Gegenwart in Vergangenheit: Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag [Reprint 2015 ed.] 9783486828665, 9783486560367


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German Pages 484 Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Tabula Gratulatoria
Abkürzungsverzeichnis
Über einige utopische Topoi und die Anfänge der Kunsttheorie in der Renaissance
Von Frundsberg zu Wallenstein - Die Entwicklung des Söldnerunternehmertums in der frühen Neuzeit
Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer im Zeichen der katholischen Reform
Maximilian I. von Bayern und der Kampf um Böhmen 1620
Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte. Der providentielle Charakter der Wende von 1180 in der bayerischen Historiographie der frühen Neuzeit
Die bayerische Scharwerksablösung von 1665/66. Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria
Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung - Der Kampf eines bayerischen Kurfürsten um seinen absoluten Herrschaftsanspruch
Ökonomische Sozietät en miniature. Zur Geschichte der Feldbaugesellschaft in Seefeld/Oberbavern (ca. 1789-1807/08)
Zwieback für die Grande Armée. Sechs Briefe des bayerischen Diplomaten Anton von Cetto an Joseph Utzschneider
Liberalismus als geistiges Problem
Böhmen und Österreich
Ökonomie und Nationalismus - ein Kernproblem im multinationalen Staat. Ein Vergleich der Politik Ernest von Koerbers und Sandor Wekerles
Im Schatten von Spichern. Militarismus und Nationalismus im Saarrevier vor dem 1. Weltkrieg
Der Januarstreik 1918 in München
„In Deutschland zu Hause“. Der jüdische Beitrag zur Kultur der Weimarer Republik
Das „Emigrantensyndrom“. Emigranten aus Hitlerdeutschland und ihre mühsame Annäherung an die ehemalige Heimat
Charles de Gaulle und die deutsche Frage: Bemerkungen zu Tradition und Wandlung geostrategischen Denkens
Zwei deutsche Literaturen (1971-1991) unter einem Kulturdach?
Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs
Das Ende der „Provinz“
Stationen eines Märchenkönigs. Orte und Landschaften König Ludwigs II
Über die Kunst, Menschen zu erziehen. Gedanken über Schule und Bildung
Das Haus in der Schellingstraße
Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz
Register
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Gegenwart in Vergangenheit: Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag [Reprint 2015 ed.]
 9783486828665, 9783486560367

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Gegenwart in Vergangenheit

Gegenwart in Vergangenheit Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag Herausgegeben von Georg Jenal unter Mitarbeit von Stephanie Haarländer

R. Oldenbourg Verlag München 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gegenwart in Vergangenheit: Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit ; Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag / hrsg. von Georg Jenal unter Mitarb. von Stephanie Haarländer. - München : Oldenbourg, 1993 ISBN 3-486-56036-0 N E : Jenal, Georg [Hrsg.]; Prinz, Friedrich: Festschrift

© 1993 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Frontispiz: © G. W. Bachert, München Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: R.Oldenbourg Graphische Betriebe G m b H , Kirchheim ISBN 3-486-56036-0

Inhalt Vorwort Tabula Gratulatoria Abkürzungsverzeichnis

VII IX XIII

Bauer, Hermann: Über einige utopische Topoi und die Anfänge der Kunsttheorie in der Renaissance

1

Baumann, Reinhard: Von Frundsberg zu Wallenstein - Die Entwicklung des Söldnerunternehmertums in der frühen Neuzeit

11

Ammerich, Hans: Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer im Zeichen der katholischen Reform

31

Ziegler, Walter: Maximilian I. von Bayern und der Kampf um Böhmen 1620

55

Kraus, Andreas: Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte. Der providentielle Charakter der Wende von 1180 in der bayerischen Historiographie der frühen Neuzeit

75

Rankl, Helmut: Die bayerische Scharwerksablösung von 1665/66. Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria

91

Henzler, Christoph: Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung - Der Kampf eines bayerischen Kurfürsten um seinen absoluten Herrschaftsanspruch

131

Hammermayer, Ludwig: Ökonomische Sozietät en miniature. Zur Geschichte der Feldbaugesellschaft in Seefeld/Oberbayern (ca. 1789-1807/08)

155

Wittmann, Reinhard: Zwieback für die Grande Armée. Sechs Briefe des bayerischen Diplomaten Anton von Cetto an Joseph Utzschneider

181

Schwaiger, Georg: Liberalismus als geistiges Problem

193

VI

Inhalt

Solle, Zdenëk: Böhmen und Österreich

209

Glettler, Monika: Ökonomie und Nationalismus - ein Kernproblem im multinationalen Staat. Ein Vergleich der Politik Ernest von Koerbers und Sandor Wekerles

239

Hannig, Jürgen: Im Schatten von Spichern. Militarismus und Nationalismus im Saarrevier vor dem 1. Weltkrieg

257

Grau, Bernhard: Der Januarstreik 1918 in München

277

Vollnhals, Clemens: „In Deutschland zu Hause". Der jüdische Beitrag zur Kultur der Weimarer Republik

301

Krauss, Marita: Das „Emigrantensyndrom". Emigranten aus Hitlerdeutschland und ihre mühsame Annäherung an die ehemalige Heimat

319

Möller, Horst: Charles de Gaulle und die deutsche Frage: Bemerkungen zu Tradition und Wandlung geostrategischen Denkens

335

Wehdeking,

Volker:

Zwei deutsche Literaturen (1971-1991) unter einem Kulturdach? . . .

349

Heit, Alfred: Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

369

*

Burghart, Heinz: Das Ende der „Provinz"

391

Flemmer, Walter: Stationen eines Märchenkönigs. Orte und Landschaften König Ludwigs II

419

Friedrich, Heinz: Über die Kunst, Menschen zu erziehen. Gedanken über Schule und Bildung

427

Kolbenhoff,

Walter ( f ) :

Das Haus in der Schellingstraße

437

Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

439

Register

454

Vorwort Mit der Vollendung des 65. Lebensjahres (17. Nov. 1993) kann Friedrich Prinz auf mehrere Jahrzehnte erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit sowie eine beinahe ebenso lange Zeit als akademischer Lehrer zurückblikken. Dies mag Anlaß genug sein für ein Zeichen der Anerkennung und Dankbarkeit jener, die sich dem Wissenschaftler und Lehrer über die Jahre hin enger verbunden wissen. Die Absicht, dies in Form einer Festschrift zu tun, fand so lebhaftes Echo, daß sich eine Teilung des Vorhabens, geschieden nach mittelalterlichen u n d neuzeitlichen Belangen, schließlich als notwendig erwies. Wenn die Beiträge dabei zeitliche wie sachliche Streuungen aufweisen, darf dies als Spiegelbild gelten für die stets weitgespannten, Zeiten, Räume und Methoden übergreifenden Interessen des Jubilars, der sich in der Mehrzahl seiner Arbeiten der landesgeschichtlichen Methode verpflichtet weiß, mit der Absicht vornehmlich, relevante gesellschaftsgeschichtliche Zusammenhänge aufzuklären und darzustellen. Methodisches Konzept wie Erkenntnisziel weisen dabei auf die wissenschaftliche Herkunft und die prägenden Lehrer: auf das „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande" (Bonn) unter der Ägide von Franz Steinbach sowie auf das „Institut für Bayerische Geschichte" (München) unter der Leitung von Karl Bosl. Darüber hinaus darf ein Grundzug wissenschaftlichen Selbstverständnisses in dem steten Bemühen des Jubilars gesehen werden, größeren Linien auf der Spur zu bleiben, komplexe Entwicklungen im Auge zu behalten, sich eher um Zusammenschau zu bemühen als enge Fragestellungen und Details zu verfolgen, ohne dabei deren Notwendigkeit als Vor- u n d Zwischenstufen für größere Zusammenhänge zu verkennen. Vor die Herausforderung gestellt, der unendlichen Fülle von Ereignissen und Fakten Sinn abzugewinnen, wird Geschichtswissenschaft wesentlich verstanden als Geschichtsschreibung, als die Kunst, historische Zusammenhänge im Medium der Sprache darzustellen. Getragen wird dieses Bemühen letztlich von der Überzeugung, daß Kenntnis des Vergangenen Möglichkeiten zum tieferen Verständnis der Gegenwart freisetzen kann. Insofern trifft der Titel der Festgabe durchaus ein wesentliches Motiv für die Beschäftigung des Jubilars mit Geschichte als Beruf. Faßt man die neuzeitlichen Arbeiten aus der Feder von Friedrich Prinz ins Auge, so wird offensichtlich, daß diese thematisch vornehmlich in zwei Kulturlandschaften angesiedelt sind, welche in direkter Beziehung zur eigenen Biographie stehen : in Böhmen/Österreich und in Bayern. Aus der Fülle der einschlägigen Titel seien hier lediglich die wichtigsten kurz hervorgehoben: der biographische Versuch über Hans Kudlich; eine Untersuchung zu Prag und Wien im Umfeld der Revolution von 1848; zwei umfangreiche Beiträge im Handbuch der Geschichte der Böhmischen

