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German Pages 88 [92] Year 1947
LEIBNIZ ZU SEINEM 300. GEBURTSTAG 1646 — 1 9 4 6 MIT BEITRÄGEN VON : E. BENZ, W. CONZE, I. DÖHL, K. DÜRR, TH. HAERING, N. HARTMANN. E. HOCHSTETTER, J . E . HOFMANN, R. F. MERKEL, K. RE IDEMEISTER, J. STEUDEL U.A. H E R A U S G E G E B E N VON E. H O C H S T E T T E R
LIEFERUNG 2
LEIBNIZ UND PETER DER GROSSE Der Beilrag Leibnizens zur russischen Kultur, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit VON ERNST BENZ
WALTER DE GRUYTER & CO. / BERLIN 19 4 7
LEIBNIZ ZU SEINEM 300. GEBURTSTAG 1646 — 1946 MIT BEITRÄGEN VON : E. BENZ, W. CONZE, I. DÖHL, K. DÜRR, TH. HAERING, N. HARTMANN, E. HOCHSTETTER, J. E. HOFMANN, R. F. MERKEL, K. REIDEMEISTER, J. STEUDEL U. A. HERAUSGEGEBEN
YON E. H O C H S T E T T E R
Aus der Einleitung: „. . . Ohne einen Ersatz f ü r die n u r im Geiste eines Einzelnen gestaltbare Monographie geben zu wollen, w e r d e n wir die Weltanschauung u n d das W e r k dieses umfassenden Denkers auf den verschiedenen Gebieten, die er beherrschte, von heute auf diesen Gebieten jeweils f ü h r e n d e n und n a m h a f t e n V e r t r e t e r n z u r Darstellung bringen lassen: Seinen Glauben und seine Stellung zu den christlichen Konfessionen, seine Logik, seine Mathem a t i k , seine E r k e n n t n i s t h e o r i e , seine Psychologie, Metaphysik, Dynamik, Anthropologie u n d Ethik, seine Leistungen als Jurist, Historiker, Politiker, Sprachforscher, Techniker und Organisator d e r wissenschaftlichen Arbeit sowie sein W i r k e n f ü r die Medizin und das Sanitätswesen. Die bedeutsamen Fragen seiner Voraussetzungen in der philosophischen Tradition und seines Nachwirkens im deutschen Geist werden behandelt werden. Spezialuntersuchungen w e r d e n u. a. die Entwicklung seiner Mathematik in Paris, seine Beziehungen zu P e t e r dem Großen und seine Stellung zu China schildern. Ale späterer Abschluß ist eine Bibliographie vorgesehen." Das W e r k wird zunächst in Lieferungen erscheinen, die später sadhlich geordnet in B a n d f o r m zusammengefaßt werden sollen.
WALTER DE GRUYTER & CO. / BERLIN VORMALS
G. J . GÖSCHEN'SCHE
VÊRLAGSHANDLUNG
/
J . GUTTENTAG
VERLAGSBUCHHANLUNG / GEORG REIMER / KARL J . TRÜBNER / VEIT & COMP. Archiv-Nr. 420247
LEIBNIZ UND PETER DER GROSSE Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit VON
ERNST BENZ M o t t o : „ I c h gehe auf den Nutzen des gantzen menschlichen Geschlechts, und ist mir lieber bey den Russen viel Guthes auszurichten als bey den Teutschen oder andern Europäern wenig, denn meine Neigung und Lust geht aufs gemeine Beste." (Leibniz, 16. Jan. 1712.)
Es gehört zu den ehrenwerten Gepflogenheiten, das Andenken großer Männer zumal in Zeiten ihrer Jubiläen dadurch zu ehren, daß man ihre Stellungnahme zu den verschiedenartigsten Lebensfragen erhellt und sie für die mannigfaltigsten Gebiete des Daseins als Beispiele hinstellt, die der sie bewundernden Gegenwart sei es durch unmittelbare Vorbildlichkeit, sei es durch die von ihnen ausgehende Nötigung zu einer Auseinandersetzung mit aktuellen Lebensproblemen als maßgeblich erscheinen sollen; ist es doch oft genug ein Trost auch für die Verfechter offensichtlicher Irrtümer, sich auf klassische Musterbeispiele unter den Heroen der Geschichte berufen zu können. Bei dieser Art von Ehrungen ist häufig die Sticht, den zu ehrenden Heroen zu möglichst vielen und möglichst aktuellen Problemen in Beziehung zu setzen, größer als die Bereitwilligkeit des historischen Stoffs, diesem Wunsch zu Diensten zu sein, und sowohl die Goethe- wie die Hölderlin- und LutherEhrungen haben Musterbeispiele von Themen aufzuweisen, in denen mit Hilfe eines mehr oder minder kühnen Anachronismus der Problemstellung und sogar unter Anwendung einer unbedenklichen Vergewaltigung die beklagenswerten Toten zum Zweck ihrer angeblichen Ehrung mit den seltsamsten Themen in Verbindung gebracht werden, nur um zu beweisen, daß sie auch dazu etwas zu sagen gewußt hätten. Auch das vorliegende Thema: Leibniz und Rußland scheint von der Art zu sein, daß man sich fragen kann, ob durch seine Behandlung der Ruhm Leibnizens auch nur die geringste Steigerung erfahren möchte. Leibniz ist eine derartig universale Gestalt, daß es gewissermaßen a priori anzunehmen ist, daß Leibniz (Benz)
