweisen oder mimetischen Umgangsformen, das heißt von unterschiedlichen und widersprüchlichen Bedeutungen, mit deren Hilfe Individuen und soziale Gruppen sich in einem umfassenderen Kontext, in einem öffentlichen oder metaphorischen Raum, zu orientieren versuchen und Orientierung stets aufs Neue generieren. „Bedeutung“, argumentiert Aleida Assmann im Anschluss an den Linguisten Ludwig Jäger, „kann also nie wirklich vorausgesetzt und einfach eingesetzt werden, sondern muss im Vollzug zwischen den Gesprächspartnern immer neu ermittelt, ausgehandelt und kooperativ geschaffen werden.“ Denn: „Ein Wort hat mehrere Bedeutungen, eine Bedeutung ist in mehreren Worten darstellbar; neben den Grundbedeutungen (Denotationen) gibt es stets einen diffusen Horizont von Zusatzbedeutungen (Konnotationen).“34 Bedeutung stiftende Elemente oder Zeichen – und letztlich die Summe dessen, was als gesellschaftlich gültige „Werte“ vorgegeben wird – werden zumeist nicht nur medial vermittelt, von einem „Sender“ zum „Empfänger“, sondern durch Medien, zum Beispiel durch rituelle Verfahrensweisen, performativ geschaffen (vgl. Marshall McLuhans „The medium is the message“35). Die Einübung in ein (kulturelles) Zeichensystem, das auf bestimmte Codes und somit Inhalte und mögliche Bedeutungen verweist, erfolgt freilich vor allem in Schriftkulturen weniger durch Riten oder Feste als vielmehr durch 34 Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 34, S. 51. 35 Marshall McLuhan, Das Medium ist die Botschaft, in: Uwe Wirth (Hg.), Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008, S. 417–423.
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kultur – ein hybrider kommunikationsraum
performative schriftliche oder „bildliche“ mediale Vermittlungen (Kommunikationen) und durch die kommunikative Deutung beziehungsweise Decodierung dieser vermittelten Inhalte.36 Vermittelte Inhalte werden so nicht nur weitergegeben, sie können freilich gleichermaßen auch kritisiert, infrage gestellt oder verworfen werden, nicht selten durch die Setzung von subversiven, „karnevalesken“ Gegenpositionen im Michail Bachtin’schen Sinne.37 Die vermittelten, „übersetzten“ Inhalte können freilich im Prozess und als Prozess der medialen Vermittlung selbst performativ verändert werden, sodass sich Kulturen dann nicht mehr so sehr als „Objekte von Übersetzungen, sondern als Konstellationen von Konflikten, Differenzen, Überlagerungen und Vermischungen“ darstellen.38 Um mit Stuart Hall zu argumentieren, der in einer kulturwissenschaftlichen Analyse der Fernsehkommunikation die Linearität von Sender/Nachricht/Empfänger infrage stellt, hieße das, „den Prozeß als ‚komplexe, dominante Struktur‘ zu verstehen, die durch die Artikulation miteinander verbundener Praktiken entsteht, von denen jede in ihrer Unverwechselbarkeit erhalten bleibt und ihre spezifische Modalität, ihre eigenen Existenzformen und -bedingungen hat“.39 Dieses Konzept von Kultur als einem offenen, dynamischen, performativen und folglich hybriden Kommunikationsraum, oder: einem kommunikativen Zwischenraum, in dem Differenzen nicht einfach „vermischt“, sondern anerkannt und offengelassen werden, das heißt Differenzen mit dem Blick auf die Zwischenräume, auf die Übergänge, die „Passagen“ erst richtig sichtbar bleiben, aus denen die rhizomhaften „Verknotungen“ und Verflechtungen,40 die engen Vernetzungen differenter Elemente sich abheben, wird gerade durch zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit jenem eingangs skizzierten Verfahren nur bestätigt, mit dem in einer gegenläufigen Tendenz homogene, essenzialistische „Nationalkulturen“ konstruiert wer36 Vgl. u.a. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C. H. Beck ²1997, S. 48–66. 37 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1995. 38 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 250. 39 Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen 1999, S. 82–110, Zit. S. 93. 40 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom, Berlin: Merve 1977.
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III. Kultur als kommunikationsraum
den, die ebensolchen Differenzen, Zwischenräumen und Übergängen nichts abgewinnen können, diese vielmehr zu überwinden trachten. Ich verweise unter anderem auf Salman Rushdie, der in diesem Zusammenhang nicht müde wird, auf die Komplexität und folglich auf die Mehrdeutigkeit von kulturellen Prozessen, Praktiken, Ausformungen, Bedeutungen und Inhalten aufmerksam zu machen; er erteilt damit der Vorstellung von einer homogenen, authentischen Kultur, nicht zuletzt mit dem konkreten Hinweis auf sein Geburtsland Indien, eine klare Absage. Ich halte es für besonders wichtig, dass Rushdies Kritik dabei nicht zuletzt gegen das eurozentrisch geprägte Konstrukt von einer authentischen „Nationalkultur“ gerichtet ist: „Einer der absurdesten Aspekte dieser Suche nach nationaler Authentizität“, so Rushdie, „ist die vollkommen falsche Annahme, es gäbe so etwas wie reine, unverfälschte Traditionen, aus denen wir schöpfen könnten. Die einzigen Menschen, die ernsthaft daran glauben, sind die religiösen Extremisten. Wir anderen dagegen begreifen, dass das Wesen der indischen Kultur eben in dem Bewusstsein besteht, dass wir eine gemischte Tradition besitzen, eine Melange von Elementen, so unterschiedlich wie antikes Mughal und zeitgenössisches Coca-Cola-Amerikanisch. Ganz zu schweigen von muslimischen, buddhistischen, dschaistischen, christlichen, jüdischen, britischen, französischen, portugiesischen, marxistischen, maoistischen, trotzkistischen, vietnamesischen, kapitalistischen und natürlich hinduistischen Elementen.“41 Das bedeutet, im Verständnis von Walter Benjamin, dass das, was vermeintlich als Tradition beziehungsweise als eine kontinuierliche, lineare Überlieferung, als ein festes überkommenes kulturelles Erbe vorgegeben wird, letztlich ein Konstrukt bleibt und keine Gültigkeit haben kann und dass daher der Rekurs auf eine solche Überlieferung, auf ein solches kulturelles Erbe obsolet und eine katastrophale Fehleinschätzung sein kann: „Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“42, so Benjamin – weil sie nicht zuletzt nur eine Position, nämlich jene der Herrschenden widerspiegelt und bestehende Machtpositionen nur verfestigt. Das heißt, im Hinblick auf die Relevanz von einer vermeintlich 41 Salman Rushdie, Es gibt keine „Commonwealth-Literatur“, in: ders., Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991, München: Kindler 1992, S. 81–92, Zit. S. 88–89. 42 Walter Benjamin, Das Passagenwerk. Aufzeichnungen und Materialien, in: ders., Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1982, S. 591.
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authentischen historischen Tradition, dass „der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs herausgesprengt“ werden muss,43 aus einem Kontinuum, das nur wir rückblickend der Geschichte eingeschrieben haben und immer wieder einschreiben. Ähnlich wie Rushdie argumentiert der polnische Komponist Krzysztof Penderecki: „Ich bin ein Hybride“, sagte Penderecki in einem seiner Interviews. „Meine Familie stammt aus den Kresy [historisches Ostpolen]. Meine Großmutter väterlicherseits war eine Ormianin, mein Großvater – ein polonisierter Deutscher. [...] Mein Vater kam aus der Ukraine. Er war orthodox […].“ Und weiter: „Beispielsweise hatte ich immer einen Hang zur Orthodoxie, andererseits faszinierte mich die westliche Kultur mit ihrem Rationalismus, aber auch mit ihrer Kunst des Ausdrucks von kompliziertesten Gefühlen.“44 Diese von Penderecki angesprochene Hybridität entspricht der Realität von kulturellen Prozessen, die Prozesse von Durchdringungen und Überlappungen darstellen, in denen das Authentische gerade in dieser hybriden Gemengelage besteht. In den „Satanischen Versen“ hat Rushdie einer solchen Sicht Rechnung getragen und in einer Verteidigung seines Romans auf den Zustand der „Bastardisierung“ von Menschen in der Gegenwart hingewiesen, die in der Regel in diasporischen Verhältnissen zu leben haben; freilich ist dies keineswegs nur negativ zu verstehen und gilt ebenso für die Vergangenheit. „Die Satanischen Verse“, führt Rushdie aus, „feiern die Bastardisierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung, die durch neue, unerwartete Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Richtungen, Filmen oder Liedern entstehen. Das Buch erfreut sich am Mischen der Rassen und fürchtet den Absolutismus des Reinen. Melange, Mischmasch, ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. […] Während der ganzen Menschheitsgeschichte haben die Apostel der Reinheit, jene, die behaupten, eine hundertprozentige Erklärung zu haben, Verheerendes unter den verwirrten Menschen angerichtet: Genau wie viele andere Millionen Menschen bin ich ein Bastardkind der Geschichte. Vielleicht gehen wir alle, schwarz, braun und weiß, ineinander über, wie eine meiner Figuren einmal
43 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, S. 594. 44 Mieczisław Tomaszewski, Der Schaffensweg des Krzysztof Penderecki, in: Silesia Nova. Vierteljahrsschrift für Kultur und Geschichte 5/1 (2008) S. 50–57, Zit. S. 53.
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III. Kultur als kommunikationsraum
gesagt hat, gleich dem Geschmack der Zutaten beim Kochen.“45 Dieses vielfältige ineinander Übergehen verdeutlicht Gilles Deleuze durch das bereits erwähnte Denkmodell des Rhizoms, nämlich eines horizontal wachsenden, in sich verknoteten Wurzelgeflechts, mit dessen Hilfe multiple, der kausalen Logik eines Baumes – das heißt: aus einer Wurzel entwickelt sich „kausal“ ein Baum – entgegengesetzte kulturelle Netzwerke veranschaulicht werden können: „Eine Vielheit [multiplicité, M. Cs.] hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig verändern.“ Die ständigen in- und miteinander vernetzten Veränderungen bezeichnen Gilles Deleuze und Félix Guattari auch als kontinuierliche „Deterritorialisierungsbewegungen“, als ein „Würzelchen-Chaosmos statt Wurzel-Kosmos“.46 Homi K. Bhabha hingegen verdeutlich aus einer postkolonialen Sicht kulturelle Prozesse mit der Metapher des „dritten Raumes“ (third space), der von zahlreichen Differenzen und nicht von einer harmonischen Multikulturalität im herkömmlichen Sinne, sondern von Hybridität geprägt ist, in dem, einem Raum des „in-between“, es kein allgemein gültiges Wissen, keine allgemein gültige Orientierung gibt und folglich neue Aushandlungen von kulturellen Symbolen stattfinden können/müssen, in dem beispielsweise Historien oder Narrative zu etwas Neuem transformiert werden, oder in dem kontinuierlich Prozesse von „Translationen“, von „Übersetzungen“ stattfinden. Nicht nur die (post)koloniale Situation oder globale Mobilitäten verdeutlichen heute solche Prozesse eines dritten Raumes, Migrantinnen und Migranten personifizieren solche translatorischen Prozesse, die ein multiples Wissen und daher kontinuierliche (Neu-)Identifizierungen (identifications) zur Folge haben. Dieses Konzept Bhabhas transzendiert binäre kulturelle Oppositionen und Dichotomien (Selbst/Anderer, Kolonisator/Kolonisierter, Ost/West), die einer essenzialistischen kulturellen Vorgabe wie zum Beispiel der einer Nationalkultur und zum Teil unbewusst auch der Vorstellung von kulturellen Transfers, denen Exklusion und Inklusion kultureller Elemente inhärent 45 Salman Rushdie, In gutem Glauben, in: ders., Heimatländer der Phantasie S. 456–481, Zit. S. 457–458. 46 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom, S. 13, 17, 10. – Vgl. dazu Caitríona Ní Dhubhghaill, Netzwerk –Rhizom – Banyan. Komplikationen der Verwurzelung bei Kafka und Joyce, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme, Jeanne Riou (Hg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln u.a.: Böhlau 2004, S. 279–296.
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Beispiel: kulturelle Prozesse und essgewohnheiten
sind.47 Aus einer anderen Perspektive könnte man einen solchen kulturellen Kommunikationsraum des „in-between“ auch als einen Gedächtnisraum auffassen, in dem multiple, variable, dynamische Erinnerungsprozesse stattfinden und Orientierungen und Identifizierungen immer neu ausgehandelt werden müssen, wobei die unterschiedlichen Erinnerungsweisen auch die Gedächtnisinhalte, an denen sie sich ausrichten, das, was Aleida Assmann weitgehend unter einem normativen Speichergedächtnis subsumiert, performativ modellieren und modulieren.48
Beispiel: Kulturelle Prozesse und Essgewohnheiten Der Verweis Salman Rushdies auf die Küche ist wohl nicht zufällig gewählt: In der Tat vermag man die Komplexität und Hybridität kultureller Prozesse mit einem Vergleich der Zubereitung von Speisen und mit der Vielfalt von Speisenabfolgen bei einem Mahl sehr deutlich zu veranschaulichen. Wie bei kulturellen Abläufen gehen auch hier unterschiedliche Elemente und Zutaten, die für eine Speise notwendig sind, zwar eine Symbiose ein, diese werden aber dadurch nicht vollständig absorbiert oder eliminiert; die Differenz der einzelnen Elemente bleibt immer noch irgendwie wahrnehmbar, zum Beispiel die Sorte des Fleisches oder die Art und Herkunft des Gewürzes. Und Speisenabfolgen, aus denen sich zum Beispiel das Menü einer typischen Wiener Küche zusammensetzt, sind nicht nur ein Spiegelbild der alltagskulturellen Realität der zentraleuropäischen Region und daher arbiträr, sie sind auch 47 Homi K. Bhabha, Die Verortung von Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000 (= The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994). – Vgl. dazu auch Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, hier v.a. die Einleitung, S. 1–29, und die hier ausgewählten Texte von Homi K. Bhabha. – Doris Bachmann-Medick, Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung, in: Claudia Breger, Tobias Döring (Hg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam-Atlanta: Rodopi 1998, S. 19–36. – Vgl. zu Homi K. Bhabha auch Stephan Jochen Bonz und Karen Struve, Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag 2006, S. 140–156. 48 Vgl. u.a. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 1999.
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III. Kultur als kommunikationsraum
die Spuren und der Widerschein einer innerstädtischen diasporischen Situation, die sich den Immigranten aus der Gesamtregion in die Stadt verdanken. Speisen sind symbolisch aufgeladen, sie werden mit allen Sinnen aufgenommen, sie können genossen, geschmeckt, gerochen, betrachtet (man „isst auch mit den Augen“), erlebt, erinnert und kulturell beziehungsweise national, als „Nationalspeisen“, codiert beziehungsweise instrumentalisiert werden. Essen gehört zur wichtigsten Überlebensstrategie des Menschen, Speisen sind daher sehr wichtige Symbole des Alltags, die im Bewusstsein stets präsent bleiben und deren kontinuierliche erinnernde Aneignung, ganz abgesehen vom realen, ritualisierten Speisenverzehr, von individueller und kollektiver identitätsstiftender Funktion sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Sprache sich Wörter beziehungsweise einer reichen Metaphorik bedient, die Speisen beziehungsweise dem Essen entlehnt sind: Schmecken, Geschmack, Duft, das Eingemachte, schmoren, versalzen, versüßen, verdünnen, schal, bitter, sauer, herb, süß, saftig usw. Die einzelnen Speisen repräsentieren oder konstruieren darüber hinaus zumindest ein Dreifaches: erstens das „Ursprungsland“, die Genealogie, die Geschichte, aus dem beziehungsweise aus der sie stammen (zum Beispiel die Kolatsche aus Böhmen beziehungsweise Mähren), zweitens eine spezifische Veränderung, die sie in der Diaspora des urbanen Milieus erfahren haben (zum Beispiel die Veränderung des ungarischen „gulyás“ in der Wiener Gulaschsuppe beziehungsweise des „pörkölt“ im Gulasch) und schließlich, drittens, das stets ein wenig differente Produkt, das sich der individuellen Zubereitungsweise durch den Koch oder die Köchin verdankt und ihre „Einzigartigkeit“ ausmacht (zum Beispiel beim Wiener Tafelspitz). Die gleiche Speise „schmeckt“ daher immer etwas anders, die Repräsentation ein und derselben Speise ist immer etwas unterschiedlich und ihre jeweilige „Identität“ ist nie genau die gleiche, sondern von den konkreten „translatorischen“ Reproduktionspraktiken abhängig. Ich möchte noch auf einen letzten Aspekt hinweisen, der im Zusammenhang mit Speisen kulturelle Prozesse zu verdeutlichen vermag. Kultur als ein entgrenzter, offener Kommunikationsraum ist ein dynamischer, performativer Vorgang, der nicht nur in einem abgezirkelten sozialen Kontext stattfindet, sondern dauernd „Fremdelemente“ absorbiert, übersetzt, sich zu eigen macht und somit zugleich diese und sich selbst verändert. Speisen, die für die zentraleuropäische Region und für spezifische subregionale Einheiten charakteristisch sind, sind solche „Fremd 110
Entgrenzter kommunikationsraum
elemente“, die zu Symbolen der kulturellen Identität der einzelnen Gesellschaften geworden sind. Jedoch das gefüllte Kraut, in seiner ursprünglichen ungarischen Variante als „töltött káposzta“, ist in Wirklichkeit osmanischer Herkunft und für den gesamten südöstlichen Bereich der zentraleuropäischen Region typisch. Gleiches trifft auf die in Ungarn sehr verbreitete aus Mehl und Eiern zubereitete „tarhonya“ (türkisch: tarhana) oder auf den (Kraut-) Strudel zu.49 Der scharfe Paprika – seit dem 19. Jahrhundert weltweit ein Identifikator für Ungarn – wurde in der ungarischen bäuerlichen Küche erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts heimisch und stammte aus den osmanisch besetzten Regionen des Balkan (deshalb auch „török-bors“, das heißt „Türkenpfeffer“ genannt).50 Folgt man einer der Hypothesen über die Geschichte des Wiener Schnitzels, ist es lombardischer, Mailänder Herkunft und wurde in Wien durch eine spezielle Art seiner Zubereitung zum Wiener Schnitzel, zu einer Speise, die zur Identität dieser Stadt und heute weltweit zu einer Repräsentation für Wien geworden ist. Es wäre vielleicht lohnend, die Alltagskulturen, inklusive der Essgewohnheiten der Völker Zentraleuropas, denen oft ein nationaler Repräsentationswert zugesprochen wird, aus einer solchen „postkolonialen“ und „translatorischen“ Perspektive eingehender zu analysieren beziehungsweise einem dekonstruktivistischen Verfahren zu unterziehen, wodurch die kulturelle Komplexität, die performative Veränderung und die Hybridisierung von Speisen verdeutlicht werden könnten, Prozesse, die auch komplexe kulturelle Vorgänge im Allgemeinen widerzuspiegeln beziehungsweise zu verdeutlichen vermögen.
Entgrenzter Kommunikationsraum Ein solcher umfassender Kulturbegriff, den ich hier vorschlage, hat mehrere Vorteile. Unter anderem jenen, dass er zunächst zwischen Hoch- und Alltagskultur, zwischen repräsentativer und Populärkultur nicht dichotomisch 49 Ortutay Gyula (Hg.), Magyar Néprajzi Lexikon (Ungarisches Volkskunde-Lexikon) Bd. 5, Budapest: Akadémiai Kiadó 1982, S. 210, S. 332–333. 50 Magyar Néprajz (Ungarische Volkskunde), Bd. IV: Életmód (Lebensweise), hg. von Balassa Iván, Budapest: Akadémiai Kiadó 1997, S. 534. – Vgl. auch István György Tóth, Hungarian Culture in the Early Modern Age, in: László Kósa (Hg.), A Cultural History of Hungary. From the Beginnings to the Eighteenth Century, Budapest: Corvina/Osiris 1999, S. 154–228, v.a. S. 177–187.
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III. Kultur als kommunikationsraum
unterscheidend verfährt, sondern gleichwertig das gesamte lebensweltliche Umfeld berücksichtigt. Populärkultur, die zum Teil auf Spontaneität beruht, hat nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine soziale Funktion und ist unter anderem auch auf Unterhaltung ausgerichtet, um damit Problemen des Alltags zu begegnen. Populärkultur wurde immer wieder unterschiedlich definiert, um sie von anderen kulturellen Bereichen abzugrenzen; sie bediente sich, historisch betrachtet, immer wieder unterschiedlicher Praktiken und Rezeptionsweisen. „Populärkultur“, meint Lawrence Grossberg daher ganz allgemein, „ist formal definiert worden (als schematisch), ästhetisch (als Gegensatz zur Hochkultur), quantitativ (als Massenkultur), soziologisch (als Kultur ‚der Leute‘) und politisch (als widerständige Volkskultur)“.51 Was den Unterhaltungswert von Kultur insgesamt anlangt, hat der amerikanische Philosoph Richard Shusterman vor Kurzem die ästhetische Dimension von Unterhaltung hervorgehoben, die in dem von Hegel geprägten bürgerlichen Ästhetik-Konzept, das vor allem die soziale Relevanz von Kunst vernachlässigt, keinen Platz hatte: „Auf traurige Weise beherrscht diese Hegelianische Einstellung nach wie vor die gegenwärtige Ästhetik“, argumentiert Shusterman, „deren idealistische Wende im Bereich der Kunst die Wahrheit der Schönheit und dem Vergnügen vorgezogen hat, während zugleich ästhetisch der Sphäre der Hohen Kunst der Vorzug vor natürlicher Pracht gegeben wurde.“52 Simon Frith macht in analoger Weise in Bezug auf die musikalische Produktion deutlich, „daß es keinen Unterschied zwischen Hoch- und Populärkultur gibt, sobald wir von Musik als ästhetischem Prozeß sprechen. […] Mit anderen Worten beschreibt die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur keine Differenz, die durch unterschiedliche (klassengebundene) Geschmacksentscheidungen herbeigeführt wird; sie ist ein Effekt unterschiedlicher (klassengebundener?) sozialer Aktivitäten.“53 Populärkultur als Unterhaltungskultur bedient sich der gleichen oder ähnlichen kulturellen 51 Lawrence Grossberg, Zur Verortung der Populärkultur, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies, S. 215–236, Zit. S. 223. 52 Richard Shusterman, Unterhaltung: Eine Frage für die Ästhetik, in: Christoph Jacke, Eva Kimminich, Siegfried J. Schmidt (Hg.), Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld: transcript 2006, S. 70–96, Zit. S. 81. 53 Simon Frith, Musik und Identität, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt a. Main u.a.: Campus 1999, S. 149– 169, Zit. S. 155.
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Praktiken und Absichten wie die sogenannte Hochkultur. „Die konventionelle Unterscheidung zwischen Form (Hochkultur) und Funktion (niedere Kultur)“, meint daher Simon Frith an einer anderen Stelle, „kann jedenfalls nicht länger aufrecht erhalten werden, auch nicht in ihrer populistischen Lesart, die zwischen Maßstäben der Qualität und Ästhetik auf der einen Seite und Maßstäben der Bedeutung und Produktivität auf der anderen Seite unterscheidet.“54 Mit anderen Worten: Kultur umfasst gleichermaßen alle Elemente, mittels derer kommuniziert, somit Sinnstiftung produziert und Orientierung in einem sozialen Kontext herbeigeführt wird. Dieser umfassende Kulturbegriff, der Alltags- und Hochkultur, Populärund Elitenkultur gleichermaßen umfasst, beinhaltet eine deutliche Absage an eine essenzialistische Vorstellung von Kultur, da es sich bei solchen (kulturellen) Kommunikationsräumen um Zeichensysteme, oder, in einem übertragenen Sinne, um „Texte“ handelt, die nicht in sich geschlossen beziehungsweise abgeschlossen sind, vielmehr flüssige, flüchtige, poröse Übergänge gegenüber anderen Kommunikationsräumen aufweisen, mit denen sie auf eine vielfältige, dynamische Art verwoben sind, sich austauschen, damit sich gleichzeitig verändern, produzieren und reproduzieren. Man denke hier beispielsweise auch an die andauernde, dynamische Veränderung einer konkreten, gesprochenen Sprache, mit ihren neuen Wortschöpfungen, Wortveränderungen, Sinnzuweisungen, wobei kontinuierliche Anleihen aus anderen verbalen Kommunikationsräumen, das heißt konkreten Sprachen, noch hinzukommen. Erst recht gilt eine solche Dynamik für die nonverbale Kommunikation. Gleiche Zeichen und Symbole können in unterschiedlichen Kontexten vorkommen und lassen die oft postulierte Geschlossenheit von Kommunikationsräumen als obsolet erscheinen. Dies betrifft vor allem, aber nicht ausschließlich Formen der nonverbalen Kommunikation, die im alltäglichen Leben weitaus häufiger vorkommt als die konkrete sprachliche, verbale Form der Kommunikation. Ich möchte das mit einigen Beispielen verdeutlichen. Individuen oder Gruppen kommunizieren zum Beispiel, wie bereits angedeutet, täglich mit Verkehrszeichen, mit der Verkehrsampel und ihren unterschiedlichen Farbensignalen. Sie orientieren sich in einer Stadt, indem sie in 54 Simon Frith, Das Gute, das Schlechte und das Mittelmäßige. Zur Verteidigung der Populärkultur gegen den Populismus, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies S. 191–214, Zit. S. 198.
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einen Dialog eintreten mit der Ausrichtung von Straßen und Plätzen, mit Wegweisern, mit Straßennamen, mit Gebäuden wie Kirchen, Palästen, Kaufhäusern, mit Denkmälern oder mit Skulpturen, die an Gebäuden angebracht sein können oder mit einem Kirchturm, wie Adalbert Stifter in seiner literarischen Stadtsemiotik „Wien und die Wiener“ die Spitze des Stephansturms, sie mit einer Pappel vergleichend, für den „armen Landbewohner“, der sich in der Stadt nicht auskennt, zum Orientierungszeichen werden lässt: „Eine endlose Gasse nimmt ihn auf, ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt, wird immer dichter, und immer lärmender, je näher er jener Pappel kömmt, die er jetzt nirgends sieht – ja dort tritt sie vor, ein dunkler schlanker riesiger Stift in der glänzenden Luft – nein sie ist es nicht; denn weiter rechts steht mit einem Male eine noch größere, ruhigere, graublau dämmernd, den Adler auf der Spitze tragend – diese ist’s man sieht fast das zarte Laubwerk an ihrem Schafte emporstreben.“55 Das heißt: Menschen „lesen“ den „Text“ einer Stadt, sie kommunizieren mit unterschiedlichen Signifikanten, das heißt Zeichen, die auf etwas hinweisen, wie zum Beispiel einem Turm, der ihnen Orientierung bietet und den sie daher immer wieder in den Blick zu bekommen suchen. In der Menge von Passanten orientiert man sich an der Ausrichtung und Gangart der Entgegenkommenden, man vergewissert sich einer solchen Situation, weicht aus, versucht zum Beispiel bei Regen den eigenen Schirm mit den Schirmen der anderen abzustimmen, um mit diesen nicht zusammenzustoßen, beschleunigt vielleicht den Schritt oder überlegt, einen anderen Weg einzuschlagen, um besser voranzukommen. Oder man folgt lautlos einem Menschenstrom, von dem man annimmt, dass er dem gleichen Ort zustrebt, an den man gelangen will, an dem vielleicht eine Veranstaltung oder ein Fest stattfinden soll, an dem man teilnehmen möchte: „Allein wenn man durch die belebteren Gassen vorzüglich dem Menschenstrome nachgeht“, so Adalbert Stifter, „so kann es kaum fehlen, daß man nicht auf den Platz gelangt, welcher den Namen des heiligen Stephans führt, und daß man nun endlich den Bau ohne Zwischengegenstände vor Augen hat, von dem die
55 Adalbert Stifter, Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, in: Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk, in: Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe, München: Winkler 1968, S. 281–301, Zit. 282.
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Blicke in aller Ferne so sehr angelockt worden waren.“56 Nonverbale, mimetische Ausdrucksweisen wie Blicke, Gesten, unterschiedliche Körperhaltungen begleiten jede verbale Kommunikation, die auch durch Laute unterstützt werden kann, wie dem mehrdeutigen „Aha!“, das, jenseits einer konkreten, gesprochenen Sprache, je nach Artikulation, der Höhe beziehungsweise Phrasierung, in der es vorgebracht wird, die nonverbale Form einer Zustimmung, einer Frage, einer Abneigung oder einer Ablehnung signalisieren kann. Auch Gegenstände „sprechen“ und werden verstanden: Tritt man in ein Zimmer, in dem sich ein gedeckter Tisch befindet, versteht man, dass hier bald ein Essen stattfinden wird; es muss einem diese „Konnotation“ nicht noch verbal erklärt werden; tritt man in ein anderes Zimmer, in dem sich ein Bett befindet, weiß man, ohne dass es einem erklärt werden müsste, dass dies ein Schlafraum ist. Die Ansicht unterschiedlicher Gegenstände oder Personen insinuieren „Erinnerungen“, wie Platon im „Phaidon“ ausführt, an etwas anderes – freilich ist bei ihm „Erinnerung“ ein Synonym für „Wiedererkennen“: Menschen sehen eine Leier, „und in ihrer Vorstellung taucht das Bild des Knaben auf, dem sie gehört. Das ist doch Erinnerung. So wie es immer wieder vorkommt, daß einer an den Kebes erinnert wird, wenn er den Simnias sieht. Und noch tausend solche Beispiele gäbe es da.“57 Oder um ein anderes Beispiel zu bemühen: Die Verwendung unterschiedlicher folklorer rhythmischer Elemente in der Musik, z.B. in der Wiener Operette, vermögen vermittels von Konnotationen Inhalte herzustellen, die zu erzeugen die Bühne eines Theaters überhaupt nicht imstande ist: Mit dem Erklingen eines Walzers entfaltet sich das Bild von Wien – oder aber ebenso einer Hochzeit auf dem Lande; mit einem Csárdás entsteht unmittelbar die Imagination einer ungarischen Tiefebene – oder eines anderen, ähnlichen Musikstücks, in dem ebenfalls ein Csárdás vorkommt; durch das Erklingen einer Polka kann eine böhmische Landschaft oder ebenso ein Teil des Balletts im Finale des zweiten Aktes der „Fledermaus“ erinnert werden und der Cancan in der „Lustigen Witwe“ ist nicht nur ein Signifikant für die Pariser Gesellschaft oder für einen lasziven Vergnügungsort, er kann ebenso direkt auf Jacques Offenbach ver56 Adalbert Stifter, Aus Wien. Ein Fragment. Vom Sankt-Stephansturme, in: Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters S. 492–500, Zit. S. 494. 57 Platon, Phaidon, in: Platon Meisterdialoge. Eingeleitet von Olof Gigon, Zürich: Artemis 1958, S. 3–103, Zit. S. 29.
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weisen, dessen Operette „Pariser Leben“ dieser konkrete Tanz entlehnt ist. Die Konstrukteure einer authentischen Nationalkultur, der prinzipiell eine holistische, essenzialistische Vorstellung von Kultur zugrunde liegt, haben mit dem Umgang mit solchen Mehrfachcodierungen und Mehrdeutigkeiten stets Schwierigkeiten gehabt: Zeichen und Symbole, die auch in anderen Zusammenhängen und unterschiedlichen Kontexten gelten, wurden daher umgedeutet, umgeschrieben, auf emotionale Weise national codiert, das heißt aus dem einen Zusammenhang exkludiert und unmissverständlich in den eigenen „imaginierten nationalen Kontext“ inkludiert. Elemente beziehungsweise Symbole, denen durch „Gebrauch und Erfahrung“ (Charles Sanders Peirce)58 eine besonders repräsentative kommunikative Funktion zukommt, wie zum Beispiel dem „universalistischen“ (Doppel-)Kreuz, wurden instrumentalisiert, das heißt für die Konstruktion einer jeweils unterschiedlichen, ja konträren kollektiven nationalen Identität eingesetzt. So ist heute das Doppelkreuz im slowakischen Staatswappen ein Repräsentativ für eine slowakische Nation, im ungarischen Staatswappen wird dasselbe Doppelkreuz zum repräsentativen Symbol für die von der slowakischen unterschiedliche magyarische Nation. Das heißt, das Doppelkreuz wird hier zum Symbol von nationaler Differenz und Exklusion und nicht, wie ursprünglich dem Kreuz immanent ist, zum Symbol von Inklusion in eine universalistische Gemeinschaft, in eine kosmopolitische Christenheit. Im Konkreten wird das Doppelkreuz in einen jeweils gegensätzlichen nationalpolitischen Diskurs vereinnahmt, ohne darauf zu achten, dass ein solches Verfahren letztlich zu Irritationen oder auch zu Konflikten führen muss, dass Kulturen als offene, entgrenzte Kommunikationsräume, stets, d.h. in der Vergangenheit und in der Gegenwart, im Fluss sind und dynamische, hybride Formationen zur Folge haben. Krisen und Konflikte sind freilich Kommunikationsräumen insgesamt eingeschrieben, da einerseits der dynamische, prozesshafte Ablauf von Kommunikation kontinuierliche Delegitimierungen und Neupositionierungen mit einschließt, andererseits die Mehrdeutigkeit, die Elementen, Zeichen oder Codes innewohnen kann, in Kauf genommen werden muss. Ganz offensichtlich ist dem Doppelkreuz eine kontingente, vom jeweiligen historischen, politischen und sozialen Kontext abhängige und jeweils unterschiedliche Bedeutungsbeziehung eingeschrieben. Oder: Signifikanten sind historisch kontingent, sie 58 Uwe Wirth, Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung, S. 41.
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können unterschiedlich gelesen werden und mit ihrer Veränderung kann auch der Inhalt, auf den sie verweisen, das Signifikat, eine Veränderung erfahren.59 Die nationale Perspektive von Kultur hat hingegen solchen performativen Prozessen entgegenzuwirken und Kultur für die Nation in ein ideologisch konstruiertes Korsett zu zwängen versucht. „Da der Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert das dominante Paradigma war“, meint Jan Nederveen Pieterse daher zu Recht, „sind kulturelle Errungenschaften regelmäßig für die ‚Nation‘ beansprucht, ist die Kultur ‚nationalisiert‘ und territorialisiert worden. Eine andere historische Darstellung ließe sich auf der Grundlage des Beitrags konstruieren, den Diaspora, Migration, Fremde und Vermittler zur Kulturformation und -verbreitung geleistet haben. Damit verbunden wäre eine Geschichtsschreibung der Hybridbildung von metropolitanen Kulturen, d.h. eine alternative Geschichtsschreibung, die sich gegen die imperiale wendet.“60
Mehrdeutiger Kommunikationsraum Die Vorstellung von Kultur als einem „entgrenzten Kommunikationsraums“ hat auch noch andere Vorteile: Spezifische kulturelle Konfigurationen, das heißt der Unterschied, der zwischen Kommunikationsräumen besteht, den man täglich erfahren kann, werden nicht zugunsten von Transkulturalität minimalisiert oder geleugnet, es wird vielmehr auf die dynamischen Interaktionen, auf die „offenen“, jedoch immer noch sichtbaren Unterschiede zwischen den kulturellen Kommunikationsräumen geachtet. Barrieren, die sich aus dem Unterschied konkreter Sprachen ergeben und kulturelle Kontexte nachhaltig determinieren, können nicht einfach wegdiskutiert werden, auch wenn solche Determinanten nicht jene ideologisch aufgeladene Eindeutigkeit besitzen, die ihr beispielsweise die nationale Ideologie zuzuschreiben versucht. Weiters gilt es zu beachten, dass Individuen oder Gruppen sich gleichermaßen in zwei oder in mehreren „Sprachen“ – in einem wörtlichen und metaphorischen Sinne – verständigen, das heißt sich in unterschiedlichen oder mehreren Kommunikationsräumen – nach Malinowski: in „Institutionen“ –, innerhalb eines oder zwischen mehreren Systemen bewegen können und gerade dadurch kommunikative Grenzen sprengen. Sprache ist demnach nicht 59 Vgl. dazu u.a. Uwe Wirth, Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung, S. 19. 60 Jan Neverdeen Pieterse, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, S. 119.
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das primäre differenzierende Merkmal, nicht primär identitätskonstitutiv, wie die nationale Ideologie vorgibt. Nach Jurij M. Lotman besitzt vielmehr jede Kultur „Mechanismen für die Schaffung eines inneren Polyglottismus, und jede Kultur existiert realiter nur im Kontext anderer Kulturen, wobei die Beherrschung von deren Sprachen die Situation eines äußeren Polyglottismus schafft“.61 „Offene Grenzen“ werden also durch die Tatsache sichtbar und erfahrbar, wenn Individuen und soziale Gruppen abwechselnd oder vor allem zeitgleich sich in mehreren horizontalen, das heißt nebeneinander existierenden Kommunikationsräumen, in äußeren Polyglottismen vorfinden. Von einer anderen Perspektive aus betrachtet, können sich jedoch Gruppen oder Personen auch innerhalb eines sprachlich-sozialen Kontextes in differenten, unterschiedlichen, das heißt vertikalen Kommunikationsräumen, in unterschiedlichen sozial-kulturellen Schichten vorfinden, also innerhalb eines inneren Polyglottismus. Es sind dies gemischte, hybride Zugehörigkeiten beziehungsweise Verfasstheiten, die keineswegs „rassisch“, ethnisch oder national eindeutig definiert sind, sie werden daher oft, weil sie zum Beispiel „national“ nicht zugeordnet werden können, als dubios und verdächtig hingestellt. Elisabeth Beck-Gernsheim bringt dies auf den Punkt, wenn sie meint: „So gesehen ist offensichtlich, daß diejenigen, die die Grenzen nationaler beziehungsweise kultureller Zuordnung sprengen, schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaftliches Ordnungsproblem darstellen. Sie sind der Störfaktor im gesellschaftlichen Getriebe, weil sie in den gewohnten, den einfachen und eindeutigen Kategorien sich nicht abbilden lassen.“62 Kultur als Kommunikationsraum ist stets eine hybride Melange, sie ist eine Hybridbildung aus anderen, ebenfalls hybriden Kommunikationsformen, das heißt Kulturen. Oder: Kultur stellt sich dar als ein Ensemble differenter Positionen. Personen und Gruppen können gemeinsame Erfahrungen aufweisen und sich bedeutender historischer Ereignisse gemeinsam, übereinstimmend erinnern. Sie können sich jedoch ihrer auch in durchaus unterschiedlicher Weise erinnern. Unterschiedliche Erinnerungen betreffen also nicht nur jene, die unterschiedlichen 61 Jurij M. Lotman, Zur Struktur, Spezifik und Typologie der Kultur, in: Jurij M. Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronberg: Scriptor 1974, S. 431. 62 Elisabeth Beck-Gernsheim, Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft S. 125–167, Zit. S. 127.
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mehrdeutiger kommunikationsraum
Kommunikationsräumen angehören, sondern gleichermaßen auch Gruppen und Personen, die sich in demselben sozial-kulturellen Kontext vorfinden, der in der Regel zahlreiche Subkontexte aufweist. Damit wird auch Geschichte, im Sinne der histoire croisée,63 mehrdeutig, pluriperspektivisch und zwar in dem Sinne, dass es über eine gemeinsame historische Erfahrung nicht nur eine (verbindliche) Geschichte beziehungsweise Erzählung (im Singular), das heißt nur eine Deutung gibt, sondern Geschichten beziehungsweise Erzählungen (im Plural), das heißt unterschiedliche Varianten von Deutungen. Edward Said plädierte in Bezug auf die Palästinenser in diesem Sinne für die Akzeptanz einer mehrfach, unterschiedlich codierten historischen Erzählung: „Es gibt viele verschiedene palästinensische Erfahrungen, die nicht alle in einer einzigen Geschichtsschilderung zusammengefasst werden können. Deswegen müsste man parallele Geschichten der Gemeinden im Libanon, den besetzten Gebieten und so weiter schreiben. Das ist das zentrale Problem. Es ist praktisch unmöglich, sich eine einzige Geschichtsschreibung vorzustellen.“64 Es sind dies, von einer anderen Perspektive aus betrachtet, Geschichten des Dazwischen, Geschichten von Zwischenräumen, Geschichten von Diasporen, die sich kontinuierlichen Migrationen und Mobilitäten verdanken. Die Analyse solcher mehrdeutiger kultureller Erfahrungen beziehungsweise Prozesse kann daher in erster Linie nur darin bestehen, wie Clifford Geertz meint, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“, und nicht darin, „den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine nichtkörperliche Landschaft zu kartographieren“.65 Solche hybride kulturelle Gemengelagen zeigen sich in Zentraleuropa der Jahrzehnte um 1900 vor allem in den urbanen Milieus, in denen sich Personen aus, in oder zwischen unterschiedlichen Kommunikationsräumen vorfinden; in diesen geht es nicht um eine Verortung, vielmehr um eine Entortung von Kulturen. Aus der Sichtweise der damaligen Zeit stammen sie aus unterschiedlichen Kulturen, Nationen, Ethnien, Klassen oder Geschlechtern. Freilich war man 63 Vgl. Michael Werner, Bénédicte Zimmermann, Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: Michael Werner, Bénédicte Zimmermann (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris: Seuil 2004, S. 15–49. 64 Salman Rushdie, Über die Identität der Palästinenser. Ein Gespräch mit Edward Said, in: Salman Rushdie, Heimatländer der Phantasie, S. 200–220, Zit. S. 214. 65 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, S. 30.
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damals bestrebt, diese Gegensätze und Differenzen durch die Etablierung von homogenen (National-)Kulturen zu überwinden, im Konkreten: die Menschen in ihren jeweiligen nationalen Kontext zu integrieren. In Wirklichkeit war dies freilich, aus unserer Perspektive, eine Situation von grenzüberschreitenden Kreolisierungen, in der sowohl der regionale Polyzentrismus der Peripherie im Zentrum, zum Beispiel in einer Stadt, gebündelt erscheint, als auch eine zugleich ebendieses Zentrum destabilisierende Hybridität durch assimilatorische Tendenzen sichtbar wird. Es kann dies der Humus für Initiativen eines subversiven Protestes gegenüber einer anscheinend stabilisierenden Machtkonstellation sein. Kultur ist demnach nicht nur hybrid, ein kreolisierendes Ensemble, sondern zugleich transnational, translokal, transterritorial, entgrenzt, flüssig, fließend und eben nicht homogen und essenzialistisch. Mit einem solchen offenen Kulturbegriff, nämlich mit der Auffassung von Kultur als Kommunikationsraum, vermag man zwar auch der historisch wahrnehmbaren Konstruktion von kollektiven nationalen Identitäten in einem imaginierten, abgezirkelten Kontext Rechnung zu tragen, handelt es sich doch auch hier um eine historisch verifizierbare Tatsache, nämlich des Versuchs der Schaffung eines zuweilen wirkungsmächtigen homogenen „nationalen“ Kommunikationsraums. Gegenüber diesem nationalen Projekt gilt es jedoch vor allem auch anderen, nämlich solchen kulturellen Prozessen beziehungsweise kommunikativen Praktiken eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, die jenseits solcher diskursiv konstruierter nationaler Abgrenzungen nachweisbar sind, sich jedoch zunächst dem beobachtenden Blick eines rekonstruktivistischen historischen Verfahrens entziehen, weil solche Prozesse und Praktiken von ebendiesem nationalen Narrativ andauernd bekämpft, geleugnet oder verschwiegen wurden. Wenn man jedoch Kultur weder auf nationale, national-staatliche oder sogenannte ethnische Vorgaben reduziert, wird eine Vielzahl gerade solcher gegenläufiger Diskurse, Vernetzungen und grenzüberschreitender Prozesse offenbar, die das Bewusstsein von Individuen und sozialen Gruppen zumindest ebenso nachhaltig geprägt haben oder noch prägen wie nationale oder nationalpolitische Vorgaben.
Vielsprachiger Kommunikationsraum Ein solches Konzept von Kultur erlaubt, auch übergreifende, umfassende, hybride Kommunikationsräume verständlich zu machen, in denen Elemente, 120
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das heißt Zeichen, Symbole, Codes oder Inhalte zirkulieren und einen „Text“ ausmachen, der von Personen „gelesen“ beziehungsweise decodiert werden kann, auch wenn diese Elemente sich im Konkreten differenten, sprachlich unterschiedlichen kulturellen Räumen verdanken. Trotz der Tatsache, dass Europa nicht von einer Kultur, sondern von kulturellen Differenzen, von Widersprüchen, von „Vielsprachigkeit“ im wörtlichen und übertragenen Sinne geprägt ist, wölbt sich über Europa doch auch ein übergreifender Kommunikationsraum, das heißt ein Arsenal von gemeinsamen Erfahrungen, Erinnerungen, Bezugspunkten, Symbolen oder Metaphern, die zu einem gemeinsamen, jedoch durchaus mehrdeutigen und mehrstimmigen Gedächtnis gerinnen, das unterschiedliche Erinnerungsweisen zulässt. Ähnliches gilt für europäische Subregionen, wie, historisch betrachtet, für die Braudel’sche Méditerranée oder für Zentraleuropa und, im Zeitalter der Globalisierung und der kulturellen Vernetzungen, auch für einen globalen, kosmopolitischen Kommunikationsraum, in welchem lokale Elemente oder Erfahrungen, auf eine globale, kosmopolitische Ebene erhoben, zu universell, global verständlichen Zeichen oder Symbolen werden. Daniel Levy und Natan Sznaider haben vorgeführt, wie die Shoa, die zunächst Juden und Deutsche, also Opfer und Täter betraf, seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem globalen, kosmopolitischen Erinnerungsort und weltweit zu einer Richtschnur für politisches Handeln wurde, selbst dann, wenn nicht explizit auf ihn Bezug genommen wird.66 Betrachtet man diese Situation aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, war und ist auch Zentraleuropa von einer Vielzahl sich nicht nur überlappender beziehungsweise kommunizierender, sondern ebenso sich konkurrenzierender kultureller Kommunikationsräume bestimmt. Dies führte einerseits dazu, dass sich aufgrund des kontinuierlichen Austauschs von Elementen, Zeichen und Codes ein zumindest nonverbaler übergeordneter, jedoch noch immer von internen Differenzen geprägter hybrider Kommunikationsraum herausbilden konnte, in dem sich alle verständigen konnten, der die Kommunikation im Alltag mitbestimmte, dass aber andererseits gerade deshalb die Differenz zum anderen durchlässig beziehungsweise porös wurde und daher auf eine andere Weise festgeschrieben werden musste. Unter66 Daniel Levy, Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2001.
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III. Kultur als kommunikationsraum
schiede wurden vornehmlich auf der Ebene der unterschiedlichen konkreten verbalen Sprachen deutlich, vor allem auf dieser sprachlichen Ebene konnte man seine Eigenständigkeit, seine vermeintliche Authentizität gegenüber den anderen nachweisen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Konkurrenz der kulturellen Kommunikationsräume hier seit dem 19. Jahrhundert fast immer in Sprachenkonflikte mündete. Ein Beispiel: Schon 1860, als ein „verstärkter Reichsrat“ ein Gesetz über die Grundbuchsordnung (Katasterführung) in Ungarn beraten sollte, die insofern von Bedeutung sein konnte, als man von der konkreten sprachlichen Formulierung auf die dort ansässige Nationalität zu schließen bestrebt war, mündeten die dort geführten Debatten überraschenderweise bei der Sprachenfrage, „immer eine[r] der schwierigsten Aufgaben“, wie Anton Graf Széchen meinte, obwohl diese zunächst gar nicht Gegenstand der Tagesordnung war und den weiteren Verlauf der Verhandlungen blockierte.67 Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes (Dezemberverfassung 1867) definierte eine Nationalität („Volksstamm“) primär nach der Erhebung der konkreten Sprache. Die späteren Volkszählungen, nach denen sich die Größe von Nationalitäten ableitete, beruhten in Zisleithanien (Österreich) auf der Erhebung der Umgangssprache, im Königreich Ungarn auf der Bestimmung der Muttersprache. Der in manchen Regionen traditionell vorhandene Bi- oder Polylinguismus, zum Beispiel in Böhmen, Mähren, dem Banat oder vor allem in den urbanen Milieus wie Prag, Wien, Budapest oder Triest – um nur einige zu nennen –, war von keiner offiziellen Relevanz, eine Zugehörigkeit zu mehreren Nationalitäten oder die Tendenz, sich keiner Nationalität verbindlich anzuschließen, was als „nationaler Indifferentismus“ gebrandmarkt wurde,68 war damit nicht möglich, Mehrfach identitäten, die in der Praxis vorhanden und in der Vergangenheit zum Teil in einem übergeordneten österreichischen, böhmischen oder ungarischen 67 Stefan Malfèr, Die Sprachenfrage und der verstärkte Reichsrat von 1860, in: Imre Ress, Dániel Szabó (Hg.), Jenseits und diesseits der Leitha. Elektronische Festschrift für Éva Somogyi zum 70. Geburtstag, Budapest: MTA Történettudományi Intézet 2007, S. 93–118, Zit. S. 101. 68 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik „nationaler Zwischenstellungen“ am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Maurice Godé, Jacques Le Rider, Françoise Mayer (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924. Montpellier: Bibliothèque d’Études Germaniques et Centre-Européennes Université Paul-Valéry de Montpellier 1996, S. 37–51, Zit. S. 40.
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Landespatriotismus, der keine nationale Ausrichtung beinhaltete, gleichsam in einem „dritten Raum“ aufgehoben waren, hatten rechtlich keine Chance mehr. Im Konkreten bedeutete das zum Beispiel infolge eines durchjudizierten Falles in Böhmen aus dem Jahre 1887, „daß ein ‚Doppelbekenntnis‘ zu zwei Nationalitäten weder von den Verwaltungsbehörden noch vom Verwaltungsgerichtshof akzeptiert wurde und somit Personen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht festlegen wollten, einfach ‚nicht wählbar‘ […] wurden“.69 Die oft militante Hervorkehrung der einen konkreten Sprache gegenüber einer anderen, wie sie bereits 1860 deutlich sichtbar wurde und während der Badeni-Krise im Jahre 1897, wo es um die verordnete Gleichstellung von Tschechisch und Deutsch in der böhmischen und mährischen Verwaltung ging, einen Höhepunkt erreichen sollte, war in Wahrheit nichts anders als die Betonung einer konkreten Sprache, oder, negativ ausgedrückt, die beabsichtigte Beseitigung, Aushandlung beziehungsweise Vertiefung kultureller Unterschiede mithilfe der Hervorkehrung sprachlicher Differenzen. Sprache war also hier, in Zentraleuropa – konkret im Kontext der politischen Symbiose der Monarchie – vermutlich mehr als anderswo, kulturell und politisch aufgeladen. Sprache wurde schlichtweg nicht nur zum Synonym für Nationalität, sondern für Kultur und, in der Diktion des 19. Jahrhunderts, für Nationalkultur. Dies betraf nicht zuletzt die deutsche Sprache, die zu einem Synonym für die Überlegenheit von deutscher Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung wurde. Wollten Angehörige anderer Nationalitäten in diesen Sphären mithalten, waren sie genötigt, sich deutsche Sprachkenntnisse anzueignen, sie waren also alle doppelsprachig, ganz im Unterschied zu Angehörigen der deutschen Sprachgruppe, die, sieht man zum Beispiel von Beamten oder Offizieren ab, das Erlernen der Sprache einer anderen Nationalität für überflüssig hielten. Es war ein kulturelles, quasi-koloniales Überlegenheitsgefühl, das die anderen als Druck auf sich ruhen fühlten. Wenn in Österreich bis in die Gegenwart die Erlernung von Nachbarsprachen einen sehr geringen Stellenwert besitzt, verdankt sich diese Einstellung auch dieser nationalideologisch belasteten historischen Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht.
69 Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien: ÖAW 1985, S. 206.
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III. Kultur als kommunikationsraum
Kultur und Ökonomie Kultur als Kommunikationsraum schließt ganz wesentlich auch wirtschaftliche Aspekte mit ein. Kultur als kommunikatives „Verhalten“ zielt ursprünglich darauf ab, als Individuum in einer Gruppe und als Gruppe in einem weiteren sozialen Kontext „biologisch“ zu überleben: „Das richtungweisende Motiv oder der Trieb war bei all dem zunächst der Wille zum biologischen Überleben.“70 Freilich: Im Marx’schen Sinne könnte man die Elemente, Zeichen, Symbole und Codes in einem übertragenen Sinne auch als Waren charakterisieren, die zwischen Personen zirkulieren, und der Fetisch dieser Waren bestünde einerseits darin, dass sie sich einem übergreifenden gesellschaftlichen Kontext, gesellschaftlichen Vorgaben verdanken und diese reflektieren. Sie erweisen sich „als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“.71 Andererseits verlieren manche Elemente ihren ursprünglichen Gebrauchswert, ihren kommunikativen Tauschwert, werden in einer solchen kulturellen „Warenzirkulation“ überbewertet, ideologisch aufgeladen und überhöht und, wie zum Beispiel Symbole, die für die nationale Identitätsstiftung eingesetzt werden, mit einem „realitätsfernen“ pathetischen Mythos umgeben: Sie werden zu Phantasmagorien im Walter Benjamin’schen Sinne. Andererseits erinnert gerade Walter Benjamin im Passagen-Werk daran, Wirtschaft und Kultur nicht nur in einem eindimensionalen Kausalnexus, sondern die innere Symbiose, die Verflochtenheit von Wirtschaft und Kultur sowohl differenzierter als auch komplexer zu begreifen: „Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur, sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen. Es handelt sich, mit anderen Worten, um den Versuch, einen wirtschaftlichen Prozeß als anschauliches Urphänomen zu erfassen, aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insofern des 19ten Jahrhunderts) hervorgehen.“72 Dies hat weiterhin zur Folge, dass kulturelle Differenzen, oder – wie oben angedeutet – die Konkurrenz von Kommunikationsräumen unterschied70 Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, S. 51. 71 Vgl. Karl Marx, Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in: ders., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd. 1, Berlin: Dietz 1989, S. 85–98, Zit. S. 86. 72 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1982, S. 573–574.
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kultur – ein komplexes System
liche sozial-ökonomische Realitäten nicht ausblendet: Kommunikationsräume werden performativ von Individuen und Gruppen gebildet, die sich von ökonomischen und sozialen Zielvorstellungen leiten lassen. Kultur als Kommunikation beinhaltet folglich auch die Konkurrenz von sich rivalisierenden Personen und Gruppen und weist daher Sieger und Verlierer auf. Kulturelle Praktiken sind unter anderem auch von ökonomischer Relevanz und haben daher auch Armut, Elend und Not von Menschen und Gruppen zur Folge. Andererseits sind kommunikative Praktiken auch Prozesse, durch die Machtstrukturen im öffentlichen Raum etabliert werden, Hegemonie und Herrschaft konstituiert wird, was eben auch Unterdrückung zur Folge hat. Solche Prozesse zu thematisieren gehört ebenso zur Aufgabe eines reflexiven kulturwissenschaftlichen Argumentierens wie der Blick auf konkrete soziale Gruppen und Individuen, die in einem solchen Prozess sich entweder ein ökonomisches und symbolisches Kapital anzueignen vermögen, oder jene, die zu den Verlierern gehören. Das heißt, der Blick auf Kultur als Kommunikationsraum kann folglich ökonomische und soziale Gesichtspunkte einfach nicht ausblenden und er hat gleichermaßen Prozesse von „dislokalen“, nicht nur an „Orte“ wie beispielsweise auf soziale Gruppen begrenzten Hegemoniebestrebungen zu beachten, Prozesse also, die zugleich subversive Praktiken gegen die angestrebte Dominanz einer konkreten Verwirklichung von Hegemonie inkludieren.
Kultur – ein komplexes System Kultur als ein performativer, dynamischer, entgrenzter Kommunikationsraum impliziert gleichermaßen, diesen als ein komplexes System zu begreifen. Komplexitäten, das heißt der Koinzidenz vielfältiger Komponenten, begegnet man beispielsweise bei Verhaltensstörungen (Depressionen) oder in biologischen Systemen. Die Ergründung und Deutung solcher Komplexitäten erfordert, wie die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell meint, einen „integrativen Pluralismus“ von Methoden, theoretischen Sichtweisen und Erkenntnisebenen. Die Thematisierung von Komplexitäten eröffnet nicht nur Untersuchungsfelder, die vorher nicht beachtet wurden, und impliziert eine pluralistische Herangehensweise, die sich nicht einzig von dem Modell Ursache – Wirkung leiten lassen. Das heißt weiterhin, dass es nicht nur einen gültigen Weg gibt, sondern dass es mehrere richtige Wege gibt, 125
III. Kultur als kommunikationsraum
solche Komplexitäten zu analysieren, die sich in analoger Weise auch im sozialen Bereich vorfinden.73 Überträgt man dieses Modell von Komplexitäten auf Kultur, dann gilt auch für kulturelle Phänomene und Prozesse, dass Ursache und Wirkung nicht eindeutig bestimmbar sind, dass beispielsweise die performative, dynamische Inklusion oder Exklusion von Elementen und Zeichen, die zu neuen, zuweilen unerwarteten kulturellen Konfigurationen, zu bruchstückartigen Verwebungen und Intertextualitäten führen – Bricolagen (Basteleien) im Lévi-Strauss’schen Verständnis vergleichbar –,74 zwar wahrnehmbar sind, jedoch nicht auf nur eine Deutungsebene reduziert und von einer Deutungsebene aus erklärt werden können. Dies gilt auch für die Erforschung und Analyse von kulturellen Prozessen in der Vergangenheit. „An komplexen Systemen“, so Mitchell, „sind jedoch häufig auch Rückkoppelungsmechanismen beteiligt, die dazu führen, daß die Folgen nichtlinearen chaotischen Verhaltens verstärkt oder abgeschwächt werden; unter solchen Bedingungen versagt eine kausale Erklärung, die sich auf Addition stützt.“75 Und weiter: „Das Verhalten mancher komplexer Systeme ist gekennzeichnet durch Pluralismus der Ursachen, Pluralismus der Ebenen und Pluralismus bei der Zusammenführung.“76 Ebendiese Konstellation trifft auch auf kulturelle Kommunikationsräume zu, wenn man sie aus der Perspektive von pluralistischen, heterogenen Komplexitäten beziehungsweise komplexen Systemen zu begreifen versucht. Kultur ist folglich nicht einfach oder eindeutig, Kultur darf nicht als eine essenzialistische oder holistische Formation angesehen werden, so wie es bis in die Gegenwart das nationale Narrativ suggeriert und umzusetzen versucht, Kultur ist vielmehr stets dynamisch und performativ, mehrdeutig und eben komplex. Lassen sich diese über lange Strecken vielleicht zu abstrakt formulierten theoretischen Überlegungen, wonach Kultur als das Ensemble von Praktiken verstanden werden kann, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren, auch empirisch verifizieren? Und eröffnet diese Kulturtheorie, die sich auf kultur73 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ³1988. 74 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 91994, S. 29– 48. 75 Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008, S. 50. 76 Sandra Mitchell, Komplexitäten, S. 139–140.
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kultur – ein komplexes System
anthropologische und kultursemiotische Vorgaben stützt, neue Perspektiven oder womöglich einen Perspektivenwechsel bei der Analyse vergangener und gegenwärtiger sozial-kultureller Prozesse? In den folgenden Kapiteln will ich daher versuchen, die theoretischen Vorgaben mit konkreten empirischen Erhebungen zusammenzuführen, um damit zu verdeutlichen, welchen Erkenntnisgewinn eine solche Annäherung zu erbringen vermag.
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IV. Ein urbanes Milieu in der Moderne: Wien
Eine Folge der wirtschaftlichen Modernisierung war die akzelerierte Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die Ausdifferenzierung von Lebenswelten und Lebensstilen, was zu individuellen und kollektiven Verunsicherungen führen konnte. In den Städten Zentraleuropas wurden solche Erfahrungen, die sich dieser neuen vertikalen Differenziertheit der Gesellschaft verdankten, durch die traditionale horizontale gesellschaftliche Differenziertheit innerhalb der Region noch zusätzlich verstärkt. Was heißt das? Durch die massenhafte Immigration von Bewohnern aus der Gesamtregion, die zu einer raschen Vergrößerung der Städte beitrug, wurden die in Zentraleuropa vorhandenen sprachlich-kulturellen Heterogenitäten nun in den Städten sichtbar, erfahrbar und erlebbar. Es entstanden hier, in den Städten, neue, sich konkurrenzierende und überlappende Kommunikationsräume, die zu hybriden kulturellen Gemengelagen verschmolzen und eindeutige Identifikationen erschwerten. Freilich betraf die Erfahrung von solchen kulturellen „Fremdheiten“ in den Städten nicht nur Zentraleuropa. Die Industrialisierung versprach vielen eine wirtschaftliche Besserstellung und löste seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts europaweit große Migrationen aus. Nach Gérard Noiriel betrug zum Beispiel im ausgehenden 19. Jahrhundert der Anteil von Immigranten aus dem Ausland unter der französischen Arbeiterschaft fünfzehn Prozent, die Bevölkerung Frankreichs sei daher bis in die Gegenwart die am meisten durchmischte, mehr noch als jene der Vereinigten Staaten.1 Mit dieser Feststellung wird freilich dem verbreiteten Mythos von einer homogenen „Na-
1 ���������������������������������������������������������������������������������������� „La population française est l’une de celle qui, dans le monde entier, a été la plus renouvellée au XXe siècle par immigration; plus même qu’aux Etats-Unis.“ In: La Tyrannie du Nationel. Entretien avec Gérard Noiriel, in: Jean-Claude Ruano-Borbalan (Hg.), L’histoire aujourd’hui, Auxerre: Sciences Humaines Éditions 1999, S. 113–118, Zit. S. 114. – Vgl. auch Gérard Noiriel, Le Creuset français, histoire d’immigration XIXe-XXe siècles, Paris: Seuil 1988. – Gérard Noiriel, Population, immigration et identité nationale en France. XIXe–XXe siècle, Paris: Hachette 1992.
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IV. ein urbanes milieu in der moderne: Wien
tion Française“ eine deutliche Absage erteilt.2 Ich möchte in den folgenden Ausführungen auf einige empirische Befunde eingehen, aus denen ersichtlich wird, dass die Städte in Zentraleuropa Mikrokosmen glichen, in denen sich der Makrokosmos der pluralistischen, heterogenen Region wiederfand, ganz ähnlich wie die Städte der Gegenwart durch die nun globalen Mobilitäten, Migrationen und kommunikativen Vernetzungen jene weltweiten Fernen sichtbar machen, von denen sie bestimmt werden. Vergleichbares traf in den Jahrzehnten um 1900 vor allem auf Wien zu.
Wien – Porta Orientis Einen guten Einstieg in diese Problematik bietet eine metaphorische Denkfigur, die „porta Orientis“, die Hofmannsthal geprägt und mehrmals eingesetzt hatte. Wie auch in anderen seiner Beiträge, zum Beispiel in den „Wiener Briefen“, geht Hugo von Hofmannsthal in den erst posthum (1955) veröffentlichten „Bemerkungen“ aus dem Jahre 1921 explizit auf den hybriden Melange-Charakter Wiens ein: Er entwirft sein Wienbild vor der Folie der heterogenen, plurikulturellen Verfasstheit des alten Heiligen Römischen Reiches und des Vielvölkerstaates der Habsburger. Bereits nach dem Untergang dieser supranationalen Staatengemeinschaften entwirft er, freilich nicht ohne eine gewisse nostalgische Reminiszenz, ein Wienbild, das, wie auch das Alte Reich oder die Monarchie, von vielfachen Einflüssen und Vernetzungen durchdrungen war und in welchem, nach meiner Diktion, unterschiedliche entgrenzte Kommunikationsräume aufeinandertreffen, ineinander übergehen und neue, hybride kulturelle Formationen bilden. Auf den Faktor von solchen offenen, „fließenden Grenzen“ macht Hofmannsthal im Hinblick auf die kulturelle Situation der Monarchie explizit aufmerksam; sie ermöglichten ein kontinuierliches Geben und Nehmen: „Diese Universalmonarchie kannte nur fließende Grenzen. Sie übte ihr Prestige und gab ihren Kultureinfluß in 2 ���������������������������������������������������������������������������������� „On sait de manière fiable que 20 % de la population française, par ascendance paternelle ou maternelle, possède une origine étrangère (10 à 12 millions de personnes). Évidement, si l’on remonte au-delà de trois générations, les proportions seraient plus importante, surtout si l’on tient compte des changements de nom du XIXe siècle“. In: Les Mécanismes de l’intégration. Entretien avec Pierre Milza, in: Jean-Claude RuanoBorbalan (Hg.), L’histoire aujourd’hui, Auxerre: Sciences Humaines Éditions 1999, S. 119–123, Zit. S. 119.
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Wien – porta orientis
ein weites Gebiet, dessen Grenzen nie zum Bewußtsein kamen. […] Sich abzugrenzen, sich gegen fremde Eigenart in seine Grenzen zu verschließen, nichts lag der Geistesart, in der zwanzig Generationen auf österreichischem Boden aufgewachsen sind, ferner.“ Diese Situation, so Hofmannsthal, sei auch für Wien charakteristisch, wobei hier die Verbindung zu Südosteuropa und zum Orient eine besondere Bedeutung hätte: „Hiezu tritt noch die natürliche Verbindung mit dem Südosten Europas, dem nahen Orient. Wien war die porta Orientis und war sich dieser Mission namentlich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in glorreicher Weise bewußt. Von hier aus, von Hammer-Purgstall und seinen ‚Fundgruben des Orients‘ ging der Anstoß aus, der Goethes Orientalismus entfachte, und auf diesem wieder ruht der Orientalismus Byrons, sowie des jungen Victor Hugo. Desgleichen der Slawismus. Wien war der natürliche Ort großer slawischer Publikationen, auf dem Gebiet der Sprache wie der Folklore. […] Desgleichen die Armenier, nach der fast völligen Ausrottung dieser Nation, finden in Wien in ihrem seit zwei Jahrhunderten bestehenden Kloster ein Refugium für die Reste ihrer Jugend und die einzige umfassende Bibliothek ihrer mehr als tausendjährigen Kultur, sowie die griechische Kolonie mit ihren Ypsilantis, Sinas und Maurocordas durch Dezennien das eigentliche Geist- und Machtzentrum des Griechentums war. Alle diese Dinge vollzogen sich hier genau so wie in Paris, ganz ohne weiteres, ganz selbstverständlich als der Ausdruck eines großstädtischen Übernationalismus.“3 Wien als die porta Orientis, als die Pforte des Ostens, als das Tor zu etwas Unbekanntem und gleichzeitig Ersehntem, ist eine bildliche Denkfigur, die auch an anderen Stellen von Hofmannsthals Texten wiederkehrt; sie war ihm besonders wichtig und war vermutlich seine eigene Wortschöpfung, es dürfte sich dabei wohl nicht um eine Entlehnung aus des Propheten Ezechiel visionärer Beschreibung des östlichen Eingangstores des neuen Tempels handeln (Ezech. 46). Man kann jedoch annehmen, dass Hofmannsthal dabei indirekt die Kenntnis von analogen, in der Region bekannten Bezeichnungen vorausgesetzt hat, wie „Porta Hungarica“ für den schmalen Landstreifen zwischen Leithagebirge und Donau oder vor allem „Porta Orientalis“ für das Gebiet um das Eiserne Tor an der unteren Donau, 3 Hugo von Hofmannsthal, Bemerkungen (1921), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 473–477, Zit. S. 474–475.
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dem Durchgang zum ehemaligen Osmanischen Reich. Hofmannsthal verleiht freilich Wien als der „porta Orientis“ oder der „künstlerische(n) und geistige(n) Hauptstadt Südosteuropas“4 eine mehrfache Codierung. Im zweiten „Wiener Brief“ wird einer solchen Mehrfachcodierung Rechnung getragen, indem Hofmannsthal ganz konkret mit unterschiedlichen inhaltlichen Zuschreibungen operiert: erstens mit der Vermittlung orientalischer Weisheit durch die von Karl Eugen Neumann besorgten Übersetzung der Reden Buddhas, die er erst kurz zuvor rezensiert hatte, zweitens mit der Entdeckung des Unbewussten in dem psychoanalytischen Verfahren Sigmund Freuds und drittens mit der musikalischen Produktion in Wien und der Vermittlung von Musik durch Wien: „Ich für meinen Teil“, erklärt Hofmannsthal, „bin nicht geneigt, irgendeinen Faktor dieses geistigen Phänomens für zufällig zu nehmen, weder den örtlichen noch den geistigen noch einen, der die Beschaffenheit modifiziert. Ich finde es nicht zufällig, daß K. E. Neumann sein unbeachtetes Leben hier führte und beschloß; denn Wien ist die alte porta Orientis für Europa. Noch finde ich es anders als sehr übereinstimmend, sehr richtig, dass Dr. Freuds Theorien von hier aus ihren Weg über die Welt nehmen – ganz ebenso wie die leichten, etwas trivialen, aber biegsamen und einschmeichelnden Operettenmelodien, mit denen sie doch so denkbar wenig zu schaffen haben. Wien ist die Stadt der europäischen Musik: sie ist die porta Orientis auch für jenen geheimnisvollen Orient, das Reich des Unbewußten.“5 Mit der Metapher „porta Orientis“ meint Hofmannsthal also nicht nur die entgrenzte Offenheit zum Osten oder die Mittlerfunktion zwischen Ost und West – „es laufen viele subtile geistige Fäden von hier aus so nach Osten als nach Westen“ –,6 die Offenheit zu Südosteuropa, die er Wien zuschreibt; sondern er verweist explizit auch auf das kreative Potenzial – Psychoanalyse, Musik –, das sich solchen kulturellen Verflechtungen und Einflüssen aus dem Osten oder der daraus resultierenden hybriden kulturellen Situation des städtischen Milieus verdankt. Diese mehrmals beschworene Mittlerfunktion eines „entgrenzten“ Wien hatte in der Tat auch ein „funda4 Hugo von Hofmannsthal, Wiener Brief [I], in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924 S. 272–284, Zit. S. 272. 5 Hugo von Hofmannsthal, Wiener Brief [II], in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924 S. 185–196, Zit. S. 195. 6 Hugo von Hofmannsthal, Wiener Brief [I], S. 272.
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„Wer was werden hat wollen, ...“
mentum in re“, das sich freilich im realen gesellschaftlichen Kontext nicht so harmonisch darstellte, wie es die eher allgemeinen, idealistisch-abstrakten Hofmannsthal’schen Ausführungen nahezulegen scheinen.
„Wer was werden hat wollen, hat müssen Deutsch reden“ „Die Hauptstadt war“, umschreibt Robert Musil Wien in einer für ihn typisch ironischen Weise, „um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind.“7 In Zahlen ausgedrückt hieß das: Die Haupt- und Residenzstadt Wien zählte in ihrer jeweiligen Begrenzung im Jahre 1869 607.515 Einwohner,8 zwanzig Jahre später (1890) waren es ca. 1,4 Millionen und 1900 bereits ca. 1,7 Millionen. Im Vergleich dazu betrug im Jahre 1900 die Einwohnerzahl von London 4,5 Millionen, die von Paris 2,7 Millionen und jene von Berlin 1,9 Millionen. Die Verdreifachung der Bevölkerung Wiens innerhalb einer Generation verdankte sich freilich nicht nur den Eingemeindungen von am Stadtrand gelegenen Vororten, vielmehr war die Binnenmigration, die Zuwanderung aus der gesamten Monarchie (Region) maßgeblich daran beteiligt, was zur Folge hatte, dass 1880 von den Einwohnern Wiens nur 38 Prozent, 1900 46 Prozent hier geboren waren. Übrigens spiegelt sich diese Situation bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Erhebung der Bevölkerung der Altstadt (1. Bezirk) wider, in der 1856 nur 47,4 Prozent aus Einheimischen bestand.9 Betrug der Anteil an zugewanderten „Fremden“ in Paris im Jahre 1900 nur 6,3 Prozent10, machte er in Wien also mehr als 50 Prozent aus. Es genügte freilich nicht, in Wien geboren zu sein, vielmehr wurden auch jene, die hier kein Heimatrecht besaßen, zu den „Fremden“ gezählt. Das Heimatrecht, mit dem „das Recht des ungestörten Aufenthaltes an einem Ort und die Versorgung im 7 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 33. 8 Friedrich Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien/Pest: Hartleben 1876, S. 578. 9 Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Wien: Deuticke 1977, S. 167–173. 10 Philippe Arriès, Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1992, S. 17.
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Alter und bei Erwerbslosigkeit verbunden war“, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer restriktiver gehandhabt, sodass im Jahre 1900 in Wien, wie bereits erwähnt, zwar 46,4 Prozent hier geboren waren, von denen jedoch nur 38 Prozent das Heimatrecht besaßen, also 62 Prozent der Wiener Bevölkerung als Fremde galten (erst seit 1901 trat eine Erleichterung bei der Zuerkennung des Heimatrechts ein).11 Unter den Immigranten befanden sich 411.037 Zuwanderer (der ersten Generation) aus Böhmen und Mähren (24,5 Prozent der Bevölkerung), von denen 44,1 Prozent aus rein tschechischsprachigen, 28,6 Prozent aus überwiegend tschechischsprachigen und nur 11,4 Prozent aus deutschsprachigen Gegenden stammten; es war vor allem die arbeitslose Landbevölkerung, die in die Städte drängte. Im Jahre 1900 waren 518.333 Bewohner Wiens (30,9 Prozent) in Böhmen oder Mähren heimatberechtigt, 1910 waren 467.158 (23 Prozent) in Böhmen und Mähren geboren, von denen freilich nur 98.461 Tschechisch als ihre Umgangssprache angaben, weil sie wegen ihres Sprachgebrauchs Repressionen ausgesetzt waren. Von den Bewohnern Wiens hatten im Jahre 1900 darüber hinaus 140.280 Personen in den Ländern der ungarischen Krone das Heimatrecht (8,4 Prozent); unter ihnen befanden sich freilich nicht nur Ungarn, sondern ebenso Deutschsprachige oder zahlreiche Slowaken aus dem damaligen Oberungarn, der heutigen Slowakei; in der Tat waren um 1900 „42.896 in Wien anwesende Personen in mehrheitlich slowakischsprachigen Bezirken der Ungarischen Länder heimatberechtigt, 1910 waren es 46.216 Personen“.12 54.958 stammten aus mehrheitlich ungarischsprachigen Gebieten, 1910 waren es bereits 65.290.13 „Wien ist voll von Ungarn“, vermerkte Otto Friedländer in seinen Erinnerungen an die Jahre um 1900, um sie sogleich einer exklusivierenden Stereotypisierung zu unterziehen: „An jeder Straßenecke hört man Ungarisch – jenes eigentümliche Holzklopfstakkato, das es möglich macht, Worte mit vierundzwanzig Silben
11 Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Neue Folge H. 10 (2005), S. 23–44, Zit. S. 23. 12 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien/Köln: Böhlau 1990, S. 18, 50. 13 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 49–50.
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auszusprechen, die gedruckt ganze Zeilen füllen.“14 Insgesamt ungefähr weitere 100.000 Zuwanderer kamen aus Galizien, der Bukowina und anderen Teilen der Monarchie und im Jahre 1900 250.857 aus den ehemaligen Erblanden (15 Prozent), die nur zum Teil den heutigen, nun sprachlich weitgehend homogenisierten österreichischen Bundesländern entsprechen.15 Dies hatte, wie bereits angedeutet, zur Folge, dass von den Einwohnern Wiens im Jahre 1880 nur 38,5 Prozent, 1900 46,4 Prozent und 1910 48,8 Prozent in Wien geboren waren, dass also mehr als die Hälfte der städtischen Bevölkerung Wiens aus Zugewanderten bestand.16 Entgegen den heutigen Berechnungen gibt die zeitgenössische statistische Erhebung von A. L. Hickmann einen noch geringeren Prozentsatz für „Einheimische, in Wien geborene u. da zuständige Bevölkerung“ in Wien an: Im Jahre 1890 hätte sie 34,5 Prozent betragen und sich 1900 bloß auf 38 Prozent erhöht.17 Bereits in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurde daher aufgrund der zahlreichen Zuwanderungen der Vorschlag gemacht, Wien in Nationalitätenbezirke aufzuteilen, ein Vorschlag, der zunächst nicht allzu ernst genommen worden war;18 er ist freilich ein indirektes Indiz für die vielen nichtdeutschsprachigen Einwohner Wiens. Andererseits schwingt die Furcht, in Wien könnten sich Nationalitätenenklaven bilden, noch Jahrzehnte später (1909) in den Worten Michael Hainischs nach, der 1920 zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik Österreich gewählt werden sollte: „Es wäre für uns höchst unerfreulich“, so argumentiert Hainisch, „wenn aus Wien mit der Zeit eine Art Konstantinopel würde, in dem alle möglichen Volksstämme getrennt nach Quartieren oder wenigstens getrennt durch Sprache und Empfinden nebeneinander wohnten.“19 Um 14 Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900, Wien/München: Molden 1976, S. 130. 15 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 14–18. 16 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 14. 17 Vgl. A. L. Hickmann (Hg.), Historisch-Statistische Tafeln der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im neunzehnten Jahrhundert, Wien: Alfred Hölder 1903, Tafel: Die Bevölkerung Wiens nach ihrer Zuständigkeit im XIX. Jahrhundert (in Procenten ausgedrückt). 18 Rudolf Till, Ein Plan der Gliederung Wiens in Nationalitätenviertel, in: Wiener Geschichtsblätter 10 [70] (1955) S. 73–76. 19 Zit. in Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation, Wien u.a.: Böhlau 1982, S. 129.
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den „deutschen“ Charakter der Stadt zu wahren, hatte man es daher bereits unter Bürgermeister Cajetan Felder abgelehnt, Wien aus dem Verband des überwiegend deutschsprachigen Niederösterreichs herauszulösen.20 Tatsächlich siedelten sich vor allem ärmere Zuwanderer aus Böhmen und Mähren in den billigeren ehemaligen Vororten an, wie in der Leopoldstadt (2. Bezirk), in Simmering (11. Bezirk), in Ottakring (16. Bezirk), in Hernals (17. Bezirk), in der Brigittenau (20. Bezirk) oder in Favoriten; in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk, erreichte der Anteil an „slawischer“, das heißt vornehmlich tschechischsprachiger Bevölkerung im Jahre 1900 25,5 Prozent – hier war auch das tschechische Vergnügungsviertel, der „Böhmische Prater“ entstanden –, während die Zahl der jüdischen Zuwanderer, die aufgrund der Religionszugehörigkeit von den anderen Bewohnern unterschieden wurden, im gleichen Jahr in der Leopoldstadt (2. Bezirk) 36,4 Prozent, in der Inneren Stadt (1. Bezirk) 19,4 Prozent, am Alsergrund (9. Bezirk) 18,2 Prozent und in der Brigittenau (22. Bezirk) 15,7 Prozent ausmachte.21 Sie bekannten sich bei den Volkszählungen fast einstimmig zu Deutsch als Umgangssprache.22 Die Ansiedlung der Tschechen in unterschiedlichen Bezirken entsprach nach den Erhebungen von Michael John und Albert Lichtblau wohl ihrer sozialen Differenziertheit und ihrer ökonomischen Ausrichtung: „Die tschechische Bevölkerung, Bürgertum, Mittelstand und Arbeiterschaft, lebte in Wien vorwiegend in unterschiedlichen Stadt- und Bezirksteilen und nicht gemeinsam, in national geschlossenen Ansiedlungen. Das heißt, daß in Wien kleinere oder mittlere Konzentrationen auf der Basis der ähnlichen sozialen Lage und der Situierung von Arbeitsstätten entstanden.“23 Dennoch war die sektorale Zuordnung der Wiener Bevölkerung augenfällig. Im Jahre 1899 verwies der tschechische Abgeordnete Vilém Kurz in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses ausdrücklich auf diese Tatsache: „Gehen Sie einmal zwischen 6 und 7 Uhr abends nach Simmering und hören Sie einmal an, wie dort auf der Gasse gesprochen wird […]. Sie werden sich überzeugen, dass jedes zweite Menschenpaar, welches dort prominirt oder welches dort geht, die böhmi20 Rudolf Till, Ein Plan der Gliederung Wiens, S. 76. 21 Vgl. A. L. Hickmann (Hg.), Historisch-Statistische Tafeln der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Tafel 29, 30, 31. 22 Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 132. 23 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 144.
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„böhmisches“ wien
sche Umgangssprache gebraucht, das sind offenbar Leute welche in Simmering wohnen, welche aus der Arbeit zurückkehren und sich hier ungenirt der böhmischen Muttersprache bedienen, um sich verständlich zu machen.“ Dasselbe gelte, so Kurz weiter, auch für den siebenten (Neubau) und achten Bezirk (Josefstadt): „Suchen Sie da einen Menschen der deutsch spricht, wenn Sie um 6 Uhr früh auf der Gasse sind; Sie finden keinen. Gehen Sie um diese Zeit in einen Greislerladen, da ist die böhmische Sprache ausschließlich die Umgangssprache der Bevölkerung dieser beiden Bezirke.“24
„Böhmisches“ Wien „Von den großen Zuwanderungsgruppen der Jahrhundertwende“, meint Andreas Weigl, „besaßen vor allem die tschechischsprachigen und jüdischen Migranten ein sehr spezifisches soziologisches Profil.“25 Die große Zahl von Migrantinnen und Migranten aus tschechischsprachigen Gebieten versprach sich in Wien als Arbeiter im industriellen Sektor, der zwar in Böhmen bereits stärker ausgebildet war, als Bauarbeiter, als Taglöhner in Unternehmen, als Handwerker, als Gewerbetreibende – vor allem tschechische Schuhmacher und Schneider waren bekannt und gefragt – oder als Fabrikarbeiterinnen, als Gesinde beziehungsweise Haushaltshilfen in adeligen und bürgerlichen Häusern – berühmt waren die böhmischen Köchinnen – ein gesicherteres Einkommen als zu Hause. Die statistischen Erhebungen über die Zahl der Wiener Tschechen bleiben freilich insofern etwas vage, als es unter ihnen auch zahlreiche Saisonarbeiter gab, die sich nur temporär in der Stadt aufhielten. Wie Monika Glettler in ihrer Strukturanalyse der Wiener Tschechen ausführt, hätte dieses „fluktuierende Element das Rückgrat der tschechischen und der deutschen Nationalbewegung entscheidend gestärkt“, man könnte das „Wiener Tschechentum während der drei Jahrzehnte seiner Blütezeit mit einem Hotel vergleichen, das zwar stets besetzt war, aber immer wieder von anderen Leuten“.26 Freilich nehmen diese tschechischen Migrantinnen 24 Zit. in Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 125–126. 25 Andreas Weigl, „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder, Peter Eigner, Andreas Resch, Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2003, S. 141–200, Zit. S. 151. 26 Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Min-
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und Migranten in historischen Darstellungen und in der Selbstrepräsentation Wiens „nicht den Platz ein, den sie einnehmen könnten, bedenkt man ihre numerische Stärke“, meint Wladimir Fischer: „Was im Gedächtnis der Stadt vom tschechischen Wien blieb, beschränkt sich im Großen und Ganzen auf Wörter und Namen, von Powidl und Klobasse bis zu Prohaska und Zapletal.“27 Andererseits, und dies ist ein zusätzlicher Gesichtspunkt, entbehrten diese Migrationen auch nicht einer gewissen Tragik: „Geschäftstüchtige Vermittler sorgten dafür, daß billige Arbeitskräfte nach Wien kamen, deren Vermittlungsmethoden zumeist mehr als zweifelhaft waren.“28 Es entstand ein förmlicher Menschenhandel, Agenten bereisten böhmische und mährische Dörfer, um nach Arbeitskräften auch unter den Kindern Ausschau zu halten und sie in Sammeltransporten nach Wien zu überführen. Im Konkreten sah dies so aus: „Die meisten Kinder wurden wie ein Stück Ware gehandelt und weiterverkauft. Ein Werber holte sie aus den Dörfern des böhmischen und mährischen Südens und ließ sich von den Vätern je einen Gulden Vermittlungsgebühr bezahlen. Die Wiener Meister gaben ihm pro Lehrling wiederum zwei Gulden und wenn der Werber nach einiger Zeit die Eltern in den Heimatgemeinden besuchte, so bedeutete das für ihn abermals ein Geschäft: sei es, daß er selbst einen kleinen Betrag für die Zusicherung erhielt, daß es seinen ‚Schützlingen‘ am Lehrplatz gefalle und an nichts fehle.“29 Nicht nur solche menschlichen Repressionen standen auf der Tagesordnung, in Wien erwarteten die Zugewanderten auch national-ideologisch motivierte Zwänge, vor allem was den täglichen Sprachgebrauch beziehungsweise die offizielle Erhe-
derheit in der Großstadt. Veröffentlichung des Collegium Carolinum Bd. 28, München/Wien: Oldenburg 1972, S. 41. 27 Wladimir Fischer, Wege zu einer Geschichte von MigrantInnen aus dem Südosten in Wien um 1900, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Neue Folge H. 10 (2005), S. 3–22, Zit S. 5. 28 Wolfgang Slapansky, Fremde in der eigenen Stadt – Toleranz und Intoleranz am Beispiel der Wiener Tschechen um 1900, in: Ethnokulturelle Prozesse in Großstädten Mitteleuropas. Adaptation im Stadtmilieu. Toleranz – Intoleranz in Großstädten Mitteleuropas. Hg. Národopisný ústav – Slovenská akadémia vied / Slowakische Akademie der Wissenschaften – Institut für Ethnographie, Bratislava 1992, S. 177–185, Zit. S. 180. 29 Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, S. 219.
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bung der Umgangssprache anlangte.30 Repressalien waren Nichtdeutschsprachige auch schon bei früheren Sprachenerhebungen ausgesetzt. 1881 meinte zum Beispiel der tschechische Abgeordnete Johann Graf Harrach, „dass bei der in Wien heuer durchgeführten Volkszählung, die dabei intervenirenden Organe sich viele Eigenmächtigkeiten erlaubt haben, indem sie in der Rubrik Umgangssprache das eingetragene Wort ‚böhmisch‘ trotz des Protestirens der betreffenden Personen oder sogar vielleicht ohne sie vernommen zu haben, überstrichen und durch das Wort ‚deutsch‘ ersetzt haben.“31 Die oben zitierten Bevölkerungszahlen entsprechen auch der Einschätzung, die der tschechische Schriftsteller Josef Svatopluk Machar, Autor des 1895 gemeinsam mit František Xaver Šalda in Wien verfassten „Manifest der tschechischen Moderne“,32 zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem WienEssay angestellt hatte,33 während die Historikerin Monika Glettler auf noch weitere Facetten aufmerksam macht: „Zwischen 1856 und 1910 stammte rund ein Viertel aller Wiener Einwohner unmittelbar aus den Ländern der Wenzelskrone, ein weiteres Viertel mittelbar durch seine Eltern, ein noch größerer Prozentsatz durch seine Vorfahren.“34 Doch „nach dem Ersten Weltkrieg verließen mehr Wiener Tschechen (etwa 150.000) Wien, als je bei einer Volkszählung ermittelt worden war“.35 Insgesamt wanderten 340.000 Personen in die Österreich benachbarten Nachfolgestaaten ab.36 Wie sind diese Widersprüche in den statistischen Erhebungen zu erklären? „Diese Widersprüche“, 30 Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 117–143. 31 Zit. in Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 121. 32 Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Mit einer Einleitung von Milan Kundera, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, S. 25–27. Vgl. auch S. 356–358. 33 Vgl. Josef Svatopluk Machar, Wien, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur, Wien: ÖAW 2004, S. 283–300, Zit. S. 288. – Christa Rothmeier, Die entzauberte Idylle. Das Wien-Bild in der tschechischen Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Wien: ÖAW 1996, S. 255–291, Zit. S. 256. 34 Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, S. 32–33. 35 Monika Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, in: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. 217. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996, S. 102–113, Zit. S. 107. 36 Andreas Weigl, „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“?, S. 151.
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erklärt Martin Sekera, „beruhen zum einen auf der Formulierung der Fragen, wo die österreichischen Behörden nach der so genannten Umgangssprache und nicht nach der Muttersprache fragten, zum anderen auf dem Druck, der auf die tschechischen Einwohner Wiens ausgeübt wurde (Drohungen deutscher Arbeitgeber usw.), sowie auf einer Fälschung der Zählungsergebnisse.“37 Das ökonomische und soziale Fortkommen übte also einen enormen Druck aus, sich nicht nur gesellschaftlich, sondern vor allem auch sprachlich zu assimilieren, wie John und Lichtblau festhalten: „Dazu kommt noch – analog dem Ausspruch eines betagten Wiener Tschechen ‚Wer was werden hat wollen, hat müssen Deutsch reden‘, daß die Geschäftsleute, Mittelstandsangehörige, Aufsteiger, aber auch die Dienstboten in bürgerlichen Bezirken einem stärkeren Anpassungsdruck ausgesetzt waren.“38 Besonders betroffen waren von einem solchen Anpassungsdruck auch die Gemeindebediensteten oder Angestellte an öffentlichen Institutionen, wie zum Beispiel in Krankenhäusern. Auf ein weiteres Beispiel für deutschnational motivierte Repressionen den Wiener Tschechen gegenüber verweist Monika Glettler: Wollte ein Tscheche Bürger von Wien werden, was zum Beispiel für einen heimatberechtigten Beamten, Unternehmer, Kaufmann oder Gewerbetreibenden üblich war und nach einem zehnjährigen Aufenthalt und einer zehnjährigen Steuerleistung in der Stadt möglich wurde, weil die Einbürgerung politische, soziale, ökonomische und Bildungsvorteile sicherte, musste er seit dem Jahr 1900 den von Bürgermeister Karl Lueger persönlich ergänzten beziehungsweise abgeänderten Bürgereid schwören, der mit beinhaltete, dass er „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht halten wolle“.39 Das heißt: „Man verlangte von einem Wiener ‚böhmischer Abstammung‘ zu schwören, daß er zum Beispiel keinem tschechischen Verein angehöre und auch keinen zu gründen beabsichtige – obwohl beides laut Staatsgrundgesetz vollkommen legal war. Der Wiener Tscheche wußte nun: Weigerte er sich zu schwören, so würde er keinen Bürgerstatus bekommen, gesellschaftliche und berufliche 37 Martin Sekera, Wie waren die Tschechen in Wien bis 1918?, in: Vlasta Valeš (Hg.), Doma v cizeně. Češi ve Vídni ve 20. století. Zu Hause in der Fremde. Tschechen in Wien im 20. Jahrhundert, Praha: Scriptorium 2002, S. 114–124, Zit. S. 115. 38 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 144. 39 Ernst Mischler, Josef Ulbricht (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Bd. 4, Wien: Alfred Hölder ²1909, S. 978.