VIII

Vorwort

Länder; eine Geschichte Böhmens von 1848-1948 und schließlich - jüngst erschienen - zwei weit ausgreifende Kapitel in „Deutsche Geschichte im Osten Europas. Böhmen und Mähren". - Ebenso fruchtbar erwies sich die Beschäftigung mit der Geschichte Bayerns in der neueren und neuesten Zeit. Als die bedeutenderen und umfangreicheren Leistungen seien hier kurz erwähnt: „Gestalten und Wege bayerischer Geschichte"; „Bayerische Miniaturen"; zwei umfangreiche, als Herausgeber betreute und als Autor mitgestaltete Aufsatzbände zur Prinzregentenzeit und zur Nachkriegszeit (1945-49) in München, (Unternehmungen, die von einem studentischen Arbeitskreis mitgetragen wurden und den wissenschaftlichen Hintergrund zweier Ausstellungen des Stadtmuseums München ausmachten). Schließlich sei auch die vom Jubilar betreute Dokumentation zur wirtschaftlichen Entwicklung Bayerns in der Nachkriegszeit unter Berücksichtigung der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge erwähnt. Darüber hinaus finden sich diese größeren Leistungen des Jubilars allesamt in einem dichten Umfeld von vorbereitenden, begleitenden und nachfolgenden Arbeiten kleineren Umfangs. Das Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften - nicht weniger die Liste der am Lehrstuhl abgeschlossenen Promotionen sowie der betreuten Habilitationen - mögen Beleg sein für die außerordentlich fruchtbaren Jahre des Wissenschaftlers und akademischen Lehrers im ganzen. In solchen Zusammenhang will die Festgabe eingereiht sein als Ausdruck der Verbundenheit und des Dankes der Schüler, als Geste der Sympathie seitens der Freunde sowie als Zeichen der Anerkennung durch die Fachkollegen. Als Hinweis auf die Aufmerksamkeit eines außeruniversitären, gebildeten Publikums, dem sich Friedrich Prinz jenseits der akademischen Aufgaben stets zugewandt hat, darf die Tabula gratulatoria gelten. Denn unermüdlich engagiert er sich - was die Festschrift nicht verrät - in Öffentlichkeit auch jenseits der Universitätsmauern und sucht mit Kulturbeiträgen unterschiedlichster Genres, vom Feuilleton bis zur historischen Fernsehdokumentation, erfolgreich das Forum der Medien. Und wie mehrfache Ehrungen zeigen, darf sich der Jubilar auch bei solchem Engagement jenseits akademischer Kreise lebhaften öffentlichen Interesses und der Aufmerksamkeit eines größeren Publikums durchaus sicher sein. Georg Jenal

Für großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung sei an dieser Stelle gedankt: der Bayern-Pfalz-Stiftung; dem Bayerischen Sparkassen· und Giroverband; der Bayerischen Einigung e.V./Bayerische Volksstiftung; der C.H. Beck'schen Verlagsbuchhandlung; der Bayerischen Vereinsbank; der Messerschmitt-Bölkow-Blohm G m b H ; Herrn Dr. Johannes v. Elmenau.

Tabula gratulatoria Peter Acht, München Konrad Ackermann, München Hildegard Adam, München Gerd Althoff, Gießen Claus Altschäfl, Pfarrkirchen Hans Ammerich, Speyer Arnold Angenendt, Münster Elisabeth Angermair, München Hans Hubert Anton, Trier Michael Appel, Peißenberg Heinrich Appelt, Wien Karl Otmar von Aretin, Mainz Girolamo Arnaldi, Rom Udo Arnold, Bonn Hartmut Atsma, Paris Karl-Ludwig Ay, Puchheim Dagmar Bäuml-Stosiek, München Giulia Barone, Rom Hermann Bauer, München Ulrich Bauer, München Reinhard Baumann, München Hans Bayer, Saarbrücken Peter Becher, München Barbara Beck, München Florian Beck, München Manuela Beck, München Wolfgang Beck, München Friedrich Benninghoven, Berlin Walter Berschin, Heidelberg Florian Besold, München Volker Bierbrauer, München Katharina Bierbrauer, München Peter Blickle, Bern Laetitia Boehm, München Kurt Böhner, Ehingen Ursula Bölter, München Gerold Bönnen, Trier Sofia Boesch-Gajano, Rom Hartmut Boockmann, Berlin Michael Borgolte, Berlin Egon Boshof, Passau

Stefan Breit, München Gertrud Brosin, Saarbrücken Peter Brown, Princeton Ν. J. Franz Brunhölzl, München Neithard Bulst, Bielefeld Peter Burian, Köln Heinz Burghart, München Hermann-Joseph Busley, München Ovidio Capitani, Bologna Louis Carlen, Fribourg Giles Constable, Princeton Ν. J. István Deak, New York City Gertrud Diepolder, Jettenhausen Bernhard Diestelkamp, Kronberg Manfred Döbereiner, Auerbach Heinz Dopsch, Salzburg Georg Droege, Bonn Jost Dülffer, Köln Richard van Dülmen, Saarbrücken Herwig Ebner, Graz Martin Eggers, München Kaspar Elm, Berlin Johannes von Elmenau, München Reinhard Elze, München Roger Engelmann, Berlin Odilo Engels, Köln Josef Engemann, Bonn Edith Ennen, Bonn Jürgen Eppelsheim, München Siegfried Epperlein, Neuenhagen bei Berlin Stefan Erben, München Franz-Reiner Erkens, Leipzig Arnold Esch, Rom Eugen Ewig, Bonn Gina Fasoli (t), Bologna Hans-Constantin Faussner, München Franz-Josef Feiten, Halle Heinrich Fichtenau, Wien Manfred Fleischer, München

X

Tabula gratulatoria

Walter Flemmer, München Jacques Fontaine, Antony Jutta Franke, Gmund Pankraz Fried, Augsburg Heinz Friedrich, München Wolfgang Frühwald, Bonn Horst Fuhrmann, München Lothar Gall, Frankfurt a. M. Alfred Gawlik, München Patrick J. Geary, Los Angeles Wolfgang Giese, München Hubert Glaser, München Monika Glettler, München Hans-Werner Goetz, Hamburg Bernhard Grau, München Gerhard Grimm, Haar Hans Ferdinand Groß, München Manfred Groten, Köln Klaus Guth, Bamberg Thomas Guttmann, München Rolf Häfele, Trier Wilhelm Haefs, München Clemens M. Haertle, München Ludwig Hammermayer, Ingolstadt Jürgen Hannig, Saarlouis Wolfgang Harms, München Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken Alfred Haverkamp, Trier Gerhard Hay, München Ernst-Dieter Hehl, Mainz Walter Heinemeyer, Marburg Heinz Heinen, Trier Martin Heinzelmann, Paris Alfred Heit, Trier Eckhart Hellmuth, München Christoph Henzler, Aichen Klaus Herbers, Tübingen Peter Herde, Würzburg Rudolf Hiestand, Düsseldorf Frank G. Hirschmann, Trier Eduard Hlawitschka, München Oliver Hochkeppel, München Hans Günter Hockerts, München Günther Hödl, Klagenfurt