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er sich irgendwann und irgendwo in seinem umfangreichen Lebenswerk über das Problem Rußland geäußert hat, wie er sich auch über China, Abessinien oder Amerika äußerte, und es wird schwerlich ein Land der Erde geben, das in der Kultur und Politik seiner Zeit eine Rolle spielte und zu dessen Problemen er nicht in irgend einem Zusammenhang Stellung genommen hätte. Von allen Beziehungen Leibnizens zu außereuropäischen Ländern scheinen aber nach dem traditionellen Schema der Leibnizfo,rschung allein die Beziehungen zu China insofern eine Beachtung zu verdienen, als Leibniz durch seine Beschäftigung-mit der chinesischen Kultur und durch seine Anteilnahme an der Ausbreitung der christlichen Mission auf chinesischem Boden nicht nur seine eigenen Bildungs-Ideen außerordentlich bereichert, sondern auch die ganze Kultur seiner Zeit aufs stärkste beeinflußt hat. Demgegenüber scheint die Bedeutung seiner Beziehungen zu Rußland völlig zurückzutreten. Tatsächlich ist auch die Stellung Leibnizens zu Rußland bisher kaum Gegenstand einer grundsätzlichen Betrachtung geworden, obwohl die ältere Leibnizforechung bereits darauf hingewiesen hat, daß seinen russischen Beziehungen eine gewisse Bedeutung in seinem Leben und in der Entwicklung seines Bildungeprogramms zuzukommen scheint1. Die Untersuchungen von Bittner haben allerdings eine bemerkenswerte Aufhellung seiner Auseinandersetzungen mit dem elavischen Osten gebracht2. Auch hat von den neueren Forschern besonders Baruzi den Beziehungen Leibnizens zu Peter dem Großen eine erhebliche Bedeutung zugeschrieben3. Aber diese Erkenntnisse sind 1 Ältere Literatur: Poeselt: Peter der GroBe und Leibniz, Dorpat und Moskau 1843; W. Guerrier: Leibniz i ego vjek (Leibniz und seine Zeit), russisch, Moskau 1868. Die wichtigste Dokumentensammlung und Darstellung bei W. Guerrier: Leibniz in seinen Beziehungen zu RuBland und Peter dem Großen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften. St. Petersburg und Leipzig 1873. Dieses Werk enthält den Abdruck von Urkunden und Auszügen aus Briefen Leibnizens, die RuBland betreffen und die den entsprechenden Konvoluten des Leibniz-Nachllieeet· ans der Landeebibliothek von Hannover entstammen, vor allem den Bänden RuBland ms. X X X I I I , 1749 und Polen n>s. X X X Í V , 1778. 2 Konrád Bittner: Slavica bei G. W. von Leibniz, in: Germanoslavica, Jg. I , Heft 1 und I g . I, Heft 2, 1931—32. Der spätere Aufsatz von K." Bittner war mir bis jetzt nicht zugänglich. 1 Jean Baruzi: Leibniz et l'organisation religieuse de la terre d'après des documente inédite, Paris 1907, dort vor allem ch. I I I : Pierre le Grand, S. 166—176. Baruzi stützt sich auf eine neuere Publikation von Akten, die Leibnizens Beziehungen zu RuBland betreffen: Korespondencya Kochanskiego i Leibniza wedlug odpisów D.ra - E. Bodemann ζ oryginalów, znajdujacych sie w Bibliotece Królewskiej ν Hanowerze, po raz pierwszy podana do druku przez S. Dicksteina in: Prace mafematycno-fizyczne, Warszawa torn. X I I , p. 225—278, 1901; torn. XIII, p. 237—284, 1902. Die genannte Aktenpublikation stützt siih auf dasselbe Material, das auch Guerrier vorlag, briilgt aber mehr Briefe zum Abdruck, die das Verhältnis Leibnizens zu Polen betreffen, zum Teil bringt sie auch Briefe, die Guerrier nur in Auszügen abdruckt, im vollständigen Text. Leider ist es zur Zeit in Deutschland unmöglich, die genannte Publikation zu erhalten. Die Zitate bei Baruzi zeigen aber, daB sie für das Verhältnis
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noch nicht in das gegenwärtige Geschichtsbild von der Person und dem Werke Leibnizens eingegangen, was vermutlich einfach mit der allgemeinen traditionellen Blindheit der offiziellen Philosophiegeschichtsschreibung für die Aus· einandersetzung deutscher Denker mit dem Osten zusammenhängt 4 . Demgegenüber ist festzustellen, daß die Stellungnahme Leibnizens zu Rußland und seine Beziehungen zu Peter dem Großen nicht nur eine beiläufige Beachtung in dem Sinne verdienen, daß es für einen Leibniz gewissermaßen unmöglich gewesen sei, im Rahmen seiner universalen politischen und kulturellen Perspektiven von dem Phänomen des petriniechen Rußland keine Notiz zu nehmen. Es läßt Sich vielmehr nachweisen — und diesem Nachweis soll die folgende Untersuchung dienen — daß bei Leibniz die Begegnung mit Rußland in der Gestalt Peters des Großen zu einem der stärksten Impulse seiner Bildungs- und Reformideen wurde und in ihm ein Sendungsbewußtsein erweckt hat, das sich mit seiner Auffassung von der Sendung Peters des Großen auf eine eigentümliche Weise verquickte, das ihn zwang, seine Pläne zur Bildung des Menschengeschlechtes auf dçn gesamten eurasischen Raum auszudehnen und das ihn zu einer letzten Steigerung seiner selbstlosen Hingabe an einen Dienst an der Menschheit führte. I. In seiner Stellung zu Rußland hat