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Nachteile und noch andere Strafen erleiden müssen.“40 Nach abgelegtem Eid wurden Wiener Tschechen ebenso wie Angehörige anderer kultureller Zugehörigkeit – wie zum Beispiel ostgalizische Juden – oder anderer Sprachgruppen automatisch und offiziell als Deutsche registriert. Übrigens gab es 1913 den Versuch, den Passus, den deutschen Charakter der Stadt zu verteidigen, auch in den Grazer und Salzburger Bürgereid aufzunehmen.41 Die Wiener Tschechen befanden sich also in einem großen Dilemma: „Zehnjährige Seßhaftigkeit zog jedoch zwangsläufig den Eid auf den deutschen Charakter nach sich. In diesem Sinne also galten die Wiener Tschechen von Amts wegen als Deutsche.“42 Aufgrund dieser Tatsachen ist auch gegenüber zeitgenössischen „offiziösen“ statistischen Erhebungen größte Vorsicht geboten, so wenn zum Beispiel, vermutlich auch aufgrund des erwähnten ominösen Bürgereides, in diesen ein auffallend niederer Anteil an „slawischen“, also nicht nur tschechischen Bewohnern Wiens verzeichnet wird.43 Mit Verbitterung hielt daher der tschechische Journalist und Politiker Viktor Dyk in seinen 1927 erschienen Memoiren fest: „Aber mit Wien, einer germanisierten und germanisierenden Stadt, konnte ich mich schwer abfinden. Wie mir schien, war es ihr Charakter, keinen Charakter zu haben.“ 44 Die Juden und die Tschechen Wiens sind jene Immigrantengruppen, über die es für die Jahrzehnte um 1900 die ausführlichsten historischen und statistischen Untersuchungen gibt. Folglich war Wien in den Jahrzehnten um 1900 keineswegs eine sprachlich homogene, das heißt eine rein deutschsprachige Stadt, Wien galt vielmehr auch „als die größte tschechische Stadt. Der Berliner Philosoph Eduard von Hartmann, ein Vorläufer Sigmund Freuds, prophezeite ein slawisches Wien im 20. Jahrhundert“.45 Wien, „die größte tschechische Stadt“, mag verwundern, es war aber in dieser völkerdurchmischten zentraleuropäischen Region nichts Außergewöhnliches, vor allem wenn man bedenkt, dass mit der fortschreitenden Industrialisierung die Städte die ar40 41 42 43
Monka Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, S. 106. Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 124–125. Monika Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, S. 105, Zit. S. 106. A. L. Hickmann (Hg.), Historisch-Statistische Tafeln der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im neunzehnten Jahrhundert, Wien: Alfred Hölder 1903. 44 Viktor Dyk, Die letzten Friedensjahre, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien, S. 350. 45 Monika Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, S. 103.
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beitsuchende ländliche Bevölkerung fast magisch anzogen. Triest zum Beispiel war Ende des 19. Jahrhunderts die größte slowenische Stadt, von ihren ca. 150.000 Bewohnern waren 57.000 (35 Prozent) Slowenen;46 und auch hier gab es, komplementär zu den deutschnationalen Bestrebungen in Wien, den deutschen Charakter der Stadt zu wahren, nationalistische Anstrengungen, Triest zu einer rein italienischen Stadt zu machen. Die Zuwanderungen aus dem südlichen Böhmen und vor allem aus Mähren nach Wien wurden allgemein „als Überschreiten einer sprachlich-kulturellen Grenze empfunden, das der deutschnationalen Propaganda als Gefahr für den deutschen Charakter Österreichs galt. Entsprechend stark war der Assimilationsdruck auf die tschechischsprachigen Zuwanderer.“47 Manche deutschnational gesinnten Wiener Intellektuelle befürchteten, Wien könnte ebenso „kippen“, nämlich tschechisch werden, wie kurz zuvor Brünn (Brno), die Hauptstadt von Mähren, die wegen der engen wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zu Wien auch als die Vorstadt Wiens bezeichnet wurde. Deutschnationale Initiativen sollten dies auf allen Ebenen zu verhindern wissen. Vor allem war man bestrebt, die Kenntnis und Verbreitung der tschechischen Sprache zu beschränken, unter anderem durch Verordnungen, die der Niederösterreichische Landtag seit 1896/97, in der aufgeheizten Stimmung rund um die Badenische Sprachenverordnung, wiederholte Male auf Antrag des niederösterreichischen deutschnationalen Landtagsabgeordneten Dr. Rudolf Kolisko erließ, dass „die deutsche Sprache als die ausschließliche Unterrichtssprache für alle öffentlichen Volks- und Bürgerschulen festgesetzt werde“.48 In der Folge kam es zu Straßenkundgebungen der Wiener Tschechen gegen diese „Lex Kolisko“ und parallel dazu zu ebenso heftigen deutschnationalen Protesten gegen die Badenische Sprachenverordnung. Nichtdeutschsprachige, das heißt auch tschechische Grundschulen konnten folglich nur auf privater Basis errichtet und unterhalten werden – ihr „offiziöser“ Träger war 46 Oto Luthar (Hg.), The Land Between. A History of Slovenia, Frankfurt a. Main u.a.: Peter Lang 2008, S. 351. 47 Hermann Zeitlhofer, Tschechien und Slowakei, in: Klaus J. Bade, Peter C. Emmer u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a.: F. Schöningh 2007, S. 272–287, Zit. S. 277. 48 Norbert Gürke, Die deutschen Erbländer, in: Karl Gottfried Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien/Leipzig: Wilhelm Braumüller 1934, S. 429–458, Zit. S. 442–443.
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der 1876 gegründete Komenský-Schulverein –, nachdem festgestellt worden war, dass aufgrund ihrer räumlichen Aufteilung auf verschiedene Bezirke den Tschechen in Wien auch nicht der Status einer Nationalität zuerkannt werden könne.49 Kinder, die solche private Schulen besuchten, mussten, um einen offiziellen Schulabschluss nachweisen zu können, ihre Abschlussprüfungen in einer grenznahen mährischen oder böhmischen öffentlichen Schule ablegen, zum Beispiel im mährischen Lundenburg (Břeclav). Aufgrund einer solchen repressiven Einstellung den Wiener Tschechen gegenüber hatte bereits 1892 der in Wien erscheinende „Parlamentär“, eine Zeitung, die die Interessen der Tschechen vertrat, lapidar vermerkt: „Wien will sich um die geistigen Bedürfnisse der tschechischen Bevölkerung nicht kümmern, es benimmt sich nicht wie die erste Stadt des österreichischen Staatsgefüges (soustátí), sondern wie die Hauptstadt einer deutschen Ostmark.“50 Artikel 19 des Staatsgrundsgesetzes von 1867 („Dezemberverfassung“) hielt zwar fest, dass alle Nationalitäten gleichberechtigt seien: „Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.“51 Ein Entscheid von 1904 hielt dann freilich lapidar fest: „Der tschechoslawische Volksstamm wohnt in Wien nicht; die tschechoslawische Sprache ist in Wien nicht landesüblich.“52 Im Gegensatz dazu hieß es, dass die deutsche Sprache in Prag sehr wohl „landesüblich“ wäre. Dies ist ein Entscheid, der zwar mit der damaligen Rechtsauffassung konform war, jedoch die größte 49 Martin Sekera, Wie waren die Tschechen in Wien bis 1918?, S. 121–122. 50 Zit. in: Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins bei den in Wien ansässigen Slaven und die Wiener Slavenpresse, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 17–36, Zit. S. 34. 51 Julius Giegl, Die Staatsgrundgesetze. Die Verfassungsgesetze für die Gesamtheit der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. 8. Auflage, Wien: Manz 1909, S. 77–80. 52 Julius Giegl, Die Staatsgrundgesetze, S. 78. – Vgl. auch Norbert Gürke, Die deutschen Erbländer, S. 448–449.
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tschechischsprachige städtische Agglomeration innerhalb der Monarchie, die ein Ergebnis von modernisierungsbedingten Mobilitäten und Migrationen war und eine neue sozioökonomische und demografische Realität darstellte, nicht wahrhaben wollte, weil die Tschechen hier kein geschlossenes Siedlungsgebiet belegten und, im Gegensatz zu Böhmen oder Mähren, sich hier auch historisch als Volksstamm nicht nachweisen ließen, wie das Erkenntnis denn auch festhielt: „Dieses Zuströmen verschiedener sprachlicher Elemente ist eine den Großstädten eigentümliche, zumeist in Erwerbsrücksichten begründete Erscheinung und es vermag eine derartige Ansiedlung weder mit Rücksicht auf die Zahl, noch auf die nationale Betätigung, die historischen Voraussetzungen eines Volksstammes des Landes zu begründen.“53 Auf diese „historische“ Argumentation stützte man sich also in der Folge bei der Weigerung, den Tschechen Wiens offiziell anerkannte Schulen zuzugestehen. Es war dies ein Beharren auf einem nationalen Territorialitätsprinzip, im Unterschied zu einem damals bereits diskutierten und von Karl Renner in seiner Untersuchung „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ (1902) eingebrachten Personalitätsprinzip, wonach die nationale Zugehörigkeit, ähnlich wie das religiöse Bekenntnis, ein personales Recht wäre, unabhängig vom Territorium, auf welchem sich eine Person aufhält. Blickt man im Vergleich dazu in die pränationale Phase zurück, gibt es anscheinend eine deutliche Diskrepanz zu dem praktischen Umgang mit den tschechischsprachigen Bewohnern Wiens. Der relativ hohe Anteil von tschechischen Einwohnern bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich unter anderem daran ermessen, dass gemäß einer Regierungsverordnung aus dem Jahre 1778 „in den damaligen Wiener Vororten Verlautbarungen auch in tschechischer Sprache zu verkünden“ waren.54 Durch die Eingemeindung der Vororte55 mit ihrer mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung, die in drei Phasen (1850er-Jahre, 1890er-Jahre, 1904) bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts anhielt, vermehrte sich die Zahl der „Deutschen“, nicht zuletzt auch aufgrund des neuen Bürgerstatus, kontinuierlich zu ungunsten der sogenannten „Fremden“. 53 Norbert Gürke, Die deutschen Erbländer, S. 449. – Vgl. dazu Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien: ÖAW 1985, S. 74–83. 54 Monika Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, S. 102. 55 Vgl. u.a. Elisabeth Lichtenberger, Wien – Prag. Metropolenforschung, Wien u.a.: Böhlau 1993, S. 40 ff.
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Kulturelle Initiativen einer „Minderheit“ In der Regel entwickeln Angehörige einer Sprachgruppe, die sich in einer anderssprachigen Umgebung vorfinden, ein kohärenteres Zusammengehörigkeitsgefühl als in ihrer ursprünglichen, sprachlich homogenen Umgebung, vor allem dann, wenn sie verschiedenen Repressionen vonseiten der dominanten Umgebung ausgesetzt sind beziehungsweise wenn sie mehr oder weniger gezwungen werden, in Sprache und in Lebensweise sich an diese zu assimilieren. Auch bei den nach Wien zugewanderten nichtdeutschsprachigen Gruppen lässt sich dies nachweisen. So versuchten die nach Wien eingewanderten Tschechen sich durch die Gründung von Besedy (= Zusammenkünfte) oder Vereinen in einer ihnen zunächst unbekannten Umgebung Halt zu verschaffen und sich ihrer Andersartigkeit zu versichern. Sie entwickelten hier seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein reges soziales und kulturelles Leben, wobei zunächst weder eine totale Abschottung von den „Einheimischen“ noch die strikte sprachliche Abgrenzung eine Rolle spielte, wie zum Beispiel auf den „slawischen Bällen“ im Palais Harrach, beim Sperlbauer oder in den Sophiensälen, die sowohl vom gesellschaftlichen als auch sprachlichen Gesichtspunkt ein durchaus gemischtes Publikum aufwiesen und für die Johann Strauß Vater und Sohn eigens komponierte musikalische Stücke beisteuerten.56 Diese Kompositionen sind ein gutes Beispiel für die Verschränkung unterschiedlicher folklorer musikalischer Elemente, von musikalischen Motiven und Tänzen aus dem „slawischen“ nonverbalen Kommunikationsraum und deren Integration in die Rhythmik der zur damaligen Zeit gängigen, „modernen“ urbanen Tanzabfolgen (Serben-Quadrille, SlavenBall-Quadrille). Beispiele dafür sind unter anderem das von Johann Strauß Sohn für die „Musikalische Abendunterhaltung der Slawen (alle in Wien vertretenen Nationen)“ im März 1847 komponierte „Slaven Potpourri“ (op. 39) „nach Melodien slawischer Nationen“57 oder die „Slaven-Ball Quadrille“ (op. 88) für den Slawenball im Februar 1851. Diese Kompositionen bilden ein Spiegelbild der plurikulturellen Realität des urbanen Milieus der Haupt56 Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins, S. 28–30. 57 Strauß-Elementar-Verzeichnis (SEV). Thematisch-Bibliographischer Katalog der Werke von Johann Strauß (Sohn). 1. Lieferung. Hg. vom Wiener Institut für Strauß-Forschung, Tutzing: Hans Schneider 1990, S. 57–60, Zit. S. 59.
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und Residenzstadt Wien, ihre „Vermarktung“ ist darüber hinaus ein gutes Beispiel für die geglückte, jedoch hybride Verschränkung unterschiedlicher musikalischer Elemente an einem kulturellen Schnittpunkt, nämlich jenem der Slawenbälle, auf denen, wie bereits angedeutet, Repräsentanten verschiedener kultureller und sozialer Kommunikationsräume einander begegneten. Slawische Melodien wurden zwar als eine „nationell“ codierte Musik und daher von manchen vermutlich noch immer zum Teil als „Exotismen“ wahrgenommen, obwohl die Polka schon seit 1839 in Wien heimisch geworden war; sie dienten der Repräsentation für die Wiener Slawen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit, sie waren aber noch nicht politisch, das heißt national vereinnahmt, instrumentalisiert worden und konnten folglich mühelos in das Arsenal einer autochthonen Musik des plurikulturellen Wien überführt und integriert werden. Tänze der zentraleuropäischen Region, die nicht nur von der Strauß-Dynastie verarbeitet wurden und bis heute zum Repertoire des Wiener Neujahrskonzerts gehören, wurden gerade in jenen Jahren des späten Vormärz zum festen Bestandteil von städtischen Ballveranstaltungen. Während der Walzer – zwar beträchtlich später als die Polonaise – seit dem Wiener Kongress zu einem urbanen Gesellschaftstanz geworden war, erklang vergleichsweise der ungarische Csárdás vermutlich nicht, wie Frigyes Podmaniczky in seinen Erinnerungen festgehalten hat, schon 1839 beziehungsweise 1840 – Podmaniczky bezieht sich dabei auf einen Artikel der Zeitung „Egyetértés“ aus dem Jahre 1887, in dem behauptet wird, dass die Einführung des Csárdás einer Anregung des ungarischen Reformpolitikers Graf Stephan Széchenyi zu verdanken wäre, was wohl einer nationalen Mythenbildung gleichkommen dürfte58 –, sondern vermutlich 1841 erstmals auf einem Ball 58 Podmaniczky Frigyes, Egy régi gavallér emlékei. Válogatás a naplótöredékekből 1824–1887 (Erinnerungen eines alten Kavaliers. Auswahl aus den Tagebuchfragmenten), hg. von Ágota Steinert, Budapest: Helikon 1984, S. 115–125. Podmaniczky zitiert ausführlich den mythenbildenden Bericht von „Egyetértés“; natürlich konnte nur Széchenyi, der „größte Ungar“, für die Einführung des Csárdás verantwortlich sein. Der ungarische Schriftsteller Gyula Krúdy übernahm den Bericht aus Podmaniczkys Tagebuch und hat diesen Mythos populär gemacht. – Vgl. Krúdy Gyula, Budapest vőlegénye (Budapests Bräutigam), in: ders., Egy krónikás könyvéből (Aus dem Buch eines Chronis ten), Budapest: Szépirodalmi 1987, S. 80–86, 178–179, 220–221. – Diese Sicht übernimmt auch Fábri Anna, Hétköznapi élet Széchenyi István korában (Alltagsleben im Zeitalter Stefan Széchenyis), Budapest: Corvina 2009, S. 91.
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des adeligen Casinos in Pest (Budapest). Denn Széchenyi, der sehr genau Tagebuch geführt hatte, bemerkt erst am 3. Februar 1841 dieses Ereignis: „Casino Ball. Sehr voll“, notiert Széchenyi, „C[aroline] K[árolyi] und Rosty tanzen ungrisch.“59 Hätte es schon früher, 1839 oder 1840 stattgefunden, wäre es ihm sicher aufgefallen. 1847 wurde der Csárdás bereits auf einem Hofball in Pressburg vorgeführt, an dem auch Kaiser Ferdinand teilgenommen hatte.60 Zur Popularität des Csárdás dürfte nicht zuletzt Franz Liszt beigetragen haben, der oft auch in Wien aufgetreten war: Seine „Ungarischen Lieder“ erschienen 1839–1847 in vier Teilen, die ersten fünfzehn seiner „Ungarischen Rhapsodien“ zwischen 1846 und 1852. In den 40er-Jahren entstanden die ersten „ungarischen“ Opern von Franz (Ferenc) Erkel, in „Hunyady László“ (1844) verwertete er bereits bewusst ungarische folklore Elemente. Aus den gleichen Jahren stammen auch die ersten Bearbeitungen ungarischer Themen durch Johann Strauß Sohn: 1846 komponierte er den „Pesther Csárdás“ (op. 23) und die „Zigeuner-Quadrille“ (op. 24).61 In Wien, wo es dem Csárdás freilich nicht gelungen sein dürfte, sich für längere Dauer im Repertoire von Ballveranstaltungen zu etablieren, war dieser Tanz dennoch zu einem festen Bestand der alltäglichen, unterhaltenden und – denkt man zum Beispiel an die „Ungarischen Tänze“ von Johannes Brahms – der Kunstmusik geworden. Der Csárdás gehört also ebenso zum „Gedächtnis“ dieser Stadt wie die Polonaise, die Polka, die Mazurka oder, selbstverständlich, der Walzer. 1865 wurde der bis 1918 existierende, für alle Wiener Slawen repräsentative „Slovanská beseda“ (Slawische Verein) gegründet, unter der adeligen Schirmherrschaft der Grafen Eugen Karl Czernin, Johann Harrach und Eugen Jaromír Franz Czernin; er nahm freilich sehr bald einen rein tschechischen Charakter an. Bald folgten der Slawische Gesangsverein, der Turnverein „Sokol“ (Falke), der Theaterverein „Pokrok“ (Fortschritt) oder der „Akademický spolek“ (Akademische Verein), dem unter anderen František Palacký, Josef 59 Gyula Viszota (Hg.), Gróf Széchenyi István naplói (Tagebücher von Graf Stephan Széchenyi), Bd. 5 (1836–1843), Budapest: Magyar Történelmi Társulat 1937, S. 445. – Vgl. ebd. auch Anm. 3: Laut einem Bericht der Zeitschrift „Honművész“ bemühten sich vor allem Graf Ludwig Forgách und Baron Béla Wenckheim um die Popularisierung des Csárdás. 60 Podmaniczky Frigyes, Egy régi gavallér emlékei S. 125. Vgl. auch The New Grove Dictionary of Music and Musicians, ed. Stanley Sadie, Bd. 5, London: Grove, S. 82. 61 Strauß-Elementar-Verzeichnis S. 32–35.
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Svatopluk Machar oder Tomáš G. Masaryk angehörten, der den Verein für kurze Zeit auch selber leitete. Für die Zeit unmittelbar nach 1900 behauptet im Jahre 1934 der erheblich deutschnational gefärbte Beitrag des seit 1939 an der Wiener Universität lehrenden Völkerrechtlers Norbert Gürke über „41 Geselligkeits-, 28 akademische, 36 Turn- und Sportvereine, 10 kirchliche, 23 politische, 27 gewerkschaftliche und fachliche, 16 Arbeiterbildungs-, 15 wirtschaftliche Vereine“ in Niederösterreich beziehungsweise in Wien nachweisen zu können und meint, nicht ohne einen polemischen Unterton, dass es nicht die Wiener Tschechen waren, „die eine solche Vielzahl von Organisationen schufen, sondern diese wurde ihnen zum allergrößten Teile von Prag vorgesetzt“.62 Freilich war die Zahl von tschechischen Vereinen, rechnet man jene hinzu, die von nur sehr kurzlebiger Dauer waren, beträchtlich höher.63 Um 1900 gab es zwei tschechischsprachige Tageszeitungen, die „Dělnické Listy“ (Arbeiterblätter) und der „Vídeňský Denník“ (Wiener Tagblatt). Zahlreiche andere Zeitungen waren von nur kurzer Dauer, im Gegensatz zu länger erscheinenden Gewerkschafts- und Wirtschaftsblättern.64 Auf Initiative des Akademischen Vereins gab der in Wien lebende tschechische Slawist und Journalist Josef Karásek 1894 unter dem Titel „Z Vídně o Vídni“ (Aus Wien über Wien) eine Sammlung von zum Teil bereits früher publizierten Artikeln über das Leben der Tschechen in Wien heraus. Im Zusammenhang mit meiner zentralen Fragestellung nach der Entstehung eines übergeordneten, hybriden städtischen Kommunikationsraums ist in diesen Berichten nicht so sehr die Betonung des tschechischsprachigen Elements in Wien von Interesse als die vielen kulturellen Schnittstellen, an denen sich ein deutschsprachiger und tschechischsprachiger Kommunikationsraum überlappte und zu einem „Hypertext“ beitrug, einem übergeordneten Netzwerk, in dem analoge, allen verständliche Bedeutungszuweisungen zirkulierten. Das betrifft Schnittstellen, Knotenpunkte wie öffentliche Institutionen, zum Beispiel die öffentlichen Verwaltungsstellen mit zahlreichen tschechischen Beamten aus Böhmen und Mähren, das Theater und die Oper mit zahlreichen tschechischen Schauspielern, Sängern und Musikern, wie zum Beispiel dem 62 Norbert Gürke, Die deutschen Erbländer, S. 447. 63 Vgl die genaue Auflistung bei Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, S. 467– 483. 64 Vgl. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, S. 447–459.
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Schnittstelle Kaffeehaus
mit Gustav Mahler befreundeten Josef Bohuslav Foerster, der von 1903 bis 1918 in Wien als Kritiker und Musiklehrer tätig war. Bildungsinstitutionen (wie die Universität, die Hochschulen), Banken oder das musikalische Leben Wiens (Orchester, Militärmusik) sind davon ebenso betroffen wie die Redaktionen einzelner Zeitungen. Ich will im Verlaufe meiner weiteren Ausführungen nur schlaglichtartig auf einige wenige Beispiele von solchen Schnittstellen hinweisen.
Schnittstelle Kaffeehaus Vor allem Cafés oder Gaststätten bildeten solche kulturellen Schnittstellen. Ich denke dabei weniger an das klassische literarische Kaffeehaus, in dem zahlreiche bedeutende literarische Werke entstanden oder diskutiert wurden, oder an das Café, durch dessen Fenster man aus der inneren Abgeschirmtheit das Außen beobachten konnte, um „es in kurzem, angezogen von dem Magneten der Masse“65 wieder zu verlassen oder, um dasselbe Bild ins Metaphorische zu wenden, an das Café, das aufgrund der vielen Informationsquellen, Zeitungen und Journale, die hier zur Einsicht auflagen, ein Fenster in die Welt darstellte, wie es Stefan Zweig in der „Welt von Gestern“ so eindringlich geschildert hat,66 als vielmehr an das Café als jenen flüchtigen, transitorischen Rückzugsraum, als eine Heterotopie, wie Stefan Simonek in Anlehnung an Michel Foucault jüngst bemerkt hat,67 in dem sich Menschen unterschiedlicher Interessen, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Professoren, Politiker, Unternehmer, Kaufleute oder Gewerbetreibende aus verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kommunikationsräumen, gelegentlich oder regelmäßig trafen oder sich gegenseitig annäherten, sich unterhielten und austauschten, „Fremdes“ vermittelt bekamen und in das Eigene integrierten, was zur Folge hatte, dass das Café auch zu einem wichtigen Ort permanenter kreativer, dynamischer kultureller Prozesse wurde. In Arthur Schnitzlers Erinnerung war das Kaffeehaus ein „neu65 Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften I/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ³1990, S. 551. Vgl. auch ebd. S. 628–629. 66 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1982, S. 56–57. 67 Stefan Simonek, Das Kaffeehaus – ein (Un-)Ort der slowenischen und kroatischen Moderne, in: Zeitschrift für Slawistik 54 (2009), S. 44–61.
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traler Boden“, wo man sich traf, „damals das ‚Central‘, wo ich gar viele Stunden mit Zeitungslektüre, Billard, Domino, seltener mit Schachspiel, bei dem oft ein graubärtiger polnischer Jude namens Tambour meinen Partner machte, hinzubringen pflegte“. Freilich war die „gemäßere Atmosphäre“ für Schnitzler „die künstlerische oder was ich mir eben darunter vorstellte, besonders, wenn ein etwas zigeunerlicher Hauch sie durchwehte“. Um dann auf eine wichtige Funktion des Kaffeehauses hinzuweisen, die darin bestand, dass sich lose, flüchtige Netzwerke von Bekanntschaften herausbilden konnten: „So bildeten sich um mich Menschenkreise der verschiedensten Art, flossen ineinander, zerflossen wieder.“68 Oder anders gewendet, aus einer umgekehrten Perspektive, wie sich Otto Friedländer ausdrückt: „Wenn man in Wien einen Bekannten geringschätzig beschreiben will, so sagt man: eine Kaffeehausbekanntschaft.“69 Allgemein bekannte und produktive Kaffeehausrunden befanden sich unter anderem im Café Griensteidl am Michaelerplatz, so der Kreis um die Schriftsteller des Jung Wien oder eine Gruppe, der der Sozialdemokrat Viktor Adler, der Reichstagsabgeordnete Engelbert Pernerstorfer, der Industrielle Richard Faber, die Rechtsanwälte Julius Ofner, Emil von Fürth, Friedrich Frey, der Arzt Max Gruber, Siegfried Lipiner und die Sozialtheoretiker Michael Hainisch und Otto Wittelshöfer angehörten. Eine zeitweilige Überschneidung beziehungsweise Begegnung dieser zwei Kreise oder, anders ausgedrückt, dieser zwei Kommunikationsräume lässt sich zwar nicht eindeutig nachweisen, ist jedoch durchaus naheliegend.70 Eduard Timms hatte schon vor längerer Zeit auf die schöpferische Relevanz solcher „Kreise“ für das Wiener urbane intellektuelle Leben und dabei vor allem die Überlappung beziehungsweise auf die Mehrfachpositionierung von einzelnen Personen hingewiesen.71 In den Jahrzehnten um 1900 gab es in Wien freilich auch Cafés, die überwiegend von Slawen besucht wurden, wie es auch andere gab, die vorwiegend 68 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Mit einem Nachwort von Friedrich Torberg, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1981, S. 99. 69 Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 216. 70 Helene Zand, Die Moderne. Ein Beitrag zur Bestimmung des Begriffs bei Hermann Bahr, Max Burckhardt und Richard Muther, Graz: Phil. Diplomarbeit 1991, S. 15. 71 Eduard Timms, Die Wiener Kreise. Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne, in: Jürgen Nauz, Richard Varenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien u.a.: Böhlau 1993, S. 128–143.
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den „einheimischen“ Deutschsprachigen vorbehalten blieben, aber vor allem auch solche, die ein durchaus heterogenes, gemischtes Publikum aufwiesen. Die Zeitung „Opavský besedník“ nennt zu Beginn der 60er-Jahre unter anderem das Café Bauer (Singerstraße/Ecke Churhausgasse), das gerne von Slawen frequentiert wurde, jedoch nicht ausschließlich als slawisch apostrophiert werden könne: „Über der Tür finden Sie“, bemerkt der Publizist und Literaturwissenschaftler Josef Karásek, „neben dem Namen ‚Café‘ auch ‚Kavárna‘ geschrieben; Sie treten also ein und rufen in ihrer slawischen Einfalt dem Bediener mährisch zu, er möge Ihnen einen schwarzen Kaffee servieren […] [er] starrt Sie an und sagt nach einer Weile: ‚fršté nicht bémiš‘, und erst jetzt haben Sie das Vergnügen, Ihre Bestellung in melodiösem Deutsch aufzugeben.“ Die harte deutsche Aussprache des Oberkellners verrät natürlich untrüglich, dass er ein Tscheche ist. Und dann fährt der Berichterstatter fort: „Wenn Sie sich ein bißchen nach Zeitungen umsehen, dann werden Sie hier, und das ist die Wahrheit, dafür, was Sie ihrer Zunge durch Verwendung des Deutschen angetan haben, durch die Zeitschriften wieder entschädigt; außer 36 oder 38 böhmischen, mährischen und slowakischen Journalen, darunter auch unseren lieben ,Besedník‘, finden Sie hier auch noch den polnischen ,Czas‘, das rusinische ,Slovo‘, den kroatischen ‚Pozor‘, die slowenischen ,Novice‘, ja sogar zwei sorbische aus Bautzen in Sachsen.“72 Neben vielen anderen, wie zum Beispiel dem vornehmen „Café Central“, „wo sich die tschechische Intelligenz trifft“,73 dem „Gerlovič“ am Bauernmarkt, das als das „Slawische Café“ bezeichnet wurde, dem Etablissement „Sperl“ im zweiten Bezirk, dem „Griensteidl“ oder dem Gasthaus „Zum roten Igel“, im ersten Bezirk gelegen (Ecke Tuchlauben/Wildpretmarkt), findet das Studentencafé „SchmausWaberl“ (Bäckerstraße/Alte Universität), das von einem Herrn Klimesch aus Böhmen geführt wird, eine besondere Aufmerksamkeit. Hier wird ebenfalls auf die vielen slawischen Zeitungen hingewiesen, zugleich wird aber auch die Mehrsprachigkeit in diesem Café, das auch gerne von tschechischen Abgeordneten besucht wurde, hervorgehoben: „Dort aus der Ecke hört man gerade: ,Zab to, jak se to patři!‘ – ,Stich, wie es sich gehört‘, was die übrige Gesellschaft lautstark auf tschechisch begleitet. An einem anderen Tisch sitzt 72 Josef Karásek, Aus Wien über Wien, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien, S. 183–200, Zit S. 187. 73 Josef Karásek, Aus Wien über Wien, S. 193.
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eine interessante Runde: Tschechen und Deutsche; sie sprechen halb tschechisch, halb deutsch. Ein Deutscher findet besonderen Gefallen an dem typisch tschechischen ‚Satraceny pan X.‘ – ‚Verdammter Herr Urian.‘ Worauf der angegriffene Böhme antwortet: ‚Ich bin am Geben; schreib’ dort einen Einser auf, schreib’ und zank’ nicht mit mir herum!‘“74 Während die Arbeiter seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Arbeitervereinen organisiert waren, sie sich in diesen Vereinen also einen Kommunikations- und Lebensraum schufen, organisierte sich die gebildetere Mittel- und Oberschicht in Kulturvereinen, wie der Schriftsteller Jaroslav Hašek noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ironisch-parodistisch festhalten sollte: „Die Wiener Tschechen teilen sich in zwei Klassen: in vermögendere und in ärmere. Die ärmeren haben ihre Arbeitervereine und die vermögenderen ihre Kulturvereine.“75 Solchen Vereinen vorausgegangen waren bereits im Vormärz lockere, zumeist musikalisch umrahmte Unterhaltungsveranstaltungen (Besedy), die sich an bekannten Unterhaltungsorten (Saal des Konservatoriums, Sträußelsäle) oder in Gaststätten (Sperl) zufällig oder organisiert ergaben und an denen auch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie der in Prag geborene Pianist und Komponist Josef Dessauer, teilnahmen.76 Karásek freilich bezieht sich, wie schon erwähnt, in seinen Wien-Schilderungen auf zahlreiche „slawische“ Cafés, die vor allem in der Innenstadt anzutreffen waren und auf „slawische“ Wirtshäuser in den Außenbezirken, er entwirft ein eindrucksvolles Bild seiner polyglotten Besucher, die Journale in unterschiedlichen Sprachen lesen, um dann das Gelesene lebhaft zu diskutieren, um schließlich „das prachtvolle ‚Central‘, wo sich die tschechische Intelligenz trifft“ zu erwähnen.“77 Später berichtet Josef Svatopluk Machar, der fast dreißig Jahre lang, also länger als zum Beispiel Hermann Bahr, in Wien gelebt hatte, von dem aber, ähnlich wie von den meisten anderen nichtdeutschsprachigen Autoren, Czeikes „Historisches Lexikon Wien“ bezeichnenderweise keine Notiz nimmt, 74 Josef Karásek, Aus Wien über Wien, S. 195. 75 Jaroslav Hašek, Die Geschichte der Partei des maßvollen Fortschritts in den Grenzen des Gesetzes, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien S. 312– 326, Zit. S. 323. 76 Gertraud Marinelli-König, Slawen und Slawisten im kulturellen und akademischen Leben Wiens, in: Wiener Slawistisches Jahrbuch 45 (1999), S. 91–104, Zit. S. 99. 77 Josef Karásek, Aus Wien über Wien, S. 195.
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der Verfasser von „Tristium Vindobona“ (1893), in seinem 1903 erschienen Wien-Buch bereits durchaus distanziert-kritisch, fast parodistisch, man könnte auch sagen: durchaus realistisch über Wien, „eine banale Stadt“,78 wie er bemerkt, über solche Treffpunkte und über die Situation der Tschechen in Wien, die zunehmend deutschnationalistischen Repressionen ausgesetzt waren, die sich auch in der „Alltagssprache“, in der Presse, in Karikaturen oder im Wienerlied niederschlugen. Darauf möchte ich ein wenig später noch kurz eingehen. Stefan Simonek ist in einem seiner Essays auf diese kritische Position Machars eingegangen. Er verdeutlicht diese am Beispiel der literarischen Repräsentation des Praters und der Prater-Cafés – ebenfalls kommunikative Schnittstellen – als Symbole der Identifikation mit Wien. Während die deutschen literarischen Texte über den Prater, etwa jene von Repräsentanten des „Jung Wien“, in erster Linie dessen Bedeutung für die Wiener Bourgeoisie und Aristokratie hervorheben, konnotiert im Gegensatz dazu der durchaus sozialkritische Beobachter Machar mit dem Prater eine Vergnügungsstätte der armen – vor allem auch tschechischen – Arbeiterschaft und des Proletariats; hier können sie für kurze Zeit ihre Not und Unterdrückung vergessen oder verdrängen.79
Marginalisierte Wiener Slawen Wenn man die plurikulturelle und vielsprachige Situation der größeren Städte Zentraleuropas im 19. und 20. Jahrhundert untersucht, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass zur Zeit der Monarchie in Zisleithanien („Österreich“) die offiziellen Bevölkerungserhebungen nach der Umgangs-, und nicht, wie im Königreich Ungarn, nach der Muttersprache erfolgten. Die konkrete, im Alltag gesprochene Sprache bildete das primäre, offizielle differenzierende Merkmal, in den städtischen Ballungszentren sogenannte „Fremde“ von den „Einheimischen“ zu unterscheiden. Freilich: Wie unscharf beziehungsweise ungenau solche Spracherhebungen sein konnten, zeigt der bereits erwähnte Wiener Bürgereid, nach dessen Ablegung „Fremde“, zum 78 Josef Svatopluk Machar, Wien, S. 284. 79 Stefan Simonek, Josef Svatopluk Machars Parallel- und Gegenwelten zur Wiener Moderne, in: ders., Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne, Bern/Berlin: Peter Lang 2002, S. 93–175.
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Beispiel Tschechen, nicht nur in Wien heimatberechtigt, sondern automatisch als „Deutsche“ gezählt wurden. Dieser offizielle Assimilationsdruck vonseiten einer deutschnational gesinnten politischen Stadtverwaltung betraf freilich nicht nur die Tschechen, sondern ebenso Vertreter anderer Sprachoder Religionsgemeinschaften, auch diese wurden nach Ablegung des Bürgereides offiziell als „Deutsche“ geführt. Es war dies ein Verfahren, das im Grunde genommen das „Fremde“ nicht duldete, sondern auf eine entschiedene sprachlich-kulturelle Homogenisierung ausgerichtet war. Wenn auch nicht immer offen ausgesprochen, war das ideologische Rüstzeug solcher Maßnahmen ohne Zweifel das nationale Narrativ. Im Falle Wiens bedeutete das, dass Wien eine deutsche Stadt wäre und seinen deutschen Charakter bewahren müsste. Nicht berücksichtigt wurden bei der Dominanz, die der konkreten Sprache als unterscheidendem, nationskonstitutivem Merkmal zugesprochen wurde, die sozialen und kulturellen Differenzen, von denen Menschen, die ein und dieselbe Sprache sprachen, bestimmt waren, das heißt die vertikale sozial-kulturelle Differenziertheit einer auch sprachlich homogenen Gesellschaft. So gehörte der Bankbeamte und tschechische Schriftsteller Josef Svatopluk Machar ebenso wie zahlreiche tschechische Angestellte in der Privatwirtschaft oder in der k.k. Bürokratie einem anderen kulturellen Kommunikationsraum an als tschechische Arbeiter und Taglöhner; böhmische Köchinnen und Kindermädchen verband wenig mit den angesehenen, hoch geachteten tschechischen Schuhmachern und Schneidermeistern, bei denen nicht nur bürgerliche, sondern auch aristokratische Kunden aus und ein gingen. Wie hoch der Anteil tschechischer Schuhmacher und Schneider in Wien gewesen sein mag, ersieht man aus einer Statistik, die die 1897–1900 neu gemeldeten Gewerbetreibenden erfasste: Gegenüber 132 in Wien geborenen Schuhmachern stammten 535 aus Böhmen und Mähren, 251 in Wien geborenen neu angemeldeten Schneidern standen 522 in Böhmen und Mähren geborene gegenüber.80 Bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde Wien zu einem Mittelpunkt von zahlreichen Intellektuellen aus slawischen Gebieten der zentral europäischen Region; im 19. Jahrhundert vergrößerte sich sowohl ihr Anteil 80 Vgl. Martin Sekera, Wie waren die Tschechen in Wien, S. 116, Anm. 9. – Vgl. auch Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, S. 60–68.
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als auch ihr geistiger Einfluss beträchtlich. In der pränationalen beziehungsweise pränationalistischen Phase erstreckte sich ihr Wirkungsbereich, ganz im Sinne der theresianischen und franziszäischen Bildungsreform, die die verpflichtende Schulausbildung für alle vorschrieb, vor allem auf die Ausbildung und Modernisierung der jeweiligen Volkssprachen, in denen der Elementarunterricht stattfand, auf die Pflege der Literaturen, auf Geschichtsdarstellungen oder im Speziellen auf die Erforschung der Slawen, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts von vielen als eine homogene kulturelle Einheit aufgefasst wurden: Die nur vorübergehend in Wien ansässigen Slowaken L’udivít Štúr, Michal Miloslav Hodža oder Ján Kollár, Professor für slawische Altertumskunde an der Wiener Universität, interessierten sich nicht nur für die kulturellen und politischen Anliegen der Slowaken, sondern ebenso für jene der Tschechen und der südslawischen Völker.81 Diese Sicht kam auch in übergreifenden wissenschaftlichen Darstellungen der slawischen Literaturen zum Ausdruck, zum Beispiel in Pavel Josef Šafaříks (als gebürtiger Slowake: Pavol Jozef Šafárík) „Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten“ (1826) oder in seiner „Geschichte der südslawischen Literatur“ (1864–1865), und noch 1906 in Josef Karáseks Gesamtdarstellung der „Slawischen Literaturgeschichte“.82 Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten diese Intellektuellen einen lockeren kulturellen Kommunikationsraum, Wien wurde zum „Umschlagplatz der Ideen innerhalb der Slavica Austriaca“;83 sie sprachen miteinander, teilten sich gegenseitig ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mit und verkehrten im öffentlichen Raum an unterschiedlichen konkreten Orten, an der Universität, in Kaffeehäusern, Restaurants oder verschiedenen öffentlichen Etablissements. Auch Karol Kuzmány spielte, wie Karl Rajnoch ausführt, „in der Wiener Slawengemeinde eine wichtige Rolle. Er verkehrte hier mit so angesehenen Männern wie Miklosich, Palacký, Šembera, Havlíček-Borovský, Vuk Karadžić u.a.m.“84 81 Karl Rajnoch, Wien im Geistesleben der Slowaken, in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet?, S. 293–315, bes. S. 301–302. 82 Günther Wytrzens, Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung in Österreich von 1800 bis 1918, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 75–91, v.a. S. 81–83. 83 Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins, S. 36. 84 Karl Rajnoch, Wien im Geistesleben der Slowaken, S. 303.
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Schon früh versuchte man über die kulturellen Grenzen, die auf sozioökonomischen Unterschieden beruhten und denen auch unterschiedliche individuelle und kollektive Identitäten entsprachen, ein Gemeinschaftsgefühl, eine übergreifende, wenn zunächst auch nicht eine explizit „nationale“ tschechische Identität zu schaffen. Dazu dienten neben den bereits erwähnten, von böhmischen Aristokraten unterstützten Ballveranstaltungen, die von Vertretern aller Bevölkerungsschichten besucht wurden, auch der Besuch von Vergnügungen zum Beispiel im Prater, wo sich nicht nur hohes und niederes Publikum mischte, wo vielmehr auch unterschiedliche sprachliche beziehungsweise kulturelle Kommunikationsräume aufeinandertrafen, eine Tatsache, die zu einer dichten, hybriden urbanen Situation führte. Das abwechselnde Hin- und Hergleiten zwischen differenten Kommunikationsräumen gehörte in einer vielsprachigen Stadt zum Alltag, wie auch die zumindest marginale Kenntnis mehrerer Sprachen. Zu öffentlichen Unterhaltungen, die Konflikte und Gegensätze zu überwinden halfen, zählten die „Besedy“ oder die berühmten Slawen-Bälle, die auch von Anderssprachigen und von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten besucht wurden. Sie waren eine öffentlichkeitswirksame Repräsentation eines Wien, das nicht rein deutsch, sondern sprachlich und kulturell durchaus heterogen war, eines Wien also, das dem dynastischen Staatsnarrativ entsprechen sollte, die Vielfalt von Völkern und Sprachen gleichrangig nebeneinander bestehen zu lassen und zu achten. Die Slawenbälle wurden sogar von Vertretern des Hofes und Angehörigen der Dynastie besucht. Darauf hat indirekt der Wiener Slawist Günther Wytrzens aufmerksam gemacht: „Die Besedy und die Bälle hatten eine doppelte Funktion: Einerseits dienten sie zur Pflege der Kontakte der Slaven untereinander, zum anderen sollte der Öffentlichkeit auf spektakuläre Weise deutlich gemacht werden, daß gewisse, den Slaven abträgliche Stereotype unbegründet seien. Man sah in den Slaven ja vielfach Vertreter der gesellschaftlichen Unterschicht, Dienstpersonal, kleine Handwerker und Gewerbetreibende, subalterne Beamte. Wenn nun an den Besedy und Bällen sich vornehme Welt traf, konnte ein solches Stereotyp erschüttert werden.“85 Besedy und Slawenbälle vereinten also Personen unterschiedlicher slawischer Volksangehörigkeit, Tschechen, Slowaken, Polen, Slowenen oder Kroaten mit „Einheimischen“ unterschiedlicher sozialer Herkunft. 85 Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins, S. 28.
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Freilich: Wie idyllisch solche Schilderungen auch klingen mögen, konfliktfrei waren diese Zusammenkünfte keineswegs, vor allem an Orten, die mehrheitlich von deutsch sprechenden Wienern besucht wurden und an denen es zu nationalen Demonstrationen und folglich auch zu xenophoben Auseinandersetzungen kam. Der tschechische Schriftsteller Jan Neruda berichtet darüber, im selben Jahr (1861), in welchem auch die Schilderungen Karáseks entstanden waren: „Einst und jetzt, nämlich in den Kaffees und Gasthäusern. Es war eine traurige, eine sehr traurige Zeit für die Wiener Slawen. Wenn zwei oder drei Böhmen in ein Kaffee- oder Wirtshaus kamen, begab es sich angeblich, daß nach einer gewissen Zeit der Wirt oder der Kellner zu ihnen trat und ihnen auf eine grob-höfliche Art und Weise mitteilte, daß sie mit ihrem Böhmisch die übrige Gesellschaft beleidigen, daß sie also entweder aufhören sollten, böhmisch zu reden, oder sich entfernen sollten, daß er sich aber auf jeden Fall gegen einen künftigen Besuch verwehre. Schon diese unvernünftige Gehässigkeit brachte dann die in Wien lebenden, bald schon mit den übrigen hiesigen Slawen verbundenen Tschechen dazu, sich auf besondere Lokalitäten zu beschränken, selbständige private und auch öffentliche Unterhaltungen für sich zu schaffen.“86
Schnittstelle Redaktion Ein solches nicht bloß „virtuelles“ Zusammenspiel der Region, eine Kooperation von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Kommunikationsräumen an einem intellektuellen Knotenpunkt, an dem ein neuer, übergeordneter entgrenzter kommunikativer Raum entstehen konnte, bildete sich unter anderem in den Redaktionen. Ein Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert beziehungsweise auf den Schriftsteller Machar lässt eine solche Schnittstelle als „cultural encounter“ sichtbar werden: Die Redaktion der 1894 von dem Nationalökonomen Isidor Singer, dem Juristen Heinrich Kanner und Hermann Bahr gegründeten Zeitschrift „Die Zeit“, einer Revue der übernationalen „guten Europäer“, wie Bahr in der ersten Nummer der Zeitschrift programmatisch festhielt,87 in Allusion an Friedrich Nietzsche, der in „Jenseits von 86 Zit. in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre, S. 673–674. 87 ���������������������������������������������������������������������������������� Über die Querverbindungen zwischen dem Sozialpolitischen Verein, der Fabiergesellschaft und der Redaktion der „Zeit“ vgl. Helene Zand, Die Moderne, S. 13–25.
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Gut und Böse“ die „guten Europäer“ den Nationalisten gegenübergestellt hatte: „Wir ‚guten Europäer‘: auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, ein Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten – ich gab eine Probe davon –, Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher GefühlsÜberschwemmungen. […] Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum ‚guten Europäertum‘ zurückzukehren.“88 In der Tat vereinigte die Zeitschrift, die im Umkreis des Sozialpolitischen Vereins beziehungsweise der Wiener sozial-liberalen Fabiergesellschaft entstanden war, denen namhafte Intellektuelle, unter anderem Julius Ofner, Josef Redlich, Eugen von Philippovich, Michael Hainisch, Tomáš G. Masaryk, der Philosoph Friedrich Jodl, der Historiker und Journalist Heinrich Friedjung sowie Singer und Kanner angehörten, in der Folge Beiträge der bedeutendsten Vertreter der europäischen Moderne: zum Beispiel von Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Stéphane Mallarmé, Maurice Maeterlinck, Guy de Maupassant, Carl Hauptmann, Thomas und Heinrich Mann, Lou Salomé, Kazimierz Tetmajer, Ferenc (Franz) Molnár, Ferenc (Franz) Herczeg, Henrik Ibsen, August Strindberg, Gabriele D’Annunzio, Maksim Gor’kij, Lev Tolstoj und von namhaften Repräsentanten aus Österreich, wie Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Adolf Loos oder Otto Wagner, ganz abgesehen von Vertretern des politischen Lebens wie Viktor Adler, Engelbert Pernerstorfer, Michael Hainisch oder Julius Ofner. In ihrer Untersuchung konnten Lottelis Moser und Helene Zand nachweisen, dass im Rezensionsteil der „Zeit“ zwar die deutschsprachige Literatur überwog, der Anteil der slawischen jedoch mit insgesamt 8 Prozent überrepräsentiert war, davon betrafen 36 Prozent die tschechische, 30 Prozent die polnische und 28 Prozent die russische Literatur.89 In einem Feuilleton aus dem Jahre 1908 kommt Josef 88 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari Bd. 5, München: dtv 1980, S. 15–243, Zit. S. 180–181 (= Nr. 241). 89 Lottelis Moser, Helene Zand, Die Zeit, ein „Wiener Posten der guten Europäer“?, in: Gotthart Wunberg, Dieter A. Binder (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996, S. 247–257, insbesondere S. 253.
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Svatopluk Machar rückblickend kurz auf die Zusammenarbeit mit der „Zeit“ zu sprechen: „Zu dieser Zeit knüpften wir freundschaftliche Kontakte zu den deutschen Literaten in Wien. Wir trafen uns im Kaffeehaus, diskutierten über die tschechisch-deutsche Versöhnung, wie wir sie im Manifest unserer Moderne skizziert hatten, und konferierten in der Redaktion der Wochenschrift ‚Die Zeit‘. Und daß dies nicht vergeblich war, belegt der Umstand, daß unsere Kritiker begannen, für deutsche Blätter zu schreiben, und einige Deutsche wiederum für unsere Blätter Originalbeiträge verfaßten.“90 Hermann Bahr publizierte schon im Gründungsjahr der „Zeit“, durch die persönliche Vermittlung Machars, Beiträge namhafter Vertreter der tschechischen Moderne, außer von Machar selbst von František Václav Krejčí, František X. Šalda oder Julius Zeyer. Die Begegnung und das Sich-Überlappen unterschiedlicher kultureller Räume werden sowohl für Bahr als auch für die tschechischen Intellektuellen von Bedeutung. Wenn Bahr Jahre später, etwa in „Austriaca“ (1911) oder in „Schwarzgelb“ (1917), für die Lösung des „österreichischen Problems“ den Tschechen eine besondere Bedeutung beimisst, verdankt sich diese Einsicht wohl auch diesen seinen frühen Beziehungen zu tschechischen Kollegen, der Kenntnis ihrer Einsichten und inhaltlichen Diskussionen, die er mit ihnen führen konnte. Krejčí und Šalda waren Mitunterzeichner des von Machar in Wien entworfenen Manifests der tschechischen Moderne (1895); dieses war ursprünglich in der Prager Zeitschrift „Rozhledy“ (Die Rundschau) publiziert worden und erschien dann auszugsweise in einer deutschen Übersetzung von Krejčí im November 1895 in der „Zeit“, unter dem Titel: „Ein Manifest der czechischen Moderne“. Auch Vertreter der „politischen“ tschechischen Moderne waren unter anderem mit Tomáš G. Masaryk, Josef Kainzl oder Karel Kramař in der „Zeit“ vertreten. Bahr, der damals für seine tschechischen Kollegen als „absolute Autorität“ der Wiener Moderne galt – Machar und seine Kollegen übernahmen vermutlich von Bahr den Begriff „Moderne“91 –, mag wohl vermutlich indirekt an der Konzeption dieses Manifests mitbeteiligt gewesen sein, vor allem was seine explizit antinationalistische, kosmopolitische Tendenz – „Wir kennen keine Landkarte der 90 Stefan Simonek, Josef Svatopluk Machars Parallel- und Gegenwelten zur Wiener Moderne, S. 95, Anm. 6. 91 Manfred Jähnichen, Hermann Bahr und die tschechische Literatur, in: Stifter Jahrbuch 22 (2008), S. 103–104.
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Nationalitäten“ – und die sozialkritische Attitüde – „wir fordern den Schutz aller Arbeitenden und unter dem Druck der Mächtigen Leidenden“ 92 – betrifft. Das große Interesse Bahrs an tschechischer und weniger ausgeprägt an slowakischer Literatur und Kultur belegen achtundneunzig repräsentative Bände, die Bahr, der zwar unter anderem eine unaufgeschnittene tschechische Grammatik (in französischer Sprache) besaß, des Tschechischen aber unkundig blieb, in seiner Bibliothek aufbewahrte.93 Hermann Bahr hatte Machar zwar zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gebeten, auch die südslawischen Literaturen zu betreuen, doch übernahm diese Funktion bald der in Wien lehrende Slowene Matija Murko. Mit ukrainischen beziehungsweise ruthenischen und ostgalizischen Fragen beschäftigte sich vor allem der multilinguale Schriftsteller und sozialistische Politiker Ivan Franko. Franko, der 1893 an der Wiener Universität sein slawistisches Studium mit einer Dissertation abgeschlossen hatte, war in dieser kurzen Zeit seines Wienaufenthaltes mit namhaften Intellektuellen in Kontakt getreten und war in der Folge in der „Zeit“ mit zahlreichen von ihm, der sich selbst ausdrücklich als Österreicher bezeichnete, in deutscher Sprache abgefassten Beiträgen vertreten. Günther Wytrzens hat daher provokant gemeint, „die österreichische Literaturgeschichte sei um einen Namen reicher, den großen Ukrainer Ivan Franko“.94 „Mein Wiener Aufenthalt“, schreibt Franko in seiner deutschen Autobiographie, „hat mir die Bekanntschaft verschiedener Männer verschafft, deren Freundschaft mir zur Ehre gereicht. Ich nenne unter ihnen Prof. Jagić, Dr. Adler, den Herausgeber der ‚Arbeiter-Zeitung‘, Prof. Singer und Dr. Kanner, Herausgeber der ‚Zeit‘, Abg[eordneten] Pernerstorfer u. a. Seit dem Jahre 1894 wurde ich langjähriger Mitarbeiter der ‚Zeit‘, solange sie als Wochenschrift erschien, und habe darin eine lange Reihe ausführlicher [Beiträge] über verschiedenartige galizische Zustände sowie eine Reihe ‚politischer Märchen‘, ebenfalls über galizische Zustände, publiziert. Mein Artikel über ‚Adam Mickiewicz als Dichter des Verrates‘ hat mir eine beispiellose Hetze seitens der Lemberger 92 Die tschechische Moderne – ein Manifest, in: Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne, S. 25–27, Zit. S. 26. 93 Carmen Sippl, Slavica der Hermann-Bahr-Sammlung der Universitätsbibliothek Salzburg, Berlin u.a.: Peter Lang 2001, S. 115–159. 94 Günther Wytrzens, Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher Sprache, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 227–237, Zit. S. 230.
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polnischen Presse und mein Ausscheiden aus dem ‚Kurjer Lwowski‘ zugezogen.“95 Auch wenn Franko im Gegensatz zu zahlreichen seiner Landsleute, die in Wien ein reges kulturelles Leben entfalteten und wo „hunderte ukrainische Drucke und ein gutes dutzend ukrainischer Zeitschriften“ erschienen,96 nur eine relativ kurze Zeit persönlich in Wien verbrachte, wurde er zu einem wichtigen Exponenten des intellektuellen Lebens dieser Stadt. Die Wiener Ukrainer, zum Beispiel Roman Sembratovyč, „einer der wenigen einflußreichen Ukrainer in Wien, die in der Reichshauptstadt den Polen in der Presse und vor allem im Parlament entgegentraten“,97 befassten sich in Wiener ukrainischen Zeitschriften eingehend mit der Persönlichkeit und mit dem Werk Ivan Frankos. Bemühungen um direkte Beiträge über die polnische Literatur waren zwar vergeblich – der von Stanisław Przybyszewski empfohlene Schriftsteller und Publizist Zenon Przesmycki, der 1893 in Wien seinen Gedichtband „Z czary młodości“ (Aus dem Kelch der Jugend) publiziert hatte, lehnte eine Mitarbeit aus persönlicher Aversion dem Schriftsteller Bahr gegenüber ab –, doch scheint der Einfluss der übernationalen und europäischen Zielrichtung der „Zeit“ auf die Gründung der Krakauer „Żyviec“ (Das Leben) im Jahre 1897 durch Ludwik Szczepański von Einfluss gewesen zu sein, der aufgrund seines langjährigen Wien-Aufenthaltes auch Autoren des „Jung Wien“ gut kannte. Ähnlich wie Henrik Blumenstock, Redaktionsmitglied des Krakauer „Czas“, oder Gotthilf Kohn, Sohn des berühmten Lemberger Rabbiners Abraham Kohn, bemühte sich vor allem der 1856 in Jaroław geborene Siegfried Salomo Lipiner um die Verbreitung der polnischen Literatur. Lipiner übersiedelte mit seinen Eltern 1871 nach Wien und wurde nach dem Philosophiestudium an den Universitäten Wien und Leipzig – bei Gustav Fechner – auf Empfehlung des Führers des Polenklubs im Österreichischen Abgeordnetenhaus, Franciszek Smolka, 1881 zum Direktor der Reichsratsbibliothek ernannt; unter ihm arbeitete auch Karl Renner als Bibliotheksbeamter. Auf Anregung des in Wien lebenden, mit Hofmannsthal befreundeten Kunstmäzens Graf Karl 95 Ivan Franko, Ivan Franko 1856–1916 (Selbstbiographie), in: Eduard Winter, Günther Jarosch (Hg.), Wegbereiter der deutsch-slawischen Beziehungen, Berlin: Akademie Verlag 1983, S. 321–330, Zit. S. 325. 96 Günther Wytrzens, Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher Sprache, S. 237. 97 Günther Wytrzens, Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher Sprache, S. 230.
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Lanckoroński begann sich Lipiner, der selbst zahlreiche, zu seiner Zeit Aufsehen erregende Werke verfasste, wie zum Beispiel das Textbuch zu Carl Goldmarks Oper „Merlin“ (1886) oder das Epos „Der Entfesselte Prometheus“ (1876), das selbst bei Friedrich Nietzsche großen Eindruck hinterließ, mit der Übersetzung polnischer Dichtungen ins Deutsche zu befassen. Seine Übersetzungen der poetischen Werke Adam Mickiewiczs, zum Beispiel des berühmten polnischen Nationalepos „Pan Tadeusz“, gelten bis heute „als meisterhaft“. Sie haben „vor allen anderen, allerdings wenig zahlreichen, deutschen Übertragungen den Werken Mickiewiczs erst wirklich Eingang in den deutschen Kulturbereich verschafft“.98 Lipiners Einfluss auf das Wiener intellektuelle Leben war auch insofern von nachhaltiger Bedeutung, als er Mittelpunkt eines Freundeskreises wurde, dem unter anderem Gustav Mahler, der junge Dirigent Bruno Walter, Engelbert Pernerstorfer, Viktor Adler oder dessen Schwager Heinrich Braun angehörten. Auch der Publizist und Historiker Heinrich Friedjung, Hermann Bahr oder der spätere österreichische Bundespräsident Michael Hainisch und der tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš G. Masaryk gehörten „zu seinem täglichen Umgang“.99 Die meisten Eigenschöpfungen Lipiners blieben freilich unvollendet und wurden daher auch nicht publiziert. „So kam es“, meint Eduard Castle, „daß die Welt den am 30. Dezember 1911 gestorbenen Regierungsrat und Bibliotheksdirektor Lipiner nicht mehr mit jenem Siegfried Lipiner identifizierte, der vor einigen dreißig Jahren plötzlich aufgetaucht war und leuchtend seine Bahn zog.“100 „Die Zeit“, ein „Knotenpunkt“ unterschiedlicher kultureller Kommunikationsräume, trug nicht nur zur Kenntnis der nichtdeutschsprachigen Literaturen bei, sie war auch ein wichtiges Organ für die „Konstruktion“ einer übergreifenden zentraleuropäischen Moderne und beeinflusste ihrerseits die Literaturen in den jeweiligen Ursprungsländern, wie etwa in Böhmen. Zu98 Robert A. Kann, Siegfried Lipiner (1856–1911) als Vertreter einer polnisch-deutschösterreichischen kulturellen Synthese, in: Studia Austro-Polonica 2, Kraków 1980, S. 99–107, Zit. S. 107. Hier auch neuere Literaturangaben zu Lipiner. 99 Friedrich Eckstein, „Alte unnennbare Tage!“. Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren, Wien: Edition Atelier 1988 (1936), S. 108. 100 Johann Wilibald Nagl, Jakob Zeidler, Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in ÖsterreichUngarn Bd. IV, Wien: Carl Fromme 1937, S. 1570. Zu Lipiner im Allgemeinen ebd. S. 1560–1570. Zu Lipiner als Übersetzer auch ebd. S. 1394–1395.
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gleich ist dieses Netzwerk um die „Zeit“ ein Beleg dafür, dass die Präsenz der Vielfalt sprachlich-literarischer Traditionen, unterschiedlicher sprachlichkultureller Kommunikationsräume, von der sogenannten „Wiener Moderne“ nicht zu trennen ist. Es ist dies eine Erkenntnis, die vornehmlich zahlreichen Untersuchungen von Stefan Simonek geschuldet ist.101 Um auf Machar zurückzukommen: Kurt Ifkovits ist auf die wichtigen Wechselwirkungen zwischen Hermann Bahr, zunächst im Umkreis des redaktionellen Kommunikationsraums der „Zeit“, und den Vertretern der tschechischen Moderne eingegangen und zu dem Schluss gekommen: „Damit wirkte Bahr entscheidend an der Konstituierung der tschechischen Moderne der Neunziger Jahre mit. Auch J. S. Machar galt Hermann Bahr zu dieser Zeit als Inbegriff des modernen Autors. Dies sollte sich mit Bahrs weiterer Entwicklung ändern.“102 Diese weitere Entwicklung bezieht sich wohl weniger auf das Abrücken Bahrs von den ursprünglichen Inhalten der Moderne als vielmehr auf seine reduktionistische Projektion der „guten Europäer“ auf Österreich und Wien, was sich, in einer Zeit der zunehmenden Nationalisierung des politischen Bewusstseins, mit dem vorwiegend kosmopolitischen tschechischen Programm der Moderne, das von der nationalpolitischen Realität jedoch bald marginalisiert werden sollte, nicht gut vereinbaren ließ. So jedenfalls beschreibt Machar rückblickend den Bruch mit Bahr in seinem Buch über Wien im Jahre 1903, ironisch-parodistisch, wirklichkeitsgetreu und doch aus einer vielleicht etwas zu einseitigen subjektiven Wahrnehmung: „Aus dem Giganten, der anfangs in der Kunst nur ‚gute Europäer‘ kannte, wurde ein bescheidener Herr, der einen Typ der ‚Wiener Kunst‘, ‚Wienerthum‘ nannte er das, hervorbringen, ja nicht einmal hervorbringen, sondern nur die Grundlage dazu legen wollte […]. Heute schwenkt er das Weihrauchfaß vor jeder ephemeren Wiener Größe in Literatur, Malerei, Bildhauerei und auch in der Schauspielkunst, schreibt Kassenstücke, von denen kaum eines gelingt, ist zufrieden mit sich selbst, Wien, Österreich und will von nichts anderem mehr
101 Vgl. dazu v.a. Stefan Simonek, Josef Svatopluk Machar, Zenon Przesmycki und die Wiener Wochenschrift „Die Zeit“. Weitere Materialien aus den Nachlässen Hermann Bahrs und Josef Svatopluk Machars, in: Studia Slavica 53/1 (2008) S. 67–93. 102 Kurt Ifkovits, Einleitung, in: ders., Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil. Briefe, Texte, Dokumente. Unter Mitarbeit von Hana Blahová, Bern u.a.: Peter Lang 2007, S. 20– 24, Zit. S. 23.
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etwas hören. Und Wien ist versöhnt mit ihm.“103 Dennoch blieb Machar auch in der Folge Bahr in Freundschaft verbunden, wie eine Widmung in Machars Werk „Rom. Geschrieben 1906–1907“, das sich in Bahrs Bibliothek befindet, belegt: „Herrn Hermann Bahr in alter Freundschaft.“104 Tatsächlich unterschied sich Bahrs Österreichkonzeption, in der zwar den Slawen der Monarchie, vor allem den Tschechen, eine dominante Position eingeräumt wurde, diese aber in den Dienst einer supranationalen österreichischen Staatsbeziehungsweise Kulturnation gestellt wurden, ganz wesentlich von den politischen Absichten der optimistischen, zukunftsorientierten, demokratischen tschechischen Nationsvorstellung, die ihr Ziel im Kontext der Monarchie immer weniger verwirklichen zu können glaubte. Ähnlich bedeutsam wie für Machar war ein übergeordneter, gemeinsamer Wiener kultureller Kommunikationsraum auch für Jiři Karásek ze Lvovic, der 1894 zusammen mit Arnošt Procházka die „Moderní revue“ (1894–1925), das Organ einer radikalen modernen Kunst, gegründet hatte. Seine Bekanntschaft mit einem böhmischen Aristokraten, bei dem auch Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian verkehrt haben sollen und der ihn in Wien, das Karásek immer wieder besuchte, in die Literatur der französischen Décadence eingeführt und mit dem Dandytum bekannt gemacht hatte, war, wie sich Karásek rückblickend erinnerte, von großem Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der „Moderní revue“ (Moderne Revue), die neben „Rozhledy“ (Die Rundschau) und „Naše doba“ (Unsere Zeit) die wesentlichste tschechischsprachige Zeitschrift der Moderne war.105 „Das Schicksal wartete dort auf mich“, bekannte Karásek später. „Die Entscheidung über meine künftigen literarischen Arbeiten wartete dort auf mich, und wäre ich nicht nach Wien gekommen, würde es in meinem literarischen Œuvre die ‚Trilogie der drei Magier‘ sicher nicht geben.“106 Angesichts der politischen Alltagsrealität, die seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts von zunehmend extremen nationalistischen politischen Diskursen, von Misstrauen und Hass dominiert waren, ob deutschnational 103 Josef Svatopluk Machar, Wien, S. 296. 104 Carmen Sippl, Slavica der Hermann-Bahr-Sammlung, S. 131. 105 Jiři Karásek ze Lvovic, Die Anfänge der „Moderní revue“, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien, S. 449–453. 106 Jiři Karásek ze Lvovic, Die Anfänge der „Moderní revue“, S. 449.
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oder tschechischnational, wurde die Differenz zwischen den zwei Kommunikationsräumen, einem deutschsprachigen und einem tschechischsprachigen, immer deutlicher. Dabei wurde auch hier auf das am deutlichsten wahrnehmbare differenzierende Merkmal gesetzt: Auf die konkrete verbale Sprache. Während im Nonverbalen – zum Beispiel in der Küche, in der popularen Musik, in der Regulierung des alltäglichen Lebens, im beruflichen Leben, dem man angehörte – der performative Austausch von Elementen stattfand und zu jener hybriden Gemengelage beitrug, von der vor allem die urbanen Milieus gekennzeichnet waren, konnte die von der nationalen Ideologie postulierte Trennung am deutlichsten nur auf der sprachlichen Ebene stattfinden. Die konkrete Sprache wurde zu einem Synonym für nationale Differenz. Dies beeinflusste zunehmend sowohl den Bereich der repräsentativen Kultur als auch, rückwirkend, die Alltagskultur.
Stereotypisierungen des „Fremden“ im Alltag Die Spannungen, die sich im Alltag zwischen den „Einheimischen“ und den „Zugewanderten“ verfestigten, haben unter anderem auch in das Wienerlied Eingang gefunden. Gertraud Pressler ist diesem Phänomen in einer Studie nachgegangen, in der sie den „Topos des Tschechischen“, das heißt die zum Teil abwertenden Klischees untersucht, die sich auf die tschechische Sprache beziehungsweise auf das gebrochene Deutsch bezogen, das vor allem viele Vertreter der zugewanderten Unterschichten gebrauchten und das von den Deutschsprachigen despektierlich als „böhmakeln“ abgetan wurde.107 Doch auch die tschechische Alltagssprache in Wien wurde mit der Zeit mit zahlreichen deutschen Lehnwörtern durchsetzt, wie zum Beispiel šmakovat für schmecken, flaška für Flasche, pešuňk für Böschung oder fóršrift für Vorschrift. Der Schriftsteller Pavel Kohout forderte daher noch in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, analog zu dem Prager Deutsch, die offizielle Anerkennung dieses originalen „Wiener Tschechisch“.108 107 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“. Zum Topos des Tschechischen im Wienerlied des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Vlasta Valeš (ed.), Doma v cizeně. Češi ve Vídni ve 20. století. Zu Hause in der Fremde. Tschechen in Wien im 20. Jahrhundert, Praha 2002, S. 125–134. 108 Monika Glettler, Böhmisches Wien, Wien/München: Herold 1985, S. 100. Vgl. auch S. 101–104.
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Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die zwei spaßigen Figuren Marianka und Wenzel beliebte Synonyme für die Tschechin und den Tschechen in Wien. Die Figur des Wenzel wurde zu einem geläufigen Motiv in zahlreichen zunächst harmlosen, mit der Zeit jedoch immer gehässigeren Karikaturen, während die Marianka zu einem Stereotyp für alles Tschechische vor allem ins Wienerlied oder in die Operette Eingang fand, als Karikatur jedoch nur ausnahmsweise auftritt. Eine solche Ausnahme bildet eine Karikatur, in der sich eine beleibte Marianka bloßfüßig im Tanze dreht, der Wirt sie deshalb des Saales verweisen möchte, worauf sie ihm erklärt: „Sie ungebildete Kedl, sehen S’ nicht, daß will ich machen ordinäres Fünf-Kreuzertanz zu Kunst.“ Rudolf Jaworski hat in der Untersuchung zu dem Bild von Tschechen und Deutschen in der Karikatur deutlich gemacht, dass die „Haltbarkeit dieser Bilder“ sich daraus herleitet, „daß sie eher auf emotionaler Empfindung als auf rationalem Begreifen beruhen, somit vernunftmäßiger Korrektur schwer zugänglich sind“.109 Dennoch kann angenommen werden, dass das im Verlaufe der Radikalisierung der Nationalitätenauseinandersetzungen immer despektierlichere und bösartigere Bild des zuweilen tölpelhaften Wenzel – wie des „Böhm“ oder des „Powidl“ –, der „als eine einheitliche gebündelte Symbolfigur des ganzen tschechischen Volkes vorgestellt“ wurde,110 die negative Einschätzung alles Tschechischen nicht nur stärkte, sondern dass durch seine mediale Vermittlung in manchen Bevölkerungsteilen dieses Negativbild erst konstruiert oder zumindest mitkonstruiert wurde. „Es ging also im Kern“, wie Rudolf Jaworski meint, „um eine Kostümierung aktueller nationalpolitischer Positionen.“111 Nichts wäre daher leichter, meinte schon 1903 der Karikaturenexperte Eduard Fuchs, „als eine Geschichte des ös109 Rudolf Jaworski, Tschechen und Deutsche in der Karikatur (1891–1907), in: Hans Lemberg, Ferdinand Seibt (Hg.), Deutsch-tschechische Beziehungen in der Schulliteratur und im populären Geschichtsbild, Braunschweig: Eckert 1980, S. 58–68, Zit. S. 58. 110 Rudolf Jaworski, Tschechen und Deutsche in der Karikatur, S. 60. – Vgl. auch Arnold Suppan, Nationale Stereotypen in der Karikatur. Österreich und seine Nachbarn in Ostmitteleuropa, in: Herwig Wolfram, Walter Pohl (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien: ÖAW 1991, S. 259–283. Über Tschechen S. 262–267. 111 Rudolf Jaworski, Deutsche und tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späten Habsburgermonarchie, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 21.
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terreichischen Nationalitätenstreites im Bilde der Karikatur vorzuführen.“112 Grundsätzlich vermittelte die Karikatur noch eine hintergründigere Botschaft, nämlich jene der Unterlegenheit des Karikierten und der Überlegenheit des Karikierenden beziehungsweise des über die Karikatur Lachenden. Oder wie es Charles Baudelaire formuliert hat: „Das Lachen kommt von dem Bewußtsein eigener Überlegenheit.“ Und: „Das Lachen ist satanisch und demnach tief menschlich. Es ist im Menschen eine Konsequenz des eigenen Überlegenheitsbewußtseins.“113 Im Konkreten bedeutet das, dass die karikatureske Verzerrung des Böhmen eine hegemoniale Position des deutschnationalen Zeichners und des deutschnationalen Lachers über den Tschechen demonstriert. Diese kulturelle und politische Asymmetrie kommt im Bild zum Ausdruck. Das heißt, die deutschnationale Positionierung in der Politik wird hier auf einer visualisierten, bilddiskursiven Ebene fortgeführt und einer breiteren Öffentlichkeit, die weder die Muße noch ein Verständnis für das Lesen langer Texte aufbrachte, verständlich und schmackhaft gemacht. In oder unter den Karikaturen sind kurze, schriftliche Erklärungen angebracht, um jede Zweideutigkeit und Fehlinterpretation der Darstellung zu vermeiden, denn das Lachen kann auch „Ausdruck einer zwiespältigen und widersprüchlichen Empfindung“ sein.114 Es sind zumeist despektierliche Erläuterungen, wie sie auch in ähnlicher Weise in der Tagespresse, in Couplets oder Liedern kursierten. Freilich bediente sich der tschechische Nationalismus des gleichen karikaturesken Instrumentariums, nur mit einer umgekehrten Zielrichtung, die der Verunglimpfung der Deutschen beziehungsweise der Österreicher galt. Auch das Wienerlied bediente sich ähnlicher Topoi, hier ist es vor allem die „Marianka“, die zu einem Synonym, und in der Folge zu Verspottung alles Tschechischen avancierte. Dies ist wiederum ein Beleg dafür, dass die zugewanderten Tschechen nicht bloß in separierten Randzonen lebten, sondern die kontinuierliche Kommunikation mit ihnen im Alltag eine Realität darstellte. Anders ausgedrückt: Tschechische kulturelle Elemente wurden in 112 Zit. nach Rudolf Jaworski, Jungtschechische Karikaturen zum Nationalitätenstreit in Österreich-Ungarn. Die Prager „Šípy“ (1887–1907), in: Bohemia 22 (1981) S. 300–341, Zit. S. 300. 113 Charles Baudelaire, Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der bildenden Kunst, in: ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, intime Tagebücher, Leipzig: Reclam 1990, S. 117–137, Zit. S. 122, 124–125. 114 Charles Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, S. 127.
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den Wiener kulturellen Kommunikationsraum integriert, ohne freilich ihren „Fremdcharakter“ gänzlich zu verlieren, was ja insgesamt für hybride kulturelle Formationen charakteristisch ist. Die Figur der Marianka fand auch Eingang in die zwar selten gespielte Polka einer Tanzabfolge im Finale des zweiten Aktes der Strauß’schen „Fledermaus“ (1874), mit einer Gesangseinlage, die als Duett beziehungsweise im Chor „böhmakelnd“ vorgetragen wird: „Marianka, komm und tanz me’ hier! Heut is schon schetzko jedno mir. Me tanzens Polka alle zwei, so is-se Hetz, is Böhm dabei! […] To je hesky musitschku, auf Trumpettel, Clarinettel, so wie česky Musikant, blast me in kein andre Land […].“115 Es sei hier daran erinnert, dass bereits 1845 Johann Strauß Vater eine „Marianka-Polka“ (op. 173) komponiert hatte, was, ebenso wie diese Fledermaus-Polka, als ein Zeichen für die Integration des tschechischen Tanzes in die „vielsprachige“ Wiener Musik angesehen werden kann. Auch das „Böhmakeln“ könnte als eine lustige, neutrale Liebeserklärung an alles Tschechische, dem man tagtäglich begegnete, verstanden werden – wie auch die Verunglimpfung fast aller Stände und Berufsgruppen durch das Wienerlied mehr ein Ausdruck der liebevollen Vereinnahmung als der Ausgrenzung angesehen werden muss –, zumal die applaudierenden Zuhörer manchmal in Überzahl Tschechen waren. So meinte 1897 der Schriftsteller Julius Löwy: „Man ist in Wien gewohnt, als komische Figuren einen Juden oder einen Böhmen zu sehen. Man denkt dabei weder an Antislavismus noch an Antisemitismus […]. Der Böhm und der Jud sind ja Wiener Volksfiguren und sie gehören zum Wiener Volksleben.“116 Später hat in seinen Rückerinnerungen auch Otto Friedländer diese Sicht eingenommen, die natürlich nicht bar von Stereotypisierungen war und Witze über die Tschechen als „zärtlichen Spott“ bezeichnet: Die Wiener würden sich „alleweil über sie lustig machen, und das kommt, wie gesagt, vor allem von ihrer unsagbar komischen Sprache. Das böhmische Deutsch hat nämlich die eigentümliche Eigenschaft, auch die erhabensten Worte und Gedanken rettungslos zu ernüchtern und zu entzaubern. Es genügt, irgendeine hochtrabende Kundgebung zu böhmakeln, um sie zu parodieren. Diesem sonderbaren Tonfall hält keine Phrase stand. So wie 115 Hans Swarowsky (Hg.), Johann Strauß: Die Fledermaus. Komische Operette in drei Akten. Text von Carl Haffner und Richard Genée. Originalfassung, Leipzig: Edition Peters o.J. (1968), S. 473–482. 116 Zit. in Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 126–127.
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das Jüdeln zum Witzeerzählen, so gehört das Böhmakeln zum Parodieren. Es ist ein unentbehrlicher Bestandteil im Arsenal der schauspielerischen Mittel des Wieners.“117 Monika Glettler stimmt diesem Urteil in differenzierterer Weise zu: „Die zahlreichen Couplets und Heurigenlieder, die sich mit den Wiener Tschechen befassen, waren von Anfang an auf Komik, allerdings zunächst auf zärtliche Spötteleien, ausgerichtet. Erst um die Jahrhundertwende verschärfte sich der Ton.“118 Trotzdem wurde jedoch die böhmische Witzfigur von Beginn an auch zu einem Instrument der Stereotypisierung, durch die man sich den „Böhm“ vom Leibe halten wollte, ihn ironisch persiflierte und eindeutig als ein Fremdelement charakterisierte. Zudem wurde auch deutlich, dass „die Wiener ihren Unmut über die im Zuge der Stadterweiterung notwendige Zerstörung von Bausubstanz auf die Tschechen, die für diese schwere körperliche Arbeit geholt und eingesetzt wurden, projizierten und sie für die Demolierung ihres vertrauten, geliebten ‚Alt-Wien‘ verantwortlich machten“.119 Im Kontext der überbordenden deutschnationalen Attitüde, die die politische Sprache in Wien zu beherrschen begann, wurde die derart durchsetzte Alltagssprache allerdings zunehmend und eindeutig polemisch und politisch instrumentalisiert. Vielleicht ist das Bewusstsein von dieser politischen Instrumentalisierung auch ein Grund dafür, dass man das erwähnte Marianka-Duett der Fledermaus bald einfach wegließ, denn die Rezipienten konnten es leicht mit der politischen Sprache und ihren Inhalten konnotieren. Freilich: „Auch der erstarkende tschechische Nationalismus“, meint Gertraud Pressler, „wurde als zunehmende Gefährdung der eigenen, deutschen Identität empfunden. Man befürchtete u.a., dass aus dem ‚Stefansdom‘ bald ein ‚Wenzelsdom‘ werden könnte und meinte, sich zur Wehr setzen zu müssen.“120 Bei all diesen Auseinandersetzungen blieb, wie bereits angedeutet, das eindeutig differenzierende Merkmal im urbanen Alltag, mit seinen sich überlappenden Kommunikationsräumen, die konkrete, gesprochene Sprache. Eine mit Fremdelementen verballhornte Alltagssprache konnte amüsant sein, sie konnte aber auch beunruhigen, als bedrohlich empfunden werden und für 117 Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 121, 122. 118 Monika Glettler, Böhmisches Wien, S. 108. 119 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 127. 120 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 128.
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die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe, die ja davon betroffen war, als Sprachverlust empfunden werden und eine abschreckende Wirkung haben. Sprachenkämpfe fanden also nicht nur in der Politik, konkret im Abgeordnetenhaus, sondern hier bis in den Alltag, zuweilen freilich auf einer parodistischen Ebene statt, jedoch nicht ohne bisweilen, wie auch im Wienerlied, deutlich zu machen, um was es sich in der Realität handelte: „Wann sich die Bzestaks und die Schestaks – So vermehren im Verlauf – Da brauch man’s Deutsche nit verbieten – Da hört sich’s ja von selber auf.“121 Die Tschechen wurden, ähnlich wie die Juden, zum Surrogat für alles Fremde und die spöttischen, xenophoben Attitüden, mit denen das Tschechische im Alltag bedacht wurde, unterstützten jene offizielle antitschechische deutschnationale Einstellung, die die Tschechen Wiens politisch zu marginalisieren, zu verdrängen versuchte, indem man sie zum Beispiel durch den Bürgereid ins Deutschtum zu integrieren versuchte oder ihnen eine staatlich anerkannte eigene, tschechischsprachige schulische Ausbildung verweigerte.122 „Wien, paß auf!“, heißt es in einem weiteren Wienerlied, „Viel Fremde zum Vergnügen, – Wien, paß auf! In d’ Weanerstadt wir kriegen, – Wien, paß auf! Von Česlau stolz und keck, – Wien, paß auf! Die bringst dr [sic] nimmer weg.“123 Durch die vielen zugewanderten „Fremden“ fühlten sich die „Einheimischen“ verunsichert, was sich bis in die Alltagsunterhaltung in einem subversiven Fremdenhass äußerte. So heißt es in einem fremdenfeindlichen Spottlied aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, vorgetragen im bekannten, von Vertretern unterschiedlichster sozialer Schichten besuchten Unterhaltungsetablissement „Danzer’s Orpheum“: „In mein Haus da hats mi wirklich mit die Nachbarsleut beim Frack – links neb’n mir logirn zwa Stockböhm rechts neb’n meiner ein Slovak. – Oben wohnt a Italiener z’ ebner Erd’ zwa Magyarn – unt’ im Keller a Kroatin denkens da mein Stand, mein schwar’n. – Einzig nur wenn ich in Hof schau ruf ich öfters ganz erfreut: – Deutsche Worte hör’ ich wieder weil a Jud grad’ ‚handeln‘ schreit.“124
121 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 127. 122 Vgl. Monika Glettler, Böhmisches Wien, S. 22–26. 123 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 128. 124 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, in: Musicologica Austriaca 17 (1998) S. 63–82, Zit. S. 71 (Hervorhebung in Kursiv durch mich).
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Konstruktionen von „fremdheiten“
Konstruktionen von „Fremdheiten“ Durch das Wienerlied vermittelte Vorstellungen, alltagssprachliche Benennungen, die Repräsentation von Inhalten durch bildliche Darstellungen, zum Beispiel durch Karikaturen, oder explizite politische Aussagen und Zuschreibungen bilden unterschiedliche diskursive Ebenen, auf denen ein vom Eigenen „Anderes“, „Fremdes“ und damit zugleich eigene Identität konstituiert wird.125 Diskurse sind eine bestimmte Art, über etwas zu sprechen oder etwas zu repräsentieren. Sie produzieren ein Wissen durch Sprache im wörtlichen und übertragenen Sinne, unabhängig davon, ob dieses Wissen wahr oder falsch ist. Auf jeden Fall beeinflussen und bestimmen Diskurse Wahrnehmungsweisen und soziale Praktiken. Wissensdiskurse beziehen sich auf ein Objekt oder konstruieren ihren Gegenstand erst, sie festigen ein Bild von ihrem Gegenstand in der Öffentlichkeit oder besser gesagt in den Öffentlichkeiten, da Diskurse von unterschiedlichen sozialen Schichten zeitgleich oder in zeitlicher Abfolge in ihren jeweils unterschiedlichen Sprechweisen produziert werden können. Diskurse implizieren daher mehrere Aussagen, Aussagen unterschiedlichen sozialen oder politischen Inhalts, die auf ein und dasselbe Objekt zielen. Die diskursiven Aussagen sind daher miteinander vernetzt, wirken zusammen – Michel Foucault nennt dieses Zusammenwirken „diskursive Formationen“126 – und produzieren, vermitteln und rückvermitteln zugleich so ganz bestimmte Inhalte. Diskurse greifen zuweilen auf alte Muster, Vorbilder beziehungsweise Sprechweisen oder Inhaltsaussagen zurück. Im Falle von Diskursen über die Tschechen werden allgemeine fremdenfeindliche Vorstellungen und Voreingenommenheiten sichtbar, die schon im 18. Jahrhundert in Wien hervorgetreten waren. Johann Pezzl hat in seiner josephinischen Stadtbeschreibung „Skizze von Wien“ (1786–1790) solche fremdenfeindlichen Voreingenommenheiten beschrieben, verbreitet und dadurch an der diskursiven Konstruktion von Stereotypen mitgewirkt. Er geht zunächst von einer positiven Kennzeichnung der vielfältigen, fremd 125 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1981, S. 48–61. – Ders., Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt a. Main: Fischer 1991. – Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument ²2000, S. 137–179, v.a. S. 149–155. 126 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 58 ff.
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anmutenden Kleiderpracht aus, die in der Stadt sichtbar würde, um damit unvermittelt auch auf die visuell, äußerlich sichtbaren Unterschiede und negativen Merkmale der Fremden hinzuweisen, die zugleich zu Zeichen ihrer kulturellen Minderwertigkeit stilisiert werden. Vor allem was seine offenkundigen, grotesken judenfeindlichen Untergriffe betrifft,127 untermauerte Pezzl diese auch durch die Benennung von „rassischen“ Merkmalen, durch die die Juden sich auch rein körperlich von Einheimischen unterscheiden würden. Ich lasse hier Pezzl mit seiner Beschreibung der „fremden“ Bevölkerung Wiens ausführlich zu Wort kommen, um zu zeigen, dass die gleichen Voreingenommenheiten, die sich der diskursiven Wissensproduktion des späten 18. Jahrhunderts verdankten, auch noch über hundert Jahre später von öffentlicher Wirkungsmächtigkeit waren und in den Jahrzehnten um 1900 in die diskursive Konstruktion von Fremdbildern Eingang gefunden haben. Die Diskurse des 18. Jahrhunderts ebenso wie jene der Zeit um 1900 ordneten den „Fremden“ Wiens eine eigene Mentalität zu, eine von den Einheimischen differente Genealogie und imprägnierten sie mit einer eigenartigen „orientalischen“ Atmosphäre: „Ein schönes Schauspiel für die Augen“, führt Pezzl aus, „gewährt hier die Mannigfaltigkeit der Nationalkleidungen aus verschiedenen Ländern. Die Stadt ist nicht in der einförmigen gewöhnlichen deutschen Tracht wie die meisten übrigen europäischen Städte. Ihr begegnet da häufig dem steif gerade einherschreitenden Ungarn mit dem pelzausgeschlagenen Dolman, den knapp anliegenden bis an die Knöchel reichenden Hosen und mächtig langem Zopf; dem rundköpfigen Polen mit seinem mönchischen Haarschnitt und fliegenden Ärmeln: beide Nationen sind von ihren Stiefeln unzertrennlich. Die Armenier, Walachen und Moldauer, mit halb orientalischer Garderobe, sind nicht selten, die knebelbärtigen Raizen bewohnen eine Straße. Die Griechen in ihrer plumpen weiten Kleidung schmauchen truppenweise in den Kaffeehäusern an der Leopoldsbrücke ihre langröhrigen Pfeifen. Und die bärtigen Muselmänner mit dem breiten Mordmesser im Gürtel traben schwerfällig in gelben Pantoffeln durch die kotige Straße. Zum Vogelverscheuchen repräsentieren sich die ganz schwarz eingehüllten polnischen Juden mit verwachsenem Gesicht und klumpenweise zusammenge127 Vgl. Kapitel 50 in: Johann Pezzl, Skizze von Wien. Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit, hg. von Gustav Gugitz und Anton Schlossar, Graz: Leykam 1923, S. 169–176.
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knüpften Haaren: eine lebendige Satire auf ihre eingebildete Auserwähltheit. Böhmische Bauern endlich mit Kopernizen, ungarische und siebenbürgische Fuhrleute mit mantelförmigen Schafspelzen und Kroaten mit schwarzen Kübeln auf den Köpfen machen den Beschluß und verursachen im allgemeinen Gewimmel den unterhaltenden Abstrich.“128 Die diskursive Vermittlung von Wissen setzt nicht so sehr ein Wissen über den Anderen, eine „Repräsentation“ des Anderen voraus, die diskursive Vermittlung von Wissen konstruiert also erst ein Wissen über den Anderen und trägt dadurch zur distanzierten Festigung der „eigenen“ Identität bei. Verschiedene sprachliche oder bildliche Redensarten über den Anderen, verschiedene Repräsentationsstrategien können freilich auch auf eigene individuelle oder kollektive Verunsicherungen zurückgeführt werden. Man beginnt erst dann, sich der eigenen Identität zu versichern, wenn sie in Frage gestellt wird, das heißt, wenn man sich der eigenen Positionierung in einem zunehmend als fremd empfundenen sozial-kulturellen Umfeld nicht mehr sicher ist. Solche Verunsicherungen treten in der Stadt der Moderne unter anderem durch die vielen Zuwanderer auf, die sich von den Alteingesessenen nicht nur sprachlich unterscheiden, sondern zunehmend auch Positionen einzunehmen beginnen, die früher den Einheimischen vorbehalten waren: Während vorher die Gesellschaft anscheinend überschaubar und in ihren unterschiedlichen Segmenten klar definierbar erschien (bei Pezzl leben diese Fremden noch in ihren abgezirkelten Bereichen), begann nun diese gesellschaftliche Einteilung ins Wanken zu geraten, einerseits durch die beschleunigten sozialen und städtebaulichen Veränderungen, die eine Folge der Modernisierung, der Industrialisierung und der notwendigen räumlichen Erweiterung des städtischen Raumes waren, und andererseits durch die massenhafte Zuwanderung von „Fremden“ in die Stadt, die das alte kulturelle und Gesellschaftsgefüge erschütterten. Durch „Erzählungen“ beziehungsweise durch die Produktion von Wissen, zum Beispiel des bereits im 18. Jahrhundert präsenten Mythos von „Alt-Wien“, in dem noch Ordnung und kulturelle Werte vorherrschten,129 versucht man diesen Entwicklungen gegenzusteuern. Ebenso werden mit dem Blick auf den Anderen auf verschiedenen diskursiven Ebenen, durch den politischen oder 128 Johann Pezzl, Skizze von Wien, S. 21–22. 129 Vgl. Kapitel 168: Das alte und das neue Wien, in: Johann Pezzl, Skizze von Wien, S. 510–520.
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Alltagsdiskurs, Ängste produziert, verbreitet, reproduziert und gesteuert. Ein gutes Beispiel dafür liefert der Refrain eines bereits erwähnten Wienerliedes, mit dem die Unterdrückung oder der Verlust der eigenen deutschen Sprache vermittelt wird: „Wann sich die Bzestaks und die Schestaks – So vermehren im Verlauf – Da braucht man’s Deutsche nit verbieten – Da hört sich’s ja von selber auf.“130 Durch eine solche diskursive Wissensproduktion, egal ob wahr oder falsch, wird immer auch Macht demonstriert und konstituiert. Das zuweilen lächerliche Bild, das in der Öffentlichkeit über die Anderen gezeichnet wird, produziert nicht nur ein Bild von kultureller Asymmetrie, sondern weist auf die Autorität, auf die Überlegenheit gegenüber diesen Anderen, zum Beispiel gegenüber den Tschechen (oder bei den despektierlichen antisemitischen Redensarten gegenüber den Juden), es konstituiert und schreibt ein ganz bestimmtes Herrschaftsverhältnis fest. Man kann folglich auch sagen, dass Diskurse Macht erzeugen, Macht beinhalten oder dass in diskursiven Formationen, in sprachlichen Äußerungen, kontinuierlich Macht sichtbar wird, Macht zirkuliert und sich verfestigt. Die zuweilen liebenswürdige Verunglimpfung der Tschechen im Wienerlied macht diese Machtdemonstration besonders offenkundig: Die Tschechen sind zwar ein Teil Wiens, die böhmische Küche wurde zwar in den Wiener Alltag integriert, dennoch sind die Tschechen anders als die sogenannten Einheimischen, sie sind diesen nicht gleichwertig, sondern unterlegen, oder: die Einheimischen sind den „Fremden“ überlegen, sie haben Macht über die Zugewanderten, die in Sprache, Sitte oder sozialem Status anders sind, sich von den eigentlichen Wienern unterscheiden, das heißt nicht über jene kulturellen Werte, jenes symbolische Kapital verfügen, das den einheimischen Wienern zu eigen ist. In einer kolonialen Attitüde werden diese Zugewanderten daher direkt oder indirekt aufgefordert, sich den Einheimischen in Sprache und Sitte anzugleichen, sich an eine vorgegebene (deutsche) Leitkultur anzupassen und die Werte, die als unumstößliche eigene Werte vorgegeben werden, zu akzeptieren. Diese Mahnung wird indirekt artikuliert, indem man ihnen im Alltag den falschen Umgang mit der deutschen Sprache vorwirft, direkt, indem man sie durch Verordnungen zwingt, ihrer eigenen Sprache, dem Tschechischen, in der Öffentlichkeit abzusagen und sich die Sprache der Einheimischen in der Schule anzueignen. Dieses Bild vom „Anderen“, das Macht über diese „Anderen“ 130 Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’rreich war“, S. 127.
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demonstriert, wird zu einem Allgemeingut und damit zu einem Teil der eigenen Überzeugung, es verfestigt sich und kann von Generation zu Generation weitervermittelt werden, auch wenn man nachträglich erkennt, dass es mit der eigentlichen Realität nicht ganz übereinstimmt, mit dieser wenig zu tun hat oder dieser überhaupt nicht entspricht.