Jörg K. Hoensch, Saarbrücken Roland J. Hoffmann, München Leni Hofmann, Friedrichstadt Rudolf Holbach, Trier Walter Horn, Richmond Rita Huber-Sperl, München Bernd Ulrich Hucker, Vechta Detlef Himer, Hartheim Markus Ingenlath, München Franz Irsigler, Trier Kurt-Ulrich Jäschke, Saarbrücken Thomas Jacobi, München Hermann Jakobs, Heidelberg Walter Janssen, Würzburg Jörg Jarnut, Paderborn Walter Jaroschka, München Rudolf Jaworski, Kiel Reinhold Kaiser, Zürich Hatto Kalifelz, Würzburg Erich Kasberger, München Hagen Keller, Münster Stefan Kellner, München Rolf Kießling, Bonstetten Birgitta Kiemenz, Fürstenfeldbruck Reinhard Klimmt, Saarbrücken Alexander Klotz, München Franz Knipping, Tübingen Michael Kobler, Passau Walter Koch, München Theo Kölzer, Bonn Walter Kolbenhoff (t), Germering Heinrich Koller, Salzburg Raymund Kottje, Bonn Andreas Kraus, München Marita Krauss, München Richard Krautheimer, Rom Ludolf Kuchenbuch, Hagen Harry Kühnel, Krems Rudolf Kuhn, München Wolfgang Laufer, Saarbrücken Richard Laufner, Trier Claudio Leonardi, Florenz Stefan Lindl, München

Tabula gratulatoria

Sönke Lorenz, Tübingen Wilfried Loth, Essen Friedrich Lotter, Göttingen Gerhard Luber, Miltenberg Carl August Lückerath, Köln Lothar K. Kinzinger, Zweibrücken Rosamond McKitterick, Cambridge Michael Matheus, Essen Gert Melville, Münster Erich Meuthen, Köln Michael Mitterauer, Wien Karl Möckl, Bamberg Horst Möller, München Wilhelm Mößle, Bayreuth Jolanthe Gräfin Montgelas-C. d. Neves, Gerzen Peter Moraw, Gießen Hubert Mordek, Freiburg Heribert Müller, Frankfurt Waltraud Müller, München Florentine Mütherich, München Dieter von der Nahmer, Ahrensburg Franz Neubauer, München Gerhard Neumeier, München August Nitschke, Stuttgart Ulrich Nonn, Bonn Monika Obermeier, Rosenheim Irmtraud Permoser, München Jürgen Petersohn, Marburg Gert von Pistohlkors, Göttingen Ernst Pitz, Berlin Richard Georg Plaschka, Wien Barbara Pöhlmann, München Salvatore Pricoco, Catania Christine Rädlinger, München Edith Raim, München Hans Rail, München Helmut Rankl, München Konrad Repgen, Bonn Josef Riedmann, Innsbruck Gerhard A. Ritter, München Hans Rothe, Bonn

XI

Michel Rouche, Paris Jörn Rüsen, Bielefeld Walter Sage, Bamberg Willibald Sauerländer, München Knut Schäferdiek, Bonn Hans Martin Schaller, Zorneding Hermann Schefers, Worms Winfried Schich, Berlin Wolfgang Schieder, Köln Rudolf Schieffer, Bonn Bernhard Schimmelpfennig, Augsburg Heinz W. Schiaich, Rottach-Egern Alois Schmid, Eichstätt Hans Schmidt, München Hans-Joachim Schmidt, Berlin Roderich Schmidt, Marburg Johannes Schmitt, Schmelz Walter Schmitthenner, Freiburg Ludwig Schmugge, Zürich Herbert Schneider, München Karl Schnith, München Klaus Schreiner, Bielefeld Alois Schütz, München Bernhard Schütz, München Knut Schulz, Berlin Hans Karl Schulze, Marburg Winfried Schulze, München Georg Schwaiger, München Hansmartin Schwarzmaier, Karlsruhe Hans Peter Schwenk, München Fred Schwind, Marburg Rainer C. Schwinges, Bern Kurt-Victor Selge, Berlin Josef Semmler, Düsseldorf Carlo Servatius, Mainz Wolf Jobst Siedler, Berlin Gabriel Silagi, München Zdenëk Solle, Prag Stefan Sonderegger, Zürich Rolf Sprandel, Würzburg Franz Staab, Landau Reinhard Staats, Kiel

XII

Tabula gratulatoria

Dieter Staerk, Sulzbach Frauke Stein, Saarbrücken Winfried Stelzer, Berlin Wilhelm Stornier, München Eva-Maria Strauß, Olching Alfred A. Strnad, Innsbruck Katherine Strnad-Walsh, Salzburg Tilman Struve, Wuppertal Jürgen Sydow, Berlin Giovanni Tabacco, Turin Michael Toch, Jerusalem Bernhard Töpfer, Berlin Manfred Tremi, Rosenheim Ralf Urban, Trier Cinzio Violante, Pisa Wilhelm Volkert, Regensburg Clemens Vollnhals, Berlin Hanna Vollrath, Bochum Ernst Voltmer, Trier Hans H. Wacker, Höhenrain Hermann Weber, Mainz

Hugo Weczerka, Marburg Volker Wehdeking, Stuttgart Stefan Weinfurter, Mainz Eberhard Weis, München Reinhard Wenskus, Bovenden/Göttingen Karl Ferdinand Werner, Rottach-Egern Matthias Werner, Köln Ernst-Peter Wieckenberg, München Sylvia Wimmer, München Stanley B. Winters, New Jersey Reinhard Wittmann, München Herwig Wolfram, Wien Hans F. Zacher, Pöcking Klaus Zessner, Homburg Walter Ziegler, München Harald Zimmermann, Tübingen Wolfgang Zorn, München

Abkürzungen

AD Β

Allgemeine Deutsche Biographie, hg. durch die Historische Commission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 56 Bde., Leipzig 1875-1912.

BayHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München

BDLG

Blätter für deutsche Landesgeschichte, Wiesbaden 1937 ff.

DA

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters (1937-44: für Geschichte des Mittelalters, Weimar) Marburg-Köln 1951 ff.

HAB

Historischer Atlas von Bayern, München 1950 ff.

HJb

Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, MünsterMünchen-Freiburg 1880 ff.

HVj

Historische Vierteljahresschrift, Dresden u.a. 1898-1937/39

HZ

Historische Zeitschrift, München 1859 ff.

JffL

Jahrbuch für fränkische Landesforschung, hg. vom Institut für fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen, 1935 ff.

LexMA

Lexikon des Mittelalters, München-Zürich 1980 ff.

MGH

Monumenta Germaniae Histórica

MGH SS

M G H Scriptores

MGH SS rer. Merov. M G H Scriptores rerum Merovingicarum M G H SS rer. Germ,

M G H Scriptores rerum Germanicarum

in us. schol.

in usum scholarum

MGM

Monographien zur Geschichte des Mittelalters, hg. von K. Bosl und F. Prinz, Stuttgart 1970 ff.

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Innsbruck 1948 ff.

MÖIG

Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Graz u.a. 1880-1941.

M I Ö G Erg.-Bd.

M I Ö G Ergänzungsband

N D bzw. ed. an.

Neudruck

NDB

Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1953 ff.

XIV

Abkürzungen

OA

Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte, hg. vom Historischen Verein von Oberbayern, 1839 ff.

StMBO

Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, München 1911 ff.