Leibniz eine auffällige Wandlung durchgemacht, von der man ohne Übertreibung sagen kann, daß er in ihrem Verlauf aus einepi Saulus ein Paulus geworden ist. Seine erste Auseinandersetzung mit dem russischen Problem fällt in die Zeit, aus der seine politischen Projekte zur Befriedigung der europäischen Politik stammen. In derselben Epoche) in der er die ersten Entwürfe seines ägyptischen.Vorschlags für Ludwig XIV. ausgearbeitet hat, durch den er die französische Politik mit einer allgemeineuropäischen Aufgabe außerhalb Europas beschäftigen wollte, in derselben Epoche, aus der seine „Bedencken von der Securität des deutschen Reiches" stammen, in denen er ein Gesamtbild einer Rückkehr der europäischen Staatenpolitik zu einer Zusammenfassung der europäischen Mächte im Dienste gemeineuropäischer Aufgaben entwirft, hat er durch eine politische Schrift in die Regelung staatspolitischer Fragen des Ostens eingegriffen 5 . Leibnizens zu RuBland über die von Guerrier abgedruckten Urkunden hinaus keine wesentlichen Erhellungen bringt. Ich zitiere im Folgenden nach Guerrier (G). 4 Auch die Ergebnisse der neueren Forschungen Wie z. B. von Prof. D. Tschizewekij über Hegel und Schelling in RuBland sind noch kaum von dem allgemeinen Geschieht β-/ hewuß teein rezipiert worden. Die Probleme Leibnizens wiederholen sich in den bisher ebenfalls kaum erforschten Beziehtingen Franz von Baaders zum Zaren Alexander I. 5 dazu Bittner r Germanoslavica I, Heft 1, S. 14ff.: Zur polnischen Königswahl im Jahre
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Den Anlaß bildet der Wechsel der Königskrone in Polen. Dort hatte Johann Kasimir im Jahre 1668 nach dem Zusammenbruch seiner Innen- und Außenpolitik die Krone niedergelegt. Ale Bewerber um den frei gewordenen polnischen Thron traten auf der Pfalzgraf Philipp Wilhelm von Neuburg, der Kandidat vor allem Brandenburgs, weiter Prinz Karl von Lothringen, der Kandidat Österreichs, als dritter der Prinz Conde, der Kandidat FrankFeichs und schließlich der Carewic Alexej Michajlovic von Rußland, der als Kandidat des unmittelbaren und mächtigsten Nachbarstaates von Polen besonders günstige Aussichten zu haben schien. Auf Anraten des K u r f ü r s t e n Friedrich Wilhelm von Brandenburg wandte sich Pfalzgraf Philipp Wilhelm von Neuburg um Unterstützung an den damals hochberühmten Staatsmann Baron Boineburg, den ehemaligen kurmainzischen Minister, und trug ihm seine Vertretung beim polnischen Reichstag und bei der Königswahl an, die f ü r das J a h r 1669 festgesetzt war. Boineburg nahm an und betraute seinerseits Leibniz mit der Abfassung einer politischen Werbeschrift f ü r die Kandidatur des Neuburgers. Leibniz, der später einer der wenigen Gelehrten und Politiker wurde, die einen Blick f ü r die Probleme der Ostpolitik hatten, machte sich voller Eifer an die Arbeit und schrieb die Werbeschrift im Winter des Jahres 1668/69 in wenigen Monaten nieder. Diese Schrift ist in vieler Beziehung höchst eigenartig. Sie entwirft ein ausgezeichnetes Bild der politischen Lage Polens und der Möglichkeit einer Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten. Leibniz schildert aber die Situation nicht vom Standpunkt eines Deutschen aus, versetzt sich vielmehr in die Situation eines streng katholischen polnischen Edelmannes und veröffentlicht auch das Werk unter dem Namen eines solchen: „Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo rege Polonorum, novo scribendi genere ad claram certitudmem exactum. Auetore Georgio Ulicovio Lithuano iuxta exemplar editum Vilnae 1659." Tatsächlich ist der Verfasser Leibniz, der die Schrift 1669 in Danzig drucken ließ®. Wenn Leibniz hier von einer neuen Schreibart spricht, so t r i f f t dies insofern zu, als hier der Versuch unternommen wird, die mathematisch-syllogistische Methode, die man bisher in der Mathematik und der Philosophie ver* Im „Kritischen Katalog der Leibniz-Handschriften zur Vorbereitung der interakad. Leibniz-Ausgabe", Berlin 1908, Heft 1, 1646—1672 findet sich das specimen als Nr. 195. Zu 196 B. wird folgende von Leibniz selbst herrührende handschriftliche Eintragung beigefügt: Lithuanus (sub hoc nomine latet Godefredus Guilelmus Leibnitius). Die Anfangsbuchetaben G. U. Ii. stimmen überein. Leibniz gibt seine Verfasserschaft erst 39 Jahre später zu. „Volui enim initialium saltern literarum consensu indicare nomen meum", schreibt er am 30. Juli 1708 an Orban, vergi. Bittner a. a. O. S. 19 und Klopp, Leibniz Werke, Bd. I, Vorwort S. VII und Bd. I, 2, Einl. S. XXV. Das specimen ist abgedruckt bei Dutens: Leibnitii opera omnia IV,.3, S. 522—630.