Tschechisches Wiener Theater Ähnliches wie im Alltag oder in der Politik spielte sich allerdings auch auf der Ebene der repräsentativen Kultur ab. Die Diskurse, mit denen Ausgrenzungen im Alltag konstruiert wurden, wurden auch auf andere Bereiche übertragen oder von diesen mitgetragen. 1892 fand in Wien die „Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen“ statt. Unter anderem gastierte hier, neben der Lemberger Oper – bereits 1856 gab es fünfzehn Aufführungen der Krakauer Bühne im Theater an der Wien, was Rückschlüsse auf ein zahlreiches polnischsprachiges Wiener Publikum zulässt131 – das Böhmische Nationaltheater im Ausstellungstheater im Prater mit sechs Opern in tschechischer Sprache, unter anderem mit Bedřich Smetanas „Prodaná nevěsta“, der „Verkauften Braut“; es sollte dies den Auftakt für die internationale Rezeption dieser Oper Smetanas bedeuten (1893 folgte die erste deutschsprachige Aufführung im Theater an der Wien, 1896 wurde die „Verkaufte Braut“ in das Repertoire der Hofoper übernommen). Die Aufnahme der tschechischen Urfassung unter dem vermutlich vornehmlich deutschsprachigen Wiener Publikum war zum Teil enthusiastisch: „Die Wiener hatten“, berichtete Richard Teubner zwei Jahre später, „das Herz des czechischen Volkes, dessen Musik entdeckt; sie begruben die hässliche Politik und sangen und tanzten mit den slavischen Söhnen Böhmens, und beide Nationalitäten begriffen plötzlich, dass sie gute Nachbarn sein können – wenn auf der Welt nichts wirksam wäre als der Zauber echter Musik.“132 Gesungen wurde von tschechischen Opernsängerinnen und Sängern in tschechischer Sprache, was anscheinend nicht 131 Jakub Forst-Battaglia, Polnisches Wien, Wien: Herold 1983, S. 105. Einen Höhepunkt erreichte das polnische Theater in Wien in den Jahren 1914–1916, zunächst unter der Leitung des Lemberger Direktors Ludwik Heller, später unter Tadeusz Rittner. Vgl. ebd. S. 105–106. 132 Zit. nach Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images, Freiburg. i. Br.: Rombach 2007, S. 340.
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als störend empfunden wurde, befanden sich doch vermutlich unter den Zuschauern auch viele tschechischsprachige Bewohner Wiens. Doch als verbindendes Element galt die allen verständliche nonverbale Kommunikation, die Sprache der Musik, wie auch der Musikschriftsteller Otakar Hostinský festhielt: „Die Künstler und Künstlerfreunde der beiden Lager reichten sich die Hände über den Köpfen der politischen Kämpfer.“133 Nach einer ersten privaten tschechischen Theatervorstellung im Palais Harrach im Jahre 1843 und einer 1851 öffentlich zugänglichen Vorstellung im Theater in der Josefstadt gastierte 1893 eine Prager Theatergesellschaft unter Ladislav Chmelenský mit einem tschechischen Repertoire ebenfalls im Theater in der Josefstadt. „Absicht des Gastspiels war es, einen Impuls zur Gründung eines tschechischen Theaters in Wien zu geben.“ Doch nur bei der Eröffnung des Gastspiels kam es „zu wüsten Krawallen von Seiten deutschnationaler Studenten, sodaß die Vorstellung mehrmals auf längere Zeit unterbrochen werden mußte“. 134 Die Gründung eines eigenen Wiener tschechischen Theaters wurde zwar immer wieder gefordert, stieß aber, wie die öffentliche Anerkennung tschechischer Schulen, auf den Widerstand der Behörden, was in der Zeitschrift „Wiener Slaven“ im Jahre 1898 auch heftig beklagt wurde: „Neben der wichtigen Schulfrage harrt eine zweite, nicht minder bedeutende Frage ihrer Erledigung. Die Errichtung eines tschechischen Theaters […] ist für uns ein Bedürfnis […]. Es liegt außer Zweifel, daß ein Theater die wichtigste Bildungsstätte des Volkes bildet, weil es Unterhaltung und Erhaltung des nationalen Geistes vereint.“135 Ein gutes Jahrzehnt später, im Jahre 1908 – dazwischen liegen die immer heftigeren Sprachenstreitigkeiten, die die politische Atmosphäre zunehmend vergifteten, dazwischen liegt, vor allem seit Luegers Amtsantritt als Bürgermeister Wiens, das Anwachsen von deutschnationalen Injurien, die die Tschechen Wiens zunehmend ausgrenzten, als „Fremde“ oder, nach Ablegung des Bürgereides, ins Deutschtum inkludierten – fand das sechzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs statt. Aus diesem Anlass sollte im 133 Vlasta Reittererová, Hubert Reitterer, Vier Dutzend rothe Strümpfe … Zur Rezeptionsgeschichte der Verkauften Braut von Bedřich Smetana in Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, Wien: ÖAW 2004, S. 60. 134 Vlasta Reittererová, Hubert Reitterer, Vier Dutzend rothe Strümpfe, S. 70–71. 135 Zit. in: Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins, S. 32.
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Theater an der Wien eine Leistungsschau aller nichtdeutschen Nationalbühnen der Monarchie stattfinden. Für die Eröffnung waren Vorstellungen des Tschechischen Nationaltheaters vorgesehen, dem Jaroslav Kvapil als Regisseur vorstand. Kvapil, von Max Reinhardt und Konstantin S. Stanislavskij inspiriert, hatte das Nationaltheater zu einer der modernsten Bühnen Europas gemacht. Man hatte für Wien drei Stücke ausgewählt, die in tschechischer Sprache aufgeführt werden sollten: „Mariša“ der Brüder Alois und Vilém Mrštík, Shakespeares „Hamlet“ und Čechovs „Drei Schwestern“. Doch schon während der Vorbereitungen „kam es zu heftigen deutschnationalen Protesten, die schließlich sogar den Wiener Gemeindrat beschäftigten und Kvapil beim Wiener Bürgermeister Karl Lueger intervenieren ließen“. Schließlich musste die Aufführung der drei Stücke abgesagt werden, worauf Hermann Bahr, der vermutlich die Wiener Aufführung mitinitiiert hatte, demonstrativ nach Prag fuhr, um sich die Darstellungen vor Ort anzusehen: „Damit tat er etwas, was kein deutschsprachiger Autor (schon gar kein Prager) wagte: Auf dem Höhepunkt der Nationalitätenkonflikte setzte er sich für das tschechische Theater ein und behauptete, daß es dem deutschsprachigen gleichwertig, wenn nicht gar überlegen sei.“136 Kvapil selbst erinnerte sich zwei Jahre später (1910) in einem Beitrag über Hermann Bahr an die nationalistischen Proteste gegen das tschechische Gastspiel: „Im Frühjahr des Jahres 1908 bereitete das Nationaltheater einige Gastspiele in Wien vor. Dies sorgte im Lager der bösartigen Wiener Nationalisten für große Unruhe. Für den Fall, daß wir nach Wien fahren würden, wurde auch mit Gewalt gedroht, nicht nur im Theater, sondern auch auf der Straße. Die anständigen Deutschen waren beschämt wie gegen uns agiert wurde. Zwar wurde mir in Wien privat versichert, daß es nicht so schlimm sei, doch fast jeder riet von einer Fahrt nach Wien ab. Der verstorbene Lueger sagte mir damals in den Räumen des Parlaments vertraulich und mit Witz mit dem er alles übertünchen wollte: ‚Aber Mensch, warum reizen sie denn unsere Leute? Sie sind halt Schreihälse. Aber helfen Sie sich. Wissen S’ was? Wenn ich einmal nach Prag komme, werde ich mir Ihren ‚Hamlet‘ anschau’n.‘“137 Die deutschnationale Hetze gegen das tsche136 Kurt Ifkovits, Einleitung, in: ders., Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil S. 25–26. – Vgl. dazu auch Manfred Jähnichen, Hermann Bahr und die tschechische Kultur, in: Stifter Jahrbuch 22 (2008) S. 105–109. 137 Kurt Ifkovits, Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil, S. 529.
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chische Theater führte am 10. April auch zu einer Intervention des tschechischen Reichstagsabgeordneten und späteren tschechoslowakischen Ministers Vaclav Klofač, die deshalb von Interesse ist, weil er indirekt auch auf die bedrängte Situation der Tschechen in Wien im Allgemeinen einging: „Wenn man den Tschechen zeige, daß sie in Wien nur eine ihnen äußerst feindliche Stadt erblicken sollen, so möge man zur Kenntnis nehmen, daß von diesem Augenblicke an jeder Tscheche charakterlos wäre, der an irgendeinem Jubiläumsfeste oder an irgend etwas teilnehmen würde, was diejenigen Herren arrangieren, die sich nicht einmal gescheut haben, der Kunst ins Antlitz zu spucken, weil es tschechische Kunst war.“138 Freilich gab es vereinzelt auch Missfallenskundgebungen gegenüber einer solchen deutschnationalen Kulturpolitik der Stadt. So schrieb Eduard Pötzl im „Neuen Wiener Tagblatt“, in Anspielung auf das tschechische Gastspiel im Jahre 1892: Es wäre unverständlich, dass Wien „trotz seiner Stellung als Reichshauptstadt sich weigert, der tschechischen Kunst vorübergehende Gastfreundschaft zu gewähren […]. Denn wie vergiftet muß das Völkerleben in unserem Vaterlande sein, daß man glaubt, Wien vertrage eine zweite Invasion tschechischer Bühnenkunst – die erste geschah bekanntlich in der Theater- und Musikausstellung – nicht mehr, es müsse dagegen etwas geschehen.“139 In der Tat war das Verhältnis der deutsch- und tschechischsprachigen Wiener auch ein Spiegelbild der Situation in Böhmen, die sich – im Kleinen – im Abgeordnetenhaus fortsetzte: Die gegenseitigen nationalen Beschuldigungen dominierten zunehmend das politische Alltagsleben Wiens. Es ist daher nicht verwunderlich, dass vonseiten der Tschechen, mit Bezug auf das gescheiterte Gastspiel des Tschechischen Nationaltheaters, auch die Teilnahme am KaiserHuldigungs-Festzug von 1908, an dem alle Nationalitäten der Monarchie in ihren Volkstrachten auftraten, abgesagt wurde. Während das Kronland Böhmen überhaupt nicht vertreten war, war die Markgrafschaft Mähren vorwiegend mit deutsch-mährischen Gruppen und Slowaken vertreten, die als tschechische Gruppe bezeichnet wurde.140
138 Zit. in Elisabeth Großegger, Der Kaiser-Huldigungs-Festzug Wien 1908, Wien: ÖAW 1992, S. 163. 139 Elisabeth Großegger, Der Kaiser-Huldigungs-Festzug Wien 1908, S. 164. 140 Elisabeth Großegger, Der Kaiser-Huldigungs-Festzug Wien 1908, S. 173–174,
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Die nationalpolitische Instrumentalisierung der konkreten verbalen Sprache war schon so weit gediehen, dass man alle Aufmerksamkeit auf diese richtete; sie war das deutlichste differenzierende Merkmal auch innerhalb des Wiener kulturellen Kommunikationsraums, in dem Mehrsprachigkeit in einem wörtlichen und übertragenen Sinne den Alltag beherrschte. Das dominante, die deutsche Sprache konkurrenzierende Element war hier das Tschechische. Die Auseinandersetzung um die Sprachen in Böhmen und Mähren fand hier, im Zentrum, im Mikrokosmos des urbanen Milieus, ihre komplementäre Widerspiegelung beziehungsweise Ergänzung. Die Dominanz des Deutschen sollte in Wien, in jener Stadt der Monarchie, in der es die meisten tschechischen Bewohner gab, mithilfe des deutschnationalen Narrativs gewahrt beziehungsweise durchgesetzt, das „Fremde“ ausgegrenzt und eliminiert werden. Wien wurde also, vor allem für die Tschechen, „ein Ort der Erniedrigung und der Demütigung“.141 Diese trieben sich tief in das Bewusstsein jener tschechischen Intellektuellen ein, die eine kürzere oder längere Zeit in Wien gelebt hatten. Aus einer solchen Perspektive wird auch die negative Sicht auf das Österreichertum und Wienertum der Zwischenkriegszeit verständlich, was eine Äußerung T. G. Masaryks unterstreicht: „Wenn ich wirklich etwas hasse, so ist es das Österreichertum, besser gesagt, das habsburgische Wienertum, dessen dekadenten Aristokratismus, der dem Trinkgeld nachläuft, diesen falschen, niedrig gesinnten Habsburgismus, dieses anationale und doch chauvinistische Kunterbunt von Personen des offiziellen Wien.“142
Ungarisches Wien? Das erwähnte Kaffeehaus war ein Schnittpunkt, an dem sich freilich nicht nur deutsch- und slawischsprachige Bewohner Wiens trafen und austauschten, auch andere nach Wien Zugereiste fanden sich an diesem Ort der Kommunikation aufgehoben, so zum Beispiel Ungarn, die in Wien als Beamte, Kaufleute, Handwerker oder Gewerbetreibende ihr Auslangen fanden. Nicht 141 Christa Rothmeier, Die entzauberte Idylle. Das Wien-Bild in der tschechischen Literatur, S. 255–291, Zit. S. 258. 142 Christa Rothmeier, Die entzauberte Idylle. Das Wien-Bild in der tschechischen Literatur, S. 259.
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zuletzt deshalb, weil ebenso wie tschechische oder polnische auch ungarische Zeitungen und Zeitschriften in den Cafés auflagen: „Ungarische Zeitungen finden wir in allen guten Wiener Kaffeehäusern“, bemerkte 1860 der ungarische Schriftsteller Zsigmond Ormós in seiner Reisebeschreibung. „Das Josefstädter Billisauer und das Café der Witwe Zimmerl auf der Wieden zeichnen sich dadurch aus, dass es hier mehr ungarische Zeitungen gibt als in vergleichbaren Kaffeehäusern in Debrecen, Szeged oder Pest. Das Gasthaus ‚Zum goldenen Lamm‘ auf der Wieden weist in Ergänzung zu diesen Kaffeehäusern mit ungarischem Charakter auch eine vergleichbare (ungarische) Küche auf, und jene Ungarn und intelligenten jungen Landsleute, die sich in diesen Kaffeehäusern und im Gasthaus treffen und sich austauschen, fühlen sich in Wien mehr zu Hause als in mancher Stadt unseres Vaterlandes.“143 Obwohl hier Ormós auf Orte in Wien hinweist, an denen sich Ungarn trafen und zu Hause fühlen konnten, war es wohl, wie auch bei den „slawischen“ Cafés, eine Selbstverständlichkeit, dass auch anderssprachige Bewohner der Stadt hier verkehrten und miteinander kommunizierten. Die ungarischsprachigen Zeitungen und die ungarische Küche trugen nicht nur dazu bei, dass hier, in der „Fremde“, ein Heimatgefühl aufkommen oder konstruiert werden konnte, sie sind auch Belege dafür, dass die „fremde“ Sprache oder Küche zu einem integralen Bestandteil des hybriden Wiener Kommunikationsraums werden konnte. Hier war das „kulturelle Gedächtnis“ mit Codes angereichert, deren Provenienz sich den unterschiedlichsten sprachlich-kulturellen Konfigurationen des Königreichs Ungarn und des Gesamtstaates ÖsterreichUngarn verdankte. Trotz der Wahrnehmung von Fremdheiten und des daraus resultierenden Erlebens der eigenen Fremdheit fühlte man sich doch überall „zu Hause“, weil solche Verhaltensmuster und Kommunikationsweisen das tägliche Leben prägten, die man auch anderswo vorfand, weil man auch in der sogenannten „Fremde“ sich mit Inhalten konfrontiert sah, die Bestandteile der eigenen Identität waren. So war, trotz entgegengesetzter politisch motivierter Argumentationen, einem Ungarn Österreich und Wien nicht fremd wie auch einem Wiener beziehungsweise Österreicher Budapest oder Ungarn reizvoll und sympathisch erscheinen konnten. Die besondere Funktion, die ein mythisch-nostalgisch verklärtes Wien für 143 Ormós Zsigmond, Utazási emlékek (Reiseerinnerungen), zit. in Juhász László, Bécs magyar emlékei (Wiens ungarische Erinnerungen), Bécs (Wien): o.V. ²1977, S. 160.
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die Ungarn hatte, wird unter anderem in zahlreichen Feuilletons und Erzählzyklen des Schriftstellers Gyula Krúdy abgehandelt, die jedoch erst nach 1916 erschienen sind. Krúdy berichtet unter anderem, weniger fiktional wie Joseph Roth, über die Begräbniszeremonien für Kaiser Franz Joseph und entwirft dabei, im Gegensatz zu der ambivalenten Einschätzung des offiziellen Ungarn, ein durchaus positives, zuweilen verklärendes Bild des Herrschers. In Wien wird, wie Anna Fábri in einem bemerkenswerten Beitrag über „Wien bei Krúdy“ ausführt, „der in Ungarn zuweilen drückende Identitätszwang aufgehoben […]. In Wien kann man ein Ungar sein, ohne irgendwelche Verpflichtungen dadurch auf sich zu nehmen. […] In Wien kann ein Ungar, der daheim an der Kleinlichkeit des Provinzialismus und an den ungelösten Problemen der Zivilisation zu leiden hat, fein und vornehm leben und ohne jegliches Risiko ein Fremder sein. Er wird hier angenommen, wenn man so will, als ein irgendwoher bekannter Fremder, der hier als natürlich, als zum Wesen der Kaiserstadt gehörig betrachtet wird.“144 Auf eine solche Weise erinnerten sich in der Tat auch andere ungarische Intellektuelle an Wien, bereits nach dem Zerfall der ehemaligen politischen Kohabitation innerhalb der dualistischen Monarchie: „Wenn ein Ungar in die Kaiserstadt fuhr“, sollte der Schriftsteller Ferenc Herczeg in seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1939 anmerken, „konnte er, selbst wenn er es gewünscht hätte, sich nicht in der Fremde fühlen. Die Burg und die Stadt waren ja erfüllt mit ungarischen Erinnerungen, an den Wiener Lebensgewohnheiten hatten auch alte ungarische ihren Anteil. Jemand, der aus Budapest angereist war, begegnete hier einem in ein europäisches Licht versetzten, fast möchte ich behaupten einem objektiveren Ungarn.“145 Es ist dies ein Wien-Bild aus der Perspektive eines ungarischen Intellektuellen, dem man beispielsweise auch bei vielen anderen, zum Beispiel bei dem Schriftsteller Sándor Márai, begegnen kann.146 144 Anna Fábri, Das Bild Wiens in den Werken von Gyula Krúdy, in: Neohelicon XXIII/1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1996, S. 127–152, Zit. S. 136–137. – Vgl. auch Vera Belousova, Aneignung des Habsburg-Mythos in der ungarischen Literatur am Beispiel der Romane Gyula Krúdys, in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet?, S. 345–365. 145 Herczeg Ferenc, A gótikus ház (Das gotische Haus), in: Herczeg Ferenc, Emlékezései (Erinnerungen), Budapest: Szépirodalmi 1985, S. 229–479, Zit. S. 327–328. 146 István Fried, Das Wien-Bild Sándor Márais, in: Neohelicon XXIII/1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1996, S. 143–152.
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Ungarn in Wien – ein intellektueller Schmelztiegel? Nach dem Scheitern der kurzlebigen ungarischen Republik im März 1919 und der ungarischen Räterepublik Anfang August 1919 wurde Wien zur Zufluchtsstätte vor allem zahlreicher radikaldemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer ungarischer Politiker, Intellektueller, Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller.147 Wien wurde mit einem Schlag zum Sammelbecken eines wesentlichen Teils der „fortschrittlichen“ kulturellen Elite Ungarns. Hier entwickelte Lajos (Ludwig) Kassák mit der Zeitschrift „Ma“ (Heute), die von 1920 bis 1925 in Wien erschien, sein Avantgardekonzept.148 Die Zeitschrift bildete eine Plattform für politisch links orientierte oder „fortschrittliche“ Schriftsteller und Künstler, unter anderem für Tibor Déry,149 Gyula Illyés, Andor Gábor – in Budapest in den Zehnerjahren Kabarettist, Verfasser von Couplets und Operettenlibrettist (er übertrug auch mehrere Lehár- und Kálmán-Operetten ins Ungarische), der wegen seiner kommunistischen Agitationen 1925 aus Wien ausgewiesen wird – oder Andor Németh, mit dem Arthur Koestler oder der junge Dichter Attila József, die beide damals in Wien lebten, befreundet waren. „Ma“ widmete auch dem jungen, im Ausland noch weniger bekannten Béla Bartók eine eigene Nummer. Die kunstästhetische Ausrichtung von Kassák und seinem Kreis wurde freilich von Béla Balázs und Georg Lukács als zu inhaltslos heftig attackiert. Ein Sammelbecken für Linksintellektuelle wurde auch die von Aladár Komját und Béla Uitz zunächst (1922) in Wien redigierte Literatur- und Kunstzeitschrift „Egység“ (Einheit). Neben der Tageszeitung „Jovő“ entwickelte sich vor allem die „Bécsi Magyar Újság“ (Wiener Ungarische Zeitung) von 1920 bis Ende 147 Szabolcsi Miklós (Hg.), A magyar irodalom története 1919-től napjainkig (Ungarische Literaturgeschichte von 1919 bis auf unsere Tage) = Sőtér István (Hg.), A magyar irodalom története (Geschichte der ungarischen Literatur), Bd. VI, Budapest: Akadémiai Kiadó 1966, S. 231–236. 148 Pál Deréky, Ungarische Avantgarde-Dichtung in Wien 1920–1926. Ihre zeitgenössische literaturkritische Rezeption in Ungarn sowie in der ungarischen Presse Österreichs, Rumäniens, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei, Wien u.a.: Böhlau 1991. 149 �������������������������������������������������������������������������� Zum Wien-Bild in Dérys späterem Roman „Befejezetlen mondat“ (Der unvollendete Satz) vgl. Jurij Gusev, Das Wien-Bild in der ungarischen Literatur nach 1918, in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet?, S. 317–344, bes. S. 323–330.
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1923 zu einem der führenden ungarischsprachigen Organe der unmittelbaren Nachkriegszeit, ihr Spiritus rector war der Soziologe und „bürgerlich-radikale“ Politiker Oszkár Jászi, der Anfang Mai 1919 in Wien eintraf und bei der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder Unterkunft fand. Über seine ersten Wiener Jahre (1919–1923) informiert sein detailreiches Tagebuch.150 Die literarische Zeitschrift „Diogenes“ (1923–1927) bot in Wien ansässigen Dichtern und Schriftstellern wie Andor Németh, Attila József oder Anna Lesznai (die in erster Ehe, bis 1920, mit Oszkár Jászi verheiratet gewesen war) Publikationsmöglichkeiten; sie war auch für Béla Balázs ein Forum für zahlreiche seiner Beiträge. Ungarische Intellektuelle wie der Philosoph Georg Lukács, der Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla Balázs, der Soziologe Karl Mannheim, der Kunstsoziologe Arnold Hauser oder der Nationalökonom Karl Polányi waren so zwangsweise zeitweilig, kürzer oder länger, in Wien und unterhielten zu manchen ihrer Wiener Freunde, Kollegen und auch Politikern intensive Kontakte – Jászi z. B. traf sich immer wieder unter anderem mit Karl Renner, Otto Bauer, Josef Redlich, Max Adler, Richard Charmatz, mit dem Nationalökonomen Karl Grünberg oder dem Soziologen Rudolf Goldscheid, schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Wien unterhielt er sich mit einigen von ihnen im Café Central –, publizierten ungarisch und deutsch – Jászi in der „Arbeiter-Zeitung“ und im „Morgen“ –, um früher oder später Wien beispielsweise in Richtung Berlin, Moskau, London, Amerika oder doch auch wieder Richtung Ungarn zu verlassen. Lukács, Balázs, Mannheim, Hauser und andere nach Wien geflohene Intellektuelle waren Mitglieder des ehemals bedeutenden, einem linken Deutschen Idealismus verpflichteten Budapester „Sonntagskreises“,151 dem auch der junge deutsche Philosoph Ernst Bloch nahestand, die Treffen wurden nun auch in Wien, freilich nur sporadisch und nur so lange, als Lukács sich hier aufhielt, fortgesetzt, nun aber – und das ist bemerkenswert – auch unter Teilnahme von Wiener 150 Jászi Oszkár naplója 1919–1923 (Oszkár Jászis Tagebuch 1919–1923), hg. Litván György, Budapest: MTA Történettudományi Intézet 2001. 151 Karádi Éva, Vezér Erzsébet (Hg.), A Vasárnapi Kör. Dokumentumok (Der Sonntagskreis. Dokumente), Budapest: Gondolat 1980. Über die Fortsetzung der Zusammenkünfte in Wien ebd. S. 11 f. – Vgl. auch Novák Zoltán, A Vasárnap Társaság (Die Sonntagsgesellschaft), in: Kiss Endre, Nyíri J. Kristóf (Hg.), A magyar filozófiai gondolkodás a századelőn (Ungarisches philosophisches Denken zu Beginn des Jahrhunderts), Budapest: Kossuth 1977, S. 300–376.
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Freunden, wie der Übersetzerin Olga Halpern, der Dramatikerin und Schriftstellerin Maria Lazar oder dem Komponisten Hanns Eisler und dessen erster Frau, der Sängerin und Musikologin Charlotte Demant, in deren Wohnung die Zusammenkünfte gelegentlich stattfanden.152 Die Verschränkung von zwei zunächst unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen ist hier ganz offenkundig. Karl Polányi (vormals Polacsek) wurde zwar in Wien geboren, war jedoch in Budapest aufgewachsen und sozialisiert worden. Er war Mitbegründer und erster Vorsitzender des links orientierten studentischen „Galilei Kör“ (Galilei-Kreis) – als solcher initiierte er bereits zu Beginn, 1908, ein Seminar über Ernst Mach, den, wie er schrieb, „hervorragendsten Denker der Jahrhundertwende“ – und Mitarbeiter von „Huszadik Század“ (Zwanzigstes Jahrhundert), der renommierten Zeitschrift der 1900 gegründeten Budapester Soziologischen Gesellschaft, die, im Gegensatz zum „Sonntagskreis“, einem philosophischen Positivismus huldigte, unter dem Einfluss von Herbert Spencer oder Émile Durkheim stand und sich auch in einem dauernden, intensiven Kontakt mit Gleichgesinnten innerhalb der Monarchie befand (so unter anderem mit Ludwig Gumplowicz).153 Seit 1919 in Wien, wurde Polányi im Jahre 1924 Mitarbeiter der bekannten Zeitschrift „Der Oesterreichische Volkswirt“, um 1933 Wien nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland nach England und später in die USA zu verlassen, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte. Er starb 1964 in Pickering in Kanada, wohin er gereist war, um seine Frau, Ilona Duczynska, die er in Wien 1923 geheiratet hatte, zu besuchen; sie durfte als ehemalige kommunistische Aktivistin nicht in die Vereinigten Staaten einreisen. Es ist dies ein typisches Beispiel für viele analoge schmerzliche Erfahrungen, die diese Generation der Heimatlosen machen musste. Polányi befasste sich unter anderem in „The Great Transformation“ vor allem mit der Erforschung des Zusammenhangs von Wirtschaft und Gesellschaft, einem Problem, das vor allem im Umkreis 152 Karádi Éva, Vezér Erzsébet (Hg.), A Vasárnapi Kör, S. 59. 153 György Litván, Wissenschaftstransfer zwischen den Kulturen der Donaumonarchie – Soziologie, in: Josef Langer (Hg.), Geschichte der österreichischen Soziologie. Konstituierung, Entwicklung und europäische Bezüge, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1988, S. 133–141, hier über Polányi S. 135 f. – György Litván, Die Soziologie am Anfang des 20. Jahrhunderts in Ungarn, in: Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Anna M. Drabek (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus österreichischer und ungarischer Sicht, Wien: ÖAW 1997, S. 63–71.
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von „Huszadik Század“ diskutiert worden war. Béla Balázs wurde in Wien zum Filmtheoretiker: Unter anderem erschien hier 1922 in ungarischer Sprache „A színjáték elmélete“ (Theorie des Theaters), zwei Jahre später folgte bereits in deutscher Sprache in einem Wiener Verlag sein bekanntes filmästhetisches Werk „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“. Was Denker wie Polányi, Balázs oder andere ihrer Kollegen auszeichnete, war ihre Disziplinen übergreifende Argumentation, ein Verfahren, das sie unter anderem im Galileioder Sonntagskreis erprobt hatten und das in unterschiedlichen Bereichen, die sie repräsentierten, zu innovativen Erkenntnissen führen sollte. Im Unterschied zu den ungarischen Migranten der vergangenen Jahrzehnte, die freiwillig nach Wien gekommen waren, handelte es sich hier um Flüchtlinge, politisch Marginalisierte, die unter zum Teil ärmlichsten Verhältnissen in Wien Zuflucht fanden. Dieses Schicksal schweißte sie trotz widersprüchlicher weltanschaulicher Positionen zusammen und es war nur natürlich, dass sie vor allem unter- und miteinander verkehrten, die politische Situation, der sie entflohen waren, kritisch analysierten, wie zum Beispiel Lajos (Ludwig) Hatvany (der im ebenerdigen Teil der Hermesvilla wohnte), Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Kultur- und Kunstmäzen (er förderte und ermöglichte 1908 die Gründung von „Nyugat“, der führenden Zeitschrift der Budapester Moderne), in seinem umfangreichen, im Wiener E. P. Tal-Verlag 1921 erschienenen Werk „Das verwundete Land“, einer Abrechnung mit der jüngsten ungarischen Geschichte, vor allem mit dem „Weißen Terror“ des Horthy-Regimes;154 mehrere literarische Werke Hatvanys erschienen in Wien in ungarischer Sprache. Bereits ein Jahr zuvor hatte Oszkár Jászi „Ungarns Leidensweg, Ungarns Auferstehung“ herausgegeben, 1923 sollte es in München in einer überarbeiteten Ausgabe unter dem Titel „Magyariens Schuld, Ungarns Sühne. Revolution und Gegenrevolution in Ungarn“ erscheinen. Auch wurden hier, in Wien, zu Hause begonnene intellektuelle oder künstlerische Auseinandersetzungen fortgesetzt. So diskutierten beispielsweise Balázs und Lukács über kunstästhetische und kunstsoziologische Fragen: ob sich die Kunst der Gegenwart verselbständigt habe, ob sie noch einen ethischen Wert besitze, ob sie noch der gesellschaftlichen Re154 Vgl. Murray Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938 Bd. II: Belletristische Verlage der Ersten Republik, Wien u.a.: Böhlau 1985, S. 415–437, zu Hatvanys Werk und der Edition einer Auswahl von Endre Adys Werken in deutscher Sprache, S. 435.
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alität entspreche, was Lukács entschieden verneinte: Der kulturelle Überbau entspreche nicht mehr dem ökonomischen und sozialen Unterbau. Freilich handelte es sich dabei vornehmlich um kritische Stellungnahmen gegenüber der Avantgarde, dem Expressionismus, Aktionismus und der Dadaistischen Bewegung; in ähnlicher Weise hatte sich Lukács bereits zehn Jahre zuvor gegen den Impressionismus und Relativismus ausgesprochen. Es bildeten sich aber auch Schnittstellen, an denen sich unterschiedliche verbale und intellektuelle Kommunikationsräume begegneten, sich neue Räume aufbauten und zu kreativen kulturellen Konfigurationen führten. Solche translatorischen Prozesse, die beispielsweise in dem bereits erwähnten erweiterten Sonntagskreis stattgefunden haben mögen, sind bislang noch wenig erforscht; die umfangreichste Darstellung über die Wiener ungarischen Emigranten, die Miklós Szabolcsi im zweiten Band seiner Monographie über den ungarischen Dichter und Schriftsteller Attila József unternommen hatte, geht fast ausschließlich auf die inneren Verbindungen und kaum auf die Kontakte mit anderen Persönlichkeiten Wiens ein – Attila József unterhielt solche kaum –, mit Ausnahme einer analytischen Beschreibung jener Wiener Professoren, bei denen József an der Universität Vorlesungen inskribiert hatte.155 In der Tat gab es unter den Emigranten, trotz gelegentlicher politisch oder weltanschaulich motivierter Spannungen und Zerwürfnisse (Jászi gegenüber den Marxisten) oder unterschiedlicher Zugänge zur Kunst (Balázs und Lukács gegen Kassák), einen regen Austausch, der zumeist in Kaffeehäusern stattfand. Balázs nennt unter anderem ein Kaffeehaus, in dem zwei Drittel der Stammgäste Ungarn gewesen sein sollen, vor allem die im dreizehnten Bezirk wohnten: Das Café Kaiserstöckl beim Schönbrunner Hietzinger Tor. Die meisten kannten sich, und selbst wenn manche miteinander nicht bekannt waren, „wissen sie voneinander alles durch die vermittelnden Personen der Kellner“.156 Einen ersten Eindruck über die intensiven Verbindungen, die zu deutschsprachigen und österreichischen Kreisen und Persönlichkeiten bestanden haben, bietet die Lektüre der faszinierenden Tagebuchaufzeichnungen von Béla 155 Szabolcsi Miklós, Érik a fény. József Attila élete és pályája 1923–1927 (Der Glanz wird reif. Attila Józsefs Leben und Laufbahn 1923–1927), Budapest: Akadémiai Kiadó 1977, S. 416–570, bes. S. 416–473. 156 Balázs Béla, Napló 2: 1914–1922 (Tagebuch Bd. 2: 1914–1922), hg. von Fábri Anna, Budapest: Magvető 1982, S. 518–519, Zit. S. 519.
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Ungarn in Wien – ein intellektueller Schmelztiegel?
Balázs oder Oszkár Jászi. Balázs versuchte in der Wiener Szene sofort Fuß zu fassen, indem er auch deutsch publizierte oder seine früheren Theaterstücke für Wiener Bühnen übersetzte und bearbeitete, wie zum Beispiel „Halálos fiatalság“ (Tödliche Jugend), das 1920 mit großem Erfolg deutsch aufgeführt wurde.157 „Ich möchte von hier nicht weggehen“, bemerkt er daher 1920, „bevor ich nicht alle Angelegenheiten abgeschlossen habe, die mit meinen deutschen Übersetzungen und Ausgaben zusammenhängen.“158 Er verkehrt wie auch andere seiner Landsleute in unterschiedlichen Cafés, wie im Central, dem Sammelplatz der Kommunisten,159 im Greilinger, im Beethoven, im Atlantis, im Attaché, im Josefstadt, im Kolosseum, im Zur Klinik oder im Schlosscafé neben Schönbrunn; Balázs wohnte an verschiedenen Orten, zunächst abwechselnd in „Schloss Waissnix“ in Reichenau an der Rax (das heißt im berühmten Thalhof, der der Familie Waissnix gehörte) und in Wien, hier auch in einem Zimmer im Schloss Schönbrunn oder zeitweilig in der Hinterbrühler „Helmstreitmühle“, in unmittelbarer Nachbarschaft zu „Polányi Karli“ und Ilona Duczynska160; er trifft sich mit ungarischen Kollegen und Wiener Intellektuellen und besucht nicht nur das Café Museum, den „Sammelplatz der ungarischen Emigranten“.161 Er steht, um nur einige personelle Zusammenhänge anzudeuten, wie auch Oszkár Jászi mit der Pädagogin und Frauenrechtlerin Eugenie Schwarzwald in engem Kontakt, begegnet in ihrem Kreis in- und ausländischen Gästen, wie der dänischen Schriftstellerin und Feministin Karin Michaelis, mit der gemeinsam er auf ungarisch „Túl a testen. Egy férfi és egy nő naplója“ („Jenseits vom Körper. Das Tagebuch eines Mannes und einer Frau“) verfasst und in Wien publiziert.162 Er trifft sich mit Verlegern wie Emil Alphons Rheinhardt vom Drei-Masken-Verlag, mit dem er sich auch über den Kommunismus unterhält („er sympathisiert mit dem Kommunismus“),163 mit Eduard Strache oder dem Lektor Georg Kulka. Er verkehrt mit Schauspielern wie Alexander Moissi oder Ida Roland, 157 Balázs Béla, Napló 2, S. 350–351, 388 ff. 158 Balázs Béla, Napló 2, S. 408. 159 Balázs Béla, Napló 2, S. 514. 160 Balázs Béla, Napló 2, S. 457. 161 Balázs Béla, Napló 2, S. 421. Vgl. auch Szabolcsi Miklós, Érik a fény, S. 440. 162 Balázs Béla, Napló 2, S. 440–441. Balázs selbst hielt von diesem Werk nicht viel, vgl. S. 459. 163 Balázs Béla, Napló 2, S. 349.
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mit dem Filmarchitekten Oskar Friedrich Werndorff, mit dem späteren Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst, der damals bei der Neuen Wiener Bühne Regie führte und mit dem Balázs später in Berlin eng zusammenarbeiten sollte (zum Beispiel bei der Verfilmung der „Dreigroschenoper“), mit dem Filmregisseur und -produzenten Hans Otto Löwenstein (für den er durch die Vermittlung Karl Polányis seine ersten deutschen Drehbücher schreibt), mit Marie Pappenheim, die dem Schönberg-Kreis angehört (sie verfasste das Textbuch für Schönbergs „Erwartung“) und deren Mann, dem Neurologen Hermann Frischauf, mit dem Komponisten und Musikdozenten Egon Wellesz und seiner Frau, mit dem Komponisten und Dirigenten Alexander von Zemlinsky oder mit dem Komponisten Hanns Eisler. Er schließt Freundschaft mit Robert Musil, wie er notiert, einem „feinen, aufrichtigen österreichischen Schriftsteller“, dem er einen Teil eines Romanmanuskripts zur Begutachtung überlässt; Musil reicht dieses dann an Franz Blei weiter.164 Später nimmt er sich vor, trotz weltanschaulicher Unterschiede (die Musil in einem Brief an Balázs aus dem Jahre 1930 auch deutlich hervorhebt165), Musil und den Schriftsteller des Expressionismus Robert Müller jeden Mittwochabend im Café Museum zu treffen.166 Anfang 1925 besprach dann Musil in einem langen, einfühlsamen Essay mit dem Titel „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ Balázs’ filmästhetisches Werk „Der sichtbare Mensch“.167 Balázs macht auch anlässlich eines Tees, zu dem er auch Lukács geladen hatte, Robert Musil mit Soma Morgenstern bekannt.168 In einer ähnlichen Beziehung stand Balázs auch zu Arthur Schnitzler, mit dem er sich in Wien und Berlin öfter trifft, obwohl Schnitzler, wie einigen seiner Tagebucheintragungen zu entnehmen ist, für Balázs’ literarische Tätigkeit nicht sehr eingenommen war. Dennoch dürfte die Beziehung der beiden Männer zuweilen eine sehr private, fast intime gewesen sein, wie folgender 164 Balázs Béla, Napló 2, S. 473, 481. 165 Vgl. Robert Musil, Briefe 1901–1942, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1981, S. 479. 166 Balázs Béla, Napló, 2 S. 505. 167 Robert Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films, in: Robert Musil, Gesammelte Werke II: Essays und Reden. Kritiken, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 1137–1154. 168 Robert Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 511.
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Eintragung Schnitzlers vom 28. April 1929 zu entnehmen ist: „Zu Tisch Bela Balasz [sic!]. Filmsachen nebenbei. – Er erzählt mir aus seinem Leben. Erst mit circa 10 Jahren deutsch. Junger Ruhm mit 23. – Versteck und Flucht aus Budapest etc.“169 In Wien nimmt Balázs im Jahre 1922 auch aktiv an den ersten Sitzungen der von Otto Neurath, Alfred Adler und Else Feldmann gegründeten österreichischen Sektion der von Henri Barbusse und Romain Roland ins Leben gerufenen pazifistischen sozialistischen Vereinigung „Clarté“ teil, engagiert sich hier für den Kosmopolitismus beziehungsweise für ein übergreifendes, Völker verbindendes Europäertum und erstellt mit anderen das Programm und die Statuten dieses Vereins.170 Als Emigranten, als mit dem Kommunismus Sympathisierenden (er bezeichnet sich im Tagebuch oft als Kommunisten, obwohl er der Partei erst 1930 in Berlin beitritt), als Internationalisten, als Ungarn jüdischer Herkunft (ursprünglich Herbert Bauer, magyarisiert er seinen Namen offiziell 1913), nun, verpflanzt in eine „fremde“ Wiener Umgebung, plagen Balázs – der zwischen unterschiedlichen, widersprüchlichen kulturellen Kommunikationsräumen zu balancieren versucht, um sich Orientierung zu verschaffen – vor allem Identitätsprobleme: „Kann ich, während ich mich zum Internationalismus bekenne, ganz und gar Ungar sein?“, fragt er sich. „Ich könnte es sein … aber bin ich es denn auch wirklich? Die Frage ist diese: Bin ich damals vertrieben worden, als ich in die Fremde lief, oder bin ich dadurch erst heimgekehrt? […] Es ist richtig, dass ich hinsichtlich meiner biologischen Abstammung Jude bin, es ist also nicht mehr von turanischem Blut in mir, wie in Sándor Petőfi [der slowakischer Herkunft war, M. Cs.]. Ich glaube, folge ich rationalen Überlegungen, dass ich aus der ungarischen Fremde, wo man mich nicht verstanden und stets als Fremden gehasst hat, nun heimgekehrt bin unter Menschen, die mich, wenn ich auch nur ein erstes Wort ausspreche, verstehen und mich anerkennen. […] Fazit: Ich bin kein Vertriebener. Denn was zu mir gehört, habe ich in meinem Herzen mitgebracht […].“171 Das alles sind nur einige wenige Andeutungen, die auf die Dichte, Relevanz und Funktion der ungarischen Emigranten und ihrer Verflechtung mit 169 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1927–1930, hg. von Werner Welzig, Wien: ÖAW 1997, S. 245. 170 Balázs Béla, Napló 2, S. 499–501, 513. 171 Balázs Béla, Napló 2, S. 358–362, Zit. S. 358, 359, 361.
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Wiener Intellektuellen nach 1918/19 aufmerksam machen sollten. Sie befanden sich freilich insgesamt in einer exzeptionellen, transitorischen, marginalisierten Situation. „Wir leben hier ‚unter Vorbehalt‘“, notierte Balázs zu Beginn seines Wien-Aufenthaltes (1920) in sein Tagebuch.172 Doch diese Emigranten wurden dennoch zu einem integralen Teil eines spezifischen Wiener Kommunikationsraumes. Es finden sich Intellektuelle unter ihnen, die in der Folge den internationalen wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischästhetischen Diskurs nicht unerheblich, zum Teil ganz wesentlich mitgestalten sollten, Karl Mannheim als Soziologe in Frankfurt und an der School of Economics in London, Karl Polányi als Wirtschaftstheoretiker in den USA, Georg Lukács als Philosoph des Marxismus, der „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923), ein Werk, das später die Kritische Theorie Max Horkheimers, Theodor W. Adornos und Jürgen Habermas’ nachhaltig beeinflussen sollte, in Wien verfasst hatte, oder Balázs als Kunst- und Filmästhetiker.173 Die Komplexität und Hybridität, die kulturellen Prozessen stets innewohnt, ließe sich gerade an der Vielfalt und gegenseitigen Verschränktheit solcher Kommunikationsräume verdeutlichen, in denen sich diese Flüchtlinge in Wien vorfanden. Ihr Flottieren zwischen unterschiedlichen verbalen Räumen erleichterte ihnen ihre Doppel- und Mehrsprachigkeit; nicht wenige von ihnen waren von Haus aus auch deutschsprachig oder hatten an der Wiener oder an deutschen Universitäten studiert wie zum Beispiel Balázs oder Lukács, andere kamen in den Zwanzigerjahren, um beispielsweise dem in Ungarn gegen jüdische Studierende eingeführten Numerus clausus zu entgehen. Balázs wurde Mitarbeiter der Wiener Zeitung „Der Tag“ und veröffentlichte dort an die fünfhundert Feuilletons, Theater- und Filmrezensionen mit zum Teil „starken politischen Setzungen“, wie Amália Kerekes feststellt;174 eine Auswahl dieser klassischen Beiträge, angereichert mit solchen aus dem Nachlass, wurde vor
172 Balázs Béla, Napló 2, S. 409. 173 Vgl. die weiterführende Untersuchung von Lee Congdon, Exile and Social Thought. Hungarian Intellectuals in Germany and Austria 1919–1933, Princeton: Princeton University Press 1991. 174 Amália Kerekes, Taktik oder Ethik? Die kulturpolitische Publizistik von Béla Balázs in der Wiener Emigration, in: Anna Wessely, Károly Kókai, Zoltán Péter (Hg.), Habitus, Identität und die exilierte Disposition, Budapest: Nemzeti Tankönyvkiadó 2008. S. 89–101, Zit. S. 100.
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Kurzem von Hanno Loewy neu herausgegeben.175 Übrigens war Alfred Polgar, der Übersetzer Molnár’scher Stücke ins Deutsche, beim „Tag“ Theaterrezensent, beide, Balázs und Polgar, verband eine gegenseitige freundschaftliche Wertschätzung;176 hier publizierten unter anderem auch Robert Musil, Joseph Roth, Arnolt Bronnen oder Max Brod. Andere ungarische Emigranten schrieben deutsche Beiträge für „Die Bühne“, und seit Mitte der Zwanzigerjahre zunehmend auch für Berliner Zeitungen, wie „Die rote Fahne“. Auch die um 1920 sozialdemokratisch dominierte Wiener Öffentlichkeit, die im Unterschied zum Horthy-Ungarn freie Meinungsäußerung bis zu den von Sozialisten organisierten Aufmärschen und Demonstrationen zuließ, faszinierte und erleichterte es diesen links orientierten Intellektuellen, hier Fuß zu fassen, ihre politischen Ideen weiterzuverfolgen, auch ungarisch zu publizieren und sich in freier, unterschiedlicher, oft widersprüchlicher Weise in Diskussionen über Politik, Gesellschaft oder Kunst einzubringen. Diese gemischten, hybriden Wiener Gruppen und Bekanntschaftskreise repräsentierten jedoch insgesamt nicht nur einen Internationalismus, sie repräsentierten Wien und sie repräsentierten letztlich auch ein anderes Ungarn, als es sich in der politischen Realität damals darstellte, nämlich ein demokratisches, von nationalistischer Enge freies Ungarn, freilich unterschiedlichster kommunistischer (Lukács, Balázs), sozialistischer und linksrepublikanischer (Hatvany) oder sozialliberaler und radikal-demokratischer (Jászi, Polányi) Nuancierung. Diese zum Teil recht unterschiedlichen politischen Standpunkte hatten sich auch auf den Zeitpunkt der Emigration ausgewirkt: Polányi und Jászi waren schon Anfang 1919 nach Wien emigriert, Lukács, Balázs und viele andere erst nach dem Sturz der Räterepublik, in die sie aktiv involviert gewesen waren. So zeichnet sich das Bild der ungarischen Emigranten in Wien keineswegs einheitlich, es war überaus komplex, von Gegensätzen, Widersprüchen, Intrigen und auch von gegenseitigem Argwohn gekennzeichnet, der, wie György Litván festgehalten hat, zuweilen die interne Kommunikation aufgrund des politischen Richtungsstreites schwer belastete. „Ich leide unter den Intrigen und Wirren der Emigration“, notierte daher Jászi 1920 in sein Tagebuch.177 175 Béla Balázs, Ein Baedeker der Seele. Und andere Feuilletons aus den Jahren 1920–1926, hg. von Hanno Loewy, Berlin: Das Arsenal 2002. 176 Béla Balázs, Ein Baedeker der Seele, S. 148–149. 177 Jászi Oszkár naplója 1919–1923, S. 105 (17. April 1920). – Vgl. dazu Litván György,
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Leider steht freilich insgesamt eine „umfassende, selbständige monographische Darstellung der Geschichte der ungarischen Emigration in Wien […] noch aus“, hatte der Komparatist György M. Vajda Anfang der 90er Jahre bedauernd festgestellt, und das gilt auch heute noch. Dies wäre „um so mehr ein Mangel, da die Präsenz der Ungarn in Wien, ihr Verkehr mit den Repräsentanten des österreichischen geistigen Lebens sowie mit den anderen aus dem Gebiet des zerfallenen ‚großen Staates‘ kommenden Schriftkundigen und Künstlern ein Kapitel aus dem virtuellen Weiterleben der Region darstellte ( … )“.178
Wien und die Kroatische Moderne Auch die kroatischsprachige Literatur der Jahrzehnte um 1900 ist mit Wien eng verbunden, in Wien verankert und Teil des Repertoires des symbolischen Kapitals dieser Stadt. Mit anderen Worten: Das kulturell „vielsprachige“ Wien ist ein Ort des Gedächtnisses, an dem sich auch kroatische Erinnerungen aufladen; diese gehören ebenso zu einer kroatischen wie zu einer Wiener Kultur, sie sind mehrdeutig und keineswegs ausschließlich national codiert. Der kroatischsprachige Kommunikationsraum schloss sich hier anderen in der Stadt vorhandenen an, wodurch ein innovatives kreatives Potenzial freigelegt wurde. Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts zog es zahlreiche kroatische Intellektuelle nach Wien, bereits 1817 werden dort akademische Verbände und literarische Vereine erwähnt. Besonders wichtig wurde dann der 1880 gegründete Verein „Zvonimir“, dem zahlreiche Vertreter der kroatischen Moderne, wie Milivoj Dežman oder Ivo Pilar, angehörten. Entscheidend und richtungweisend wurde allerdings erst das Jahr 1895. Als in diesem Jahr, anlässlich der Eröffnung des Kroatischen Nationaltheaters in Zagreb unter Anwesenheit des Kaisers studentische Unruhen ausbrachen, die gegen den magyarophilen symbolischen Gestus des kroatischen Banus Károly (Karl) Írányzatok és viták a bécsi magyar emigrációban (Richtungen und Auseinandersetzungen in der Wiener ungarischen Emigration), in: Litván György, Októberek üzenete (Oktoberbotschaft), Budapest: Osiris 1996, S. 281–317. Kurzfassung unter: www.tankonyvtar.hu/historia-1989-06/historia-1989-06-081012-2 178 György M. Vajda, Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740–1918, Wien u.a.: Böhlau 1994, S. 224 (hier auch weiterführende Literaturangaben).
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Wien und die kroatische Moderne
Khuen-Héderváry gerichtet waren, der ungarische Erde aufschütten ließ, um zu verhindern, dass der Monarch kroatische Erde betritt, wurden zahlreiche revoltierende Studenten aus Zagreb relegiert. Übrigens gab es im selben Jahre ähnliche Proteste der akademischen Jugend im slawonischen Osijek (Essek), die sich gegen ein Gastspiel der ungarischen Veszprémer Bühne richteten.179 Das Theater erwies sich also als jenes wichtige Medium, mit dessen Hilfe kulturelle und nationale Hegemonieansprüche ausgefochten wurden: Waren die Bühnen der Region bis Ende des 19. Jahrhunderts Orte, an denen, wenn auch nur durch fahrende deutsche oder ungarische Wandertruppen, die deutsche oder ungarische Kulturhegemonie und -mission zum Ausdruck gebracht werden sollte, bemächtigten sich ihrer nun zunehmend die nationalen Bewegungen, indem nicht nur mit Stücken nationalen Inhalts, sondern vor allem durch Aufführungen in der „nationalen“ Landessprache die diskursive Konstruktion von Nation vorangetrieben werden sollte, sie wurden durch theatralische Inszenierungen, das heißt mithilfe der „Reproduktion und Zirkulation mimetischen Kapitals“, wie sich Stephen Greenblatt ausdrückt,180 zu nationalen Repräsentationsschauplätzen. Ganz in diesem Sinne wurde vergleichsweise auch die Funktion des deutschen Theaters in Marburg (Maribor) in der damaligen Untersteiermark gedeutet: „Das deutsche Theater ist eine Edelblüte am Baume deutscher Kunst und sie hegen und pflegen ist Sache unserer maßgebenden Körperschaften“, heißt es in einem Artikel in der untersteirischen „Marburger Zeitung“ aus dem Jahre 1909, „denn zumal in Marburg […] ist das Theater ein politischer Faktor geworden.“181 Die relegierten Zagreber Studenten wichen nach Wien und Prag aus, um dort weiterzustudieren, so unter anderem auch einer der Protagonisten der Kroatischen Moderne, Milan Begović. In Wien gründeten die kroatischen Studenten im Jahre 1898 die Zeitschrift „Mladost“ (Jugend), mit der der Beginn der Kroatischen Moderne angesetzt wird, die vor allem von Hermann 179 Vlado Obad, Slavonische Presse, in: Vlado Obad (Hg.), Regionalpresse ÖsterreichUngarns und die urbane Kultur, Wien: Feldmann Verlagsgesellschaft 2007, S. 115–164, Zit. S. 162 (= Österreich-Bibliothek Studienreihe). 180 Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin: Klaus Wagenbach 1994, S. 15. 181 Zit. in: Matjaž Birk, Anja Urekar, Zum Bild der slowenischen Literatur und Kultur in der Marburger Zeitung. In den drei Dekaden (1862–1890) und darüber hinaus, in: Vlado Obad (Hg.). Regionalpresse Österreich-Ungarns S. 85–113, Zit. S. 110.
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Bahr, den Vertretern von „Jung Wien“ und der Secession beeinflusst war und sich explizit für einen künstlerischen Stilpluralismus aussprach. Darüber hinaus öffnete sich die Zeitschrift, die in Wien redigiert und in Zagreb gedruckt wurde, auch der gesamten südslawischen Moderne, es erschienen in ihr daher unter anderem auch Beiträge in slowenischer Sprache.182 Die junge Schriftstellerin Wilma von Vukelich übersetzte Gedichte dieser kroatischen „Jungen“ ins Deutsche. „Begović schrieb mir“, erinnerte sich Vukelich, „er habe meine Übersetzungen dem bekannten österreichischen Schriftsteller und ‚Führer‘ der Wiener ‚Modernen‘ Hermann Bahr vorgelegt, der sie zu den besten gezählt habe, die er kenne.“183 Begović hat diese Überlappung von zwei Kommunikationsräumen in Wien zu Ende des 19. Jahrhunderts in einer Schrift festgehalten: „1898–1899 u Beču. Pokret Moderne i sjajni grad na Dunavu preobrazuju maj duh“ (1898–1899 in Wien. Die Bewegung der Moderne und die prächtige Stadt an der Donau verwandeln meinen Geist). Begović hatte, wie zahlreiche seiner anderen Schriftstellerkollegen, nicht nur in Wien studiert, er übernahm später, von 1912 bis 1919, auch als Dramaturg die Neuen Wiener Bühnen. Inzwischen hatte Hermann Bahr, mit Beginn seiner dalmatinischen Reise 1909,184 wieder regen Kontakt zu kroatischen Intellektuellen aufgenommen, zum Beispiel zu dem Schriftsteller und Dramaturgen Ivo Vojnović.185 Freilich: Ähnlich wie bei den Wiener tschechischsprachigen Intellektuellen schwankte auch bei den Kroaten das Bild Wiens
182 Stefan Simonek, Das Kaffeehaus, S. 55–56. 183 Wilma von Vukelich, Spuren der Vergangenheit. Osijek um die Jahrhundertwende, hg. von Vlado Obad, München: Südostdeutsches Kulturwerk 1992, S. 246. 184 Hermann Bahr, Dalmatinische Reise, Berlin: S. Fischer 1909. Vgl. auch die kommentierte italienische Ausgabe: Hermann Bahr, Viaggio in Dalmazia. Prefazione di Petrag Matvejević, Trieste: MGS Press Editrice 1996. Mit einem Beitrag von Maria Carolina Foi, Il pretesto di un viaggio in Dalmazia S. 115–130. – Vgl. dazu auch: Maria Carolina Foi, Eine pluralistische Identität? Bahr und seine Dalmatinische Reise, in: Moritz Csáky, Richard Reichensperger (Hg.), Literatur als Text der Kultur, Wien: Passagen 1999, S. 195–203. 185 Eugenija Ehgartner-Jovinac, Hermann Bahrs kulturelle Beziehungen zu Kroatien, in: Johann Lachinger (Hg.), „Hermann Bahr – Mittler der europäischen Moderne“. Hermann-Bahr-Symposion, Linz 1998 = Jahrbuch des Adalbert Stifter Instituts Bd. 5/1998, Linz 2001, S. 177–196. Bahr korrespondierte u.a. mit Milan Begović und Ivo und Lujo Vojnović. Vgl. ebd. S. 196, Anm. 104.
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Slowenisches Wien – ivan Cankar
„zwischen Faszination und Ablehnung“.186 Andererseits erschien Wien in der kroatischen Literatur „als ‚ein negativer Held‘: Als Antithese zur Natur, zum Dorf, zur Idylle, zu Kroatien, zur Geborgenheit im Heimatland. Sogar die Modernisten, die in Wien ihre wichtigsten künstlerischen Anregungen empfangen haben, schufen von ihm am häufigsten ein negatives Bild.“187 In einem umfangreichen Beitrag ist Alexandar Flaker auch diesem Phänomen eingehender nachgegangen.188
Slowenisches Wien – Ivan Cankar Ganz im Gegensatz zu den slowenischen Architekten Maks (Max) Fabiani oder Jože (Josef ) Plečnik, die das moderne Wien nachhaltig mitgeprägt haben – Fabiani studierte in Wien, arbeitete unter Otto Wagner an der Stadtbahnstation Karlsplatz mit, erbaute unter anderem die Wiener Urania oder das Geschäftshaus der Kunsthandlung Artaria am Kohlmarkt und war von 1898 bis 1912 Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule, der Otto-Wagner-Schüler Plečnik erbaute unter anderem das Zacherl-Haus an der Brandstätte, die Heilig-Geist-Kirche in Ottakring und nahm eine Professur in Prag an, nachdem Thronfolger Franz Ferdinand eine solche in Wien mit Erfolg verhindert hatte –, wird die Präsenz der slowenischsprachigen Literaten in Wien nur zögerlich wahrgenommen, obwohl die slowenischsprachige Intelligenz schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien einen festen Platz hatte. Hier wirkte der Erneuerer der slowenischen Sprache, Jernej Kopitar, fast vierzig Jahre, ebenso wie Franz Miklošič, der erste Ordinarius des 1849 gegründeten Lehrstuhls für Slawistik; hier promovierte 1828 der erste slowenische „Nationaldichter“ France Prešeren, der – bereits zu seiner Zeit – erkannte, dass die Sprache auch ein Symbol für die konkreten sozialen Verhältnisse und Spannungen sein kann: „Deutsch sprechen in der Regel hier zu Lande / die Herrinnen und Herren, die befehlen, / slowenisch die, so von dem Dienststande /.“189 186 Kašimir Nemec, Marijan Bobinac, Die Wiener und die Kroatische Moderne, in: Die Brücke. Literarisches Magazin 1–2 (Zagreb 1996) S. 139–150, Zit. S. 145. 187 Kašimir Nemec, Marijan Bobinac, Die Wiener und die Kroatische Moderne, S. 145–146. 188 Alexandar Flaker, Das Stadtbild Wiens in der kroatischen Literatur (19. und 20. Jahrhundert), in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet?, S. 437–464. 189 Vera Maria Claricini, Cankars Wien – ein Ausschnitt der Stadt. Das Bild Wiens in der
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IV. ein urbanes milieu in der moderne: Wien
Der bedeutendste Repräsentant der slowenischen Moderne, der Schriftsteller Ivan Cankar, lebte und wirkte zwölf Jahre lang (1897–1909), zwar mit kurzen Unterbrechungen, in Wien. Ohne dass er, angeblich, einen näheren, zumindest kontinuierlichen persönlichen Kontakt zu seinen deutschsprachigen Kollegen gehabt hätte, kannte er deren Werke, vor allem jene von Peter Altenberg, vermutlich auch jene von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal.190 Er gründete einen Klub slowenischer Literaten, verkehrte mit diesen, unter anderem mit Oton Župančič, dem Mitbegründer der slowenischen Moderne, der enge Kontakte zu den Secessionisten und Wiener Literaten unterhielt, vor allem in Cafés und Lokalen der Vorstädte, arbeitete jedoch an seinen Erzählungen und Essays, wie wir wissen, zunächst im Café Wien (Alser Straße/Schlösselgasse), im Café Beethoven (Universitätsstraße), wo sich regelmäßig auch Hugo Bettauer und Stefan Zweig getroffen haben sollen, oder im Café Museum (Karlsplatz/Operngasse), das zu einem wichtigen Umschlagplatz der Wiener Intellektuellen zählte, wo unter anderem auch „Lehár, Korngold, Alban Berg, Oscar Straus, Oskar Maurus Fontana, Kokoschka, Musil, Franz Blei Stammgäste waren“.191 Ebenso verkehrten hier beispielsweise Otto Wagner, Adolf Loos, Gustav Klimt, Egon Schiele und tschechische Zeichner, Architekten, Lyriker und, wie ich schon erwähnt habe, ungarische Intellektuelle.192 Kaffeehäuser waren also, wie bereits angedeutet, wichtige Schnittstellen, an denen Personen, die verschiedenen sprachlichen Kommunikationsräumen angehörten, sich trafen und austauschen konnten, auch wenn sie sich entsprechend den Berufssparten oder Interessen gewöhnlich an unterschiedlichen Tischen niederließen. Solche Tischordnungen sind zwar der Ausdruck für unterschiedliche, differente, jedoch durchaus offene kulturelle Kommunikation, auch wenn Otto Friedländer rückblickend meinte: „Da sitzen zum Beispiel in der rechten Hälfte die Herren von der slowenischen Literatur, in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet?, S. 393–435, Zit. S. 398. 190 Stefan Simonek, Ivan Cankars Kontrastprogramm zur Wiener Moderne, in: ders., Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie, S. 177–213, v.a. S. 177–183. 191 Robert Musil, Tagebücher, hg. von Adolf Frisé. Anmerkungen, Anhang, Register, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 511. 192 Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden, Bd. 1, Wien: Kremayr & Scheriau 1992, S. 532–542.
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Slowenisches Wien – ivan Cankar
Produktenbörse und in der linken die Beamten von einem Ministerium. Kein Mensch von der linken Hälfte kennt irgendwen von der rechten.“193 Cankar selbst hatte sich im Arbeiterbezirk Ottakring als Untermieter bei einer Näherin angesiedelt, was sich auch in die inhaltlichen Darstellungen seines literarischen Schaffens, zum Beispiel in den Erzählungen „Vor dem Ziel“ oder „Die Näherin“ niederschlug:194 „Ich lebte damals im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk, der ganz einer einzigen riesigen Werkstatt gleicht. Dieser Bezirk ist nicht nur die Hochburg der Sozialdemokratie, sondern zugleich ein Heim der Armut und der Schwindsucht. Dort sah ich täglich Dinge, die auch einen geistig seichten und innerlich armen Menschen zum Nachdenken zwingen müßten.“195 Die autobiografische Folie seiner Erzählungen spiegelt das Elend der hier Wohnenden wider, der zumeist zugewanderten Arbeiter, Proletarier, Hausierer, Arbeitslosen und ihrer Kinder vornehmlich aus Böhmen, Mähren oder aus slowakischen Gebieten des damaligen Oberungarn. Es ist eine andere, eine sozialkritische Perspektive, ähnlich den Reportagen von Max Winter, die in den geläufigen Darstellungen über das Wiener Fin de Siècle vielfach ausgespart bleibt.196 Auch in seinem Wien-Roman „Das Haus der Barmherzigkeit“ (1904) entwirft Cankar ein Bild von der Kaisermetropole, in der nicht die glänzenden Palais im Vordergrund stehen, sondern Kellerräume, die von armen „Fremden“ bewohnt werden. Diese sozial- und politikkritische Perspektive dem Machtzentrum Wien und der Monarchie gegenüber ist, wie Irena Samide ausgeführt hat, eine der dominanten Leitlinien der nichtdeutschsprachigen Modernen in Zentraleuropa, sie hat bislang in den deutschsprachigen Darstellungen der Jahrzehnte um 1900 kaum Beachtung gefunden.197 193 Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 217. 194 Ivan Cankar, Vor dem Ziel, in: ders., Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien. Aus dem Slowenischen und mit einem Vorwort von Erwin Köstler, Klagenfurt/Celovec: Drava 1994, S. 58–99. 195 Ivan Cankar, Wie ich zum Sozialisten wurde, in: ders., Weiße Chrysantheme. Kritische und politische Schriften. Aus dem Slowenischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Erwin Köstler, Klagenfurt/Celovec: Drava 2008, S. 286–297, Zit. S. 292–293. 196 Vgl. Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. Main u.a.: Campus ²2000, S. 74 ff. (Ivan Cankar). 197 Irena Samide, „Spieglein, Spieglein an der Wand: wo liegt das holde Neunte Land?“ Der
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Dabei stellte sich, wie Vera Claricini ausführt, für Cankar das Stadtzentrum, in dem er gelegentlich Theatervorstellungen besuchte, „als Opposition zu den Außenbezirken dar, aus denen nur wenige Bewohner, meist zufällig, in die Innere Stadt gelangen. Diese Zweigeteiltheit der Stadt reflektiert sich im Bewußtsein der Figuren, wirkt sich auf ihre Gestik aus, beeinflußt ihr Verhalten, prägt sie […].“198 Cankar identifizierte sich freilich vornehmlich mit dem ökonomisch und sozial benachteiligten vorstädtischen Wiener kulturellen Kommunikationsraum und projizierte diesen in seine literarischen Skizzen. „Die Innenstadt“, meint Stefan Simonek, „erweckt in Cankars Figuren zwar die Sehnsucht nach einer Existenz in anderen und besseren sozialen Umständen, gleichzeitig stellt sie aber auch eine Art Tabuzone dar, die von den Bewohnern der Vorstadt gemieden wird, da diese die Innenstadt mit Reichtum und Schönheit verbinden.“199 Die armen Bewohner der Vorstädte meiden jenen urbanen Raum, der zu einem Symbol für die Gewinner geworden ist. Im Gegensatz dazu beschwört Cankar in einem Brief aus dem Jahre 1901 seine Liebe zu eben diesem „armen“ Wien der Vorstadt: „Für längere Zeit werde ich Wien nun nicht mehr verlassen; ich habe meine Liebe für diese Stadt entdeckt, vor allem für unseren Bezirk mit seinen hundertfünfzigtausend Arbeitern und seiner Armut. Hier fühle ich mich heimisch.“200 Seine Identifikation mit diesem Wien der Vorstadt verdeutlicht Cankar dann nochmals in einem Brief aus dem Jahre 1908 aus Ljubljana, nun jedoch nostalgisch-verklärt: „Jetzt, da ich schon so lange fort bin, kommt mir Wien wie ein Paradies vor …“.201 Freilich gilt es dabei, wie Stefan Simonek zu Recht hervorhebt, zu beachten, dass bei Cankar „die Haupt- und Residenzstadt Wien als ein Ort des Fremden konzeptualisiert wird, der sich außerhalb eines wie auch immer gearteten Kontinuums zwischen Zentrum und Peripherie befindet“, als ein Ort der „Überlagerung und Verknotung heterogener Diskurse im urbanen habsburgische Mythos aus slowenischer Sicht, in: Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen/Basel: A. Francke 2002, S. 201–210, bes. S. 209. 198 Vera Maria Claricini, Cankars Wien, S. 409. 199 Stefan Simonek, Ivan Cankars Kontrastprogramm, S. 188. 200 Zit. in Vera Maria Claricini, Cankars Wien, S. 407. Ebenfalls ��������������������������������� zitiert in Stefan Simonek, Ivan Cankars Kontrastprogramm, S. 186, Anm. 24. 201 Zit. in Vera Maria Claricini, Cankars Wien, S. 407.
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Slowenisches Wien – ivan Cankar
Raum“; und gleichwohl darf auch der kritische, ja negative Blick, den Cankar aus der Perspektive der kolonisierten Slowenen auf den Kolonisator, die deutsch dominierte politische Machtkonstellation der Monarchie wirft, nicht außer Acht gelassen werden. Seine stark slowenisch-nationalistisch gefärbte Antipathie gegenüber dem deutsch dominierten Österreich (Zisleithanien) und seine Polemik gegenüber dem hier vorhandenen deutschsprachigen hegemonialen Machtdiskurs, der mit der deutschsprachigen Realschule in Laibach konnotiert wird, die er besucht hatte202 (slowenischen Schülern standen bis 1914 auf dem Territorium des heutigen Slowenien zum Beispiel zweiundzwanzig Mittelschulen zur Verfügung, davon waren dreizehn deutschsprachig, sieben gemischtsprachig und nur zwei rein slowenisch203) – ähnlich wie Ivan Frankos Aversion gegenüber der aufgezwungenen polnischen Schule –, kann durchaus auch aus einer postkolonialen Perspektive gelesen werden und verweist auf die Spannung und kontinuierliche Krisenanfälligkeit, die heterogenen, hybriden kulturellen Räumen eingeschrieben ist.204 Andererseits betonte Cankar, der die südslawische politische Idee vehement unterstützte, zumindest indirekt immer wieder seine dezentrierte, multiple, multipolare südslawische Identität: „Wenn es jemand bisher nicht gewußt hat, dann hat er jetzt erkennen müssen, daß wir nicht bloß Slowenen sind, und noch weniger bloß Österreicher, sondern daß wir Mitglieder einer großen Familie sind, die den Raum von den Julischen Alpen bis zum Ägäischen Meer bewohnen.“205 Versteht man, wie ich vorgeschlagen habe, unter Kultur einen dynamischen, performativen Kommunikationsraum, finden sich im urbanen Milieu unterschiedliche, sich konkurrenzierende und überlappende sprachlichkulturell und sozioökonomisch abgesicherte Kommunikationsräume vor. 202 Ivan Cankar, Die Realschule, in: ders., Weiße Chrysantheme, S. 313–321. 203 Jože Ciperle, Der slowenische Raum im Einflussbereich des österreichischen Bildungswesens, in: Elmar Lechner, Helmut Rumpler, Herbert Zdarzil (Hg.), Zur Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Probleme und Perspektiven der Forschung, Wien: ÖAW 1992, S. 363–388, Zit. S. 387. 204 Stefan Simonek, Ivan Cankars kritische und politische Schriften in deutscher Übersetzung, Wien: kakanien 2009 = www.kakanien.ac.at/SSimonek11.pdf , v.a. S. 4–6, Zit. S. 5, 6. 205 Ivan Cankar, Die Slowenen und die Jugoslawen, in: ders., Weiße Chrysantheme, S. 298–312, Zit. S. 300.
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Bei den sich konkurrenzierenden Räumen geht es vor allem auch um die permanente Aushandlung und Konstruktion von ökonomisch, sozial und von Bildung geprägten sichtbaren Machträumen, um die Sicherung eines ökonomischen und symbolischen Kapitals, wobei keineswegs alle zu den Gewinnern, vielmehr viele zu den Verlierern zählen, jene nämlich, mit denen Cankar kommuniziert und derer er sich literarisch annimmt. Auf der anderen Seite ist Cankar ein gutes Beispiel dafür, dass er sich in jeweils unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen fast zeitgleich zu bewegen weiß, in jenem der armen, arbeitenden Bevölkerung der Vorstadt, in einem intellektuellen Kommunikationsraum von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten und in zwei differenten sprachlichen Kommunikationsräumen: Cankar schrieb, auch in Wien, in der Regel slowenisch, verfasste jedoch beispielsweise für die Zeitschriften „Die Information“ und „Der Süden“ auch Beiträge in deutscher Sprache.
Fazit: Wiener Literaturen – in der Mehrzahl? „Steht es schon schlecht um die Geschichte der Wiener TschechInnen und deren Repräsentation“, meint Wladimir Fischer, „so fehlen MigrantInnen anderer Herkunft (mit Ausnahme einiger Segmente der jüdischen Migration) in den allgemeinen Geschichtsdarstellungen gänzlich.“206 In der Realität freilich war Wien in den Jahrzehnten um 1900 eine Stadt, in der sich die Vielsprachigkeit der zentraleuropäischen Region widerspiegelte. Auch die literarische Produktion erfolgte hier in verschiedenen Sprachen, eine Tatsache, die von der Literatur- und Kulturgeschichte kaum wahrgenommen und gewürdigt wird, weil die jeweiligen literarischen Werke entsprechend dem nationalen Postulat, das die sogenannte Nationalsprache als das primäre Kriterium für (National-)Kultur und (National-)Literatur ausgab, mit Erfolg ausschließlich in die jeweiligen, voneinander separierten Nationalliteraturen eingegliedert wurden. Was bei der Sicht auf Prag eine Selbstverständlichkeit ist, dass man nämlich hier ohne Weiteres die Präsenz einer gleichwertigen tschechischen und einer deutschen Prager Literatur annimmt, ist bei der Sicht auf Wien keineswegs der Fall. Die hier vorhandenen und real nachweisbaren sprachlich unterschiedlichen Literaturen wurden vielmehr hier, in Wien, aus ihrem 206 Wladimir Fischer, Wege zu einer Geschichte von MigrantInnen, S. 3–22, Zit. S. 9.
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ursprünglichen städtischen lebensweltlichen Kontext herausgerissen, eindeutig nationalisiert und reterritorialisiert, das heißt in einen national codierten territorialen Kontext integriert. Das hatte selbstverständlich auch Folgen für die jeweilige literarhistorische Zuordnung, denn die Sprache wurde auch zum primären Kriterium für die Zuweisung der Literaturen in unterschiedliche Disziplinen. Die heute als selbstverständlich hingenommene „Aufteilung der Welt zwischen Germanistik und Slawistik“ bezeichnete schon Milan Kundera zu Recht als das „Jalta der Universitäten“.207 In der Realität bündelte sich jedoch die Pluralität und Polyzentralität in den urbanen Milieus der Region. So erfolgte beispielsweise in Wien die literarische Repräsentation der Stadt in den Jahrzehnten um 1900, wie Stefan Simonek in seiner eindrucksvollen Studie über die slawische Moderne in der Donaumonarchie nachweisen konnte, nicht, wie heute im Allgemeinen noch immer unreflektiert vorausgesetzt und behauptet wird, ausschließlich durch eine deutschsprachige Literatur, sondern ebenso, zwar aus einer kritischen „distanzierten Nähe“, durch eine autochthone tschechische (Josef Svatopluk Machar), slowenische (Ivan Cankar), polnische (Tadeusz Rittner), ungarische (Lajos/Ludwig Dóczy) oder ukrainische (Marko Čeremšyna) Wiener Literatur. „Distanzierte Nähe“ bedeutet auch, dass Wien selbst der eigentliche Topos dieser Literaturen sein konnte, was zum Beispiel im Wiener tschechischen Roman „Za štětím. Román ze života vídenských Čechů“ (Dem Glück nach. Roman aus dem Leben der Wiener Tschechen) von Karel Klostermann aus dem Jahre 1894 der Fall war, dass aber hier zugleich das Leben der nach Wien zugezogenen tschechischen Arbeiter, Gesellen oder Tagelöhner und ihrer Wiener Gastgeber kritisch abgehandelt und beleuchtet wurde. Pointierter findet sich eine ähnliche Kritik an Wien in den satirisch-ironischen Beschreibungen eines Josef Svatopluk Machar. Freilich musste Wien keineswegs immer der eigentliche literarische Gegenstand sein. Vielmehr spiegelten diese mehrsprachigen Wiener Literaturen, aus unterschiedlichen perspektivischen Zugängen, die lebensweltlichen Realitäten des urbanen Milieus und einer sich in diesem spiegelnden Region, nämlich Zentraleuropas, mit allen ihren Brüchen und Differenzen, die sich in den Städten gleichsam zu einem polyfonen „städtischen Text“ verdichteten. „Auf diese Weise“, so Stefan Simonek, „eröffnete sich unter semiotischer 207 Milan Kundera, Einleitung zu einer Anthologie oder Über drei Kontexte, in: Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne, S. 7–22, Zit. S. 20.
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Perspektive ein Text urbanen Lebens, an dem sowohl die in deutscher Sprache als auch die in slawischen Sprachen schreibenden Autoren in gleichem Maße Anteil hatten und der von diesen Autoren auch entscheidend weiter- und umgeschrieben wurde.“ Eine Situation, die sich auch insofern als durchaus komplex erwies, als viele dieser Autoren, wie der Ukrainer Ivan Franko, der Pole Tadeusz Rittner, der Slowene Ivan Cankar oder der Ungar Ludwig Dóczy, ihre Werke in zwei Sprachen verfassten, nämlich in jener, aus der sie ursprünglich stammten, und auf Deutsch.208 Zudem eröffneten die einzelnen literarischen Produkte, die in unterschiedlichen Sprachen verfasst wurden, unterschiedliche, oft widersprüchliche Lesarten der Stadt; sie entsprachen der Perspektivenvielfalt, die gleichfalls nicht zuletzt in der Heterogenität der zentraleuropäischen Region begründet war. Eine reflektierte wissenschaftliche Thematisierung solcher Phänomene könnte, wie Helga Mitterbauer zu Recht postuliert, in der Tat den Weg zu einer „transkulturellen Literaturwissenschaft“ weisen, in der, wie ich meine, nationale Zugehörigkeiten kein primäres Kriterium mehr sind und auch die konkrete sprachliche Artikulation zuweilen von sekundärer Bedeutung wird.209 Hier wird vielmehr die Stadt, das umfassende urbane Milieu, und nicht die konkrete Sprache und ihre nationale Zugehörigkeit zu einem der bestimmenden Kriterien für die literarische Produktion und auch für eine mögliche Zuordnung dieser Literaturen, ohne damit leugnen zu wollen, dass auch andere, etwa die nationalsprachliche Perspektive, eine bestimmte, jedoch keineswegs ausschließliche Berechtigung haben kann. Es ist dies zum Beispiel durchaus vergleichbar mit der Unterscheidung zwischen einer englischen, amerikanischen, kanadischen 208 Stefan Simonek, Urbane Lektüren in extremis: Der Stadttext Wiens um 1900 auf metasprachlicher, marginaler und karnevalisierter Perspektive, in: Helga Mitterbauer, András F. Balogh (Hg.), Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum, Wien: Praesens 2006, S. 143–155, Zit. S. 143. 209 Helga Mitterbauer, Zentraleuropäische Polyphonie – oder: Überlegungen zu einer transkulturellen Literaturwissenschaft, in: Johannes Feichtinger, Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König, Peter Stachel, Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 325–333. – Vgl. auch Helga Mitterbauer, Konzepte der Hybridität. Ein Forschungsparadigma für den zentraleuropäischen Kommunikationsraum, in: Helga Mitterbauer, András F. Balogh (Hg.), Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum, Wien: Praesens 2006, S. 17–30.
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oder australischen englischsprachigen Literatur, mit einer argentinischen oder chilenischen spanischsprachigen oder brasilianischen portugiesischsprachigen Literatur, wo nicht mehr die jeweiligen (National-)Sprachen, sondern die unterschiedlichen Territorien und vor allem die unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexte von ausschlaggebender, differenzierender Bedeutung geworden sind.
Hybride Polyfonie der Stadt Im Zusammenhang mit meinem Konzept von Kultur als Kommunikationsraum ergeben sich aus diesen wenigen Hinweisen auf unterschiedliche, differente, ja gegensätzliche kulturelle Konfigurationen, die im urbanen Milieu aufeinandertreffen, sich durchdringen, sich kontinuierlich dynamisch beeinflussen und dadurch auch selbst performativ verändern, eine Erkenntnis, die nicht nur von historischem Interesse sein könnte, bestimmte Konsequenzen: Städte, so auch Wien, können, ganz abgesehen von der vertikalen sozial-kulturellen Differenziertheit, nicht mit bloß einer (nationalen) Kultur identifiziert werden. Würde man diesen Städten die kulturelle Polyfonie absprechen und sie nur mit einer Kultur identifizieren, würde das nichts Geringeres bedeuten, als, ohne sich dessen bewusst zu sein, in die Falle eines nationalen Narrativs zu tappen und die Sicht einer homogenen Nationalkultur auf diese Städte zu übertragen. Wenn es zutrifft, dass zum Beispiel Wien durch sprachlich unterschiedliche Literaturen repräsentiert wird, dann gilt dies ganz allgemein ebenso für die vielfältigen, differenten, oft widersprüchlichen dynamischen kulturellen Kommunikationsräume, aus denen sich jene hybride, zumeist nonverbale Kommunikationsform speist, die für die Stadt, vor allem für die Stadt der Moderne, typisch ist. Konkret heißt das: Es gibt nicht „die eine“ Wiener Kultur, vielmehr müsste man von Wiener Kulturen – im Plural – oder über Kulturen, über Kommunikationsräume in Wien sprechen, um so der realen, heterogenen Situation gerecht zu werden. Oder anders gewendet: Das übergeordnete Ensemble einer Wiener Kultur ist von vielen „Spuren“ unterschiedlicher, heterogener Elemente beziehungsweise Codes durchsetzt, von einer „Mehrsprachigkeit“ in einem wörtlichen und übertragenen Sinne. Einer solchen Mehrsprachigkeit entsprechen auch unterschiedliche Wahrnehmungsweisen: Wien, der Prater oder das sozialdemokratische Aufgebot am 1. Mai werden von Personen, die unterschiedlichen Kommunikationsräu203
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men zugeordnet werden können, durchaus unterschiedlich wahrgenommen und unterschiedlich dargestellt.210 Aus einer anderen Perspektive könnte man einer solchen Erkenntnis noch weitere Überlegungen hinzufügen: Die reale Verfasstheit der urbanen Milieus in der Moderne um 1900, nicht zuletzt die Verfasstheit der ehemaligen Haupt- und Residenzstadt Wien, bestand aus einer Akkumulation von Menschen unterschiedlichster kultureller Provenienz, die sich hier in einem jeweils diasporischen, marginalisierten Zustand vorfanden. Ich habe darauf hingewiesen, dass weit über fünfzig Prozent der Bewohner Wiens Immigranten waren, sie waren aus Böhmen, aus Mähren, aus Ungarn, aus Galizien, aus der Bukowina, aus Kroatien, aus der Krain (Slowenien) oder aus Friaul nach Wien gekommen. Sie stammten aus verschiedenen sprachlich-kulturellen Kommunikationsräumen, sie wurden daher von den sogenannten Einheimischen als Fremde wahrgenommen oder zu Fremden gemacht. Und sie fühlten sich hier zunächst tatsächlich als Fremde, als heimatlos Gewordene in der Fremde eines ungewohnten städtischen Milieus. „Mařenka erschrak nicht vor der Fremde“, heißt es in Cankars Erzählung „Im Frühling“, in die der Autor seine eigenen Erlebnisse in der Großstadt Wien einfließen lässt, „überall war die Fremde; einsam, unfreundlich breitete sie sich wie ein grauer Schatten über all diese öden Gassen; und im Flur war sie und im Hof und in der Stube, überall taubes Dunkel. Unbekannte Häuser, unbekannte Menschen, fremde Augen, unverständliche Worte.“211 Diese zu Fremden Gewordenen sahen sich gezwungen, ganz gleich welcher sozialen Schicht sie angehörten oder welchen Beruf sie ausübten, sich an die neue städtische Situation so gut wie möglich anzupassen, indem sie sich an ihren Arbeitsplätzen einer neuen Umgangssprache bedienen mussten, indem sie sich städtische Umgangsweisen anzueignen oder, was als besonders schmerzlich empfunden werden konnte, weil es den privaten Bereich, den häuslichen Alltag betraf, indem sie sich zum Teil auch von ihren ursprünglichen Essgewohnheiten zu verabschieden hatten. Das heißt, was ihnen zu Hause eine Selbstverständlichkeit war, nämlich die tägliche Orientierung in einem gewohnten, verständlichen verbalen und vor allem auch nonverbalen Kommunikationsraum, wurde in der Diaspora, in 210 Vgl. u.a. Stefan Simonek, Urbane Lektüren in extremis, S. 149–151. 211 Ivan Cankar, Im Frühling, in: ders., Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien, S. 130–154, Zit. S. 145.
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der Großstadt, zum Problem. Hier bewegten sie sich gleichzeitig in zumindest zwei konkreten verbalen Kommunikationsräumen, dem deutschsprachigen und in jenem, dem sie ursprünglich angehörten. Das konnte zwar für manche auch eine Bereicherung bedeuten, für die meisten war es aber die Ursache einer großen Verunsicherung. Um dieser entgegenzuwirken, versuchten sie sich in eigenen Bereichen zu organisieren und aufzustellen, zum Beispiel in den tschechischen Vereinen, den Besedy, wo man tschechisch sprach, tschechische Speisen zubereitete oder sich in der eigenen Sprache literarisch betätigen konnte. Die diasporische Situation der Zugewanderten war nicht nur von einer Verunsicherung und als Folge davon von einer Rückbesinnung auf eine vermeintlich ursprüngliche „lokale“ kulturelle Identität gekennzeichnet, von einer nachträglichen Konstruktion dessen, was als „Heimat“ bezeichnet werden kann; von besonderer Bedeutung war die zunehmende Präsenz eines vielfachen, gespaltenen, fragmentierten, gebrochenen, komplexen Gedächtnisses, an das sich Erinnerungen lagerten und das Bewusstsein bestimmten. Das heißt: Menschen, die es in die Diaspora der Großstadt verschlug, hatten nicht nur eine Identität, sie vereinigten eine Vielzahl von sich konkurrenzierenden Identitäten in sich, zum Beispiel eine Identifikation mit Böhmen oder Mähren, wo sie herkamen, eine Identifikation mit ihrem Heimatort, eine Identifikation mit der Stadt, in der sie nun lebten, oder, wie das Beispiel von Ivan Cankar veranschaulicht, die Identifikation mit einem jeweiligen städtischen Bezirk, den sie nur selten überschritten; bei Cankar ist es Ottakring, ein von Arbeitern und Armen bewohnter Vorort Wiens. Darüber hinaus fühlten sie sich auch als Tschechen, Kroaten oder Slowenen, waren aber beispielsweise ebenso in Österreich (Zisleithanien) beheimatet, sie hatten ein wiewohl oft skeptisches Zugehörigkeitsgefühl zu der Gesamtmonarchie, zu „Kakanien“, beziehungsweise zu der Gesamtregion (Zentraleuropa) und, waren sie zum Beispiel Angehörige einer Mittelschicht, entwickelten sie darüber hinaus auch ein gesamteuropäisches, kosmopolitisches Bewusstsein. Vor allem in den nichtdeutschsprachigen Wiener Literaturen gerinnt diese Multipolarität von Identitäten zu einem intellektuellen beziehungsweise künstlerischen Mixtum compositum. Die Vielzahl von solchen „mémoires culturelles“ war das kreative Potenzial, aus dem freilich nicht nur diese Literaturen, sondern auch zahlreiche musikalische Werke, zum Beispiel jene eines Joseph Joachim, eines Carl Goldmark, eines Franz Lehár, Oskar Nedbal oder Emmerich Kálmán schöpften. Aus der Sicht Salman Rushdies 205
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waren sie „Bastarde“, die aufgrund ihrer Komplexität zu einer unerwarteten, kreativen Innovation beitragen konnten. Freilich betraf dies nicht nur die Zugewanderten. Die kulturelle Komplexität, die sich überlappenden und ineinander übergreifenden kulturellen Kommunikationsräume, Schnittstellen und Knotenpunkte, an denen sich unterschiedliche Kulturen begegneten, wurden zu einem allgemeinen, signifikanten Merkmal einer Wiener Befindlichkeit. Diese ist nicht nur im nonverbalen kulturellen Bereich, bei den Essgewohnheiten, in alltäglichen Umgangsformen wahrzunehmen, sie betraf auch den verbalen Bereich und zeigt sich im Konkreten in der Vielzahl von Lehnwörtern aus unterschiedlichen Sprachen, die in die Wiener Umgangssprachen Eingang fanden. Nicht nur die „Wiener“ konkrete, gesprochene oder die musikalische Sprache oder die Alltagskultur sind von vielfältigen, komplexen Spuren durchzogen, die auf die sich hier konkurrenzierenden und überlappenden Kommunikationsräume verweisen und deren Rekontextualisierung ihre gesamtregionale oder über die Region hinausreichende Provenienz verraten, gleichsam eine Einnistung des „Fremden“ in das vermeintlich „Eigene“. Es sind dies Indizien für die Komplexität beziehungsweise Hybridität von kulturellen Identitäten: Gerade die vielen Wörter im Wiener Dialekt oder in den unterschiedlichen Wiener Umgangssprachen, die vor allem den konkreten Sprachen, die hier gesprochen wurden, entlehnt sind212 oder die „nichtdeutschen“ Nachnamen repräsentieren in anschaulicher Weise die hybride Genealogie dieser urbanen Milieus, die nicht nur in Wien, sondern ebenso in anderen Städten wie zum Beispiel in Budapest, Pressburg oder Triest noch bis heute deutlich wahrnehmbar geblieben ist. In Budapest wurden Namen magyarisiert, aus Fischer wurde Halász und aus Müller wurde Molnár, wobei die Übertragung der Familiennamen unter den deutschsprachigen Bürgern vor 1867 oft freiwillig erfolgte, mit der Absicht, sich dadurch mit den politischen Fortschrittsideen der „magyarischen“ Revolution von 1848 zu solidarisieren.213 In Wien, wo sich noch Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Beispiel das tschechische Gedächtnis „in über 14.000 tschechi212 Vgl. dazu u.a. Peter Wehle, Sprechen Sie Wienerisch? Von Adaxl bis Zwutschkerl, Wien: Ueberreuter 2003 (1981). 213 Vgl. Karády Viktor, Kozma István, Név és nemzet. Családnév-változtatás, névpolitika és nemzetiségi erőviszonyok Magyarországon a feudalizmustól a kommunizmusig (Name und Nation. Familiennamenwechsel, Namenspolitik und das Kräfteverhältnis der Nationalitäten in Ungarn vom Feudalismus bis zum Kommunismus), Budapest: Osiris 2002.
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schen Familiennamen bei 198.000 Trägern spiegelt“,214 wurde es üblich, die Namen zumindest phonetisch der deutschen Sprache anzugleichen und ihre „fremde“ Provenienz so zu kaschieren: Aus Dvoržák (Hofer) wurde Dworschak, aus Lešnják (Förster) Löschnak, aus Nemec (Deutsch/er) Nemetz, aus Jaroš Jarosch oder aus Čermák Tschermak. Die historische Provenienz beziehungsweise Mehrfachidentität von Personen und Familien ist zum Teil bei „mehrsprachigen“ Doppelnamen, zum Beispiel bei der Verleihung von Adelsprädikaten besonders augenfällig, wie im Falle der Triestiner freiherrlichen Familie „Pascotini-Juriskovič von Hagendorf und Ehrenfels“. In Analogie dazu verweist Stuart Hall, in Anlehnung an Aimé Césaire und Leopold Sen ghor, auf die komplexe Identität der Bewohner Jamaikas, die drei identitätsstiftende „Präsenzen“ aufweist: die Présence Africaine, die Présence Européenne und die Présence Americaine. Sie wären in Jamaika von prägender Bedeutung, weil sie historische Prozesse wie Sklaverei, Kolonisierung, Diaspora oder europäische Hegemonialansprüche, die hinter diesen Präsenzen verborgen wären, offenlegen würden.215 Identitäten in urbanen Milieus Zentraleuropas weisen, was ihre historische Genealogie betrifft, auf ähnliche, das heißt gleichfalls durchaus differente, identitätsstiftende kulturelle Kontexte. Auch eine Wiener Identität, versucht man ihre kulturellen Rahmungen oder Felder zu dekonstruieren, weist eine vergleichbare Mehrfachcodierung auf. Wien sei nicht eine rein deutsche Stadt, Wien sei eine „österreichische Stadt […]. Wien ist das Zentrum der polyglotten Monarchie“, argumentiert die „Allgemeine Slavische Zeitung“ im Jahre 1848, und die Wiener tschechische Zeitung „Vídeňský Posel“ stimmt dem bei: Wien sei „nicht rein deutsch, sondern auch slavisch, magyarisch und italienisch, denn jeder hat hier seinen König und ist hier zuhause“. Einer ähnlichen Argumentation begegnen wir 1865 in den „Slavischen Blättern“: „Die Untertanen romanischer, ungarischer, slavischer Zunge (haben) auf die gemeinsame Hauptstadt ein ebensolches 214 Walter Steinhauser, 250 Jahre Wienerisch, in: Zeitschrift für Mundartforschung 21 (1952/53), S. 165. Zit. nach Peter Ernst, Die Tschechen in Wien und ihr Einfluss auf das Wienerische. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch im multilingualen Stadtzentren Mittel- und Osteuropas. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Wien: Praesens 2008, S. 99–107, Zit. S. 102. 215 Stuart Hall, Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument ²2000, S. 34–43.