VSWG

Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Wiesbaden u.a. 1930ff. (vorher ZSWG)

Vu F

Vorträge und Forschungen, hg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Konstanz-Lindau (Sigmaringen) 1955 ff.

ZBLG

Zeitschrift 1928 ff.

ZGO

Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Karlsruhe 1950 ff.

für bayerische

Landesgeschichte,

München

Hermann Bauer Über einige utopische Topoi und die Anfänge der Kunsttheorie in der Renaissance Eine der zentralen Vorstellungen der Renaissance war die von Utopia, dem bestens funktionierenden Staatsgebilde auf einer fernen Insel. Sie lag so fern im Meer, daß es lebensgefährlich war, sich dorthin aufzumachen. In Shakespeares „Sturm" (1. Aufzug, Ende der ersten Szene) versucht der Bootsmann, das Schiff im tosenden Sturm noch zu retten, im Hintergrund aber sind schon Stimmen zu vernehmen: „Gott sei uns gnädig! Wir scheitern! Scheitern! - Lebt wohl, Weib und Kinder! - Leb wohl, Bruder! - Wir scheitern!" Dann fällt der Vorhang vor der stürmischen Szene, nachdem Gonzalo noch stöhnte: „Jetzt gäb' ich tausend Hufen See für einen Morgen dürren Landes: hohe Heide, braune Geniste, was es auch wäre. Der Wille droben geschehe, aber ich stürbe gern eines trocknen Todes!" Wie die anderen wird Gonzalo jedoch lebend auf ein wüstes Eiland gespült, über das er bald räsoniert: „Hätt' ich die Pflanzung dieser Insel [...] Und wäre König hier, was würd' ich tun? [...] Ich wirkte im gemeinen Wesen (d.i. der „commonwealth") alles durchs Gegenteil; denn keine Art von Handel erlaubt' ich, keinen Namen eines Amts; Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtum, Dienst, Armut gäb's nicht; von Vertrag und Erbschaft, Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts; auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Öl, Metall, kein Handwerk; alle Männer müßig, alle; die Weiber auch, doch völlig rein und schuldlos; kein Regiment - . " Da fallen die anderen ihm ins Wort, aber so schnell ist Gonzalo nicht zu bremsen: „In der gemeinsamen Natur sollt' alles Frucht bringen ohne Müh' und Schweiß; Verrat, Betrug, Schwert, Speer, Geschütz, Notwendigkeit der Waffen gäb's nicht bei mir; es schaffe die Natur von freien Stücken alle Hüll' und Fülle, mein schuldlos Volk zu nähren. [...] So ungemeint wollt' ich regieren, Herr, daß es die goldne Zeit verdunkeln sollte." Gonzalo entschuldigt sich gleich darauf wegen dieser „lustigen Possen" (merry foolings), die nicht zuletzt auch ein Reflex auf die Utopie des Thomas Morus sind. Und nicht nur das, das Handlungselement mit dem Scheitern des Schiffes im Sturm und die „Wiedergeburt" auf der Insel entstammen ebenfalls einer Topik des utopischen Romans, wozu u.a. auch die Umkehrung aller gewohnten Regeln und Werte gehört wie der Rekurs

2

Hermann Bauer

auf das „Goldene Zeitalter", das man bei Shakespeare auf der nur scheinbar öden Insel, schließlich bei Prospero in herrlicher Landschaft findet. Im Jahre 1659 strandet, wie Daniel Defoe uns erzählt, Robinson Crusoe auf einer Insel vor der Mündung des Orinoko. Alle anderen vom Schiff sind ertrunken bis auf ihn, der immer wieder von den Wellen des abklingenden Orkans gegen die Klippen geschleudert wird. „Dann stürzte" er „mit letzter Anstrengung gegen das Ufer, kletterte über die Sandhügel und w a r f sich „nach vollendeter Rettung aus der Gefahr des Sturmes und der Wut der Gewässer auf das Meergras nieder". Als erstes dankte Robinson Gott für seine Rettung, dann, nach einer anfänglichen Verzweiflung über seine Lage, begann er, sich auf seine ganz persönliche Utopie des Neuanfangs einzurichten. Sein Autor Defoe half ihm dabei, denn er ließ ihn im Schiffswrack das Wichtigste finden, Werkzeuge, die Bibel und vor allem Schießpulver. Die Geschichte ist zu bekannt und auch interpretiert, als daß sie hier besprochen werden müßte. Ich darf im voraus darauf aufmerksam machen, daß Robinson bei seiner Erkundung der Insel ein schönes Tal entdeckte, das viele Annehmlichkeiten bot, wohin er jedoch nur während der Sommerfrische ging, weil er ansonsten in der Nähe des Strandes bleiben wollte. Raphael Hythlodeus, das ist der fremde Reisende, den Thomas Morus einem ebenfalls vorgeschobenen eigentlichen Erzähler von Utopia berichten läßt, dieser Raphael hatte es nicht ganz so schwer, auf die besagte Insel Utopia zu gelangen. „Er überließ das väterliche E r b g u t . . . seinen Brüdern und schloß sich - er ist Portugiese - aus Lust, die Welt kennenzulernen, dem Amerigo Vespucci an. Dessen ständiger Begleiter war er auf den drei letzten jener vier Reisen, von denen man bereits überall liest; doch kehrte er von der letzten nicht mit ihm zurück. Er wünschte nämlich, und setzte es bei Amerigo durch, daß er unter jenen vierundzwanzig Männern war, die am Ende der letzten Seereise im Kastell zurückblieben. [...] Nachdem er übrigens nach Vespuccis Abfahrt mit fünf Gefährten aus dem Kastell viele Länder durchstreift hatte, wurde er schließlich nach Tapobrane verschlagen und gelangte von da nach Kalikut; dort traf er gerade portugiesische Schiffe an und gelangte wider Erwarten doch noch in die Heimat." Auf dieser Fahrt lernte er auch nach großen Schwierigkeiten die Insel Utopia kennen. Petrus Ägidius, der fiktive Autor des Buches von Morus, hielt den Fremden zunächst für einen Matrosen. „Jedenfalls fährt er nicht zur See wie Palinurus, sondern wie Odysseus oder, besser gesagt, wie Piaton." Diese drei Namen sind hier sehr gezielt eingesetzt: Palinurus war der Steuermann des Aeneas, der, kurz bevor man Italien erreicht hatte, im Schlaf ins Meer gestürzt war. Später traf Aeneas den Geist des Toten wieder, und der erzählte, daß er drei Tage und Nächte auf dem Meer getrieben worden sei, dann schließlich das gesuchte Land gesehen habe, an den Strand geschwommen, dort aber von den Bewohnern getötet worden sei. Ganz so schlimm also erging es dem Raphael Hythlodeus nicht. Eher wie