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wendet hatte, auch auf die Behandlung politischer Fragen zu übertragen und durch politische Sätze, die mit mathematischer Klarheit entwickelt werden, die Meinung der Leser zu bestimmen. In dieser Schrift legt Leibniz dem polnischen Edelmann eine betont antirussische Einstellung in den Mund. Polen gilt ihm als die Grenze und Vormauer der Christenheit; sowohl geistig wie kulturell und politisch gehöre es durchaus zu Europa. Rußland dagegen liege außerhalb des Bereichs der europäischen, ja überhaupt der christlichen Zivilisation; die Russen werden als die Türken des Nordens bezeichnet, vor denen sich die westliche Kultur schützen müsse. Die Schrift ist in der Weise aufgebaut, daß more mathematico deduziert wird, wie ein König von Polen beschaffen sein müßte, um der gegebenen politischen Situation gemäß zu sein. An Hand dieses Idealbildes werden dann die einzelnen vorhandenen Thronkandidaten durchgeprüft, wobei sich ergibt, daß von allen nur der Neuburger in Frage kommt. Dementsprechend wird die Ablehnung des russischen Thronprätendenten als mathematische conclusio vorgetragen: „Moschus utiliter non eligetur". Die Gründe dieser Ablehnung spezialisieren die bereits eingangs ausgesprochene grundsätzliche Ablehunng Rußlands: Der Carevic sei kein Katholik, sondern ein griechischer Schismatiker, von frühester Jugend an nur an ein despotisches Regiment gewöhnt. Im weiteren Verlauf nimmt die Schrift Leibnizens immer mehr den Charakter eines politischen Pamphlets an, das die russische Bedrohung Polens und Europas in geradezu apokalyptischen Farben schildert und mit der Behauptung schließt, die Übertragung des polnischen Königsthrons an den Carevic würde den Auftakt einer Politik bedeuten, die Polen zum Schlachtfeld zwischen den europäischen Mächten und dem Türken des Nordens machen werde 7 . Diese Ausführungen sind von verschiedenen Gelehrten dahin gedeutet worden, Leibniz habe sich hier so sehr von seinen eigenen Meinungen distanziert, daß er ganz die Rolle des polnischen Edelmanns spiele, ohne eich selber mit den diesem in den Mund gelegten Anschauungen zu identifizieren; es handle sich eben um eine bestellte Propagandaschrift, deren. Thesen er rein literarisch, ohne persönliche Beteiligung formuliert habe. Bittner hat aber nachgewiesen8, daß man zwar die Schärfe des polemischen Tones der politischen Tendenz der Schrift zurechnen muß, daß aber die Grundeinstelhing gegenüber Rußland in dieser Zeit durchaus dem persönlichen Standpunkt Leibnizens entspricht, wie die politischen Schriften derselben Epoche deutlich erkennen lassen, vor allem die Schrift „Uber die Securität des deutschen Reiches", in der er seine Gedanken über die gemeinsamen politischen Aufgaben der europäischen Staaten darlegt, deren Durchführung eine innere Befriedung ' Ein ausführlicher Auszug bei Bittner a. a. O. S. 22 ff. a.a.O. S. 24 ff.
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Europas und eine Weiterentwicklung der abendländisch-christlichen- Kultur garantieren würde. Leibniz weist darin allen europäischen Staaten ihre- Aufgaben zu: regelmäßig erscheint dabei Polen als Vormauer der Christenheit und der europäischen Kultur. Deshalb empfiehlt er auch, Schweden und Polen sollten ihre Macht nicht gegeneinander kehren, sondern gemeinsam gegen die „Barbaren*' kämpfen. Es sei zu hoffen, daß sie dieses Werk wenigsten« in Zukunft fördern werden, wozu beider Reiche Könige geradezu durch (Rottes Vorsehung bestimmt seien. Auch in der Darlegung der deutsch-polnischen Beziehungen klingen diese Gedanken an. Überall erscheint Rußland auf den ersten Blick als Feind Europas, und nur als ferne zukünftige Möglichkeit wird angedeutet, daß sich vielleicht später einmal Moskau in das europäische allgemeinchristliche Anliegen eines Kampfes gegen den Türken einbeziehen ließe. Π.