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Recht wie die dem deutschen Idiom Angehörigen.“216 Wir sind es in Folge der Vorgabe des nationalen Narrativs, wonach nur eine Identifikation möglich wäre und jedes Individuum und jede Gesellschaft sich für eine (nationale) Identität zu entscheiden hätte, kaum mehr gewohnt, die völlig heterogenen Schichten des Palimpsestes, in dem die Mehrdeutigkeit unserer kulturellen Genealogien ruht, nicht nur nicht zu negieren, sondern sie auch positiv wahrzunehmen und zu akzeptieren. Ich erinnere mich, wie der Moderator einer Fernsehdiskussion, die Ende der Achtzigerjahre in Budapest stattgefunden hat und zu der auch ich eingeladen war, um keine Verwechslung aufkommen zu lassen, bei der Vorstellung der Diskutanten das Publikum mit leiser Ironie und entschuldigend ausdrücklich darauf hinwies, dass der Diskutant, der Österreich vertreten würde, einen ungarischen Namen habe, während der Budapester Diskutant Herr Professor Niederhauser heiße. Nichts sagt wohl mehr aus über das nationale Klischee, das sich so erfolgreich in unseren Köpfen eingenistet hat und daher kaum mehr hinterfragt wird, als diese wohl witzig gemeinte erklärende Bemerkung aus dem Munde eines Wiener Diskussionsleiters, die gerade im Rahmen eines Gesprächs über Zentraleuropa im Grunde genommen durchaus verzichtbar gewesen wäre.
Schnittstelle Prater Wenn der Sozialdemokrat Ivan Cankar in seinen Werken vor allem auf die Verlierer der Modernisierung beziehungsweise auf die „andere Seite“ der Moderne, auf die Kultur der Proletarier, auf die armen Arbeiterinnen und Arbeiter und auf das Elend der Näherinnen – bei einer solchen wohnte er in Ottakring – und Bauarbeiter oder auf deren verwahrloste Kinder aufmerksam macht, ist es unter anderem der Wurstelprater, der für diese Marginalisierten eine wichtige kommunikative kulturelle Schnittstelle darstellt. Der Wurstelprater ist ein bekannter Vergnügungsort am Gelände des Praters, eines ehemaligen kaiserlichen Jagdreviers, das schon 1766 von Joseph II. der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Im Wurstelprater bündelten sich die sozialen und sprachlichen Kommunikationsräume der Stadt und durchdrangen sich bisweilen in einem dynamischen Prozess. Stefan Simonek hat, wie bereits kurz angedeutet, in seiner Studie über Josef Svatopluk Machar auf den 216 Zitate in: Günther Wytrzens, Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins, S. 33–34.
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„diametral entgegengesetzten Blickwinkel“ hingewiesen, mit dem einerseits Machar und andererseits die Repräsentanten des Jung Wien den Prater thematisieren: Die Schriftsteller der Wiener Moderne widmen sich vornehmlich, so die These Simoneks, „der aristokratischen Abgeschiedenheit der Gegend“: „Und Nachmittag“, sagt beispielsweise im ersten Akt des „Rosenkavalier“ von Hugo von Hofmannsthal die Marschallin zu Octavian, in typischer Anspielung auf den „aristokratischen“ Prater, „werd ich Ihm einen Lauffer schicken, Quin-quin, und sagen lassen, ob ich in Prater fahr. Und wenn ich fahr, und Er hat Lust, so wird Er auch in Prater kommen und neben meinem Wagen reiten.“217 Machar hingegen würde den „plebejischen Vergnügungsmöglichkeiten im Wurstelprater“ seine Aufmerksamkeit zuwenden.218 Freilich: Eine der wenigen Ausnahmen unter den deutschsprachigen Wiener Darstellungen des Praters zur Zeit der Moderne ist jene von Felix Salten aus dem Jahre 1911; Salten war Mitglied des literarischen „Jung-Wien“. Bei Salten ist, ähnlich wie bei Machar, vom aristokratischen Prater keine Rede mehr, vielmehr führt seine Beschreibung, anhand der Fotografien von Emil Mayer, dem Leser einen Prater vor, den Wurstelprater, einen Treffpunkt und Vergnügungsort der Armen und von Personen aus sozialen Randgruppen, an welchem sie all ihre Sorgen und die Mühen des Alltags zu vergessen oder zu verdrängen suchen. Zugleich erscheint der Wurstelprater als ein transitorischer Ort, an dem man sich nur kurz, vorübergehend aufhält, vielleicht ein „Nicht-Ort“ im Marc Augéschen Sinne; er bleibt aber dennoch einer jener Knotenpunkte, an dem die sprachlich-kulturelle Heterogenität der Stadt sichtbar, erfahrbar und erlebbar wird. Exemplarisch verdeutlicht dies Salten am sogenannten Fünfkreuzertanz, einer Tanzunterhaltung, an der teilzunehmen man um einen geringen Betrag Zutritt hatte. Dieser Tanz versetzt die Teilnehmenden in einen anderen, vom Alltag unberührten Raum des Trostes, gleichsam in eine Heterotopie in Michel Foucault’schen Sinne,219 in der man 217 Hugo von Hofmannsthal, Der Rosenkavalier, in: ders., Gesammelte Werke. Dramen V: Operndichtungen, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 9–104, Zit. S. 42–43. 218 Stefan Simonek, Josef Svatopluk Machars Parallel- und Gegenwelten zur Wiener Moderne, S. 97 ff. 219 Michel Foucault, Andere Räume, in: Jan Engelmann (Hg.), Michel Foucault – Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, Berlin: Deutsche Verlagsanstalt o.J., S. 145–157.
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sich wie in einem Spiegel erkennt und sich zugleich distanziert fremd bleibt, was vor allem für jene zutrifft, die aus der Ferne in die Stadt zugewandert sind: „Für alle die Einfachen und Niedrigen, die aus den bunten Provinzen des Reiches in Wien zusammen strömen, für alle die Jugend, die aus Dörfern und kleinen Städten in die Großstadt zieht, um da zu arbeiten, ist hier ein Trost.“220 Hier treffen also Vertreter unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kommunikationsräume aufeinander und indem sie sich einem illusorischen Vergnügen hingeben, überlappen sich diese Kommunikationsräume und bilden einen neuen Raum, der sich über die anderen Räume wölbt. In Konkurrenz zu den „fremden“ Kommunikationsräumen tritt jener der deutsch sprechenden „Einheimischen“. Diese begegnen den „Fremden“ zuweilen mit Argwohn und eingeübten Ausgrenzungsstrategien: „‚I bin ja net aus Podiebrad‘, und er glaubt fest daran, daß ein Podiebrader, und wenn er ein Genie ist, den letzten Fünfhauser nie erreichen kann; er macht sich keine Sorgen, ‚Denn der Weana geht net unta!‘ und das muß wahr sein, weil es alle singen.“221 Der Strizzi macht sich über einen „Fremden“ in k. k. Uniform lustig, indem er ihn einen „Bem“ nennt, worauf dieser „böhmakelnd“ wirsch entgegnet: „Sie – e! Sie dirfens mi kane Bem sag’n – i dien bei Milidär.“222 Der Beschimpfte ist, seiner Aussprache nach, ganz offensichtlich ein Tscheche, findet seine primäre Identifikation jedoch nicht in seiner Zugehörigkeit zur tschechischen Nation, sondern in dem „gemeinsamen“ Militär, als Uniformierter empfindet er sich als übernationaler Österreicher. Auf die die nationalen Gegensätze überwindende Funktion des gemeinsamen Heeres hatte schon 1866 ein Artikel in der „Neuen Freien Presse“ ironisch aufmerksam gemacht: „Wir haben Magyaren und Czechen, Slovenen und Italiener, Croaten und Szekler; bringt aber jemals ein Sohn dieser hochschätzbaren Nationen, wenn er in der Fremde um seine Herkunft gefragt wird, die Worte über die Lippen: Ich bin ein Oesterreicher? Das fällt ihm gar nicht ein, solange er den Civilrock trägt. Nur wenn er aus dem Kreise seiner Familie herausgerissen und in eine Kaserne gesteckt wird, zieht er mit der Uniform den neuen Menschen, den Oesterreicher an; 220 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien: Promedia 2004, S. 71. 221 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater, S. 8. 222 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater, S. 55.
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der Feldwebel ist der Träger der Reichs-Idee. […] Das Mittel, die österreichischen Unterthanen in Oesterreicher zu verwandeln, wäre also leicht gefunden: Man uniformiere sie.“223 Später sollte auch Oszkár Jászi in seiner überaus realistischen und kritischen, doch zuweilen etwas vereinfachenden „sozialpsychologischen“ Sicht auf den Untergang der Monarchie auf diese übergeordnete, völkerverbindende Funktion des gemeinsamen Heeres zurückkommen; Jászis scharfsichtige Diagnose entspricht einer politischen Einschätzung der Monarchie, die er, der Gründer der ungarischen „Bürgerlichen Radikalen Partei“, auch in anderen seiner durchaus politisch motivierten Schriften zum Ausdruck gebracht hatte, seine Darstellung sollte, als verbindlicher Reader an amerikanischen Universitäten, Generationen von amerikanischen Scholars ein nur wenig hinterfragtes Bild über den Zustand der Monarchie vermitteln: „Das gemeinsame Heer bildete einen eigenen Staat im Staate“, so Jászi, „deren ,Bürger‘ […] ihr Leben lang in erster Linie den Geist ihrer Kameraden und Bataillone, nicht jedoch den ihrer Nation in sich aufnahmen.“224 Bereits in einer Prater-Beschreibung von Max Konody aus dem Jahre 1880 wird auf die Menschen aus durchaus heterogenen sozialen Schichten und vor allem auf die vielen Fremden hingewiesen: „Alle Stände, alle Nationalitäten, alle Confessionen treiben sich jetzt durcheinander.“ Nicht nur die Besucher des Praters sind national und sprachlich ein bunt gemischtes Publikum, auch die Darsteller auf den Bühnen sind es und bilden ein exotisches Ensemble, das eine besondere Anziehungskraft auf die Zuschauer ausübt: „Dort preist ein herabgekommener Jüngling, an dessen Seite ein Neger zu Pferde sitzt, die große internationale Künstlergesellschaft an, welche sich in seiner Centralhalle producirt; am meisten empfiehlt er die französischen und ungarischen Chansonettensängerinnen, die ‚deutschen und jüdischen Komiker‘, und das Hippodrom, dessen Pferde einer Race angehören, welche ein Abwerfen geradezu unmöglich machen.“225 Im Saal wird Ländler, Kreuzpolka und Csárdás aufgespielt, „die beschei223 Neue Freie Presse, 21. 2. 1866, zit. in: Markus Erwin Haider, Im Streit um die österreichische Nation. Nationale Leitwörter in Österreich 1866–1938, Wien u.a.: Böhlau 1998, S. 158. 224 Jászi Oszkár, A Habsburg-Monarchia felbomlása (Der Zerfall der Habsburgermonarchie), Budapest: Gondolat 1983, S. 219–227, Zit. S. 222. 225 Max Konody, Wiener Straßenbilder (1880). Zit. in: Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, S. 66.
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dene Tanzmusik der armen Leute“,226 es sind dies jedoch auch Tänze, die um 1900 zu musikalischen Repräsentationsfiguren für Wien geworden sind, sie finden sich zum Beispiel auch in der Rhythmik der Wiener Operette, in der die „fremde“ Folklore, die zunächst von den aus verschiedenen Gegenden der Region in die Stadt Zugewanderten mühelos decodiert werden konnte und zur eigenen, zur Wiener Musik geworden war. Der österreichische Ländler, die böhmische Polka und der ungarische Csárdás öffnen jene unterschiedlichen kulturellen Räume, denen diese Tänze entstammen. In diesem Sinne argumentiert auch Felix Salten: Beim Erklingen des Ländlers „ist hier Steiermark, Salzburg, Tirol, irgendein Alpenland, daß (sic!) seine Kinder umfängt“. Bei der Kreuzpolka „ist hier Böhmen, ist hier das sonnige Hügelland von Mähren und die üppig prangende Ebene der Hanna“. Beim Csárdás ist es Ungarn, das sich als Illusion im Tanzsaal ausbreitet.227 In einer früheren Version dieses Textes macht Salten explizit auch auf die Mehrdeutigkeit, auf das differenzierende Moment solcher Tänze aufmerksam, denn der Ländler wird von den Städtern als Walzer, von den vom Land Hinzugezogenen als Ländler verstanden: „Ein Ländler begann […]. Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zugereisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war’s eben nur wieder ein Walzer, die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wiegen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Arbeit traktieren, und das Bauerng’wand schien unter mancher Uniform jetzt sichtbar zu werden.“228 Salten interpretiert, wie schon angedeutet, die verschiedenen Volkstänze nicht bloß als Identifikatoren für unterschiedliche, differente Kulturen, hier im Tanzsaal überlappen sich in der musikalischen Darbietung diese differenten Kommunikationsräume und bilden einen neuen, übergreifenden, die Differenzen überwölbenden nonverbalen, hybriden musikalischen Kommunikationsraum, der den aus unterschiedlichen Gegenden Zugewanderten verständlich ist, in dem sie sich jedoch, in der Großstadt, auch wieder nur als Fremde wiedererkennen: „Und ob nun die Musik einen Walzer spielt, 226 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater, S. 72. 227 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater, S. 74–75. 228 Felix Salten, Fünfkreuzertanz, in: ders., Das österreichische Antlitz. Essays, Berlin: S. Fischer 1910, S. 49–58, Zit. S. 57.
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einen Ländler, eine Kreuzpolka oder einen Czárdás, allen diesen Menschen hier ist eines gemeinsam: daß sie fremd sind in dieser riesigen Stadt, von deren Arbeitsmühlen sie verschlungen, in ihrem Wesen entfärbt, zerrieben und verbraucht werden.“229 Felix Salten rückt also im Wurstelprater die sozial Unterprivilegierten in den Vordergrund, seien es die zugewanderten Fremden oder der einheimische Prolet, der Strizzi, Falott oder Gauner, die hier, wie in Paris der Flaneur, der Dandy oder der Bohemien, zu literarischen Leitfiguren einer anderen Wiener Moderne avancieren. Auch in den Wiener Inszenierungen von Ferenc (Franz) Molnárs „Liliom“ in der Übertragung und Bearbeitung von Alfred Polgar, die mit der Wiener Erstaufführung im Theater in der Josefstadt am 28. Februar 1913 beginnen, wird der Protagonist des Stückes, der Gauner Liliom, aus dem Vergnügungsviertel des Budapester Stadtwäldchens (városliget) in den Wiener Wurstelprater versetzt, was schon die Regieanweisung nahezulegen scheint, in der es heißt: „Das Budapester Stadtwäldchen (ein Vergnügungsort ähnlich dem Wiener Prater).“230 Es ist dies in einem wörtlichen und übertragenen Sinne ein translatorischer Prozess und unterstreicht zugleich die dominante Verankerung des Topos „Prater“ im gesellschaftlichen Bewusstsein. Erst in dieser Wiener Adaptierung, das heißt nicht zuletzt durch die Kontextualisierung mit dem Wiener Wurstelprater, wurde Molnárs Stück zu einem Welterfolg.231 Im Gegensatz zu solchen thematischen Schwerpunkten wird in anderen, früheren Praterdarstellungen vornehmlich ein Ort vorgestellt, an dem sich Repräsentanten unterschiedlicher sozialer Schichten, unterschiedlicher vertikaler städtischer Kommunikationsräume und andeutungsweise auch die Zugewanderten, das heißt solche, die den traditionalen horizontalen kulturellen Räumen der Region entsprechen, vermischen. In „De L’Allemagne“ beschrieb Germaine de Staël, Tochter des ersten bürgerlichen Finanzministers unter Ludwig dem XVI., Jacques Necker, eines gebürtigen Genfers, die Eindrü229 Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter, Werner Michael Schwarz (Hg.), Felix Salten: Wurstelprater, S. 76. 230 Ferenc Molnár, Liliom. Vorstadtlegende in sieben Bildern und einem szenischen Prolog. Für die deutsche Bühne bearbeitet von Alfred Polgar. Nachwort von Otto F. Beer, Stuttgart: Reclam 1997 (2007), S. 4. 231 Anton Bauer, Das Theater in der Josefstadt zu Wien, Wien/München: Manutiuspresse 1957, S. 147–148.
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cke über ihren Wien-Besuch im Jahre 1808. Sie verkehrte zwar vornehmlich in aristokratischen Kreisen, beobachtete aber auch den Zustand, die Sitten und Gebräuche anderer Bevölkerungsschichten. Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ bei ihr der Prater, über dessen räumliche Ausdehnung und soziale Funktion sie sich beeindruckt zeigte: „Alle Abende stellt sich hier die gute Gesellschaft zu Wagen, das Volk zu Fuß ein. In einem so ruhigen Lande wird das Vergnügen wie eine Pflicht behandelt, und führt noch obendrein den Vorzug mit sich, daß man dessen, bei aller Einförmigkeit, nicht müde wird.“232 Der Prater ist also eine Schnittstelle der Begegnung unterschiedlicher Bevölkerungsschichten, auch wenn der direkte Umgang des „Volkes“ mit der „guten Gesellschaft“ wohl kaum stattgefunden hat. Während „ganze Familien von Bürgern und Handwerkern gegen fünf Uhr abends nach dem Prater ziehen, um im Prater so reichlich zu vespern, als wäre es ein vollständiges Mittagessen“,233 fahren die oberen Stände hier, wie später Hofmannsthal im „Rosenkavalier“ andeuten sollte, in Kutschen an, zuweilen „von den unscheinbarsten Mietswagen zum Halten gebracht“, und finden ihr Vergnügen darin, „in den Alleen des Praters diejenigen wiederzuerkennen, die sie soeben in einer Gesellschaft verließen […]. Der Kaiser und seine Brüder schließen sich, wie alle übrigen, der Reihe an und wollen bei einem gemeinschaftlichen Vergnügen nicht mehr ausgezeichnet sein als jeder Privatmann.“234 Im Prater begegnet Madame de Staël auch den vielen nach Wien Zugewanderten, die durch ihre Kleidung von anderen deutlich unterschieden werden können; auch der in diesem Zusammenhang geäußerte Hinweis auf die Musik dürfte sich auf die verschiedenen folkloren musikalischen Idiome beziehen: „Man bemerkt oft in diesem Gewimmel orientalische, ungarische, polnische Trachten. Diese regen die Einbildungskraft an, so wie in gewissen Entfernungen aufgestellte Musikchöre durch ihre Harmonie dem Haufen das Ansehen eines ruhigen Landfestes geben, wo jeder für sich genießt, ohne sich um seinen Nachbarn zu kümmern.“235 Madame de Staël, könnte man sagen, nimmt nicht nur die Fremden in der Stadt wahr, sie konstruiert gleichermaßen, ge232 Madame de Staël, Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814, Frankfurt a. Main: Insel 1985, S. 57. 233 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 58. 234 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 59. 235 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 59.
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rade in einer Zeit des nationalen Erwachens, an dem fremdländischen, exotischen Charakter der Stadt, der Wien von anderen Städten „Deutschlands“ unterscheidet. Während Madame de Staël den Wurstelprater nur kurz streift, ist dieser in dem Prater-Essay Adalbert Stifters aus dem Jahr 1841 der Mittelpunkt des Geschehens.236 Betritt man den Prater, gelangt man zunächst, so Stifter, „zu einem riesenhaften Garten“, in den die „riesenhafte Residenz“ „ihre Bevölkerung ausgießt, und doch noch Teile genug leer lässt für den einsamen Wandler und Beobachter“.237 Stifter vertieft sich einerseits in die Schilderung von Menschenmassen unterschiedlichster sozialer und nationaler – zum Beispiel kroatischer – Provenienz, die hier anzutreffen sind, andererseits verweist er auf die vielen Exotismen, auf das „exotische Schreien und Pfeifen und Girren und Brüllen im Inneren“, die den Reiz dieser Stätte, des Wurstelpraters, ausmachen: „… das ist denn nun eigentlich der Ort, wo sich augenbetäubend Farbe an Farbe drängt, Reiz auf Reiz, Pracht auf Pracht, Masse an Masse, Bewegung auf Bewegung, so daß dem schwindelt, der es nicht gewohnt ist.“ 238 Stifter entgeht auch nicht die völlige Durchmischung des Publikums, Adelige, reiche Bürger, Kaufmannsdiener, Arbeiter oder Studenten vermischen sich und bilden sogar mit der sie umgebenden Tierwelt, zum Beispiel den Hirschen in den Praterauen, eine symbiotische Einheit. Und ebenso wie Madame de Staël erwähnt Stifter die Präsenz des Kaisers, der von der ihn umgebenden Menschenmenge geschützt wird, wie der in den Pariser Straßen lustwandelnde Louis Philippe: „Der Kaiser, die Kaiserin. Du wunderst dich? Hast du dies in Paris nicht gesehen? Hier grüßt man und staunt nicht, daß sie wie Private unter Privaten fahren; man ist es gewohnt, und sie wissen, daß sie im dichtesten Volksgedränge so sicher sind, wie in ihrem Palaste.“239 Stifter verweilt freilich keineswegs nur bei den oberen Schichten: Unter die Besu236 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, in: Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe, München: Winkler 1968, S. 319–330. 237 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 319. 238 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 321. 239 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 323.
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cher des Praters mischen sich auch Menschen, die dazu verurteilt sind, ihre „Lebenszeit in dumpfen, engen Werkstätten zuzubringen mit einem dumpfen engen Geiste […]“; hier hat der Arbeiter die Möglichkeit, „daß er auch einmal sein Auge auftue, seine Seele erweitere, und Lust und Freude walten lasse“.240 Auf diese sozialpsychologische Funktion für die marginalisierte und unterprivilegierte Arbeiterschaft verweist später auch Salten, sie wird aber auch vorher in Praterbeschreibungen erwähnt, die zeitlich jener Stifters nahe kommen und die indirekt die Situation des Industrieproletariats reflektieren. So zum Beispiel in einer Reisebeschreibung Wiens aus dem Jahre 1848 von Therese von Bacheracht: „Hier bewegen sich die wiener Blousenmänner, die Proletarier, die Unumwundenheit, der phrasenlos-natürliche Volkston; hier wogt eine Masse, die sinnliches Behagen für Schadloshaltung der schweißbedeckten Arbeitsanstrengung hält.“241 Eine besondere Funktion kommt im Wurstelprater der Musik zu, einem vielfältigen, widersprüchlichen, sich andauernd konkurrenzierenden tönenden Gewölbe mit die Nerven reizenden Exotismen: „… eine Musik schallt durch die Zweige, sie heißt nicht umsonst die türkische – die große Trommel eilt und tummelt sich, und ein Geschimmer ist darunter, als wäre eine Messingbude närrisch geworden […].“242 Die Reichhaltigkeit der unterschiedlichen musikalischen Genres reflektiert unterschiedliche Volksschichten und unterschiedliche „nationelle“ Zugehörigkeiten, zum Beispiel die ungarische, repräsentiert durch die „exotische Poesie“ der Musik der Zigeuner, wie das folgende Zitat aus Stifters Prater-Beschreibung belegt: Denn „nun kommen auch noch die Zigeuner, seltsame, starre Gesellen, ein Traum aus einer urfrühen Zeit der Weltgeschichte übrig gebliebene Gestalten, unberührt von der Gegenwart; darum wirst du gleich hören, wie sie, und wären sie schon ein Menschenleben lang im Prater gesessen, dennoch unberührt von dem Geist und der Weise unserer Töne ihr uraltes Klingen anheben, feurig melancholisch, wie ihr Auge, und phantastisch verworren hinschlürfend […] so macht sich ihre Musik doch Platz – als ein fremdes Element und schreit und 240 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 325. 241 Therese von Bacheracht, Eine Reise nach Wien, Leipzig: F. A. Brockhaus 1848, S. 151. 242 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 324.
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singt aus der andern heraus, erkennbar auf so weit, als man überhaupt Töne vernehmen kann.“243 Der Prater, auch der Wurstelprater, verwandelt sich bei Stifter unmittelbar in einen imaginären Ort von verbalen und nonverbalen, zum Beispiel musikalischen Kommunikationen, zu einer kulturellen Schnittstelle der Begegnung des Eigenen mit dem vermeintlich Exotisch-Fremden oder: der Konstruktion des Exotisch-Fremden, um sich einer eigenen Identität zu versichern. Er spiegelt insofern nicht nur die konkrete urbane Situation wider, sondern ebenso auch die der Gesamtregion, der Peripherie, die in einer antizipierten postkolonialen Attitüde im Zentrum der Haupt- und Residenzstadt Wien gegenwärtig und sichtbar wird. Stifters literarisches Verfahren verknüpft zwar die unterschiedlichen sozialen Gruppierungen und weist ihnen unterschiedliche kulturelle Bedeutungen zu, die jedoch insgesamt zur Orientierung dienen und zu Identifikatoren für all jene werden, die sich an diesem Ort der realen und metaphorischen „Konversation“ vorfinden. Unterhaltung, Kommunikation oder Translation wird hier unmittelbar zu einer konkreten Schnittstelle für die performativen Verschränkungen von differenten kulturellen Codes; diese werden zwar zunehmend auch als eigene rezipiert, gehen jedoch nicht vollständig ineinander auf, sondern behalten, trotz wechselseitiger Prozesse von kulturellen Transfers, weiterhin ihre eigene, „fremde“ Konfiguration, wie zum Beispiel die „fremd“ anmutenden Elemente der Zigeunermusik. Wesentlich später sollte sich der Prager Universitätsprofessor Miloslav Hýsek an das „Fremde“ und doch wieder ganz zu Wien, nicht nur zum Prater Gehörige dieser Musik erinnern. Hýsek unternahm während seines Wien-Aufenthaltes zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Freunden gelegentlich Ausflüge, man wechselte dann „ins Café Central und von dort irgendwohin zu einer Zigeunermusik, wo wir uns bis über Mitternacht aufhielten. Keiner von uns war ein Lebemann, aber in der Donaustadt sein und die Zigeuner nicht spielen hören? Das war eine ganz andere Atmosphäre, als jene, an die ich gewöhnt war; […] Mich lockte der Prater nicht.“244
243 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 326. 244 Miroslav Hýsek, Erinnerungen, in: Christa Rothmeier (Hg.), Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien, S. 463–478, Zit. S. 476–477.
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Schnittstelle Secession In aller Kürze soll nun noch auf eine weitere, durchaus unterschiedliche Schnittstelle aufmerksam gemacht werden, an der die kulturellen Kommunikationsräume der zentraleuropäischen Region und Gesamteuropas zusammentrafen und ineinander übergingen. Die 1897 gegründete Wiener Secession zählte fünfzig ordentliche Mitglieder,245 die aus verschiedenen Regionen der ehemaligen Monarchie stammten und an mehreren Ausstellungen mit eigenen Werken vertreten waren, während zu den korrespondierenden Mitgliedern Vertreter des übrigen Europa zählten. Aus Böhmen oder Mähren stammten unter anderen die Maler Vojtech Hynais, Luděk Marold, Alfons M. Mucha und Bedřich Ohmann, Maximilián Pirner, aus Krakau beziehungsweise Galizien Vertreter der „Młoda Polska“ (Junges Polen) oder der Krakauer Künstlervereinigung „Sztuka“ (Die Kunst) wie Teodor Axentowicz, Stanisław Dębicki, Juljan Fałat, Jacek Malczewski, Józef Mehoffer, Jan Grzegorz Stanisławski, Wacław Szymanowski, Włodzimierz Tetmajer, Leon Wyczółkowski und Stanisław Wyspiański, bedeutender Maler, Dramatiker und Reformer des polnischen Theaters.246 Die meisten von ihnen waren bereits auf der ersten Ausstellung (1898) mit eigenen Werken vertreten – zu diesen zählte auch Emil Orlik –, andere präsentierten ihre Werke während der kommenden Jahre, wie zum Beispiel der Kroate Ivan Meštrović, Bildhauer und Architekt, der an der Wiener Akademie der bildenden Künste studiert, zu Hermann Bahr einen engeren Kontakt hatte und von 1903 bis 1905 an vier Secessions-Ausstellungen mit eigenen Werken vertreten war, oder der Slowene und Otto-Wagner-Schüler Jože Plečnik, der 1901 und 1902 hier eigene Werke vorstellte. Das erste Heft der zunächst von Hermann Bahr und Max Burckhard, dem ehemaligen Direktor des Hofburgtheaters, redigierten Zeitschrift „Ver Sacrum“ (1898–1903) verkündete den sozial-kulturellen Anspruch der Modernen beziehungsweise der Secessions-Ausstellungen: „Wir wollen eine Kunst ohne Fremdendienerei, aber auch ohne Fremdenfurcht und Fremdenhaß [...]. Wir kennen keine Unterscheidung zwischen ‚hoher Kunst‘ und ‚Kleinkunst‘, zwischen Kunst 245 Katalog der I. Kunstausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs [1898], Wien: Wiener Bibliophile Gesellschaft 1986 (Nachdruck), S. 8–9. 246 Vgl. Christian M. Nebehay, Ver Sacrum 1898–1903, München: dtv 1979.
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für die Reichen und Kunst für die Armen. Kunst ist Allgemeingut.“247 Dieses für die Moderne symptomatische Kunstverständnis, das zu einer Zeit, als in vielen Bereichen durch das nationale Narrativ „nationale Kunst“ beziehungsweise Kultur propagiert wird, für Kosmopolitismus eintritt und das die Unterscheidung zwischen repräsentativer und Alltagskunst eliminieren möchte, entspricht durchaus dem weit gefassten Kulturbegriff, der unter Kultur das Ensemble aller Elemente versteht, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren. Hermann Bahr versuchte dieses Motto auf seine Art in die Tat umzusetzen, indem er Führungen für Arbeiter durch die Ausstellungen veranstaltete: „Jeden Sonntag in der Früh von 8 bis 10 führe ich in der Ausstellung der ‚Sezession‘, die meine größte Freude ist, Arbeiter herum, sie bezahlen zehn Kreuzer und kriegen dafür nicht nur den Eintritt, sondern auch dazu den Katalog, der sonst dreißig Kreuzer kostet, und nun ist es ein Vergnügen zu sehen, mit welcher Aufmerksamkeit sie mir zuhören, der ihnen auf eine ruhige und sachliche Art die Absichten der Maler erklärt.“248 „Ver Sacrum“ veröffentlichte bereits im ersten Heft ein Gedicht des führenden Dichters der tschechischen Moderne Jaroslav Vrchlický und im sechsten einen Beitrag von Mehoffer.249 Übrigens veröffentlichte später Hofmannsthal in der „Tschechischen Anthologie“, dem 21. Band seiner Österreichischen Bibliothek, Gedichte von Vrchlický, Antonín Sova und Otokar Březina. Neben der Secession waren auch andere Künstlervereinigungen wie das Künstlerhaus, die Genossenschaft der bildenden Künstler Österreichs oder der Hagenbund wichtige Schnittstellen sich überlappender Kommunikationsräume, so waren „in den Wiener Organisationen […] Mitglieder aus allen Ländern der Donaumonarchie vertreten“.250 Eine ähnliche Funktion erfüllten die Technische Hochschule und die Wiener Akademie der bildenden Künste, die Ateliers und „Schulen“ von Architekten, die in Wien arbeiteten, oder Galerien, wie die Galerie Miethke in der Dorotheergasse, die 1904 Künst-
247 Christian M. Nebehay, Ver Sacrum, S. 35. 248 Hermann Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater. Ausgewählt von Adalbert Schmidt, Wien: H. Bauer 1971, S. 418 (Brief vom 25. April 1898). 249 Christian M. Nebehay, Ver Sacrum, S. 262, 264. 250 Dieter Klein, Wiener Architektureinflüsse in den Städten der Donaumonarchie, in: Wiener Geschichtsblätter 63/3 (2008), S. 31–63, Zit. S. 33.
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ler der slowenischen Moderne präsentierte.251 Über die zahlreichen ungarischen Studenten der Akademie und ihre ungarischen Preisträger gibt es ein ausführliches Verzeichnis.252 Im Atelier Sicardsburg und van der Nüll findet sich nicht nur Otto Wagner oder Heinrich Ferstel, sondern ebenso der Prager Josef Zítek, der das Prager Nationaltheater und das Rudolfinum erbaute. Dem Büro Heinrich Ferstels gehörten viele Polen an, unter anderem Juljan Niedzielski, Jan Zawiejski oder Władysław Ekielski. Mehr als vierzig Schüler Otto Wagners kamen aus Böhmen und Mähren. Der Verkehr und Austausch von Künstlern unterschiedlicher Länder der Region hatte zur Folge, dass trotz der immer stärker betonten subregionalen, das heißt nationalen architektonischen Unterschiede gewisse verbindende Leitlinien zu einem prägenden Merkmal der Baustile der zentraleuropäischen Region wurden.253
Alte Furcht vor „Überfremdung“: Verwelschung Wiens? Die Anwesenheit von „Fremden“ in Wien und die Angst, das vermeintlich „deutsche“ Wien – eine Projektion von ideologischen Vorurteilen auf die Zusammensetzung seiner Bevölkerung – würde „verfremdet“, ist freilich ein Topos, der nicht nur auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt werden kann. Bereits für das beginnende 18. Jahrhundert hat Hans Tietze, der in einer Monografie über Wien (1931) durchwegs deutsch-österreichisch, bisweilen sogar großdeutsch, im Sinne des Alten Reiches, argumentiert, auf die Gefahr der „Verwelschung“ der Stadt durch die vielen aus italienisch-, spanisch- oder französischsprachigen Gebieten Zugewanderten aufmerksam gemacht: „Faßt man die Urteile so vieler Fremder, daß sie sich vom ersten Tage an in Wien wie zu Hause gefühlt haben, zusammen, so bekommt man nicht nur den Eindruck einer internationalen, sondern noch mehr den einer überfremdeten Stadt; daß Wien nun in den Jahren dieser engen Beziehungen zu den spanischen, italienischen, belgischen Provinzen dennoch nicht verwelscht worden ist, kommt daher, dass das parallel dazu erfolgte Anwachsen der Geltung Ös251 Vgl. Ivan Cankar, Die Slowenischen Künstler in Wien, in: ders., Weiße Chrysantheme, S. 135–144. 252 Fischer Gyula, Magyarok a Bécsi Képzőművészeti Akadmémián (Ungarn an der Wiener Akademie der Bildenden Künste), Budapest: Magyar Tudományos Akadémia 1935. 253 Ákos Moravánszky, Die Architektur der Donaumonarchie, Berlin: Wilhelm Ernst & Sohn 1988.
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terreichs im Reiche gleichzeitig ein starkes Anschwellen des deutschen Elements zur Folge hatte.“254 Diese Einschätzung der „Überfremdung“ Wiens dürfte, folgt man der Argumentation von Peter Stachel, einer nationalen Perspektive „von außen“, das heißt von Deutschland her entlehnt sein; sie wird unter anderem in einem in Leipzig 1855 erschienenen Reiseführer von Gustav Kühne vertreten. „Die österreichische, insbesondere die wienerische Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts“, schreibt Peter Stachel, „mit ihrem italienischen Einfluss und dem prägenden konfessionell-katholischen Element war aber vielfach […] aus national deutscher Sicht als ‚verwelscht‘ und ‚undeutsch‘ kritisiert worden.“255 Sucht man Belege aus dem 18. Jahrhundert, vertrat freilich schon der Berliner Friedrich Nicolai, der 1781 eine Reise durch Deutschland und die Schweiz unternahm und sich dabei auch in Wien aufhielt, ganz vehement eine ähnliche Position. Nicolai richtete seine Kritik vor allem gegen die Aufführungspraxis auf den Wiener Bühnen, an denen zahlreiche französische und italienische Stücke gegeben wurden. Nach dem Besuch einer Vorstellung des „Orfée“ von Christoph Willibald Gluck im Kärntnertortheater ließ er seinem Ärger freien Lauf: Es „sollte sich jeder Deutscher“, so Nicolai, „der es mit der deutschen Literatur gut meint, um jedes ausländische Schauspiel wenig bekümmern, das sich in Deutschland zeigt, um das deutsche Schauspiel zu hindern und zu verderben. Ich habe mich daher sehr gewundert, daß Wiener Dramaturgisten sehr umständlich und sogar mit Eifer und Wärme von französischen Gesellschaften geredet haben, die in Wien spielten; gerade als ob es ein Vorzug wäre, fremde Schauspieler zu haben. Man lasse das ausländische Schauspiel den Hofleuten, den bei uns wohnenden Fremden, oder wer sonst daran Geschmack findet, denn man muß niemandes Geschmack zwingen wollen; aber kein deutscher Gelehrter, keiner dem deutsche Literatur am Herzen liegt, muß solche ausländische Sachen gleich den inländischen geltend zu machen suchen. In den Wienerischen Dramaturgien wird gewöhnlich von den ausländischen Schauspielen mit einer Wichtigkeit gesprochen, als ob sie auch zur Sache gehörten. Das sollte nicht sein [...]. So mangelhaft die 254 Hans Tietze, Wien. Kultur / Kunst / Geschichte, Wien/Leipzig: Dr. Hans Epstein 1931, S. 253. 255 Peter Stachel, Albert Ilg und die „Erfindung“ des Barock als österreichischer „Nationalstil“, in: Moritz Csáky, Federico Celestini, Ulrich Tragatschnig (Hg.), Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007, S. 101–152, Zit. S. 133, 150 (Anm. 193).
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deutsche Schaubühne jetzt noch ist, so gibt sie doch dem Vaterlande Hoffnung für die Zukunft: dies gibt aber eine ausländische Schaubühne niemals. Wir werden doch nicht Ausländer werden wollen? In Wien hat man jetzt wieder eine Truppe italiänischer musikalischer Possenspieler, die auf dem sogenannten Nationaltheater die Hälfte der Tage spielen, und den Beifall mit den deutschen Schauspielern mehr als teilen.“256 Nicolai gehörte offensichtlich zu jenen, die an der Schaffung einer nationalen Identität der Deutschen interessiert waren; die Konstruktion einer solchen nationalen Identität sollte explizit durch den Ausschluss aller Fremdelemente erreicht werden, die Nicolai gerade in Wien, der Hauptstadt des Reiches, reichlich vorfand und die ihn besonders irritierten.257
Plurikulturelles Wien Nach London, Paris und Neapel war Wien im Jahre 1780 die viertgrößte Stadt Europas und zählte mit seinen Vorstädten ca. 197.000 Einwohner, freilich betrug der Anteil von Zugewanderten, vornehmlich aus der Monarchie oder auch aus dem Ausland, damals nur 5,8 Prozent, 1798 waren es bereits 8 Prozent.258 Im 19. Jahrhundert stieg der Fremdenanteil stetig: 1827 waren 12,6 Prozent der Bevölkerung „Fremde“, 1837 bereits 30,5 Prozent und 1840 43,1 Prozent. Dennoch wurden diese „Fremden“ in einer fast übertriebenen Weise wahrgenommen, verkehrten sie doch zu Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich in der 1306 Gebäude umfassenden Inneren Stadt mit ihren ca. 52.000 Einwohnern. Hier begegnete man ihnen, die überwiegend aus Böhmen, Mähren oder Ungarn stammten, tagtäglich als Beamten am Hof, als Bediensteten des Adels, als Angehörigen des Militärs, als Händlern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden oder als Arbeitern und Taglöhnern. „Damit der Wiener sein verträumtes, un256 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 4. Zit. nach Wolfgang Albrecht (Hg.), Friedrich Nicolai, „Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig.“ Satiren und Schriften zur Literatur, Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer 1987, S. 277–278. 257 Vgl. Wolfgang Martens, Zum Bild Österreichs in Friedrich Nicolais „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz 1781“, in: Anzeiger der Phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 116 (1979), S. 45–67. 258 Günther Chaloupek, Peter Eigner, Michael Wagner, Wien. Wirtschaftsgeschichte (= Geschichte der Stadt Wien Bd. V). Wien: Jugend und Volk 1991, S. 659 ff, S. 668 ff.
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pünktliches, an kleinen Freuden und Genüssen so reiches Leben führen könne“, wird Otto Friedländer konkreter, indem er auf die gleiche Situation hundert Jahre später aufmerksam macht, „arbeitet unauffällig und still eine Präzisionsmaschine, deren rastlose und fleißige Arme die Tschechen sind. Sie sind unsere Schneider und machen unsere schönen Kleider; sie sind unsere Schuster und machen unsere schönen Schuhe; sie geigen und blasen unsere schöne Musik; sie kochen unser gutes, gesundes Essen; sie zimmern und polieren unsere schönen Möbel; sie kutschieren unsere schönen Equipagen; sie sind die umsichtigen und verlässlichen Feldwebel unserer Armee; sie tragen die prächtigen Livreen des Kaisers und der hohen Herrschaften, und die milchstrozenden Brüste der böhmischen Ammen nähren die Wiener Kinder.“259 Es entstand also insgesamt jene Optik, die für zeitgenössische Wienbeschreibungen so charakteristisch ist, in denen, im Vergleich zu den anderen europäischen Großstädten, immer wieder auf den hohen Fremdenanteil der Stadt aufmerksam gemacht wird. Wien war infolge von Zuwanderungen nicht nur vielsprachig, in Wien entfaltete sich auch ein internationales intellektuelles Leben, das unter anderem auf die Ausbildung der „nationellen“ Sprachen großen Einfluss ausübte. Johann Wenzel Pohl, der Tschechischlehrer Josephs II., verfasste hier im Jahre 1756 seine „Böhmische Sprachkunst“, sie erschien in einer zweiten Auflage unter dem Titel „Verbesserte Böhmische Grammatik“ 1783, verlegt bei Trattner in Wien. An der Universität wurde schon 1775 ein Lehrstuhl für die tschechische Sprache errichtet, die Prager Universität erhielt einen solchen erst 1791.260 Im gleichen Jahr wurde ein Ungarischlehrstuhl an der Pester Universität eingerichtet, erst 1806 erhielt auch die Wiener Universität eine außerordentliche Professur für ungarische Sprache. Ihr Lehrstuhlinhaber, József (Josef) Márton, war der Verfasser zahlreicher ungarischer Grammatiken und umfangreicher Wörterbücher, die allesamt in Wien erschienen, eines „Ungarischen Lesebuches, sammt dazu gehörigen Wörterbuch“ (1805), das in einer überarbeiteten und stark erweiterten Fassung 1809, und dann wieder 1838 unter dem Titel „Leichtfassliche und theoretisch-praktische Grammatik der ungarischen Sprache für Schüler der unteren Classen“ neu aufgelegt wurde. Es waren dies insgesamt nicht unbedeutende Grammatiken und Sprachlehrbücher, die in deutscher Sprache erschienen und die Lehrbücher 259 Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 120. 260 Vgl. Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München: C. H. Beck 1987, S. 300–302.
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in den jeweiligen Heimatländern beeinflussten. Wien war seit 1760 auch der Sitz der von Maria Theresia gegründeten Ungarischen Leibgarde, an der im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche bedeutende ungarische Schriftsteller vertreten waren und einen eigenen intellektuellen Zirkel bildeten. Hier wurde zum Beispiel von György (Georg) Bessenyei 1781 die Idee einer ungarischen Sprachgesellschaft entworfen. Er und seine Kollegen, wie z.B. Sándor (Alexander) Báróczi, verfassten ihre Werke ungarisch oder deutsch, manchmal auch lateinisch oder französisch, sie erschienen zumeist in Wiener Verlagen.261 Wien war also Ende des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Knotenpunkt des kulturellen Transfers, von hier aus gelangten Inhalte der französischen oder deutschen Aufklärung nach Ungarn oder Böhmen. Zugleich wurde, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Geschichte und Literatur dieser Völker, zum Beispiel „Heldengestalten“, Sagen und Märchen, einem deutschsprachigen Publikum vermittelt. Joseph von Hormayr und sein Kreis hatten daran einen nicht geringen Anteil. Das Auffällige an den erwähnten tschechischen oder ungarischen Initiativen in Wien war jedoch unter anderem, dass die jeweils eigenen kulturellen Inhalte und Sprachen nicht nur in den angestammten Sprachen repräsentiert wurden, sondern vor allem auch auf Deutsch; deutschsprachige Geschichtswerke, wie jene von Johann Graf Mailáth oder Johann Christian von Engel über Ungarn, oder die deutschsprachigen tschechischen und ungarischen Grammatiken hatten dann einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der jeweiligen Volkssprachen, auf die Kenntnis über die Geschichte oder Volkskultur der jeweiligen Heimat. Es war dies ein Verfahren, das einer postkolonialen Perspektive sehr ähnlich ist: Indische kulturelle Inhalte werden im 20. Jahrhundert beispielsweise in englischer Sprache vermittelt und wirken durch dieses „koloniale“ sprachliche Medium befruchtend auf Indien zurück. In ähnlicher Weise übten die deutschsprachigen Werke tschechischer oder ungarischer Wiener Schriftsteller und Gelehrter beziehungsweise tschechische oder ungarische 261 Vgl. Moritz Csáky, Die Präsenz der ungarischen Literatur in Wien um 1800, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1979, S. 475– 489. – Moritz Csáky, Der Stellenwert Wiens im Prozeß des kulturellen Austauschs zwischen West- und Südosteuropa um 1800. Am Beispiel Ungarns, in: Richard G. Plaschka, Karl Heinz Mack (Hg.), Wegenetz europäischen Geistes. Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Wien: Geschichte und Politik 1983, S. 356–369.
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Grammatiken in deutscher Sprache einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung und das kulturelle Selbstbewusstsein der jeweiligen Völker aus. Arjun Appadurai spricht in diesem Zusammenhang von den „kulturellen Dynamiken der Enträumlichung“.262 Diese Charakterisierung trifft auch auf die heterogenen kulturellen Formationen Zentraleuropas zu, zumindest im 18. und 19. Jahrhundert. Wien wurde schon im 18. Jahrhundert zum Zentrum, zur geheimen geistigen Hauptstadt unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kommunikationsräume. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war hier, vor allem was die Wiener Ungarn betrifft, der hohe und mittlere Adel dominant, er diente als Katalysator für einen vielfältigen kulturellen Transferprozess, für „einen Prozess der Hybridbildung […] durch den eine globale Melange entsteht“.263 Anstelle von „global“ kann hier „gesamtregional“ beziehungsweise „europäisch“ eingesetzt werden und die Melange betraf vor allem das Ergebnis von kulturellen Prozessen in den hybriden urbanen Zentren. „Wien ist meine Wohlthäterinn“, bekannte der aufgeklärte Gardeschriftsteller György Bessenyei 1774 in dem deutschsprachigen philosophischen Dialog „Die Amerikaner“, „diese dritte Königin der Welt; sie nahme mich aus dem Staube auf ihre Arme auf, um mir die Wunder der Erschaffung, ihre eigene Größe und die Bestimmung meines Daseins zu zeigen.“ 264 Insgesamt blieb die Bedeutung Wiens als einer der kulturellen Brennpunkte der zentraleuropäischen Region auch in den nachfolgenden Jahrzehnten unbestritten, wie unter anderem Johann Csaplovics 1829 bezeugt: „Die Vermöglichsten wohnen allda meist beständig, oder halten sich dort wenigstens einen großen Theil des Jahres auf, oder reisen wenigstens mehrmals im Jahre nach Wien […]. Wer in Wien eine Zeit lang lebte, kommt ganz verwandelt zurück, und spielt zu Hause mit einem gewissen […] Vornehmthun einen Deutschen in Kleidung und Sprache.“265 Er kommt also zurück, aber als ein 262 Arjun Appadurai, Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1998, S. 11–40, Zit. S. 13. 263 Jan Neverdeen Pieterse, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft S. 87–124, Zit. S. 87. 264 Zit. in: Pukánszky Béla, A magyarországi német irodalom története (Geschichte der deutschen Literatur Ungarns), Budapest: Budavári Tudományos Társaság 1926 (= Német Philologiai Dolgozatok XXXI), S. 428. 265 Johann von Csaplovics, Gemälde von Ungern, Bd. 1, Pesth: C. A. Hartleben 1829, S. 220–221.
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Hybrider, durchsetzt von kulturellen „Fremdelementen“. In Wien und in anderen urbanen Milieus der zentraleuropäischen Region befanden und befinden sich sprachlich unterscheidbare kulturelle Kommunikationsräume nicht nur in Konkurrenz zueinander, sie sind entgrenzte, entterritorialisierte, relationale, das heißt sozial andauernd verhandelte beziehungsweise aushandelbare „Räume“ und gehen ineinander über. Als solche befinden sie sich allerorten aber auch in einer jeweils minoritären, diasporischen Lage, in Zuständen von Hybridbildungen aus einer jeweils bereits hybriden konkreten Verfasstheit. Es kann dies als die Antizipation von Prozessen angesehen werden, die auch die gegenwärtige kulturelle Globalisierung bestimmen. Zumeist waren es ausländische beziehungsweise selbst zugewanderte Beobachter, denen die vielen „Fremden“ in Wien im Vergleich zu anderen europäischen Städten besonders auffielen. Die große Zahl an Zuwanderern wurde also bereits im 18. Jahrhundert immer wieder thematisiert, so auch in zum Teil anonymen, umfangreichen Stadtbeschreibungen, um Reisende aus dem Ausland vor allem auf die Eigentümlichkeiten der Stadt und ihrer Bevölkerung aufmerksam zu machen. Die Einwohner Wiens, macht ein Führer durch die Monarchie aus dem Jahre 1789 kund, „sind vorzüglich Deutsche, Ungarn, Böhmen, Italiäner, Niederländer, Raizen, Griechen, Juden; auch Franzosen, Polen, Türken – Am häufigsten wird deutsch, italiänisch und französisch; auch böhmisch, ungarisch, slavonisch, und neugriechisch gesprochen.“266 Diese Feststellung findet in zahlreichen vergleichbaren Wien-Beschreibungen ihre Bestätigung: „Ein schönes Schauspiel für die Augen gewährt hier die Mannigfaltigkeit der Nationalkleidungen aus verschiedenen Ländern“, meinte der aus der Oberpfalz über die Schweiz nach Wien zugewanderte josephinische Schriftsteller Johann Pezzl: „Die Stadt ist nicht in der einförmigen gewöhnlichen deutschen Tracht wie die meisten übrigen europäischen Städte. […] Was die innere unmerkbarere Verschiedenheit der Bewohner Wiens betrifft, in dieser Rücksicht ist es wahr, daß keine Familie ihre einheimische Abstammung mehr bis in die dritte Generation hinaufführen kann. Ungarn, Böhmen, Mährer, Siebenbürger, Steiermärker, Tiroler, Niederländer, Italiener, Franzosen, Bayern, Schwaben, Sachsen, Schlesier, Rheinländer, Schweizer, Westfäler, Lothringer usw. usw. wandern unaufhörlich in Menge nach 266 Geographisch- und topographisches Reisebuch durch alle Staaten der österreichischen Mo narchie, Wien: Rudolf Gräffer und Komp. 1789, S. 4.
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Wien, suchen dort ihr Glück, finden es zum Teil und naturalisieren sich. Die originalen Wiener sind verschwunden. Eben diese Mischung so vieler Nationen erzeugt hier jene unendliche Sprachenverwirrung, die Wien vor allen europäischen Plätzen auszeichnet.“267 Etwas später fügt er hinzu: „Es ist keine der untergebenen Provinzen, die nicht stets einige ihrer Söhne in Wien hat; darum verhandelt man hier seine Geschäfte, darum unterhält man sich hier in allen jenen Sprachen und Zungen, die vom Pruth bis an die weit entfernte Schelde gesprochen werden.“268 Die Beobachtung Pezzls, die originalen Wiener wären aufgrund der ständigen Zuwanderungen verschwunden, entspricht der Wahrnehmung einer Stadt mit einem wachsenden Fremdenanteil, sie kehrt mehr als hundert Jahre später (1903) auch in der sarkastischen Wien-Parodie Josef Svatopluk Machars wieder, der meinte: „Es gibt keine alten Wiener Familien unter den Wienern.“269 Ähnlich wie Pezzl argumentierte zur selben Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, auch der Deutsche Kaspar Riesbeck. Er nahm nicht nur die Bevölkerungsmenge einer rapide anwachsenden „modernen“ Großstadt wahr, die Walter Benjamin mithilfe literarischer Vorlagen für das Paris des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet hat, er machte auch auf den Unterschied Wiens zu anderen europäischen Metropolen des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufmerksam, nämlich auf die sprachlich-kulturelle Heterogenität, die diese Stadt kennzeichnete: „Nach dem Essen legte ich mich ans Fenster der Gaststube, woraus ich einen großen Theil einer der gangbarsten Straßen dieser Stadt, nähmlich der Kärnthnerstraße überschauen konnte. Das Gewimmel ist nicht viel geringer, als das in der Gegend der neuen Brücke zu Paris, und es sieht hier viel bunter aus. Türken, Raizen, Pohlen, Ungarn, Kroaten, und ich glaube auch Panduren und Kosaken und Kalmucken, durchkreuzen auf eine stark abstechende Art den dicken Schwarm der Eingebornen, der sich in unglaublicher Stille durch die Straßen drängt. Entweder weiß man hier nichts zu reden, oder man scheut sich laut zu reden.“270 Die Sprachlosigkeit der städtischen Massen wird ein halbes Jahrhundert später auch in der Beschreibung Londons von Friedrich Engels hervorgehoben; Massen von Leuten gehen aneinander vorüber, 267 Johann Pezzl, Skizze von Wien, S. 21–22. 268 Johann Pezzl, Skizze von Wien, S. 50. 269 Josef Svatopluk Machar, Wien, S. 288. 270 Kaspar Riesbeck, Briefe über Wien (Wien ²1790), S. 6.
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„als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten“.271 Die Sprachlosigkeit in Wien mag freilich vornehmlich in der jede Kommunikation erschwerenden konkreten Vielsprachigkeit seiner Bewohner gelegen sein. Oder wollte Riesbeck damit auch einen indirekten, kritischen Hinweis auf die seit Mitte der Achtzigerjahre des 18. Jahrhunderts zunehmende politische Überwachung geben, die es für die Menschen klüger erscheinen ließ, lieber zu schweigen als laut zu reden, um nicht Gefahr zu laufen, belauscht und womöglich überführt zu werden? Ich habe bereits erwähnt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1808) Madame de Staël eine Reise durch „Deutschland“ antrat und dabei zunächst Österreich besuchte. Wien sei ihrer Ansicht nach, was Architektur und Lebenswandel betrifft, eher eine italienische, denn eine deutsche Stadt: „Die Straßen sind eng, wie in den italienischen Städten; die Paläste erinnern an Florenz, kurz, nichts ähnelt dem restlichen Deutschland, ausgenommen einige gotische Gebäude.“ Und: „Das tägliche Lustwandeln im Prater zu einer bestimmten Stunde ist eine italienische Sitte.“272 Auch sie weist, ähnlich wie Riesbeck, auf die stille, fast lautlose Unterhaltung der Wiener und versucht dafür eine Erklärung zu geben: „Allabendlich kehren die Männer zu Tausenden in die Stadt zurück, ihre Frauen am Arm, ihre Kinder bei der Hand führend; keine Unordnung, kein Streit erhebt sich in dem Gewirre; kaum hört man sie sprechen, so still und stumm ist ihr Vergnügen. Ihr Stillschweigen hat nichts weniger als eine gemütliche Traurigkeit zum Grunde; es ist weit eher eine Folge des physischen Wohlbehagens, das im südlichen Deutschland über Empfindungen, wie im nördlichen über Ideen, brüten läßt.“273 Auch ihr sticht im Prater, wo vom Kaiser angefangen alle Stände der Gesellschaft verkehren, das „Fremdländische“ in die Augen, nämlich Zugewanderte aus der Gesamtregion, die sich durch ihre Kleidung, durch ihre unterschiedlichen Volkstrachten von den Einheimischen unterscheiden. Sie verkehrt in Wien vor allem in der oberen Gesellschaft, und nicht nur im Alltag des Praters, sondern auch hier bestätigt sich für sie, im Unterschied zum restlichen „Deutschland“, ein Übergewicht von „Fremden“ beziehungsweise „Fremdheiten“, zum Beispiel 271 Friedrich Engels. Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke Bd. 2, Berlin: Dietz 121990, S. 225–506, Zit. S. 257. 272 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 55–57. 273 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 58.
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in den geistreichen Salons, die von Frauen beherrscht würden und in denen man ausschließlich französisch spreche: „Die Fremden wissen den Reiz ihrer Unterhaltung zu schätzen; was man aber am seltensten in den großen Konversationssälen der Hauptstadt von Deutschland antrifft, sind – Deutsche.“274 Und: „Man hält es in Wien für Sache des guten Geschmacks, französisch zu sprechen; obwohl doch der Ruhm und sogar das Gefällige jedes Landes im Nationalgeist und Nationalcharakter besteht.“275 Schließlich weist sie konkret auf die Herkunft von Personen hin, die die Konversationen der großen Salons bestimmen; man beachte, dass hier eigenartigerweise abermals, wie schon bei der Beschreibung des Praters, der Hinweis auf das Östliche, auf das „Orientalische“ eine Rolle spielt: „Die Polen und Russen bezauberten in Wien die gute Gesellschaft. Dadurch, daß sie bloß französisch sprachen, trugen sie viel zur Verbannung der deutschen Sprache in den höheren Zirkeln bei. Die Polinnen haben ein unendlich verführerisches Wesen; sie verbinden orientalische Einbildungskraft mit der Geschmeidigkeit und der Lebhaftigkeit des französischen Geistes.“276 Das Orientalische ist, Edward Saids Orientalismusthese gleichsam antizipierend, bei Madame de Staël eine besonders markante Kennzeichnung, das heißt eine Metapher für die Konstruktion von etwas Fremdem, das zu einem Merkmal von Differenz gegenüber dem restlichen, einförmigeren, sprachlich homogeneren „Deutschland“ wird oder, wenn man so will, gegenüber einer homogeneren westlichen Gesellschaft, die auf einer europäischen, und eben nicht auf einer „orientalischen“ Zivilisation beruht. Bei den Polinnen der Wiener Salons treffen beide aufeinander: das Fremde, Orientalische und das Eigene, nämlich das Französische, wobei diese beiden gegensätzlichen Merkmale beziehungsweise Eigenschaften, die in einer Person vereinigt sind, das Exotisch-Reizvolle erst evozieren und zugleich anziehend machen. Das Orientalische in und an Wien fällt auch Frances Trollope auf. Sie hielt sich 1836/1837 acht Monate lang in Wien auf und beschrieb, obwohl sie sich, ähnlich wie Madame de Staël, vornehmlich in der vornehmen Gesellschaft bewegte, in ihrem Reisebericht ausführlich die vielfältige Zusammensetzung der Bevölkerung der Stadt: „Die Bevölkerung ist tatsächlich aus so vielen Nationen zusammengesetzt, daß ein solches Nebeneinander von 274 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 64. 275 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 65. 276 Madame de Staël, Über Deutschland, S. 69.
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Gruppen unbedingt voll malerischer Reize ist.“277 Im Unterschied zu London und Paris, wo man ebenfalls Fremden begegnet, diese jedoch nicht zur eigentlichen Bevölkerung der Stadt zählen, sei es in Wien umgekehrt. Obwohl ihr Interesse auch den Böhmen, Ungarn, Slawoniern oder Kroaten gilt, bezieht sie sich ausführlicher auf den „orientalischen“ Charakter der Stadt: „Wenn man vor einem der schönsten Häuser der Stadt stehen bleibt und fragt, wem es gehöre, so lautet die Antwort: ‚Sina, dem griechischen Kaufmann.‘ Geht man an einem großen Kaffeehaus vorüber, das anscheinend Treffpunkt reicher Leute ist […] so findet man sich von Turbanen und Kaftanen und Meerschaumpfeifen umgeben. Die prächtig gekleideten Gäste tun so, als ob sie durch ihre stattliche Kleidung und Überzahl willkommen wären, statt dreinzusehen, als wären sie melancholische Wanderer in einem fremden Lande. Sie betrachten Wien so sehr als ihre Heimat, als hätten sie niemals die Stadt belagert oder St. Stephan barbarisch beschossen.“278
Wien – keine „deutsche“ Stadt Wie stellt sich ein solches urbanes Gesellschaftsbild zwei Generationen später dar? In einer auch heute noch lesenswerten Charakteristik Wiens, die Franz Servaes, ein aus Berlin Ende der Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts nach Wien zugewanderter, aus dem Rheinland stammender Journalist um 1907/1908 verfasst hatte279 – aus dem gleichen Jahr stammt übrigens eine emphatische Wien-Eloge des Berliner Ökonomen Werner Sombart280 –, sind 277 Frances Trollope, Briefe aus der Kaiserstadt, hg. von Rudolf Garstenauer, Frankfurt a. Main: Societäts-Verlag 1980, S. 176. 278 Frances Trollope, Briefe aus der Kaiserstadt, S. 177. 279 Franz Servaes, Wien. Briefe an eine Freundin in Berlin, Leipzig: Klinkhardt & Biermann o.J. (1908). Servaes war in Wien u.a. Mitarbeiter der Neuen Freien Presse. – Vgl. auch die Erinnerungen von Servaes an seine Wiener Zeit: Franz Servaes, Grüße an Wien, Berlin/Wien/Leipzig: Paul Zsolnay 1948. – Über Servaes vgl. auch Peter Sprengel, Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth, Wien u.a.: Böhlau 1998, S. 115–151. 280 Werner Sombart, Wien, in: „Morgen“ (19. Juli 1907), S. 172–175. Neu veröffentlicht in: Wolfgang Pircher (Hg.), Début eines Jahrhunderts. Essays zur Wiener Moderne, Wien: Falter 1985, S. 35–39. Sombarts Artikel war die Antwort auf einen kritischen Beitrag Felix Saltens über Wien, der ebenfalls im „Morgen“ (1907, S. 113–116) unter dem Titel
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Realität und Mythos eng miteinander verwoben. Servaes Ausführungen, in Briefform an eine fiktive Berliner Freundin gerichtet, sind zwar nicht immer überzeugend, auch die Ausdrucksweise, mit der er seine Behauptungen zu untermauern versucht, verrät durchaus die typische Diktion und Sichtweise seiner Zeit, inklusive mancher Voreingenommenheiten. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist freilich sein nachdrücklicher Hinweis auf die pluriethnische und plurikulturelle Gemengelage dieser Stadt von großem Interesse; es ist dies eine literarisch verfremdete Bestätigung dessen, was durch zahlreiche Statistiken belegt, jedoch in der Öffentlichkeit zum Teil nur ungern artikuliert wurde. In Wien, so Servaes, „baut sich Ihnen gewiß das Bild einer seltsam durcheinanderwogenden Rassenmischung auf. Und Sie werden begreifen, daß etwas ungewöhnlich Zusammengesetztes das Ergebnis hiervon werden musste. Von einer bestimmten ‚Rasse‘ wird man also bei den Wienern gar nicht reden dürfen. Oder wenn schon, dann wird man eigens eine für sie konstruieren und diese alsdann die ‚Wiener Rasse‘ benennen müssen.“ Und: „Das würde aber soviel heißen als: daß die ‚Wiener Rasse‘ kraft jahrtausendealter Bodenständigkeit sich derart zäh festgesetzt und nachhaltig durchgedrückt habe, dass sie alle Aggregatkörper (wie Slaven, mit denen sie sich vermischte, so auch die Juden, mit denen sie sich nicht vermischte) sich amalgamiert und nach ihrem Ebenbilde umformte. Nichts aber könnte in stärkerem Maße beweisen, daß das Mischprodukt der ‚Wiener Rasse‘ tatsächlich existiert – womit der alte Rassebegriff freilich aufgehoben wird, während ein neuer Vorstellungskreis sich siegreich in uns entfaltet.“281 Servaes wird nicht müde, seine fiktive Berliner Briefpartnerin auf diese „ethnische“ Mehrfachcodierung Wiens aufmerksam zu machen. Für meine weiteren Überlegungen scheinen jedoch seine expliziten Hinweise auf die Konfliktanfälligkeit dieser „Mischung“, die sich der Heterogenität der Monarchie verdankt, von besonderem Interesse: „Als ich nach Wien kam, war ich so naiv, zu glauben, ich käme in eine deutsche Stadt. Ich machte jedoch bald die Beobachtung, daß meine mitgebrachten Begriffe erheblich ins Wanken gerieten, daß sie zum großen Teil sich als unzutreffend erwiesen. Nein, Wien ist keine deutsche, Wien ist eine österreichische Stadt.“ Was ist aber dieses sogenannte Öster„Der Wiener Korrespondent“ erschienen war. – Vgl. dazu auch David Frisby, Cityscapes of Modernity. Critical Explorations, Cambridge-Oxford: Polity 2001, S. 159–179. 281 Franz Servaes, Wien, S. 35, 43.
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reichische? Es wird, meint Servaes, „in die freundliche und glücklich errungene Wiener Harmonie ein Ton trüber Dissonanz hineingetragen. Und in das rasche und fröhliche Lebenstempo des deutschen Südens schleicht sich ein scheuer und ungewisser Zug ein, etwas in sich selber wie Gelähmtes. Dieses Österreich ist eine künstlich zusammengefügte Maschinerie, die keine natürlichen und notwendigen Lebensbedingungen in sich trägt. Es ist kein lebendiger nationaler Organismus, sondern ein aus der Retorte hervorgegangenes zufallgeborenes Staatensystem […] heute wird es niemand mehr als ein Glück betrachten, daß Österreich ein zusammengeheiratetes Land ist. Heute ist das eher ein Fluch und jedenfalls der Kern von Österreichs intimsten Leiden.“282 Servaes verweist hier auf jene Folie, von der sich Wien abhebt, nämlich auf die von ihm eingehend beschriebene „ethnische“ und kulturelle Heterogenität der Region (Monarchie), die sich in dieser Stadt bündelt und ein Charakteristikum der „Wiener Rasse“ wäre.283 „Sie können sich hier auf Schritt und Tritt täuschen und enttäuschen“, hatte der mit Servaes befreundete Hermann Bahr, Ferdinand Kürnberger paraphrasierend, in seinem 1907 von der Zensur eingezogenen Wien-Buch gemeint, „Sie können Wien arg missverstehen, ja Sie können dieser Stadt wirkliches und unverdientes Unrecht tun, wenn Sie sie an deutschem Masse messen und als deutsche Stadt in Anspruch nehmen. Dagegen wird alles licht und klar, fasslich und verständlich, gerecht und billig, wenn Sie Wien nehmen als das, was sie ist, – eine Europäisch-Asiatische Grenzstadt.“284 Im Wien der Jahrzehnte um 1900 war das deutsche Element in Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik zwar hegemonial und tonangebend, sah sich aber zunehmend „Fremdheiten“ ausgeliefert, die dieses umgaben und die ihm im Alltag diese Position streitig zu machen schienen. „Kennzeichnend für die ethnographische Zusammensetzung dieses seit langem nur durch künstliche Mittel zusammengehaltenen Staates“, erinnert sich pointiert die deutschsprachige kroatische Schriftstellerin Wilma von Vukelich aufgrund ihrer Erfahrung mit Wien, „war das Völkergemisch Wiens, in dem nicht das deutsche, sondern das zugewanderte Element in der Majorität war. Diese heterogene Zusammensetzung in Sprache, Haltung, Lebensgewohnheiten und kulturellen Ma282 Franz Servaes, Wien, S. 44–45. 283 Franz Servaes, Wien, S. 46. 284 Hermann Bahr, Wien, Stuttgart: Carl Krabbe (1907), S. 116.
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nifestationen gab der Stadt das typisch wienerische ihres Charakters: Leichtlebigkeit neben Wurstigkeit, Übermut mit einem Zusatz von Galgenhumor, Sentimentalität ohne Tiefe, Kunstsinn und Bierseligkeit, Gedankenarmut gepaart mit geistigem Hochmut, Formengefühl, das zum Selbstzweck wurde und einer Ästhetik diente, die keine tieferen Erschütterungen zur Folge hatte. Alles Wertvolle in dieser Stadt war historische Vergangenheit.“285Mit dieser Einschätzung der kulturellen Heterogenität stehen Servaes, Bahr oder Vukelich nicht alleine da, vielmehr folgen sie einer Beurteilung Wiens, die sich zuweilen auch in Reiseführern, wie in dem von Eugen Guglia 1908 redigierten berühmten Wien-Führer vorfindet. Zwar beschwört hier der 1903 aus München an die Wiener Universität berufene Geograf Eugen Oberhummer den grundsätzlich deutschen Charakter der Stadt; diesen zu betonen dürfte ihm aber deshalb umso wichtiger gewesen sein, als er auf der anderen Seite nicht umhin kann, auf die kulturelle Heterogenität der Bewohner Wiens hinzuweisen: „Österreichisches Volkstum, das schon im Mittelalter in Sprache und Sitte vom oberdeutschen und gemeinbayrischen Wesen sich abzusondern begann, hat in Wien seine schärfste Ausprägung gefunden. Auf deutscher Grundlage spiegelt sich in der Hauptstadt die Bevölkerung eines weiten und vielgestaltigen Reiches. Von nichtdeutschen Volkselementen hat in Wien das slawische, speziell das tschechische, den weitaus größten Anteil. In geringerem Maße haben auch magyarische und romanische (italienische) Einflüsse mitgewirkt, um schließlich jene Mischung hervorzubringen, welche die heutige Wiener Bevölkerung kennzeichnet. Manche ihrer Charaktereigenschaften, und nicht gerade die schlechtesten, mögen auf diese Blutmischung zurückzuführen sein, so die bekannte Begabung und der Sinn für Musik, die Verbindlichkeit und Leichtigkeit der Umgangsformen, die Sorgfalt für die äußere Erscheinung, die Feinfühligkeit in allen Fragen des Geschmacks und der Sitte, eine gewisse Weichheit des Charakters (das „Wiener Herz“), die sich in dem stark ausgeprägten Sinn für Wohltätigkeit äußert, aber auch oft in Empfindsamkeit und Schwäche ausartet.“286 Auch eine offizielle Darstellung Wiens aus dem Jahre 1913 hebt diese „Volksmischung“ Wiens hervor: 285 Wilma von Vukelich, Spuren der Vergangenheit, S. 193. 286 Eugen Oberhummer, Die geographischen Verhältnisse, in: Eugen Guglia, Wien. Ein Führer durch Stadt und Umgebung, Wien: Gerlach & Wiedling 1908, S. XLII–LXII, Zit. S. LXI.
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„Hinsichtlich der Volksmischung steht die Wiener Bevölkerung unter den Bevölkerungen der europäischen Weltstädte einzigartig da. Denn während in London, Paris und Berlin die Zuwanderung aus dem Inlande, neben welcher die Auslandsfremden keine Rolle spielen, homogene Bevölkerungselemente bringt, hat Wien Jahr für Jahr eine sehr große Zahl national und sprachlich verschiedener Elemente zu assimilieren.“287 Ähnlich argumentierte mehr als zwanzig Jahre später Stefan Zweig. Ihm, dem Vertriebenen, der seine Identität neu zu positionieren versuchte, stellte sich die Pluralität Wiens aus der geografischen und zeitlichen Distanz vor allem positiv, nostalgisch, verklärt und, trotz persönlicher antisemitischer Erfahrungen, keineswegs nur konfliktanfällig dar. Wie Oberhummer betont auch Zweig einen gewissen Zusammenhang zwischen den vielfältigen Bevölkerungselementen und den kulturellen Leistungen: „Die Römer hatten die ersten Steine dieser Stadt aufgerichtet, als ein Castrum, als vorgeschobenen Posten, um die lateinische Zivilisation zu schützen gegen die Barbaren, und mehr als tausend Jahre später war der Ansturm der Osmanen gegen das Abendland an diesen Mauern zerschellt. Hier waren die Nibelungen gefahren, hier hat das unsterbliche Siebengestirn der Musik über die Welt geleuchtet, Gluck, Haydn und Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Johann Strauß, hier waren alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen: am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem Slavischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden, und es war das eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle diese Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.“288 Ein wenig später relativiert Zweig diese nostalgische Wien-Verklärung, nicht zuletzt angesichts der Marginalisierung und Vertrei287 Zit. in: Michael John, Mosaik, Schmelztiegel, Weltstadt Wien? Migration und multikulturelle Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. S. 137–144, Zit. S. 139. 288 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 26–27.
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bung des Judentums, das so wesentlich zu der kulturellen Gestaltung dieser Stadt beigetragen hätte, angesichts der eigenen Erfahrung, die Stadt „wie ein Verbrecher“ verlassen zu haben, die „degradiert wurde zu einer deutschen Provinzstadt“,289 und insgesamt auch angesichts der Einebnung ihres heterogenen Charakters, der ein wichtiges Potenzial für kulturelle Kreativität darstellte. Die vom nationalen Narrativ diktierte Homogenisierung war von weitreichenden Folgen. Aber „erst die nächsten Jahrzehnte werden erweisen, welches Verbrechen an Wien begangen wurde, indem man diese Stadt, deren Sinn und Kultur gerade in der Begegnung der heterogensten Elemente, in ihrer geistigen Übernationalität bestand, gewalttätig zu nationalisieren und zu provinzialisieren suchte. Denn das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, daß ich es zum Teil dieser Stadt zu danken habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist verteidigt, daß ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Herzens zu lieben.“290 Im „Interview mit Alfred Polgar“ hat sich Robert Musil 1926 Wien in einer ähnlichen, klischeehaften, jedoch auf seine Art pointiert ironischen Weise angenähert und vor allem auf die Differenzen, auf die Brüche, auf die widersprüchlichen Kommunikationsräume und Erinnerungsebenen, aus der diese Stadt sich zusammensetze, aufmerksam gemacht, um daraus den Schluss zu ziehen, dass hier keinen Charakter, in dieser komplexen urbanen Umwelt keine ausgeprägte Identität zu haben zur Regel gehöre. Unwillkürlich denkt man dabei an die Charakterlosigkeit oder an die neun Charaktere der Kakanier, der Bewohner Zentraleuropas im vierunddreißigsten Kapitel des „Mann ohne Eigenschaften“. Polgar selbst, so Musil, benütze „mit ungeheurer Gewandtheit die trennenden Eigenschaften des Raumes und der Zeit“. „Ich weiß nicht“, fährt dann Musil fort, „wo er geboren ist, aber es muß wohl zwischen Wien und Wien geschehen sein, auf der Reise, welche die Stadt täglich einmal um den Erdraum macht, während sie geradeweg und ehe sie wieder da war, aber sicher auf dem Platz, wo sie eigentlich hingehört. Denn 289 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 8. 290 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 39.
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diese Stadt ist von den Türken belagert und von den Polen tapfer verteidigt worden, sie war im achtzehnten Jahrhundert die größte italienische Stadt, sie ist stolz auf ihre Mehlspeisen, die aus Böhmen und Ungarn stammen, und bewies durch Jahrhunderte, daß man sehr schöne, ja auch tiefe Dinge hervorbringen kann, wenn man keinen Charakter hat. Freilich ist keinen Charakter haben eine Talentfrage, wie alles andere.“ Daher seien die in Wien Lebenden wenig konkret, sie wären anpassungsfähig, vereinigen unterschiedliche Merkmale kultureller Differenzen in sich und sind daher, aus der Perspektive eines postkolonialen Diskurses, hybrid. „Denn konkret“, argumentiert dann Musil weiter, „ist der Geist dieser Stadt […] in der Macht von Anpassungsfähigen, welche in irgendeinem Punkte alle feine und begabte Menschen sind, aber es freiwillig übernommen haben, volle Begabung nicht aufkommen zu lassen.“291
Wiens „kreolisierende“ Sprachen Diese Charakterlosigkeit, die wörtliche und metaphorische „Vielsprachigkeit“ Wiens hatte auch einen Einfluss auf die Mentalität seiner Bewohner. Die Elemente, mittels derer Individuen hier verbal (und nonverbal) kommunizierten, bildeten eine „kreolisierende“ Sprache, in einem wörtlichen und übertragenen Sinne. Das betrifft zum Beispiel die konkrete Wiener Umgangssprache, von der die Sprachwissenschaftlerin Maria Hornung festgestellt hat: „So zahlreiche fremdsprachige Einflüsse sind im Dialekt keiner anderen europäischen Großstadt festzustellen wie hier. Bemerkenswert ist, wie Wien alle diese Beeinflussungen zu verarbeiten verstand und versteht, man denke nur an den ungeheuren Zustrom von Tschechen, der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingesetzt hat und bis zum 1. Weltkrieg anhielt […]. Ein Blick ins Wiener Telefonbuch zeigt die Fülle fremder Namen: diese tschechischen, slowakischen, polnischen, ungarischen, kroatischen, italienischen und friaulischen Familiennamen haben aber nichts Fremdartiges, und deren Träger sprechen einer wie der andere unverfälscht den Wiener
291 Robert Musil, Interview mit Alfred Polgar [5. März 1926], in: Robert Musil, Gesammelte Werke II: Essays und Reden. Kritiken, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 1154–1160, Zit. S. 1155, S. 1156, S. 1156–1157.
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Dialekt.“292 Auch die Wiener beziehungsweise österreichische Schriftsprache ist daher eine, wie Hugo von Hofmannsthal ausführte, „unter allen deutschen Sprachen gemengteste“, mit Fremdwörtern durchsetzteste; aber „es sind unsere Fremdwörter, sie sind bei uns seit Jahrhunderten zu Hause und so sehr die unseren geworden, dass sie darüber in der eigentlichen Heimat ihr Bürgerrecht verloren haben“.293 Auf diesen Umstand machte kürzlich eine Untersuchung über Italianismen aufmerksam, die in der österreichischen und Wiener Umgangssprache eine bis in die Gegenwart nachweisliche Rolle einnehmen.294 Ein gutes Beispiel für diese polyglotte Ornamentik des Wienerischen, für diese Spuren aus differenten Kommunikationsräumen ist der Umgang Johann Nestroys mit der Sprache. Richard Reichensperger hat in seinen stadtsemiotischen Untersuchungen zu verdeutlichen versucht, wie Nestroy durch die Verwendung von Fremdwörtern, die Entlehnung von Wörtern oder syntaktischen Elementen aus Sprachen, die in Wien gesprochen wurden und mit dem Deutschen vermengt zu Mischsprachen geführt haben, zum Beispiel dem „Böhmakeln“, nicht nur die sprachlich-kulturelle Heterogenität Wiens betont, sondern ebenso auf unterschiedliche sozioökonomische und soziokulturelle Realitäten aufmerksam gemacht hat; die in Wien gesprochenen Sprachen hatten zumeist einen funktionalen Charakter und waren auf konkrete soziale Gruppen abgestimmt. „Auf die Stadtsemiotik umgelegt heißt das“, meint Reichensperger, „daß Nestroy nicht nur den syntagmatischen Querschnitt durch die Stadtstruktur gibt, sondern auch den Längsschnitt, indem er verschiedene Sprachschichten herauspräpariert. Er betont also nicht nur – wie schon Stifter – die syntagmatische Achse der Stadtstruktur, sondern auch die paradigmatische. Im inneren Polyglottismus seiner Stücke, wo Sprachebenen vom Dialekt zur übertriebenen Bühnensprache und Einzelsprachen vom 292 Maria Hornung, Sprache, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll, Friederike Goldmann (Hg.), Die Stadt Wien, Wien: ÖAW 1999 (= Othmar Pickl [Hg.], Österreichisches Städtebuch Bd. 7), S. 85–95, Zit. S. 85. 293 Hugo von Hofmannsthal, Unsere Fremdwörter (1914), in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II: 1914–1924, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1979, S. 360–366, Zit. S. 363 und 364. 294 Karl Ille, Rosita Rindler-Schjerve, Eva Vetter, Italienisch-deutscher Sprach- und Kulturkontakt in Wien. Historische und aktuelle Perspektiven, in: Karl Ehmer, Karl Ille (Hg.), Italienische Anteile am multikulturellen Wien, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2009 (= Querschnitte Bd. 27), S. 91–110, bes. S. 96–103.
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Tschechischen über das Italienische und Französische zum Deutschen und dazu noch die verschiedensten Fachsprachen eingesetzt werden, überführt Nestroy auch den ‚äußeren Polyglottismus‘ (Lotman) der modernen Stadt, ihre Sprachmischung, in die literarische, in die sprachliche Form.“295 In ähnlicher Weise hat schon Theodor W. Adorno darauf aufmerksam gemacht, dass sogenannte Fremdelemente bis in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts ein integraler Bestandteil der Bewohner Wiens und ihrer Sprache geblieben wären, sie wurden zu konstitutiven Elementen einer spezifischen kulturellen Tradition, gegen die freilich immer wieder angekämpft würde: „Zu diesem Sachverhalt stimmt es, daß […] die Fremdwörter, von denen dieser Dialekt wimmelt, jenes exterritorialen und aggressiven Wesens entragten, das ihnen sonst im Deutschen eignet. Man braucht nur einmal von einem Portier etwas von einem rekommendierten Brief gehört haben, um des Unterschieds innezuwerden, einer sprachlichen Atmosphäre, in der das Fremde fremd ist und zugleich vertraut, so wie im Gespräch jener beiden Grafen über Hofmannsthals Schwierigen, in dem der eine beanstandet, ‚er läßt uns doch gar zu viele Worte auf -ieren sagen‘, worauf der andere antwortet: ‚Ja, da hätt’ er sich schon ein bisserl menagieren können‘.“296 Adorno leitet selbst das „Raunzen“ des Wieners, man könnte sagen: die ironische Distanz zum und die notgedrungene Akzeptanz des „Fremden im Eigenen“, die Unzufriedenheit mit sich selbst, aus dieser komplexen, mehrdeutigen kulturellen Situation ab. „Hört man den Wiener“, so eine kluge Beobachtung von Hermann Bahr, „so muss hier zu leben ein Fluch sein. Aber keiner wandert aus. Er schimpft, er raunzt, er höhnt, je nach seiner Art. Aber er bleibt […]. Der Wiener ist ein mit sich sehr unglücklicher Mensch, der den Wiener hasst, aber ohne den Wiener nicht leben kann, der sich verachtet, aber über sich gerührt ist, der fortwährend schimpft, aber will, dass man ihn fortwährend lobt, der sich elend, aber eben darin wohl fühlt, der immer klagt, immer droht, aber sich alles gefallen lässt, nur nicht, dass man ihm hilft – dann wehrt er sich.“297 295 Richard Reichensperger, Zur Wiener Stadtsemiotik von Adalbert Stifter bis H. C. Artmann, in: Moritz Csáky, Richard Reichensperger (Hg.), Literatur als Text der Kultur, Wien: Passagen 1999, S. 159–183, Zit. S. 174. 296 Theodor W. Adorno, Notizen zur Literatur, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 216–232, Zitat S. 220. 297 Hermann Bahr, Wien S. 8–9.
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Ähnliches gelte, meint Adorno, in einem etwas abgewandelten Sinne auch für die Wiener musikalische Sprache, für die durchgehend die Verwendung heterogener popularer beziehungsweise folklorer musikalischer Elemente kennzeichnend sei: „Als echter Wiener hat Schönberg an einem Medium teil, mit dem man ihn kaum zusammen denkt und das ihm selbst sicherlich nicht gegenwärtig war. Es ist das der österreichischen Volksmusik und derjenigen Komponisten, die von ihr unreflektiert gespeist waren. Nichts widerlegt das in jedem Betracht törichte Cliché vom intellektuellen Schönberg gründlicher, als was alles er jenem Medium verdankt, wie viele der konstitutiven Bestimmungen der neuen Musik dorther stammen.“298 Ähnlich deutlich argumentiert Adorno im 10. Kapitel („Nation“) seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“. Auch hier geht er auf die Symbiose unterschiedlicher heterogener, „nationeller“, Elemente ein, die den Nährboden des Musizierens in Wien abgeben. Nicht nur die expliziten italienischen Anleihen bei Mozart, bei dem die „nationellen Elemente […] sich dialektisch zueinander“ verhalten,299 auch „Schuberts à la Hongroise […] trägt aber zugleich jenes Unberührte, Intentionslose, das dem Zivilisatorischen, allzu Kulturimmanenten, dem lebendigen Subjekt Entfremdeten der integralen Musik nicht sich fügt“.300 Erst recht gelte dies für Komponisten der Jahrzehnte um 1900, für Brahms, Mahler und die Vertreter der Wiener Schule: „Jene zentrale Tradition der Musik, die auf integrale Form geht und der Idee von Universalität auf tiefste verwandt ist, die Antithese zu den nationalen Schulen des neunzehnten Jahrhunderts, hatte durch Wien selbst nationellen Einschlag. Wienerisch reden noch viele Themen von Mahler, Berg; insgeheim, und darum nur um so nachdrücklicher, spricht selbst Webern das Idiom […]. Das Wienerische, als Dialekt, war die wahre Weltsprache der Musik. Vermittelt ist das durch die handwerkliche Überlieferung der motivisch-thematischen Arbeit.“301 Auch Ludwig Finscher machte auf die „pluralistische“ Folie Wiens aufmerksam, auf die soziale und 298 Theodor W. Adorno, Wien, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 16 (= Musikalische Schriften I–III), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 431–453, Zitat S. 442. 299 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 14, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 356. 300 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 359. 301 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 357–358.
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kulturelle Heterogenität, die den Nährboden für die Schöpfungen der Wiener Klassik gebildet hätte: „Die Situation Wiens war derjenigen Paris’, Londons oder Berlins offenbar auch darin ungleich, daß hier eine unvergleichlich vielschichtige urbane Musikkultur den Boden abgab, auf dem sich der ‚klassische‘ Stil Haydns und Mozarts – als ein sublimer Mischstil – entwickeln konnte. Aristokratie, Mittelstand, Kleinbürger- und Handwerkertum wohnten enger beieinander als in den anderen Metropolen; die Wohnquartiere waren sozial und – Reflex der Tatsache, daß Wien die Hauptstadt eines Vielvölkerstaates war – auch ethnisch weitgehend gemischt. Musik bildete eine soziale Brücke.“302 Auch Mozart internalisierte, neben dem von Adorno erwähnten Italienischen, die in der Region zirkulierenden musikalischen Elemente und Codes. „Exotismen“, wie zum Beispiel die Verwendung „türkischer“ Elemente in der „Entführung“, die jedoch oft Zitate eines ungarischen Verbunkos sein konnten, oder die Verwendung von fremden Tänzen und Rhythmen, verdankten sich einem gesamtregionalen musikalischen Arsenal.303 Es ist symptomatisch, dass die Mehrzahl der Wiener Komponisten nicht „originale“ Wiener, sondern Zugewanderte waren. Sie wurden trotz ihrer festen Verankerung in der Stadt oft als „Fremde“ wahrgenommen und verortet, selbst wenn sie in Wien geboren waren: „Wie Beethoven und Brahms hatte Schönberg, obwohl in Wien geboren, etwas vom Zugewanderten, gleich vielen Bewohnern der Metropole der Donaumonarchie. Nicht nur weil sein Vater aus der Slowakei und seine Mutter aus Prag stammte. Ihn selber umgab eine Schicht des Fremden, nicht ganz Zugehörigen, nicht ganz in die westliche Zivilisation Hineinpassenden. Der Haß, dem er bis heute drinnen und draußen begegnet, hat damit gewiß etwas zu tun.“304
„Mémoire culturelle juive“ Bekanntlich gehörte der später Vertriebene Arnold Schönberg dem Wiener Judentum an. Der Anteil der Wiener Bevölkerung mit jüdischem Glaubens302 Ludwig Finscher, Haydn, Mozart und der Begriff der Wiener Klassik, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Neues Handbuch der Musikwissenschaften Bd. 5, Laaber: Laaber 1985, S. 232–239, Zit. S. 236. 303 Horst Reichenbach, Zur Frage des Popularen bei Mozart. Ein Beitrag zur Mozartforschung, Weimar (Manuskript) 1975. 304 Theodor W. Adorno, Wien, S. 439.
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bekenntnis – die Assimilierten können hier nicht miterfasst werden – betrug 1880 10,1 Prozent (72.588), die erst nach zehn Jahren eingemeindeten Vororte (11.–19. Bezirk) hinzugenommen 5,3 Prozent, 1890 8,7 Prozent (118.495), zehn Jahre später 8,8 Prozent (146.926).305 Vergleichsweise lebten im Jahre 1900 in Paris nur 50.000 Juden, von den 150.726 Einwohnern Zürichs waren nur 2.713 Juden, was in beiden Fällen jeweils ca. zwei Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung ausmachte.306 Der Anteil der in sich heterogenen jüdischen Einwohner Wiens erhöhte sich dann 1910 auf 175.318 (8,6 Prozent), um 1923 mit 201.513 (10,8 Prozent) ihren Höchststand zu erreichen. In der Tat war Wien zur Zeit der Jahrhundertwende nach Warschau und Budapest die drittgrößte jüdische Großstadt Zentraleuropas. In Warschau betrug der jüdische Anteil mit 219.000 Personen 32 Prozent, in Budapest 23,6 Prozent, in Krakau ca. 27 Prozent und in Czernowitz, der kulturell bedeutenden Hauptstadt der Bukowina, betrug der Anteil der Juden im Jahre 1910 32,8 Prozent, im Jahre 1913 bereits 47,4 Prozent der Gesamtbevölkerung: „Czernowitz hatte nach Wien und Lemberg die drittgrößte jüdische Gemeinde im Habsburgerreich.“307 In Prag nahm sowohl das Bekenntnis zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsteil stetig ab. Kleinstädte im Osten Europas wiesen um 1900 sogar über 50 Prozent der Bevölkerung auf, wie zum Beispiel Brody (72,1 Prozent), Sanok (52,7 Prozent) oder Kolomea/Kolomyja (50,8 Prozent).308 305 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 36. – Vgl. dazu die Daten bei Marsha L. Rozenblit, die für 1880 und 1890 die Vororte zu Recht nicht mitzählt: Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna 1867–1914, Albany: State University of New York Press 1983, S. 17. – Ähnlich früher Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien: Mandelbaum 2007 (1933), S. 196. 306 Vgl. Zürich, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon Bd. 20, Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 61909, S. 1022. 307 Mariana Hausleitner, Eine wechselvolle Geschichte. Die Bukowina und die Stadt Czernowitz vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Helmut Braun (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin: Ch. Links ²2006, S. 31–81, Zit. S. 50. – Lajos Pándi (Hg.), Köztes Európa 1763–1993. Térképgyűjtemény (Zwischeneuropa 1763–1993. Kartensammlung), Budapest: Osiris 1997, S. 76–83. 308 Paul Robert Magocsi, Historical Atlas of Central Europe. ������������������������� Revised and Expanded Edition, Seattle: University of Washington Press ²2002, S. 109. – Vgl. auch zahlreiche statistische Erhebungen in Wolfdieter Bihl, Die Juden, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hg.), Die Völker des Reiches. Die Habsburgermonarchie Bd. III, Wien: ÖAW 1980, S. 880–948. Hier: der Anteil von Juden in Kleinstädten, S. 885–886.