Die Anfänge der Kunsttheorie in der Renaissance

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dem Odysseus, der in der Tat als der Prototyp des utopischen Seefahrers gelten darf. Nicht wegen seiner Irrfahrten schlechthin, sondern als derjenige, der - an die Gestade der Phäaken gespült - seine Auferstehung feiern durfte und die Einleitung seiner endgültigen Rückkehr. Mit dem sechsten Buch der Odyssee fand der Held nicht nur zum Leben zurück, sondern begann auch die eigentliche Erzählung von seinen Irrfahrten. Wenn Morus auch und vor allem Piaton an dieser Stelle nennt, dann als ersten und bedeutendsten Verfasser einer Staatsutopie. Die homerische Geschichte von Odysseus wurde zum Vorbild für die Rahmenerzählung, die „Politeia" Piatons zum Vorbild für den eigentlichen utopischen Entwurf der Utopie. Gefährlich war auch die Fahrt nach der „Nova Atlantis" des Francis Bacon (1638 gedruckt). Von Peru aus segelte man los in Richtung China und Japan. Man war wohlgerüstet, aber die Winde waren bald ungünstig. „Als wir uns daher inmitten der gewaltigsten Wasserwüste des Erdkreises ausgesetzt sahen, ohne Lebensmittel, hielten wir uns für so gut wie verloren und erwarteten den nahen Tod. Dennoch erhoben wir unsere Herzen und Stimmen zu Gott im Himmel, der ,seine Wunder in der größten Not erzeigt' (Ps. 106,24). Ihn baten wir bei seiner Barmherzigkeit, er möge, wie er zu Anfang der Welt ,die Sammlung der Wasser' (Gen. 1,10) befahl und ,das Trockene erscheinen' ließ, so auch uns jetzt Land zeigen, damit wir nicht zugrunde gingen." In der Tat zeigt sich Land mit einem sicheren Hafen - Nova Atlantis, Bacons Utopia. Nicht ganz so dramatisch, aber schwierig gestaltet es sich auch bei Tommaso Campanella (1623), zum Sonnenstaat zu gelangen: Jedenfalls ist der Erzähler wieder ein Seefahrer (aus Genua), der den ganzen Erdball umfuhr, bis er nach Taprobana (genau unter dem Äquator) gelangte, hier aus Furcht vor den Einwohnern sich in einem Wald versteckte, und, als er sich wieder herauswagte, in die Civitas Solis geführt wurde. 1619 schiffte sich der württembergische Pfarrer Johann Valentin Andreae ein, vor allem, um der Oberherrschaft der Tyrannei zu entrinnen. Aber er war vorsichtiger: „Indem ich als ein Fremdling ... irrend umher wandere, ohne denjenigen gefunden zu haben, den ich so ängstlich suchte; so entschloß ich mich aufs neu, mich noch einmal auf das Mare Academicum zu wagen, obwohl ich dessen Tücke bisher vielfältig inne geworden. Indem ich also auf diesen Entschluß das Schiff der Phantasie bestieg, und bei vielen so bekannten als unbekannten Gestaden vorüber segelte, gab ich so Leib als Leben tausenderlei Gefahren, die einen unzeitigen Vorwitz zu begleiten pflegen, gänzlich bloß. Das Wetter war uns eine geringe Zeit günstig; dann erregten die Sturmwinde des Neides und der Verleumdung die Aethiopische See mit einer so großen Heftigkeit wider uns, daß wir alle Hoffnung, ruhiges Wetter zu bekommen, gänzlich sinken ließen". Schließlich lief sein Schiff auf Klippen und wurde zertrümmert. „Ich allein, ohne einen Gefährten, wurde endlich an einen gleichsam nur

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geringen Rasen angeworfen". Er gehörte zur Insel Caphar Salama (ein hebräisches Wort für „Friedensdorf"). Hier fand Andreae schließlich die „Respublica christianopolitana". Noch sind wir bei der Rahmenhandlung des utopischen Romans; und doch ist dieselbe Inhalt genauso wie die schließliche Erzählung vom utopischen Staat, macht sie doch deutlich, wie sehr das Scheitern in der Gegenwart und das Ausgesetztsein in der Öde eines Eilands Voraussetzung ist, die völlige Erneuerung in einer besseren Welt zu erfahren. Im übrigen gehört die Reise übers Meer zu jener, der Antike entstammenden Topik. Ernst Robert Curtius macht darauf aufmerksam: „Die römischen Dichter pflegen die Abfassung eines Werkes einer Schiffahrt zu vergleichen. R i c h ten' heißt ,die Segel setzen, absegeln' {vela dare, Vergil, Geórgica 11,41)." Es sind die schönen Verse des Vorwortes mit der Anrede an Maecenas: „Dem offenen Meer laß fliegend die Segel! / Nimmer begehre ich, alles im Lied umfassend zu singen; / hätt' ich auch hundert Zungen und hundert Münder und eine / Stimme von Erz. Komm, streife entlang an des nächsten Gestades / Rand! Schon greifbar ist Land. Ich will nicht in bloßer Erdichtung / dich hinhalten auf schweifendem Pfad durch endloses Vorwort." Curtius: „Der Dichter wird zum Schiffer, sein Geist oder sein Werk zum Kahn. Seefahrt ist gefährlich, besonders wenn von einem unerfahrenen Schiffer (rudis nauta, Fortunat, Leo 114,26) betrieben ... die Schiffahrtsmetaphern gehören ursprünglich der Poesie an. Einem Dichter schreibt Plinius (epist. VIII,4,5): ,löse denn die Taue, stelle die Segel und verstatte deinem Genius freie Fahrt!'" Noch Dante benutzte die Metapher, die jetzt in den Utopien zu einem Teil der Rahmenhandlung wurde. Aus der zitierten Stelle aus den Geórgica geht noch etwas hervor: Das Land, das schließlich in Sicht kommt, bedeutet nicht nur das Ende des Umherschweifens auf dem Meer der Phantasie, es ist Realität - was in den Realitätsverschachtelungen der meisten utopischen Romane bedeutet, daß nach der Rahmenhandlung der Meerfahrt, in der sich Erfindung manifestiert, jetzt, wenn der Schiffbrüchige auf der Insel seine Augen aufschlägt, ein zumeist staatsphilosophisches Konstrukt als Wirklichkeit angeboten wird. Ein anderer utopischer Topos könnte „Das Goldene Buch" oder „Die Goldene Inschrift" genannt werden. Morus nannte seine Erzählung einen „libellus vere aureus". Campanella schachtelte in seine Utopie noch einmal die eigentliche Utopie, im zentralen Tempel der Sonnenstadt ist das einzige Buch, das es überhaupt hier gibt, unter der Kuppel aufbewahrt. Es ist in goldenen Lettern geschrieben und wird die „Weisheit" genannt, alle Wissenschaften sind hier bewundernswert leicht und faßlich dargestellt, nach Art der Pythagoreer wird es dem Volk vorgelesen. Und nicht viel anders ist es in der Christiansburg Andreaes. Hier gibt es „eine doppelte öffentlich aufgehängte Tafel", „worauf ihr öffentliches Glaubensbekenntnis und ihre Lehrsätze mit goldenen Buchstaben v e r f a ß t . . . "