Leibniz hat diese politische Schrift als 22 jähriger geschrieben. Zwanzig Jahre lang findet sich dann keine Äußerung über Rußland mehr in seinen Schriften und Briefen. Erst in dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wendet sich seine Aufmerksamkeit wieder Rußland zu, und zwar zunächst im Zusammenhang mit seinen immer weiter ausgebauten Beziehungen nach China, wo die wachsenden Erfolge der Jesui-tenmission seine größte Aufmerksamkeit erregten 9 . Von Anfang an kämpften die Jesuiten um die Bewilligung einer freien Durchreise durch die russischen Länder, um die Gefahren des umständlichen Seeweges nach China zu vermeiden 10 . Jede neue Ablehnung von Durchreisegesuchen richtete erneut die Blicke Leibnizens auf das Reich im Osten, das sich bisher so völlständig den Blicken Europas verschlossen hatte 11 . Ein weiterer Impuls einer Beschäftigung mit Rußland bildeten * zum Thema: Leibniz und China vergi. F. R. Merkel: Leibniz und die Chinamiesion, Leipzig, 1920; Tgl. auoh die neueste Arbeit über die Jesuiten-MiseÎôn in China : A. H. Rowbotham, Missionary and mandarin; The Jesuits at the court of China; Berkeley, Univ. of California Press 1942 (mir bisher nicht zugänglich). 10 vergi. Baruzi a. a. 0 . S. 117. Prace mat. fiz. a. O. I XII, p. 242 (Brief an Koçhanski Dez. 1691): „Doleo Moscorum pertinacia terrestri itinere ad Sinos penetrare non potuisse. Spero nunc feliciter superasse maris perieula." Baruzi weist auch auf weitere unedierte Briefe an A. H. Francke vom 7. Aug. 1697 und vom Jahre 1699, einen Brief an Pater Fontaney vom 29. Mai 1692 und an. Du Héron vom 16. April 1700 hin, die das Problem der Durchreise der Jesuitenmissionare durch Bußland behandeln. 1 1 Zum Thema: Leibniz und die Jesuiten vergi, die ausgezeichneten Ausführungen bei Baruzi a. a. O. S. 46—105, c. II: Lee Jésuites. Leibniz stand in Briefwechsel mit folgenden Jesuiten: P. Bouvet, De Fontaney, Gumaldi, Marchetti, Orban, Papebroch, Verjus, Vota. Die Briefe sind zum groBen Teil noch nicht veröffentlicht mit Ausnahme der Korrespondenz mit Kochanski in den Prace matemat.-fizyczne a. a. 0 . Offenbar war es P. Grimaldi, der Leibniz im Jahre 1689 in Rom mit der Jesuitenfltission in China bekannt gemacht hat. Leibniz hat
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seine vergleichenden Sprachstudien, die ihn immer dringlicher das Fehlen einer genaueren Kenntnis der östlichen Sprachen einschließlich der russischen vor Augen führten. Der stärkste Impuls aber ist auch jetzt wieder ein politischer, nämlich die Veränderungen, die die Regierung des Zaren Peter herbeif ü h r t e und die Leibnizens Gedanken über Rußland in völlig neue Bahnen lenkten. In den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts erscheint Leibniz, wie seine Briefe kundtun, in engster Verbindung mit allen bedeutenden Männern der Zeit, die auf Grund ihrer politischen oder wissenschaftlichen Stellung oder ihrer kommerziellen Beziehungen mit Rußland in Verbindung standen, die eich dort aufgehalten hatten, die Land, Leute und Sprache kannten und sich literarisch über Rußland geäußert hatten, so mit dem Orientalisten Hiob Ludolf in F r a n k f u r t , mit dessen Neffen W. H. Ludolf, einem der ersten Verfasser einer russischen Grammatik 1 2 , mit dem polnischen Jesuiten Kochanski, einem Freund des polnischen Residenten in Moskau, mit dem brandenburgischen H o f r a t Reyer, den der K u r f ü r s t Friedrich III. im Jahr 1688 nach Moskau gesandt hatte, um dem Zaren seine Thronbesteigung zu notifizieren und um Aufnahme für die Hugenotten in Rußland zu bitten, und der mit dem Generaldirektor des Moskowitischen Postwesens, Kanzler Winuius, einem Niederländer, befreundet war, sowie mit zahlreichen anderen Gelehrten und Politikern 1 3 . In der Korrespondenz mit diesen Männern tauchen bereits am Anfang und gewissermaßen schlagartig alle die späteren Anliegen und P r o j e k t e auf, zu denen Leibniz durch seine Beschäftigung mit dem Phänomen Rußlands inspiriert würde.