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„Die Physiognomie“, meint Hans Tietze über Wien, „dieser durch den jüdischen Zuzug riesenhaft wachsenden Stadt der Siebziger- und Achtzigerjahre war eben kompliziert und kosmopolitisch geworden; slawische, magyarische, internationale Zusätze haben das vertraute Bild des älteren Wien, dem die Ureinheimischen trotz des neuen Glanzes nachtrauerten, überdeckt. Daß bei dieser Umwandlung eines keinem Fremden gegenüber jemals widerstandsfähigen Grundstoffs auch das jüdische Element, nicht nur numerisch bedeutsam, sondern auch sozial und wirtschaftlich einflußreich und auf allen Gebieten ehrgeizig und aggressiv, eine bedeutende Rolle spielte, ist selbstverständlich.“309 Die Herkunftsländer der Juden, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Wien zogen, waren vornehmlich das Königreich Ungarn, Mähren und Galizien, 20–30 Prozent der Wiener Juden waren bereits in Wien geboren.310 Im Hinblick auf die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Wien aus Ostgalizien zugewanderte, vornehmlich chassidisch gesinnte jüdische Bevölkerung spricht Michael John „von einer ‚Metropolisierung‘ des (ost)mitteleuropäischen Judentums“, äußerlich kenntlich durch ihre traditionelle jüdische Kleidung, was angesichts der bereits in Wien ansässigen, zum Teil assimilierten Juden „zu einer gewissen Heterogenität innerhalb der Wiener jüdischen Bevölkerung“ beitrug.311 Diese Heterogenität betraf nicht nur unterschiedliche religiöse jüdische Gruppierungen, denen auch unterschiedliche alltägliche Lebensformen entsprachen, sie betraf nicht nur unterschiedliche wirtschaftliche und Berufsorientierungen, zum Beispiel Hausierer, Arbeiter, Angestellte, Kaufleute oder Kleinunternehmer, sie zeigte sich vor allem im Hinblick auf die Gruppe der bildungsbürgerlich oder sogar religiös Assimilierten; Letztere konnten, da sie den mosaischen Glauben abgelegt hatten und konfessionslos oder zu einer christlichen Konfession übergetreten waren, offiziell nicht mehr als Juden gezählt werden, weil das offizielle Kriterium ihrer Erfassung, die jüdische Religion, bei ihnen nicht mehr nachweisbar war. 309 Hans Tietze, Die Juden Wiens, S. 206. 310 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 33. Vgl. auch Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, S. 13–45 (mit ausführlichen Statistiken der Herkunftsländer der zugewanderten Juden). 311 Michael John, Mosaik, Schmelztiegel, Weltstadt Wien? Migration und multikulturelle Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996, S. 137–144, Zit. S. 139.
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Die aus verschiedenen Teilen der Monarchie nach Wien zugezogenen Juden siedelten sich vor allem in bestimmten Bezirken an, vor allem in der Leopoldstadt (2. Bezirk), in der angrenzenden Brigittenau (20. Bezirk), im Alsergrund (9. Bezirk) und in der Innenstadt (1. Bezirk). Während Juden in der Leopoldstadt im Jahre 1900 36,4 Prozent der Einwohner ausmachten, waren es am Alsergrund 18,2 Prozent, in der Brigittenau 15,7 Prozent und in der Innenstadt 19,4 Prozent. Marsha L. Rozenblit glaubt die räumliche Akkumulierung dadurch erklären zu können, dass die gemeinsame „ethnische“ Zugehörigkeit für die Zugewanderten eine wichtige Rolle gespielt hätte, denn „most modern urban sociologists, faced with the persistence of ethnic concentrations, have been forced to conclude that ethnicity rather than social class is the primary factor in the determination of who lives with whom“.312 Freilich stellt sich hier die Frage, was Zugewanderte aus Mähren, etwa die Familie Freud, die aus einer mährischen Kleinstadt nach Wien kam, die Familie Adler aus Prag oder Gustav Mahler aus Kalischt (Kalište) in der Nähe Iglaus (Iglava) „ethnisch“ mit jenen Juden gemeinsam gehabt haben könnten, die aus einem ostgalizischen Stetl hierher gezogen waren? War das „ethnische“ Bewusstsein ausschlaggebend oder war es nicht vielmehr die Religion, durch die man sich zusammengehörig fühlte? Das heißt Religion in einem übertragenen, kulturellen Sinne, als kultureller Code, der auch die kulturellen Praktiken des Alltags bestimmte, der teilweise noch für manche Assimilierte typisch war und daher gewisse Übereinstimmungen mit den religiösen Juden zur Folge hatte? Aus der Perspektive von Kultur als Kommunikation war es in der Tat ein eigener kultureller Kommunikationsraum, der die gläubigen Juden unterschiedlichster Provenienz, vor allem die Orthodoxen, aber auch die Neologen und zum Teil die Assimilierten zusammenhielt und sowohl von den anderen, beispielsweise den hier Ansässigen oder den ebenfalls Zugewanderten, etwa den tschechischsprachigen Bewohnern Wiens, und letztlich auch von den kulturell voll Assimilierten unterschied. Die orthodoxen Juden befolgten bestimmte religiöse Rituale, die ganz wesentlich auch das Alltagsleben prägten, zum Beispiel den arbeitsfreien Sabbat – die Dichte von Hauptsynagogen und neunzig Vereinssynagogen (Bethäusern) in von Juden besiedelten Bezirken erleichterte diesen die regelmäßige, unbeschwerte Teilnahme an den 312 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, S. 75. Die Statistik der Verteilung auf die Bezirke vgl. ebd. S. 76–77.
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wöchentlichen Gottesdiensten –, bestimmte Speise- und Reinheitsvorschriften, die Haartracht, eine spezifische, den Ansässigen fremd anmutende Kleidung oder zum Teil eine eigene Sprache (das Jiddische) beziehungsweise ein „jüdelndes“ Deutsch, insgesamt also Merkmale, durch die sie sich deutlich von einer nichtjüdischen Umgebung unterschieden, durch die sie sich jedoch auch, vor allem wenn sie ihr „Territorium“ verließen, vonseiten dieser oft nur Spott und Verachtung zuzogen. Dieses differenzierende kulturelle Ambiente mag, so meine ich, viel ausschlaggebender dafür gewesen sein, sich gemeinsam in einem geschlossenen städtischen Raum anzusiedeln und auch dort zu verbleiben, für Neuankömmlinge sich unter ihresgleichen niederzulassen, als eine „ethnische“ Übereinstimmung oder das Zugehörigkeitsgefühl zu einer jüdischen Nationalität, die der Floridsdorfer Rabbiner und Reichstagsabgeordnete Joseph Samuel Bloch gefordert hatte. Andererseits war die Differenz zwischen den orthodoxen und den säkularisierten, erst recht den assimilierten Juden groß, sie gehörten unterschiedlichen Kommunikationsräumen an und die Furcht letzterer, eventuell mit den ostgalizischen religiösen Juden, für die Religion auch ein kultureller Maßstab war, identifiziert zu werden, war groß. Die ethnische Übereinstimmung, wie man sie auch zu definieren oder zu „erfinden“ versucht, spielte in den Jahrzehnten um 1900 für sehr viele gewiss eine untergeordnete Rolle. Bekanntlich gehört Steven Beller zu jenen Historikern, die das Judentum nicht aus der erwähnten religiös-kulturellen, sondern aus seiner ethnischen Zusammengehörigkeit zu bestimmen versuchen. Würde man Juden nur religiös und nicht ethnisch definieren, meint Beller, könnte man zum Beispiel in der Kultur Wiens um 1900 kaum noch etwas „Jüdisches“ ausmachen: „If such a narrow, religious definition of Jewishness were to be made, then the ‚Jewish’ presence in Viennese culture would be small indeed. The criterion of who is a Jew and who is not a Jew which I have chosen here is the widest, that of descendent.“313 Wie verhält es sich jedoch dann nach dieser Definition Bellers mit aus Mischehen Geborenen, mit später, nach den Nürnberger Rassengesetzen sogenannten „Halb-“ oder „Vierteljuden“? Warum beispielsweise bezeichnet Beller Hofmannsthal als einen Juden? Die Lösung, die er vorschlägt, halte ich freilich für höchst fragwürdig und letztlich für völlig unzureichend: „When people point out that 313 Steven Beller, Vienna and the Jews 1867–1938. A Cultural History, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1989, S. 11.
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Hofmannsthal was not ‚Jewish’ by religion and barely so by descendent (he was only a quarter Jewish), they ignore the fact that he was nevertheless a product of the assimilation, just as Wittgenstein was. Without the assimilation neither would have existed. One might debate the significance of this, but to do so is in itself to acknowledge that we need to know about the background of assimilation. As such, both Hofmannsthal and Wittgenstein, though marginal, are nevertheless part of the historical phenomenon of the integration of the Jews into western culture and society. It is my contention that the presence in the family past of Jewish ancestors was liable to mean that one started with a view of the world which was substantially different from that of others who were not of Jewish descent.“314 Nach Frederic Jamesons Einschätzung repräsentierte Hofmannsthal eine „nichtethnische österreichische Norm”.315 Jameson folgt hier der Beobachtung Terry Eagletons, der meinte, dass die wichtigsten Vertreter der englischen Moderne entweder Außenseiter oder Fremde gewesen wären; Ähnliches ließe sich auch für die Wiener Moderne sagen. Was freilich ist eine „nichtethnische österreichische Norm“? Ins Positive gewendet würde das ganz richtig heißen, dass es im Österreichischen eine „ethnische Norm“ nicht gibt. Würde man folglich, um auf Beller zurückzukommen, das jüdische ethnische Kriterium analogerweise auch auf andere Personen ausdehnen und jene, die halb- oder vierteltschechischer oder ebenso zum Teil italienischer, ungarischer oder griechisch-orthodoxer Herkunft sind, aus dem Wiener urbanen sozialen Kontext ausscheiden und deren kulturelle Produktionen als tschechisch, italienisch, ungarisch oder griechisch bezeichnen, bliebe von typischen, autochthonen, komplexen urbanen Kulturen in Zentraleuropa, zum Beispiel auch von einer Wiener Kultur, nicht mehr viel übrig. Ist es, in Analogie zu Hofmannsthal, zulässig, jemanden, der zu einem Viertelteil griechischer Herkunft ist, als Griechen zu bezeichnen? Tatsächlich folgt hier Beller einem Kriterium des nationalen Narrativs, nämlich dem der „gemeinsamen Abstammung“ (Rasse), mit dessen Hilfe Nation konstruiert wurde und dessen sich, in analoger Weise, ohne Zweifel zunehmend auch der Antisemitismus unter Berufung auf Wilhelm Marrs Rassenantisemitismus 314 Steven Beller, Vienna and the Jews, S. 12–13. 315 Frederic Jameson, Moderne und Imperialismus, in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Theres Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 59–80, Zit. S. 70 Anm. 12.
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seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bediente, wenn er Juden entsprechend ihrer Rassenzugehörigkeit als „Fremde“, als „Parasiten“ erklärte und aus der „arischen“ (germanischen) Gesellschaft auszuscheiden versuchte. Andererseits leugnet ein solches Konzept, das auch Beller vertritt, insbesondere die real vorhandenen personalen und kollektiven Mehrfachidentitäten und folgt damit unreflektiert der Vorgabe der nationalen Ideologie, die nur eine, nämlich eine eindeutige, autochthone „ethnische“ beziehungsweise nationale Identität für zulässig hält, für die man sich zu entscheiden hätte oder die man zugewiesen bekommt. Gerade bei städtischen Zuwanderern aus der kulturell pluricodierten zentraleuropäischen Region waren Mehrfachidentitäten eine Selbstverständlichkeit, auch wenn man sich ihrer nicht immer voll bewusst sein musste. Allein die konkrete Vielsprachigkeit vieler Immigranten ist ein Indiz dafür, dass sie zwischen mehreren kulturellen Identifikatoren zu flottieren wussten. Solche plurizentrischen Identitäten betrafen nicht zuletzt jene, die sich an einen neuen kulturellen Kommunikationsraum zu assimilieren versuchten; sie mochten sich beispielsweise mit Wien, mit Österreich, mit einer „deutschen“ Kultur identifizieren, ohne ihre „mémoire culturelle juive“ völlig verleugnen zu können. Auch als Assimilierte wiesen sie in unbewussten Verhaltensweisen, in sprachlichen Ausdrucksformen, in Alltagserinnerungen Spuren dieser „mémoire juive“ auf; das betraf freilich auch jene, an die sie sich assimiliert hatten: Auch bei diesen drückten sich diese Spuren ein. Das heißt: Diese „mémoire juive“ wurde zu einem integralen Bestandteil dessen, was wir auch als eine Wiener Kultur bezeichnen können; in einem weiteren Sinne betrifft das auch jede andere „Kultur“. Es war dies eine Perspektive, die in den Jahrzehnten um 1900 durchaus präsent war und eingehend diskutiert wurde. Sie lässt sich auch aus zahlreichen Äußerungen Arthur Schnitzlers ablesen, eines persönlich Betroffenen. So fragt er in einem Brief an Richard Charmatz, in Replik auf eine Diskussion über die Aufführung seines „Professor Bernhardi“, das Stück würden nur „überzeugte allzulaute Juden“ verteidigen: „Was gilt Ihnen als überzeugter Jude? Der fromme? Der Zionist? Oder schon der Ungetaufte? Oder gar schon der, der seine Abstammung nicht verläugnet? Das ist mir nicht klar geworden.“ Um etwas später fortzufahren: „Aber selbst wenn ich, unter völliger Vernachlässigung meiner Rassenzugehörigkeit, (was mir anfechtbar erschiene) alles, was ich besitze, dem Deutschtum zu danken glaube, so drängte sich mir doch manchmal die Überlegung auf, 246
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wie vieles das Deutschtum selbst den kulturellen und ethischen Leistungen des Judentums, so weit seine Geschichte zurückreicht, zu verdanken hat […].“316 Wenige Monate später bekennt sich Schnitzler dann explizit zu der von mir bereits mehrfach angesprochenen Mehrfachidentität, die vor allem im hybriden kulturellen Kommunikationsraum des urbanen Milieus zu einer, wie auch die folgende Stellungnahme Schnitzlers andeutet, keineswegs konfliktfreien Selbstverständlichkeit geworden war; seine Meinung dazu in einem Brief an Elisabeth Steinrück ist eindeutig: „In Österreich haben wir uns die Bezeichnung ‚echt deutsch‘ für alles edle, starke, schöne aufgespart – (wie die Deutschen selbst) – wir verbinden die Worte ‚echt‘ und ‚deutsch‘ – nur zum Zweck des Preisens miteinander; – und drüben gerade das Gegentheil. Es geht uns Oesterreichern – fast schon – wie uns Juden; übrigens, mit Beziehung aufs Ausland könnte man fortsetzen: uns Deutschen – wie uns Oesterreichern – und uns Juden. Wir werden verkannt. Sonderbar, dass wir uns in dieser Zeit als alles zugleich fühlen müssen. Ich bin Jude, Oesterreicher, Deutscher. Es muss wohl so sein – denn beleidigt fühl ich mich im Namen des Judentums, des Oesterreichertums und Deutschlands, wenn man einem von den Dreien was Schlimmes nachsagt.“317 Im Zusammenhang mit meinen Überlegungen könnte man auch zu Recht sagen, dass die Worte Schnitzlers die gleichzeitige Zugehörigkeit von Personen und Gruppen zu mehreren, unterschiedlichen Kommunikationsräumen ganz eindeutig belegen; Schnitzler scheint dies freilich auch als Belastung – „dass wir … alles zugleich fühlen müssen“ – empfunden haben. Hält man sich die spannungsgeladene sprachlich-kulturell heterogene Situation Wiens vor Augen, eine Situation, in der Deutschnationalismen und Antisemitismen zunehmend die Oberhand gewannen, zugleich jedoch auch die Nationalisierung der hier anwesenden „Minderheiten“ vorangetrieben wurde, erscheint der Versuch einer Verortung solcher gegenläufiger Äußerungen, wie jene Schnitzlers, in ihren realen sozialen Kontext durchaus schlüssig und nachvollziehbar.
316 Arthur Schnitzler an Richard Charmatz (4. 1. 1913), in: Arthur Schnitzler, Briefe 1913– 1931, hg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1984, S. 3–4. 317 Arthur Schnitzlers an Elisabeth Steinrück (22. 12. 1914), in: Arthur Schnitzler, Briefe 1913–1931, S. 68–69.
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Marsha L. Rozenblit verweist im Gegensatz zur ethnischen Zugehörigkeit, auf der Steven Beller beharrt, indirekt auf die Wichtigkeit von kulturellen Aspekten für die Indentitätsbildung einer „Jewishness“ und macht zum Beispiel auf etwas aufmerksam, was die kulturelle Sonderstellung gewisser Gruppierungen, denen Intellektuelle wie Arthur Schnitzler wohl nicht angehörten, bestimmte und zuweilen verstärkte: Auf die Bedeutung des verzweigten Vereinslebens, das die sozial und ökonomisch weniger etablierten gläubigen Juden, etwa des zweiten Bezirkes, entwickelten und unterhielten oder, später, auf die Bedeutung des politischen Zionismus; Vereine und Zionismus wären insgesamt für die Ausbildung oder Bewahrung einer „jüdischen Identität“ in einer fremden städtischen Umgebung von großer Bedeutung gewesen.318 Diese Sicht wird indirekt zum Beispiel auch durch einen „jüdisch-nationalen“ Aufruf der Jüdisch-Sozialistischen Arbeiterpartei „Poale Zion“ aus dem Jahre 1910 bestätigt, der darauf Stellung nimmt, dass bei den Volkszählungen die Sprache der Juden nicht berücksichtigt würde und sie damit Gefahr liefen, ihrer jüdischen Identität beraubt zu werden. „Jüdische Identität“ wird hier als Reflex auf den wachsenden Antisemitismus und im Kontext der die Öffentlichkeit immer mehr beherrschenden nationalen Diskurse gesehen beziehungsweise konstruiert: „Die österreichische Volkszählung hat sich zu einem Völkerkrieg gewandelt. Die Erhebung der Umgangssprache ist ein Mittel geworden, die Juden anderen Nationen zuzurechnen. Die Juden Österreichs sind zu einem Werkzeug nationaler Majorisierung und Unterdrückung geworden. Gegen die Juden die sich zu ihrer wirklichen Umgangssprache zur jüdischen Volkssprache bekennen, werden alle Machtmittel aufgeboten. Juden Wiens! Erhebet Einspruch gegen diese Entrechtung und Entehrung!“319
Jüdische Theater- und Unterhaltungskultur Nicht minder bedeutsam dürfte die spezifische jüdische Unterhaltungsbranche gewesen sein, wie zum Beispiel die von und für Juden bespielten Schaubühnen beziehungsweise das aus Galizien importierte jiddische Theater oder das Cabaret. Typischerweise befanden sich fast alle jüdischen Spielstätten im zweiten Bezirk, wie zum Beispiel das Theater im Hotel Stefanie, die Roland318 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, S. 147–174, 199–207. 319 Zit. in Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 504.
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Jüdische Theater- und Unterhaltungsliteratur
bühne, die Jüdischen Kammerspiele, die Jüdischen Künstlerspiele im Theater Reklame oder das Jüdische Künstlerkabarett.320 Außerdem wurde auch in Weinschenken, Gasthäusern und Kaffeehäusern gespielt. Versuche, zum Beispiel auch im Ringtheater im ersten Bezirk aufzutreten, wurde von einem gemischten Publikum nicht goutiert. So heißt es etwa in einem Bericht der Zensur zu einer Ringtheater-Vorstellung im Jahre 1880: „Ein großer Teil des sehr zahlreich erschienenen Publikums, welches wegen des unverständlichen polnisch-jüdischen Jargons der mitwirkenden Kräfte dem Gang der Handlung der Posse nicht folgen konnte, gab seinen Unwillen hierüber, sowie über das fast durchgehende ungenügende Spiel und den schlechten Gesang, durch wiederholtes Zischen Ausdruck, und verließ schon nach dem zweiten Akt das Haus.“ Oder, wie die „Neue Freie Presse“ lapidar festhielt: „Die Sprache der Kongo-Neger klingt uns nicht unverständlicher als das Kauderwelsch, das wir heute hören mussten.“321 Zwanzig Jahre später scheint das jüdische Theater nicht mehr nur von Juden besucht worden zu sein; es dürfte zuweilen eine Schnittstelle geworden sein, an der sich Elemente unterschiedlicher kultureller Provenienz vermischten. Es seien hier ganz deutlich kulturelle Transferprozesse nachweisbar, wie Brigitte Dalinger meint, das jüdische Theater könnte daher als ein typisches „postcolonial theater“ oder „synkretistisches Theater“ gedeutet werden.322 Ich möchte diese Feststellung dahin gehend ergänzen, dass jedes Theater, das ja jeweils ein performatives Ereignis darstellt, synkretistische Elemente aufweist und als solches als eine indirekte Kritik gegenüber einem Kulturbegriff verstanden werden kann, der unter Kultur ein holistisches, essenzialistisches Ensemble versteht; damit wird auch die gängige Verwendung und Vorstellung eines Kulturtransfers insofern problematisch, als der Transferbegriff davon ausgeht, dass Elemente aus der einen in eine andere Kultur einfach übertragen werden können. De facto ist jede Kultur als Kommunikationsraum jedoch ein nicht geschlossener, sondern ein entgrenzter, dynamischer, performativer Prozess, dessen ein320 Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Wien: Picus 1998. – Vgl. auch Adeline Großegger, Von der Bühne in die Vertreibung. Entwicklung und Stellenwert des jüdischen Theaters in Wien. Die „jüdische Bühne“ 1909–1938 als Beispiel, Wien 2000/01 (Manuskript). 321 Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne, S. 38, 40. 322 Brigitte Dalinger, Interkulturalität, Kulturtransfer und das jüdische Theater, in: Theater und Popularkultur = transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 8/2 (2007) S. 15–36.
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deutig differenzierendes Merkmal die konkrete (gesprochene) unterschiedliche Sprache bleibt. Ein typisches Genre der Wiener jiddischen Dramatik, das „Lebnsbild“Stück, geht auf den Zeitgenossen Nestroys, auf den Wiener Dramatiker Friedrich Kaiser, zurück, dem mit seinen „Lebens- und Charakterbildern“ ein ernsthaftes, mit heiteren Untertönen versetztes Volksstück vorschwebte. Das Wiener jüdische Theater bemächtigt sich (auch) dieser literarischen Vorgabe, es ist ganz offenkundig ein hybrides, „synkretistisches“ Genre. Ebenso ist es die Wiener Operette mit ihren musikalischen und thematischen folkloren Elementen aus der Gesamtregion, inklusive „jüdischer“ Sujets, was etwa die Operette „Der Rastelbinder“ (1902) von Franz Lehár und Victor Léon verdeutlicht, in der der gerechte Jude Wolf Bär Pfefferkorn die Hauptfigur darstellt. „Der Rastelbinder“ wurde ein Erfolgsstück, das freilich zugleich gerade wegen seiner jüdischen Thematik vom Antisemitismus angegriffen wurde und einer heftigen Kritik ausgesetzt war. Freilich konnten ähnliche Stücke und Theateraufführungen von den Rezipienten, die am performativen Prozess der theatralischen Aufführung aktiven Anteil hatten, auch eindeutig wohlwollend aufgenommen werden. „Arier und Semiten“, so berichtet zum Beispiel Felix Salten über ein jüdisches Schauspiel, „Christen und Juden bildeten zu gleichen Teilen das Publikum, ja es gab Abende, an denen die Christen weitaus die Mehrheit waren […]. Wie seltsam war diese Wienerstadt, wo feindliche Gesinnungen so friedlich sich miteinander mengten, wo kein Mensch politische Programme wichtig zu nehmen schien, wo die Gegner ebenso bereit waren einander zu umarmen, wie einander die Schädel einzuschlagen.“323 Dennoch: Die Etablierung jüdischer Theater in einem Bezirk mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung mag ein wichtiges Indiz für meine These sein, dass eben die kulturelle Übereinstimmung beziehungsweise ein gemeinsamer kultureller Kommunikationsraum maßgeblich waren für das Verbleiben jüdischer Zuwanderer in einem relativ geschlossenen städtischen Raum, wobei das Theater diese kulturelle Zusammengehörigkeit beziehungsweise Kommunikation wohl noch verstärken konnte. Erst zur Zeit des Ersten Weltkriegs versuchte man mit der Gründung der „Freien Jüdischen Bühne“ diese kulturelle Isoliertheit aufzubrechen. 323 Zit. in: Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne, S. 46.
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judentum – bildung – kultur
Judentum – Bildung – Kultur Wenn die Religion als ein umfassender kultureller Rahmen für gläubige Juden Halt und Orientierung bedeutete, ist es durchaus nachvollziehbar, dass gerade Assimilierte oder konfessionslos gewordene Juden sich in der Regel von einem solchen kulturellen Ambiente fernhielten und sich mit diesem keineswegs zu identifizieren vermochten. Dies betraf unter anderem gleichermaßen auch die Einstellung zum ostgalizischen jiddischen Theater: „Das jiddische Theater, das ein Teil der Kultur der galizischen Einwanderer war, wurde von den akkulturierten Wiener Juden abgelehnt, die ostjüdische Kultur sollte nicht zur Schau gestellt werden, auch um den Antisemiten keine weitere Angriffsfläche zu bieten.“324 Erst der wachsende Antisemitismus ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert drängte manche Assimilierte dazu, sich ihres jüdischen Ursprungs wieder erneut zu besinnen, sie begannen sich auch für das religiöse Judentum zu interessieren und eine Mehrfachidentität anzueignen, das heißt neben der Identifikation mit Wien, mit Österreich oder einer deutschen Kultur auch eine jüdische Identität für sich zu beanspruchen. Gute Beispiele dafür sind der bereits erwähnte Arthur Schnitzler oder Arnold Schönberg. „Künstler und Literaten“, meint Hans Tietze, „waren um den Preis völliger Assimilierung unentbehrliche und mitbestimmende Bestandteile der Wiener Kultur geworden.“325 Stefan Zweig betont in seinen Erinnerungen ausdrücklich, wie entscheidend der jüdische Anteil an der Kultur der Wiener Moderne gewesen war. Ohne die Förderung durch das „jüdische Bürgertum“ und ohne den Beitrag zahlreicher assimilierter Künstler und Schriftsteller wäre Wien „dank der Indolenz des Hofes, der Aristokratie und der christlichen Millionäre, die sich lieber Rennställe und Jagden hielten, als die Kunst zu fördern, in gleichem Maße künstlerisch hinter Berlin zurückgeblieben wie Österreich politisch hinter dem Deutschen Reich.“326 Dennoch plädiert Zweig keineswegs für eine spezifische jüdische Kultur: „Denn gerade in den letzten Jahren war […] das Wiener Judentum künstlerisch produktiv geworden, allerdings keineswegs in einer spezifischen jüdischen Weise, sondern indem es durch 324 Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne, S. 158. 325 Hans Tietze, Die Juden Wiens, S. 206. 326 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 37.
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ein Wunder der Einfühlung dem Österreichischen, dem Wienerischen den intensivsten Ausdruck gab.“327 Mit dieser Einschätzung antizipiert Zweig gewissermaßen die späteren Aussagen von Ernst H. Gombrich, wonach man bei den von assimilierten Juden ausgeübten Künsten nicht berechtigt sei, von einer „jüdischen“ Kultur zu sprechen, da es eine Tatsache wäre, „daß die meisten assimilierten Juden in Wien viel mehr mit ihren nichtjüdischen Landsleuten gemein hatten als mit den Neuankömmlingen aus dem Osten“.328 Gombrich bezieht sich hier ausschließlich auf die repräsentative Kultur, vor allem auf jene in Wien um 1900 bis in die Dreißigerjahre und meint, wer hier von einer jüdischen Kultur spreche, die bar jeder religiösen jüdischen Bindung war, beziehe sich auf ethnische Vorgaben und rückwirkend auf die Prinzipien der Nürnberger Rassengesetze und differenziere bei den Kunstproduzenten und Mäzenen ausschließlich aufgrund des Kriteriums der „ethnischen“, das heißt der rassischen Zugehörigkeit. Vielleicht könnte man zusätzlich ergänzen, dass hier darüber hinaus auch nach dem gleichen Muster vorgegangen wird, wie auch „Nationalkultur“ insgesamt konstruiert wird, durch die Inklusion kultureller Elemente in ein homogenes nationales Korsett oder durch die Exklusion von „fremden“ Elementen, von denen man meint, sie würden die Homogenität einer Nationalkultur behindern. Dies trifft auch auf Versuche zu, eine „österreichische“ (National-)Kultur zu konstruieren,329 eine solche bleibt jedoch, wie jede Kultur, die ein dynamischer, performativer Prozess ist, in Wirklichkeit offen, durchlässig und hybrid. Eine Täuschung also, wie Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ die Absicht Diotimas parodistisch hinterfragt, eine „alte österreichische“ Kultur – freilich vergeblich – zu definieren: „Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreichs zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. 327 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 38. 328 Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung, Wien: Passagen 1997, S. 45. 329 Vgl. Emil Brix, Einleitung, in: Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal, S. 11–30.
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Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft.“330 Freilich handelt es sich hier im Grunde genommen nicht um eine österreichische, sondern eine städtische (Wiener) Kultur. Dabei kann nicht geleugnet werden, dass, abgesehen von einer mehr oder weniger geschlossenen, typischen ostjüdischen Stetl-Kultur, die sich beispielsweise im zweiten Bezirk vorfand und von der auch Gombrich die repräsentative Kultur Wiens klar unterscheidet, Elemente aus der „mémoire culturelle juive“ mit dieser städtischen Kultur verschmolzen und zu integralen Bestandteilen dieser hybriden Wiener Kultur werden konnten. Ich erwähnte bereits, dass das jüdische Theater auch manche Bereiche der Operettenproduktion beeinflusst hat. Insgesamt ließe sich auch statistisch belegen, dass die Unterhaltungsbranche zunehmend von Künstlern dominiert wurde, die (auch) einen jüdischen Background aufzuweisen hatten; diese Branche war also ebenfalls eine wichtige Schnittstelle, an der sich unterschiedliche verbale und nonverbale, vor allem musikalische Kommunikationsräume überlappten. Daher nahmen nicht nur unterschiedliche folklore musikalische Elemente, zum Beispiel bei Franz Lehár oder Emmerich Kálmán, eine wichtige Rolle ein, auch die zum Teil geistreichen, humorvollen Pointen der Libretti verdankten sich unter anderem der doppeldeutigen Argumentation des jüdischen Witzes.331 „Es erübrigt sich“, meint Hans Tietze in diesem Zusammenhang, „diese Tatsache mit Ziffern oder Namen zu belegen; sie ist von judenfeindlicher Seite so oft beklagt worden, aber sie ist auch objektiv richtig, daß man ruhig zugeben muß, daß die Beherrschung der öffentlichen Meinung und die Unterhaltung des Theaterpublikums jüdische Geschäfte geworden waren.“332 Karl Kraus war einer der Ersten, der diesen neuen, zu musikalischer Sentimentalität neigenden Operettentypus mit seinen oft seichten Libretti oder sinnlosen, in vielen Fällen ironischen und daher oft missverstandenen Handlungsabläufen, heftig angefeindet hatte. Es ist dieses anhaltende Verdikt von Karl Kraus, der die Operette nach Offenbach, 330 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 101. 331 Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay, Wien/Köln/Weimar: Böhlau ²1998, S. 109–124. 332 Hans Tietze, Die Juden Wiens, S. 220.
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beginnend mit der Fledermaus, die „des Übels Urquell“ sei, „als die ernstgenommene Sinnlosigkeit auf der Bühne“ apostrophiert333 und in der angeblich politikkritischen Offenbachiade einen verbindlichen Maßstab für jede Operettenproduktion erblickt hat. Diese Einschätzung konnte sich in der Folge weit verbreiten, ihr ist in jüngster Zeit auch noch Volker Klotz verpflichtet.334 Der Offenbach-Biograf Siegfried Kracauer sah dies schon viel früher freilich differenzierter: Er attestierte der Operette nicht nur ein revolutionäres Pathos, er machte unter anderem auch auf ihre das politische Regime des Seconde Empire Napoleons III. unterstützende Funktion aufmerksam und plädierte für ihre Kontextualisierung in einen umfassenden sozial-kulturellen Zusammenhang: „Die Operette konnte entstehen, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war.“335 Doch zurück zur Position von Kraus: Später wurde sie durch die strikt ablehnende Attitüde Adornos weiterhin unterstützt,336 der den Warenfetischismus in der Operette (Ausstattungsoperette) demaskiert und ihr als Unterhaltungsform jegliche ästhetische Berechtigung abgesprochen hatte.337 Auf diese Einschätzung Adornos beruft man sich zuweilen auch heute noch, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Und dies ist umso erstaunlicher, als im Vergleich dazu die einseitige Polemik Adornos gegen den Jazz längst an Glaubwürdigkeit verloren hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte dann auch die bereits erwähnte antisemitische Perspektive eine wichtige Rolle. Die nationalsozialistische Ideologie hat die meisten Operetten des 20. Jahrhunderts als „verjudet“, „entartet“ und daher einer bloß „silbernen“ Verfallsära zugehörig apostrophiert, das heißt, sie gehörten einem Genre an, das, mit wenigen Ausnahmen, zu denen zum Beispiel Franz Lehár zählte, strikt abzulehnen und zu verbieten sei; im Gegensatz dazu be333 Die Fackel, 10. Jahr, Nr. 270–271, 19. Jänner 1909, S. 12. 334 Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, erweiterte Auflage, Kassel u.a.: Bärenreiter 2004. 335 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, hg. von Ingrid Belke, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2005, S. 193. Vgl. auch u.a. S. 289, 292, 345, 354. 336 Vgl. u.a. Theodor W. Adorno, „Leichte Musik“, in: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 14, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1997, S. 199–218. 337 Zur ästhetischen Dimension von Unterhaltung vgl. Richard Shusterman, Unterhaltung: Eine Frage für die Ästhetik, in: Christoph Jacke u.a. (Hg.), Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld: transcript 2006, S. 70–96.
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Judentum – Bildung – Kultur
zeichnete man die Wiener Operettenproduktion des 19. Jahrhunderts, nach der willkürlichen „Arisierung“ von Johann Strauß, als eine „goldene Ära“, sie wurde folglich zu einer ernsthaften Kunstform aufgewertet. Bis in die Gegenwart bedient sich die Musikwissenschaft völlig unkritisch dieser von der NSKulturpolitik implementierten Differenzierung zwischen einer „goldenen“ und „silbernen“ Operettenära, an der sich auch die seit den 1930er-Jahren an die Kunstmusik, die so genannte E-Musik angelehnte, opernhaft-pathetische Aufführungspraxis orientiert, die gleichfalls bis in die Gegenwart anhält (zum Beispiel bei den Platten- und CD-Einspielungen). Das bedeutet nichts Geringeres, als dass man sich, zumeist unbewusst, noch immer an dieser von der NS-Ideologie vorgegebenen Bewertung orientiert. „Den heutigen Interpreten scheint nicht bewusst zu sein“, meint daher zu Recht Kevin Clarke, „welche Ideologie sie damit fortführen.“338 Auf ein weiteres Beispiel wechselseitiger kultureller Überschneidungen beziehungsweise Symbiosen habe ich schon mehrfach hingewiesen: Auf eine spezifische Variante des Wiener Feuilletons der Jahrzehnte um 1900, ernsthafte Themen leicht und ironisch zu umschreiben, dabei Fragen zu stellen, ohne diese zu beantworten, und eindeutige moralische Bewertung vorzunehmen, eine Art des Feuilletons, die vor allem von Karl Kraus vehement angegriffen wurde; sie könnte auf eine Argumentationsweise Moritz Gottlieb Saphirs, des langjährigen Redakteurs des Wiener „Humorist“, zurückgehen. Dieses humorvolle, lässige Hinterfragen von ernsten Themen, ohne eine Lösung anzubieten, um dann die Antworten letztlich dem Leser zu überlassen, führt Saphir selbst indirekt auf die Unterrichtspraxis in der Talmudschule zurück, die er in Prag besucht hatte. Es ist daher nicht abwegig, hier von einem „jüdischen Code“ zu sprechen, der zu einem integralen Bestandteil einer Wiener Kultur wurde, unabhängig davon, ob die Verfasser solcher Feuilletons jüdischer oder anderer Provenienz waren.339 338 Kevin Clarke, Zurück in die Zukunft. Aspekte der Aufführungspraxis des Weißen Rössl, in: Ulrich Tadday (Hg): Im weißen Rössl. Zwischen Kunst und Kommerz (Musikkonzepte, Bd. 133/134, Neue Folge), München: edition text+kritik 2006, S. 101–126, Zit. S. 107. – Zum Umgang der NS-Kulturpolitik mit den Produkten der „silbernen“ Operette vgl. auch: Wolfgang Schaller (Hg.), Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und „Entartung“. Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, Berlin: Metropol 2007. 339 Vgl. Moritz Csáky, Ideologie der Operette, S. 114–116.
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„Aufstieg ins Geistige“ In Bildungsinstitutionen wie an den Gymnasien oder an den Universitäten und Hochschulen begegneten sich Repräsentanten unterschiedlicher sprachlicher beziehungsweise kultureller Kommunikationsräume. Stefan Zweig betonte nachdrücklich, einen wie hohen Stellenwert Bildung für Familien mit einem religiösen jüdischen Background hatte; diese wären bestrebt gewesen, zumindest einem der Kinder den Zugang zu einer höheren Bildung zu ermöglichen, um dadurch, wie Zweig meinte, „sich und seine ganze Rasse vom Fluch des Geldes zu erlösen“.340 Daher wurde der „eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal […] der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht […]. Diese Überordnung des Geistigen geht bei den Juden einheitlich durch alle Stände, auch der ärmste Hausierer, der seine Packen durch Wind und Wetter schleppt, wird versuchen wenigstens einen Sohn unter den schwersten Opfern studieren zu lassen, und es wird als Ehrentitel für die ganze Familie betrachtet, jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker, als ob er durch seine Leistung sie alle adelte.“341 Engelbert Pernerstorfer zeichnet in seinen Rückerinnerungen an den jungen Viktor Adler aus dem Jahre 1912 ein ähnliches Bild, wenn er meint: „Viktor Adler war der Sohn eines nach Wien eingewanderten böhmischen Juden, der, obwohl durch und durch Geschäftsmann, doch den gemeinsamen Zug seiner Rasse hatte: die Achtung und Hochschätzung des Wissens und das Bestreben, seinen Söhnen, deren er vier besaß, alle Tore der Bildung zu öffnen.“342 Freilich ist sich Stefan Zweig angesichts der zunehmenden antisemitischen Vorurteile und Stereotypen der Gefahr dieses Strebens nach höherer Bildung durchaus bewusst: „Daß diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionierte Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist, wie vordem seine Einschränkung ins Materielle, gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals.“343 Diese Feststellung bestätigt erneut die bereits erwähnte Hypothese von Ernst H. Gombrich, die Auflösung von tra340 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 25. 341 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 25. 342 Engelbert Pernerstorfer, Aus jungen Tagen, in: Der Strom 2 (1912/13) S. 98–102, Zit. S. 98. 343 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 26.
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ditionalen sozialen Schichten und die Möglichkeit für „Fremde“, sich in diesen Gruppen zu etablieren, sei eine der Ursachen für Verunsicherungen, für Identitätskrisen und für Argwohn und Abneigung jenen „Fremden“ gegenüber gewesen, die sich nun, plötzlich und unerwartet, in unterschiedlichen, bislang relativ geschlossenen und privilegierten sozialen Milieus vorfanden. Dazu kam noch deren „fremde“ Herkunft aus unterschiedlichen sprachlichkulturellen Kontexten der zentraleuropäischen Region. Ohne dass ich hier darauf näher eingehen möchte, werden die Aussagen Zweigs und Pernerstorfers auch durch mehrfach errechnete statistische Erhebungen einigermaßen bestätigt. Sie beziehen sich auf unterschiedliche akademische Fachrichtungen und Berufe, in denen Personen nachweisbar sind, die einem jüdischen religiös-kulturellen Kontext angehörten. Hans Tietze weist in seiner Monografie über die Geschichte der Juden in Wien explizit auf deren hohen prozentuellen Anteil in „intellektuellen Berufen“ am Ende des 19. Jahrhunderts hin: „Um 1890 sind unter 681 Wiener Rechtsanwälten 394 Juden, unter 360 Advokaturskandidaten 310 Juden, auch unter den Ärzten ist die Mehrzahl jüdisch. Dabei wächst der Zudrang zu den Mittel- und Hochschulen immer mehr an; an der Wiener Universität sind 1889/90 an der juridischen Fakultät 22 %, an der medizinischen 48 %, an der philosophischen 15 % Juden. Auch im Lehrkörper haben sie Fortschritte gemacht; eine antisemitische Denkschrift über die Wiener Universität zählt 1894 an der medizinischen Fakultät 2 ordentliche, 14 außerordentliche Professoren, 37 Privatdozenten mosaischen Glaubens auf.“344 Nach Steven Beller waren es im Jahre 1910 an der juridischen Fakultät der Wiener Universität 37,5 Prozent, an der medizinischen 51,2 Prozent und an der philosophischen 21,6 Prozent der Lehrenden.345 Freilich ist nicht klar, ob Beller hier seinem Prinzip getreu auch die Assimilierten oder, nach seiner Diktion, die „Halb-“ und „Vierteljuden“ mitzählt. Im Verlaufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte die Zahl im Bereich der freien Berufe noch beträchtlich zunehmen; John und Lichtblau weisen darauf hin, dass 1936 62,7 Prozent der Wiener Zahnärzte, 62 Prozent der Wiener Rechtsanwälte und 47,2 Prozent der Ärzte Juden waren, abgesehen von dem weit über 50 Prozent liegenden hohen Anteil, den sie in anderen 344 Hans Tietze, Die Juden Wiens, S. 220. 345 Steven Beller, Vienna and the Jews 1867–1938, S. 36. Zum proportionalen Anteil der an der Universität Wien Studierenden vgl. S. 34.
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Berufen (als Weinhändler, Textilhändler, Spirituosenhändler, Schuhhändler) einnahmen.346 Vergleicht man diese Situation mit jener in Ungarn, ist dort Ähnliches festzustellen: 1910 waren von 6743 Rechtsanwälten Ungarns 3049 jüdischen Glaubens, unter den 2084 praktischen Ärzten befanden sich 1205 Juden. Auch die statistischen Erhebungen an den ungarischen Universitäten und Hochschulen, vor allem in Budapest, stimmen, was den prozentuellen Anteil von Juden insbesondere an den juridischen und medizinischen Fakultäten anlangt, mit jenen an den Wiener Hochschulen durchaus überein, wie den Untersuchungen von Lajos Venetianer zu entnehmen ist; er macht auch für Ungarn auf den hohen Anteil jüdischer Gymnasiasten (zwischen 1894 und 1913: 17,5–20,38 Prozent) und Besucher von Realschulen (zwischen 1894 und 1913: 35,3–39,81 Prozent) aufmerksam.347 Für die Mittelschulen in Wien verweise ich wiederum auf die Darstellung von Marsha L. Rozenblit, die statistische Berechnungen für die einzelnen Gymnasien und Realschulen durchgeführt hat. Demnach pendelt sich der Anteil jüdischer Gymnasiasten zwischen 1875/76 und 1910/11 auf 28,7 bis 34,3 Prozent ein, jener der Realschüler ist im Vergleich zu Ungarn beträchtlich niedriger, nämlich im gleichen Zeitraum 19,7 bis 23 Prozent.348 Auch in dem von Benediktinern geführten Schottengymnasium finden wir Schüler aus Elternhäusern mosaischen Glaubensbekenntnisses, im Schuljahr 1875/76 waren es 12,9 Prozent. Auch der 1852 in Prag geborene Viktor Adler besuchte dieses katholische Privatgymnasium. Ohne Zweifel waren Universitäten, Hochschulen, Gymnasien und Realschulen jene Schnittstellen, an denen sich vor allem eine zweite Generation von Immigranten in einen spezifischen urbanen sozialen Kontext integrierte, auch wenn ihre zunehmende Präsenz sie zuweilen noch immer als ein „Fremdelement“ sichtbar werden ließ, was nach Stefan Zweig als ein Argument für antisemitische Attitüden genutzt wurde, die „Fremdheiten“ neu zu konstruieren versuchten. Wie stark dieses Ineinandergreifen unterschiedlicher kultureller Backgrounds in einer Schul346 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien, S. 34. 347 Venetianer Lajos, A magyar zsidóság története. Különös tekintettel gazdasági és művelődési fejlődésére a XIX. században (Geschichte des ungarischen Judentums. Mit besonderer Berücksichtigung auf seine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im 19. Jahrhundert), Budapest: Könyvértékesítő Vállalat 1986 (= Reprint der Ausgabe 1922), S. 471–483. Der Anteil von Juden an Gymnasien und Realschulen S. 468–469. 348 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, S. 104–107.
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gemeinschaft sein konnte, oder: wie sehr sich Schüler jüdischer Provenienz an einen gemeinsamen Bildungskanon zu assimilieren vermochten, beschreibt Engelbert Pernerstorfer in seinen Erinnerungen an das Schottengymnasium, das er unter anderem gemeinsam mit Viktor Adler besucht hatte: „Wir waren kein leicht zu regierendes Volk. Den Professoren gegenüber hielten wir stramm zusammen und ein sogenanntes ‚Weinberl‘ [= Protektionskind, M. Cs.] hätte unter uns ein schlechtes Leben gehabt. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, daß unter uns jemals einer in einer solchen Rolle aufgetreten wäre, obwohl natürlich auch in unserer Klasse die üblichen Mischungen aller menschlichen Charaktere zu finden waren. In der vierten Klasse nun gaben wir uns eine Verfassung, natürlich nach römischem Muster, in der es an der Bestellung von Volkstribunen nicht fehlte. Ich hatte den Vorschlag gemacht, den paar Juden in der Klasse einen eigenen Tribun zuzubilligen. Dagegen wendete sich Viktor Adler in einer kleinen Zuschrift an die Klasse, die er mir als den Leiter der Bewegung übergab. Dieses Schriftstück, das ich heute noch besitze, war die Veranlassung unmittelbaren häufigen persönlichen Verkehrs, der nun nicht mehr abriß, vielmehr enger wurde. In diesen Verkehr wurden mehrere andere Buben der Klasse, mit denen ich schon früher einen literarischen Verein gebildet hatte, einbezogen. Es kam zur Auflösung dieses und zur Bildung eines neuen Vereins, der bis zum Ende des Gymnasiums bestand.“ Was hier in Bezug auf die Überlappung unterschiedlicher kultureller Kommunikationsräume von besonderem Interesse ist: Die „Vereinssitzungen“ fanden im Elternhaus Adlers statt. „Die Zusammenkünfte, die bald regelmäßig alle Sonntage stattfanden und von der Jause bis einschließlich des Nachtmahls dauerten und die für das wohlhabende, aber nicht gerade reiche Haus eine ganz beträchtliche finanzielle Belastung bedeuteten, wurden von Vater Adler nicht nur nicht gehindert, sondern allerwege begünstigt. Dabei hatte er den Takt, von unseren ‚Sitzungen‘ alle Störungen fernzuhalten, so daß wir uns sehr selbständig fühlten. Wir waren immerhin sechs bis zehn Buben, und in späteren Jahren, auf der Universität, wo diese Sonntage fortdauerten, noch mehr und wir waren gesund und konsumkräftig, sowohl was irdische als was geistige Nahrung anlangte.“349 Diskutiert wurde zunächst fast ausschließlich über Literatur, doch „standen auch schon in den Gymnasialjahren die politischen Dinge im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit. […] 349 Engelbert Pernerstorfer, Aus jungen Tagen, S. 98–99.
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Der literarische Gymnasialverein hatte sich 1870 aufgelöst und an seine Stelle trat ein ‚Sozialpolitischer Verein‘ […]. Als der ‚Sozialpolitische Verein‘ sich nach einem Jahre auflöste, blieben doch die Sonntagszusammenkünfte bestehen. Sie waren auf der Universität vielen als der ‚Adlerhorst‘ bekannt.“350 Was Pernerstorfer nicht erwähnt oder als „neuen Verein“ (siehe oben) apos trophiert, ist eine andere Vereinigung, nämlich die durch den Einfluss des Deutschprofessors P. Hugo Mareta unter den Schülern des Schottengymnasiums ins Leben gerufene „Telyn-Gesellschaft“, die sich an mittelalterlichen irisch-keltischen und germanischen Mythen, zum Beispiel dem Nibelungenlied, orientierte und gerade unmittelbar vor der Deutschen Reichsgründung zu einer deutschnationalen Ausrichtung der Schüler beitrug. McGrath hat diesen Schülerverein in seiner Monographie über den „Pernerstorfer-Kreis“, der besser als „Lipiner-Kreis“ bekannt ist, eingehend untersucht. Letzterem gehörten, wie bereits erwähnt, unter anderem Siegfried Lipiner, Viktor Adler, dessen Schwager Heinrich Braun, Gustav Mahler oder der junge Dirigent Bruno Walter an.351 Die Katastrophe der Shoa hatte zur Folge, dass ca. 65.000 der um 1938 190.000 in Wien beheimateten Juden in den Gaskammern des Dritten Reiches ermordet wurden, während die übrigen zur Emigration gezwungen wurden. Gegenwärtig sind nur mehr sechs- bis achttausend Juden in Wien ansässig.352 Dies spiegelt nicht nur eine einmalige menschliche Tragödie, sondern zugleich, betrachtet man beispielsweise die jüdischen Intellektuellen als einen integralen Teil einer Wiener Kultur, eine enorme intellektuelle Verarmung des urbanen kulturellen Milieus.
350 Engelbert Pernerstorfer, Aus jungen Tagen, S. 101. 351 William J. McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven/London: Yale University Press 1974, S. 17–52. – Über den Lipiner-Kreis vgl. auch Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte Bd. 4: Von 1890 bis 1918, Wien: Carl Fromme 1937, S. 1560–1570. – Robert Kann, Siegfried Lipiner (1857–1911) als Vertreter einer polnisch-deutschösterreichischen kulturellen Synthese, S. 99–107. – Vgl. auch Bruno Walter, Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1973 (1950), S. 206–219. 352 Andreas Weigl, „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert,S. 155.
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Alltagsantisemitismen Freilich wurde dieses tragische Schicksal auch von einer zunehmend abweisenden und feindlichen Einstellung den Juden gegenüber mit verursacht. Der Antisemitismus der Jahrzehnte um 1900 entsprach sowohl gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen als auch rassistischen Voreingenommenheiten, mit fatalen und – im wörtlichen Sinne – letalen Konsequenzen. Der Antisemitismus wurde zum Surrogat für fremdenfeindliche Attitüden, die sich, wiederum mit Verweis auf Ernst Gombrich, den sozioökonomischen Transformationen verdankten, die große Mobilitäten und Migrationen zur Folge hatten; „Fremde“, Zugewanderte nahmen plötzlich, unerwartet dort ihren Platz ein, der zunächst Alteingesessenen und Einheimischen gesichert war, sie wurden daher als Eindringlinge angesehen, zum Teil heftig attackiert, man versuchte, sich ihrer zu entledigen und sie zumindest verbal mit Invektiven und Injurien auszuweisen. „Die Reichen halten sich an Morphium und Haschisch“, meinte Hermann Bahr. Und: „Wer es sich nicht leisten kann, wird Antisemit. Der Antisemitismus ist der Morphinismus der kleinen Leute.“353 Es möge daher hier nicht auf die allgemeine Problematik des Antijudaismus und Antisemitismus im Allgemeinen, vielmehr in aller Kürze auf den Alltagsantisemitismus, auf den „Morphinismus der kleinen Leute“ in Wien eingegangen werden. Wir verdanken über diesen Gertraud Pressler, die auch die Fremdenfeindlichkeit den Wiener Tschechen gegenüber untersucht hat, wichtige Hinweise.354 Es sind diskursive Konstruktionen von Fremdbildern, derer sich bereits Johann Pezzl in seiner „Skizze von Wien“ im ausgehenden 18. Jahrhundert bedient hat. Dabei machte Pezzl einen deutlichen Unterschied zwischen den bereits Assimilierten, den reichen Familien der Arnsteiners, Wetzlars, Hönigs oder Eskeles, die positiv beurteilt werden, und den armen orthodoxen ostgalizischen Juden, die sich in Wien jeweils nur für wenige Wochen aufhielten; diese werden zum Teil mit Klischees bedacht, die noch in den Jahrzehnten um 1900 ebenso wirkungsmächtig waren. Zugleich schwingt in Pezzls Beschreibung indirekt auch Fremdenfeindlichkeit ganz allgemein mit, zum Beispiel Negativstereotypen über Galizien oder Polen. 353 Herman Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, hg. von Hermann Greive, Königstein/Taunus: Jüdischer Verlag 1979 (1894), S. 15. 354 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, S. 63–82.
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„In Wien“, führt Pezzl aus, „schweben ungefähr fünfeinhalbhundert Judenseelen. Ihr einziger rund ewiger Beruf ist zu mauscheln und schachern und Geldmäkeln und zu betrügen, Christen, Türken, Heiden, ja sogar sich selbst untereinander. Die Judengasse, die Pressgasse und die dortigen Winkel der Stadt nennt man spottweise das Neue Israel; denn da wimmelt’s besonders gegen Mittag und Abend in der Dämmerung von armen Beschnittenen, die nach hebräischem Akzent Deutsch miteinander sprechen und zanken, und dies mit solchem Eifer, daß ihnen der Geifer in den schmutzigen Bart fließt und sie wohl auch unabsichtlich ins Gesicht speien. Dies ist indessen bloß der bettelhafte Troß aus Kanaan, der an Schmutz, Unsauberkeit, Gestank, Ekelhaftigkeit, Armut, Schelmerei, Zudringlichkeit und, was etwa sonst noch die Eigenschaften des auserwählten Volkes sein mögen, nur noch von dem Gesindel der zwölf Stämme aus Galizien übertroffen wird […]. Die indischen Fakire abgerechnet, gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang-Utan näher kommt, als einen polnischen Juden. […] Von Fuß bis zum Hals voll Kot, Schmutz und Lumpen, in einer Art von schwarzem Sack steckend, der um die Mitte mit einem Gürtel gebunden ist, woran ein schmieriges Stück Riemen und einige Schnüre hängen, die, ich weiß nicht, welche göttliche Gebote und Geheimnisse bedeuten sollen, der Hals offen und von der Farbe der Kaffern, das Gesicht bis in die Augen verwachsen von einem Bart, der selbst dem hohen Priester im alten Tempel Grausen erregen würde, die Haare büschelweise verdreht und in Knoten geknüpft um die Schulter triefend, als ob sie alle die polnische Plika hätten. […] Diese Geschöpfe kommen in den Zeiten der Jahrmärkte zu Hunderten nach Wien, um Waren einzuschachern und in ihre Heimat zu bringen.“355 Pezzl bedient hier Klischees, die, wie erwähnt, noch hundert Jahre später ebenso in Verwendung waren: Das Jiddeln, das Mauscheln, die fremdartige schwarze, lange, schmutzige Tracht, das Handeln, Feilschen und manches mehr. Freilich ist die Grenze zwischen dem Amüsement, das das Fremdartige auf die anderen, die sogenannten Einheimischen ausübt, einem spöttischen Lächeln, mit dem man diesem begegnet und einer offenen Aversion manchmal nur schwer auszumachen. Das Lachen kann unvermittelt zu Hass überleiten und eine offene Ablehnung ist oft mit einer Prise Humor gewürzt. Ebenso wie gegenüber den Tschechen gibt es auch gegenüber den Juden Wiens ein oft 355 Johann Pezzl, Skizze von Wien, S. 170–171.
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liebenswürdiges, witziges Umgehen mit solchen „Regelverstößen“: Das Jiddeln des Wolf Bär Pfefferkorn in Lehárs „Rastelbinder“ ist dies ebenso wie das Böhmakeln in der Polka der „Fledermaus“ oder das Ungarisch-Deutsch im „Zigeunerbaron“ oder in manchen Operetten Lehárs und Kálmáns, wodurch zugleich die Aversion gegenüber einer veralteten, feudalen Gesellschaftsstruktur zum Ausdruck gebracht werden konnte, die im politischen System Ungarns noch immer besonders augenfällig verankert war. Das Jiddeln und Böhmakeln hatte in Wiener Possen und Volksbelustigungen eine alte Tradition und musste, folgen wir einem Bericht von Julius Löwy aus dem Jahr 1897, keineswegs immer einen ausschließlich negativen Beigeschmack haben: „Man ist in Wien gewohnt, als komische Figur einen Juden oder einen Böhmen zu sehen. Man denkt dabei weder an Antislavismus oder Antisemitismus […]. Der Böhm und der Jud sind ja Wiener Volksfiguren und sie gehören zum Wiener Volksleben.“356 Freilich: Wenn man näher hinsieht, erweisen sich solche Belustigungen keineswegs als harmlos, die Grenze zwischen Humor, Spott und Verachtung ist fließend und die Grenze des guten Geschmacks weit überschritten. „Die Juden in Wien“, meint daher Albert Lichtblau, „waren beliebtes Spottobjekt, das Jiddeln eine Kunstform, der Antisemitismus ein Volkssport. Der Schmäh des Dr. Lueger kam beim Wiener erst an, als er sich gegen die Juden richtete.“357 Die Schriftstellerin Wilma von Vukelich aus Osijek (Essek) in Slawonien, die in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts im 2. Bezirk Schülerin eines Mädchenpensionats war, hat diesen Alltagsantisemitismus hautnah miterlebt und erinnert sich rückblickend an die „Schlägereien im Parlament, Judenhetzen im Gemeinderat, das in den Gassen immer wieder auftönende Hepp Hepp! beim Anblick prononcierter Judentypen aus dem Osten.“358 Antiböhmische Diskurse durchzogen auch die Debatten des Abgeordnetenhauses, vor allem seit der Badeni-Krise, hier freilich stets in Gegenüberstellung der „Czechen“ zu den Deutschen. Die diskursive Konstruktion von Antisemitismen erfolgte vor allem in konservativen, christlichsozialen Zeitungen, wie zum Beispiel der „Reichspost“, die nicht müde 356 Julius Löwy, Eine Soirée beim Hirsch. Zit. in: Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, S. 67. 357 Albert Lichtblau, „A Hetz muaß sein!“ Der Wiener und seine Fremden, in: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderer in Wien. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996, S. 145–150. Zit. S. 148. 358 Wilma von Vukelich, Spuren der Vergangenheit, S. 212.
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wurde, die liberalen und sozialdemokratischen Presseorgane als „verjudet“, als „judenliberal“ zu beschimpfen: „Die rothe und die goldene Judenpresse heult und schimpft“, heißt es da. Der österreichisch-ungarische Ausgleich sei, so die christlichsoziale „Reichspost“ 1897, „die Uebervortheilung Oesterreichs, gegen die unberechtigte Präponderanz der Judäomagyaren.“359 Das heißt: Fremdenfeindliche Äußerungen gegenüber den Tschechen oder Juden im Alltag müssen auch in diese übergreifenden Kontexte, in dieses engmaschige Netzwerk von Diskursen versetzt werden, um die Nachhaltigkeit und die Folgen solcher Witzeleien richtig einschätzen zu können. Anders gewendet ging es um eine Ausdifferenzierung von kulturellen Kommunikationsräumen, die sich im urbanen Milieu nicht nur begegneten, sondern auch ineinander übergingen und zu einer performativen, hybriden, sensiblen kulturellen Situation beitrugen und den homogenen, von nationalen Vorgaben diktierten kulturellen Vorstellungen zuwiderliefen. Humor, Spott, Verachtung und Vernichtung werden in einem im Wurstelprater praktizierten „Volkssport“ deutlich, sichtbar unter anderem auf einer Zeichnung in Rudolf Holzers „Wiener Volkshumor“: Der Kasperl erschlägt den jüdischen Wucherer Itzig. „Die Itzig-Puppe hat eine krumme Nase, große Ohren, einen Kaftan und die für orthodoxe Juden typische Haartracht und Kopfbedeckung“360 – Stereotypen, denen wir bereits bei Pezzl begegnet sind. Carl Lorens erkannte freilich in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts „im Wurstel bereits einen unheilvollen Vorboten des radikaler werdenden Antisemitismus“, und brachte seine Befürchtungen in folgendem Couplet zum Ausdruck: „Der Wurstel ist’s höchste, es ist fast zum Lachen – Seit fünfzig Jahr thut er das Nämliche machen, – Den Juden erschlagt er, den G’spaß thut man kenna, – Weg’n den braucht man heut net in Prater h’nabrenna. – Liest man die Berichte der Antisemiten, – Die freßeten z’samma gern die Israeliten.“361 Zwei Generationen zuvor machte Adalbert Stifter in seinem Essay über den Prater auf einen ähnlichen „Brauch“ aufmerksam, nur handelte es sich dort nicht um das Töten eines Juden, sondern eines Türken, um das 359 Zitate aus der „Reichspost“ (1897) in: Markus Erwin Haider, Im Streit um die österreichische Nation, S. 154–155. 360 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, S. 72 (die erwähnte Abbildung auf S. 73). 361 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, S. 73–74.
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„Türkenstechen“: „[…] zu dem Geschwirre fliegen Reiter in einem Kreise auf hölzernen Rossen herum, und stoßen Türkenköpfe herab und anderes. Da freut sich nicht nur der Knabe des fliegenden Kreises, sondern auch der Handwerksgeselle hat seine Geliebte mitgebracht und sie prangt in einem der kreisenden Wagen, und er sticht Türken – und die genug haben, oder denen übel geworden ist, gehen fort, und neue Gäste steigen ein […].“362 Es ist ein Ausdruck von Fremdenhass, der in einer tödlichen „Hatz“ gegen den Türken kulminiert, wodurch negative Türkenstereotype im Alltag wachgehalten werden. Ende des 19. Jahrhunderts überträgt sich diese visuell und aktiv durchgeführte Vernichtung eines freilich nur mehr virtuellen Feindes, des Türken, auf einen präsenten „Feind“, auf den Juden, dem man im Wiener Alltag auf Schritt und Tritt begegnete. Die diskursive Konstruktion eines jüdischen Feindbildes wird durch den Spaß, den die Praterbesucher angesichts der durch den Kasperl vollzogenen Vernichtung des Juden empfinden, zwar banalisiert, jedoch auch noch weiter untermauert, popularisiert und in den unteren Volksschichten verankert. Ganz deutlich werden hier die unterschiedlichen Diskurse: Die unterschiedlichen Weisen von Wissensproduktion, der humorvolle, spöttische Alltagsdiskurs, die bereits viel deutlichere bildliche Darstellung des Totschlagens und der direkte antisemitische politische Diskurs;363 die Summe solcher Diskurse bilden, nach Michel Foucault, eine „diskursive Formation“, die aus einer unterschiedlichen Perspektive die gleichen oder ähnliche Inhalte vermittelt. Jeder dieser Diskurse zielt auf eine ganz verschiedene Weise auf dasselbe Objekt, die Juden, macht die kulturelle Asymmetrie sichtbar und demonstriert die hegemoniale Attitüde der Nichtjuden – wobei hier immer die deutschsprachige Bevölkerung gemeint ist – über die Juden. Freilich sind, ganz ähnlich wie schon bei Pezzl, vor allem in Couplets und Volksbelustigungen in erster Linie nicht die Assimilierten, sondern die armen orthodoxen Juden der Leopoldstadt gemeint, oder ganz bestimmte Merkmale und Eigenschaften, die diesen zugeschrieben werden, wie die fremd anmutende Kleidung und Haartracht, das Tauschgeschäft oder 362 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Der Prater, S. 324. 363 Vgl. dazu auch Albert Lichtblau, Macht und Tradition. Von der Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien: Picus 1995, S. 212–229.
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der Geldhandel, wobei mit Letzterem auch die Assimilierten assoziiert werden, die in der zeitgenössischen Presse, in Flugblättern oder in der Karikatur zunehmend direkt angegriffen werden.364 Die humorvolle Verspottung der Juden bricht unvermittelt in Judenhass um, Witzelei und Spott in wissenschaftlich untermauerten Rassenantisemitismus, insgesamt Wegbereiter und Vorboten des Holocaust.365
„Mehrsprachigkeit“ des Wiener urbanen Milieus Die Konflikte, die infolge der sich konkurrenzierenden und überlappenden Kommunikationsräume in der Dichte des urbanen Milieus entstanden, waren also nicht nur darin begründet, dass man sich gegen etwas vermeintlich „Fremdes“ zur Wehr setzte, das aufgrund sprachlicher Differenzen – im wörtlichen und übertragenen Sinn – sichtbar wurde. Man konnte wahrnehmen – und dies ist eine meiner zentralen Thesen, auf die ich schon früher eingegangen bin und die ich hier nochmals betone –, dass Wien literarisch nicht nur durch eine deutschsprachige Literatur repräsentiert wurde, sondern ebenso durch Äußerungen in anderen Sprachen (vergleichbar einer in der Gegenwart vorhandenen türkischsprachigen Literatur in Berlin oder einer bosnischen in Graz). Es gab um 1900 zum Beispiel nicht nur eine deutsche, sondern ebenso eine tschechische, eine slowakische, eine slowenische, eine serbische, eine polnische oder eine ungarische Wiener Literatur. Dabei geht es nicht darum, ob diese nicht deutschsprachigen literarischen Produkte die Stadt thematisieren, es geht vielmehr darum, dass diese Literaturen sich unter anderem dem kulturellen beziehungsweise wissenssoziologischen Kontext eines Wiener urbanen Milieus verdanken, oder, in meiner Argumentation von Kultur als Kommunikationsraum, dass sie sich einem durchaus hybriden städtischen Kommunikationsraum verdanken. Zumeist erschienen diese Werke zwar in Prag, Ljubljana oder Krakau, doch auch die Prager deutschsprachigen Autoren, und selbst die Autoren des „Jung Wien“, veröffentlichten ihre Werke 364 Theodor Venus, Der Antisemitismus im österreichischen Pressewesen, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien: Picus 1995, S. 192–211. 365 Vgl. dazu u.a. eine ältere, noch immer aktuelle Untersuchung von Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975.
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vornehmlich nicht in Prag oder Wien, sondern in Berlin oder Leipzig. Vermutlich hätten manche deutschnational gesinnten Intellektuellen, wenn sie sich voll bewusst geworden wären, dass Wien auch eine reiche nicht deutschsprachige Literatur aufweist, dies als für ihr Deutschtum bedrohlich empfunden, da dies den von ihnen postulierten rein deutschen Charakter der Stadt infrage stellte. Gestützt auf das nationale Narrativ versuchte man daher nachweislich, diese nicht deutschsprachigen literarischen Produkte aus ihrem ursprünglichen Wiener sozial-kulturellen Kontext zu exkludieren und in die jeweiligen Nationalliteraturen zu inkludieren, und das nicht ohne Erfolg, wie man bis heute bei der Lektüre von Literaturgeschichten feststellen muss. Das verändert freilich weder den Tatbestand der Vielsprachigkeit Wiens noch die Tatsache, dass Vertreter einer deutschnationalen Ideologie aus Wien eine rein deutsche Stadt machen wollten. Doch: „Das deutsche Wien“, meinte der Schriftsteller Anton Kuh sarkastisch, „ist eine Grazer Erfindung.“366 Hält man sich vor Augen, dass es für selbstverständlich gilt, von einer Prager deutschen Literatur zu sprechen, nicht jedoch von einer Wiener tschechischen Literatur, kann man daraus den Schluss ziehen, wie erfolgreich nationale ideologische Voreingenommenheiten agierten. Vergleichbar den „vielsprachigen“ Wiener Literaturen wird Wien, im nonverbalen kulturellen Bereich, zum Beispiel bei einem „Wiener Neujahrskonzert“, nicht nur durch den „Wiener“ Walzer repräsentiert, sondern ebenso durch einen ungarischen Csárdás, eine böhmische Polka oder eine polnische Mazurka, durch „Wiener“ Musik eben, die gerade zu einem Zeitpunkt solche folkloren Elemente aus der Gesamtregion zu ihren eigenen machte, als der nationalpolitische Diskurs vor allem auf der verbalen Ebene militant auf Trennung und Exklusion bedacht war. Könnte diese Verschränkung „nationeller“ folklorer Elemente auch als ein subversiver Protest gegen das dominante nationale Narrativ interpretiert werden, dem zufolge die einzelnen nationalen Spuren säuberlich voneinander zu trennen wären? Die meisten Erfolgsoperetten von Emmerich Kálmán, mit ihren überwiegend ungarischen Sujets und einschlägigen ungarischen folkloren Elementen entstanden in Wien, wo Kálmán lebte, sie repräsentierten in gleicher 366 Anton Kuh, Wien (1938), in: ders., Luftlinien. Feuilletons, Essays und Publizistik, hg. von Ruth Greuner, Wien: Löcker 4 1991, S. 374–377, Zit. S. 377. – Vgl. auch Helmuth A. Niederle (Hg.), Europa erlesen – Wien, Klagenfurt/Celovec: Wieser 1997, S. 110–115, hier S. 114.
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Weise sowohl die Wiener als auch die typische Budapester Operette. Ähnlich verhält es sich mit der Wiener Küche: Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Wiener Tschechen durch Karikaturen und Witze persifliert, man versuchte sie mit Erfolg, mithilfe deutschnationaler politischer Agitationen zu marginalisieren; böhmische Speisen wurden jedoch gerade zu dieser Zeit zu einem integralen Bestandteil einer echten Wiener Küche. Aufgrund solcher Beispiele könnte man in Bezug auf den komplexen Charakter kultureller Prozesse zumindest zu folgendem Schluss kommen: Nationale und nationalstaatliche Rahmungen beziehungsweise Abgrenzungen machen im kulturellen Bereich wenig Sinn, will man sich nicht der eigentlichen Realität kommunikativer kultureller Praktiken entziehen; sie verdeutlichen kontinuierliche dynamische, performative Prozesse, jenseits von nationalen Etikettierungen. Konkret gesprochen: Kulturelle Prozesse verlaufen in der Regel permanent und prinzipiell auch jenseits von nationalen Diskursen, indem sie transnationale und translokale Verschränkungen aufweisen, auch wenn einzelne ihrer Elemente zuweilen für das nationale Narrativ instrumentalisiert, das heißt in jeweilige Nationalkulturen inkludiert wurden.
Homogenisierung versus Pluralitäten Konflikte hatten ihre Ursache nicht nur in der wörtlichen oder metaphorischen Vielsprachigkeit des urbanen Milieus, sondern auch in den tatsächlichen oder konstruierten sozialen Differenzen, in einer zuweilen imaginierten vertikalen Differenziertheit der städtischen Gesellschaft, indem man alles „Fremde“ pauschal in einen minderen sozialen Status „verfremdete“, solcherart stereotypisierte, von sich abhielt, um der eigenen soziokulturellen Verunsicherung zu entkommen. Die städtische soziale Differenziertheit war um 1900 zwar nicht immer, aber oft auch mit einer sprachlich-kulturellen Differenziertheit identisch, oder man versuchte zumindest, diese auch so zu erklären. Aus einer dieser Perspektiven beurteilte man daher auch in einem deutschnationalen Hochmut die Slawen und Magyaren als kulturell und sozial minderwertig, als „Barbaren“, deren „Missionierung“ misslungen wäre, wie der Schriftsteller Eduard von Bauernfeld gemeint hatte: „Österreich ist deutschen Ursprungs. Seine frühere Aufgabe war, die Barbaren zu bekämp-
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fen, seine spätere: sie zu kultivieren. Dieses wurde leider versäumt.“367 Bereits hundert Jahre zuvor hatte der ungarische Aufklärer und glühende Verehrer Josephs des Zweiten, Johann Graf Fekete, auf das soziale Überlegenheitsgefühl aufmerksam gemacht, das eine der Ursachen für die Verachtung der zahlreichen Fremden in Wien wäre: „Außerdem aber ist der Wiener erfüllt von […] einem törichten Hochmut, der ihn zur Verachtung der Fremden verleitet, weil er zu oft solche zu sehen bekommt, worunter sich auch welche befinden, die sich auf seine Kosten bereichern wollen und seine Gutmütigkeit auszunützen verstehen.“368 Von einer solchen Einstellung den Fremden gegenüber wären auch die Wienerinnen nicht ausgenommen: „Sie sind im allgemeinen wenig zuvorkommend gegen alles, was nicht wienerisch ist. Hätte die Anglomanie nicht von einer der zahlreichsten Cliquen Besitz ergriffen, und hätte die Verehrung für alles aus Paris Stammende die anderen nicht zu einiger Rücksicht gegen Franzosen bewogen, so würden die Angehörigen dieser beiden Völker nicht besser behandelt werden, als alle anderen Fremden, die der gleichen Schwierigkeiten und eines ebenso schlechten Empfanges gewärtig sein können, wie die Angehörigen der Monarchie, die nicht in der Hauptstadt leben.“369 Solche Einstellungen den Fremden gegenüber zeugen von Verunsicherungen, die sich naturgemäß vor allem dann ergeben, wenn kulturelle Markierungen zum Anderen undeutlich oder unsichtbar werden, wenn in der verbalen und nonverbalen Kommunikation Zeichen und Codes zwischen den kulturellen Räumen hin- und herflottieren und zu einer gemeinsamen „Sprache“ verschmelzen. Dies wird unter anderem nicht nur, wie bereits erwähnt, in der konkreten Wiener Umgangssprache, einer kreolisierenden Sprache, sichtbar, auch die Wiener Musik oder die Wiener Küche, das heißt jene nonverbale „Sprache“, die den Alltag bestimmt, bildete und bildet eine dynamische, hybride Gemengelage, sie ist von unzähligen sogenannten Fremdelementen durchsetzt, die jedoch auch unversehens zu „Vokabeln“ der jeweils eigenen Sprache werden. 367 Eduard von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien (1873), in: Bauernfeld’s ausgewählte Werke in vier Bänden, hg. von Emil Horner. Bd. 4, Leipzig: Hesse & Becker o.J., S. 140. 368 Johann Graf Fekete de Galántha, Wien im Jahre 1787. Skizze eines lebenden Bildes von Wien, entworfen von einem Weltbürger. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Victor Klarwill, Wien u.a.: Rikola 1921, S. 32–33. 369 J. Graf Fekete de Galántha, Wien im Jahre 1787, S. 47.
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Selbst nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates, dessen Zentrum Wien bis 1918 war, änderte sich an der plurikulturellen beziehungsweise vielsprachigen Situation zunächst nur wenig, obwohl unmittelbar nach dem Zerfall der Monarchie an die 340.000 Personen in jene Länder, aus denen sie zugewandert waren, in die sogenannten Nachfolgestaaten zurückkehrten. Nach einer gewissen Stagnation zur Zeit der Ersten Republik und massiven Auswanderungen nach dem Anschluss 1938 erhöhte sich schließlich, wie Andreas Weigl ausführt, der Anteil der Immigranten zu Ende des 20. Jahrhunderts wieder auf 40 Prozent.370 Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, im Jahre 2007, weisen von den 1.670.749 Einwohnern Wiens 538.256 oder 32,1 Prozent einen Migrationshintergrund auf, das betrifft Ausländer (19,8 Prozent), von Ausländern in Österreich geborene Nachkommen und von Österreichern im Ausland geborene und rückübersiedelte Kinder. Freilich sind solche Erhebungen nicht treffsicher: „Die konzeptionelle Definition ist jedoch eingeschränkt, da sie die in Österreich geborenen Kinder von bereits eingebürgerten Migrantinnen und Migranten statistisch nicht berücksichtigen kann.“371 Im Unterschied zu den Jahrzehnten um 1900, als die Zuwanderung vor allem aus Ländern der zentraleuropäischen Region, das heißt der Donaumonarchie erfolgte, stammen beispielsweise heute von den 332.200 Ausländern Wiens 272.653 aus Europa (inklusive von 40.137 Personen aus der Türkei), 11.640 aus Afrika und 33.533 aus Asien. Angesichts einer solchen Bestandsaufnahme könnte man in Bezug auf die Situation um 1900, aus der Sicht der Zugewanderten und der nun hier Ansässigen, mit gutem Recht auch folgendermaßen argumentieren: Die Mehrzahl der ehemals nach Wien Zugewanderten können, vor allem wenn sie die Absicht hatten, hier zu bleiben, im Grunde genommen nicht mehr als „Fremde“ bezeichnet werden, sondern bildeten vielmehr die eigentlichen Wiener. Sie wurden zu Wienern, ganz unabhängig von den ideologisch motivierten Versuchen, sie eindeutig national, zum Beispiel als Deutsche oder als Tschechen zu vereinnahmen. Oder: Sie waren Wiener ganz unterschiedlicher nationaler Herkunft. Dieser Sachverhalt traf freilich nicht nur auf die Bewohner Wiens zu, Ähnliches galt vielmehr auch für die Bewohner vieler anderer, selbst klei370 Andreas Weigl: „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“?, S. 151, 149. 371 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2008, Wien: Magistrat der Stadt Wien MA 5 2009, S. 62. Vgl. hier auch die weiteren Belege, S. 64–75.
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ner urbaner Milieus der Region. Eine solche Erkenntnis setzt natürlich voraus, dass man den prozesshaften Charakter von Identitäten wahrnimmt und sich vor der Realität von Mehrfachidentitäten nicht verschließt. Diese Mehrfachcodierung von Identitäten betraf vor allem die zweite Generation, die damit gut zurechtkam. Ihr eindeutiges Bekenntnis zu einer Stadt, zum Beispiel zu Wien, könnte sogar auch als ein subversiver Protest gegenüber jeglicher nationalen Vereinnahmung oder Etikettierung gedeutet werden. In diesem Sinne umschrieben bereits in Wien geborene Tschechen, Angehörige einer zweiten Generation also, ihre supranationale städtische Identität bezeichnenderweise mit folgenden Worten: „Nejsem němec, nechci býti Čechem, jsem Vídeňák“, das heißt: „Ich bin kein Deutscher, ich will kein Tscheche sein, ich bin ein Wiener.“372
372 Monika Glettler, Tschechen und Slowaken in Wien, S. 113.
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V. Peripherie oder Zentrum? Urbane Milieus einer Region
Aus meinen bisherigen Ausführungen mag deutlich geworden sein, dass Wien in der Moderne keineswegs nur von einer, nämlich einer deutschsprachigen Kultur geprägt war. Im Gegenteil, das urbane Milieu Wiens war sprachlich und kulturell äußerst differenziert und heterogen, es glich einer Landkarte mit unterschiedlichen, überaus bunten Flächenbemalungen, auf der in einem mit einer Farbe bemalten Abschnitt auch Elemente anderer Farben als größere oder kleinere Flächen, Flecken oder Punkte auftauchen konnten, auf der sich die eine von der anderen Farbe zumeist nicht deutlich abgrenzen ließ, sondern auf der die Farben ineinander überzugehen schienen. Die Farben markieren die verschiedenen sprachlich-kulturellen Differenzen beziehungsweise die differenten, miteinander verschlungenen Kommunikationsräume, von denen die Stadt geprägt war. Die Ansammlung solcher heterogener kultureller Elemente bot freilich ein Spiegelbild der heterogenen Lebenswelt der zentraleuropäischen Region, verdankte sich doch dieses pluralistische, bunt gescheckte Bild des urbanen Milieus der massenhaften Zuwanderung von Menschen aus der Gesamtregion. Oder um eine andere Metapher zu bemühen: Die verbale und nonverbale Kommunikation der Stadt repräsentierte eine kulturelle Polyfonie, innerhalb derer die einzelnen Töne nicht wie in der Dodekafonie „demokratische“ Gleichberechtigung genossen, sondern in der das Vorhandensein von enharmonischen Tönen und Modulationen die Regel war, oder in der die Melodien sich zu übertönen versuchten, sich dementsprechend gegenseitig konkurrenzierten und damit unversehens ineinander übergingen und chromatische, hybride Gemengelagen bildeten. Gleichwohl wölbte sich über diese Polyfonie eine allen städtischen Bewohnern mehr oder weniger verständliche „kreolisierende“ Sprache, die sich aus Vokabeln, aus Elementen der unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräume speiste. Es war dies jedoch ganz offenkundig auch eine Situation, die andauernd von potenziellen Krisen und Konflikten begleitet war. Auch wenn konkrete Kontaktzonen vorhanden waren, an denen sich Repräsentanten der sprachlich-kulturell differenten Kommunikationsräume trafen, austauschten, gegenseitig beeinflussten und zu einem performativen Metaraum verschmolzen, 273
v. peripherie oder zentrum?
waren im Alltag einzelne Gruppen, wie zum Beispiel die Wiener Tschechen oder die Juden in Wien, andauernden Repressalien ausgesetzt, die vor allem nationalideologisch motiviert waren: Wien sollte deutsch(sprachig) bleiben, der deutsche Charakter der Stadt sollte gewahrt, verteidigt und ausgebaut werden. Die nicht deutschsprachigen Zuwanderer, obwohl sie vornehmlich aus den Kronländern der Monarchie gekommen waren, wurden zunehmend als „Fremde“ wahrgenommen, die entweder durch einen Prozess der inneren Kolonisierung in das Deutschtum inkludiert werden sollten oder derer sich die Stadt zu entledigen hätte. Trotz solcher nationalideologisch motivierten Vereinnahmungsversuche konnte sich in Wien dennoch ein spannungsreiches, vielsprachiges, kulturelles, literarisches und Alltagsleben entfalten. Eine Folge dieser Situation war, dass, wie ich bereits mehrfach erwähnt habe, die Selbstrepräsentation der Stadt nicht nur durch eine deutschsprachige, sondern ebenso beispielsweise durch eine bedeutende tschechische, kroatische, slowenische, polnische oder ungarische autochthone Wiener Literatur erfolgte, deren Anerkennung den jeweiligen nationalen Narrativen ganz offenkundig zuwiderlief. Man versuchte daher, diese literarischen Produktionen unvermittelt in die einzelnen Nationalliteraturen zu integrieren, ohne ihrem konkreten, unterschiedlichen lebensweltlichen Kontext Rechnung zu tragen. Eine solche geglückte Inklusion der nicht deutschsprachigen Wiener Literaturen in die nationalliterarischen Kontexte, der übrigens ein analoger Versuch entsprach, die deutschsprachige Literatur Wiens ganz einfach in die „deutsche“ Literatur zu integrieren, ließ im öffentlichen Bewusstsein die Erinnerung an eine Stadt von vielfältigen Literaturen und Kommunikationsräumen verblassen. Auch wenn diese pluralistische Situation nach 1918 abrupt unterbrochen wurde, schrieben sich Spuren einer solchen kulturellen Mehrfachcodierung dennoch in das „objektive“ Gedächtnis der Stadt ein. Dies betrifft, abgesehen von den Literaturen, vor allem Elemente der nonverbalen Kommunikation, die sich bis in die Gegenwart aus einer historisch bedingten, hybriden Gemengelage speist, wie die Wiener Musik oder die Wiener Essgewohnheiten. Freilich änderte sich auch in der Folge am sozial-kulturellen Bild der Stadt als einem Ort, der nicht zuletzt von Immigranten geprägt war, nicht allzu viel. Nur dass im 20. Jahrhundert die Zuwanderungen nicht nur aus der umliegenden Region, sondern vornehmlich aus entfernteren Weltgegenden erfolgen. Mobilitäten und Migrationen sind zu einem globalen Phänomen geworden. Die Einschätzung der sogenannten Einhei274
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mischen den Immigranten gegenüber hat sich im Vergleich zu der Zeit um 1900 freilich kaum verändert: Waren es früher die Tschechen oder die Juden, für die Integrationsstrategien entwickelt wurden und/oder die zunehmend mit Ausgrenzungstendenzen und Fremdenhass konfrontiert waren, sind es heute beispielsweise Farbige oder Muslime, die in einem diskursiven Verfahren (etwa durch die Medien) als „Fremde“ repräsentiert und wahrgenommen werden, auf die sich Fremdenhass bündelt, und die sich daher in einer ähnlichen Lage befinden wie zahlreiche ehemalige Zuwanderer aus der zentraleuropäischen Region. Die Erkenntnis, dass Mobilitäten und Migrationen in der Vergangenheit nicht harmonisch und konfliktfrei verlaufen sind, sondern stets von Krisen und Konflikten begleitet waren, mag vielleicht auch für die Bewältigung von Problemen in der Gegenwart und für den diskursiven medialen Umgang mit solchen Phänomenen von einigem Belang sein. Nicht nur Wien, auch andere urbane Milieus der Jahrzehnte um 1900, Mikrokosmen der pluralistischen zentraleuropäischen Region, waren von einer solchen Situation geprägt. In der Folge möchte ich daher in aller Kürze und vergleichend auf einige analoge Beispiele eingehen.
Heterogenität der ungarischen Metropole Die im Jahre 1873 aus Pest, Ofen (Buda) und Alt-Ofen (Ó-Buda) zu Budapest vereinigte Hauptstadt des Königreichs Ungarn wies im Jahre 1851 in Pest eine Gesamteinwohnerzahl von 83.868 auf, von diesen waren 33.884 Deutsche, 31.965 Ungarn, 12.642 Juden und 4187 Slowaken. Auch in Ofen (Buda) verhielt es sich ähnlich: 22.122 Deutsche, 6182 Ungarn, 1537 Juden, 1145 Serben und 1124 Slowaken. Es ist folglich nicht verwunderlich, dass das Manifest des in Ofen-Pest gegründeten „Általános Munkásegylet“ (Allgemeiner Arbeiterverein) „in Ungarisch, Deutsch und Slowakisch abgefaßt“ war und die 1870 herausgegebene „Allgemeine Arbeiterzeitung“ „gleichzeitig in der Landessprache und in Deutsch“ erschien.1 1890 hatte Budapest bereits 491.938 Einwohner, doch nur 39,3 Prozent waren in Budapest geboren, 52 1 Agnes Ságvári, Budapest als ungarische Nationalhauptstadt und Berlin als „europäisches“ Vorbild (1869–1937), in: Gerhard Brunn, Jürgen Reulecke (Hg.), Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871–1939, Bonn/Berlin: Bouvier 1992, S. 445–470, insbes. S. 462.
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Prozent stammten zumeist aus dem ethnisch und sprachlich äußerst heterogenen ungarischen Königreich.2 Dazu kamen, ähnlich wie in Wien, Zuwanderungen vor allem aus Böhmen und Mähren: „Um 1870 stellten böhmische und mährische Zuwanderer beispielsweise rund die Hälfte aller industriellen Arbeitskräfte in Budapest.“3 Während 1880 noch 33,35 Prozent der Bewohner sich aus Deutschsprachigen rekrutierten, fiel deren Anteil nicht zuletzt infolge von Immigranten aus rein ungarischsprachigen ländlichen Gebieten – was, wie Oszkár Jászi ausführte, auch auf die anderen Städte zutrifft, die 1910 insgesamt bereits zu 76,6 Prozent ungarischsprachig waren –,4 der zunehmend politisch motivierten Magyarisierung und der wachsenden Anziehungskraft der ungarischsprachigen Kultur in den späteren Jahrzehnten rapide ab. Um 1900 lebten noch 14,5 Prozent, 1910 9 Prozent und 1930 nur mehr 3,8 Prozent deutschsprachige Einwohner in Budapest.5 Als Slowaken gaben sich 1881 6 Prozent, im Jahre 1891 5,6 Prozent aus.6 In absoluten Zahlen stieg freilich der Anteil slowakischer Bewohner in der ungarischen Hauptstadt: „1910 lebten etwa 300.000 gebürtige Slowaken außerhalb des Gebietes der heutigen 2 Kosáry Domokos (Hg.), Budapest története (Geschichte von Budapest) Bd. 3: A török kiűzésétől a márciusi forradalomig (Von der Vertreibung der Türken bis zur Märzrevolution), Budapest: Akadémiai Kiadó 1975, S. 399. – Vörös Károly (Hg.), Budapest története (Geschichte von Budapest) Bd. 4: A márciusi forradalomtól az őszirózsás forradalomig (Von der Märzrevolution bis zur Asternrevolution), Budapest: Akadémiai Kiadó 1978, S. 378–386. Vörös belegt mit statistischen Hinweisen, aus welchen Gegenden des ungarischen Königreichs und aus den benachbarten Ländern Zuwanderer nach Budapest kamen, weicht jedoch der Frage aus, welcher sprachlichen bzw. nationalen Zugehörigkeit diese waren. 3 Hermann Zeitlhofer, Tschechien und Slowakei, in: Klaus J. Bade, Peter C. Emmer u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a.: F. Schöningh 2007, S. 272–287, Zit. S. 277. 4 Jászi Oszkár, A Habsburg–Monarchia felbomlása (Der Zerfall der Habsburgermonarchie), Budapest: Gondolat 1983, S. 366–367, 371–372. 5 Budapest Lexikon, hg. von Berza László, Bd. 2, Budapest: Akadémiai Kiadó ²1993, S. 182. – Heiszler Vilmos, Budapest német lakossága 1849–1918 között (Deutsche Einwohner von Budapest zwischen 1849 und 1918), in: Ágota Steinert (Hg.): Évek és színek. Tanulmányok Fábri Anna tiszteletére hatvanadik születésnapja alkalmából (Jahre und Farben. Studien zum 60. Geburtstag von Anna Fábri), Budapest: Kortárs Kiadó 2005, S. 409–412, hier S. 410. 6 A Pallas Nagy Lexikona (Großes Pallas Lexikon) Bd. 3, Budapest: Pallas 1893, S. 778. Vgl. dazu auch Agnes Ságvári, Budapest als ungarische Nationalhauptstadt S. 448–449.
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Slowakei im Königreich Ungarn. Das war Ausdruck der dominanten NordSüd-Migration im Königreich, die sehr stark auf den ungarischen Zentralraum um Budapest ausgerichtet blieb. Budapest hatte für die Slowaken etwa denselben Stellenwert wie Wien für die Tschechen. 1910 lebten über 93.000 gebürtige Slowaken in Budapest, etwa 80 Prozent von ihnen waren in der West- und Zentralslowakei geboren.7 Der jüdische Anteil in Budapest und sein Beitrag für die Kultur der Hauptstadt sind ausführlich dokumentiert. Die Zahl der jüdischen Bewohner stieg in den Jahrzehnten um 1900 von 71.000 (1880) über 166.000 (1900) auf 216.000 (1920), was einen Anstieg von 19 auf 23 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung bedeutete.8 Trotz der Assimilation an die ungarische Sprache blieb sowohl das Selbstbewusstsein der jüdischen Bevölkerung und der jüdischen Gemeindeorganisationen als auch ihre Wahrnehmung als eine eigene Gruppe, ähnlich wie auch in den anderen urbanen Milieus der Region, aufrecht. Die rasche Zunahme des magyarischen Elements verdankte sich, wie schon erwähnt, auch der Zuwanderung aus dem ungarischsprachigen ländlichen Umland. Budapest war in den Jahrzehnten um 1900 die am raschesten wachsende europäische Großstadt: Innerhalb von zwanzig Jahren, das heißt von 1890 bis 1910, stieg die Zahl der Bewohner fast auf das Doppelte, von einer halben auf fast eine Million.9 Der Historiker Vilmos Heiszler meint daher zu Recht, dass sich die Stadt in einem annähernd „amerikanischen Tempo“ vergrößert hätte.10 Der vierte Band der umfangreichen Geschichte Budapests, die in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts erschienen war, geht zwar weder auf die sprachliche Differenzierung der Bevölkerung noch auf die nationale 7 Hermann Zeitlhofer, Tschechien und Slowakei, S. 278. 8 Frojimovics Kinga, Komoróczy Géza, Pusztai Viktória und Strbik Andrea, A zsidó Budapest (Das jüdische Budapest), Budapest: Városháza u.a. 1995, S. 362. 9 Exakt von 491.938 (1890) auf 880.371 (1910). Vgl. Hanák Péter, Mucsi Ferenc (Hg.), Magyarország története 1890–1918 (Geschichte Ungarns 1890–1918) = Pach Zsigmond Pál (Hg.), Magyarország története tíz kötetben (Geschichte Ungarns in zehn Bänden) Bd. 7, Budapest: Akadémiai Kiadó 1978, S. 406. Andere Statistiken (z.B. Károly Vörös) berechnen für 1910 eine Einwohnerzahl von 880.880 Personen. 10 Heiszler Vilmos, Soknyelvű ország multikulturális központja. Németek és szlovákok a reformkori Pest-Budán (Das multikulturelle Zentrum eines vielsprachigen Landes. Deutsche und Slowaken in Pest-Ofen im Reformzeitalter), in: Budapesti Negyed 4 (1994/2) = www.barchiv.hu/magyar/kiadvany/bpn/04/heiszler.html
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Herkunft der Zuwanderer ein und meint, dass die Zuwanderer aus WestOberungarn (Slowakei) vermutlich vornehmlich ungarischsprachig gewesen wären. Ein genauerer Blick auf die statistischen Angaben erlaubt jedoch eine präzisere Einschätzung der Immigranten aus der heutigen Slowakei. Budapest zählte 1880 492.227 Einwohner, 1910 bereits 880.880. Von diesen stammten 1880 11,6 Prozent aus dem westlichen Oberungarn, was einer Anzahl von 57.099 entspricht, während im gleichen Jahr bloß 4,8 Prozent aus den östlichen oberungarischen Gebieten hinzugezogen waren, das heißt 23.627. 1910 verringerte sich der Prozentsatz des aus den westlichen oberungarischen Regionen stammenden Bevölkerungsanteils auf 10,5 Prozent, das ergibt eine Zahl von 92.493 Personen, dazu kamen 33.474 aus Ost-Oberungarn. Das ergibt für 1910 insgesamt eine Zuwanderung von 125.877 Migranten aus Oberungarn, von denen vermutlich ein hoher Prozentsatz slowakischer Muttersprache war.11 Im Unterschied zu Wien war in Budapest die Sogkraft, die von der Nationalisierung ausging, besonders groß. Ein Großteil der nach Budapest Zugewanderten verlor infolge der Magyarisierung seine sprachliche Eigenständigkeit: „Vor dem Ersten Weltkrieg sind 86 % der 900.000 Einwohner Magyaren, und praktisch sämtliche Einwohner sprechen ungarisch.“12 Ungeachtet dieser Sprachassimilation sollte freilich mitbedacht werden, dass zahlreiche Angehörige der städtischen Mittelschicht und vor allem der Oberschicht selbstverständlich mehrsprachig blieben: Vor allem Deutsch war als zweite Verkehrssprache in Mode, erlernt innerhalb der Familie, vermittelt durch deutschsprachige Kindermädchen und Erzieherinnen oder in der Schule; noch um 1900 sind mehr als die Hälfte der Bewohner, wie Catherine Horel feststellt, „au moins bilingues“.13 Andererseits prägten unterschiedliche nonverbale Kommunikationsräume den Alltag, zum Beispiel die Reichhaltigkeit und unterschiedliche Provenienz von Speisen und Essgewohnheiten.