Die Anfänge der Kunsttheorie in der Renaissance

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Am auffallendsten ist die Geschichte vom „Goldenen Buch" in dem Kunsttraktat des Filarete erzählt, einem Traktat, der, wie ich meine, ganz am Anfang der neueren utopischen Romane steht. Im Gegensatz zu seinem Vorbild Alberti kleidet Filarete nämlich sein Projekt einer Stadt, die er entsprechend dem angenommenen Stifter Sforzinda nennt, in Erzählform. „Ich habe einen Plan erfunden, der ihm [dem Fürsten], wie ich meine, recht sein wird. Und sogleich, da er eben nicht übermäßig beschäftigt ist, will ich zu ihm gehen und ihm davon sprechen. Ich glaube, die Idee wird ihm zusagen wie jene des Delinocrates Alexander dem Großen." Der Plan gefällt dem Fürsten, und Filarete soll ihm mitteilen, wie man es anfangen muß, die Stadt zu gründen - woraus sich die Erzählung entwickelt, in der es schließlich eine potenzierte Fiktion gibt. Nachdem die Stadt Sforzinda schon weit gediehen ist, will man auch eine Hafenstadt bauen. Bei den Fundamentierungsarbeiten findet sich in der Erde, in einem bleiernen Kasten, ein „Goldenes Buch" (man erinnere sich des Untertitels bei Morus), in welchem eine in sagenhafter Zeit hier schon bestehende Stadt eines sagenhaften Herrn namens Zogalia (i.e. Galeazzo) beschrieben ist. „Der Prinz kehrte (nach Lesen des Buches) zurück, und wir erbauten Hafen, Palast und Kirche genau nach den im Goldenen Buche beschriebenen Bauten." Bei Diodor (V,46) findet sich die Geschichte von den südlichen Inseln, welche östlich der arabischen Küste liegen. Vor allem die Insel Panchäa ist erwähnenswert, Diodors Gewährsmann Euhemeros beschreibt die Ansiedlung, die übrigens viele utopische Züge (etwa der Einrichtung von ausschließlichem Gemeinbesitz) neben dem hier zu nennenden ihr Eigen nennt. Er vermerkt, daß es hier eine goldene Stele im Heiligtum des Zeus gibt, „mit Inschriften in den sogenannten heiligen Schriftzügen der Ägypter", in welchen die Taten des Uranos und des Zeus verzeichnet sind. Lactanz kennt die Version, daß Euhemeros überhaupt seine Geschichte aus den heiligen Inschriften zusammengesetzt habe, die sich in den ältesten Tempeln fanden, namentlich im Heiligtum des Triphylischen Zeus, wo eine goldene Säule stand, die, wie die Inschrift besagte, Zeus selber aufgestellt und auf welcher er seine Taten verzeichnet hatte. Mit einem solchen Topos läßt es sich bestens über die Entzifferung einer geheimnisvollen Schrift aus Urzeiten in die Gründung eben vor Zeiten einführen. Nicht zuletzt geht es um die geheimnisvolle Schrift, die schwer zu entziffernde Hieroglyphe. Filarete, um jetzt eine kunsthistorische Wendung zu vollziehen, Filarete versuchte sich, wie er schreibt, auch in der Hieroglyphenkunde, anhand des Obelisken, „der mit ägyptischen Buchstaben bedeckt w a r " : „Diese sind früher gebräuchlich gewesen; sie werden durch lauter Figuren, sei es von Tieren - wie Eulen, Schlangen und dergleichen - oder von anderen Dingen - wie Sägen, Augen usw. - gebildet. Nur sehr wenige wissen sie zu deuten. Der Poet Francesco Filelfo sagte mir, ein je-

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des Tier bedeute eine Sache, z. B. die Schlange den Neid. Übrigens werden diese Zeichen wie unsere Buchstaben aneinander gereiht." Filelfo hatte, wie ein Brief an Scalamonti belegt, den „Horapoll" gekannt, aber auch in der Diodor-Übersetzung des Poggio, die übrigens auch Alberti bereits kannte, sind die Hieroglyphen zu finden - wie die Geschichte von Euhemeros, die jetzt verwandelt als die Erzählung vom Goldenen Buch mit den geheimnisvollen Zeichen Urstände feiern sollte. Filaretes Vorschlag eines sternförmigen Grundrisses seiner Stadt wurde fester Bestandteil der Architekturgeschichte. Kaum beachtet dagegen sind die vorangehenden Seiten seines zweiten Buches. Hier ist der Bauplatz beschrieben und die Lage der geplanten Stadt. Wenn zunächst von den günstigen Himmelsrichtungen und den Winden, nach denen man sich richten muß, die Rede ist, dann ist das allerdings kaum etwas Neues, steht es doch ähnlich so bei Alberti und vorher bei Vitruv. In Filaretes Erzählung findet sich schließlich ein Mann, der ein Tal kennt, das die gesuchten Vorzüge der Lage hat. Begierig, es kennenzulernen, besteigt man das Pferd. Man gelangt an einen Fluß namens „Inda". Und es eröffnet sich ein „locus amoenus", um zu einem weiteren, auch in den späteren Utopien regelmäßig wiederkehrenden Topos zu kommen. Fette Weiden, große Viehherden, Landhäuser gab es hier. Getreide, Wein, Öl, Safran, Obst, Fleisch in Hülle und Fülle, Wälder für die Jagd und den Vogelfang. Wieder stand Diodor hier Pate. Unweit der vorhin zitierten Stelle findet sich (V,43), gibt es bei diesem die Landschaftsbeschreibung der Insel Panchäa, die nicht wörtlich, aber dem Inhalt nach dem Text Filaretes sehr ähnlich ist: „Die Ebene ... ist von allerlei Bäumen überschattet, nicht nur von fruchttragenden, sondern auch von anderen, die nur das Auge ergötzen. Zypressen von außerordentlicher Höhe, Platanen, Lorbeer und Myrrhen stehen in dichten Gruppen, denn die ganze Gegend hat fließendes Quellwasser die Fülle. Nahe bei dem heiligen Gebiet entspringt nämlich der Erde eine Quelle süßen Wassers von solcher Größe, daß sie sofort zu einem schiffbaren Fluß wird ... hier genießen eine Menge Menschen der Sommerfrische, und buntgefiederte Vögel aller Art nisten in den Zweigen und ergötzen das Ohr durch lieblichen Gesang, während allerlei Gartenanlagen und zahlreiche Wiesen mit herrlichem Graswuchs und bunten Blumen das Auge erquicken [...]." Filarete beendet die Beschreibung des Indatales - an dessen Ende er seine Stadt errichten wird - mit der Geschichte, daß man bei einem Einsiedler in seiner Zelle einkehrt und von ihm bewirtet wird. Man sah in seiner Zelle „figure di Dio e di Nostra Donna", was in der Formulierung bezeichnenderweise nicht eindeutig pagan oder christlich gelesen werden kann - geht es doch darum, daß der Platz von alters her dem Kult dient. Und Filarete wird hier die Kirche erbauen. Im übrigen ist hier, mit der Schilderung von der Einkehr beim bärtigen Einsiedler, der Obst, Brot und Wasser aus der Quelle anbietet, die bukolische Topik unverkennbar.

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In Diodors Erzählung nach Euhemeros von der Insel Panchäa ist auch von dem Konzept einer kommunistischen Gemeinschaft die Rede, in der das utopische Grundmuster von Morus vorgegeben ist, während, wie schon zitiert, die Städte in einer arkadischen idealen, schönen wie ertragreichen Gegend angesetzt werden. Spätestens bei Diodor wird im unvermittelten Übergang von Landschaftsidylle zur Schilderung der richtig eingeteilten und regierten Stadt eine Diskrepanz in der utopischen Struktur sichtbar, die im übrigen der sog. Utopieforschung genügend Schwierigkeiten bei ihren Definitionen und Eingrenzungen macht. Einerseits das „Goldene Zeitalter" und seine einfachen Freuden des ländlichen Lebens, andererseits die strengen Reglementierungen eines funktionierenden Stadtstaates - beide Bereiche stoßen auch bei Filarete sehr hart aneinander. Beim gleichen Diodor, der die Geschichten des Euhemeros tradierte, konnte Filarete (über seinen Gewährsmann Filelfo wohl) auch die Geschichten des Jambulos lesen. Jambulos hatte sich nach Arabien als Kaufmann begeben, wurde von Räubern überfallen, dann zum Hirten gemacht, von Äthiopiern gefangen und schließlich auf den Ozean auf einem Opferschiff ausgesetzt, wo er nach vier Monaten Fahrt seine utopische Insel fand, auf der ebenso arkadische wie kommunistische Zustände herrschten. Auch hier liegen dicht beieinander Schilderungen eines „locus amoenus" und die von sozialen Zuständen, wie sie historisch etwa seit der spartanischen Verfassung und Lebensweise bekannt waren. Wenn Filarete über Diodor des Euhemeros und Jambulos Erzählungen von utopischen Inseln nicht nur kannte, sondern auch für die Rahmenhandlung und den Inhalt seines Buches benutzte, dann gab er seinem primär architekturtheoretischen Traktat nicht nur (gegenüber Alberti) eine „utopische" Wendung, er schuf sogar die erste neuzeitliche Utopie. Den Topos vom Schiffbruch konnte Filarete allerdings in seinem Zusammenhang nicht brauchen, obwohl er diesen bei Jambulos-Diodor vorgeprägt fand. Wollte er doch seinen Fürsten zu seinen utopischen Plänen gewinnen und nicht am Anfang des Traktates die Gegenwart scheitern lassen. Kehren wir noch einmal zu Robinson Crusoe zurück. Wenn es richtig ist, daß in dieser Figur gleichsam in einer prometheischen Perspektive nach dem Schiffbruch die einzelnen Stufen der Zivilisation dargestellt sind, also das Sammeln und Jagen, die Landwirtschaft und die Viehzucht, dann ist das so beschrieben, daß der schiffbrüchige Robinson zwar im Inneren seiner Insel ein Paradies vorfindet, einen „locus amoenus", sein Leben, das Überleben aber auf utopische Weise von einem „Punkt Null" an beginnen mußte. Utopia, oder wie immer man es nennen mag, ist ein seltsames Paradox. Der Nicht-Ort geht auf lange Traditionen zurück, ist vor Zeiten gegründet, hat also Geschichte; und er ist zugleich geschichtslos, gezeichnet auf