eich dort häufig mit ihm über die Frage der Chinamiesion unterhalten. „Grimahlum vestrum egregium virum Romae vidi non raro et multum cum ipso sum collocutue de rebus sinici»", schreibt er 1691 an P. Kochanski, in: Prace mat. fiz. t. XII, p. 242. Am 1. April erhält er einen langen Brief von einem der führenden Missionare in China, dem P. Bouvet über ( « h i . Das Werk von A. Florovskij: Jesuiti ν Ruska (tschechisch), Prag 1943, war mir bis jetzt nicht zugänglich. Es behandelt die Reformpläne der Jesuiten, die ζ. T. mit denen von Leibniz konvergieren. 11 Ψ . H. Ludolf spielt in den Beziehungen der deutschen Theologie und Philosophie χα ftuBland eine bedeutsame Rolle; er hat auch August Hermann Francke auf die rassische Kirche and Sprache aufmerksam gemacht und seine rassischen Missionspläne angeregt. Über ihn vergi. E. Benz: Α. Η. Francke und die deutschen evangelischen Gemeinden in RuBland, in: Das Auslandedeutschtum und die evangelischen Kirchen, Jahrbuch 1936, München 1936, S. 143ff.; D. Tschizewskij: Der Kreis Α. H. Franckes in Halle und seine slavistischen Studien, Zeitschrift f. elav. Philologie, Bd. XVI, S. 23ff.; ders.: Zu den Beziehungen des Α. H. Francke· Kreises zu den Ostslaven, in: Kyrios, Vierteljshreechrift f ü r Kirchen- und Geistesgesch· Osteuropas, Jg. IV, Heft 3—4, S. 289 ff. " eine besondere Rolle spiélt auch Wksen, der Bürgermeister von Amsterdam, der Sibirien bereist und eine Karte von Sibirien entworfen hatte.
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Der eigentliche Anreger seiner Ideen ist die Gestalt Peters geworden, und diese Gestalt ist es auch gewesen, die seine frühere Anschauung von Rußland grundlegend umgeändert hat. Er hatte die Russen für Barbaren gehalten. Nun erlebt er mit wachsendem Erstaunen und wahrhaft erschütternder Anteilnahme, wie inmitten dieses Volkes ein „Heros" 1 4 , ein Genie erwacht, das sich bemüht, die Barbarei seines Landes zu vertreiben und dieses Land auf einen höheres Stand der Bildimg und der Zivilisation zu heben. Die Zeugnisse Lcibnizens sind so eindeutig, daß es keine Übertreibung ist zu behaupten, daß er der Gestalt Peters mehr und mehr verfallen ist. Er beschäftigt sieb mit ihm zunächst intensiv aus der Ferne, verfolgt jeden Schritt seiner Reise nach und in Europa; je näher er rückt, desto mehr fühlt er sich von diesem Phänomen fasziniert, desto mehr erregt der Herr über das größte und unbekannteste Reich der Erde seine spekulative Phantasie und seinen Bildungswillen, desto intensiver denkt er sich in die ungeahnten Möglichkeiten einer sinnvollen Lenkung dieses Herrschers hinein, ja er lebt sich regelrecht in die Rolle Peters selber ein. Zunächst beschäftigen ihn in erster Linie noch die Dinge, die die westliche Wissenschaft gerne von dem unbekannten Rußland wissen möchte, aber immer mehr verfällt er der Magie, die von dem Auftreten Peters ausgeht; er macht sich in seiner Phantasie zum Kultusminister und Wirtschaftsminister Rußlands, denkt sich Projekte der Bildung, der technischen und wirtschaftlichen Hebung des Landes aus. Auf den verschiedensten Wegen versucht er an Peter selbst heranzukommen; in erstaunlich kurzer Zeit gelingt es ihm, die wichtigsten Persönlichkeiten der Umgebung des Monarchen kennen zu lernen, den älteren und jüngeren Lefort, den älteren Golovkin, den Kriégsminister Huyesen, den Maler Lubenecki, und reicht ihnen bereits höchst bedeutsame Denkschriften ein, aber der erste Versuch der werbenden Annäherung mißlingt. Jedoch wie in einem Liebesroman erhöht die erste Enttäuschung über die mißglückte Begegnung die Hingabe. Leibniz bemüht sich weiter um Peter, spinnt seine Pläne feiner aus, lebt in Projekten über die Erforschung und kartographische Erfassung Sibiriens, über die Erkundung des Eismeeres und der Grenzen zwischen Amerika und Sibirien, über die Schiffbarmachung des russischen Strom-Systems, über die Trockenlegung der Sumpfgebiete, über die Ausnutzung der unerschlossenen russischen Bodenschätze, über landwirtschaft liehe Versuche in Rußland, über Errichtung von Schulen, Museen, Tiergärten landwirtschaftlichen Versuchsanstalten, Glas- und Eisenfabriken, über den Ausbau des russischen Straßennetzes nach China und Persien, über Errichtung 14 Zum Begriff des „Heroen" vergi, den Brief Leibnizens an Arnauld 1671 (Gerhardt, Phil. Schriften, Bd. I> S. 74): „Eum . . . prinoipem vero heroem esse, qui materiam gloriae quaerat in felicitate generis humani".