11 Károly Vörös (Hg.), Budapest története (Geschichte von Budapest) Bd. 4, S. 577–581. 12 Péter Hanák, Verbürgerlichung und Assimilation in Ungarn im 19. Jahrhundert, in: ders.: Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der Verbürgerlichung eines Vielvölkerstaates, München/Budapest: R. Oldenbourg/Akadémiai Kiadó 1984, S. 281–318, Zit. S. 288–289. 13 Catherine Horel, Budapest, entre multiculturalité et identification nationale, in: Delphine Bechtel, Xavier Galmiche (Hg.), Les villes multiculturelles en Europe centrale, Paris: Belin 2008, S. 69–93, Zit. S. 77.
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Polyglottes Budapest Die „Vielsprachigkeit“ der ungarischen Hauptstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und, in einem übertragenen Sinn, des ungarischen Königreichs, spiegelt sich unter anderem in der Buchproduktion wider, die die zunehmend aufs Neue erlangte zentrale Stellung von Ofen und Pest bestätigt. Schon Ende des 18. Jahrhunderts übersiedeln einige Landesverwaltungsstellen aus Pressburg hierher, die Universität wird von dem wenige Kilometer nördlich von Pressburg gelegenen Tyrnau (Trnava, Nagyszombat) nach Ofen, dann nach Pest verlegt und auch im Wirtschafts- und Handelswesen macht die Hauptstadt allmählich Debrecen den Rang streitig. Eine Publikation über die Universitätsdruckerei in Ofen (Buda) dokumentiert für die Jahre 1777 bis 1848 das Erscheinen von Büchern in folgenden Sprachen: Lateinisch, Deutsch, Bulgarisch, Kroatisch, Hebräisch, Jiddisch, Ungarisch, Neugriechisch, Rumänisch, Ruthenisch, Serbisch und Slowakisch.14 Das Verzeichnis der Jahre 1825 bis 1849 zählt allein für die Universitätsdruckerei 2157 Titel auf, von denen 524 auf lateinische, 951 auf ungarische, 81 auf slowakische, 372 auf deutsche, 312 auf serbische, 45 auf kroatische, 90 auf rumänische und 40 auf hebräische Druckwerke entfallen. Unter anderem erschien hier das bekannte rumänische Periodikum „Biblioteca Romaneăscă“, der slowakische Almanach „Zora“ oder der serbische Almanach „Talia“. Hier erscheinen so wichtige Werke wie das rumänisch-lateinisch-ungarisch-deutsche Wörterbuch von Petru Maior (1821), das tschechisch-lateinisch-deutsch-ungarische Wörterbuch des Slowaken Ján Bernolák (1825–1827), Pavol Jozef Šafáriks „Serbische Lesekörner“ (1834), das serbische „Novi Srpski Letopis“ (1827–1849) oder mehrere Werke des Sprachreformers und Volkskundlers Vuk Karadžić, der die längste Zeit seines Lebens in Wien verbrachte. Zwischen 1850 und 1866 finden sich unter den 641 neuen Buchproduktionen neben 80 lateinischen und 235 ungarischen 113 in deutscher, 85 in hebräischer, 60 in serbischer und 40 in slowakischer Sprache.15 14 Király Péter (Hg.), Typographia Universitatis Hungaricae Budae 1777–1848, Budapest: Akadémiai Kiadó 1983. Vgl. hier den Index librorum selectorum, S. 477–497. 15 Käfer István, Az egyetemi nyomda négyszáz éve (Vierhundert Jahre Universitätsdru ckerei) (1577–1977), Budapest: Magyar Helikon 1977. Auf S. 226–233 eine statistische Übersicht der Buchproduktion.
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Von besonderer Bedeutung für die deutschsprachige Literatur waren Publikationsorgane und Buchproduktionen in Ofen und Pest. Verlagshäuser wie jene von Trattner, Landerer oder Hartleben wurden zu wichtigen Verlegern von namhaften deutschsprachigen Dichtern, Schriftstellern und Wissenschaftlern der Monarchie. Bei Hartleben erschienen Ernst von Feuchterslebens „Geist deutscher Classiker“ in sieben Bänden (1816–1819) oder wichtige Werke des Wiener Orientalisten Joseph Hammer-Purgstall, wie zum Beispiel das zweibändige „Constantinopolis und der Bosporus“ (1812) oder die zehnbändige „Geschichte des osmanischen Reiches“ (1827–1833) und die vierbändige „Geschichte der osmanischen Dichtkunst“ (1836–1838). Es ist dies ein Indiz für die enge Verflochtenheit der urbanen Milieus der Region und namentlich für den kulturellen Gleichklang zwischen Wien und der Hauptstadt des ungarischen Königreichs. Der deutschsprachige kulturelle Kommunikationsraum erwies sich als translokal und transnational, die Repräsentation Wiens beziehungsweise einer Wiener deutschsprachigen Literatur konnte Pest, Prag oder Leipzig übernehmen wie auch Wien, worauf ich bereits aufmerksam gemacht habe und noch später zurückkommen werde, zur Wiege einer ungarischsprachigen Literatur werden konnte. „Sonderbar“, bemerkt ein Artikel der „Pesther Zeitung“ aus dem Jahre 1845, „die besten poetischen Talente Wiens, wie Stifter, Stelzhammer, Betti Paoli müssen in Pest einen Verleger suchen und finden! Hat die Residenz – pst! Das Schweigen ist oft die bitterste Antwort.“16 Was die Wiener Zensur unterbunden hatte, konnte im zunächst liberaleren Pest veröffentlicht werden, wie zum Beispiel Grillparzers kritisches Gedicht „Die Ruinen des Monte Vaccino in Rom“ in der von Karl Albert Graf Festetics redigierten Zeitschrift „Pannonia“ (1820). Der Geschichtsschreiber Johann (János) Graf Mailáth war der Herausgeber des renommierten Taschenbuchs „Iris“, das nicht nur für die deutschsprachige Literatur der Monarchie von großer Bedeutung war, sondern auch deutsche Übersetzungen von Beiträgen ungarischer Autoren publizierte. Hier erschienen bedeutende Erzählungen Adalbert Stifters, wie zum Beispiel „Feldblumen“ (1841), „Der Hochwald“ (1842), „Die Narrenburg“ (1843), „Der Hage16 Vgl. Moritz Csáky, Die Bedeutung der deutschsprachigen Zeitschriften Ungarns für die österreichische Literatur des Vormärz, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830–1880), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1982, S. 91–106, Zit. S. 94.
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stolz“ (1845), „Die Schwestern“ (1846), „Der Waldgänger“ (1847) und „Prokopus“ (1848) oder Franz Grillparzers „Der arme Spielmann“ (1848). „Iris“ erschien von 1839 bis 1848 im Verlag von Gustav Heckenast (1811–1878), einem Verleger von europäischem Format,17 der als freisinniger Verlagsinhaber – er unterstützte die Ideale der Revolution von 1848/49 unter anderem mit dem Druck des Petőfischen Nationalliedes „Talpra magyar“ (Auf, Magyaren!), das heute als zweite ungarische Nationalhymne gelten kann, oder der bekannten „Zwölf Punkte“ im März 1848 – nicht nur die bedeutendsten ungarischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts förderte, wie unter anderem József (Joseph) Bajza, Dániel Berzsenyi, Mihály (Michael) Csokonai Vitéz, Károly (Karl) Kisfaludy, Ferenc (Franz) Kölcsei oder Mór (Maurus) Jókai, der vielmehr auch die meisten Werke von Adalbert Stifter verlegte, wie die ursprünglich sechsbändigen „Studien“ (1844–1850), „Bunte Steine“ (2 Bände, 1853), „Nachsommer“ (3 Bände, 1857) oder „Witiko“ (3 Bände, 1865–1867) und später die Werke des jungen Peter Rosegger herausgab. Bei Heckenast erschien unter dem Titel „Költői Vázlatok“ (Dichterische Skizzen) 1862 auch eine Auswahl von Stifters Erzählungen in ungarischer Übersetzung (in folgender Reihenfolge: Das Haidedorf, Der Hochwald, Brigitta, Der Condor, Die Schwestern, Der Heilige Abend). Die Übersetzung hatte wohl Heckenasts zweite Frau, Lenke, vorgenommen, Dichterin und Tochter des Schriftstellers József Bajza, die dann in zweiter Ehe mit Ferenc (Franz) Beniczky verheiratet war und daher unter dem Namen Lenke Beniczkyné Bajza firmierte.18 Freilich kann angenommen werden, dass Heckenast selbst die Über17 György Kókay, Geschichte des Buchhandels in Ungarn, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1990, S. 104–107. – Antal Mádl, Gustav Heckenast und Adalbert Stifter. Ein Kapitel aus der Geschichte des deutschen Verlagswesens in Ungarn, in: ders., Nikolaus Lenau und sein kulturelles und sozialpolitisches Umfeld, München: IKGS Verlag 2005, 49– 71. – Klaus Amann, Stifter és Heckenast (Stifter und Heckenast), in: Helikon XXII/2–3, Budapest: Akadémiai Kiadó 1976, S. 231–238. – Klaus Amann, Stifter und Heckenast, in: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 27 (1978), S. 47–58. – Vgl. auch Karl Wagner, Max Kaiser, Werner Michler (Hg.), Peter Rosegger – Gustav Heckenast Briefwechsel 1869–1878, Wien u.a.: Böhlau 2003, u.a. S. 8–20, S. 721–725. 18 ����������������������������������������������������������������������������� Vgl. zu den Übersetzungen, vermutlich durch Lenke Bajza, entsprechende Andeutungen in Stifters Briefen an Heckenast, so vom 17. Dezember 1860: „Was Sie mir von dem Haidedorf schreiben, freut mich außerordentlich, möge ein guter Engel die Finger Ihrer lieben Lenke, die ich nun, seit ich sie gesehen, nicht mehr als eine un-
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setzung genau durchgesehen haben mochte, denn: „Er war nicht nur in beiden Sprachen beheimatet, sondern auch – wie viele seiner Zeitgenossen deutscher Herkunft – völlig unvoreingenommen jeder Sprache und Kultur gegenüber, der er begegnete.“19 Heckenast besorgte unter anderem auch die Edition der wichtigsten Werke der Wiener Dichterin Betty Paoli, jene von Johann Nepomuk Vogl und, wie schon erwähnt, jene des jungen Peter Rosegger oder des Oberösterreichers Franz Stelzhammer, für dessen Mundartdichtungen sich später, um 1900, Hermann Bahr einsetzen sollte. Im Vergleich zu der vielsprachigen Buchproduktion der Universitätsdruckerei gab Heckenast 919 ungarische Werke in 1363 Bänden, 109 deutsche in 139 Bänden, 17 lateinische in 24 Bänden und fünf slowakische Werke heraus.20 Diese wenigen Beispiele, denen zahlreiche weitere hinzugefügt werden könnten,21 mögen verdeutlichen, wie Städte überschreitend und die Gesamtregion umfassend kulturelle Austauschprozesse im 19. Jahrhundert verlaufen beziehungsweise wie umfassend kommunikative Verflechtungen und literarische Verdichtungen aufgrund der gesamtregionalen Rezeption unterschiedlicher „nationeller“ Themen und historischer Personen gewesen sind. Oder: Wie wenig sich litebegreifbare Lustgestalt sondern leibhaftig bei Schreibtische sizend erblike, freundlich führen, daß die Übersezung schöner werde als die Urarbeit. Aber die rechte Freude kann ich doch nicht bis zur Neige genießen, da ich nicht ungrisch kann – und ich kann es doch nicht jezt erst zu lernen anfangen! Sie und Elischer werden mir wohl von den Ergebnissen erzählen. Möge nur Lenke die einfache Haidewelt nicht langweilig finden.“ Und Januar 1861: „Schiken Sie mir doch ein Exemplar der Übersezung Ihrer Gattin. Lachen Sie nicht, ich werde sie nur anschauen, wie so ein Ding aussieht. Ich hatte große Lust eine Beurtheilung Petöfis, und zwar eine günstige zu schreiben; aber jezt thue ich es nicht, daß meine Landsleute nicht sagen, ich sei unter die Magyaren gegangen. Ich gehe auch unter die Magyaren; aber erst, wenn sie mit uns wieder gut Freund sind, und wenn sie ihren Verstand, den sie jezt bei Seite gelegt haben, wieder hervor suchen. Kertbenys Übersezung Petöfis scheint mir aber nicht gut zu sein.“ Vgl. Adalbert Stifter Sämtliche Werke, hg. von August Sauer u.a., Bd. 19, Reichenberg: Kraus ²1929, Nr. 438 S. 257–258, Nr. 442 S. 267–268. Für den Hinweis danke ich meinem Kollegen Dr. Hermann Blume, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien. 19 Antal Mádl, Gustav Heckenast und Adalbert Stifter, S. 54–55. 20 Új magyar irodalmi lexikon (Neues ungarisches Literaturlexikon), hg. von Péter László, Bd. 2, Budapest: Akadémiai Kiadó 1994, S. 778. 21 Dazu mit zahlreichen Literaturbelegen v.a. Moritz Csáky, Die Bedeutung der deutschsprachigen Zeitschriften.
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rarische Felder in ein nationales kulturelles Korsett einspannen lassen. Dass die Werke namhafter österreichischer Literaten in Ungarn erschienen und hier nachhaltig gefördert wurden, ist einer postkolonialen Situation vergleichbar, in der sich die binäre Opposition zwischen Zentrum und Peripherie auflöst, das Zentrum vielmehr in der Peripherie und die Peripherie gleichermaßen im Zentrum zur Geltung kommt. Wie lässt sich das näher erklären? Vom Wiener Herrschaftszentrum aus wurden über Jahrhunderte deutsche Kolonisten im ungarischen Königreich angesiedelt, wobei es sich dabei nicht um eine nationalideologisch motivierte Maßnahme handelte, sondern primär ökonomische und utilitaristische Motive ausschlaggebend waren. Im Rahmen der josephinischen Zentralisierungsbestrebungen sollte Deutsch zur Verwaltungssprache des Gesamtstaates werden, eine verwaltungstechnische Initiative, die Joseph II. nicht zuletzt aufgrund zeitgenössischer frühnationaler Proteste kurz vor seinem Tode für das Königreich Ungarn rückgängig machen musste. Insgesamt wurde jedoch seit dem 18. Jahrhundert Deutsch die dominante Wissenschaftssprache und die Koine zahlreicher Intellektueller, Wirtschaftstreibender oder politisch relevanter Persönlichkeiten, zum Beispiel der hohen Aristokratie, des Landes. Wie sehr Deutsch im öffentlichen Leben vorherrschte, lässt sich unter anderem an der reichen deutschsprachigen Schauspielproduktion und Aufführungspraxis ablesen. Das heißt, die Perspektive auf das „deutsche“ Zentrum blieb weit verbreitet und prägte das öffentliche Bewusstsein, trotz eines rasch zunehmenden magyarischen Nationalgefühls, bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die bedeutende deutschsprachige Buchproduktion in Ofen und Pest im 19. Jahrhundert und vor allem die Tatsache, dass namhafte Vertreter der deutschsprachigen österreichischen Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts in der ungarischen Hauptstadt ihre Verleger und auch ihre Leser fanden, waren nicht nur ein Indiz für die Kohärenz der zentraleuropäischen Region, sie transferierten einen wichtigen Teil des intellektuellen Lebens aus dem metropolitanen Zentrum in die Peripherie und relativierten die ursprüngliche koloniale Dichotomie zwischen dem „kolonisierten“ Königreich und der deutschsprachigen Zentrale zu einer postkolonialen Äquidistanz. „Die Novelle ‚Der arme Spielmann‘“, bemerkte daher der österreichische Schriftsteller Hieronymus Lorm im Zusammenhang mit dem Erstdruck von Grillparzers Erzählung zu Recht, „erschien zum ersten Male im Anfange der Vierziger Jahre in dem Taschenbuche ‚Iris‘, herausgegeben vom Grafen Majlath und verlegt von Gustav Heckenast in Pest. Damals 283
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hatte man in Ungarn bei aller Pflege der eigenen Nationalität, doch noch das Gefühl der hohen Wichtigkeit der deutschen Literatur für die Unterstützung des nationalen Zweckes. Bedeutende deutschösterreichische Schriftsteller, ich nenne nur Betty Paoli und Adalbert Stifter, hatten an Gustav Heckenast ihren ausschließlichen Verleger. Auch das Taschenbuch ‚Iris‘ zog unter seiner intelligenten Redaktion die vornehmsten deutschen Literaturkräfte an sich, so daß es damals mit der Geltendmachung deutschen Geistes in Pest besser bestellt war als in Wien. In Wien gab es für Belletristik und ihre Würdigung […] nur verachtete und heute gänzlich verschollene Tagesblätter: ‚Theaterzeitung‘, ‚Sammler‘ etc. Sie brachten über den bezüglichen Jahrgang des genannten Taschenbuches nur hergebrachte Phrasen und behandelten die Novelle Grillparzers nicht anders als die kleinen lyrischen Verse ‚vaterländischer‘ Dichter; nicht die geringste Ahnung war ihnen aufgegangen, daß mit dem ‚armen Spielmann‘ die deutsch-österreichische Literatur plötzlich um ein Meisterstück bereichert worden war.“22 Die verbalen und nonverbalen kulturellen Kommunikationsräume transzendierten also nicht nur lokale oder sogenannte nationalsprachliche Abgrenzungen; sie sind mit den Inhalten von kommunizierenden Gefäßen vergleichbar, in denen die Ingredienzen inei nanderfließen, sich zugleich jedoch wohl balanciert die Waage halten und insgesamt ein komplexes, hybrides kulturelles Mixtum compositum bilden.
Polyglossie der Region Im Unterschied zu Wien, wo die Vielsprachigkeit erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts markant zunahm, verlief die Entwicklung in OfenPest beziehungsweise Budapest gegenläufig. Vielsprachigkeit – wobei in der Hauptstadt zunächst Deutsch dominant war – herrschte hier bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, sie nahm dann freilich nicht nur durch die ansteigende Zahl von ungarischsprachigen Zuwanderern aus den ländlichen Gebieten, sondern auch aufgrund der 1844 verordneten ungarischen Verwaltungssprache, die das längst nicht mehr allgemein praktizierte Latein ablöste, sukzessive ab. Ungarisch wurde nun nicht nur in den öffentlichen Ämtern verpflichtend, sondern setzte sich allmählich auch als Unterrichtssprache in 22 Hieronymus Lorm, Grillparzers „Der arme Spielmann“, in: Jahrbuch der GrillparzerGesellschaft 4 (1894), S. 47–79, Zit. S. 77.
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den Schulen und als offizielle Sprache des Königreichs durch. Im Prozess der Nationsbildung wurde die Verbreitung der ungarischen Sprache freilich ideologisch untermauert, da man davon ausging, dass die wesentliche Grundlage jeder Nation die Sprache, das heißt eine konkrete Nationalsprache wäre. Der ungarische Historiker Vilmos Heiszler zieht daraus die Schlussfolgerung, dass „der kräftig erstarkende ungarische Nationalismus […] bezaubert von der Sehnsucht nach einer Nation, der eine einheitliche Gesetzgebung und eine Sprache zugrunde liegen sollte, ganz selbstverständlich die seiner Meinung nach als mittelalterliches Relikt überkommene Vielsprachigkeit zurückgewiesen und die Magyarisierung der Hauptstadt zunächst als ein Ziel vorgegeben hat, später als glänzenden Erfolg verbuchen konnte.“23 Tatsächlich waren die Bewohner von Ofen-Pest bis ins 19. Jahrhundert „überwiegend Deutsche, weniger Ungarn und Slowaken, Griechen, Dalmatiner, Raitzen (Serben), Zinzaren (serbische Bezeichnung für Aromunen, d.h. Rumänen) und Juden“, wie bereits eine Beschreibung aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert festhält.24 Diese Aufzählung betrifft vor allem das Sprachverhalten, viel weniger die strikte „ethnische“ Zugehörigkeit der städtischen Bewohner. Die Hauptstadt, wie auch viele andere Städte des Landes, waren ein Spiegelbild des Makrokosmos des multilingualen und plurikulturellen Königreichs, in dem sich unterschiedliche sprachlich-kulturelle Kommunikationsräume nebeneinander und vor allem sich überlappend vorfanden, mit zahlreichen Intertextualitäten, Interferenzen beziehungsweise translokalen und transnationalen Kontaktzonen, vor allem was die nonverbale kulturelle Kommunikation betraf, zum Beispiel die täglichen Umgangsformen oder Essgewohnheiten. Insofern kann aber auch das Königreich Ungarn als ein Mikrokosmos der großen zentraleuropäischen Region angesehen werden. Die Mehrzahl der Nichtungarischsprachigen, vor allem der deutsch sprechenden Intellektuellen identifizierte sich, trotz der sprachlichen Unterschiede, mit ihrem Land und bekannte sich als Ungarn beziehungsweise als „Hungari“. Obwohl sie sich in mehreren kulturellen Kommunikationsräumen bewegten, bewährten sie sich als ungarländische Patrioten, identifizierten sich mit dem polyglotten Staat, mit ihrem Komitat, mit dem Ort, an dem sie lebten, mit der Volks- oder Sprachgruppe, der sie angehörten, und waren 23 Heiszler Vilmos, Soknyelvű ország, S. 1. 24 Heiszler Vilmos, Soknyelvű ország, S. 1 und S. 9.
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darüber hinaus Angehörige des Österreichischen Kaisertums. Die HungarusKonzeption stand bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in realer Konkurrenz zu der Ideologie der magyarischen Sprachnation, zumal ihre Vertreter vorerst noch nicht abschätzen konnten, dass sie bald von dieser sprachnationalen Variante überrollt würden.25 Viele von diesen Intellektuellen waren mehrsprachig aufgewachsen, sprachen oder verstanden also auch Ungarisch, was im Kontext der magyarischen Nationsbildung dazu führte, dass manche nach 1848/49 unvermittelt zu dem neuen, magyarischen „Patriotismus“ überwechseln konnten und selbst ihre Familiennamen magyarisierten; im Kontext der Nationsbildung war auch in Ungarn die Nationalsprache das repräsentative Kriterium für die Zugehörigkeit zum modernen Nationalstaat, zu einer modernen metropolitanen Gesellschaft; Mehrfachidentitäten wurden zunehmend marginalisiert. Magyarisierte Familiennamen waren S ignale und Zeichen für die Zugehörigkeit zu oder zumindest der Akzeptanz der „fortschrittlichen“ magyarischen Nation. So nannte sich zum Beispiel der Schriftsteller Karl Benkert nach der Revolution von 1848/49 Károly Kertbeny; er hat zahlreiche ungarische Werke, auch Gedichte von Sándor (Alexander) Petőfi, ins Deutsche übersetzt. Die Repräsentation des Königreichs durch seine Bewohner verschob sich also sukzessive von einem offenen Bekenntnis zum plurikulturellen Königreich hin zu einem emotionalen, deklarierten Bekenntnis zur (magyarischen) Nation; für die an das Ungarische Assimilierten und für die Assimilationswilligen konnte also der alte Staatspatriotismus, das Bekenntnis zu einer supranationalen Hungaria bruchlos in einen neuen, bekennenden magyarischen Nationalismus wechseln. Freilich hatte „der größte Ungar“, der Reformpolitiker Stephan (István) Széchenyi, noch in seiner berühmten „Akademierede“ von 1842 vor einem übereilten Magyarisierungswahn gewarnt und gemeint, dass „das ungarische Wort noch keine ungarische Gesinnung beinhaltet, dass der Mensch, wenn er Ungar ist, noch kein tugendhafter Mensch, und derjenige, der sich im Gewande eines Patrioten zeigt bei weitem kein Patriot sein muss“.26 Seine Warnung wurde, kurz 25 Moritz Csáky, Die Hungarus-Konzeption. Eine „realpolitische“ Alternative zur magyarischen Nationalstaatsidee?, in: Anna M. Drabek, Richard G. Plaschka, Adam Wandruszka (Hg.), Ungarn und Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. Neue Aspekte im Verhältnis der beiden Länder, Wien: ÖAW 1982, S. 71–89. 26 Széchenyi István, A Magyar Academia körül 1842 (Um die Ungarische Akademie), in: Szekfű Gyula (Hg.), A mai Széchenyi. Eredeti szövegek Széchenyi István munkáiból
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vor der Revolution von 1848/49, von den meisten politisch Verantwortlichen nicht mehr ernst genommen.
Kulturelle Interferenzen So wie in Zentraleuropa war auch in dessen Mikrokosmos, im Königreich Ungarn, vor allem in den gemischtsprachigen Gegenden und in den urbanen Milieus größerer Städte, ein funktionaler Polyglottismus eine Selbstverständlichkeit, auch wenn man nicht alle Sprachen gleich gut beherrschte. Je nachdem, in welchen sozialen Schichten, in welchen Kommunikationsräumen man sich befand, wechselte man fast spielerisch von der einen in eine andere Sprache, die sprachlichen Kommunikationsräume überlappten und durchdrangen sich in einer Person, was unter anderem zu zahlreichen Wortentlehnungen führen musste. Im Elternhaus des jungen Arthur Koestler zum Beispiel verkehrte man auf Deutsch, in der Schule wurde auf Ungarisch unterrichtet, mit seinen Budapester Freunden verkehrte er in diesen beiden Sprachen. Er schrieb und dichtete noch in den Jahren, die er in Wien verbrachte, unter dem Einfluss seines Idols, des ungarischen Dichters und Schriftstellers Endre Ady, auf Ungarisch, gleichzeitig aber auch schon auf Deutsch. Zahlreiche Intellektuelle befanden sich in einer ähnlichen Situation, unter anderem Georg (György) Lukács, der zeit seines Lebens die wichtigsten seiner philosophischen Werke in deutscher Sprache verfasste. Dieses Phänomen der Bi- oder Multilingualität blieb natürlich nicht auf Budapest beschränkt, es ist in Wien, in Prag oder in Triest ebenso augenfällig; es war ein charakteristisches Merkmal von Individuen und Gesellschaften in der zentraleuropäischen Region. Der Wiener Slawist Günther Wytrzens und die ungarischen Komparatisten László Sziklay und István Fried haben in ihren Untersuchungen mehrfach auf diese Zwei- und Mehrsprachigkeit in Zentraleuropa, unter anderem im ehemaligen Königreich Ungarn, aufmerksam gemacht;27 (Der heutige Széchenyi. Originaltexte aus den Werken von István Széchenyi), Budapest: Révai 1935, S. 324–334, Zit. S. 332. 27 Günther Wytrzens, Sprachkontakte in der Dichtung. Zweisprachige Autoren im Alten Österreich, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 65–74, hier S. 65–69. – Sziklay László, Együttélés és többnyelvűség az irodalomban (Zusammenleben und Mehrsprachigkeit in der Literatur), Budapest: Gondolat 1987. – Vgl. auch
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sie betraf nicht nur gesellschaftliche Gruppierungen, sondern ebenso zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller, die sich nicht nur in einer Sprache zu artikulierten wussten, sondern gleichzeitig in zwei Sprachen schrieben, wie zum Beispiel Anfang des 19. Jahrhunderts der in Pest lebende serbisch-ungarische Schriftsteller Mihály (Mihailo, Michael) Vitkovics (Vitković). Ähnliches gilt für zahlreiche bedeutende ungarische Schriftsteller und Intellektuelle des 19. Jahrhunderts: Károly (Karl) Kisfaludy übersetzte seine eigenen Dramen selbst ins Deutsche, Ferenc (Franz) Kölcsei, der Verfasser der ungarischen Nationalhymne, experimentierte mit deutschen Gedichten, der berühmte und beliebte Romancier des 19. Jahrhunderts, Mór (Maurus) Jókai, führte in seiner Kindheit ein deutsches Tagebuch, der führende Reformpolitiker Graf István (Stefan) Széchenyi hinterließ nicht nur ein ausschließlich in deutscher Sprache verfasstes umfangreiches Tagebuch, er konzipierte den Großteil seiner politischen Schriften zunächst auf Deutsch, ähnlich wie József (Josef ) Eötvös, Kultusminister der Regierungen 1848 und 1867, der neben Ungarisch fließend Deutsch schrieb und vor allem mehrere seiner bedeutenden politischen Broschüren selbst in deutscher Sprache verfasste; Mihály (Michael) Vörösmarty, „ein Klassiker der ungarischen Literatur, plante sogar ein Epos in deutscher Sprache zu schreiben“.28 Zahlreiche literarhistorische Darstellungen würden heute einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen, daher meint István Fried, „dass in der ostmitteleuropäischen Region lange Zeit hindurch die Zweisprachigkeit, die Mehrsprachigkeit und die gegenseitige Verwobenheit der Kulturen ganz einfach eine Realität waren“. Demgegenüber ließen sich die meisten Darstellungen zumeist entweder vom Kriterium der (National-) Sprache oder des (nationalen) Territoriums leiten, das anachronistisch bis in das Mittelalter zurückprojiziert würde, ohne zu beachten, „dass Staatsgrenzen in den allerwenigsten Fällen auch Kulturgrenzen darstellen“.29 zahlreiche Abhandlungen von István Fried, die jeweils in eigenen Sammelbänden erschienen. Darüber hinaus: Fried István, Kelet- és Közép-Európa között (Zwischen Ost- und Zentraleuropa), Budapest: Gondolat 1986. – Fried István, Irodalomtörténések Kelet-Középeurópában (Literaturgeschehen in Ostmitteleuropa), Budapest: Ister 1999. – Fried István, A közép-európai szöveguniverzum (Zentraleuropäisches Textuniversum), Budapest: Kisebbségkutatás 2002. 28 Antal Mádl, Gustav Heckenast und Adalbert Stifter, S. 54. 29 Fried István, Kétnyelvűség, kettős kulturáltság Kelet-Közép-Európában (Zweisprachigkeit, doppelte kulturelle Zugehörigkeit in Ostmitteleuropa), in: Fried István, Írók,
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Eine solche Mehrsprachigkeit betrifft bis ins 20. Jahrhundert nicht zuletzt (Rand-)Bereiche, in denen mehrere Kommunikationsräume aufeinander treffen, im Süden zum Beispiel das Gebiet um Osijek (Essek) oder den gesamten Bereich Slawoniens. Vlado Obad, einer der besten Kenner der deutschsprachigen Literatur Slawoniens, weist unter anderem bei der Schriftstellerin Nora Szarvas, einer geborenen Schwitzer, auf eine solche Mehrsprachigkeit hin: „Zuhause wurde ungarisch gesprochen, in der Öffentlichkeit kroatisch, ihre Geschichten schrieb sie ausschließlich in deutscher Sprache.“30 Selbst Jan Kollár, der Protagonist des Slawentums und frühe Propagator einer slowakischen Nation, „wirkte jahrelang in Pest als Seelsorger der deutsch-ungarischslowakischen Kirchengemeinde, benützte das Bibeltschechisch (nicht nur in seinen Predigten), zu Hause fand die Unterhaltung zumeist auf Deutsch statt, er war jedoch auch Sammler und Herausgeber von slowakischen Volksdichtungen“,31 deren Melodien der blinde Musik- und Ungarischlehrer László Füredy instrumentierte.32 Der aus der Zips in Oberungarn (Slowakei) gebürtige Karl Georg (Károly György) Rumy – er schrieb ebenfalls in mehreren Sprachen – bezeichnete Kollárs slowakisches Volksepos „Slávy dcéra“ in einer deutschen Rezension als eine „vaterländische Ehre im Ausland“.33 An der Schnittstelle mehrerer Sprachen und umgeben von seiner mehrheitlich slowakischsprachigen Gemeinde – Kollár stand auch der 1834 von Martin Hamuljak in Pest errichteten Gesellschaft der Freunde der slowakischen Sprache und Literatur vor –, verfasste Kollár 1836 in deutscher Sprache eines seiner Hauptwerke: „Über die Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slavischen Nation“; die zwei Bände wurden von der Universitätsdruckerei in Ofen-Pest herausgegeben. Eine solche Polyglossie hielt, trotz zunehmender sprachlicher Homogenisierungen, in manchen Gegenden noch weit bis ins 20. Jahrhundert an,
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művek, irányok. Kalandozások a világ irodalmainak labirintusában (Schriftsteller, Werke, Richtungen. Streifzüge im Labyrinth der Literaturen der Welt), Szeged: tiszatáj 2002, S. 151–167, Zit. 152–153. Vlado Obad, Roda Roda und die deutschsprachige Literatur aus Slawonien, Wien u.a.: Böhlau 1996, S. 151. Fried István, Kétnyelvűség, kettős kulturáltság Kelet-Közép-Európában, S. 164–165. Sziklay László, Pest-Buda nemzetiségi képe a reformkorban (Pest-Ofens Nationalitätenbild im Reformzeitalter), in: Sziklay László, Együttélés, S. 81–82. Sziklay László, Pest-Buda nemzetiségi képe a reformkorban, S. 81.
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sie verlieh schon den Kindern eine Flexibilität, sich auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen zu bewegen, fast unbewusst Wörter miteinander zu vergleichen und, da es sich in den meisten Fällen um eine funktionale Polyglossie handelte, das heißt durch das Wechseln in jene Sprache, die in einer bestimmten sozialen Schicht dominant war, zugleich soziale Unterschiede wahrzunehmen. Andererseits konnte eine solche praktizierte synchrone Polyglossie manche Sprachpuristen auf den Plan rufen. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, wie Menschen, die in mehreren Kommunikationsräumen zu Hause waren und zwischen diesen zu wechseln wussten, während einer Unterhaltung oder sogar in einem Satz mühelos von einer Sprache in eine andere wechselten, dadurch gleichsam in einen hybriden „Zwischenraum“ eintauchten und uns, die wir diese Sprachen verstanden, mit in diesen hineinzogen. Verfielen wir Kinder in einen solchen kreolisierenden Sprachgebrauch, befürchteten die Eltern zuweilen, dass wir keine der Sprachen richtig beherrschen würden. Auch in den zentraleuropäischen Literaturen des 19. Jahrhunderts sind ähnliche Fälle bekannt,34 zum Beispiel sind in manchen Romanen des ungarischen Schriftstellers Kálmán (Koloman) Mikszáth, die in den Jahrzehnten um 1900 entstanden waren, solche sprachlichen Interferenzen (Ungarisch, Slowakisch, Deutsch, Latein) durchaus geläufig;35 die Handlungsabläufe sind oft in der überwiegend slowakischsprachigen Region der Slowakei, dem ehemaligen Oberungarn, angesiedelt, wie zum Beispiel in den Romanen „Beszterce ostroma“ (Die Belagerung von Neusohl) oder „A fekete város“ (Die schwarze Stadt), in dem das von überwiegend deutschsprachigen Bürgern verwaltete Leutschau (Levoča, Lőcse) Schauplatz der Handlung ist, eine oberungarische Kleinstadt, das ehemalige Verwaltungszentrum des Zipser (Spiš, Szepes, Scepusium) Komitats. Mikszáth verwendet daher bei der Charakterisierung von Personen, von Gruppen oder von bestimmten Situationen Wörter und ganze Sätze aus dem Slowakischen, aus dem Deutschen oder aus dem Lateinischen; oft wechselt zum Beispiel die ungarische 34 Fried István, Kétnyelvűség, kettős kulturáltság Kelet-Közép-Európában, S. 156, 160. 35 Kiss Gy. Csaba, Mikszáth szlovák világából. A „Beszterce ostroma“ interetnikus olvasatban (Aus der slowakischen Welt von Mikszáth. Eine interethnische Lektüre von „Die Belagerung von Beszterce/Neusohl“), in: Fábri Anna (Hg.), Mikszáth-Emlékkönyv. Tanulmányok az író születésének 150. évfordulójára 1847–1997 (Mikszáth-Gedenkband. Studien zum 150. Geburtstag des Schriftstellers), Horpács: Mikszáth Kiadó 1997, S. 83–91.
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Unterhaltung unvermittelt ins Slowakische, um vor einem Dritten, der dieser Sprache nicht mächtig zu sein scheint, etwas zu verheimlichen, ähnlich wie beispielsweise in Adalbert Stifters „Narrenburg“ (1843), in der zwei Freunde ins Lateinische wechseln, um von dem alten Kastellan nicht verstanden zu werden.36 György Eisemann bezieht sich in seinem Beitrag über Maurus Jókai und Koloman Mikszáth auf einen Satz aus Mikszáths Erzählung „Die Kavaliere“ (Gavallérok) als ein typisches Beispiel für eine solche Verschränkung von mehreren Sprachen, nämlich Ungarisch, Deutsch und Slowakisch (im Mikszáth’schen Original werden die slowakischen Textstellen ohne diakritische Zeichen wiedergegeben): „Hiába beszéltek, hiába, hiába (Vergeblich sprecht ihr, vergeblich, vergeblich [= ungarisch]). Ami nem (was nicht ist [= ungarisch]) anstaendig, hát nem (ist eben nicht [= ungarisch]) anstaendig. És kedvem volna fölborítani a kisztnit és (Und ich hätte Lust, die Kiste umzustoßen und [= ungarisch]) … Was sagst du dazu, alter Stefi?“ – „Königgrätz apó sietett tiltakozni (Väterchen Königgrätz versuchte zu protestieren [= ungarisch]).“ – „Ozaj dusa moja! (Aber, meine Seele [= slowakisch]) … Hova gondolsz (Wo denkst du hin [= ungarisch])? … Um Gottes Willen, most csak nem kezdtek levetkőzni és újra felöltözni (jetzt werdet ihr doch nicht beginnen euch auszuziehen und aufs neue anzuziehen [= ungarisch]). Daj pokoj Annuska (Gib Frieden, Annuska! [= slowakisch]) ...“37 Diese problemlose Verwendung mehrerer Sprachen ist nichts anderes als ein Flottieren zwischen unterschiedlichen Kommunikationsräumen, die zugleich einen jeweils differenten sozial-kulturellen Kontext freilegen können, oder es kann ein Hinweis darauf sein, dass sich die Unterhaltenden gleichzeitig in unterschiedlichen Räumen vorfinden, die in ihnen zu einem übergreifenden hybriden, performativen Kommunikationsraum gerinnen. Mikszáth gibt dafür in den „Kavalieren“ selbst eine Erklärung: Im oberungarischen Komitat 36 Adalbert Stifter, Die Narrenburg, in: Adalbert Stifter, Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, hg. von Wolfgang Matz, Bd. 1, München: Carl Hanser 2005, S. 411–505, v.a. S. 455. 37 György Eisemann, Der Leser als Übersetzer. Deutschsprachige Elemente in Werken von Jókai und Mikszáth, in: Károly Csúri, Zoltán Fónagy, Volker Munz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien: Praesens 2008, S. 207–213, Zit. S. 211. Originalzitat in: Mikszáth Kálmán, Gavallérok (Kavaliere). Magyar Könyvbarátok Kiskönyvei V. (Kleine Bücherei der ungarischen Bücherfreunde Bd. 5), Buenos Aires: Kárpát 1953, S. 34.
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Sáros sei es gebräuchlich, „gute alte ungarische Wörter durch deutsche oder lateinische zu ersetzen, und es gehört auch zum Schick, schlechte neue Wörter zu benützen“.38 Ergänzend könnte man hinzufügen, dass vor allem auch Slowakisch selbstverständlich zu der Sprachenvielfalt des Sároser Komitats gehörte. István Fried beruft sich auf ähnliche Beispiele aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: In kulturellen „Zwischenräumen“ beziehungsweise an kulturellen Grenzen, wie beispielsweise im erwähnten Oberungarn (der heutigen Slowakei), begegneten mehrere Sprachen einander und verschränkten sich im täglichen Gebrauch. Was uns heute als Kuriosität anmutet und für die Konstrukteure reiner Nationalsprachen seinerzeit als Abschreckung gedient haben mochte, ist zum Beispiel ein aus dem Jahre 1825 mitgeteilter lateinischungarisch-deutsch-slowakisch durchmischter Satz, den ich hier abschließend wiedergeben möchte: „Ah! Servus humillimus, Deus tulit édes kedves Uram Bátyám! Wie geht’s Ihnen denn, či na Foršponte prišli, oder sind sie auf eigenem Pferde gekommen?“39 (= „Ah! Untertänigster Diener, Gott brachte Sie [= lateinisch] mein allerliebster Herr Vetter [= ungarisch]. Wie geht’s Ihnen denn [= deutsch], sind Sie auf einem Vorspannwagen hierher gekommen [= slowakisch, Zipser Dialekt], oder sind Sie auf eigenem Pferde gekommen [= deutsch]?“). Diese gelebte Mehrsprachigkeit, die keineswegs nur an bestimmte soziale Schichten gebunden war, diese Hybridisierung der gesprochenen Wörter, beinhaltete natürlich auch einen allgemeinen translatorischen Prozess, der nicht nur kulturelle Transfers ermöglichte, sondern hybride kulturelle Verschränkungen zur Folge hatte, die vor allem in der nonverbalen Alltagskultur bis in die Gegenwart zu beobachten sind.
Sprachliche Interferenzen: Josefstädter Deutsch Von den zahlreichen markanten Schnittstellen, die den Alltag in Budapest der Jahrzehnte um 1900 dominierten und an denen sich die differenten Kommunikationsräume trafen und ineinander überzugehen begannen, möchte ich paradigmatisch nur auf einen aufmerksam machen: Auf die Interferenzen im sprachlichen Bereich, von denen beispielsweise die fragile Hybrididät des Budapester Deutsch zeugt, das auf eine gelebte Zwei- und Mehrsprachig38 Mikszáth Kálmán, Gavallérok (Kavaliere), S. 27. 39 Fried István, Kétnyelvűség, kettős kulturáltság Kelet-Közép-Európában, S. 156.
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keit deutet, der sich solche Interferenzen verdanken. Manfred Michael Glau ninger hat in einem Beitrag die dialektale Form des Deutschen der Budapester Josefstadt, des achten Budapester Bezirks, in dem übrigens die Mehrheit der Budapester Slowaken lebte, einer deskriptiven Analyse unterzogen, nämlich das „Josefstädter Deutsch“, anhand eines Stücks mit dem Titel „Der ungeratene zon“, das Ende des 19. Jahrhunderts als Vorlage für ein Marionettentheater dienen sollte. Sprachliche Interferenzen werden hier mehrfach und ganz deutlich sichtbar. Zunächst wurde der Text ganz augenfällig (auch) für ungarisch Sprechende beziehungsweise Lesende in eine schriftliche Fassung gebracht, er folgt nämlich der ungarischen Phonetik und Orthographie und verleiht ihm dadurch eine eigene, „fremdartige“ Ornamentik, wie zum Beispiel: „Kénsz, oltá, szánsz szo kuád“ (Gehen sie, Alter, seien sie so gut!). Die zwei Hauptfiguren, der Kasperl und Don Juan, sprechen eine Sprache, die unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten entlehnt sind: Während der Kasperl einen bairischen Mischdialekt mit typisch wienerischen Merkmalen spricht, verwendet Don Juan „eine in Richtung Standarddeutsch strebende Varietät, die jedoch massive Interferenzen aus dem Jiddischen aufweist. Offensichtlich werden damit im Ungeratenen zon die Sprach- beziehungsweise Kommunikationsformen jener Aufsteigerschicht unter den ungarischen Juden karikiert, die im 19. Jahrhundert im Zuge der Assimilation im alteingesessenen Pesther Bürgertum einen Sprachwechsel vom Jiddischen zum Deutschen vollzogen hat.“40 Das heißt der Text offenbart die Koinzidenz ganz unterschiedlicher Kommunikationsräume, die sich im Budapester urbanen Milieu verschränken: Des Deutschen (Sprache), Ungarischen (Schreibweise), des Wienerischen (dialektale Formen) und des Jiddischen (jiddische Interferenzen im Standarddeutsch). Derartige sprachliche Interaktionen spiegeln nicht nur soziale Veränderungen im städtischen Umfeld wider, sie verweisen auch ganz deutlich auf die Komplexität kultureller Prozesse: Selbst die konkrete gesprochene Sprache – das Stück war ja zum deutschen Vortrag in einem Marionettentheater bestimmt –, die das hervorstechendste diffe40 Manfred Michael Glauninger, ‚Essekerisch‘ und (Budapester) ‚Josefstädterisch‘ – urbane ‚k. k.‘ – Nonstandard-Varietäten des Deutschen im Vergleich, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren Mittel- und Osteuropas. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Wien: Praesens 2008, S. 109–123, Zit. S. 113.
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renzierende Merkmal von Kultur als Kommunikationsraum ist, unterliegt Veränderungen durch die Verschränkung mit anderen Kommunikationsräumen. Zudem werden durch die Verwendung von Wienerisch, Jiddisch oder die vermutlich eher ungarisch klingende phonetische Vortragsweise, was die orthographische Niederschrift des Stückes nahelegt, Erinnerungen wachgerufen, die den unterschiedlichen „mémoires culturelles“ der Rezipienten entsprechen; denn die Assimilation von Personen aus der jiddischsprachigen an eine anderssprachige, zum Beispiel an die deutschsprachige Gesellschaft, verändert nicht nur die Assimilanten, die sich den anderen in fast täuschender Weise angleichen, sondern ebenso die Assimilatoren. Es werden also hier unterschiedliche, mehrdeutige sprachlich-kulturelle Kartierungen sichtbar, oder: Das in „Josefstädterisch“ abgefasste Stück „Der ungeratene zon“ und auch das „Josefstädter Deutsch“ selbst gleichen einem Palimpsest mit den Spuren unterschiedlicher, durch die jeweiligen Interferenzen markierter kultureller Botschaften. Oder anders ausgedrückt: Hinter dieser sprachlichen Folie werden allgemeine kulturelle Prozesse sichtbar, eine performative Entlehnung und Aussonderung von Elementen, die Deutung und Umdeutung von Zeichen, eine dynamische Codierung und Decodierung. Die Selbstrepräsentation der deutsch sprechenden Josefstädter und der vermutlich ursprünglich ungarisch sprechenden Schauspieler erscheint hier demnach als ein äußerst ambivalentes und mehrdeutiges Verfahren, mit dem auch durch die Sprachen markierte hegemoniale Machtdiskurse ausgehandelt wurden – Deutsch galt beispielsweise als ein Symbol für Bildung und für die gesamtstaatliche politische Herrschaft in der Monarchie, ihm wurde in Ungarn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Nationalisierung beziehungsweise Magyarisierung freilich zunehmend der Rang durch Ungarisch streitig gemacht. Das Budapester Deutsch, in dem unterschiedliche sprachlich-kulturelle Kommunikationsräume aufeinandertrafen, war und ist selbstverständlich keine Ausnahme. Die von einer dichten Sprachenvielfalt gekennzeichnete zentraleuropäische Region weist zahlreiche analoge Entwicklungen auf, vor allem in den Mikrokosmen der urbanen Milieus. Die Einwohner von Czernowitz zum Beispiel setzten sich aus Juden, Ruthenen (Ukrainern), Rumänen, Deutschen, Polen und einer Minderheit von Ungarn zusammen. Deutsch war bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts die wichtigste Verkehrssprache, 1910 gaben 48 Prozent der Bevölkerung Deutsch als Um-
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gangssprache an.41 Doch wie verhielt es sich mit dieser Umgangssprache? „Die verschiedenen Spracheinflüsse färbten natürlich auf das Bukowiner Deutsch ab“, erinnerte sich die bekannte Czernowitzer Schriftstellerin Rose Ausländer, „zum Teil recht ungünstig. Aber es erfuhr auch eine Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen. Es hatte eine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weit verzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinander griffen und dem Wortlaut, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch, und das gab der Stadt eine besondere Färbung. Altjüdisches Volksgut, chassidische Legenden lagen in der Luft, man atmete sie ein. Aus diesem barocken Sprachmilieu, aus dieser mythisch-mystischen Sphäre sind deutsche und jiddische Schriftsteller hervorgegangen.“42 In einem anderen Essay, in „Czernowitz, Heine und die Folgen“, betont die 1901 in Czernowitz geborene Ausländer ebenfalls diese hybride sprachliche Situation ihrer Vaterstadt: „Hier begegneten und durchdrangen sich vier Sprachen und Kulturen: die österreichisch-deutsche, die jiddische, die ruthenische (= ukrainische) und rumänische. Obwohl seit 1918 Rumänisch als Landessprache galt, blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsch die Mutter- und Kultursprache. Sie erlitt indessen schwere Durchbrüche und Verzerrungen. Durch die mannigfachen Spracheinflüsse, besonders vom Jiddischen (über ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch), war ein Jargon entstanden, von dem die Gebildeten und sprachlich Anspruchsvollen – nach Wien horchend – sich distanzierten. Wir blieben Österreicher, unsere Hauptstadt war Wien, nicht Bukarest. Die Wiener – ach, wie sie das ,Buko-wiener‘ Deutsch verspotteten! Wir litten an sprachlichen Minderwertigkeitsgefühlen.“43 Dieses ineinandergreifende Sprachenbabylon prägte bis in die untersten Volksschichten die Sprechweise 41 Isabel Röskau-Rydel, Czernowice – das polnische Czernowitz, in: Mythos Czernowitz. Eine Stadt im Spiegel ihrer Nationalitäten, Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa 2008, S. 104–136, hier S. 129–130. 42 Rose Ausländer, Erinnerungen an eine Stadt, zit. in: Helmut Braun, Viersprachenlieder erfüllen die Luft. Die Stadt in der Erinnerung der Dichterinnen und Dichter, in: Helmut Braun (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin: Ch. Links ²2006, S. 85–108, Zit. S. 92. 43 Rose Ausländer, Czernowitz, Heine und die Folgen, in: Andrei Corbea-Hoisie (Hg.), Jüdisches Städtebild Czernowitz, Frankfurt a. Main: Jüdischer Verlag 1998, S. 191–192.
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mancher Teile der Bevölkerung. Gregor von Rezzoris Kindermädchen Kassandra „sprach beides, Rumänisch sowohl wie auch Ruthenisch, allerdings beides gleicherweise schlecht – was indes in der Bukowina ziemlich allgemein der Fall war. Sie vermengte die beiden Sprachen und mischte darunter Brocken aus allen anderen ein, die bei uns im Umlauf waren. Das Ergebnis war jenes absurde Kauderwelsch, das nur von mir verstanden wurde. […] Der Hauptteil dieses Idioms war ein niemals richtig und zur Gänze erlerntes Deutsch, dessen Lücken ausgefüllt waren mit Wörtern und Redewendungen aus sämtlichen anderen Zungen, die in der Bukowina gesprochen wurden.“44 Dieses Ineinandergreifen unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Kommunikationsräume betraf nicht nur das Kolorit des Deutschen, sondern ebenso die Sprachfärbung der anderen in Czernowitz und in der Bukowina gesprochenen Sprachen. Zwei- und Mehrsprachigkeit in einem wörtlichen und metaphorischen Sinne blieben vergleichsweise auch für andere kleine urbane Räume der zentraleuropäischen Region charakteristisch; in einem metaphorischen Sinne insofern, als sie in der architektonischen Topographie verschiedener Stilelemente die unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Lebenswelten widerspiegelten, so beispielsweise auch auf dem Gebiet des heutigen Slowenien. In einer jüngst publizierten Geschichte Sloweniens wird denn auch direkt darauf Bezug genommen, die Städte des 19. Jahrhunderts wiesen eine sprachliche und kulturelle Mehrfachcodierung auf: „The everyday life of Slovenian towns was much like that of other towns within the monarchy. The towns were predominantly German of appearance (or Italian, in the coastal parts) reflecting bilingual and binational population structure.”45 Freilich war eine solche Doppel- oder Mehrsprachigkeit noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dominanter und auch konfliktfreier als zu Ende des Jahrhunderts. So weiß beispielsweise die „Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie“, der Brockhaus von 1854, ähnlich wie schon die Ausgabe von 1835, über Laibach/Ljubljana „wertfrei“ zu berichten: „Die Volkssprache ist die windische, welcher sich aber viele deutsche und ital[ienische] Wörter beigemischt haben; doch wird auch deutsch, ital[ienisch], franz[ösisch] und 44 Gregor von Rezzori, Blumen im Schnee, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2007, S. 56–57. 45 Oto Luthar (Hg.), The Land Between. A History of Slovenia, Frankfurt a. Main u.a.: Peter Lang 2008, S. 364.
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sprachliche interferenzen: josefstädter deutsch
neugriech[isch] gesprochen.“46 Der Hinweis, dass im Slowenischen Lehnwörter aus dem Deutschen und Italienischen vorhanden wären, ist ein deutliches Indiz für das Ineinandergreifen von unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Kommunikationsräumen, vor allem in der Komplexität von urbanen Milieus, für die Abfolge von kulturellen Prozessen also, die performative, hybride sprachliche Interaktionen und Interferenzen zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang beziehungsweise in Analogie zu solchen Beispielen von städtischen Mehrsprachigkeiten stellt sich im Konkreten auch die Frage nach der ungarischen Sprechweise in Budapest, nach dem Budapester ungarischen „Slang“. Ob der typische ungarische Budapester „Argot“ als eine eigene Sprachvariante wie das Wienerische angesehen werden kann, bleibt zwar umstritten. Freilich wurde jedoch mehrfach auf die vielfältigen dialektalen Formen hingewiesen, die sich der Immigration von Personen aus verschiedenen Regionen Ungarns in die Hauptstadt verdankten. Jedenfalls speiste sich darüber hinaus auch das Budapester Ungarisch aus vielfältigen Elementen der mehrsprachigen Bevölkerung der Stadt und seiner regionalen Umgebung und entwickelte sich so, ähnlich wie die Wiener Sprache, zu einem eigenständigen, kreolisierenden Mix, der auch bei Budapester Schriftstellern der Jahrzehnte um 1900 nachgewiesen werden kann: So beispielsweise bei Frigyes Karinthy, Ferenc (Franz) Molnár, Ernő Szép, Jenő Heltai oder Gyula Krúdy, die viele Wörter auch aus der unterweltlerischen „Gaunersprache“, aus dem Deutschen, aus dem Jiddischen oder aus verschiedenen slawischen Sprachen entlehnten, ganz abgesehen von zahlreichen lateinischen Relikten, die für die ungarische Sprache insgesamt kennzeichnend sind.47 „Le hongrois parlé à Pest est truffé de germanismes propres à l’allemand de Vienne, il emprunte aussi au yiddish et aux langues slaves, ce qui permet une multitude de jeux de mots dont les habitants sont friands“, meint Catherine Horel.48 Für den herausragenden Schriftsteller der Budapester literarischen Moderne, Dezső Kosztolányi, war für den Sprachjargon der ungarischen Hauptstadt darüber hinaus auch die aus den Cabarets entlehnte Kunst cha46 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, 10. Aufl., Bd. 9, Leipzig: F. A. Brockhaus 1853, S. 327. 47 Vgl. den Artikel „Budapesti nyelv“ (Budapester Sprache), in: Budapest Lexikon, hg. von Berza László, Bd. 1, S. 246–248. 48 Catherine Horel, Budapest, entre multiculturalité et identification nationale, S. 77.
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v. peripherie oder zentrum?
rakteristisch, Wortspiele zu beherrschen, das heißt mit der Sprache spielerisch, mehrdeutig umzugehen. „Endre Nagy“, meint daher Kosztolányi, „der innerhalb von wenigen Jahren das Budapester Cabaret begründet hatte, hat der Kunst, der Sprache und dem Ungartum den gleichen Dienst erwiesen, wie die [Ungarische] Akademie [der Wissenschaften].“ Auch erfolgte eine rasche Einverleibung von Wörtern und Redewendungen, die beispielsweise aus dem peripheren Siebenbürgen Zugewanderte mitbrachten, wo eine andere, altertümlichere ungarische Sprache gesprochen wurde als im Zentrum des Landes.49
Zum Vergleich: zweisprachige Schriftsteller in Wien Doch ganz abgesehen von solchen sprachlichen Interferenzen, die sich einer mehrsprachigen Gesellschaft verdanken, die in unterschiedlichen Kommunikationsräumen beheimatet ist, sind Schriftsteller, die zwei Sprachen gleich gut beherrschten und in diesen zwei Sprachen auch als Autoren hervortraten, noch bis ins 20. Jahrhundert zwar nicht eine Selbstverständlichkeit, jedoch keineswegs eine Ausnahme. Für die mehrsprachige Wiener literarische Szene möchte ich paradigmatisch auf zwei Persönlichkeiten aufmerksam machen, die sich als Übersetzer, als Translatoren aus dem einen in einen anderen kulturellen Kommunikationsraum, als Schriftsteller, Dramatiker und Dichter in zwei Sprachen zu artikulieren wussten und Anerkennung fanden: Es sind dies der 1873 in Lemberg geborene Tadeusz (Thaddäus) Rittner und Ludwig von Dóczy, geboren 1845 im damals zu Westungarn gehörigen Deutschkreutz im Ödenburger Komitat. Beide hatten an der Wiener Universität Jus studiert und waren in den Staatsdienst getreten, Rittner ins Unterrichtsministerium, während Dóczy zunächst im Amt des ungarischen Ministerpräsidenten in Budapest tätig wurde, um mit seinem Chef Graf Julius Andrássy 1871 in das Gemeinsame Außenministerium nach Wien zu wechseln, wo er schließlich bis zu seiner Pensionierung 1902 als Hofrat und Sektionschef das Pressebüro leitete. Beide, Rittner und Dóczy, gehörten der Wiener Kulturszene an, waren Verfasser von Zeitungsbeiträgen, Feuilletons – unter anderem in der „Neuen Freien Presse“ und in entsprechenden ungarischen und polnischen 49 Vgl. Kosztolányi Dezső, Nyelv és lélek (Sprache und Seele), Budapest: Osiris Kiadó 1999, u.a. S. 15–16, 25–27, Zit. S. 16.
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Zum Vergleich: Zweisprachige Schriftsteller in Wien
Presseorganen –, Novellen, Dramen und Lustspielen, die im Wiener Hofburgtheater, in polnischen Theatern oder im Ungarischen Nationaltheater aufgeführt wurden. Während Rittner in vergleichbarer Perfektion polnische Zeitungsberichte und Stücke verfasste oder seine deutschen Dramen und Komödien mit gewissen Veränderungen, die einem polnischen kulturellen Kontext entsprachen, selbst ins Polnische übersetzte und sich für das polnische Theater einsetzte (nach dem Krieg wurde seine Kandidatur für die Leitung des Burgtheaters angeblich wegen seines Bekenntnisses zum Polentum abgelehnt), galt Dóczy als einer der Begründer des ungarischen neuromantischen, sentimentalen Dramas; er übersetzte seine ungarischen Stücke ebenfalls selbst ins Deutsche, unter anderem „Csók“, 1874 (Der Kuss, Uraufführung am Burgtheater 1877), „Utolsó szerelem“, 1880 (Letzte Liebe, Uraufführung am Burgtheater 1885) oder „Széchy Mária“, 1891 (Maria Széchy), die in ihrer ungarischen Version am Budapester Nationaltheater und deutsch in Wien aufgeführt wurden. Insgesamt waren Dóczys Stücke bis zur Jahrhundertwende fast dreißigmal im Burgtheater zu sehen.50 Die Novelle „Carmela Spadaro“ (1890) erschien in ihrer ursprünglichen Fassung zunächst auf Deutsch. Dóczy war auch Übersetzer der „Tragödie des Menschen“ von Imre (Emmerich) Madách und von Werken der bekannten ungarischen Dichter Mihály (Michael) Vörösmarty und János (Johann) Arany, dessen Ballade „Pázmány lovag“ ihn zur Verfassung des all zu sentimentalen und daher verfehlten Librettos von Johann Strauß’ komischer Oper in drei Akten „Ritter Pásmán“ (1891/92) anregte; schon früher hatte er das von Victor Léon verfasste Textbuch des Strauß’schen „Simplicius“ (1887/88) gemeinsam mit Carl Lindau neu bearbeitet. „Dóczi sagt von Johann Strauß“, vermerkte Hermann Bahr in einer Kalendereintragung am 2. September 1901, „dem in Wien Donauwalzer wie Fledermaus durchgefallen sind.[:] ‚Stets bewundert und immer verkannt … Die Bewunderung eines Volkes will den Seltenen immer so sehen, wie sie ihn zuerst aufgegriffen. Jeder war bereit, ihn bis zum Himmel zu erheben, nur wachsen sollte er nicht.‘“51 Bahr besuchte am 8. März 1901 eine 50 Zita Veit, K. u. K Kulturen und Konstrukteure. Übersetzte ungarische Bühnenwerke in Wien nach dem Ausgleich, in: Helga Mitterbauer, András F. Balogh (Hg.), Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum, Wien: Praesens 2006, S. 131–142, hier S. 137. 51 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte Bd. 3: 1901–1903, hg. von Moritz Csáky, bearb. von Helene Zand und Lukas Mayerhofer, Wien u.a.: Böhlau 1997, S. 50.
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v. peripherie oder zentrum?
Vorstellung von Dóczys „Kuss“ im Burgtheater und berichtete darüber in einer Rezension.52 Dóczy stand also nicht nur Strauß nahe, in dessen Salon, einer Schnittstelle für Künstler und Intellektuelle, er unter anderem mit Johannes Brahms, Carl Goldmark, Ignaz Schnitzer – der Maurus Jókais Novelle „Szaffi“ zum Libretto des „Zigeunerbaron“ umgearbeitet hatte –, Max Kalbeck oder Franz Jauner verkehrte,53 seine Bekanntschaft mit Victor Léon und Hermann Bahr legt den Schluss nahe, dass ihm manche Vertreter des „Jung Wien“ nicht fremd geblieben sein mochten. Mit Bahr verband ihn wohl eine engere Freundschaft: Am 19. Februar 1904, vor seiner Abreise nach Fiume, notierte Hermann Bahr: „In der Früh mit Dóczy [in Abbazia] spaziert.“ 54 Ebenso verkehrte Dóczy mit Arthur Schnitzler, der seine Stücke im Burgtheater gesehen hatte; er begegnete ihm persönlich unter anderem 1902 bei einem Abendessen in Budapest und dann 1910 in Bad Ischl.55 Dóczy übertrug auch das von Siegfried Lipiner verfasste Textbuch zu Carl Goldmarks Oper „Merlin“ ins Ungarische. Besonders erfolgreich war Dóczy als Übersetzer aus dem Deutschen ins Ungarische, von Goethes „Faust“ (1872, 1890), Schillers Wallenstein-Trilogie (1904) sowie Gedichten Goethes (1906) und Schillers sämtlichen Gedichten (1902).56 52 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 3, S. 5, 8. 53 Norbert Linke, Johann Strauß (Sohn), mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 41996, S. 130. 54 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte Bd. 4: 1904–1905, hg. von Moritz Csáky, bearb. von Lukas Mayerhofer und Helene Zand, Wien u.a.: Böhlau 2000, S. 32. 55 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1893–1902, hg. von Werner Welzig, Wien: ÖAW 1989, S. 371. – Arthur Schnitzler, Tagebuch 1909–1912, hg. von Werner Welzig, Wien: ÖAW 1981, S. 172. 56 Szinnyei József, Magyar írók élete és munkái (Leben und Werke ungarischer Schriftsteller) Bd. 2, Budapest: Hornyánszky Viktor 1893, Sp. 955–960. – Gulyás Pál, Magyar írók élete és munkái (Leben und Werke ungarischer Schriftsteller) Bd. 6, Budapest: Magyar Könyvtárosok és Levéltárosok Egyesülete 1944, Sp. 12–16. – Fürst Ilona, Dóczy Lajos mint német író. Egy zsidó írói nemzedék tipusa (L. D. als deutscher Schriftsteller. Ein Vertreter der jüdischen Schriftstellergeneration), Budapest: Pfeifer Ferdinánd 1932 (= Német Filológiai Dolgozatok 30). – Ujvári Péter (Hg.), Zsidó Lexikon (Jüdisches Lexikon), Budapest: Zsidó Lexikon 1929, S. 208–209. – Sőtér István (Hg.), A magyar irodalom története 1849-től 1905-ig (Geschichte der ungarischen Literatur von 1849 bis 1905) = A magyar irodalom története (Geschichte der ungarischen Literatur) Bd. 4, Budapest: Akadémiai Kiadó 1965, S. 523 und passim.
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Zum Vergleich: Zweisprachige Schriftsteller in Wien
Beide, Rittner und Dóczy, sind typische zum Christentum konvertierte Assimilierte, mit einer relativ steilen Berufskarriere; sie sind darüber hinaus repräsentativ für die große Zahl von ursprünglich nicht nur deutschsprachigen, sondern zweisprachigen Intellektuellen, die als höhere Beamte an verschiedenen zentralen Dienststellen der Haupt- und Residenzstadt beschäftigt waren. In diesem Zusammenhang möchte ich nur auf zwei weitere bekannte Zeitgenossen und Landsleute Dóczys verweisen: den Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Árpád Károlyi und den Direktor des Finanzkammerarchivs Lajos (Ludwig) Thallóczy. Rittner und Dóczy waren in drei unterschiedlichen Kommunikationsräumen beheimatet, in einem jüdischen, einem polnischen oder ungarischen und in einem deutschsprachigen. Es ist daher keineswegs überraschend, dass Dóczys erstes Stück „Az utolsó próféta“ (Der letzte Prophet, 1868) das traumatische Thema der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und indirekt das auch ihn wohl noch immer prägende Bewusstsein, sich in der Diaspora vorzufinden, zum Inhalt hatte. Er befand sich dabei wohl in einer ähnlichen Situation wie sein 1855 zum Christentum konvertierter engerer Landsmann Joseph Joachim aus Kittsee (Köpcsény), der trotz seiner Konversion zum Protestantismus später in der Öffentlichkeit oft noch immer als Jude wahrgenommen wurde und dessen Verwurzelung im Judentum ihm selbst durchaus nicht fremd geworden war, denn, so Joachim, „es liegt innerlicher und tiefer“57: Unmittelbar nach seiner Konversion komponierte Joachim noch „Hebräische Melodien, nach Eindruck der Byronschen Gesänge für Violine und Klavier“ (1855), vergleichbar einem Werk des gleichfalls Assimilierten Jacques Offenbach aus dem Jahre 1837: „Rebecca. Valse sur des Motifs Israilites du XVme siècle“. Aus diesem mehrfach codierten Background ergaben sich freilich deutliche Brüche und Konflikte: Während Rittner sich beklagte, wegen seiner Doppelsprachigkeit weder vom deutschen noch vom polnischen Publikum voll akzeptiert und ernst genommen zu werden – auf diesen Umstand werde ich später noch kurz zurückkommen –, verbargen sich latente Krisen vermutlich hinter dem Namenwechsel des anderen: Dóczys Vater hieß Moritz Dux, er war ein Lederwarenhändler, der seinen Familiennamen erst 1872 magyarisierte und sich fortan Dóczi nannte; seit diesem Jahr führte auch sein Sohn 57 Beatrix Borchard, Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte, Wien u.a.: Böhlau ²2007, S. 105.
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v. peripherie oder zentrum?
Ludwig diesen Namen, bis ihm, der bereits 1878 in den ungarischen Adelsstand erhoben worden war, 1900 das ungarische Baronat (Freiherrenstand) verliehen wurde, er schrieb seinen Namen nun statt mit einem i mit einem y – aus Dóczi wurde Dóczy –, mit dem Prädikat „de Németkeresztúr“ (Dóczy Freiherr von Deutschkreutz). Während Tadeusz Rittners Zugehörigkeit zur Wiener Literaturszene schon mehrfach thematisiert wurde, unter anderem durch Untersuchungen der Slawisten Günther Wytrzens und Stefan Simonek, ist der Wiener Kontext der Person und der literarischen Werke des seinerzeit überaus erfolgreichen Ludwig Dóczy, der ähnlich wie Josef Svatopluk Machar mehr als dreißig Jahre (1871–1902) in Wien verbracht hatte und 1919 in Budapest verstarb, noch keiner eingehenden Würdigung unterzogen worden. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil seine ungarischen Werke schon sehr früh eindeutig in die ungarische Nationalliteratur vereinnahmt worden waren, während seine deutschsprachige literarische Tätigkeit, oder besser: seine Situierung in einem mehrsprachigen „Zwischenraum“, weniger Beachtung gefunden hatte und allmählich verblasste. Beide waren jedoch trotz oder gerade wegen ihrer Zweisprachigkeit ein integraler Bestandteil einer umfassenden Wiener Kultur der Jahrzehnte um 1900, in der, wie in anderen urbanen Milieus, typischerweise die unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräume der zentraleuropäischen Region aufeinandertrafen und sich ineinanderschoben. Ihre Werke, ob deutsch, ungarisch oder polnisch, befassten sich unter anderem nicht nur mit den Verhältnissen der Stadt, in der sie lebten, sie sind darüber hinaus repräsentativ für das hybride Profil der urbanen Situation Wiens und ein weiterer Beleg dafür, dass es neben der deutschen oder tschechischen ebenso eine autochthone polnisch- oder ungarischsprachige Wiener Literatur gab. Um die angedeutete Mehrsprachigkeit etwas zu verdeutlichen, erlaube ich mir einen sehr persönlichen Exkurs. Ich hatte schon seit meiner frühesten Kindheit gelernt, mich in mehreren Sprachen zu bewegen: Mit den Eltern und den nächsten Verwandten sprachen wir Kinder ungarisch und deutsch, mit den Bewohnern des Dorfes und unseren Spielkameraden selbstverständlich slowakisch. Um Ungarisch und Slowakisch zu perfektionieren, war eine ungarischsprachige Erzieherin im Hause, die unter anderem uns Kinder, nach der Absolvierung der deutschen Volksschule in der nahe gelegenen Stadt, auf den Besuch eines ungarischen Gymnasiums vorbereitete. Darüber hinaus gab es eine Slowakischlehrerin, die uns Slowakisch lesen und korrekt schreiben 302
Pressburg/Bratislava/pozsony zum vergleich
beizubringen hatte. Die Bediensteten des Hauses stammten überwiegend aus der kleinen Ortschaft, manche von ihnen beherrschten neben Slowakisch mehr oder weniger gut auch Ungarisch und Deutsch. An den Donnerstagen sprachen die Eltern mit uns französisch, was uns dazu veranlasste, möglichst wenig zu reden. Wir Kinder nannten daher den Donnerstag den Schweigetag. Diese Vielsprachigkeit gehörte in der Gegend, in der ich meine Kindheit verbrachte, zur Realität des Alltags. Die jeweiligen Sprachen waren jedoch nicht Merkmale unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten, sie signalisierten vielmehr Räume unterschiedlicher soziokultureller Schichtungen, die oft nicht streng voneinander getrennt werden konnten, sondern ineinander übergingen und sich verschränkten. Es war eine Situation, die nicht nur in der ostslowakischen Zips (Spiš), sondern auch in anderen Gegenden und Städten Zentraleuropas bis weit ins 20. Jahrhundert gelebte Wirklichkeit war. Eine solche Vielsprachigkeit spiegelt andererseits ein kommunikatives Verhalten wider, das nicht bloß als ein historisches Phänomen abgetan werden kann, das vielmehr in der Gegenwart, in der Postmoderne und im Zeitalter der globalen Vernetzungen, da Migrationen, Mobilitäten und diasporische Lebensweisen weltweit zugenommen haben, für viele zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.
Pressburg/Bratislava/Pozsony zum Vergleich Bratislava (bis 1919 offiziell Pressburg, Prešporek/Peršporok, Pozsony), die ehemalige ungarische Krönungsstadt und heutige Hauptstadt der Slowakischen Republik zählte 1850 42.267 Einwohner, von denen 70 Prozent Deutsche, 13 Prozent Juden, 10 Prozent Slowaken und nur 6 Prozent Ungarn waren. 1880 erhöhte sich der Anteil der Slowaken auf 15,5 Prozent, jener der Ungarn auf 15,7 Prozent.58 Zehn Jahre später (1891) gaben, laut dem Großen Pallas-Lexikon (A Pallas Nagy Lexikona), von den 52.411 Einwohnern 31.404 Deutsch als Muttersprache an, 10.433 Ungarisch und 8709 Slowakisch.59 1901 bekannten sich von den 65.867 Einwohnern Pressburgs über 33.000 (50,4 58 Eleonóra Babejová, Fin-de-Siècle Pressburg. ������������������������������������������ Conflict & Cultural Coexistence in Bratislava 1897–1914. New York: Columbia University Press 2003, S. 25. 59 Vgl. A Pallas Nagy Lexikona (Großes Pallas-Lexikon) Bd. 14, Budapest: Pallas 1897, S. 186.
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Prozent) zu Deutsch, 20.000 (30,5 Prozent) zu Ungarisch und 10.715 (16,3 Prozent) zu Slowakisch.60 Die Verschiebung der Proportionen zugunsten des Ungarischen ist dann bereits 1910 deutlich sichtbar: 40,5 Prozent Magyaren, 41,9 Prozent Deutsche und 14,9 Prozent Slowaken.61 Als Bratislava nach 1919 die Hauptstadt der Slowakischen Teilrepublik der Tschechoslowakei geworden war und slowakische Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten und tschechische Immigranten die Zahl der Einwohner hochschnellen ließ, bekannten sich 1930 von den 123.844 Bewohnern 51,3 Prozent als Slowaken und Tschechen, 16,2 Prozent als Magyaren und 28,1 Prozent als Deutsche.62 Pressburg war die Schnittstelle von diesen drei Kulturen, die sich in der Stadt widerspiegelten. Dazuzurechnen ist auch ein beträchtlicher jüdischer kultureller Kommunikationsraum: 1910 umfasste die bedeutende jüdische Gemeinschaft, die hier, zwar durch zahlreiche Vertreibungen unterbrochen, seit dem Hochmittelalter bestand und neben eigenen Schulen auch eine Jeschiwa (Talmudschule) von internationalem Ruf unterhielt, 8207 Personen, 10,5 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung, die auf zwei Gemeinden, eine orthodoxe und eine kleinere israelitische aufgeteilt waren;63 bis 1930 erhöhte sich der Anteil der Juden auf 12,1 Prozent.64 Der jüdische Anteil bildete vor allem seit dem 19. Jahrhundert, nicht nur in Pressburg, einen integralen Bestandteil eines übergreifenden städtischen Kommunikationsraums: „Die 60 Meyers Großes Konversations-Lexikon Bd. 17. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 61907, S. 281–282. Diese Angaben stimmen mit den neuesten Erhebungen von Eleonóra Babejová überein. Vgl. Eleonóra Babejová, Fin-de-Siècle Pressburg, S. 56. 61 Vgl. dazu auch Lajos Pándi (Hg.), Köztes-Európa 1763–1993. Térképgyűjtemény (Zwischeneuropa 1763–1993. Kartensammlung), Budapest: Osiris Kiadó 1997, S. 364. 62 Vladimír Krivý, 49 Städte: Wandel und Kontinuität, in: Elena Mannová (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900–1989, Bratislava: Academic Electronic Press 1997, S. 37–59, hier S. 52. 63 Venetianer Lajos, A magyar zsidóság története. Különös tekintettel gazdasági és művelődési fejlődésére a XIX. században (Geschichte des ungarischen Judentums. Mit besonderer Berücksichtigung auf seine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im 19. Jahrhundert), Budapest: Könyvértékesitő Vállalat 1986 (1922), S. 456. – Ujvári Péter (Hg.), Zsidó Lexikon (Jüdisches Lexikon), Budapest: Zsidó Lexikon 1929, S. 718–723. 64 Peter Salner, Die Juden in der bürgerlichen Gesellschaft der Slowakei, in: Elena Mannová (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900–1989, Bratislava: Academic Electronic Press 1997, S. 153–163, hier S. 153.
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Juden akzeptierten die städtische Kultur und Lebensweise (in erster Linie die des Bürgertums) und bildeten diese sogar mit heraus. Es gilt also, daß man sich ohne Kenntnis dieses Umfelds unmöglich ein komplettes Bild von der jüdischen Kultur machen kann, aber auch umgekehrt: daß ohne Kenntnis des Judentums das Bild der Stadt unvollständig bleibt.“65 Wie der Germanist Jozef Tancer kürzlich ausgeführt hat, war die Mehrsprachigkeit und die Plurikulturalität Pressburgs, die auch als eine „Kombination von typisch österreichisch-wienerischen und typisch ungarisch-magyarischen Eigenschaften“ hochstilisiert wurde, zu einem dominanten Topos einschlägiger Reisebeschreibungen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert geworden.66 Pressburg wurde als „Grenzstadt“ zum Osten, zum „Orient“ erfahren, „als eine Trennungslinie zwischen der bekannten und der unbekannten Welt (Ungarn als terra incognita) oder zwischen Okzident und Orient, ein anderes Mal als Bereich der Berührung und Überlappung unterschiedlicher Kultureinflüsse (Kreuzung von Kulturen) oder als Ort des Transits oder gar der Expansion (Pressburger Tor)“.67 Doch eindeutige ethnische oder sprachliche Identifikationen waren bis in die Zeit nach 1900 in der Realität des Alltags kaum von Bedeutung, der primäre Identifikator war einfach die Zugehörigkeit zum Ort, zur Stadt, das heißt für seine Bewohner, sich als Pressburger zu fühlen. Als eine offizielle Delegation von Franz Joseph empfangen und deren Mitglieder von ihm gefragt wurden, ob sie Deutsche oder Ungarn wären, sollen sie verlegen geantwortet haben: „Wir sind halt – Pressburger.“68 Doch schon ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte unter dem Verdikt nationaler Homogenisierung, wie eine Stadtbeschreibung von Thomas Szekcö aus dem Jahre 1865 nahelegt, die sprachlich-kulturelle Mehrfachausrichtung als ein Hindernis angesehen werden: Die Stadt teile „das Schicksal aller solcher Übergangspuncte und Orte“ heißt es da, „denen eine derartige Vermittlersrolle [!], meist zu ihrem eigenen Nachtheil, zugefallen ist; denn unter dem wechselnden Einfluss verschiedenartiger Elemente kann sich jener selbständige, eigenthümliche oder vielmehr bürgerliche Typus nicht entwickeln, welcher z.B. Debreczin zu einer echt ma65 Peter Salner, Die Juden in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 154. 66 Jozef Tancer, Stadtbilder als Erinnerungsorte. Pressburg in der Reiseliteratur der Neuzeit, in: (elektronische) Festschrift für Péter Ötvös 1/2007 = www.webfu.univie.ac.at, S. 5. 67 Jozef Tancer, Stadtbilder, S. 2–3. 68 Eleonóra Babejová, Fin-de-Siècle Pressburg, S. 85.
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gyarischen, München zu einer süddeutschen, Berlin zu einer norddeutschen […] Stadt stempelt.“69 Die Stadt war nicht nur als eine „Grenzstadt“ im negativen und im positiven Sinn aufgefasst worden, als ein Endpunkt oder als eine Öffnung zu etwas Unbekanntem; das nationale Narrativ strich hypertroph auch die Funktion von Grenzen hervor, die aus einer solchen Perspektive im Inneren der Stadt vor allem aufgrund von Sprachbarrieren wahrgenommen wurden. Diese inneren Grenzen nahmen in einer städtischen Gesellschaft, die mehrsprachig und von verschiedenen Erinnerungen geprägt war, aufgrund nationaler Sensibilisierungen entweder deutlich zu oder sie konnten zugunsten einer Nationalität, deren Mitglieder infolge der Modernisierung aus dem Umland hierher zuzogen, um Arbeit zu finden, deutlich verschoben werden. Eine solche Situation betraf etwa auch komplexe kulturelle Systeme vergleichbarer Städte, wie zum Beispiel Czernowitz oder Triest. Dennoch blieb, wie Eleonóra Babejová ausführt, die Zwei- oder Dreisprachigkeit für die Bewohner der Stadt bis in das 20. Jahrhundert weitgehend die Regel, ganz abgesehen davon, wie gut oder schlecht man auch alle drei Sprachen beherrschen mochte: „A peculiarity of the city on the Danube was the so called Pressburger. In a few sentences they could alterate Hungarian, German, and even Slovak. They were natives of Bratislava, of indefinite nationality who were connected with the city by history, tradition, work, property, but also by its beauty. Their love and devotion to the native city were without limits.“70 Eine solche Mehrsprachigkeit konnte auch in Form von „Identitätsspielen“ als ein subversiver Protest genutzt werden, etwa gegenüber politischen Machtansprüchen, das heißt gegenüber bestimmten Erlässen oder Verordnungen, denen man sich unter dem Hinweis zu entziehen wusste, dass man, waren sie entweder deutsch, ungarisch oder slowakisch verlautbart worden, man Deutsch oder Ungarisch oder Slowakisch eben nicht verstehen würde.71 Die „innere Kolonisierung“ durch eine zunehmende, nachweisliche Magyarisierungspolitik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf vor allem die Deutschsprachigen; eine von der nationalen Ideologie bestimmte und 69 Thoms Szekcö, Pressburg und seine Umgebung, zit. nach Jozef Tancer, Stadtbilder, S. 4. 70 Eleonóra Babejová, Fin-de-Siècle Pressburg, S. 86 (Ursprüngliches Zitat aus Jozef Hanák: Bratislava na pohl’adniciach z prelomu storočiach, Bratislava 1992, S. 1). 71 Jozef Tancer, Stadtbilder, S. 6.
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medial vermittelte Politik baute nun gezielt dort Grenzen, das heißt Konfliktzonen auf, wo sie bislang kaum sichtbar waren oder zumindest nicht also solche wahrgenommen wurden. Diese magyarischen nationalen, ideologischen Vorgaben wurden vor allem durch Medien implementiert beziehungsweise ausgehandelt, vermittelt zum Beispiel durch Zeitungen, durch die offiziellen, verpflichtenden Schulbücher, durch das Medium des Theaters, durch die Visualisierung von nationalen Mythen oder Personen auf Zeichnungen, Bildern, Gemälden und Photographien, durch die Codierung des öffentlichen Raumes mit nationalen Denkmälern oder durch die bewusste Benennung von Straßen nach nationalen Symbolen, das heißt durch die willkürliche, künstliche Schaffung eines magyarisch-national codierten symbolischen Kapitals. Nach 1919 sollte in ähnlicher Weise Bratislava, die Hauptstadt der slowakischen Teilrepublik der Tschechoslowakei, vom slowakischen nationalen Narrativ erfasst werden, wobei „Translationen“ in ein unterschiedliches nationales Feld fast mühelos vonstattengehen konnten: Die erläuternde ungarischsprachige Beschriftung auf dem städtischen Theater „Magyar Nemzeti Színház“ (Ungarisches Nationaltheater) konnte unvermittelt ins Slowakische umcodiert werden, indem man das „Magyar“ einfach mit „Slovenské“ „übersetzte“ beziehungsweise überschrieb: Aus dem Ungarischen Nationaltheater wurde so unvermittelt das Slowakische Nationaltheater, das „Slovenské Národné Divadlo“. Pressburg, die ehemalige ungarische Krönungs- und Verwaltungsstadt, war in den Jahrzehnten vor und um 1900, was die Zahl seiner Bewohner betrifft, zwar im Vergleich zu Wien, Budapest oder Prag eine kleine Stadt; in Bezug auf ihre kulturelle Funktionalität kam Pressburg freilich eine ähnliche Bedeutung zu wie anderen vergleichbaren kleineren urbanen Zentren der Region. Nicht nur waren diese, was die Zusammensetzung ihrer Bewohner betraf, ein Spiegelbild der sie umgebenden sprachlich-kulturell und wirtschaftlich heterogenen zentraleuropäischen Region; in der Dichte des urbanen Milieus trafen unterschiedliche verbale und nonverbale Kommunikationsräume aufeinander, bildeten Enklaven, verschränkten sich aber auch, gingen ineinander über und trugen zu einer dynamischen, performativen, hybriden neuen städtischen Kultur bei; sie waren freilich zugleich der Anlass für konkrete ökonomische, gesellschaftliche und (national-)politische Spannungen, Widersprüche, Gegensätzlichkeiten, Krisen und Konflikte, die für unterschiedliche politische Interessen immer wieder instrumentalisiert beziehungsweise 307
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genutzt wurden. Das Gedächtnis der Stadt war freilich komplexer, weil mehrfach codiert, individuelle und kollektive Mehrfachidentitäten waren daher die Regel, was der Forderung der erstarkenden nationalen Narrative, deren Zielvorstellung das Bekenntnis zu nur einer nationalen Identität war, zuwiderlief. Auch infolge unterschiedlicher politischer Umbrüche, die vor allem das 20. Jahrhundert betrafen, etablierten sich widersprüchliche national und politisch codierte Erinnerungsschichten. Der ehemalige Krönungshügel nahe der Donau, von dem aus der neu gekrönte ungarische König durch das Schwingen des Schwertes gegen die vier Himmelsrichtungen sein Land symbolisch verteidigte, war für Pressburg ein symbolträchtiger, fast sakraler Erinnerungsort. 1897 wurde hier das vom Pressburger Künstler Ján (János) Fadrusz geschaffene Maria-Theresien-Denkmal errichtet; Maria Theresia hatte bekanntlich zu Beginn der österreichisch-preußischen Auseinandersetzungen in Pressburg mit Erfolg um Unterstützung bei den ungarischen Ständen geworben. Zu Beginn des Tschechoslowakischen Staates, im Jahre 1921, wurde das Denkmal der Königin abgerissen, an seiner Stelle stiftete man eines zu Ehren des slowakischen Generals Milán Rastislav Štefánik,72 der kurz nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik mit einem Flugzeug abgestürzt war. Unter diesem Denkmal befand sich das steinerne Bildnis e ines kleinen Löwen, dem tschechischen Nationalsymbol, das den neuen, gemeinsamen Staat symbolisieren sollte. 1940, zur Zeit des autonomen Slowakischen Staates, wurde diese „Katze“, wie der Volksmund den Löwen nannte, beseitigt. Im Jahre 1952, bereits in der sozialistischen Ära, entledigte man sich auch der Büste des Generals, denn er war für die neuen Machthaber zu einem Symbol der Bourgeoisie geworden. Nun blieb dieser erinnerungsträchtige Ort zunächst leer, erst zu Beginn der Siebzigerjahre wurden dann hier die Büsten der Helden des slowakischen Aufstands von 1848, L’udovít Štúr, Jozef Miloslav Hurban und Michal Hodža, aufgestellt.73 Innerhalb von zwei Generationen wurde also ein kleiner Ort in der Mitte der Stadt, der sich in das öffentliche Gedächtnis als besonders wichtig eingeschrieben hatte, mit 72 Vgl. Peter Macho, Milan Rastislav Štefánik – bohatier a mučeník? (M. R. Štefánik – Held und Märtyrer?), in: Eduard Krekovič, Elena Mannová, Eva Krekovičová (Hg.), Mýty naše slovenské (Unsere slowakischen Mythen), Bratislava: Academic Electronic Press 2005, S. 163–173. 73 Kiss Gy. Csaba, A haza mint kert (Die Heimat als Garten), Budapest: Nap Kiadó 2005, S. 8–9.
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verschiedenen, überaus widersprüchlichen Artefakten als Erinnerungssymbolen besetzt. Ob diese von der Öffentlichkeit auch stets gebührend als solche wahrgenommen wurden, lässt sich bezweifeln, denn, wie schon Robert Musil gemeint hatte, wäre das Auffallendste an Denkmälern „dass man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“ Denkmäler als Signifikanten sollten auf bestimmte, für die Gesellschaft relevante Inhalte verweisen, denn „der Beruf der meisten gewöhnlichen Denkmale ist es wohl“, so Musil weiter, „ein Gedenken erst zu erzeugen, oder die Aufmerksamkeit zu fesseln und den Gefühlen eine fromme Richtung zu geben, weil man annimmt, daß es dessen einigermaßen bedarf; und diesen ihren Hauptberuf verfehlen Denkmäler immer. […] Sie verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten. Man kann nicht sagen, wir bemerkten sie nicht; man müßte sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen: es ist eine durchaus positive, zur Tätlichkeit neigende Eigenschaft von ihnen!“74 Solche Mehrfachcodierungen von bestimmten Orten konnten freilich aus der Retrospektive im kollektiven Gedächtnis und in literarischen Darstellungen zu Verfremdungen führen, zuweilen auch zu jenen Mythenbildungen, die von einer harmonischen, „multikulturellen“ urbanen Symbiose erzählen sollten; dies trifft freilich nicht nur auf Pressburg zu.
„Klein-Wien“ am Pruth: Czernowitz/Tscherniwzi/Cernăuţi Die wenn auch spannungsgeladene sprachlich-kulturelle Symbiose, die Pressburg charakterisierte, war keine Ausnahme, sie war typisch für sehr viele vergleichbare urbane Milieus der zentraleuropäischen Region. Ich habe in Bezug auf sprachliche Interferenzen, die sich aus einer solchen Situation sprachlichkultureller Differenzen ergaben, bereits kurz auf das Beispiel von Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, verwiesen. Von seinen 87.113 Einwohnern im Jahre 1910 gaben 48,4 Prozent Deutsch als Umgangssprache an, gefolgt von Ruthenisch/Ukrainisch (17,9 Prozent), Polnisch (17,4 Prozent) und Rumänisch (15,7 Prozent).75 Nach einer statistischen Erhebung, die nicht von der 74 Robert Musil, Denkmale, in: ders., Gesammelte Werke. Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 506–509, Zit. S. 506, 507. 75 Mariana Hausleitner, Eine wechselvolle Geschichte. Die Bukowina und die Stadt Czer-
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Umgangssprache, sondern von der Zugehörigkeit zu den einzelnen Volksgruppen ausgeht, waren 1910 in Czernowitz 28.613 Juden, 15.254 Ukrainer, 14.893 Polen, 13.440 Rumänen und 12.747 Deutsche.76 Die für Czernowitz charakteristische Mehrsprachigkeit, trotz des großen Zuspruchs für Deutsch als Verkehrssprache, die Sprache des „Kolonialherrentums“, mit der später Gregor von Rezzori dieses „österreichische“ Czernowitz in Verbindung bringen sollte,77 war in der Bukowina selbst auf dem Land, in den einzelnen Dörfern, keine Seltenheit, sie war freilich „den Anhängern der nationalen Vereine, die in den 1880er Jahren entstanden, ein Dorn im Auge.“78 Die spannungsgeladene Plurinationalität von Czernowitz wurde literarisch oft zu einem Mythos der friedlichen Kohabitation unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kommunikationsräume umgedeutet. Dennoch nährte sich diese städtische Kultur in der Tat, wie der Czernowitz-Experte Peter Rychlo meint, „aus steter Berührung und gegenseitiger Befruchtung der sie repräsentierenden Nationen. Da muss man sich dies multinationale Wetteifern vorstellen können, in welchem die Czernowitzer Ethnien einander zu übertreffen bestrebt waren. Bei solch einer Dichte konnten sie kaum isoliert bleiben, kulturelle Diffusionen waren unvermeidlich. ‚Etwas aus dem Bereich der kommunizierenden Röhren‘, nannte es Paul Celan.“79 Einen ganz wesentlichen Anteil an der städtischen Kultur hatte das an die deutschsprachige Kultur assimilierte Judentum (im Unterschied zu den nichtassimilierten Orthodoxen, Chassidim oder zu den Zionisten um 1900): „Der Umstand, dass der selbstbewusste Teil der Bukowiner Hauptstadt in der Habsburger Zeit das jüdische Bürgertum war“, meint Andrei Corbea-Hoisie, „das ja in allen Wirtschaftszweigen, in der Verwaltung, im Rathaus, in der Polizei, in den freien Berufen, in Presse- und Erziehungswesen dominierte – bildete eine sozial-politische Konstellation ohnegleichen, die in der Habsburgermonarchie und im damaligen Europa
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nowitz vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Helmut Braun (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin: Ch. Links ²2006, S. 31–81, hier S. 39. Isabel Röskau-Rydel, Czernowice – das polnische Czernowitz, S. 104–136, hier S. 129. Gregor von Rezzori, Blumen im Schnee, S. 46–47. Mariana Hausleitner, Eine wechselvolle Geschichte, S. 38. Peter Rychlo, Czernowitz als geistige Lebensform. Die Stadt und ihre Kultur, in: Helmut Braun (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin: Ch. Links ²2006, S. 7–30, Zit. S. 8.