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eine tabula rasa, womit wir bei einem letzten der utopischen Topoi angelangt sind. Am Anfang aller Utopien steht Piatons - nicht Atlantisgeschichte, sondern - Politela. In dieser wird der Philosoph, der einen idealen Staat entwerfen will, mit dem Maler verglichen: „... also wenn die Leute nun gewahr werden, daß wir die Wahrheit von jenem sagen, werden sie dann doch den Philosophen böse sein und uns den Glauben verweigern, wenn wir sagen, daß ein Staat nicht glückselig sein könnte, wenn ihn nicht eines göttlichen Urbildes sich bedienende Zeichner entworfen haben? - Sie werden wohl nicht böse sein, sprach er, wenn sie es gewahr geworden sind. Aber welches, sagst du nun, sei die Art des Entwurfs? - Wenn sie nun, sprach ich, wie eine Tafel den Staat und die Gemüter der Menschen zur Hand nehmen, werden sie sie wohl zuvörderst rein machen müssen, was gar nicht eben leicht ist." Alberti, der sich immer wieder auf die Politeia bezieht, wenn es um das beste Stadt-Staaten-Gebilde geht, sollte derjenige werden, der auf dieser tabula rasa den neuen Staat nicht mehr nur dachte, sondern als eine Sache des Künstlers oder eines Demiurgen ansah. Wie Plato sah er die tabula rasa als einen Malgrund an, den es zunächst zu richten galt, damit schließlich der Philosoph wie ein Maler darangehen konnte, darauf eine Polis zu entwerfen. Im 4. Buch, wo es um die Anlage von Städten geht, greift Alberti Platon auf: „Daher wird es gut sein, Plato nachzufolgen, der auf die Frage, wo man denn jenen herrlichen Staat, den er sich eingebildet hatte, finden könne, antwortete: Wir sind nicht von dieser Welt, doch suchen wir zu ergründen, welcher Art jener sein müßte, welcher der beste von allen ist. Du aber halte jenen unter allen für vorzüglicher, welcher von der Ähnlichkeit desselben am wenigsten abweicht [...]. So will auch ich (Alberti) durch Vorführung von Beispielen jene Stadt beschreiben, welche in jeder Beziehung der Meinung der Gelehrtesten entsprechen wird [...]. Hierbei werde ich mir den Spruch des Sokrates vor Augen halten, daß wir jene Sache für die beste halten sollen, welche an sich derart beschaffen ist, daß sie nur verschlechtert werden kann." Dann folgt der erwähnte Entwurf auf der leeren Tafel von all dem, was zur idealen Stadt gehört. Nur wenige Seiten vorher, im vierten Buch, wo es um „Anlagen allgemeiner Art" geht, überlegt Alberti, wie der Staat am besten sozial zu strukturieren sei. „Einteilen" wird das genannt. Er erinnert sich des sog. hippodamischen Projektes, aber auch des Diodor-Berichtes von der Insel Panchäa. „Dies habe ich aus vielen Berichten der Alten ausgezogen und ganz kurz zusammengefaßt. Alles, was ich hier zusammengestellt habe, sind Teile von Gemeinwesen, und es ist zu entscheiden, daß die einzelnen Teile auch einzelne Arten von Gebäuden benötigen." Die platonische Tafel ist sauber, auf ihr wird jetzt der Staat eingeteilt, während die Architektur eine Funktion dieser Einteilung ist. . Albertis „Zehn Bücher von der Architektur" (ab 1443 zunächst in Latein abgefaßt) gelten zu Recht als erster neuzeitlicher Architekturtraktat.

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Daran läßt auch das Inhaltsverzeichnis keine Zweifel aufkommen, zumal es gleich mit einer Abhandlung über die Risse beginnt. Und doch wird der Architekturhistoriker, der pragmatische Hinweise des Architekten sucht, enttäuscht, weil der überwiegende Teil des Traktates eher von der Rolle der Architektur bei der Einrichtung des guten Staates handelt. Schon hier und noch vor Filarete, um die Mitte des Quattrocento, liegt damit eine erste „neulateinische" Utopie vor. Mit Filarete sind auch vorgeprägte Topoi der utopischen Rahmenhandlung hinzugekommen. Erst bei Thomas Morus ist das ideale Gemeinwesen gedacht, als wäre es ohne die Hilfe der Künste entstanden 1 .

' An dieser Stelle, so meine ich, sollten einige Hinweise zur Literatur genügen. Texte und Bibliographie zu den neuzeitlichen Utopien finden sich bei K. J. HEINISCH, Der utopische Staat, Hamburg 1989; zu diesem Thema siehe auch: H. BAUER, Kunst und Utopie, Berlin 1965; u n d : Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hg. von W. VOSSKAMP, 3 Bde., Stuttgart 1985; zu den architekturtheoretischen Schriften siehe die Bibliographie bei H.-W. KRUFT, Geschichte der Architekturtheorie, München 1985.

Reinhard

Baumann

Von Frundsberg zu Wallenstein Die Entwicklung des Söldnerunternehmertums in der frühen Neuzeit* 1. Der Söldnerunternehmer

- zur Tragfähigkeit eines Begriffs

Wenn man das Spätmittelalter, besonders das 16. Jahrhundert, als Epoche des Frühkapitalismus begreift, so gehört der kaufmännische Unternehmer als wesensprägender Typ zu diesem Zeitabschnitt. Montanindustrielle und Bankiers wie Jakob Fugger, deren Kapital sowohl die Expansion des eigenen Handelshauses als auch den Einfluß auf die große Politik bis zur Finanzierung des politischen Mittels Krieg ermöglichte, berechtigen sehr wohl, von einer frühkapitalistischen Periode zu sprechen, wenn auch dominante Strukturen der Gesellschaft weiterhin ständisch-feudal waren und weder durch die Revolution des gemeinen Mannes von 1525 noch durch die Reformation verändert werden konnten. Unternehmerisches Denken und Handeln prägte daneben aber ebenfalls, wenn auch zunächst weniger augenfällig und weniger spektakulär, die Mittelschicht des Bürgertums. In Nürnberg z.B. ist im 16. Jahrhundert eine relativ breite Mittelschicht wohlhabender Meister vorhanden'. Auf die Bedeutung des bürgerlich-individuellen und des zünftischen spätmittelalterlichen Unternehmertums hat vor allem Rolf Kiessling hingewiesen und überzeugende Belege für die Reichsstädte Nördlingen, Kempten und Memmingen und die Landstädte Lauingen und Mindelheim vorgelegt 2 . Unternehmerischer Geist im Frühkapitalismus ist also weit mehr als das Charakteristikum einer Handvoll bürgerlicher Aufsteiger wie der Fugger in Augsburg. Er ist zudem nicht nur auf bürgerliche Schichten beschränkt. Es war Fritz Redlich, der als erster in einer umfassenden Untersuchung * Abkürzungen: StA MM = Stadtarchiv Memmingen/AStA M = Allgemeines Staatsarchiv München/HStA M = Hauptstaatsarchiv München/StA Rav = Stadtarchiv Ravensburg/StA Üb = Stadtarchiv Überlingen 1

2

K. BOSL, Gesellschaft im Aufbruch. Die Welt des Mittelalters und ihre Menschen, Regensburg 1991, 182. Vgl. R. KIESSLING, Die Stadt und ihr Land, Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefiige in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung, hg. von H. STOOB, Reihe A, Band 29), Köln-Wien 1989, 107-133, 4 1 1 ^ 1 7 , 566-573, 649-663; DERS., Handel und Gewerbe, Stadt-Land-Beziehungen, in: Geschichte der Stadt Kempten, Kempten 1989, 124-139.