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yon Akademien der Wissenschaft auf russischem Boden, über Einrichtung astronomischer Beobachtungsanstalten zum besonderen Zweck der Erforschung der magnetischen Deklination, über Erforschung der Geschichte der zahlreichen Völker des asiatischen Rußland, über allerlei historische Probleme, die Zusammenhänge zwischen Slaven und Germanen, die Siedlungen der Goten an der Wolga und der Krim, den Ursprung und die Wanderungen der finnischen Stämme, den Ursprung der Ungarn betreffend — all das stürmt auf ihn ein und bewegt ihn. Erfüllt von den Reform-Ideen, die alle die Gestalt Peters zum Mittelpunkt haben, erfaßt Leibniz die bitterste Enttäuschung, ja ein ganz unphilosophischer Zorn, wenn er sieht, wie wenig all die Männer der europäischen Politik, die das Glück haben, mit Peter auf seinen Reisen persönlich zusammenzukommen, die Möglichkeiten erkennen, die in diesem Manne und seinem Lande gegeben sind. Da kommt ein" genialer junger Monarch, der über ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten gebietet, wissensdurstig, aufgeschlossen für alles, was ihm für sein Land neu und nützlich erscheint; er weicht allen Ehrenbezeugungen aus, arbeitet als einfacher Handwerker, um alles genau kennen zu lernen, was sonst den Regenten unbekannt bleibt. Aber anstatt diese Gelegenheit zu benutzen, um ihm Teilnahme an den Wissenschaften und den höheren Zwecken der Kultur einzuflößen, denkt man in Königsberg, in Holland, in England, überall wo der Zar hinkommt, nur daran, ihn festlich zu traktieren, mit europäischem Luxus aufzutrumpfen, ihn in die diplomatischen Geschäfte der einzelnen Städte und Territorien zu verwickeln, Privilegien für einzelne Personen und Handelscompagnien herauszuschinden. So schreibt. Leibniz voller Entrüstung an den Numismatiker Morell, dem er soeben ein Exemplar seiner Schrift über China — „Novissima Sinica" — zugesandt hat 1 5 : „Sie können nicht glauben, wie ich ungehalten darüber bin, daß man die Gegenwart des Zaren von Moskau und die guten Absichten, die er an den Tag legt, nicht gehörig benutzt, denn den Geist eines einzigen solchen Mannes, wie der Zar ist oder der Monarch von China, zu gewinnen und ihn auf das wahre Gut zu richten, ihm einen Eifer für den Ruhm Gottes und die Vervollkommnung der Menschen einzuflößen, ist mehT wert als hundert gewonnene Schlachten, denn von dem Willen solcher Leute hängen viele Millionen anderer ab. Ich kann den Engländern und Holländern ihre Gleichgültigkeit nicht verzeihen, aber sie werden es teuer bezahlen. Andere werden sich 1 9 G. nr. 20, S. 27. Der vollständige Titel seiner Schrift über China lautet; Novissima sinica hietoriam nostri temporis illustratura, in quibus de Christianisme publica nunc primum auctoritate propagato miesa in Europam relatio exhibetur deque favore ecientiarum Europaearum ac moribus gentis et ipsius praesertim monarchae tum et de bello Sinensium cum Moscie a c pace constitute multa hacteniu ignota explican tur, edente G. G. Leibnitio, Anno MDCXCVII. Vorrede abgedruckt bei Dutens a . a . O . t. IV,.1, pp. 78 ff.