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wirkte. Für einige […] war Czernowitz der einzige Ort auf der Erde, wo die Judenemanzipation so weit gediehen war, dass die Juden sich hier einfach ‚zu Hause‘ fühlten, als ob der alte jüdische Traum einer ‚nationalen Heimstadt‘ – ‚Jerusalem am Pruth‘ – erfüllt gewesen wäre.“80 Doch nicht nur „Jerusalem am Pruth“, sondern auch „Klein-Wien“ wurde Czernowitz genannt, ähnlich wie der Schriftsteller Karl Emil Franzos von den „Buko-Wienern“ sprach, die „Halb-Asien“ bevölkerten, waren doch, ganz abgesehen von der architektonischen Gestaltung, die, wie das von Ferdinand Fellner und Hermann Helmer erbaute Stadttheater, der Stadt einen Wiener Flair verliehen, gerade die deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen vornehmlich auf die Kultur der Haupt- und Residenzstadt fixiert. Auch die Gründung der deutschsprachigen Franz-Josephs-Universität im Jahre 1875 intensivierte diese zunehmend wechselseitige kulturelle Kommunikation und rückte Czernowitz noch näher an Wien. Man könnte daher mit Recht behaupten, dass geografisch unmittelbar benachbarte Orte, wie Linz, Graz oder Salzburg, Wien „geistig“ ferner lagen als das am Rand der Monarchie gelegene, weit entfernte Czernowitz: „Die Stadt kam uns nicht anders als eine Vorstadt von Wien vor, freilich 150 Meilen von der Hauptstadt entfernt“, hatte bereits im Jahre 1841 in seiner Reisebeschreibung der Bremer Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl bemerkt.81 Wichtige Schnittstellen, an denen die einzelnen sprachlich-kulturellen Kommunikationsräume der Stadt einander trafen und ineinander überzugehen begannen, waren, wie beispielsweise auch in Wien oder Prag, das Theater, vor allem das Deutsche Städtische Schillertheater, die Universität, Kaffeehäuser, private Salons, Zeitschriftenredaktionen oder öffentliche Bibliotheken.82 Dennoch bildete Czernowitz mit seiner erträumten deutsch80 Zit. in Peter Rychlo, Czernowitz als geistige Lebensform, S. 16. – Vgl. auch Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)Europa, Wien u.a.: Böhlau 2003. – Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitz, Cernăuţi, Tshernovtsy, Tshernivtsi: les représentations sociales d’une identité multiple, in: Delphine Bechtel, Xavier Galmiche (Hg.), Les villes multiculturelles en Europe centrale, Paris: Belin 2008, S. 167–192. 81 Zit. in Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten, S. 18. 82 Vgl. dazu Sergij Osatschuk, Czernowitz – das Werden einer Kulturmetropole. Soziokulturelle Skizzen aus der deutschsprachigen Czernowitzer Presse vor 1914, in: Vlado Obad (Hg.), Regionalpresse Österreich-Ungarns und die urbane Kultur, Wien: Feldmann Verlagsgesellschaft 2007, S. 165–214 (= Österreich-Bibliothek Studienreihe).
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sprachigen „Multikulturalität“ eine Enklave, die die realen Verhältnisse des zu 45 Prozent rumänisch und zu 70 Prozent orthodox geprägten Bukowiner Umlandes mit seinen bloß 8,9 Prozent Deutschsprachigen keineswegs real abzubilden vermochte.83 Der „geglückte Völkerpluralismus“, wie Peter Rychlo meint, „der als ein Modell für das vereinte Europa dienen soll“, war „gar nicht so wolkenlos und idyllisch und, soweit er überhaupt bestand, eher durch die Tatsache bedingt, dass über viele Jahre in Czernowitz keine Ethnie eine Mehrheit aufzuweisen hatte: Die Bevölkerung bestand ausschließlich aus einer Ansammlung von Minderheiten, die sich zwangsläufig arrangieren mussten. Manchmal täuschen die Erinnerungen und Reflexionen der Bukowiner Autoren darüber hinweg, indem sie uns verklärte Bilder einer friedlichen Koexistenz und aufrichtigen Nächstenliebe schildern.“84 Latente Krisen und Konflikte, die solchen kulturellen Symbiosen inhärent sind, wurden um 1900 durch das Erstarken nationaler Ideologien und Separatismen immer sichtbarer; soziale Konflikte wurden nun „ethnisch“ instrumentalisiert, sie waren ein Vorgeschmack auf die zwangsweise nationale Umcodierung nach 1918/1919, als die Bukowina Rumänien angegliedert wurde. Doch bereits während der habsburgischen Zeit gab es wohl separierte kulturelle Kommunikationsräume. Hermann Sternberg verweist auf die Isoliertheit der Nicht assimilierten, die mit „ihren christlichen Mitbürgern, den aus dem Westen hierher versetzten Staatsbeamten, den Offizieren der Garnison, Professoren, polnischen Kaufleuten und sonstigen Menschen jeglichen Standes und Ranges […] keinen oder nur einen sehr geringen gesellschaftlichen Kontakt“ hatten.85 Die Gründung von „nationalen“ Häusern in den Jahren um 1900, Kulturzentren für die einzelnen Nationalitäten, inklusive des „Jüdischen Nationalhauses“ (1907), war bereits ein deutliches Signal der zunehmenden Separation der differenten sprachlich-kulturellen Kommunikationsräume. Elie Rottner erinnert sich, dass nach 1919 selbst zwischen den an die deutsche Sprache assimilierten Juden und den „Ortsdeutschen“ kaum mehr Gemeinsamkeiten bestanden: „Obschon hauptsächlich die Juden dazu beitrugen, daß 83 Zvi Yavetz, Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten, München. C. H. Beck 2007, S. 21. 84 Peter Rychlo, Czernowitz als geistige Lebensform, S. 28–29. 85 Hermann Sternberg, Zur Geschichte der Juden in Czernowitz, in: Andrei Corbea-Hoisie (Hg.), Czernowitz. Jüdisches Städtebild Czernowitz, Frankfurt a. Main: Jüdischer Verlag 1998, S. 153.
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die Stadt deutsches Gepräge trug und es immer noch beibehielt, unterhielten dennoch die Ortsdeutschen mit ihnen keine gesellschaftlichen Beziehungen, sondern hielten sich abgesondert und konzentrierten ihr Kulturleben im exclusiven ‚Deutschen Haus‘. Die Umgangssprache der Juden, sowohl in Czernowitz als auch in den übrigen Städten der Bukowina, war Deutsch. In ihren Hausbibliotheken waren vorwiegend deutsche Bücher vertreten. Die deutschen Schulen wurden von zahlreichen jüdischen Schülern besucht, wo auch mannigfache jüdische Lehrkräfte beschäftigt waren.“86 Abgesehen von einem immer deutlicheren Antisemitismus, den etwa der 1897 gegründete „Verein der christlichen Deutschen“ vertrat oder minoritätenfeindlichen, also auch antisemitischen Attitüden rumänischer Intellektueller bereits vor 1919, wie etwa Ion Nistor oder Nicolae Iorga,87 betraf diese Entwicklung auch das in sich heterogene Judentum selber: Die von Nathan Birnbaum und Max Diamant 1908 in Czernowitz organisierte „Jiddische Sprachkonferenz“ trat offen gegen eine kulturelle Assimilation an die deutsche Sprache und für Jiddisch als die präskriptive Nationalsprache aller Juden ein; unterstützt wurden diese Initiativen durch den jüdischen Schulverein: „Die Aufgabe, die sich der jüdische Schulverein stellte, war sehr wichtig: Er suchte sich dem Volk zu nähern, es mittels seiner eigenen Sprache aufzurichten und zurück zu seinen Wurzeln zu führen. Dazu lehrte er Jiddisch sprechen, lesen und schreiben, denken und fühlen. Dies war seine Haupttätigkeit, Kampf gegen Assimilation.“ 88 Dennoch möchte ich festhalten, dass trotz der zunehmenden Separationsbestrebungen, trotz der sich immer heftiger konkurrenzierenden Kommunikationsräume gerade im Mikrokosmos des urbanen Milieus von Czernowitz Deutsch bis zu Beginn der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts einen alle vorhandenen Differenzen überwölbenden sprachlich-kulturellen Metaraum darstellte, in gewissem Sinne für viele ein letzter Fluchtpunkt: „Nah und unverloren“, 86 Elie Rottner, Das „Ethische Seminar“ in Czernowitz, in: Andrei Corbea-Hoisie (Hg.), Czernowitz. Jüdisches Städtebild, S. 175. 87 Andrei Corbea-Hoisie, Urbane Kohabitation in Czernowitz als Modell einer gespannten Multikulturalität, in: Neohelicon XXIII/1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1996, S. 77–93. – Eine überarbeitete Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel: Das Bild vom Anderen. Nicolae Iorga auf der Reise nach Czernowitz, in: Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten, S. 103–116. 88 Arthur Kolnik, „Der jüdische Schulverein“ in Czernowitz, in: Andrei Corbea-Hoisie (Hg.), Czernowitz. Jüdisches Städtebild, S. 181.
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sagte Paul Celan in seiner Bremer Rede, „blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.“89
Triest/Trieste/Trst Die kulturelle Physiognomie von Triest bestätigt in ähnlicher Weise die Präsenz von differenten, sich konkurrenzierenden und sich überlappenden Kommunikationsräumen, die in den Städten der zentraleuropäischen Region von nachhaltiger Bedeutung waren und bis heute für das Gedächtnis dieser urbanen Räume prägend geblieben sind, auch wenn die verbale Kommunikation weitgehend eine eindeutige Homogenisierung erfahren hatte. Während in Czernowitz Deutsch zur dominanten sprachlichen Kommunikation avancierte, war in Triest, das 1719 zur Freihafenstadt erklärt worden war und dadurch eine enorme Sogkraft für Zuwanderer erfuhr, die Assimilation an das Italienische, an die italienische Sprache und Kultur, vorherrschend, auch wenn für viele die Zwei- oder Mehrsprachigkeit die Regel bleiben sollte. Denn Triests Bevölkerung sei „eine aus allen Nationalitäten gemischte, zum Zweck der Speculation zusammengekommene und daher unternehmend und thätig“, bemerkte schon die Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie aus dem Jahre 1855.90 Nach 1848 nahm die Sogkraft, die von der italienischen Kommunikationsweise ausging, deutlich zu, die Assimilation an das Italienische, ähnlich wie die Assimilation an das Deutsche in anderen Städten, bedeutete für viele sowohl einen sozialen Aufstieg als auch die Aneignung eines symbolischen Kapitals, was freilich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext des erstarkenden Nationalismus zu deutlichen Reaktionen der Slowenischsprachigen führen sollte. Von den 180.343 Bewohnern von Triest und Umgebung im Jahre 1900 bekannten sich 77,36 Prozent als italienischsprachig, 16,34 Prozent zu Slowenisch beziehungsweise Slawisch (inklusive Kroatisch, Serbisch) und 5,88 Prozent zu Deutsch. 95,15 Prozent der Einwohner waren römischkatholisch, 2,77 Prozent gehörten dem mosaischen Glaubensbekenntnis an.91 89 Zit. in Peter Rychlo, Czernowitz als geistige Lebensform, S. 27. 90 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, 10. Aufl., Bd. 15, Leipzig: F. A. Brockhaus 1855, S. 196. 91 Ernst Mischler, Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Bd. 4, Wien: Alfred Hölder ²1909, S. 583. – Laut Emil Brix betrug die Einwohnerzahl gemäß der Volkszählung von 1900 151.010
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Besonders für letztere war die Identifikation mit mehreren Kommunikationsräumen zu einer Selbstverständlichkeit geworden, obwohl „die sozialen Bedingungen für die Identität der Triestiner Juden eine größere Rolle spielen als die religiösen oder ethnischen“ und folglich auch die Zuwendung zur italienischen Sprache und Kultur überwog: 1910 bekannten sich von den Juden mit österreichischer Staatsbürgerschaft 2700 zur italienischen und nur 564 zur deutschen Umgangssprache.92 Das Hinterland der Stadt blieb freilich überwiegend slowenisch besiedelt, eine Tatsache, die auch für die katholische Seelsorge ausschlaggebend sein sollte: Mit einer Ausnahme stammten im 19. Jahrhundert alle Bischöfe Triests aus diesem vornehmlich slowenischen Bereich.93 Ähnlich wie in anderen Gebieten der Region übte die Stadt als eine Stätte, an der sie Arbeit fanden, hier vor allem auf die Slowenen eine enorme Anziehungskraft aus, so dass 1910 bereits 25,9 Prozent der Bewohner Slowenisch als Umgangssprache angaben, was in absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutete, dass Triest deutlich mehr slowenischsprachige Bewohner aufwies als Laibach/ Ljubljana.94 Freilich gab es auch hier enorme Konkurrenzierungen und Spannungen, die, ähnlich wie zum Beispiel in Wien, zu Auseinandersetzungen um die Objektivität der Erhebung der Umgangssprachen führen sollten.95 Diesen sogenannten Triestiner Sprachenstreit, der freilich nur ein lokales Beispiel einer allgemeinen Befindlichkeit in der zentraleuropäischen Region beziehungsweise in der historischen Monarchie war, spricht auch Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ an: Es wäre in Triest eine Tatsache, „daß ihr zahlreiches slawisches Kleinbürgertum dem bevorzugten italienisch sprechenden Großbürgertum auf das leidenschaftlichste das Recht bestritt, die Stadt
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Einwohner, wobei die prozentuelle Verteilung der Sprachenzugehörigkeit exakt der von Mischler-Ulbrich entspricht. Vgl. Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation, Wien u.a.: Böhlau 1983, S. 190. Angelo Ara, Juden und jüdisches Bürgertum im Triest der Jahrhundertwende, in: Andrei Corbea-Hoisie, Jacques Le Rider (Hg.), Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880–1918), Iaşi: Polirom (Wien: Böhlau) 1996, S. 264–274, Zit. S. 266, 268. Nicole Jaiteh-Kremser, An der Grenze. Eine Annäherung an Triest, Graz: Ms. Diplomarbeit 2006, S. 10. Eduard Winter, Wahlrechtsreform und Wahlen in Triest 1905–1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie, München: Oldenburg 2000, S. 124–125. Vgl. Emil Brix, Die Umgangssprachen, S. 183–202.
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als einen Besitz anzusehen. […] Aber sobald es heißt, daß wir germanisieren, sind die Slowenen sofort mit den Italienern verbündet, wenn sie sich sonst auch noch so wild in den Haaren liegen! In einem solchen Fall bekommen die Italiener auch die Unterstützung aller anderen Nationalitäten. Das haben wir oft genug erlebt.“96 Diese treffende Charakterisierung des Triestiner Sprachenstreites, von dem in ähnlicher Weise auch andere urbane Milieus betroffen waren, kann als eine literarische Verfremdung der in der politischen Realität sich konkurrenzierenden verbalen Kommunikationsräume angesehen werden. Dennoch: Triest war im Vergleich zu den anderen Städten der Region in der Tat die größte slowenische Stadt, ähnlich wie Wien zu dieser Zeit die größte tschechische Stadt war. Triest wurde auch zu einer Hochburg der slowenischen Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Schriftsteller Ivan Cankar, der sich zeit seines Lebens für die Rechte der slowenischen Nationalität eingesetzt hatte, weilte wiederholte Male in Triest, war mit dem dortigen slowenischen Arbeiterbildungsverein „Ljudski“ in engem Kontakt und hielt hier einige seiner berühmten politischen Reden, wie „Das slowenische Volk und die slowenische Sprache“ (1907) oder kurz vor seinem Tode „Läuterung und Verjüngung“ (1918), in der er auch auf die Bedeutung Triests für ein zukünftiges Slowenien beziehungsweise Jugoslawien einging: „Ohne Triest, ohne das Meer wäre ein freies, selbständiges, demokratisches Jugoslawien unmöglich, es wäre schon tot im Moment der Geburt; auf ewig begraben. Wer aus Ljubljana zu euch kommt, fühlt, daß er heimkommt, dass er auf heimischem Boden steht, dass er mit Leuten seinesgleichen spricht, die ihn verstehen, die mit ihm fühlen und mit ihm eines Sinnes sind.“97 Die Präsenz von differenten Kommunikationsräumen war nicht nur für die städtische Gesellschaft charakteristisch, sie bündelte sich auch in einzelnen Personen und hatte krisenhafte Mehrfachidentitäten zur Folge, die im literarisch-kulturellen Mythos der „Triestinità“ reflektiert, zusammengefasst und überhöht wurden. „Du weißt“, schreibt zum Beispiel Scipio Slataper sei-
96 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 841. 97 Ivan Cankar, Läuterung und Verjüngung, in: ders., Weiße Chrysantheme. Kritische und politische Schriften. Aus dem Slowenischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Erwin Köstler, Klagenfurt/Celovec: Drava 2008, S. 339–353, Zit. S. 339. Vgl. auch ebd. S. 434–435.
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ner Frau, „daß ich Slawe, Deutscher und Italiener bin“.98 Diese erträumte harmonische kulturelle Symbiose, die dem „Mythos Triests“ zugrunde lag und ihn festigte, sollte in Zukunft das Gedächtnis dieser Stadt als einer Koine von Kulturen, deren Vertreter in der Realität des politischen Alltags einander immer misstrauischer beobachteten, nachhaltig prägen und die realen national-politischen Dissense in den Hintergrund zu drängen versuchen. In Wirklichkeit blieben allerdings nationale Demonstrationen, die den Alltag prägten, auch für Triest symptomatisch. Selbst Theateraufführungen konnten der Anlass für einen Kampf um die symbolische Besetzung des öffentlichen Raumes und um die Selbstrepräsentation von Angehörigen bestimmter kultureller Kommunikationsräume werden, was zum Beispiel einem Bericht über die Inszenierung von Franz Lehárs „Lustiger Witwe“ im Februar 1907 zu entnehmen ist. Das Lehár’sche Operetten-„Pontevedro“ wurde auch hier als eine Chiffre für das „chaotische“ slawische Montenegro, also als eine Verspottung des Slawentums im Allgemeinen verstanden. Der Bericht ist zugleich ein Beleg dafür, dass Theateraufführungen vor allem von Triestiner Slowenen besucht wurden: „Triest, 27. Februar. Heute Abends fand hier die erste Aufführung von Lehár’s Operette ‚Die lustige Witwe‘ statt. Der Vorstellung wohnte ein zahlreiches Publicum, darunter auch die Familie des Statthalters bei. Unmittelbar vor dem Auftreten der Trägerin der Titelrolle Frau Mila Theren entstand plötzlich in allen Theilen des Hauses ein furchtbarer Spectakel. Ein Theil der Besucher pfiff und lärmte. Von der Galerie wurden verschiedene Zettel herabgeworfen, die in zweifelhaftem Italienisch ausführten, daß die Operette eine Beleidigung von Montenegro sei. Die Polizei holte etwa fünfzig Besucher, die an den lärmenden Demonstrationen sich betheiligt hatten, heraus und veranlaßte sie zum Verlassen des Hauses. Die Operette wurde hierauf, von Lehár schneidig dirigiert, unter lebhaften Beifallsovationen zu Ende gespielt. Die Demonstrationen waren von Slovenen inszeniert worden.“99 Gegenüber solchen kulturellen Konkurrenzierungen versuchte hingegen der „Mythos Triest“ die Vorstellung vom kulturellen „Schmelztie98 Zit. nach Angelo Ara, Claudio Magris, Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa, München u.a.: Hanser 1987, S. 21. 99 Demonstrationen gegen „Die Lustige Witwe“ in Triest, in: Illustriertes Wiener Extrablatt, 28. Februar 1907. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Mag. Dr. Stefan Schmidl, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien.
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gel“ in das öffentliche Bewusstsein zu projizieren: „Die historische Aufgabe Triests ist es“, meinte der Schriftsteller Scipio Slataper, „Schmelztiegel und Förderer der Kultur zu sein.“100 Eine solche Schmelztiegelfunktion erfüllte Triest freilich nur bei wenigen Intellektuellen und Schriftstellern, sie war zum Teil eine literarische Fiktion, zeigte sich jedoch direkt auch in einer gelebten, die Differenzen überbückenden Mehrsprachigkeit, von der zum Beispiel Loris Permuda mit dem Hinweis auf Constantin Economo berichtete, einem Vertreter der Wiener Medizinischen Schule in Triest: „Er sprach Griechisch mit seinem Vater, Deutsch mit seiner Mutter, Französisch mit der Schwester Sophie und dem Bruder Demetrio und Triestinisch mit dem Bruder Leo. Vielleicht lassen sich, wenn es überhaupt konkrete und nicht nur mythologische Merkmale einer typisch mitteleuropäischen Triestiner Kultur gibt, gerade in einem solchen sprachlichen Habitus die Wurzeln und das Wesen einer mitteleuropäischen Bildung erkennen.“101 Freilich beschränkt sich ein praktizierter Bilinguismus bis in die Gegenwart vor allem auf die Triestiner Slowenen, die somit als die eigentlichen Vermittler zwischen unterschiedlichen Kommunikationsräumen angesehen werden können: „Grazie al loro bilinguismo, ad essi può toccare una importante funzione di mediazione tra il mondo culturale neolatino e quello slavo.“102 Eine solche vermittelnde kulturelle Vernetzungsfunktion zeigt sich vor allem auch in der nonverbalen Kommunikation, sie bündelt sich aber auch im Triestiner Dialekt, der Venezianisches aus dem „concetto vento coloniale“ mit zahlreichen lokalen, unter anderem auch mit slawischen Elementen anreichert: „La situazione di Trieste, peraltro, non sarebbe illustrata adeguatamente se non si prendessero in considerazione, oltre alle varietà neolatine, anche quelle slave.“103 Diese dialektale Sprechweise hat zum Teil, zumindest in Form von sprachlichen Interferenzen, auch in die Triester Literatur Eingang gefunden. In dieser sprachlichen Verschränkung sind das Ineinanderfließen von differenten Kommunikationsräumen und das Entstehen einer performativen, hybriden, neuen Triestiner „Mischkultur“ ohne weiteres nachweisbar. Neben dem Italienischen und 100 Zit. nach Angelo Ara, Claudio Magris, Triest, S. 84. 101 Zit. nach Angelo Ara, Claudio Magris, Triest, S. 61. 102 Friuli Venezia-Giulia (= Guida d’Italia), Milano: Touring Club Italiano 51982, S. 96. 103 Friuli Venezia-Giulia (= Guida d’Italia) S. 96. Vgl. hier insgesamt das Kapitel „Dialetti“ S. 93–97.
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anderen Sprachen bildete der Dialekt, „il triestino“, eine alle verbindende kommunikative Plattform, da, wie Renate Lunzer ausführt, „der Dialekt hier keine schichtenspezifische Varietät darstellte und darstellt, sondern in allen sozialen Schichten und Sektoren als Vehikel des alltäglichen Umgangs dominiert“.104 Diese sprachliche Sonderform, „un dialetto molto vitale, oggi ancora largamente usato da tutte le categorie sociali della città“, wie ein heutiger italienischer Reiseführer festhält,105 die zum Beispiel auch in Carolus L. Cergolys Dichtungen Eingang gefunden hatte, mit ihren zahlreichen Lehnwörtern aus anderen Sprachen, war freilich der risorgiomentalen Einstellung vieler national gesinnter Italiener ein Dorn im Auge, denn sie erinnerte sie nicht nur an die ehemalige sprachliche Aufspaltung Italiens in verschiedene „dialektale“ Varianten vor der nationalsprachlichen Vereinheitlichung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert,106 sie erinnerte sie auch an die polyglotte österreichische Monarchie, ganz ähnlich wie auch die partiell slowenisch dominierte Musikkultur der Stadt ihnen die verhasste Heterogenität der Region vor Augen führen musste.107 Die Einführung des „reinen“ Italienisch „unterdrückte die ‚habsburgisch-aufgeklärte‘ Funktion des lokalen Dialekts als eines Vehikels von Kulturkontakten und ließ sich in präfaschistische und faschistische Getriebe spannen“.108 Dennoch: „Triest“ meint Claudio Magris auf den „Mythos“ der Stadt anspielend, „ist vielleicht mehr als jede andere Stadt Literatur, ist seine Literatur. Svevo, Saba und Slataper sind nicht so sehr Schriftsteller, die in ihm und aus ihm geboren werden, als Schriftsteller, die es schaffen und hervorbringen, die ihm ein Gesicht verleihen, das es sonst so vielleicht gar nicht gäbe.“109 Untermauert wird diese literarische Projektion in den Jahren nach 1900 von einem „österreichischen Gründungsmythos“, 104 Renate Lunzer, Triest. Eine italienisch-österreichische Dialektik, Klagenfurt/Celovec: Wieser 2002, S. 384. 105 Friuli Venezia-Giulia (= Guida d’Italia), S. 96. 106 Vgl. dazu u.a. Peter Burke, Sprache und Identität im Italien der Frühen Neuzeit, in: ders., Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin: Wagenbach 1993, S. 7–29. 107 Vgl. u.a. Adriano Dugulin, L’Irredentismo nella vita teatrale triestina 1878–1918. ������� Der Irredentismus im Triester Theaterleben 1878–1918, in: Cornelia Szabó-Knotik (Hg.), Wien – Triest um 1900. Zwei Städte – eine Kultur? Wien: VWGÖ 1993, S. 17–61. 108 Renate Lunzer, Triest. Eine italienisch-österreichische Dialektik S. 384–393, Zit. S. 386. 109 Angelo Ara, Claudio Magris, Triest, S. 22.
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dem der Respekt von Pluralitäten zugrunde liegt, gegenüber einem separatistischen „römischen Gründungsmythos“, den die italienischen Irredentisten in die Stadt einschreiben.110 Die Triestiner Sozialistische Partei, die Personen und Gruppen unterschiedlicher Nationalitäten vereinte, schloss sich, wenn auch zuweilen unausgesprochen, eher der österreichischen Tradition an – obwohl gerade in dieser Partei, wie die Auftritte Cankars in Triest belegen, auch slowenische nationalistische Tendenzen sehr stark waren –, sie setzte sich, wie Angelo Ara ausführt, „für eine multinationale Stadt innerhalb eines multinationalen Staates ein“.111 Der große, weit über die slowenische Nationalität hinausreichende Wahlerfolg der Sozialisten von 1907 scheint eine Bestätigung dafür zu sein, dass sie mit dieser offenen Einstellung der kulturellen Mentalität der mittleren und niederen sozialen Schichten durchaus entgegenkamen.
Mikrokosmos Breslau/Wrocław Wie sah es aber in national homogenisierten städtischen Gesellschafen wirklich aus und wie könnte man von einer kulturellen Perspektive, die nicht nur die verbale, sondern auch die nonverbale Kommunikation mit einschließt, dem Bild solcher urbaner Milieus unter einem anderen als einem nationalpolitischen Blickwinkel gerecht werden? Wie verhält es sich beispielsweise mit Breslau/Wrocław, das sich zwar seit Jahrhunderten an einer Schnittstelle von unterschiedlichen kulturellen Einflüssen befand, jedoch im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unter der preußischen Herrschaft und im deutschen Kaiserreich bekanntlich weitgehend „germanisiert“, das heißt erfolgreich und eindeutig national codiert beziehungsweise umcodiert wurde und folglich von vielen, auch im Hinblick auf seine Vergangenheit, als ausschließlich deutsche Stadt wahrgenommen wurde? Dennoch empfand zum Beispiel Arnold Zweig, der seinerzeit an der Universität in Breslau studiert hatte, die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer als einen Knotenpunkt von mehreren Kulturen: „Die Stadt Breslau war ein Haupttor des Austauschs zwischen der polnischen und der deutschen Welt, und der Einfluß von München und Dresden kreuzte sich dort mit dem von Warschau und
110 Nicole Jaiteh-Kremser, An der Grenze, S. 99–100. 111 Angelo Ara, Claudio Magris, Triest, S. 76.
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selbst von Budapest.“112 Die wenigen Polnischsprachigen, die in Breslau über Jahrhunderte präsent geblieben waren und sich, trotz des Deutschen als Lingua franca, nicht an die deutsche Majorität assimiliert hatten, gehörten im 19. Jahrhundert in der Regel einer wenig wahrgenommenen niederen sozialen Schicht an; sie blieben Marginalisierte, ohne am symbolischen Kapital des deutschsprachigen reichen Bürgertums teilzunehmen. Ricarda Huch verweist in ihren Städtebeschreibungen („Im alten Reich“, 1927) auf die Anwesenheit „von armen slawischen Fischern“, die sich hinter dem Dom angesiedelt hätten.113 Freilich: Obwohl glaubhaft überliefert ist, dass im 19. Jahrhundert Deutsch und Polnisch noch „überall in den Straßen geläufig“ war, besitzen wir keine demographischen Erhebungen über den realen Anteil einer polnischsprachigen Bevölkerung. Dennoch wissen wir, dass noch am Ende des Jahrhunderts „in den meisten Vorstädten auf dem rechten Oderufer immer noch Polnisch gesprochen“ wurde, wie Norman Davies ausführt, „und viele der Bediensteten und Kutscher der Stadt waren Polen. Sicherlich waren polnische Namen alltäglich, wie jeder Blick auf alte Fotografien Breslaus bestätigen wird. Doch Namen sind kein Beweis für die Identität von Menschen […].“114 In einer Beschreibung von Karl Herlassohn aus dem Jahre 1840 stellt sich Breslau als „eine merkwürdige Stadt“ dar, „aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Es waltet das preußisch-schlesische vor, neben diesem gibt es noch ein polnisches und […] ein österreichisch-schlesisches. Unter 15–17 Paaren, denen man hier begegnet, spricht gewiß eins polnisch. An der Wirtstafel saßen mit mir 7 Männer und Frauen (wir waren kaum 30 Personen), die polnisch sprachen, und zudem haben sie eigene Gasthöfe […]. Die österreichische Sympathie gibt sich vor allem in der Mundart kund […] gewisse Gerätschaften und Gerichte führen österreichische oder gemodelt böhmische Namen.“115 Und Ritters „Geographisch-statistisches Lexikon“ aus dem Jahre 1874 hält über Breslau lapidar fest: „Die Bewohner sind theils Deutsche, theils Slaven. Sie sprechen auf dem rechten Oderufer grösstentheils
112 Arnold Zweig, Die Festung meiner Jugend. Zit. in: Roswitha Schieb, Literarischer Reiseführer Breslau, Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa 2004, S. 166. 113 Roswitha Schieb, Literarischer Reiseführer Breslau, S. 118–119. 114 Norman Davies, Roger Moorhouse, Breslau – Die Blume Europas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München: Droemer 2005, S. 378. 115 Norman Davies, Roger Moorhouse, Breslau, S. 306–307.
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polnisch, und im Glatzer Gebirge böhmisch.“116 Auch der Anteil polnischer Studenten an der Universität bestand in der ersten Hälfte des Jahrhunderts aus beachtlichen 16 Prozent, wobei eine besondere Anziehungskraft das renommierte Seminar für slawische Sprachen beziehungsweise Slawistik war, das der Tscheche František Ladislav Čelakovský ins Leben gerufen hatte und von bekannten Slawisten beziehungsweise Polonisten wie Richard Roepell oder Wojciech Cybulski weiter ausgebaut wurde. Nicht nur Gaststätten, vor allem die Universität war also eine wichtige Schnittstelle, an der sich Vertreter verschiedener Kommunikationsräume trafen, miteinander verkehrten und sich gegenseitig beeinflussten, studierten doch zahlreich polnischsprachige Studenten nicht nur Slawistik, sondern ebenso auch Jura oder Philosophie. Freilich muss davor gewarnt werden – und dies gilt auch für andere, vergleichbare urbane Milieus –, den Sprachgebrauch, den jeweiligen sprachlichen Kommunikationsraum, mit Nationalität gleichzusetzen; es wäre dies ein Gesichtspunkt der nationalen Ideologie des 19. Jahrhunderts, die Sprache als das primäre Kriterium für Nation und für nationale Identität ansah und mit der Festlegung der Nationalsprache Nation und Ethnie zu konstruieren und anachronistisch in die Vergangenheit zu projizieren versuchte. Gerade in Städten wie Breslau befanden sich manche ihrer Bewohner entweder gleichzeitig in mehreren verbalen und nonverbalen Kommunikationsräumen oder assimilierten sich nur aus pragmatischen Überlegungen oder zwangsweise an eine konkrete Kommunikationsweise, ohne dadurch ihr vielfältiges, zum Teil gebrochenes historisch-kulturelles Gedächtnis gänzlich zu verlieren. Die jüdische Gemeinschaft Breslaus bildete einen weiteren kulturellen Kommunikationsraum, der eng mit den anderen in der Stadt vorhandenen verwoben war. Der Anteil der jüdischen Bewohner von Breslau, die nach einem antisemitischen Pogrom, das 1453 Johannes von Capestrano, „Apostel Europas“ und 1690 heiliggesprochen, angezettelt hatte, im Jahre 1455 aus der Stadt vertrieben worden waren, blieb in den nachfolgenden Jahrhunderten dennoch erhalten, er stieg vor allem nach der gesetzlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert wieder rasch an und machte 1874 sechs Prozent (13.916) der Bevölkerung aus, er erhöhte sich bis 1910 auf 20.212 Personen.117 116 Ritter’s Geographisch-statistisches Lexikon, 6. Aufl., Leipzig: Otto Wigand 1874 (Ndr. 1983), S. 221. 117 Norman Davies, Roger Moorhouse, Breslau, S. 310, 379.
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Zu Ende des 19. Jahrhunderts waren 16 Prozent der Breslauer Studenten Juden, hier unterrichteten auch Professoren wie der Botaniker Ferdinand Cohn, der Astronom Johann Galle, der Historiker Heinrich Graetz, Verfasser der berühmten zwölfbändigen „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (1853–1875) oder der Psychologe William Stern. Von gesamteuropäischer Bedeutung und zu einer Schnittstelle des kulturellen Austauschs zwischen einem jüdischen, deutschen und polnischen Kommunikationsraum wurde das 1854 gegründete „Jüdische Theologische Seminar (Fraenckel’scher Stiftung)“, an dem unter anderem Jacob Freudenthal, Professor für Philosophie an der Breslauer Universität, der später in Bonn lehrende Altphilologe Jacob Bernays, Bruder des Schwiegervaters von Sigmund Freud, und der bereits genannte Heinrich Graetz, der ebenfalls an der Universität lehrte, oder der in Lubraniec in der Nähe von Warschau geborene Adolf Posnanski unterrichteten; unter den Schülern des Seminars befanden sich beispielsweise der Budapester Orientalist Ignaz Goldziher, der Neukantianer Hermann Cohen oder der Rabbiner und Religionsphilosoph Leo Baeck. Zu den bekannten jüdischen Familien der Stadt zählten unter anderem die Fraenckel, Cohn, Cassirer, Elias, Stern oder Stein. Der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders war der Sohn des erwähnten Professors Stern, die zum Katholizismus konvertierte Karmeliterin und Philosophin Edith Stein wurde 1942 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet, 1998 von der katholischen Kirche heiliggesprochen und, sie, eine personifizierte Symbiose unterschiedlicher europäischer kultureller Traditionen, im Jahre 1999 zur Patronin Europas erklärt. Als die Einwohnerzahl Breslaus von 1871 bis 1910 überproportional von 208.000 auf 512.000 anwuchs, verdankte die Stadt diesen rapiden Zuwachs vor allem Arbeitsmigranten: „Die Arbeitsmöglichkeiten, die eine erblühende Industriestadt bot“, führt Norman Davies aus, „übten eine gewaltige Anziehungskraft auf die überbevölkerten ländlichen Regionen im Osten und Süden aus. Wirtschaftsmigranten aus dem zerstückelten Polen, aus ÖsterreichUngarn und aus weniger entwickelten Gegenden Deutschlands strömten in die Stadt. Die ethnische Mischung der Zuwanderer war reichhaltig. Der „Schmelztiegel“ brodelte immer heftiger. Freilich: „Gleichzeitig waren die Assimilierungskräfte ungewöhnlich stark. Der soziale Aufstieg in der rasch expandierenden Wirtschaft hing größtenteils von der Annahme einer deutschen
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Identität ab.“118 Dieser deutsche Assimilierungsdruck war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im komplexen kulturellen System Breslaus, das sich an der Nahtstelle verschiedener kultureller Kommunikationsräume befand und daher für „Fremdheiten“ eine besondere Sensibilität entwickelt hatte, enorm angestiegen: Breslau fühlte sich deutscher als jede andere deutsche Stadt. „Bei uns in Breslau“, erinnert sich der Schriftsteller Wolfgang Schwarz, „wo die Hälfte der Familien polnische Familiennamen trug, und wo ein herrlich verqueres Deutsch gesprochen wurde, in dem die polnisch[e] Syntax und die polnischen Betonungen der Wörter durchbrachen, nahm man das polnische Erbe kurzerdings nicht zur Kenntnis.“119 Die öffentliche Stimmung war „so nationalistisch geprägt, dass Anzeichen von Andersartigkeit zumindest Stirnrunzeln und schlimmstenfalls Schläge hervorriefen.“120 Nach der Anfang 1945 verordneten deutschen Massenflucht und der darauf folgenden Vertreibung („Umsiedlung“) veränderte sich die Physiognomie der Stadt radikal: Neben gleichfalls vertriebenen Polen aus der Gegend des nunmehr sowjetischen Lemberg/Lwów/Lviv oder Immigranten, sogenannten „Repatriierten“ aus Großpolen (Zentralpolen), setzte sich in der Folge das Gros der Bevölkerung nun aus einer fast ausschließlich polnisch sprechenden Bevölkerung zusammen. Unterstrichen wird dieser polnische Charakter der Stadt auch dadurch, dass beispielsweise nicht nur die meisten Angehörigen der polnischen Lemberger Universität, sondern auch wichtige polnische „Gedächtnisorte“ aus Lemberg hierher übersiedelt wurden, wie das polnische Nationalinstitut Ossolineum, das berühmte Panorama von Racławice oder das am Rynek wieder aufgestellte Denkmal des Lemberger Lustspieldichters Aleksander Fredro, und dass Erinnerungen an das „deutsche“ Breslau, wie Straßennamen, Inschriften, Embleme oder Friedhöfe, „polonisiert“ und alte Denkmäler durch neue ersetzt wurden, ganz ähnlich, wie in früheren Jahrzehnten polnisch klingende Bezeichnungen germanisiert worden waren. Diese Neuankömmlinge nahmen gezwungenermaßen eine zu sechzig Prozent zerstörte und ihnen zunächst völlig fremde Stadt in Besitz, fremd auch insofern, als sie zum Teil aus ländlichen Gebieten stammten, bauten sie nunmehr 118 Norman Davies, Roger Moorhouse, Breslau, S. 374. 119 Zit. in Andrzej Zawada, Niederschlesien. Land der Begegnung, Dresden: Thelem 2005, S. 128. 120 Norman Davies, Roger Moorhouse, Breslau, S. 447.
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zunächst als rein „polnische“ sorgsam wieder auf und identifizierten sich im Verlaufe des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit ihr derart, dass in der Folge das mehrfach codierte historische Gedächtnis dieses Ortes unvermittelt zu einem nicht mehr hinterfragten Identifikator ihrer neuen städtischen Existenz werden konnte.121 Wer heute Wrocław besucht, begegnet in der städtischen Architektur und bei seinen Bewohnern etwas von jener mehrdeutigen sprachlich-kulturellen Vergangenheit, die den Atem dieser Stadt erfüllt. Der Breslauer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Andrzej Zawada, der sich der Tradition auch der deutschsprachigen Schriftsteller seiner Stadt verpflichtet fühlt, bemerkt daher in einem seiner Breslau-Essays: „Wrocław, Wratislavia, Breslau, Wrocław. Eigentlich sollte es heute Bresław heißen, damit sich im Verwachsen der deutschen und der polnischen Namenshälften ihr Wesen ausdrückt. Städte entwickeln sich oder gehen unter, wachsen oder enden mitten in einer Epoche wie ein Gespräch mitten im Satz. Sie verändern ihre Ausdehnung und ihre Architektur. Im extremsten Fall wechseln sie auch ihre Namen, ihre Sprache und sogar ihre Bewohner. Dann kann man schon nur noch mit ihrer unmerklichen, ja unzerstörbaren Aura rechnen. Ich wage es nicht, die Rätsel zu lösen, die diese Stadt hervorgebracht haben. Sicher sind sie eine Art Seele, sind sie immateriell, aber wir sind nicht sicher, ob dieses Immaterielle existieren kann. Zu glauben, daß es existieren könnte, ist viel sicherer als zu zweifeln, zweifeln aber schwieriger als glauben. So oder anders haben sich irgendwelche Teilchen der Seele dieser Stadt auch in den Worten eingelagert, nicht nur in den Mauern, Bäumen und in den Nebelschwaden über dem Fluß.“122 Die Aura, in der das mehrdeutige Gedächtnis der Stadt aufbewahrt wird, spiegelt sich auch im Palimpsest ihrer architektonischen Schichtungen: Hinter romanischen und frühgotischen Formen verbirgt sich die Erinnerung an die Geschichte der Breslauer polnischen Piasten, Gotik und Renaissance verweisen auf die Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich und zum Königreich Böhmen, und auf die Siedler, die aus verschiedenen Gegenden des Reiches in die Stadt kamen, Barock symbolisiert die Zugehörigkeit zu den katholischen Habsburgern und die Pluralität der zentraleuropäischen 121 Vgl. dazu Gregor Thum, Die fremden Stadt. Breslau nach 1945, München: Pantheon 2006. 122 Andrzej Zawada, Breslaw, in: ders., Niederschlesien. Land der Begegnung, Dresden: Thelem 2005, S. 86.
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Region, Klassizismus die preußische Herrschaft, Historismus, Jugendstil und Moderne weisen auf das Wilhelminische Deutschland und die Weimarer Republik, und Plattenbauten, die am Rande der Stadt errichtet wurden, auf eine Vergangenheit im realen Sozialismus. Wer die Stadt derart zu lesen beginnt, dem eröffnet sich eine Ahnung für das, was jenseits von unterschiedlichen, aufgezwungenen nationalen Codierungen das reale, komplexe kulturelle System dieser Stadt ausmacht. Günther Anders bekam etwas davon zu spüren, als er nach dem Krieg, im Jahre 1966, seine Vaterstadt zum ersten Mal wieder besuchte und die barocken Elemente der von Leopold I. 1702 gegründeten Universität, dem Leopoldinum, erblickte und diese ohne zu zögern in ihren umfassenderen kulturellen Kontext zu versetzen wusste: „Denn dieses Jesuitenbarock ist mir vertraut“, bemerkt er, „nur sonderbarerweise nicht aus der Jugend, sondern aus dem Alter: deshalb nämlich, weil mich das Schicksal als Fünfzigjährigen nach Wien verschlagen hat. Auch als wir an der Oder he rumschlendern, gegenüber der Dominsel, in einem mir völlig unbekannten Breslau, fühle ich mich zu Hause, so wie vor einer Woche in Krakow, es riecht K. und K., ich habe das Gefühl, an der Donau spazierenzugehen, in einer mir zufällig unbekannten österreichischen Großstadt.“123
Leutschau/Levoča/Lőcse Ich habe, abgesehen von Wien, auf diese ehemals relativ „kleineren“ urbanen Milieus der zentraleuropäischen Region, auf Czernowitz, Triest oder Breslau, deshalb aufmerksam gemacht, weil erstens in ihnen ähnliche kulturelle Prozesse nachweisbar sind wie in den großen historischen Ballungszentren und weil zweitens diese Prozesse, ebenso wie beispielsweise in Wien, immer auch mit Spannungen und Konflikten aufgeladen waren und keineswegs harmonisch verliefen, vor allem aufgrund der Tatsache, dass im Verlaufe des 19. Jahrhunderts nationale Vorgaben zunehmend das öffentliche Bewusstsein zu vereinnahmen und Vielfalt, Heterogenitäten zu eliminieren versuchten. Elena Mannová hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies in viel kleineren Städten ganz ähnlich war. Am Beispiel von Levoča (Leutschau, Lőcse) in der Ostslowakei, das 1910 ungefähr 10.000 slowakische, deutschsprachige und 123 Günther Anders, Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966. Nach „Holocaust“ 1979, München: C.H. Beck 1985, S. 124.
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ungarische Einwohner aufwies, blieb das mehrfachcodierte, sich zuweilen konkurrenzierende historische Gedächtnis bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten; elf Prozent der Bewohner waren jüdischen Bekenntnisses. Noch bis ins beginnende 20. Jahrhundert überwog hier weitgehend die Tendenz eines vielsprachigen ungarischen Landespatriotismus, des bereits angedeuteten Hungarus-Bewusstseins. In der „Subscriptions-Einladung“ (1862) für die Wochenzeitung „Zipser Anzeiger – Szepesi Értesítő“ (im Jahre 1863 auch mit einer dritten, einer slowakischen Aufschrift „Spišský Oznamovtel“ versehen)124, die in Leutschau erschien, heißt es charakteristischerweise: „Was nun die Sprache betrifft, in der das Blatt erscheinen soll, so haben wir bereits das Prinzip der Gleichberechtigung aller unserer Landessprachen ausgesprochen. Indeß verlangt doch – und darin stimmen wir wohl alle überein – jede Zeitschrift einen bestimmten und vorwiegenden sprachlichen Charakter und dieser muß bei uns der deutsche sein, da die deutsche Sprache namentlich in unsren Städten die herrschende ist; deshalb sollen aber weder Aufsätze noch Anzeigen in anderen Landessprachen ausgeschlossen sein; der Leserkreis, für den jede Mittheilung hauptsächlich berechnet ist, muß eben für die Wahl der Sprache maßgebend sein.“125 Auch in der Historiografie wurde beziehungsweise wird der Gedächtnisort Leutschau jeweils als ein sich überlappender oder konkurrenzierender deutscher, ungarischer, slowakischer Raum thematisiert, als ein Ort der Arbeiterbewegung oder als ein Ort der konfessionellen Vielfalt erinnert.126 Das vielfältige, heterogene, mehrdeutige Gedächtnis der zentraleuropäischen Region war also noch in den Jahrzehnten um 1900 auch in diesen kleinen Milieus gebündelt und durchaus präsent, im Zusammentreffen unterschiedlicher verbaler und nonverbaler Kommunikationsräume, mittels derer sich diese urbanen Räume repräsentierten und vor allem in der dynamischen Koinzidenz von Elementen, Symbolen und Codes, die neue kulturelle Prozesse in Gang setzten und zu einer unverhofften kulturellen Kreativität 124 Jörg Meier, Untersuchungen zur deutschsprachigen Presse in der Slowakei. Sprache und Geschichte der Zeitung „Zipser Anzeiger/Zipser Bote“, Levoča: Modrý Peter 1993, S. 446. 125 Jörg Meier, Untersuchungen zur deutschsprachigen Presse in der Slowakei, S. 404–405. 126 Elena Mannová, Leutschau – Lőcse – Levoča als multiple Orte des Gedächtnisses, in: Johannes Feichtinger, Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König, Peter Stachel, Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2006, S. 225–235.
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beitragen konnten. Freilich darf man nicht übersehen, dass die nationale Ideologie auf eine sukzessive sprachliche Homogenisierung solcher Milieus hinarbeitete und dass im nationalen Diskurs sich die Meinung verfestigen konnte, eine homogene nationale Gesellschaft geschaffen zu haben. Die Geschichtsschreibung folgt bis heute allzu oft dieser Sichtweise, oder besser: sie unterstützt durch die unhinterfragte Aneignung des seit dem 19. Jahrhundert zweifelsohne dominanten nationalen Blickwinkels oft nur die Fortschreibung solcher nationaler Narrative und überträgt diese zuweilen auch auf die in der Realität multiple, aus heterogenen Einflüssen gespeiste hybride nonverbale kommunikative Lebenswelt.
Prager Kommunikationsräume Abschließend möchte ich noch etwas ausführlicher auf ein bedeutendes urbanes Milieu, auf Prag, zu sprechen kommen, auf die Hauptstadt des ehemaligen Königreichs Böhmen. Wie bereits erwähnt, erhöhte sich der Anteil der in sich durchaus heterogenen jüdischen Einwohner Wiens im Jahre 1910 auf 7,8 Prozent, in Pressburg auf ca. 9–10 Prozent, in Budapest auf ca. 24 Prozent, in Krakau auf ca. 27 Prozent und in Czernowitz auf ca. 33 Prozent der Gesamtbevölkerung.127 In Prag jedoch, das ohne die erst nach 1918 eingemeindeten Vororte mit ihren 252.000 Einwohnern im Jahre 1900 201.591 und zehn Jahre später (1910) 223.741 Bewohner aufwies128 – viele demographische Erhebungen, denen auch Jan Havránek folgt, rechnen die Bewohner der vier Vororte noch vor deren offizieller Eingemeindung mit ein; wonach Prag 1900 514.000 und im Jahre 1910 617.000 Einwohner hatte –, nahmen sowohl das Bekenntnis zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsanteil stetig ab. Im Jahre 1843 waren noch 12 Prozent der Gesamtbevölkerung Prags jüdischen Glaubens, 1880 nur mehr 6,5 Prozent und 1910 4,7 Prozent. Während in der Mitte des 19. Jahrhunderts (1843) 40 Prozent der Pragerinnen und 127 Pándi Lajos (Hg.), Köztes-Európa, S. 76–83. 128 Elisabeth Lichtenberger, Wien–Prag. Metropolenforschung, Wien u.a.: Böhlau 1993, S. 50. – Paul Robert Magocsi kommt wohl aufgrund der Tatsache, dass er die noch nicht eingemeindeten Außenbezirke, auf die Lichtenberger nachdrücklich aufmerksam macht, mitzählt, für 1870 auf 252.000 und 1910 auf 640.000 Einwohner. Vgl. Paul Robert Magocsi, Historical Atlas of Central Europe. Revised and Expanded Edition, Seattle: University of Washington Press 2002, S. 96.
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Prager kommunikationsräume
Prager noch Deutsch als Umgangssprache angaben, waren es 1910 nur mehr 6,1 Prozent.129 Selbst die Straßennamen, eine der wichtigen, wegweisenden Codierungen im öffentlichen Raum, waren seit einem Erlass des Gemeinderats von 1894 nicht mehr zweisprachig, sondern nur mehr in tschechischer Sprache angeschrieben.130 Max Brod meinte in diesem Zusammenhang, dass es nur schwer möglich wäre, „einem Nicht-Prager oder einem, der nicht jahrelang in Prag gelebt hat, die feinen und auch die unfeinen Varianten der Stellungnahme der heißumstrittenen und historisch verwickelten Nationalitätenfrage klarzumachen, in der die Beschriftung jedes Ladenschildes und jeder Straßentafel ein Sprachproblem, ein Politikum wurde“.131 Hermann Bahr hatte bereits 1911 gemeint, die deutsche Kultur in Prag beschränke sich nun nur mehr auf die Auseinandersetzung um die deutschen Beschriftungen im öffentlichen Raum: „[…] diese Deutschen in Böhmen gehen weder auf die geistige Kraft noch auf politische Macht, sondern auf deutsche Straßennamen, deutsche Schilder und deutsche Nachtwächter aus, bloß auf den Schein einer deutschen Vorherrschaft, die längst zerbrochen ist.“132 All dies war das Ergebnis der sich konkurrenzierenden Kommunikationsräume, des tschechischen und des deutschen, wobei die rivalisierenden konkreten zwei Sprachen, nun zu Nationalsprachen deklariert, in der Situation eines sich überlappenden, gemeinsamen nonverbalen Kommunikationsraums das entscheidende differenzierende Merkmal darstellten und daher von beiden Seiten politisch instrumentalisiert wurden. Die Gewichtsverlagerung zugunsten des Tschechischen im Prager städtischen Milieu verdankte sich freilich nicht zuletzt dem enormen Zuzug der tschechischsprachigen Landbevölkerung in die Stadt, die hier, wie vergleichsweise auch in Wien, in den neu geschaffenen Industrie129 Jan Havránek, Structure sociale des Allemands, des Tchèques, des chrétiens et des juifs à Prague, à la lumière des statistiques des années 1890–1930, in: Maurice Godé, Jacques Le Rider, Françoise Mayer (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924. Montpellier: Bibliothèque d’Études Germaniques et Centre-Européennes Université Paul-Valéry de Montpellier 1996, S. 71–81, hier S. 71–73. 130 Vgl. Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien: ÖAW 1985, S. 112–113. 131 Max Brod, Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1979, S. 83. 132 Hermann Bahr, Austriaca, Berlin: S. Fischer 1911, S. 49.
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zweigen Arbeit suchte und fand. Die Trennung der Technischen Hochschule in eine tschechische und in eine deutsche im Jahre 1869 und die im Jahre 1882 erfolgte Aufteilung der 1348 gegründeten Prager Karlsuniversität sind weitere, jedoch markante Signale der sich ausdifferenzierenden nationalen Bewegungen. Zugleich verminderte sich, wie bereits angedeutet, abgesehen von einer gelebten Doppelsprachigkeit, die auch bei den Repräsentanten der Prager deutschen Literatur nachweisbar ist, nicht nur Deutsch als Umgangssprache, auch der Anteil der Juden in Prag, die einen weiteren wichtigen kulturellen Kommunikationsraum darstellten – wiederum ist die Verschränkung eines deutschsprachigen, jüdisch codierten und tschechischen Kommunikationsraums bei Intellektuellen, wie bei den soeben erwähnten Vertretern der Prager deutschen Literatur, ganz augenfällig –, sank von 6,5 Prozent im Jahre 1880 auf marginale 4,7 Prozent im Jahre 1910.133 Ein jedes dieser Phänomene mag die tiefen Identitätskrisen verstärkt und zu einer gewissen Verunsicherung unter den deutsch sprechenden jüdischen Bewohnern Prags beigetragen haben, die nicht nur bei Franz Kafka konstatiert werden kann. Es war, wie Peter Demetz meint, eine Situation „wie auf einer dahinschmelzenden Eisscholle, welche die Schriftsteller deutscher Sprache auf eine immer geringere Fläche zusammendrängte“.134 Mit dieser Feststellung soll freilich nicht die von Literaturhistorikern lange vertretene Ansicht von der Ghettoisierung der deutschjüdischen Prager Literatur verfestigt oder fortgeschrieben werden, die, wie Georg Escher feststellt, „im Lichte neuerer sozialhistorischer Studien definitiv ausgedient“ hätte.135
133 Jan Havránek, Structure sociale des Allemands, des Tchèques, S. 72–73. Vgl. dazu auch die zwar etwas beschönigende Darstellung in: Pavel Petr, Kafkas Spiele. Selbststilisierung und literarische Komik, Heidelberg: Carl Winter 1992, S. 57–78. 134 Peter Demetz, Nachwort, in: Max Brod, Der Prager Kreis, S. 241–246, Zit. S. 243. 135 Georg Escher, Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als Topos, in: Rudolf Jaworski, Peter Stachel (Hg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin: Frank & Timme 2007, S. 353–373, Zit. S. 369. – Vgl. zur „multikulturellen“ und national geprägten Prager Situation auch die neuere Untersuchung von Xavier Galmiche, Multiculturalité et uniculturalisme. Le paradoxe de Prague, in: Delphine Bechtel, Xavier Galmiche (Hg.), Les villes multiculturelles en Europe centrale, Paris: Belin 2008, S. 41–63.
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Multiple Prager Identitäten Dennoch gibt Franz Kafka mehrfach Hinweise auf eine subjektiv empfundene innere Beengtheit, denen die deutsch sprechenden und schreibenden Juden Prags ausgesetzt gewesen waren, ohne dabei immer explizit auf den wachsenden Antisemitismus als eine der wesentlichen Ursachen dieser Situation hinzuweisen. Die zumindest subjektiven Ängste des zunehmend von Krankheit geplagten Kafka könnten freilich gerade auch hierin begründet gewesen sein: nämlich in der Marginalisierung und Ausgrenzung des Judentums, dem er angehörte, und in der Abnahme von Deutsch, dessen er sich als Schriftsteller bediente, beziehungsweise in den immer heftigeren nationalen Konkurrenzierungen der zwei verbalen Kommunikationsräume, des tschechischen und des deutschen. Tatsächlich nimmt Kafka in einem Brief an seinen jungen Freund Robert Klopstock aus dem Jahre 1923 – wir befinden uns bereits in der Zeit der Tschechoslowakischen Republik – direkt Bezug auf diese Situation als die Ursachen seiner Ängste: „Und all diese Angst, über die Sie mich so ausfragen, als ob sie Sie beträfe, betrifft ja doch nur mich […]. Aber ist denn etwas gar so Merkwürdiges bei dieser Angst? Ein Jude und überdies deutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen – das sind chemische Kräfte, mit denen ich mich anbiete, sofort Gold in Kiesel oder Ihren Brief in den meinen zu verwandeln und dabei Recht zu behalten.“136 Seine aus Angst begründete Absage an einem Schriftstellertreffen teilzunehmen, das in Georgental in Deutschland stattfinden sollte, erklärte er kurz zuvor Max Brod zwar bereits ähnlich, jedoch noch etwas allgemeiner, indem er vor allem auf seine körperliche Verfassung hinweist: „Damit ist dann entschieden, daß ich aus Böhmen nicht mehr hinausfahren darf, nächstens werde ich dann auf Prag eingeschränkt, dann auf mein Zimmer, dann auf mein Bett, dann auf eine bestimmte Körperlage, dann auf nichts mehr.“137 Kafkas zunehmende Aversion Prag gegenüber könnte unter anderem ebenfalls in dieser inneren Verunsicherung ihre Begründung gehabt haben. Schon sehr früh, 1902, notierte er in einem Brief an Oskar Pollak: 136 Franz Kafka an Robert Klopstock (Prag, Ende März 1923), in: Franz Kafka Briefe 1902–1924 = Franz Kafka. Gesammelte Werke, hg. von Max Brod Frankfurt a. Main: S. Fischer 1966, S. 430. 137 Franz Kafka an Max Brod (Planá, Stempel: 5. VII. 1922), in: Franz Kafka Briefe, S. 386.
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„Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“138 Diese Skepsis Prag gegenüber, übrigens vergleichbar der Aversion tschechischsprachiger Wiener Schriftsteller Wien gegenüber, zieht sich durch die gesamte Korrespondenz Kafkas: „Der Wert von Prag ist fragwürdig“, meinte er in einem Brief an seinen Freund Robert Klopstock. „Abgesehen von allem deutlich Persönlichen hat Prag auch noch etwas besonders Verlockendes, das kann ich verstehen, ich glaube, es ist eine Spur von Kindlichkeit in den Geistern. Diese Kindlichkeit ist aber so sehr gemischt mit Kindischem, Kleinlichem, Ahnungslosem, daß es für den Fremden zwar keine erstrangige, aber doch eine Gefahr bedeutet.“139 Und kurze Zeit später wird er präziser, indem er Klopstock explizit vor Prag warnt: „[…] dieses vereinsamte Prager Leben dürfen Sie nicht weiterführen, ein wenig Literatur im Kaffeehaus, ein wenig Streit mit Zimmerkollegen, eine bittere Mischung von Trauer und Hoffnung zwischen uns beiden […] das alles ist zu wenig oder nicht zu wenig, wenn mir auch freilich als einem Prager alles viel trüber erscheint als es in Wirklichkeit sein mag […]“.140 Fast zur gleichen Zeit, 1922, erschien im „Prager Tagblatt“ Franz Werfels Antwort auf die Frage, warum er, der perfekt Tschechisch beherrsche und zeit seines Lebens ein wichtiger Vermittler und Verteidiger der tschechischen Kultur gewesen sei, Prag bereits 1912 verlassen habe – „Es war damals ein halb noch unbewußter Rettungsversuch“ –, mit einer ähnlichen Bestandsaufnahme, die jedoch zugleich dem Mythos Vorschub leistet, die deutsch sprechenden Prager hätten sich in einer ghettoartigen Isolation befunden: „Mein Lebensinstinkt wehrte sich gegen Prag. Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist in ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghettos zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität kommt.“ Um dann fortzufahren: „Der deutsche Prager, der zur Zeit fortging, ist schnell und radikal expatriiert, und doch liebt er seine Heimat, deren Leben ihm wie ein ferner Wahn vorkommt; er 138 Franz Kafka an Oskar Pollak (Prag, Stempel: 20. XII. 1902, in: Franz Kafka Briefe, S. 14. 139 Franz Kafka an Robert Klopstock (Planá, September 1922), in: Franz Kafka Briefe, S. 417. 140 Franz Kafka an Robert Klopstock (Postkarte. Schelesen, Stempel: 13.IX.1923), in: Franz Kafka Briefe, S. 445.
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liebt sie mit einer mysteriösen Liebe.“141 Freilich stellte sich die Realität auch anders dar, keineswegs ausschließlich von Gegensätzen geprägt: Trotz der zunehmenden politischen beziehungsweise nationalistischen Konkurrenzierungen blieb die Zugehörigkeit zu mindestens zwei von unterschiedlichen konkreten Sprachen dominierten Kommunikationsräumen im Prag des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine im Alltag praktizierte Selbstverständlichkeit. „Es erscheint schwierig“, so Max Brod, „einem Nicht-Prager die spaßigen und heiklen Nuancen unserer sprachlich geschichteten Gesellschaft vorzuführen, die mit großem Eifer das Talent pflegt, nur immer Trennendes der beiden Volkstämme, nie das Zusammenführende zu betonen […]. Demgegenüber wandelt mich die Lust an, zu beweisen […], daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern […].“142 Das heißt, dem politischen beziehungsweise nationalen Narrativ einfach nur zu folgen und dieses für ein „Abbild“ der sozialen und kulturellen Wirklichkeit zu halten, was für historische Darstellungen oft zutrifft, ist zumindest missverständlich, wenn nicht falsch. Max Brod polemisiert in der Tat immer wieder gegen die weit verbreitete Auffassung von einer sprachlichen und kulturellen Isoliertheit des sogenannten Prager Kreises. Vielmehr „bestanden sehr wesentliche Freundschaftsstrahlungen zu tschechischen Dichtern hin, zu Musikern, Malern und zu tschechischen Menschen aller Stände, aller Klassen – ebenso zu deutschen und deutschjüdischen Gruppen in Wien, Berlin und andern Städten, auch solchen in Böhmen.“143 Dies war vor allem deshalb möglich, weil die Beherrschung beider Sprachen für zahlreiche Prager Intellektuelle eine Selbstverständlichkeit war. „Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; da gab es überhaupt nichts, was die Grenze oder Absonderung abgesperrt hätte. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.“144 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt 1991 der Literaturhistoriker Květoslav Chvatík: „Nach wie vor fehlt jedoch das Bewußtsein von 141 Franz Werfel, Warum haben Sie Prag verlassen?, in: ders., Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge, München/Wien: Langen Müller ²1975, S. 592. 142 Max Brod, Der Prager Kreis, S. 61. 143 Max Brod, Der Prager Kreis, S. 41. 144 Max Brod, Der Prager Kreis, S. 207.
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der ‚streitvollen‘ Einheit der Prager Moderne, das Verständnis dafür, daß diese Einheit von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg eben aus der organischen Einheit dreier Elemente, des tschechischen, deutschen und jüdischen, hervorgegangen ist.“145 Freilich betraf diese Zustandsbeschreibung vornehmlich das deutsch-tschechische Prager urbane Milieu. Demgegenüber waren die Sudetendeutschen Nordostböhmens überzeugte deutsche Nationalisten, gepaart mit einem zuweilen militanten Antisemitismus. So konnte man an einem Kaffeehaus in Eger bereits 1909 lesen: „Tschechen, Juden und Hunden Eintritt verboten.“ Ein Verbot, das ähnliche Verordnungen des NSRegimes vorwegzunehmen scheint. Viele Prager deutschsprechende Intellektuelle mieden daher zunehmend die nationalistischen Sudetendeutschen, die vor allem die Prager deutsche Universität für sich zu vereinnahmen versuchten. Pavel Petr, der sich auf diese wachsende gegensätzliche nationale Situation beruft, betont in Bezug auf die Prager deutschsprachigen Schriftsteller deren simultanes Flottieren zwischen mehreren kulturellen Kommunikationsräumen; es wurde dies bestimmend für das, was man als prozesshafte Mehrfachidentitäten umschreiben könnte. „Die deutschen, überwiegend jüdischen und vielfach im Tschechischen kompetenten Schriftsteller Prags“, schreibt Petr, „verfügten über ein reichhaltig gefächertes Identifikationspotential zumindest insofern, als sie die Standpunkte der verschiedenen Welten, an denen sie teilhatten, aus deren innerem Kontext heraus erfassen konnten. Dabei wären die bereits angeführten Identifikationskomponenten noch um eine weitere zu erweitern: die der Zugehörigkeit zur österreichischen Tradition. Auch dort führte die Vielsprachigkeit der Kulturszene und die vielfach verschränkten Interessen- und Beziehungsnetze zur Entstehung einer Mentalität mit spezifischen Distanz- und Akzeptanzmustern.“146 Von einer österreichischen Tradition beziehungsweise von Austriazismen war auch die deutsche Sprache in Prag geprägt, die eine Mischform von dialektalen Ausdrücken und 145 Květoslav Chvatík, Sieben Etappen der Prager Moderne, in: ders. (Hg.), Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Mit einer Einleitung von Milan Kundera, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, S. 345–388, Zit. S. 349. – Vgl. auch Antonín Měšťan, Geschichte der tschechischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Wien: Böhlau 1984. – Josef Mühlberger, Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900– 1939, München/Wien: Langen Müller 1981. 146 Pavel Petr, Kafkas Spiele. Selbststilisierung und literarische Komik, S. 75. Der Hinweis auf Eger S. 72.
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einem Wiener Standard-Deutsch darstellte.147 Franz Werfel überträgt in einem Beitrag über die kulturelle Einheit Böhmens die Bindung an eine kulturelle Tradition Österreichs auf den Großteil der Deutschsprachigen, die schon in der Vergangenheit mehrheitlich für Böhmen eingestanden waren: „Sie standen mit dem Gesicht gen Süden, wie ihr geographisches Gesetz es heißt. Während Habsburgs Herrschaft waren sie in ihrer überwältigenden Mehrheit austropetal. Keiner von ihnen dachte beim Umsturz im Jahre 1918 daran, sich an Großpreußen anzuschließen und nur ein Teil wollte beim verkleinerten Österreich bleiben.“148 Robert Luft veranschaulicht in einem Beitrag das Grenzgängertum von Personen, die in beiden kulturellen Kommunikationsräumen zu Hause waren, und nennt unter anderem ebenso den zweisprachigen Schriftsteller Josef Wenzig, der die tschechischen Libretti der SmetanaOpern „Libuše“ und „Dalibor“ verfasste, wie Max Brod, Otto Pick oder Pavel (Paul) Eisner. Auch die Prager Schule der Strukturalisten schlug „zwischen der tschechischen und deutschen Kultur mehr als nur Brücken“. 149 Vor allem in anderen Bereichen der Kunst wird eine enge Kooperation zwischen den zwei sprachlichen Kommunikationsräumen sichtbar: Im Theater, wo die gleichen Schauspieler in tschechischen und deutschen Vorführungen auftraten, in den Orchestern und Musiktheatern oder in der 1902 gegründeten tschechisch-deutschen Prager Modernen Galerie.150 Es sind dies insgesamt ähnliche Schnittstellen, wie sie auch für Wien typisch waren, an denen sich die in Prag vorhandenen Kommunikationsräume überlappten und zur Schaffung eines übergeordneten, performativen und lesbaren „Prager“ kulturellen Textes beitrugen. Luft macht nicht zuletzt auf gesellschaftliche Gruppierungen auf147 Marek Nekula, Franz Kafka’s Languages. Monolingualism, bilingualism, or multilingualism of a Prague Jew?, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren, S. 15–44, hier S. 36–37. – Vgl. dazu auch Boris Blahak, Zum Erscheinungsbild von Franz Kafkas gesprochenem Deutsch. Die Autokorrekturen in den Manuskripten der literarischen Werke liefern Indizien für ‚austrophone‘ Mündlichkeit, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren, S. 79–97. 148 Franz Werfel, Die kulturelle Einheit Böhmens, in: ders., Zwischen Oben und Unten, S. 317–321, Zit. S. 320 (= Pariser Tageszeitung, 25./26. September 1938). 149 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik „nationaler Zwischenstellungen“ am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Maurice Godé, Jacques Le Rider, Françoise Mayer (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague, S. 37–51, Zit. S. 44. 150 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen, S. 45.
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merksam, die gleichermaßen in einer tschechisch- und deutschsprachigen kulturellen Konfiguration verwurzelt waren und das vom nationalen Narrativ postulierte Trennende übergingen oder per se infrage stellten: Der böhmische Adel, Sozialdemokraten, städtische Unterschichten und vor allem die böhmischen Juden: „Die böhmischen Juden stellten […] ‚nationale Utraquisten‘ par excellence dar, da unter ihnen fast alle Formen und Kombinationen ‚nationaler Zwischenstellungen‘ von Bilinguisten, Grenzgängern, Vermittlern, Vertretern eines dritten Weges zwischen den beiden böhmischen Nationalitäten etc. zu finden waren.“151 Angehörige der Prager städtischen Unterschicht waren von Natur aus Menschen, die sich in unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Räumen bewegten: „Diese Halbwelt aus Taglöhnern, Bettlern, kleinen Gaunern und Prostituierten entwickelte vor allem in der Metropole Prag einen eigenen Großstadtslang, der deutsche, tschechische, jiddische und ungarische Ausdrücke miteinander verband.“152 Es war dies, wie auch in anderen urbanen Milieus, eine kreolisierende Sprache, die die hybride kulturelle Gemengelage des Prager soziokulturellen Kontextes widerspiegelt, zum Teil sicher vergleichbar dem Wienerischen, auf das Theodor W. Adorno so nachdrücklich hingewiesen hat und das sich ebenfalls einer spezifischen soziokulturellen Situation verdankte. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen, unter anderem von Verena Bauer, haben darauf aufmerksam gemacht, dass auch das Deutsch der Prager Intellektuellen, also auch des Schriftstellers Franz Kafka, nicht nur Entlehnungen aus dem Tschechischen aufwies, sondern neben dem oberdeutsch-österreichischen Einfluss auch zahlreichen städtischen soziound dialektalen Einflüssen ausgesetzt war: „Die Sprecher der sich im Nationalitätenkampf befindenden Sprachen“, so die Argumentation von Verena Bauer, „leben allerdings nicht getrennt. Noch mehr, die Deutschen bildeten in keinem Stadtteil Prags die Mehrheit. Am geballtesten waren sie im Stadtzentrum zu finden, stellten aber um 1900 auch dort nirgends mehr als 23,5 Prozent der Bevölkerung.“ Sie wohnten, vor allem was die deutsche Arbeiterschaft betraf, in überwiegend tschechischsprachigen Randbezirken der Stadt, und auch Kafka „lebte zwischen 1907 und 1913 in einem Haus, in dem mehrheitlich Tschechen wohnten“. Diese Symbiose hatte unter anderem zur Folge, dass die Sprachen, zumindest was ihre gesprochene Form anlangte, sich ge151 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen, S. 47–48. 152 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen, S. 48.
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genseitig stark beeinflussten, was auch auf Kafka Auswirkungen hatte: „Angesichts der Lebenswelt in Prag ist es mehr als wahrscheinlich, dass Kafka vom Tschechischen beeinflussten deutschen Varietäten begegnete, denn in Prag lebten die keineswegs klar abgegrenzten und abgrenzbaren Gruppen der ‚Tschechen‘ und ‚Deutschen‘ neben- und miteinander. Interferenzerscheinungen sind in einer derartig multilingualen Sprachsituation sehr wahrscheinlich, werden aber nicht gern gesehen.“153 Der Literaturhistoriker Antonín Měšťan hat in seiner Monographie über die Geschichte der tschechischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert auf weitere Schnittstellen aufmerksam gemacht, an denen sich die deutsch- und tschechischsprachigen kulturellen Kommunikationsräume begegneten und bisweilen überlappten. Diese Schnittstellen bildeten Interaktionsorte für Vertreter der tschechischen und deutschen Prager Literatur. Unter anderem ist es die 1894 gegründete „Moderní revue“, in den Neunzigerjahren durch die Vermittlung Wiens eine wichtige Propagatorin der Prager „Decadence“, in deren Bann nicht nur der Schriftsteller Paul Leppin, sondern ebenso der junge Rainer Maria Rilke stand.154 Während die „Čechische Revue“ (1907–1912) über die tschechische Literatur informierte, bemühte sich die Anthologie „Moderne Dichtung“ (1897) die deutsch- und tschechischsprachige Prager Literatur gleichwertig vorzustellen. Gemeinsame Zusammenkünfte fanden in Cafés und Privathäusern statt, so in der Wohnung des Apothekers Otto Fanta auf dem Altstädter Ring oder beim ehemaligen Hauslehrer des jungen Werfel, Karl Holzner. Aus den Treffen im Hause Fanta entstand später der „Louvre Zirkel“ unter der Leitung von Professor Anton Marty, der in Wien bei Franz Brentano studiert hatte, hier verkehrten unter anderem der Philosoph Christian von Ehrenfels, ebenfalls ein Brentano-Schüler, der Schriftsteller Hugo Salus und die Dirigenten Otto Klemperer oder Erich Kleiber.155 Nicht nur Redaktionen oder Institutionen, auch die zweisprachigen Literaten, die in 153 Verena Bauer, Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch – reflektiert vor dem Hintergrund des städtischen Kontexts Prags, in: Marek Nekula, Verena Bauer, Albrecht Greule (Hg.), Deutsch in multilingualen Stadtzentren, S. 45–78, Zit. S. 51, 52. 154 Antonín Měšťan, Geschichte der tschechischen Literatur, S. 180–181. 155 Schulzeit und Studium. Erinnerungen von Hugo Bergmann, in: Hans-Gerd Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“. Erinnerungen an Franz Kafka, Berlin: Klaus Wagenbach 2005, S. 28. – Der junge Kafka. Erinnerungen von Leopold B. Kreitner, in: ebd., S. 56.
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beiden Kommunikationsräumen zu Hause waren, waren wichtige Instanzen kultureller Transfers, allen voran Max Brod, Franz Werfel oder Egon Erwin Kisch, der nach seiner Rückkehr nach Prag im Jahre 1946 seine letzten Arbeiten nur mehr auf Tschechisch verfassen sollte.156 Dennoch, so Antonín Měšťan, „gelang [es] nicht, eine ‚supranationale‘ Prager Literatur zu schaffen, die tschechisch und deutsch schreibende Autoren umfaßt hätte“.157 Was das Zuhause in mehreren Sprachen, zumindest im Deutschen, im Tschechischen und im Hebräischen (Ivrith) betrifft, könnte man ganz konkret abermals auf Kafka verweisen. Er konnte, wie Leopold B. Kreitner sich erinnerte, „lustig und witzig sein, immer mit einem Wortwitz bei der Hand, sei es auf Deutsch, sei es auf Tschechisch. Natürlich war er ein deutscher Schriftsteller, oder, um präziser zu sein, ein auf deutsch schreibender Schriftsteller. Diesen Umstand zu betonen scheint mir von größter Bedeutung, weil hierin ein großer Teil der Besonderheit seines Schreibens begründet liegt. Franz Kafka ist, wie kein anderer, ein Kind dreier Kulturen: der tschechischen, der deutschen und der jüdischen.“158 Kafka entstammte, ein Umstand dem kaum Beachtung geschenkt wird, einem tschechischsprachigen Elternhaus, obwohl die Eltern später mit ihren Kindern vermutlich nur deutsch verkehrten. Der Vater jedoch „vergaß seine tschechischen Wurzeln und seine tschechische Erziehung nicht“, fährt Leopold B. Kreitner fort, „und bis zu seinem Tode schrieb er seinen Vornamen nur in der tschechischen Schreibweise ‚Heřman‘. Ich erinnere mich, daß er Deutsch mit einem starken tschechischen Akzent, wenn auch sonst sehr korrekt, sprach. Das galt auch für Franz Kafkas Mutter Julie.“159 Kafka verkehrte schon in seinem Elternhaus mit Hausangestellten, zum Beispiel mit Anna Čuchalová, Marie Nedvědová, Marie Zemanová oder dem „Fräulein“ Marie Wernerová, einer Gouvernante, die zugleich Haushälterin seiner Eltern war, auf Tschechisch.160 „Sie entstammte 156 Antonín Měšťan, Geschichte der tschechischen Literatur, S. 197–205. 157 Antonín Měšťan, Geschichte der tschechischen Literatur, S. 200. 158 Der junge Kafka. Erinnerungen von Leopold B. Kreitner, in: Hans-Gerd Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“, S. 52. 159 Der junge Kafka. Erinnerungen von Leopold B. Kreitner, in: Hans-Gerd Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“, S. 54. Vgl. auch über das Deutsch von Franz Kafkas Eltern in: Verena Bauer, Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch, S. 62–63. 160 Auf diesen funktionalen Bilingualismus verweist u.a. Marek Nekula, Franz Kafka’s Languages, S. 32.
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einer tschechisch-jüdischen Familie“, weiß Max Brod zu berichten, „ich habe sie nie anders als Tschechisch sprechen hören.“161 Kafka nahm, nachdem er im deutschen Gymnasium auch im Tschechischen unterrichtet worden war, zur Perfektionierung Sprachunterricht bei einem „Böhmisch-Lehrer“, verkehrte mit Verwandten, etwa mit der Familie seiner Schwester Ottla, mit Kollegen, Freunden und vor allem in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, wo er als Beamter tätig war, auch auf Tschechisch; er „sprach ein gewähltes Schrifttschechisch“,162 unterhielt Kontakte zu tschechischsprachigen Schriftstellern, unter anderem zu Jaroslav Hašek, dem Verfasser des „Braven Soldaten Schwejk“, las zuweilen nur tschechische Bücher oder Zeitungen – er hatte „die bohemistische sprachwissenschaftliche Zeitschrift Naše řeč (Unsere Sprache), die politische Zeitschrift Čas und das Pfadfinderblatt Náš skautík (Unser Pfadfinder) abonniert“163 –, verfasste Briefe in tschechischer Sprache, zum Beispiel an seinen Schwager Josef David, und besuchte das tschechische Theater.164 Hugo Hecht, ein ehemaliger Mitschüler Kafkas, weiß über diese Theaterbesuche zu berichten: „Allerdings – die Maifestspiele in Prag brachten die hervorragendsten Wagner-Sänger zusammen, so daß selbst eingefleischte Tschechen bei dieser Gelegenheit ins deutsche Theater kamen, das sie sonst mieden. Dagegen waren wir jungen Juden häufige Besucher der deutschen und tschechischen Bühnen, viele Jahre hindurch hatte unsere Familie zu gleicher Zeit Abonnements in beiden Theatern, so daß wir auch tschechische Wagner-Aufführungen sahen. Auch Kafka besuchte das tschechische Theater, aber so weit ich mich erinnern kann, nur bei Schauspielen.“165 Kafka fand sich folglich gleichzeitig in zwei für ihn identitätsbestimmenden Kommunikationsräumen vor, von denen er sich, als Deutsch und Tschechisch zunehmend nationsdifferenzierend wurden, durch die Aneignung des Hebräischen, wie Marek Nekula meint, allmählich distanzierte: „Kafka’s choise to study 161 Franz Kafka Briefe, S. 510, Anm. 20. 162 Im Amt mit Franz Kafka. Erinnerungen von V. K. Krofta, in: Hans-Gerd Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“, S. 98. 163 Antonín Měšťan, Geschichte der tschechischen Literatur, S. 201. 164 Franz Kafka Briefe, S. 327–328 (Brief an Dr. Josef David, Mai 1921). Vgl. als Belege u.a. folgende weitere Briefstellen: S. 80, S. 92, S. 127, S. 169 f., S. 180, S. 297 f., S. 308, S. 324, S. 328, S. 392, S. 401, S. 402, S. 416, S. 426. 165 Zwölf Jahre in der Schule mit Franz Kafka. Erinnerungen von Hugo Hecht, in: HansGerd Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam …“, S. 37.
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Hebrew without becoming Zionist was, of course, just such an alternative concept.“166 Damit liefen darüber hinaus auch andere sich überlappende kulturelle „Räume“ in seiner Person zusammen, die für seine multiple Identität von nachhaltiger Bedeutung wurden. Ich möchte hier neben dem bereits erwähnten deutsch- und tschechischsprachigen Kommunikationsraum auf Kafkas bereits erwähnte, bewusste, mit wachsendem Interesse verfolgte Zugehörigkeit zu dem, wie er sich ausdrückte, „uns allen gemeinsame[n] Judentum“167 hinweisen. Es ist dies vielleicht eine zu allgemeine Bezeichnung, denn Kafkas teilnehmende Interessen bezogen sich gleichermaßen auf die jüdische Religion im Allgemeinen, auf die jiddische Kultur, zum Beispiel das ostjiddische Theater, auf die chassidischen Traditionen des Ostjudentums, vor allem anlässlich seines Aufenthaltes in Marienbad,168 und insbesondere auf die zionistische Bewegung, für die er immer größere Sympathien entwickelte. Kafka lernte intensiv Hebräisch – „[…] und vielleicht läßt die Chemie auch noch etwas für Hebräisch übrig. Ich komme darin sehr langsam vorwärts […]“169 –, las hebräische Schriften – „ein wenig lese ich hebräisch, in der Hauptsache einen Roman von Brenner“, und: „Sonst lese ich nur wenig und nur hebräisch […]“170 –, und interessierte sich anlässlich eines Berlin-Aufenthaltes lebhaft für die Hochschule für jüdische Wissenschaft. Aus dem Jüdischen Volksheim in Müritz an der Ostsee berichtete er Klopstock: „Hebräisch wird viel weniger gelernt als in Prag. Allerdings ist eine Kolonie des Jüdischen Volksheims Berlin hier mit vielen Hebräisch-Sprechenden, gesunde, fröhliche Kinder.“171 Franz Kafka, und er ist nur ein Beispiel für viele seiner Prager Freunde, bewegte sich also in einem überaus hybriden kulturellen Kommunikationsraum, der von unterschiedlichen, sich überlappenden und flottierenden Elementen gespeist war, die für ihn identitätsbestimmend wurden. Daher ist vor der selbst von manchen Zeitgenossen kolportierten Mei166 Zu Kafkas Tschechischkenntnissen beziehungsweise über seine Mehrsprachigkeit vgl. Marek Nekula, Franz Kafka’s Languages, v.a. S. 30–40, Zit. S. 39. 167 Franz Kafka Briefe, S. 478 (Brief an Robert Klopstock, Anfang März 1924). 168 Franz Kafka Briefe, S. 141–146 (Brief an Max Brod, Mitte Juli 1916). 169 Franz Kafka Briefe, S. 456 (Brief an Robert Klopstock, 25. X. 1923). 170 Franz Kafka Briefe, S. 453 (Brief an Max Brod, 25. X. 1923), S. 459 (Brief an Robert Klopstock, Oktober 1923). 171 Franz Kafka Briefe, S. 435 (Brief an Robert Klopstock, 13. VII. 1923).
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nung, die deutsch sprechenden und tschechisch sprechenden Prager hätten in einer feindschaftlichen Isolation gelebt, zu warnen.172 Die Trennung der beiden Gruppen und ihre gegenseitige kontroversielle Einstellung entsprach zwar der Propaganda der nationalen Ideologie, die vor allem am Land, nicht zuletzt aufgrund der Trennung von tschechischen und deutschen Schulen, ihre Früchte zeitigte, sie hatte in einigen Bereichen auch in Prag Erfolge zu verbuchen, so zum Beispiel bei manchen kulturellen Einrichtungen, wie dem Theater, das bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend national vereinnahmt worden war. Vor allem im Alltagsleben jedoch waren die Kontakte, wie ich bereits betont habe, in der Regel sehr intensiv. Man lebte in den gleichen Mietshäusern, sprach in den Geschäften beide Sprachen und verkehrte in manchen Cafés, wie dem Café Arco oder dem Café Central miteinander zweisprachig, ähnlich wie in vielen Cafés der Haupt- und Residenzstadt Wien, wo nicht wie in Prag, das Deutsche, sondern das Tschechische die sogenannte Minderheitensprache darstellte. Auch das Prager Judentum hatte sowohl zur tschechischen als auch zur deutschen Kultur eine intensive Beziehung, wobei die Rezeption des Tschechischen als Umgangs- und Literatursprache seit Ende des 19. Jahrhunderts zunahm. Weil sich zahlreiche jüdische Intellektuelle in beiden sprachlich-kulturellen Kommunikationsräumen vorfanden, kann daher, wie Hartmut Binder mehrfach nachgewiesen hat, die ehemals betonte These von einer „deutschen Sprachinsel“ in Prag kaum mehr aufrechterhalten werden.173 Ähnlich wie für Wien in den Jahrzehnten um 1900 gilt es auch für Prag auf diese hybride sprachlich-kulturelle Gemengelage hinzuweisen, die sich unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen verdankte. Individuen und soziale Gruppen oszillierten in und zwischen verschiedenen Kommunikationsräumen, sie befanden sich, folgt man den nationalen Vorgaben, in „nationalen Zwischenstellungen“. Wie schon erwähnt, hat vor allem Robert Luft auf diesen „nationalen Utraquismus“ aufmerksam gemacht, auf diese Situation von „cultural encounters“ (Peter Burke), denen im Allgemeinen kaum 172 Gary B. Cohen, Deutsche, Tschechen und Juden in Prag: Das soziale Alltagsleben zwischen 1890 und 1914, in: Maurice Godé, Jacques Le Rider, Françoise Mayer (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague, S. 55–69. 173 Hartmut Binder, Entlarvung einer Chimäre: Die deutsche Sprachinsel Prag, in: Maurice Godé, Jacques Le Rider, Françoise Mayer (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague, S. 183–209.
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Beachtung geschenkt wird, weil den meisten historischen Darstellungen vornehmlich das nationale Narrativ als die bestimmende Folie unterlegt wird: „Der Zwang und die Schwierigkeiten, sich national festzulegen, waren für viele Menschen größer und widerspruchsvoller, als in vielen Darstellungen deutlich wird. Selbst in historischen Studien werden so Denkkategorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unreflektiert weitergetragen.“174 Die praktizierte Zwei- oder Mehrsprachigkeit, die nicht nur für Prag, sondern vor allem für viele andere urbane Milieus in der zentraleuropäischen Region typisch war, geriet unter dem nationalen Verdikt in den Verdacht, sich für keine (nationale) Identität klar entscheiden zu wollen, das heißt anational zu agieren. Angesichts dieser komplexen Situation nimmt Kafka freilich immer mehr die Krisenanfälligkeit einer solchen Mehrfachidentität wahr. Die zunehmende Dominanz des nationalen Narrativs aufseiten der Tschechen und der Deutschen erschwerten in der Öffentlichkeit die gleichzeitige Zugehörigkeit zu beiden Kommunikationsräumen. Die führenden deutschen und tschechischen Publikationsorgane Böhmens und insbesondere Prags wurden zu emphatischen Wortführern und medialen Konstrukteuren von nationalen Diskursen und untergruben wohl ganz bewusst den politischen Dialog zwischen den zwei Kommunikationsräumen, ganz abgesehen von der zunehmend prekären Situation, in der sich die jüdischen Mitbürger Prags befanden. Viele von ihnen versprachen sich in der Folge von einer demokratischen tschechischen Republik die Überwindung der antisemitischen Provokationen. Schon seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Repräsentanten der Prager Moderne von einer solchen sozialen und politischen Aufbruchstimmung beseelt. „Im Unterschied zur tragischen Vision der Wiener Moderne“, meint Chvětoslav Chvatík, „die vor allem den Zerfall der Monarchie und die Gefährdung der Werte der mitteleuropäischen Kultur reflektierte, werden in der Kunst der Prager Moderne zwei Pole der geistigen Situation der Zeit antizipiert: Das Bewußtsein der Gefährdung und des drohenden Zusammenbruchs durchdringt zugleich die Hoffnung auf einen 174 Robert Luft, Nationale Utraquisten in Böhmen, S. 39. – Vgl. dazu auch Robert Luft, Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen: Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten Habsburgermonarchie, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2003, S. 165–187.
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Neubeginn, das durch die Entstehung des jungen, selbständigen demokratischen Staates und den Kampf um die Verwirklichung der Utopie einer sozial gerechten Gesellschaft verstärkt wird.“175 So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Repräsentanten der Tschechischen Moderne zu den Befürwortern und Wortführern eines souveränen, demokratischen tschechoslowakischen Nationalstaates avancierten. Das von Jaroslav Kvapil im Mai 1917 verfasste und von zweihundertzweiundzwanzig Schriftstellern unterzeichnete „Manifest der tschechischen Schriftsteller“, das „zu einem Gründungsdokument des tschechoslowakischen Staates werden“ sollte,176 ist ein Beleg für diese Entwicklung. Was nun den jüdischen Kommunikationsraum betraf, in dem sich Kafka gleichermaßen vorfand, verfestigte sich seine Meinung immer mehr, dass das Projekt der Assimilation der Juden, die in Prag um 1900 keineswegs nur in der Aneignung der deutschen Sprache bestanden hatte, nicht zuletzt aufgrund zunehmender antisemitischer Agitationen, dem sich ein furchtsames Sichzurückziehen der Juden folgte – „Furcht ist ihre Natur“177 –, im Grunde genommen zum Scheitern verurteilt war. Auch die Bemühungen, als Schriftsteller in der deutschen Literatur Fuß zu fassen, seien daher weitgehend misslungen. In einem aufschlussreichen Brief an Max Brod aus dem Jahre 1921 hält Kafka daher recht pessimistisch fest, dass der „Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, 175 Květoslav Chvatík, Sieben Etappen der Prager Moderne, in: ders. (Hg.), Die Prager Moderne, S. 345–388, Zit. S. 352. 176 Kurt Ifkovits (Hg.), Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil. Briefe, Texte, Dokumente. Unter Mitarbeit von Hana Blahová, Bern u.a.: Peter Lang 2007, S. 53. 177 Franz Kafka Briefe, S. 446 (Brief an Max Brod, 14. IX. 1923).
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v. peripherie oder zentrum?
sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […] also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.“178 Kafka umschreibt hier recht drastisch und satirisch den fehlgeschlagenen Versuch einer völligen Assimilation, oder, um mit Homi K. Bhabha zu sprechen, einer „Mimikry“, das heißt einer perfekten Nachahmung einer „fremden“ Kultur, eines sich anbiedernden, zugleich freilich auch unterminierenden Angleichens an eine anscheinend dominante Kultur.179 Es ist dies eine Sichtweise, die im postkolonialen Diskurs der Gegenwart eine Rolle spielt, wo eine solche Mimikry nicht nur die Assimilation an die „koloniale“ Herrschaftskultur verdeutlicht, die die Kolonisierten beziehungsweise Marginalisierten „über-nehmen“, oder besser: sich „über-stülpen“, sondern auch die mit einem solchen Assimilationsprozess einhergehende subversive Veränderung der metropolitanen Kultur der Kolonisatoren durch die Kolonisierten, die sich dessen nicht bewusst sein müssen, hervorstreicht. Im Falle der Juden, so die Argumentation Kafkas, wäre eine solche Mimikry, ganz konkret die Assimilation an die dominante deutschsprachige Kultur, nicht gelungen, sondern fehlgeschlagen. Diese Feststellung betrifft freilich nicht nur Kafka und seine Prager Schriftstellerkollegen: Andrei Corbea-Hoisie hat diese Leitfigur der Mimikry in einer vergleichbaren Weise auch bei ostgalizischen beziehungsweise bukowiner jüdischen Intellektuellen, wie Emil Franzos, ausgemacht, die sich als Literaten einer deutschsprachigen Kultur angenähert und sich diese voll anzueignen versucht hatten.180
178 Franz Kafka an Max Brod, Juni 1921. In: Franz Kafka Briefe, S. 337–338. 179 Vgl. u.a. Homi K. Bhabha, DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 149–194, hier S. 190–192. 180 Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten, S. 57–66.
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VI. Zentraleuropa – Laboratorium für die Gegenwart
Innere Kolonisierungen? Freilich bezieht sich eine solche Zustandsbeschreibung, die Franz Kafka im Brief an Max Brod andeutet, nicht nur auf die Juden, sondern auf alle „Fremden“. Diese „Fremden“ konnten sowohl die ursprünglichen städtischen Bewohner sein, die aufgrund der rapiden Zunahme von Einwanderern in die Lage einer Minorität gedrängt wurden, als auch jene, die aus den umliegenden Gegenden in die Städte immigrierten und vor allem aus ökonomischen Gründen gezwungen waren, hierherzukommen. Und wollten diese wirtschaftlich und sozial erfolgreich sein, waren sie gezwungen, sich möglichst rasch an ein neues städtisches Milieu in Sprache, Umgang oder Kleidung anzugleichen, sich womöglich an die dominante städtische Gruppe zu assimilieren, um nicht mehr als „Fremde“ aufzufallen beziehungsweise wahrgenommen zu werden. Ein solches Sichangleichen entsprach freilich auch, von einer anderen Perspektive aus betrachtet, einer „inneren Kolonisierung“. Der Schriftsteller Joseph Roth, der in seinen Werken mit der ehemaligen Monarchie hart ins Gericht geht und diese keineswegs, wie oft angenommen wird, nur nostalgisch verklärt, hat diese koloniale Situation, diese innere Kolonisierung, nicht nur in den Städten, sondern vor allem in den Mikrokosmen von Grenzbereichen der zentraleuropäischen Region wahrgenommen und beschrieben, wie zum Beispiel an jener Grenzsituation am Rande der Monarchie, die seiner Erzählung „Das falsche Gewicht“ zugrunde liegt, wobei Grenze hier nicht ausschließlich als eine geografische Rand- beziehungsweise Begrenzungszone aufgefasst wird, vielmehr einen Topos darstellt, der auch in den sogenannten metropolitanen Zentren aufscheinen kann. An der Grenze, zum Beispiel in einer weit entfernten Provinz, herrscht ein vielfältiges, jedoch „geordnetes“, funktionierendes Chaos, wo selbst die Eichung von Gewichten nur mehr eine relative Gültigkeit hat, voll von Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten also, die der Vorstellung einer homogenen Ordnung diametral entgegengesetzt ist. Dieses Chaos zu beseitigen, in welchem selbst die politisch festgeschriebene Grenze im Grenzgasthaus, in dem sich Perso345
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nen von diesseits und jenseits heimlich treffen, sich als porös erweist, werden daher Beamte aus dem Zentrum beauftragt – im Sinne einer Homogenisierung –, sie stürzen jedoch mit ihren Aktionen sowohl die Grenzbewohner als auch sich selbst in den Untergang. Von einem solchen Chaos, einer solchen Grenzsituation der Provinz, war die heterogene Monarchie insgesamt geprägt, und sie übertrug sich auch auf das metropolitane Zentrum, in das „von den Kronländern der Monarchie unaufhörlich gespeiste Wien“, das einer „verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen schwarz-gelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog“1, wodurch die „chaotische“ Heterogenität der Kronländer unversehens in die Stadt übertragen und hier sichtbar wurde, sich hier verdichtete und von da aus sich unversehens auch auf das politisch-kulturelle Handeln des Gesamtstaates übertrug. Statt eine binäre Opposition zwischen Zentrum und Peripherie zu konstruieren, verweist hier Roth auf die transversalen, transnationalen und transkulturellen Bewegungen, die sowohl in den „kolonisierten“ Provinzen als auch im omnipräsenten „kolonisierenden“ Zentrum von existenzieller Bedeutung wurden. Sichtbar und täglich erfahrbar wurde die Präsenz der „chaotischen Provinz“ im topographischen Zentrum ganz augenfällig durch den zum Teil massenhaften Zuzug von Bewohnern der Region in die Haupt- und Residenzstadt, was, wie ich bereits ausgeführt habe, Wien zu einer in einem wörtlichen und übertragenen Sinne „polyglotten“ Stadt geformt hatte. Diese kolonisierende Attitüde, die bei Roth mit Wien konnotiert wird, findet sich, wie gezeigt werden konnte, auch bei tschechischsprachigen Intellektuellen und darüber hinaus auch bei ungarischen Schriftstellern der Jahrzehnte um 1900. Wien ist zwar in den Werken des zu seinen Lebzeiten beliebten und seinerzeit auch im deutschen Sprachraum rezipierten ungarischen Romanciers Mór (Maurus) Jókai ein Zufluchtsort, das Zentrum einer undurchschaubaren politischen Macht, doch nach Wien gekommen „bewegen sich die [ungarischen, M. Cs.] Romanfiguren Jókais auf den Schauplätzen der Kaiserstadt wie die Einwohner ferner Kolonien in der Hauptstadt des Reiches. Diese Allusion auf die Kolonien wird aber in seinen Werken im allgemeinen zum Kontrastpaar städtisch-ländlich reduziert 1 Joseph Roth, Die Kapuzinergruft, in: Joseph Roth Werke Bd. 6: Romane und Erzählungen 1936–1940, hg. von Fritz Hakert, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 225–346, Zit. S. 270.
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und gemildert.“2 Freilich galt Ähnliches auch für die kleineren urbanen Milieus der Region. Hinter der Folie dieser Vielsprachigkeit verwob sich die kulturelle Heterogenität der Stadt, das heißt die Präsenz von Differenzen, von unterschiedlichen kulturellen, nicht nur von verbalen, sondern vor allem nonverbalen Kommunikationsräumen der Gesamtregion im urbanen Milieu, denen zuweilen auch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen und Schichten entsprachen, die zu einer weiteren Differenzierung der städtischen Bevölkerung beitrugen. Dies begünstigte zwar zuweilen kulturelle Kreativität, indem man zwischen unterschiedlichen „mémoires culturelles“ sich zu bewegen gezwungen war und diese „Fremdelemente“ unverhofft zu etwas Neuem zusammenzuführen wusste; dieser Zwischenzustand konnte jedoch auch vermehrt Verunsicherungen zur Folge haben und Identitätskrisen und soziale und kulturelle Konflikte im städtischen Alltag hervorrufen. Ein solches Bild vom Herrschaftszentrum Wien findet sich unter anderem auch in Joseph Roths Feuilleton aus dem Frühjahr 1938, „Österreich atmet auf“, in welchem der Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938, dessen Ursachen auf die hegemonialen, homogenisierenden Attitüden der Monarchie zurückgeführt werden, parodistisch-sarkastisch beschrieben wird. Das Bild von der „Kreuzspinne“ wird hier, rückblickend, plötzlich auf die zentrale, hegemoniale Handlungsinstanz, auf die Dynastie selbst, übertragen: „Ausgelöscht ist jede Erinnerung an das Österreich Habsburgs, jener großen, satten, unheimlichen schwarz-gelben Kreuzspinne, die in der Mitte ihres schon reichlich beschädigten Netzes in der Wiener Hofburg saß, immer neue Fäden mit ihrem Speichel erzeugend, um die alten zerrissenen zu flicken, und die mit ihren langen, dürren und raffigen Beinen Individuen, Völker, Nationen umspann, um die Beute dann auszusaugen.“3 Roth gibt einer machtgierigen, verfehlten, kolonialen, jedoch auf Grund der Tatsache, dass die Heterogenitäten auch in der politischen Schaltzentrale sichtbar wurden, „immer chaotischer werdenden Politik der Monarchie“4 Schuld am Anschluss 2 Anna Fábri, Das Bild Wiens in den Werken von Gyula Krúdy, in: Neohelicon XXIII/1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1996, S. 127–152, Zit. S. 129. 3 Joseph Roth, Österreich atmet auf (Typoskript vom Frühjahr 1938), in: Joseph Roth Werke Bd. 3: Das journalistische Werk 1929–1939, hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 845–849, Zit. S. 845. 4 Joseph Roth, Rede über den alten Kaiser (Die Österreichische Post, 1.7.1939), in: Joseph Roth Werke Bd. 3, S. 938–945, Zit. S. 941.
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Österreichs an Deutschland im März 1938. Durch den Anschluss, das heißt durch die „Auslöschung“ Österreichs, sollte nun endlich und ein für alle Male jene homogene Ordnung hergestellt werden, die den zunehmend deutschnational dominierten, das heißt kolonialen, hegemonialen Ansprüchen zur Zeit der Monarchie nicht gelungen war: „Eine konstitutionelle Bedingtheit übrigens, die sich aus den Irrtümern der alten Monarchie noch herleitet und die in der Hauptsache darin bestanden hat, innerhalb eines großen Reiches von sechzehn Nationen die deutschsprachigen Österreicher als eine Art von dominierendem ‚Staatsvolk‘ gelten zu lassen. Großdeutsche Professoren wilhelminischer Gesinnung, und beinahe auch wilhelminischen Aussehens, hielten die wichtigsten Lehrstühle der österreichischen Hochschulen besetzt und lehrten dort den Made-in-Germany-Hochmut […].“5 Roth fordert hier nichts anderes als einen radikalen Perspektivenwechsel, nämlich eine Geschichte der „Provinzialisierung“ des Zentrums durch die Heterogenisierung dieser hegemonialen Erzählung; er antizipiert damit, für den Bereich der Monarchie, Sichtweisen der postkolonialen Perspektive, einer Theorie, die nicht nach-koloniale Zustände thematisiert, die vielmehr solche soziokulturellen Mechanismen freilegt, die über den Kolonialismus hinaus von Relevanz sind (postkolonial vor allem in einem epistemologischen, nicht chronologischhistorischen Verständnis, in Analogie zur Postmoderne, mit der ja die Moderne nicht verabschiedet wird). Diese Theorie mahnt in der Folge auch eine Revision des europäisch dominierten Geschichtsdiskurses ein, eine Revision, die zu einer Geschichte führen müsste, „die bereits in der Struktur ihrer narrativen Formen ihre eigenen repressiven Strategien und Praktiken bewußt sichtbar macht“.6 Die „innere Kolonisierung“ zur Zeit der alten Monarchie folgte einem gängigen Paradigma, dem sich auch anderwärts koloniale Attitüden verpflichtet fühlten: Die Kolonisatoren wollten die als Chaos wahrgenommenen beziehungsweise imaginierten Komplexitäten in den Kolonien beseitigen und Ordnung schaffen; wie zum Beispiel auch die Briten in Indien: „Die Komplexität Indiens zum Beispiel“, meint Anil Bhatti, „wurde im 5 Joseph Roth, Die Hinrichtung Österreichs (Pariser Tageszeitung, 11.3.1939), in: Joseph Roth Werke Bd. 3, S. 922–925, Zit. S. 922–923. 6 Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kuturwissenschaften, Frankfurt a. Main u.a. 2002: Campus, S. 283–312, Zit. S. 308.
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Rahmen der Wissensaneignung durch den Kolonialismus als Chaos empfunden. Die Beherrschung des Chaos erfolgte durch eine beispiellose Entfaltung klassifikatorischer und taxonomischer Energie im Rahmen einer kolonialen Epistemologie.“7 Ähnlich kritisch wie in den zitierten Textstellen argumentiert Roth vergleichsweise in zahlreichen anderen Essays, wie zum Beispiel unter anderem in jenem über Grillparzer.8 Die Ursachen für die Katastrophe seiner eigenen Gegenwart werden hier bereits auf die unzulänglichen Initiativen der zunehmend von nationalen Widerstands-Ideologien fragmentierten Monarchie zurückgeführt, die sich dem realen „Chaos“ im hegemonialen, kolonisierenden Zentrum zu widersetzen versuchten. Selbst das Bild des Kaisers beziehungsweise der Dynastie bleibt dabei, wie bereits angedeutet, nicht ausgespart und durchaus ambivalent. Es ist keineswegs nur Zustimmung zur Dynastie zu finden, wie in manchen seiner späten politischen Essays, doch auch diese positiven Stellungnahmen können zuweilen ironisch, als eine Parodie gelesen werden. Es wird Kritik am Herrscherhaus – „Die kalte Sonne der Habsburger erlosch, aber es war eine Sonne gewesen“9 – und an der Person des Kaisers geübt, dessen Bildnis, als hegemoniales, jedoch nun bereits „dekonstruiertes“, sinnentleertes Repräsentationssymbol hegemonialer Dominanz in zahlreichen Räumen bis in die äußersten Provinzen des Reiches angebracht war – „Die Zahl der Bilder, die man von ihm sah, war fast ebenso groß wie die Einwohnerzahl seiner Reiche“, meinte Robert Musil10 –, von den k. k. Amtsstuben und Diensträumen angefangen über die privaten Wohnzimmer, die Militärcasinos bis zu den dreckigen Schenken und Bordellen. Diese richtungweisende Omnipräsenz des Herrschers konnte sich in das Gegenteil dessen verkehren, was ursprünglich beabsichtigt war: „Und Carl Joseph fror es“, so 7 Anil Bhatti, Der koloniale Diskurs und Orte des Gedächtnisses, in: Moritz Csáky, Monika Sommer (Hg.), Kulturerbe als soziokulturelle Praxis, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2005, S. 115–128, Zit. S. 119. 8 Joseph Roth, Grillparzer (Das Neue Tage-Buch, 4.12.1937), in: Joseph Roth Werke Bd. 3, S. 742–751. 9 Joseph Roth, Seine k. und k. Apostolische Majestät (Frankfurter Zeitung, 6.3.1928) , in: Joseph Roth Werke Bd. 2: Das journalistische Werk 1924–1928, hg. von Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 910–915, Zit. S. 911. 10 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 83.
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Roth „unter dem blauen Blick des Kaisers […]. Je länger der Leutnant Trotta es betrachtete, desto ferner wurde ihm der Kaiser.“11 Eine rückwärts gewandte, doch stets kritisch beobachtete plurikulturelle Utopie überträgt Roth von der Grenzsituation der Provinz auch auf die Grenzsituation des Hotels, eines hybriden Transitraums, einer Heterotopie, die als eine Metapher für die pluralistische Situation der Gesamtregion und darüber hinaus auch Europas gelten kann: „[…] wenn der Geldbriefträger zu mir kommt, verkündet er es mir mit einem diskreten Jubel. Er ist ein Italiener. Der Kellner ist ein Österreicher. Der Portier ein Franzose aus der Provençe. Der Empfangschef ein Mann aus der Normandie. Der Oberkellner ein Bayer. Das Zimmermädchen eine Schweizerin. Der Lohndiener ein Holländer. Der Direktor ein Levantiner; und seit Jahren hege ich den Verdacht, daß der Koch ein Tscheche ist. Aus den übrigen Teilen der Welt kommen die Gäste.“12 Und all diese Gäste sind hier bald heimisch und gelten daher nicht mehr als Fremde: „Die einen Tag schon da sind und heimisch in der Halle sitzen, sind keine Fremden mehr! Alteingesessen sind sie, der dunkelrote Teppich ist ihre Scholle, von der sie nicht weichen, und der Blick, den sie flüchtig den heimatlosen Ankömmlingen schenken, enthält Mißtrauen und Geringschätzung.“13 Roth überträgt diese Metapher des Hotels in der „Büste des Kaisers“ indirekt auch auf die ehemalige Monarchie: Ähnlich wie das Hotel viele Zimmer hat, in denen sich viele „fremde“ Gäste einquartieren, war auch die Monarchie – und in einem übertragenen, jedoch eigentlichen Sinne das urbane Milieu der zentraleuropäischen Region – „ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen“.14
11 Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: Joseph Roth Werke Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936, hg. von Fritz Hakert, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 137–455, Zit. S. 203. Vgl. auch S. 233. 12 Joseph Roth, Hotelwelt (Frankfurter Zeitung, 20.2.1929), in: Joseph Roth Werke Bd. 3, S. 2–31, Zit. S. 5. 13 Joseph Roth, Das Hotel (Frankfurter Zeitung, 23.11.1930), in: Joseph Roth Werke Bd. 3, S. 259–262, Zit. S. 261. Vgl. auch Joseph Roth, Nachmittag im fremden Hotel, in: ebd., S. 356–358. 14 Joseph Roth, Die Büste des Kaisers, in: Joseph Roth Werke Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936, hg. von Fritz Hakert, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 655–678, Zit. S. 675.
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Freilich bleibt dies auch nur ein utopisches Bild: In der Realität fühlten sich die deutschsprachigen Österreicher und, nach dem Ausgleich von 1867, auch die magyarischen Bewohner des Königreichs Ungarn in der pluralistischen Monarchie über die übrigen Völker der Region dominant und suchten gegenüber diesen ihre Vorherrschaft nicht nur im politischen Sinne, sondern auch in allen übrigen Bereichen und Lebenslagen auszuspielen. Die anderen Völker der Region wurden als nicht so kultiviert und wirtschaftlich fortgeschritten angesehen, wie es die deutschsprachigen Österreicher oder die Magyaren waren. In der Realität überwog freilich innerhalb der Doppelmonarchie das slawische Element. Hermann Bahr hatte in etlichen seiner klugen politischen Essays auf diese Tatsache aufmerksam gemacht, nach 1866, nach der Niederlage bei Königgrätz, meinte er, „blieb uns nichts übrig, als aus einem deutschen Ost-Reich ein slawisches West-Reich zu werden“. Die deutsche Nationalität hätte freilich „eine Weile geglaubt, die anderen Nationen in Österreich wirtschaftlich und geistig beherrschen zu können“. Entgegen diesem deutschen Vormachtstreben müsste man nun einsehen, dass „wir Deutschen der österreichischen Alpen […] uns längst in das neue Österreich gefunden [haben], das ein slawisches Reich ist […]“. Freilich besteht Bahr auf der tragenden Bedeutung des deutschen Elements innerhalb dieses „slawischen Staates“: „So bleibt uns nichts übrig, als in dem slawischen Staatswesen, dem wir eingeboren sind, unsre deutsche Art zu hüten, alle deutschen Entwicklungen mitzumachen und uns geistig, wirtschaftlich und politisch so zu behaupten, daß der slawische Staat, in dem wir wohnen, unsre Mitwirkung überall spüren muß und also niemals den deutschen Weg verlassen kann.“15 Die historisch-ethnographische Realität sah also anders aus und man musste sich, wie Bahr nahelegt, eingestehen, dass die offen ausgetragenen deutschen Hegemonisierungsbestrebungen im Grunde genommen fehlgeschlagen waren. Der an sich deutsch gesinnte Wiener Geograf Friedrich Umlauft hatte dies bereits 1876 folgendermaßen umschrieben: „Die vormals angestrebte vollständige Germanisierung des ganzen Reichsgebietes ist nicht nur nicht gelungen, sondern es hat vielmehr in neuerer Zeit die Vorherrschaft des deutschen Elementes Rückschritte gemacht, so daß Oesterreich, in dem zwölf Nationalitäten, fünf verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehörig, seßhaft sind, heute das bunteste Völkergemisch zeigt, das Europa aufzu-
15 Hermann Bahr, Austriaca, Berlin: S. Fischer 1911, S. 35, 48–49, 129.
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weisen hat.“16 Was die politisch-kulturelle Vorherrschaft der Magyaren betrifft, hat Lajos Mocsáry, einer der Vorkämpfer der Gleichberechtigung der Nationalitäten im Königreich Ungarn, bereits 1858 auf das „entanglement“, auf die enge Vernetzung der Völker und Kulturen, das heißt auf ihre „connected histories“, ihre gemeinsamen Geschichten – im Plural – aufmerksam gemacht: „Die Geschichte der Ungarn [= Magyaren] ist die Geschichte Ungarns, die Geschichte unserer slawischen Mitbürger ist gleichfalls die Geschichte Ungarns. Wir können nicht leugnen, dass uns viele Jahrhunderte stärker aneinander gekettet haben, als wir wahrhaben möchten. […] Seit tausend Jahren bewohnen wir dieses Territorium gemeinsam, besitzen es gemeinsam, tausend Jahre sind es her, dass wir zusammen leben, gemeinsam wirtschaften; wir haben gemeinsam gelitten und uns gemeinsam gefreut. Vermögen wir etwa irgendeine Tat zu nennen, von der wir behaupten könnten, diese hätten nur die Ungarn [= Magyaren], jene die Slawen vollbracht, ist nicht alles mit gemeinsamer Kraft geschehen?“17 Eine gewisse koloniale, hegemoniale Sicht ist häufig noch bis in die Gegenwart auch manchen historischen Darstellungen eingeschrieben, das heißt die einseitige Sicht aus dem metropolitanen Zentrum auf die Peripherie, von Wien auf die Randgebiete, ist, vielleicht auch mangels Sprachkenntnissen und der nötigen Fachkompetenz, eine der beherrschenden Perspektiven von zahlreichen historischen Untersuchungen geblieben, die sich mit der zentral europäischen Region, historisch betrachtet mit der ehemaligen Monarchie, aber auch mit urbanen Milieus beschäftigen. Dabei wird nicht nur der tiefen Verflechtung mit den nichtdeutschsprachigen kulturellen Kommunikationsräumen der Region wenig Beachtung geschenkt, es wird auch übersehen – Joseph Roth hat ausdrücklich darauf hingewiesen –, dass die sogenannte Peripherie im Zentrum wirksam und sichtbar wurde – und es nachhaltig noch ist –, dass also eine „österreichische“ Geschichte letztlich nur als eine intraregionale und darüber hinaus als eine „über die politischen Schranken des Kaiserstaates“18 hinausgreifende histoire croisée zu erfassen sei, was Friedrich 16 Friedrich Umlauft, Einleitung, in: ders., Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien/Pest: Hartleben 1876, S. 2. 17 Mocsáry Lajos, Nemzetiség (Nationalität), in: Kemény G. Gábor (Hg.), Mocsáry Lajos válogatott irásai (Lajos Mocsárys ausgewählte Schriften), Budapest: Egyetemi Nyomda 1958, S. 184. 18 Friedrich Umlauft, Einleitung, in: ders., Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, S. 3.
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Umlauft erstaunlicherweise bereits vor hundertfünfzig Jahren eingemahnt hatte: „Daher fließt auch Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarns und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.“19 Obwohl die Monarchie als politische Realität längst nicht mehr existiert und deren Nachfolgestaaten eine relative sprachliche Homogenisierung innerhalb ihrer politischen Herrschaftsbereiche und vor allem auch in den einst „mehrsprachigen“ Städten gelungen ist, betrifft die angedeutete Pluralität beziehungsweise Heterogenität der Region noch immer vor allem die nonverbale kulturelle Kommunikation, insbesondere die Alltagskultur der zentraleuropäischen Region, sie ist im historisch-kulturellen Gedächtnis verankert und evoziert, jenseits von intendierten nationalen Festschreibungen, durchaus unterschiedliche, vielfältige, oft widersprüchliche und dem homogenen nationalen Narrativ entgegengesetzte Erinnerungsmöglichkeiten. Die hegemonialen deutschnationalen und magyarischen Diskurse der Vergangenheit haben sich nicht nur in die Gesellschaften der derart Kolonisierten eingeschrieben, die Kulturen der Kolonisierten haben gleichermaßen die Kulturen der ehemaligen Kolonisatoren mit beeinflusst, geformt und performativ verändert. Trotz eines kritisch-sarkastischen Blicks auf die Missstände in der Monarchie kommt Roth in der Erzählung „Die Büste des Kaisers“ auch auf einen positiven Aspekt zu sprechen. Er bestand darin, dass trotz einer krassen Heterogenität, die die Region – hier vor allem „Österreich“, das heißt Zisleithanien – kennzeichnete, sich auch ein allen verständlicher „Metaraum“ wölbte, ein allen verständlicher kultureller Kommunikationsraum, ein „Text“, der von vielen gelesen und decodiert werden konnte, Zeichen und Symbole, die zum Teil, was zum Beispiel die architektonische Gestaltung oder ein bestimmtes Alltagsverhalten betraf, bis in die Gegenwart sichtbar geblieben sind und den durch die Region Reisenden Orientierung und Anhalt zu bieten vermochten. Graf Morstin, um den sich die Erzählung Roths rankt, reiste einmal im Jahr aus seiner ostgalizischen Heimat nach Wien und erlebte dabei sowohl die Übereinstimmung als auch die zahlreichen Differenzen, die Fremdheiten der Region: „Wenn er so kreuz und quer durch die Mitte seines 19 Friedrich Umlauft, Einleitung, in: ders., Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, S. 2.
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vielfältigen Vaterlandes fuhr, so behagten ihm vor allem jene ganz spezifischen Kennzeichen, die sich in ihrer ewig gleichen und dennoch bunten Art an allen Stationen, an allen Kiosken, in allen öffentlichen Gebäuden, Schulen und Kirchen aller Kronländer des Reiches wiederholten. Überall trugen die Gendarmen den gleichen Federhut oder den gleichen lehmfarbenen Helm mit goldenem Knauf und dem blinkenden Doppeladler der Habsburger; überall waren die hölzernen Türen der k. u. k. Tabaktrafiken mit schwarzgelben Diagonalstreifen bemalt; überall trugen die Finanzer die gleichen grünen (beinahe blühenden) Portepees an den blanken Säbeln; in jeder Garnison gab es die gleichen blauen Uniformblusen und die schwarzen Salonhosen der flanierenden Infanterieoffiziere auf dem Korso, die gleichen roten Hosen der Kavalleristen, die gleichen kaffeebraunen Röcke der Artillerie; überall in diesem großen und bunten Reich wurde jeden Abend gleichzeitig, wenn die Uhren von den Kirchtürmen neun schlugen, der gleiche Zapfenstreich geblasen, bestehend aus heiter tönenden Fragen und wehmütigen Antworten. Überall gab es die gleichen Kaffeehäuser mit den verrauchten Wölbungen, den dunklen Nischen, in denen Schachspieler wie merkwürdige Vögel hockten, mit den Buffets voll farbiger Flaschen und glitzernder Gläser, die von goldblonden und vollbusigen Kassiererinnen verwaltet wurden. Fast überall, in allen Kaffeehäusern des Reiches, schlich, die Knie schon etwas zittrig, auf aufwärts gestreckten Füßen, die Serviette im Arm, der backenbärtige Zahlkellner, fernes, demütiges Abbild der alten Diener Seiner Majestät, des hohen backenbärtigen Herrn, dem alle Kronländer, all die Gendarmen, all die Finanzer, all die Tabaktrafiken, all die Schlagbäume, all die Eisenbahnen, all die Völker gehörten.“ Trotzdem gab es auch markante Unterschiede, Differenzen: „Und man sang in jedem Land andere Lieder; und in jedem Land trugen die Bauern eine andere Kleidung; und in jedem Land sprach man eine andere und einige verschiedene Sprachen. [...] Wie jeder Österreicher jener Zeit liebte Morstin das Bleibende im unaufhörlich Wandelbaren, das Gewohnte im Wechsel und das Vertraute inmitten des Ungewohnten. So wurde ihm das Fremde heimisch, ohne seine Farbe zu verlieren, und so hatte die Heimat den ewigen Zauber der Fremde.“20 Freilich fokussieren meine Überlegungen nicht primär auf die Monarchie; der Blick auf sie und auf die in ihr vorhandenen Heterogenitäten beziehungs20 Joseph Roth, Die Büste des Kaisers, S. 656–657.
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Innere kolonisierungen?
weise auf die Art, wie man mit diesen umging, dient mir nur als ein Analogon für die Situation in Zentraleuropa insgesamt und seiner urbanen Milieus. Man könnte also, die Überlegungen Joseph Roths, der hinter der Monarchie die Folie, von der sich diese abhebt, nämlich Zentraleuropa, thematisiert, zusammenfassend festhalten: Positiv konnotiert ist bei Roth die sprachlich-kulturelle Pluralität oder Heterogenität der ehemaligen Monarchie beziehungsweise Zentraleuropas, die trotz der Gegensätze, der offenen, kontinuierlichen Differenzen und des „Chaos“, das sich daraus ergibt, doch als solches irgendwie funktionierte, ja einen übergeordneten Kommunikationsraum darstellte. Explizit negativ bewertet Roth Homogenisierungsprozesse, die von den zentralen politischen Schaltstellen ausgingen oder wie sie die nationalen Ideologien anstrebten, innere Kolonisierungen jeglicher Art, die die Schuld am Untergang eines zuweilen „idealisierten“, utopischen Vielvölkerstaates hatten. Roths Sicht entspricht einer postkolonialen Position der Gegenwart, die „das so genannte Chaos als nicht begriffene Komplexität und Mehrdimensionalität gegenüber der Monotonie der linearen Welt der Eindimensionalität positiv aufwertet“.21 Einer quasi postkolonialen Situation entsprach es auch, dass die binäre Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie zunehmend keine Geltung mehr hatte, dass, wie bereits am Beispiel von Roths Argumentation angedeutet, die sogenannte Provinz oder die „Grenze“ auch im Zentrum sichtbar wurde, ein literarisches Verfahren übrigens, das, wie Richard Reichensperger nachweisen konnte, auch schon bei Adalbert Stifter problematisiert wird, der in „Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes“ zwar „zentralistisch“ argumentiert, dadurch jedoch, dass alle Wege und Waren dem Zentrum, nämlich Wien, zustreben, gerade im Zentrum die Peripherie sichtbar und erlebbar werden lässt.22 Hier waren am deutlichsten jene Prozesse von Inklusion und Exklusion wahrnehmbar, die 21 Anil Bhatti, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2003, S. 55–68, Zit. S. 59. 22 Richard Reichensperger, Zur Wiener Stadtsemiotik von Adalbert Stifter bis H. C. Artmann, in: Moritz Csáky, Richard Reichensperger (Hg.), Literatur als Text der Kultur, Wien: Passagen 1999, S. 159–185, hier S. 167–169. – Adalbert Stifter, Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Beiträge zu einem Sammelwerk: Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, in: Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe, München: Winkler 1968, S. 281–301.
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vor allem im Kontext der immer heftigeren Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten, also im Kontext der „nation building“, eine dominante Rolle einnahmen.
„Heimat? Kenn ich nicht.“ Eine solche angedeutete „innere Kolonisierung“ konnte vonseiten der ökonomisch oder intellektuell-kulturell dominanten Gruppe, von Personen, die über ein ökonomisches und symbolisches Kapital verfügten und an die man sich anglich, zwar als eine Akzeptanz der Fremden beziehungsweise als Toleranz diesen gegenüber gedeutet werden, Assimilationen vermochten aber dennoch Unterschiedlichkeiten, Differenzen keineswegs völlig zu beseitigen.23 Wenn es auch nur geringe Abweichungen blieben, so wurden diese zunehmend mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen, registriert und zum Anlass von Stereotypisierungen, mit denen man Fremdbilder gewissermaßen konstruierte, wie zum Beispiel mit dem Hinweis auf das „fremdartige“ Jiddische, das „Mauscheln“ der Juden oder das „Böhmakeln“ der Tschechen. Diese typischen Vorurteile finden sich ins Witzig-Ironische verfremdet in zahlreichen Lustspielen, Operetten oder Liedern, zum Beispiel im Wienerlied der Jahrzehnte um 1900. Denn durch Assimilationen wurden freilich auch jene verändert, an die man sich assimilierte, nämlich die ökonomisch oder kulturell dominante Gruppe. Auf der Seite der kulturell „minoritären“ Gruppen, der Zuwanderer, forderte die Assimilation nicht nur eine kontinuierliche Delegitimierung von traditionalen Bindungen, sondern auch mit neuen kulturellen Ordnungsmustern beziehungsweise Wertvorstellungen umzugehen, was vor allem in der ersten Generation zumeist zu Verunsicherungen führte: Man befand sich in zwei „Sprachen“, von denen die angestammte nicht mehr perfekt, die neue noch nicht perfekt beherrscht wurde. Damit wurde aber die durch die Modernisierung verursachte Verunsicherung nur noch verstärkt. Diese Situation wurde dem in Lemberg geborenen k.k. Beamten und Wiener Schriftsteller Tadeusz Rittner bewusst. Rittner war, wie ich schon angedeutet habe, mit den Vertretern des „Jung Wien“ eng verbunden, vor allem mit Her23 Vgl. Johannes Feichtinger, Habsburg (post)-colonial. ����������������������������� Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial, S. 13–31.
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mann Bahr, Arthur Schnitzler und Peter Altenberg. Er betätigte sich nebenbei als Journalist und verfasste zahlreiche Bühnenwerke, von denen mehrere im Burgtheater aufgeführt wurden. Was für ihn jedoch symptomatisch war, ist, das er nicht nur deutsch, sondern auch polnisch schrieb, seine deutschen Werke selbst ins Polnische übersetzte und für Wiener deutschsprachige Zeitungen, für den „Wiedeński Kurier Polski“ (Wiener Polnischer Kurier) und den angesehenen Krakauer „Czas“ Feuilletons verfasste. Von seinen 23 Bühnenwerken „schuf er 12 in beiden Sprachen, 8 nur auf Deutsch, 3 nur auf Polnisch“.24 Er, der wie die „Neue Freie Presse“ festhielt, „trotz seiner polnischen Abstammung ein so durch und durch österreichischer Poet“25 geworden wäre, fand sich in zwei konkreten kulturellen Kommunikationsräumen vor, sie flossen in ihm zusammen, was in einer Zeit, in der gefordert wurde, sich nur für eine nationale Identität zu entscheiden, problematisch war. „Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch“, bekannte Rittner daher resignierend. „Das heißt: ich kenne und empfinde beides. Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es sich umgekehrt. Von so manchem, was ich geschrieben habe, sagen die Deutschen, es sei polnisch, und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles, hier und dort, mit dem unbefangenen Blick eines Fremden.“26 Dies war die Folge einer multipolaren Verankerung von Persönlichkeiten, einer nicht eindeutigen „Abstammung“, die vor allem die 24 Jakub Forst-Battaglia, Polnisches Wien, Wien: Herold 1983, S. 100. 25 Neue Freie Presse, 29. VI. 1921. 26 Das Literarische Echo 19/7 (1.1.1917), S. 400 f. Die Informationen über Rittner verdanke ich einem Manuskript von Anna Milanowski (Wien), Der Zeitzeuge Tadeusz Rittner und seine polnischen Feuilletons. – Vgl. vor allem auch Stefan Simonek, Tadeusz Rittners literarisches Debüt im Rahmen der Wiener Moderne, in: ders., Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne, Bern/ Berlin u.a.: Peter Lang 2002, S. 19–62. – Gabriela Giel, Das zweisprachige Schaffen von Thaddäus Rittner in den Augen polnischer Literaturhistoriker, in: Jens Adam, HansJoachim Hahn, Lucjan Puchalski, Irena Światłowska (Hg.), Transitraum Deutsch. Literatur und Kultur im transnationalen Zeitalter, Wrocław/Dresden: Neisse 2007, S. 275–284, Zit. 283. – Andrej Bazilevskij, Wien in den Augen polnischer Schriftsteller (Von der ersten Teilung Polens bis zum Zweiten Weltkrieg), in: Gertraud Marinelli-König, Nina Pavlova (Hg.), Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Wien: ÖAW 1996, S. 199–222, hier S. 213 f.
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Bewohner von urbanen Milieus kennzeichnete und die unter anderem Hermann Bahr immer wieder als ein Charakteristikum des „Österreichers“, das heißt des Bewohners der ehemaligen Monarchie – und wir können sagen: der Bewohner Zentraleuropas – hervorhob. In seiner „Dalmatinischen Reise“ (1909) geißelt Bahr die Macht-Attitüden der metropolitanen Wiener Zentralregierung und bringt diese in Zusammenhang mit dem Unverständnis des „deutschen“ Kolonisators gegenüber der sprachlich-kulturell heterogenen Realität der Region und ihrer Bewohner, historisch betrachtet der damaligen „Österreicher“, die nicht nur von einer, nämlich einer eindeutigen Tradition geprägt wären: „Das haben die Menschen in Österreich voraus, daß sich hier, wer nur ein wenig über sich nachdenkt, als ein Ergebnis vieler Verwandlungen erkennt. Anderswo hat es der Nachkomme leicht, das Erbe der Väter anzutreten, denn es enthält einen einzigen Willen und überall denselben Sinn. In uns aber rufen hundert Stimmen der Vergangenheit, der Streit der Väter ist noch nicht ausgetragen, jeder muß ihn aufs neue noch einmal entscheiden, jeder muß zwischen seinen Vätern wählen, jeder macht an sich alle Vergangenheit noch einmal durch. Denn die Vergangenheit unserer Menschen hat dies, dass keine jemals abgeschlossen worden ist, nichts ist ausgefochten worden, der Vater weicht vor dem Sohn zurück, aber im Enkel dringt er wieder vor, niemand ist sicher, jeder fühlt sich entzweit, unseren Menschen ist zu viel angeboren.“27 Rittners Schicksal, das ein gutes Beispiel für eine multipolare Identität in einem hybriden, komplexen System ist, das wir Kultur nennen, teilten mit ihm viele andere, unter anderem auch der Dichter und Schriftsteller Ödön von Horváth: „Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß – aber ‚Heimat‘? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch – mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch. Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur Deutsch, gehöre also dem deutschen Kulturkreis an, dem deutschen Volke. Allerdings: Der Begriff ‚Vaterland‘, nationalistisch gefälscht, ist mir fremd. Mein Vaterland ist das Volk.“28 Bereits aus einer postmodernen 27 Hermann Bahr, Dalmatinische Reise, Berlin: S. Fischer 1909, S. 95. 28 Zit. in Antal Mádl, Sprache, Heimat und Identität bei Nikolaus Lenau, in: ders., Niko-
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Perspektive sollte später, 1989, nach Auschwitz, der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész sich in einer vergleichbaren Weise die Frage nach seiner Identität stellen und sich seiner Mehrfachidentität vergewissern: „Ich habe keine ‚Identitätsprobleme‘. Dass ich ‚Ungar‘ bin, ist ebenso wenig zu bezweifeln, als dass ich ‚Jude‘ bin; und dass ich ‚Jude‘ bin, ist ebenso wenig zu bezweifeln, als dass ich überhaupt existiere.“29 Nicht das Gleiche, aber Ähnliches gilt für Arthur Koestler. In Budapest 1905 geboren, schloss Koestler die Mittelschule in Österreich ab, besuchte die Wiener Technische Hochschule, wandte sich dem Zionismus zu, wanderte nach Palästina und später über Frankreich nach England aus. Koestler war also in mehreren kulturellen Kommunikationsräumen zu Hause, sprach und schrieb zunächst neben dem Ungarischen auch deutsch, um sich später nur mehr als englischsprachiger Schriftsteller zu etablieren. Er selbst empfand das als einen Konflikt, der ihn sein ganzes Leben begleitete: „In dieser Zeit [in Wien] ergab sich noch eine andere Art von Schwierigkeit, die mich all die Jahre hindurch begleitet hat: der Sprachenkonflikt in meinem Kopfe. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr sprach ich zu Hause deutsch und in der Schule ungarisch. Schule und nationale Umgebung übten den stärkeren Einfluß aus: ich dachte ungarisch, und meine ersten kindlichen, schriftstellerischen Versuche schrieb ich gleichfalls ungarisch. […] Dann gewann Deutsch allmählich die Oberhand […] doch zwischendurch schrieb ich noch gelegentlich ungarische Erzählungen […]. 1940 mußte ich, diesmal plötzlich und ohne Übergang, die Sprache zum zweitenmal wechseln, von deutsch zu englisch […]. Im Wachzustand denke ich heute englisch; im Schlaf noch oftmals ungarisch, deutsch oder französisch.“30 Koestler kehrte in den Dreißigerjahren immer wieder nach Budapest zurück, verkehrte dort mit dem Schriftsteller und ehemaligen Kommunisten Andor Németh, mit dem er sich in Wien Anfang der Zwanzigerjahre angefreundet hatte und erfuhr die Emigration, ähnlich der vieler seiner Kolleginnen und Kollegen, Schriftsteller und Künstler in Wien, die 1919 Ungarn verlassen mussten, als eine Entwurzelung, eine laus Lenau und sein kulturelles und sozialpolitisches Umfeld, München: IKGS Verlag 2005, S. 305–316, Zit. S. 314. 29 Kertész Imre, Gályanapló (Galeerentagebuch), Budapest: Magvető 1992, S. 286. 30 Arthur Koestler, Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens 1905–1931, Wien u.a.: Kurt Desch 1953, S. 140.
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Strafe: „Obwohl ich das Glück hatte“, meinte er rückblickend, „zweisprachig erzogen zu sein, und Ungarn als Kind verließ, habe auch ich lange Zeit hindurch unter jener Strafe gelitten.“31 Ähnliches, zumindest was die Zweisprachigkeit betrifft, ließe sich, und das möchte ich ganz kurz nur mit einem Hinweis andeuten, auch von Musikern und Komponisten sagen: Waren die Protagonisten der Wiener Operette, Franz Lehár oder Emerich Kálmán, ungarische oder österreichische, Budapester oder Wiener Komponisten? Beide bedienten sich folklorer Elemente sowohl des Budapester als auch des Wiener musikalischen Arsenals der damaligen Zeit, beide waren in diesen beheimatet und sprachen fast fließend mehrere verbale und musikalische „Sprachen“. Sie mit einer eindeutigen nationalen Zugehörigkeit zu etikettieren, führt daher an der Realität ihrer Mehrfachidentitäten entschieden vorbei. Doch auch die schichtspezifisch unterschiedliche Intensität von Assimilationen beziehungsweise Akkulturationen trug zu einer Vervielfältigung und Differenzierung der Kulturen, vor allem im städtischen Raum bei. Denn unabhängig von der ethnisch-kulturellen und sprachlichen Vielfalt beziehungsweise Differenz waren die urbanen Milieus auch in sich, nämlich nach sozialen Schichten und selbst innerhalb einzelner Schichten, äußerst differenziert, was beispielsweise in der unterschiedlichen Ausformung von Alltagssprachen sichtbar wurde, die von einer Vielfalt von Dia- oder Soziolekten32 geprägt waren, in unterschiedlichen Ess- und Speisentraditionen, in verschiedenen Umgangsformen und Alltagsgewohnheiten. Dazu kam noch, neben dem Gefühl der Zugehörigkeit zur Stadt, die unterschiedliche identitätsstiftende Funktion einzelner Bezirke, die sich zum Teil aus eingemeindeten Vororten zusammensetzten; sie ist nicht nur in Wien bis in die Gegenwart von nicht unerheblicher Relevanz geblieben. All diese unterschiedlichen kulturellen Merkmale konnten und können beispielsweise zwei eingesessene Wiener mehr voneinander unterscheiden als einen Wiener von einem „fremdsprachigen“ Zuwanderer, die beide möglicherweise der gleichen Berufsgruppe angehörten. 31 Arthur Koestler, Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens, Frankfurt a. Main: Fischer 2005, S. 189. 32 ����������������������������������������������������������������������������������� Für die Wiener Sprache, die „eines der komplexesten und interessantesten Idiome Europas“ sei, vgl. Maria Hornung, Sprache, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll, Friederike Goldmann (Hg.), Die Stadt Wien, Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1999 = Othmar Pickl (Hg.), Österreichisches Städtebuch Bd. 7, S. 85–95. – Vgl. auch Maria Hornung, Leopold Swossil, Wörterbuch der Wiener Mundart, Wien: ÖAW 1998.
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Komplexe, hybride kulturen
Komplexe, hybride Kulturen Diese Vielfalt von unterschiedlichen kulturellen Traditionen, die in den Städten wie Wien, Budapest, Czernowitz oder Pressburg (Bratislava) aufeinandertrafen, begünstigte zwar eine an bestimmte soziale Schichten gebundene Form von „Multikulturalität“ im Sinne von kulturellen Hybridisierungen – im Unterschied zur traditionell erfahrenen Plurikulturalität der Region, innerhalb derer jeder seine ihm zugewiesene Position mehr oder weniger gut wahren zu können vermeinte.33 Die Nähe beziehungsweise die Verschränkung vielfältiger kultureller Traditionen in einer sozialen Schicht oder in einer Person, wie sie in den urbanen Milieus sichtbar wurde, konnte zu einem wichtigen Stimulans für Kreativität werden. Man vermochte unter variablen kulturellen Vorgaben zu wählen oder Elemente unterschiedlicher „mémoires culturelles“, auch ohne es direkt zu beabsichtigen, in bislang ungewohnter Weise miteinander zu verknüpfen. Der Zitatenreichtum der musikalischen Produktion in Wien um 1900 ist ein Indiz dafür, dass man sich diese Chance nicht entgehen ließ und sich ihrer zu bedienen wusste. Die Tatsache, dass zahlreiche Kulturproduzenten „Fremde“ beziehungsweise Assimilanten waren, beispielsweise aus dem zunehmend ausgegrenzten Judentum stammten, mag einerseits als ein Indiz für die Richtigkeit jener kulturtheoretischen These gelten, die den „Marginalisierten“ ein erhöhtes kreatives Potenzial beimisst.34 Andererseits begünstigte eine solche Situation auch die Verschränkung meh33 Vgl. Claus Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in: Herlmut Berding (Hg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1994, S. 46–65. 34 Robert Ezra Park, Human Migration and the Marginal Man (1928), in: Werner Sollors (ed.), Theories of Ethnicity. A Classical Reader, New York: New York University Press 1996, S. 156–167. – Everett V. Stonequist, The Marginal Man: A Study in Personality and Culture Conflict, New York: Russel & Russel 1965. – Justin Stagl, Kulturanthropo logie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie, Berlin: Reimer 21981, S. 77–96. – Jean-Claude Schmitt, L’histoire des margineaux, in: Jacques Le Goff (Hg.), La nouvelle histoire, Paris: Éditions Complexe 1988, S. 277–305. – Vgl. dazu auch die klassischen Texte von Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1992, S. 512–555 (Der Arme), S. 764–771 (Der Fremde).
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rerer Geschichten und kultureller Kommunikationsräume (histoire croisée), das heißt mehrerer Erinnerungsweisen in einer Person oder in einer ganzen sozialen Schicht, so dass diese, wenn auch zumeist unbewusst, gezwungen waren, täglich zwischen den einzelnen kulturellen Traditionen zu oszillieren, zu vermitteln beziehungsweise diese zu „übersetzen“.35 „Menschen, die zu solchen Kulturen der Hybridität gehören“, meint daher Stuart Hall, „mußten den Traum oder die Ambition aufgeben, irgendeine ‚verlorene‘ kulturelle Reinheit, einen ethnischen Absolutismus wiederentdecken zu können“.36 Einem solchen Distanz- und Akzeptanzmuster, das zu einem zentraleuropäischen Habitus gehörte, begegnete man in der Literatur – ich verwies auf das Beispiel Kafkas – und im Alltag immer wieder mit Ironie, mit Witz oder in Form einer Travestie.37 Freilich wurde die kulturelle Heterogenität in der engen Dichte der Städte auch als Bedrohung empfunden, erfuhr man doch hier das Andersartige, das Differente, vor allem das „Fremde“ tagtäglich in unmittelbarer Nähe und lief dadurch Gefahr, beispielsweise als Angehöriger einer ökonomisch dominanten Gruppe, selbst in eine kulturell anscheinend minoritäre Lage zu geraten. Um die vermeintliche eigene Identität immer wieder zu festigen oder neu zu begründen, versuchte man folglich sich dieser Fremdheiten zu vergewissern, was nichts anderes bedeutete, als dass man solche Fremdheiten zuweilen künstlich herbeizurufen, zu konstruieren oder zu „erfinden“ begann. Indem man sich solcher Fremdheiten vergewisserte und sie von sich selbst auf Distanz brachte, setzte man freilich auch den ersten Schritt dazu, sich ihrer zu entledigen.38 Ganz offenkundig entstanden in 35 Doris Bachmann-Medick, Multikultur oder kulturelle Differenz? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive, in: dies. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1996, S. 262–296. – Doris Bachmann-Medick (Hg.), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin: Erich Schmidt 1997. 36 Stuart Hall, Kulturelle Identität und Globalisierung, in: Karl H. Hörning, Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1999, S. 393–441, Zit. S. 435. – Vgl. dazu auch: Jean-François Dortier, L’individu dispersé et ses identités multiples, in: Jean-Claude Ruano-Borbalan (Hg.), L’identité. L’individu. Le group. La société, Auxerre: Éditions Sciences Humaines 1998, S. 51–56. 37 Vgl. dazu auch Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay, Wien/Köln/Weimar: Böhlau ²1998, S. 48–58, S. 118–123. 38 Werner Sollors, Introduction: The Invention of Ethnicity, in: Werner Sollors (Hg.), The
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Komplexe, hybride kulturen
den Jahrzehnten um 1900 diese ideologischen Konstrukte von Fremdheiten, die zu radikalen Chauvinismen und Antisemitismen ausarteten, in der Regel nicht am Lande, sondern vor allem in der Dichte des urbanen Raumes. Denn die Heterogenität der zentraleuropäischen Region wurde im urbanen Milieu nicht nur objektiv sichtbar, subjektiv erfahrbar, für die kulturelle Kreativität und für Prozesse von Akkulturationen stimulierend, sie wurde zunehmend auch als destabilisierend und bedrohlich empfunden. Wie konnte man hier zu jener Eindeutigkeit gelangen, die die nationale Ideologie der Jahrzehnte um 1900 von jedem forderte? Daher war es für viele nur logisch, einer solchen komplexen, hybriden Realität zugunsten einer nationalen Eindeutigkeit eine entschiedene Absage zu erteilen. Das bedeutete aus der Perspektive Robert Musils, auf dessen Überlegungen ich bereits mehrfach eingegangen bin, nichts anderes, als dass „dort an Stelle der Geschichte Kakaniens die der Nation getreten [war], an der man dichtete“39. Zu solchen „Dichtern“ gehörte unter anderem auch der deutschnational gesinnte Schriftsteller Eduard von Bauernfeld, der in seiner Autobiographie aus seiner Xenophobie als Deutschnationaler keinen Hehl machte und erbost festhielt: „Ich empfinde mich nun einmal weit mehr als Landsmann Lessings und Goethes denn irgend eines ‚Wenzel‘ oder ‚Janos‘ oder sonst eines Menschen auf ‚inski‘, ‚icki‘ und ‚vich‘, mit denen mich ein politisches Schicksal zusammenschweißt und die im Grunde so wenig mit mir zu schaffen haben wollen, als ich mit ihnen.“40 Da keine Eindeutigkeit vorhanden war, musste auch die in der Haupt- und Residenzstadt Wien verhandelte sogenannte k. u. k. „Parallelaktion“ in Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ angesichts dieser Heterogenitäten und Invention of Ethnicity, New York/Oxford: Oxford University Press 1989, S. IX–XX. – Werner Sollors, Konstruktionsversuche nationaler und ethnischer Identität in der amerikanischen Literatur, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, S. 537–570. – Gisela Welz, Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffs in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, S. 66–81. 39 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 514. 40 Eduard von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien (1873), in: Bauernfeld’s ausgewählte Werke in vier Bänden, hg. von Emil Horner, Bd. 4, Leipzig: Hesse & Becker o.J., S. 90.
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Widersprüchlichkeiten scheitern. Kakanien war folgerichtig „das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, dass sie eine Aufgabe hätten. [...] Sie [die Bewohner Kakaniens, M. Cs.] hatten nicht mehr die Gabe des Kredits und nicht die des Betrugs. Sie wußten nicht mehr, wo kam ihr Lächeln, ihre Seufzer, ihr Gedanke hin? Wozu hatten sie gedacht und gelächelt? Ihre Ansichten waren Zufälle, ihre Neigungen waren längst da, irgendwie hing alles als Schema in der Luft, in das man hineinlief, und sie konnten nichts von ganzem Herzen tun oder lassen, weil es kein Gesetz ihrer Einheit gab.“41 In Musils Roman spiegelt sich also die „Eigenschaftslosigkeit“ Ulrichs, des Individuums der Moderne, im Makrokosmos der brüchigen sozial-kulturellen Lebenswelt Kakaniens und findet erst in dieser ihre volle Bestätigung. Könnte aber diese Ziellosigkeit Ulrichs und die innere Widersprüchlichkeit Kakaniens, das heißt Zentraleuropas, als eine Antizipation jener Befindlichkeiten angesehen werden, die erst in der „Zweiten Moderne“ unserer eigenen Gegenwart volle Gültigkeit erlangt haben?
Urbane Milieus – Laboratorien für die Gegenwart? Die Erkenntnis, dass Heterogenitäten und Ambivalenzen konstitutive Elemente des „kulturellen Gedächtnisses“ der Bewohner dieser Region sind, eine Tatsache, die – ex negativo – auch daraus ersichtlich wird, dass bis in die Gegenwart gegen Heterogenitäten immer wieder mithilfe auch realer, politischer Ausgrenzungsstrategien angekämpft wird, und die Einsicht, dass gesellschaftliche und kulturelle Vernetzungen in der Gegenwart weltweit ähnliche Reaktionen beziehungsweise Ressentiments hervorrufen wie vor über hundert Jahren, könnte sich zu folgender Hypothese erhärten: Zentraleuropa und vor allem seine urbanen Milieus zur Zeit der Moderne könnten aufgrund ihrer soziokulturellen Differenziertheit, aufgrund ihrer Funktion als „Zwischenräume“, in denen sich unterschiedliche kulturelle Kommunikationsräume performativ verschränkten, als „Laboratorien“ angesehen werden, in denen Prozesse stattgefunden haben und sichtbar wurden, die heute, im Zeitalter der Globalisierung und der kulturellen Vernetzungen von allgemeiner, welt41 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 528.
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urbane milieus – Laboratorien für die gegenwart?
weiter Relevanz geworden sind. Rasch zunehmende Mobilitäten und Migrationen, der Ausbau von neuen Kommunikationssystemen und die akzelerierte Zunahme von komplexen Informations- und Übermittlungsweisen führen nicht nur dazu, dass Distanzen, das heißt Unterschiede überwunden werden; sie führen auch dazu, dass Unterschiede, das heißt „Fremdheiten“ aufeinandertreffen, erfahrbarer und durch deren tägliche, wenn zuweilen auch nur virtuelle Vergegenwärtigung sichtbarer werden. Sozialisationen finden daher heute nicht mehr in einem vermeintlich lokalen, überschaubaren, homogenen gesellschaftlichen Kontext statt, sie orientieren sich vielmehr an überaus komplexen globalen Vorgaben und werden dadurch sowohl reichhaltiger als auch brüchiger, inhomogener und folglich problematischer. Mobilitäten und Migrationen, die in den Jahrzehnten um 1900 innerhalb einer begrenzten Region vorhanden waren, haben nun ein globales, weltweites Ausmaß angenommen. In einer solchen Situation ist freilich auch die Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten offener, vielfältiger, das heißt uneindeutiger und komplexer, zugleich jedoch anscheinend auch instabiler und beliebiger geworden. Daraus folgt, dass nicht nur die fortschreitende „Modernisierung“ in Form einer sozial-ökonomischen Globalisierung, sondern dass auch die Erfahrung unbekannter kultureller Elemente, Zeichen, Symbole oder Codes, das heißt unbekannter kultureller Systeme beziehungsweise Kommunikationsräume, zur Ursache andauernder Verunsicherung und individueller und kollektiver Krisen und Konflikte werden können.42 Einer vergleichbaren Krisensituation war man sich freilich bereits um 1900 in Wien und anderen Städten Zentraleuropas bewusst, in denen sich unterschiedli42 Vgl. dazu u.a. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1997. – Michel Wiewiorka (Hg.), Une société fragmenté? Le multiculturalisme en débat, Paris: La Découverte 1996. – Alain Touraine, Pourrons nous vivre ensemble? Égaux et différents, Paris: Fayard 1997. – Joana Breidenbach, Ina Zukrigl, Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München: Kunstmann 1998. – Zygmunt Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg: Hamburger Edition 1999. – Vgl. v.a. Daniel Levy, Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2001. Levy und Sznaider unternehmen hier, wie bereits angedeutet, den Versuch, nachzuweisen, dass sich das Globale aus vielfältigen lokalen Elementen speist, d.h. dass „lokal“ und „global“ keine Gegensätze darstellen müssen und dass ein zunächst „lokaler“ Gedächtnisort, wie der Holocaust, zu einer „globalen“ Erinnerung wird.
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che Kommunikationsräume begegneten, konkurrenzierten, überlappten, zu komplexen, hybriden Gemengelagen führten und folglich verunsicherten. Damals reagierte man darauf jedoch nicht nur mit holistischen Gegenkonzepten, wie mit dem von einer homogenen Nation, mit deren Hilfe man Unterschiede überwinden wollte, oder mit Ausgrenzungsstrategien, die sich von jenen in der Gegenwart kaum unterscheiden, man nahm sie vielmehr oft auch nur ganz einfach wahr, indem man sie „mit Trauer“, wie Lyotard gemeint hatte, registrierte oder indem man versuchte, wie gerade das Beispiel von Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ vor Augen führt, sie sich in Analogie zu einem Verfahren, das Sigmund Freud für die Überwindung individueller Krisensymptome angeboten hatte, einfach nur bewusst zu machen, indem man sie einer nüchternen Analyse unterzog. Es waren dies insgesamt Versuche, die individuellen und kollektiven Krisen und Konflikte, die sich der modernisierungsbedingten Differenzierung und der regionalen kulturellen Heterogenität verdankten, nicht einfach zu verdrängen, sondern bewusst zu machen, sich ihnen zu stellen, um so ihre Ursachen zu erkennen. Neuere kulturwissenschaftliche Analysen unternehmen in gewissem Sinne etwas Ähnliches. Mit der Erkenntnis, dass unter Kultur nicht bloß eine harmonische Verschränkung vielfältiger Zeichen oder Codes zu verstehen sei, sondern dass Kultur vor allem von Differenzen, von Alteritäten, von permanenten Konkurrenzierungen beziehungsweise von der Präsenz von sogenannten Fremdheiten bestimmt ist, macht man auf den krisenhaften, dramatischen Ablauf kultureller Prozesse aufmerksam. Die Analyse sowohl von Akkulturationsprozessen als auch von permanenten kulturellen Krisen und Konflikten, die in den urbanen Milieus in Zentraleuropa in der Vergangenheit und in der Gegenwart wahrgenommen werden können, vermögen solche von einer wissenschaftlichen Analyse erhobenen Forderungen zu erhärten. Von „kultureller Vielfalt auf kulturelle Differenz umzudenken“ erscheint daher gerade hier einsichtig und durchaus nachvollziehbar. Der kulturelle Text kann hier in der Tat als ein „Konzept polyphoner und hybrider Kulturen“ gelesen werden, die der naiven „Utopie kultureller Vielfalt“43 nicht ent43 Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Theres Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 1–29, Zit. S. 12–13.
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urbane milieus – Laboratorien für die gegenwart?
spricht. Eine solche Sicht auf die ambivalente Situation Zentraleuropas, vor allem ihrer urbanen Milieus, und die Analyse einer solchen Situation, die sich die tatsächlich vorhandene oder die potenzielle Kohabitation von differenten kulturellen Traditionen, das heißt von „Fremdheiten“, und die permanente Krisenanfälligkeit, die solchen kulturellen Prozessen innewohnt, vor Augen führt, könnte freilich im Grunde genommen auch nur als ein Versuch angesehen werden, etwas Wahrgenommenes zu einer Realität zusammenzufügen und als solche zu interpretieren. Eine solche Interpretation gewinnt jedoch dann an Glaubwürdigkeit, wenn man sie mit Erfahrungen in der Gegenwart vergleicht, in der Migrationen und Mobilitäten weltweit zunehmen und infolgedessen Prozesse sowohl akzelerierter kultureller Verschränkungen als auch Ausgrenzungen stattfinden. Die Tatsache, dass Ausgrenzungsstrategien heute nicht nur in das Vokabular der offiziellen Politik Eingang gefunden haben, sondern auch das gesellschaftliche Handeln bestimmen, erscheint mir als eine Herausforderung an die Verantwortung der sogenannten Intellektuellen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar werden zu lassen. Diese Erkenntnisse verdanken sich nicht zuletzt den Analysen solcher Prozesse, die in den urbanen Milieus Zentraleuropas bereits in der Moderne um 1900 wahrgenommen werden können. Prozesse, die im „dichten kulturellen System“ der zentraleuropäischen Städte sichtbar wurden, haben vor allem dazu beigetragen, dass traditionelle, vermeintlich sichere Ordnungsmuster, auf die sich nationale Vorgaben bezogen, obsolet geworden und, wie Jean-François Lyotard gemeint hatte, Delegitimationen von alten Orientierungsangeboten angesagt waren. Solche wissenschaftlichen Analysen können daher, so meine ich, nicht allein von historischer Relevanz bleiben, sie könnten vielmehr dazu beitragen, auch unsere eigene Gegenwart besser zu verstehen und mit ihren Problemen bewusster und, aus der Kenntnis der Vergangenheit, verantwortlicher umzugehen.
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Walter, Bruno: Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1973 (1950) Wehle, Peter: Sprechen Sie Wienerisch? Von Adaxl bis Zwutschkerl, Wien: Ueberreuter 2003 (1981) Weigl, Andreas: „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder, Peter Eigner, Andreas Resch, Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck u.a.: Studienverlag 2003, S. 141–200 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela Schneider, Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln: Wienand 1997, S. 67–90 Welz, Gisela: Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffs in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1994, S. 66–81 Werfel, Franz: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge, München/Wien: Langen Müller ²1975 Werfel, Franz: Die kulturelle Einheit Böhmens, in. ders., Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge, München/Wien: Langen Müller ²1975, S. 317–321 Werfel, Franz: Warum haben Sie Prag verlassen?, in: ders., Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge, München/Wien: Langen Müller ²1975, S. 592 Werner, Michael, Bénédicte Zimmermann: Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: Michael Werner, Bénédicte Zimmermann (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris: Seuil 2004, S. 15–49 Wiewiorka, Michel (Hg.): Une société fragmenté? Le multiculturalisme en débat, Paris: La Découverte 1996 Winter, Eduard: Wahlrechtsreform und Wahlen in Triest 1905–1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie, München: Oldenburg 2000 Wirth, Uwe: Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung, in: ders. (Hg.), Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2008, S. 9–67 Wittner, Otto (Hg.): Briefe aus dem Vormärz. Eine Sammlung aus dem Nachlaß Moritz Hartmanns, Prag: Calve 1911 (= Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen, Mähren und Schlesien Bd. 30) Wolfram, Herwig: Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien: Kremayr & Scheriau 1987
406
literaturverzeichnis
Wolfram, Herwig: Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien: Ueberreuter 1995 Wytrzens, Günther: Die Herausbildung eines Nationalbewußtseins bei den in Wien ansässigen Slaven und die Wiener Slavenpresse, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 17–36 Wytrzens, Günther: Sprachkontakte in der Dichtung. Zweisprachige Autoren im Alten Österreich, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 65–74 Wytrzens, Günther: Prinzipien nationaler und übernationaler Literaturgeschichtsschreibung in Österreich von 1800 bis 1918, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 75–91 Wytrzens, Günther: Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher Sprache, in: ders., Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en), hg. von Fedor B. Poljakov und Stefan Simonek, Bern u.a.: Peter Lang 2009, S. 227–237 Yavetz, Zvi: Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten, München. C. H. Beck 2007 Zand, Helene: Die Moderne. Ein Beitrag zur Bestimmung des Begriffs bei Hermann Bahr, Max Burckhardt und Richard Muther, Graz: Ms. Phil. Diplomarbeit 1991 Zawada, Andrzej: Niederschlesien. Land der Begegnung, Dresden: Thelem 2005 Zeitlhofer, Hermann: Tschechien und Slowakei, in: Klaus J. Bade, Peter C. Emmer u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a.: F. Schöningh 2007, S. 272–287 Zernack, Klaus: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München: C. H. Beck 1977 Zsidó Lexikon (Jüdisches Lexikon), hg. von Ujvári Péter, Budapest: Zsidó Lexikon 1929 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. Main: S. Fischer 1982
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Personenverzeichnis Adler, Alfred 189 Adler, Familie 243 Adler, Max 183 Adler, Viktor 150, 158, 160, 162, 256, 258, 259, 260 Adorno, Theodor W. 190, 238, 239, 240, 254, 336 Ady, Endre 32, 33, 41, 185 Anm. 154, 287 Agnelli, Arduino 49 Albrecht V. (II.), Erzherzog, deutscher König 51 Altenberg, Peter 196, 357 Anders, Günther 323, 326 Andrássy, Julius Graf 298 Apih, Elio 49 Appadurai, Arjun 22, 225 Arany, János 299 Arnsteiner, Familie 261 Ascher, François 26 Assmann, Aleida 104, 109 Augé, Marc 209 Augustinus, Aurelius 98 Ausländer, Rose 295 Axentowicz, Teodor 218 Babejová, Eleonóra 304 Anm. 60, 306 Bacheracht, Therese, von 216 Bachmann-Medick, Doris 56 Bachtin, Michail 105 Badeni, Kasimir (Kazimierz) Graf 123, 142, 263 Baeck, Leo 323 Bahr, Hermann 23, 44, 45, 48, 71, 82, 152, 157, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 177, 194, 194 Anm. 185, 196, 218, 219,
232, 233, 238, 261, 282, 299, 300, 329, 351, 357, 358 Bajza, József 281 Bajza, Lenke s. Beniczkyné Balázs, Béla 15, 182, 183, 185, 186, 187, 187 Anm. 162, 188, 189, 190, 191 Balzac, Honoré de 26 Barbusse, Henri 189 Báróczi, Sándor (Alexander) 224 Bartók, Béla 14, 15, 16, 16 Anm. 4, 17, 70, 182 Baudelaire, Charles 25, 26, 167 Bauer, Otto 78, 183 Bauer, Verena 336 Bauernfeld, Eduard von 268, 363 Bauman, Zygmunt 100 Beck-Gernsheim, Elisabeth 118 Beethoven, Ludwig van 234, 240, 252 Begović, Milan 193, 194, 194 Anm. 185 Béla IV., ungarischer König 51 Beller, Steven 244, 245, 246, 248, 257 Beniczkyné Bajza, Lenke 281 Benjamin, Walter 21, 26, 27, 106, 124, 227 Benkert, Karl s. Kertbeny, Károly Berg, Alban 196, 239 Bergmann, Hugo 337 Anm. 155 Bernays, Jacob 323 Bernolák, Ján 279 Berzeviczy, Gregor von 79 Berzsenyi, Dániel 281 Bessenyei, György (Georg) 224, 225 Bettauer, Hugo 196 Bhabha, Homi K. 108, 109 Anm. 47, 344
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Personenverzeichnis
Bhatti, Anil 94, 96, 348 Bibó, István 58, 59 Binder, Hartmut 341 Birnbaum, Nathan 313 Blei, Franz 188, 196 Bloch, Ernst 183 Bloch, Joseph Samuel 244 Blume, Hermann 282 Anm. 18 Blumenstock, Henrik 161 Bod, Peter 79 Bourdieu, Pierre 99 Bourget, Paul 30 Brahms, Johannes 147, 234, 239, 240, 300 Braudel, Fernand 62, 121 Braun, Heinrich 162, 260 Brentano, Franz 337 Březina, Otokar 219 Brix, Emil 314 Anm. 91 Broch, Hermann 35, 35 Anm. 42 Brod, Max 191, 329, 331, 333, 335, 338, 339, 343, 345 Bronnen, Arnolt 191 Bruck, Karl Ludwig von 40, 57 Burckhard, Max 218 Burke, Peter 341 Byron, George 131, 301
Césaire, Aimé 207 Charmatz, Richard 183, 246 Chmelenský, Ladislav 176 Chvatík, Květoslav 333, 342 Claricini, Vera 198 Clarke, Kevin 255 Cohen, Hermann 323 Cohn, Familie 323 Cohn, Ferdinand 323 Corbea-Hoisie, Andrei 310, 344 Coudenhove-Kalergi, Richard 47, 82 Csaplovics, Johann von 82, 83, 225 Csokonai Vitéz, Mihály 281 Čuchalová, Anna 338 Cybulski, Wojciech 322 Czeike, Felix 152 Czernin, Eugen Karl Graf 147 Czernin, Jaromír Franz Graf 147 Czwittinger, David 79
Calderón de la Barca, Pedro 71 Cankar, Ivan 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 204, 205, 208, 316, 320 Cassirer, Familie 323 Castle, Eduard 162 Čechov, Anton Pavlovič 177 Čelakovský, František Ladislav 322 Celan, Paul 310, 314 Čeremšyna, Marko 201 Cergoly, Carolus L. 319 Certeau, Michel de 19
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Dalinger, Brigitte 249 D’Annunzio, Gabriele 158 David, Josef 339 Davies, Norman 321, 323 Dębicki, Stanisław 318 Deleuze, Gilles 108 Demant, Charlotte 184 Demetz, Peter 330 Déry, Tibor 182, 182 Anm. 149 Dessauer, Josef 152 Dežman, Milivoj 192 Diamant, Max 313 Dóczi, Moritz s. Dux Dóczy, Lajos (Ludwig) von 300, 301, 302 Doderer, Heimito von 72 Duczynska, Ilona 184, 187 Durkheim, Émile 184 Dux (Dóczi), Moritz 301
Personenverzeichnis
Dyk, Viktor 141 Eagleton, Terry 245 Economo, Constantin 318 Economo, Demetrio 318 Economo, Leo 318 Economo, Sophie 318 Ehrenfels, Christian von 337 Eisemann, György 291 Eisler, Hanns 184, 188 Eisner, Pavel (Paul) 335 Ekielski, Władysław 220 Elias, Familie 323 Elischer, Balthasar 282 Anm. 18 Engel, Johann Christian 79, 224 Engels, Friedrich 25, 78, 227 Eötvös, József (Josef ) von 288 Erkel, Ferenc (Franz) 147 Escher, Georg 330 Eskeles, Familie 261 Eugen, Prinz von Savoyen 102 Ezechiel, Prophet 131 Faber, Richard 150 Fabiani, Maks (Max) 195 Fábri, Anna 146 Anm. 58, 181 Fadrusz, Ján (János) 308 Fałat, Juljan 218 Fanta, Otto 337 Fechner, Gustav 161 Fekete, Johann Graf 269 Felder, Cajetan 136 Feldmann, Else 189 Fellner, Ferdinand 311 Ferdinand I., Kaiser 70 Ferstel, Heinrich 220 Festetics, Karl Albert Graf 280 Feuchtersleben, Ernst von 280 Finscher, Ludwig 239
Fischer, Wladimir 138, 200 Flaker, Alexandar 195 Foerster, Josef Bohuslav 149 Fontana, Oskar Maurus 196 Forgách, Ludwig Graf 147 Anm. 59 Foucault, Michel 149, 171, 209, 265 Franko, Ivan 160, 161, 199, 202 Franz Ferdinand, Erzherzog 195 Franz Joseph, Kaiser 176, 181, 305, 311 Franz Stephan von Lothringen, Kaiser 71 Franzos, Karl Emil 311, 344 Fredro, Aleksander 324 Freud, Familie 243 Freud, Sigmund 33, 97, 98, 132, 141, 158, 323, 366 Freudenthal, Jacob 323 Fried, István 287, 288, 292 Friedjung, Heinrich 43, 44, 45, 158, 162 Friedländer, Otto 134, 150, 168, 196 Friedrich III., Kaiser 52 Frischauf, Hermann 188 Frith, Simon 99, 112, 113 Frey, Friedrich 150 Fuchs, Eduard 166 Füredy, László 289 Fürth, Emil von 150 Gábor, Andor 182 Galle, Johann 323 Gauchet, Marcel 34 Geertz, Clifford 95, 96, 100, 101, 119 Genersich, Johann 79 Glauninger, Manfred Michael 293 Glettler, Monika 137, 139, 140, 169 Gluck, Christoph Willibald 221 Goethe, Johann Wolfgang von 131, 300, 363 Goffman, Erving 99
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Personenverzeichnis
Goldmark, Carl 162, 205, 300 Goldscheid, Rudolf 183 Goldziher, Ignaz 323 Gombrich, Ernst H. 29, 252, 253, 256, 261 Gomperz, Familie 29 Goněc, Vladimír 46 Gor’kij, Maksim 158 Gracián, Baltasar 71 Graetz, Heinrich 323 Greenblatt, Stephen 100, 193 Grillparzer, Franz 71, 280, 281, 283, 284, 349 Grossberg, Lawrence 112 Gruber, Max 150 Grünberg, Karl 183 Guattari, Félix 108 Guglia, Eugen 233 Gürke, Norbert 143 Gumplowicz, Ludwig 184 Gutmann, Familie 29 Habermas, Jürgen 190 Hainisch, Michael 135, 150, 158, 162 Halecki, Oskar 53, 58, 60, 61 Hall, Stuart 19, 29, 30, 93, 94, 98, 105, 207, 362 Halpern, Olga 184 Hammer-Purgstall, Joseph von 84, 131, 280 Hamuljak, Martin 289 Hantos, Elemér 45, 46, 46 Anm. 19 Harrach, Johann Graf 139, 147 Hartleben 280 Hartmann, Eduard von 141 Hartmann, Moritz 33 Hašek, Jaroslav 152, 339 Hatvany, Lajos (Ludwig) 185, 191 Hauptmann, Carl 158
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Hauser, Arnold 183 Haushofer, Albrecht 42 Haushofer, Karl 42 Havlíček-Borovský, Karel 155 Havránek, Jan 328 Haydn, Joseph 234, 240, 252 Hecht, Hugo 339, 339 Anm. 165 Heckenast, Gustav 281, 281 Anm. 18, 282, 283, 284 Heiszler, Vilmos 277, 285 Heller, Ludwik 175 Anm. 131 Helmer, Hermann 311 Heltai, Jenő 297 Herczeg, Ferenc (Franz) 158, 181 Herder, Johann Gottfried 59, 94, 95 Herlassohn, Karl 321 Hitler, Adolf 43 Hodža, Michal Miloslav 255 Hodža, Milan 47, 62 Hofmannsthal, Hugo von 23, 31, 35, 35 Anm. 42, 44, 45, 48, 71, 72, 82, 130, 131, 132, 133, 158, 161, 164, 196, 209, 214, 219, 237, 238, 244, 245 Holzner, Karl 337 Hönig, Familie 261 Horel, Catherine 278, 297 Horkheimer, Max 190 Hormayr, Joseph von 77, 224 Hornung, Maria 236 Horthy, Miklós (Nikolaus) 185, 191 Horváth, Ödön von 358 Hostinský, Otakar 176 Hoyos, Familie 70 Huch, Ricarda 321 Hugo, Victor 131 Hurban, Jozef Miloslav 308 Hynais, Vojtech 218 Hýsek, Miloslav 217
Personenverzeichnis
Ibsen, Henrik 158 Ifkovits, Kurt 163 Illyés, Gyula 182 Iorga, Nicolae 313 Jäger, Ludwig 104 Jagić, Vatroslav 160 Jameson, Frederic 245 Jászi, Oszkár 41, 86, 183, 185, 186, 187, 191, 211, 276 Jauner, Franz 300 Jaworski, Rudolf 58, 166 Joachim, Joseph 205, 301 Jodl, Friedrich 158 Johannes von Capestrano 322 John, Michael 136, 140, 242, 257 Jókai, Mór (Maurus) 281, 288, 300, 346 Joseph II., Kaiser 67, 208, 223, 283 József, Attila 182, 183, 186 Kafka, Franz 330, 331, 332, 336, 337, 338, 339, 340, 342, 343, 344, 345, 362 Kafka, Heřman 338 Kafka, Julie 338 Kafka (David), Ottla 339 Kainzl, Josef 159 Kaiser, Friedrich 250 Kalbeck, Max 300 Kálmán, Emmerich 182, 205, 253, 263, 267, 360 Kanner, Heinrich 157, 158, 160 Kapuściński, Rychard 91 Karadžić, Vuk Stefanović 155, 279 Karásek, Josef 148, 151, 152, 155, 157 Karásek ze Lvovic, Jiři 164 Karinthy, Frigyes 297 Karl VI., Kaiser 70 Károlyi, Árpád 301 Károlyi, Caroline Gräfin 147
Kassák, Lajos (Ludwig) 182, 186 Kerekes, Amália 190 Kertbeny, Károly (Benkert, Karl) 282 Anm. 18, 286 Kertész, Imre 359 Khuen-Héderváry, Károly (Karl) Graf 193 Kisch, Egon Erwin 338 Kisfaludy, Károly 281, 288 Kleiber, Erich 337 Klemperer, Otto 337 Klimesch 151 Klimt, Gustav 196 Klofač, Vaclav 178 Klopstock, Robert 331, 332, 340 Klostermann, Karel 201 Kodály, Zoltán 15, 16, 70 Koestler, Arthur 182, 287, 359 Kohl, Johann Georg 311 Kohn, Abraham 161 Kohn, Gotthilf 161 Kokoschka, Oskar 68, 196 Kölcsei, Ferenc 281, 288 Kolisko, Rudolf 142 Kollár, Ján 155, 289 Komját, Aladár 182 Konody, Max 211 Kopitar, Jernej 195 Korff, Gottfried 24 Korngold, Erich Wolfgang 196 Kosztolányi, Dezső 297, 298 Kracauer, Siegfried 254 Kramař, Karel 159 Kraus, Karl 35, 35 Anm. 42, 158, 253, 254, 255 Kreitner, Leopold B. 337 Anm. 155, 338, 338 Anm. 158, 338 Anm. 159 Krejčí, František Václav 159 Krofta, Václav Karel 339 Anm. 162
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Personenverzeichnis
Krúdy, Gyula 146 Anm. 58, 181, 297 Kuh, Anton 267 Kühne, Gustav 221 Kulka, Georg 187 Kundera, Milan 63, 201 Kunitake, Kume 85 Kürnberger, Ferdinand 232 Kurz, Vilém 136 Kuzmány, Karol 155 Kvapil, Jaroslav 45, 177, 343
Ludwig I., ungarischer König 51 Ludwig II., ungarischer König 52 Ludwig XVI., französischer König 213 Lueger, Karl 140, 176, 177, 263 Luft, Robert 335, 341 Luhmann, Niklas 92 Lukács, Georg (György) 31, 182, 183, 185, 186, 188, 190, 191, 287 Lyotard, Jean-François 33, 34, 35, 366, 367
Laclau, Ernesto 30 Lanckoroński, Karl Graf 162 Landerer 280 Lazar, Maria 184 Le Goff, Jacques 19 Lehár, Franz 182, 196, 205, 250, 253, 254, 263, 317, 360 Léon, Victor 250, 299, 300 Leopold I., Kaiser 326 Leppin, Paul 337 Le Rider, Jacques 37, 47 Lesznai, Anna 183 Lévi-Strauss, Claude 126 Levy, Daniel 121, 365 Anm. 42 Lichtblau, Albert 136, 140, 257, 263 Lindau, Carl 299 Lipiner, Siegfried 150, 161, 162, 260, 300 List, Friedrich 57 Liszt, Franz 147 Litván, György 191 Loewy, Hanno 191 Loos, Adolf 35, 35 Anm. 42, 158, 196 Lorens, Carl 264 Lorm, Hieronymus 283 Lotman, Jurij M. 118, 238 Löw, Martina 55 Löwenstein, Hans Otto 188 Löwy, Julius 168, 263
Mach, Ernst 23, 35, 35 Anm. 42 Machar, Josef Svatopluk 139, 148, 152, 153, 154, 157, 159, 160, 163, 164, 201, 208, 209, 227, 302 Madách, Imre 299 Maeterlinck, Maurice 158 Magocsi, Paul Robert 328 Anm. 128 Magris, Claudio 57, 319 Mahler, Gustav 149, 162, 239, 243, 260 Mailáth, Johann Graf 79, 224, 280 Maior, Petru 279 Malczewski, Jacek 218 Malinowski, Bronislaw 99, 100, 117 Mallarmé, Stéphane 158 Mann, Heinrich 158 Mann, Thomas 158 Mannheim, Karl 183, 190 Mannová, Elena 326 Márai, Sándor 181 Mareta, Hugo 260 Maria Theresia, Kaiserin 224, 308 Marold, Luděk 218 Marr, Wilhelm 245 Márton, József (Josef ) 223 Marty, Anton 337 Marx, Karl 33, 78, 124 Masaryk, Tomáš G. 41, 42, 148, 158, 162, 179
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Mátrai, László 64 Matthias, Kaiser 70 Matthias Corvinus, ungarischer König 51, 52 Maupassant, Guy de 158 Maurocorda, Familie 131 Maximilian II., Kaiser 70 Mayer, Emil 209 Mayreder, Rosa 183 McGrath, William J. 260 McLuhan, Marshall 104 Mehoffer, Józef 218, 219 Meinl, Julius 45 Meißner, Alfred 33 Meißner, August Gottlieb 33 Měšťan, Antonín 337, 338 Meštrović, Ivan 218 Metastasio, Pietro 73 Michaelis, Karin 187 Mickiewicz, Adam 160, 162 Miklosich (Miklošič), Franz (František) 155 Mikszáth, Kálmán 290, 291 Mitchell, Sandra 125, 126 Mitterbauer, Helga 202 Mocsáry, Lajos 352 Modigliani, Amedeo 68 Moissi, Alexander 187 Molnár, Franz (Ferenc) 158, 191, 206, 213, 297 Morgenstern, Soma 188 Moser, Lottelis 158 Mozart, Wolfgang Amadeus 234, 239, 240, 252 Mrštík, Alois 177 Mrštík, Vilém 177 Mucha, Alfons M. 218 Müller, Robert 188 Murko, Matija 160
Musil, Robert 22, 23, 24, 30, 32, 35, 35 Anm. 42, 44, 67, 97, 133, 188, 191, 196, 235, 236, 252, 309, 349, 363, 364, 366 Nagy, Endre 298 Napoleon III., französischer Kaiser 254 Naumann, Friedrich 40, 41, 42, 43, 44, 57 Necker, Jacques 213 Nedbal, Oskar 205 Nedvědová, Marie 338 Nekula, Marek 339 Németh, Andor 182, 183, 359 Németh, László 59 Neruda, Jan 157 Nestroy, Johann 25, 26, 72, 237, 238, 250 Neubauer, John 43 Neumann, Karl Eugen 132 Neurath, Otto 189 Nicolai, Friedrich 74, 221, 222 Niederhauser, Emil 208 Niedzielski, Juljan 220 Nietzsche, Friedrich 30, 32, 94, 157, 162 Nistor, Ion 313 Noiriel, Gérard 129 Nüll, Eduard van der 220 Obad, Vlado 289 Oberhummer, Eugen 233, 234 Offenbach, Jacques 72, 72 Anm. 60, 115, 253, 254, 301 Ofner, Julius 150, 158 Ohmann, Bedřich 218 Orlik, Emil 218 Ormós, Zsigmond 180 Pabst, Georg Wilhelm 188
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Personenverzeichnis
Paderewski, Ignacy 42 Palacký, František 147, 155 Pándi, Lajos 60 Paoli, Betty 280, 282, 284 Pappenheim, Marie 188 Pascotini-Juriskovič von Hagendorf und Ehrenfels, Familie 207 Peirce, Charles Sanders 116 Penderecki, Krzysztof 107 Permuda, Loris 318 Pernerstorfer, Engelbert 150, 158, 160, 256, 257, 259, 260 Petőfi, Sándor 189, 281, 282 Anm. 18, 286 Petr, Pavel 334 Pezzl, Johann 171, 172, 173, 226, 227, 261, 262, 264, 265 Philippovich, Eugen von 158 Pick, Otto 335 Pieterse, Jan Neverdeen 20, 21, 92, 117 Pilar, Ivo 192 Pirner, Maximilián 218 Platon 98, 115 Plečnik, Jože (Josef ) 195, 218 Podmaniczky, Frigyes 146 Pohl, Johann Wenzel 223 Polányi, Karl (Károly) 183, 184, 185, 187, 188, 190, 191 Polgar, Alfred 191, 213, 235 Pollak, Oskar 331 Posnanski, Adolf 323 Pötzl, Eduard 178 Přemysl Otakar II., böhmischer König 51 Prešeren, France 195 Pressler, Gertraud 165, 261 Procházka, Arnošt 164 Przesmycki, Zenon 161 Przybyszewski, Stanisław 25, 161 Purkyně, Jan Evangelista 82, 83, 84
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Radics, Peter 80 Raimund, Ferdinand 72 Rajnoch, Karl 155 Randeria, Shalini 20, 76 Redlich, Josef 158, 183 Reichensperger, Richard 237, 355 Reinhardt, Max 177 Renner, Karl 85, 144, 161, 183 Rezzori, Gregor von 68, 296, 310 Rheinhardt, Emil Alphons 187 Riesbeck, Kaspar 227, 228 Rilke, Rainer Maria 158, 337 Rioux, Jean-Pierre 87 Rittner, Tadeusz 175 Anm. 131, 201, 202, 298, 299, 301, 302, 356, 357, 357 Anm. 26, 358 Robertson, Roland 34 Roepell, Richard 322 Roland, Ida 187 Roland, Romain 189 Rosty (Rosthy) von 147 Rosegger, Peter 281, 282 Roth, Joseph 71, 181, 191, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 352, 353, 355 Rothschild, Familie 29 Rotteck, Carl von 81, 82 Rovan, Joseph 39 Rozenblit, Marsha L. 241 Anm. 305, 243, 248, 258 Rubens, Peter Paul 252 Rudolf II., Kaiser 70 Rumy, Karl Georg (Károly György) 289 Rushdie, Salman 106, 107, 109 Rychlo, Peter 310, 312 Saba, Umberto 319 Šafařík, Pavel Josef (Pavol Jozef ) 155, 279 Said, Edward 119, 229 Salamanca, Familie 70
Personenverzeichnis
Šalda, František Xaver 139, 159 Salomé, Lou 158 Salten, Felix 209, 212, 213, 216, 230 Anm. 280, 250 Salus, Hugo 337 Saphir, Moritz Gottlieb 255 Sartori, Franz von 77 Saussure, Ferdinand de 33 Schiele, Egon 196 Schiller, Friedrich 300 Schmidl, Stefan 317 Anm. 99 Schnitzer, Ignaz 300 Schnitzler, Arthur 149, 150, 158, 188, 189, 246, 247, 248, 251, 300, 357 Schönberg, Arnold 35, 35 Anm. 42, 188, 239, 240, 251 Schopenhauer, Arthur 71 Schubert, Franz 234, 239 Schwarz, Egon 57 Schwarz, Wolfgang 324 Schwarzenberg, Felix Fürst 40 Schwarzwald, Eugenie 187 Sekera, Martin 140 Šembera, Alois Vojtěch 155 Sembratovyč, Roman 161 Senghor, Leopold 207 Sennett, Richard 34 Servaes, Franz 230, 230 Anm. 279, 231, 232, 233 Shakespeare, William 177 Shaw, George Bernard 158 Shusterman, Richard 112 Sicard von Sicardsburg, August 220 Sigismund von Luxemburg, Kaiser 51 Simmel, Georg 25, 26, 56 Simonek, Stefan 149, 153, 163, 198, 201, 208, 209, 302 Sina, Familie 131, 230 Singer, Isidor 157, 158, 160
Slataper, Scipio 316, 318, 319 Smetana, Bedřich 175, 335 Smolka, Franciszek 161 Sombart, Werner 230, 230 Anm. 280 Sova, Antonín 219 Spencer, Herbert 184 Srbik, Heinrich von 42, 43, 51, 57 Stachel, Peter 221 Staël, Germaine de 213, 214, 215, 228, 229 Stanislavskij, Konstantin S. 177 Stanisławski, Jan Grzegorz 218 Štefánik, Milán Rastislav 308 Stein, Edith 323 Stein, Familie 323 Stein, Lorenz von 57 Steinrück, Elisabeth 247 Stelzhammer, Franz 280. 282 Stern, Familie 323 Stern, William 323 Sternberg, Hermann 312 Stifter, Adalbert 21, 71, 96, 114, 215, 216, 217, 237, 264, 280, 281, 218 Anm. 18, 284, 355 Strache, Eduard 187 Straus, Oscar 196 Strauß, Johann Vater 145, 146, 168 Strauß, Johann Sohn 145, 146, 147, 168, 234, 255, 299, 300 Strindberg, August 158 Štúr, L’udivít 155, 308 Suppan, Arnold 40 Svevo, Italo 319 Szabolcsi, Bence 15, 16, 17, 70 Szabolcsi, Miklós 186 Szarvas, Nora 289 Szczepański, Ludwik 161 Széchen, Anton Graf 122 Széchenyi, Stephan Graf 146, 147, 286, 288
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Personenverzeichnis
Szekcö, Thomas 305 Szép, Ernő 297 Sziklay, László 287 Sznaider, Natan 121, 365 Anm. 42 Szűcs, Jenő 58, 63 Szymanowski, Wacław 218
Weber, Max 98 Webern, Anton 239 Weigl, Andreas 137, 270 Welcker, Carl 81, 82 Wellesz, Egon 188 Wenckheim, Béla Graf 147 Anm. 59 Wenzig, Josef 335 Werfel, Franz 332, 335, 337, 338 Werndorff, Oskar Friedrich 188 Wernerová, Marie 338 Wertheimstein, Familie 29 Wetzlar, Familie 261 White, Hayden 18 Wilde, Oscar 158 Winter, Max 197 Wirth, Uwe 89 Wittelshöfer, Otto 150 Wittgenstein, Ludwig 35, 35 Anm. 42, 245 Wladislaw II., böhmischer König 51 Władysław III., polnischer König 51 Wodianer, Familie 29 Wyczółkowski, Leon 218 Wyspiański, Stanisław 218 Wytrzens, Günther 156, 160, 287, 302
Tancer, Jozef 305 Tardieu, André 46 Tetmajer, Kazimierz 158 Tetmajer, Włodzimierz 218 Teubner, Richard 175 Thallóczy, Lajos 301 Ther, Philipp 54 Tietze, Hans 220, 242, 251, 253, 257 Timms, Eduard 150 Todesco, Familie 29 Tolstoj, Lev 158 Trattner 223, 280 Trollope, Frances 229 Uitz, Béla 182 Umlauft, Friedrich 80, 351, 353 Vajda, György M. 63, 192 Velasquez, Diego 252 Vitkovics (Vitković), Mihály (Mihailo, Michael) 288 Vogl, Johann Nepomuk 282 Vojnović, Ivo (Ivan) 194, 194 Anm. 185 Vojnović, Lujo 194 Anm. 185 Vörösmarty, Mihály 288, 299 Vrchlický, Jaroslav 219 Vukelich, Wilma von 194, 232, 233, 263
Ypsilanti, Familie 131 Zand, Helene 158 Zawada, Andrzej 325 Zawiejski, Jan 220 Zemanová, Marie 338 Zemlinsky, Alexander von 188 Zernack, Klaus 54 Zeyer, Julius 159 Zítek, Josef 220 Župančič, Oton 196 Zweig, Arnold 320 Zweig, Stefan 44, 149, 158, 196, 234, 251, 252, 256, 257, 258
Wagner, Otto 158, 195, 196, 218, 220 Wagner, Richard 71, 339 Waissnix, Familie 187 Walter, Bruno 162, 260
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