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der Vorteile bemächtigen, die sie aus den Augen lassen; wenn sie dagegen wahrhaft weise wären, so hätten sie zu gleicher Zeit sowohl den Ruhm Gottes als den Vorteil ihrer eigenen Staaten befördern können. Ich finde es täglich bestätigt, mehr als man glauben möchte, daß nichts so unklug ist als der Mangel an Frömmigkeit und nichts unserem Interèsse auch hier auf Erden so sehr entspricht als wahre Frömmigkeit." Endlich kommt es zu einer ersten persönlichen Begegnung von Leibniz und Peter in Torgau am 28. oder 29. Oktober 1710. In dieser Audienz hat Leibniz einen Teil seiner Projekte, und zwar gerade die, die dem damaligen Interesse Peters am meisten entgegenkamen, dem Zaren eröffnet, vor allem das Projekt einer Einrichtung magnetischer Beobachtungsstationen in Rußland, Sibirien und bis an die chinesische Grenze, um auf diese Weise durch Feststellung der magnetischen Deklination eine genaue geographische Ortsbestimmung als Grundlage einer kartographischen Vermessung des Landes 'vornehmen zu können und den innerrussischen Land- und Wasserverkehr zu verbessern. Gleichzeitig hat er Peter das Projekt vorgelegt, eine Erforschung der Sprachen und Sitten der asiatischen Völker Rußlands in die Wege zu leiten, um so ihre Herkunft zu erkunden und sie für eine Hebung ihrer Bildung und ihrer niederen Lebensform zugänglich zu machen und sie für die Mission zu gewinnen l e . In dieser Audienz erhielt er" Zusagen, die auf seine amtliche Übernahme in russische Dienste abzielten und die Ausfertigung eines Jahresgehalts von tausend Talern an ihn vorsahen. Leibniz sollte amtlich unter die unmittelbaren Ratgeber des Zaren aufgenommen werden. Dieser Erfolg hat nicht nur die russischen Projekte Leibnizens noch stärker in den Vordergrund gerückt, sondern wies ihm auch eine führende Rolle innerhalb der deutschen RußlandPolitik zu. Er knüpft Verbindungen mit allen Ministern und Diplomaten Peters an, die nach Europa kommen. Sein Briefwechsel mit Huyesen, Urbich, Schfeiniz, Bruce, Kurakin, Golovkin, Matvejev, Safirov, Trubetzkoj ( spiegelt alle Nüancen der russischen Politik und ihrer Auswirkung auf die innerdeutschen und europäischen Verhältnisse wieder. Aber zu seiner großen Enttäuschung bleibt seinen Plänen einer Organisation des russischen Bildungswesens nach westlichem Vorbild zunächst die Verwirklichung versagt. Die politischen Verhältnisse reißen Peter in immer neue kriegerische Verwicklungen hinein, die seine persönliche Anwesenheit auf den Kriegsschauplätzen notwendig machen, alle Kräfte Rußlands ausschließlich für die Kriegszwecke binden und für die wissenschaftlichen und Bildungs-Projekte weder Zeit noch Mittel übrig lassen. 16
G. nr. 125—127, S. 174—183.
LEIBNIZ UND PETER DER GROSSE
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So empfindet Leibniz den Ausbruch des nordischen Krieges als ein persönliches Verhängnis, das dem Zaren und damit Rußland und der Welt im weitesten Sinne die einzigartige Chance raubt, ein neues Zeitalter der Bildung und Wissenschaft herbeizuführen und die ganze Welt in den Stand einer allgemeinen christlichen Kultur zu überführen. Aber die Resignation hält nicht' lange bei ihm an. Leibniz beginnt den Zaren mit einem neuen Argument zu bestürmen: man muß wirken, solange es Tag ist. Der Zar darf sich auch durch die Kriegsverhältnisse nicht abhalten lasseH, die Werke des Friedens und der Bildung zu tun. Leibüiz fügt seinen P r o j e k t e n jetzt wohldurchdachte Kostenrechnungen bei, aus denen hervorgehen soll, daß sich die Kosten der von ihm vorgeschlagenen Akademien, Institute, Fabriken, Observatorien in kürzester Zeit mit reichlichen Zinsen bezahlt machen; er z¿igt, wie seine Pläne im Rahmen von bereits bestehenden Einrichtungen, von bereits ausgeworfenen Budgets verwirklicht werden können, wie manche seiner Projekte unmittelbar dazu dienen, durch Konzentration der wirtschaftlichen Leistung, durch Verbesserung des Verkehrs und durch Steigerung des militärischen Potentials den Krieg abzukürzen und damit freie Bahn f ü r die Werke des Friedens zu schaffen. E r macht sich gewissermaßen privatim zum Finanzminister Peters, um ihm vorzurechnen, daß es möglich sei, seine Pläne zum Wohle Rußlands und der Menschheit durchzuführen. J a er, der ehemalige Verächter der „Barbaren", bringt das Opfer einer wahrhaft bewundernswerten Selbsthingabe und stellt sich als alter Mann selbst dem russischen Bildungswerk zur Verfügung. In seinem Brief vom 16. Januar 1712 schreibt er an Peter die W o r t e 1 7 : „Ich werde es mir vor die größte Ehre, Vergnügung und Verdienst schätzen E. Gr. Cz. M. in einem so löblichen und gottgefälligen Werke dienen zu können; denn ich nicht von denen bin, so auff ihr Vaterland oder sonst auff eine gewisse Nation erpicht seyn, sondern ich gehe auff den Nutzen des gantzen menschlichen Geschlechts; denn ich halte den Himmel f ü r das Vaterland und alle wohlgesinnte Menschen f ü r dessen Mitbürger, und ist mir lieber bey den Russen viel Guthes auszurichten, als bei den Teutschen oder andern Europäern wenig, wenn ich gleich bey diesen in noch so großer Ehre, Heichthum und Ruhe sitze, aber dabey andern nicht viel nutzen sollte, denn meine Neigung und Lust geht aufs gemeine Beste. Zu diesem Zweck« f ü h r e vorlängs große Gorrespondenz in Europa, ja bis in China, und bin nicht allein von vielen Jahren hehr in den Königl. französisch und englischen Societäten ein Mitglied, sondern dirigiré auch als praeses die Königl. Preuß. Societät der Wissenschaften . . Solche Societät zu Berlin hat der König auf meine Vorschläge fundirt, und habe ich solche Anstalt dabey an 17