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auf den modernen Typ des frühneuzeitlichen „Military Enterpriser" hingewiesen hat 3 . Da die wörtliche Übertragung des Begriffs in „Militärunternehmer" m. E. unzulässige und verfälschende Assoziationen mit einem Militärbegriff nahelegt, der frühestens auf die stehenden Heere des Absolutismus angewendet werden darf, sollte man besser und richtiger vom „Söldnerunternehmer" sprechen. Der Begriff des Söldnerunternehmers war und ist geeignet, einer romantisierend-verklärenden Betrachtungsweise der „Landsknechtzeit" vorzubauen und entgegenzuwirken. Die Obristen des deutschen Fußvolks unter den Habsburgerkaisern des 16. Jahrhunderts wurden nun nicht mehr primär als treue oder untreue kaiserliche Gefolgsleute gesehen, sondern vor allem als Unternehmer und Anführer in einer Person. Redlich hat Kriterien gefunden, mit denen es möglich ist, diese Söldnerunternehmer zu kategorisieren und damit einer sachlichen Betrachtungsweise zu unterziehen: der frühe und der vollentwickelte Söldnerunternehmer, der legale und der illegale, die aus Hochadel bzw. altem Adel stammenden, die aus dem Ritteradel und die bürgerlichen 4 . Dabei unterscheidet den vollentwickelten vom frühen Söldnerunternehmer eine Anwerbung mit bereits vorhandenen und bei Bedarf jederzeit verfügbaren Organisationsstrukturen sowie ein ausgedehntes Kreditsystem, das sowohl in der Lage war, den Kapitalbedarf des Unternehmers sicherzustellen als auch diesem Unternehmer zu ermöglichen, für einen gewissen Zeitraum (mindestens einige Monate!) zum Kreditgeber seines Kriegsherrn zu werden. Der legale Unternehmer wird erst nach Beauftragung durch einen Kriegsherrn und Vertragsabschluß tätig, der illegale dagegen wirbt zunächst auf eigene Initiative hin und versucht dann, sich mit seinen Söldnern einem Kriegsherrn anzubieten und in ein Vertragsverhältnis zu treten. Die großen Landsknechtführer des 16. Jahrhunderts als „Military Enterpriser" zu sehen, gab der Adelsforschung in dieser Epoche neue Impulse. Helgard Ulmschneider, die Herausgeberin einer kritischen Ausgabe von Götz von Berlichingens Autobiographie „Mein Fehd und Handlungen", betrachtete den „Ritter mit der eisernen H a n d " in ihrer Götz-Biographie nicht mehr als überkommenen Vertreter eines vom Adel bestimmten Mittelalters, sondern als modernen Typ des „Raubunternehmers", rational denkend und handelnd und den gesellschaftlichen Wandel seiner Zeit nutzend, um materielle Interessen durchzusetzen 5 . 5

4 5

F. REDLICH, The German Military Enterpriser and his Work Force. A Study in European Economic and Social History, 2 Bde. (VSWG Beihefte 47 u. 48), Wiesbaden 1964/65. Ebd., Bd. 47, 7 ff, 30 ff, 34, 105 ff. H. ULMSCHNEIDER, Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance, Sigmaringen 1974; s. auch V. PRESS, Götz von Berlichingen (ca. 1480-1562). Vom „Raubritter" zum Reichsritter, in: Speculum Sueviae, Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und zur geschichtlichen Landeskunde Südwestdeutschlands. Festschrift für H. DeckerHauff zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Stuttgart 1982, 305-326.

V o n Frundsberg zu Wallenstein

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Neben dem Söldnerunternehmer nun also auch noch der Raubunternehmer? Frank Göttmann hat schlüssig nachgewiesen, daß der Begriff des Raubunternehmers nicht tragfähig, letztlich also die Sicht Goethes in seinem Sturm-und-Drang-Drama von einem Götz, der sich selbst überlebt hat, auch die historisch zutreffende ist6. Der Raubunternehmer - oder Fehdeunternehmer, wie Ulmschneider Götz auch bezeichnet - ist vor allem deshalb keine nützliche Typisierung, weil dieses (scheinbare) Unternehmertum eher traditionell, in jedem Fall aber rückwärtsgewandt und ohne Zukunftsperspektive ist. Wenn Götz beachtliche Erfolge und eine ansehnliche Besitzmehrung durch seine Fehde- und Raubaktionen vorweisen kann, so dankt er das zum wenigsten seiner geschickten generalstabsmäßigen Planung und Durchführung, auch nicht seinem Mut zum kalkulierten Risiko, sondern vor allem seinem persönlichen Glück und politischen Umständen, die sich ohne sein Zutun günstig entwickelten. Weitblick - eine besonders wichtige Unternehmereigenschaft - war ohnehin nur selten seine Sache 7 . Im Gegensatz zum Begriff des Raubunternehmers erweist sich dagegen der des Söldnerunternehmers als tragfähig. Für ihn als Typ treffen alle Kriterien tatsächlich zu, die Ulmschneider an den Raub- und Fehdeunternehmer angelegt hat: ein zielgerichtetes Erwerbsstreben, eine alles bisher Dagewesene übertreffende Größenordnung des Unternehmens, seine generalstabsmäßige Planung und Durchführung. Dazu kommt noch der Mut zum Risiko und eine - im Sinne des Frühkapitalismus - progressive, zukunftsweisende, „moderne" Tätigkeit. Überprüft man den Begriff dann am konkreten historischen Beispiel, so werden nicht alle Kriterien oder nicht alle in gleichem Maße gültig sein. Nimmt man zum Beispiel aus der ersten Generation der vollentwickelten Söldnerunternehmer (nach der Kategorisierung Redlichs) Franz von Sickingen, Merk Sittich von Ems und Georg von Frundsberg, so trifft das zielgerichtete Gewinnstreben auf die ersten beiden wohl zu, im Falle des letzteren aber nicht bzw. nur teilweise und in eingeschränktem Maße, während die übrigen Kriterien auf alle in gleichem Maße anzuwenden sind 8 . Es bleibt noch zu fragen, ob der Begriff des Söldnerunternehmers auch notwendig ist. Wäre er nicht verzichtbar, wenn man, wie verschiedentlich praktiziert, von „deutschen Kondottieren" 9 sprechen würde? Zu solcher Gleichsetzung verführt, daß sowohl die „Condottieri" Renaissance-Italiens als auch die Söldnerunternehmer die Beziehung zu ihrem Kriegsherrn und 6

7 s

F. GÖTTMANN, Götz von Berlichingen - überlebter Strauchritter oder moderner Raubunternehmer?, in: JffL 46 (1986), 83-98. Ebd., 93. Zu Sickingen vgl. H. ULMANN, Franz von Sickingen, Leipzig 1872; zu Ems: L. WELTI, Merk Sittich und Wolf Dietrich von Ems, Dornbirn 1952; zu Frundsberg: R. BAUMANN, Georg von Frundsberg. Der Vater der Landsknechte und Feldhauptmann von Tirol, München 1984.

' Vgl. z.B. B. GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 1970, 42.

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Auftraggeber mit einem Vertrag (condotta) auf eine geschäftliche Grundlage stellten. Condottiere-Mentalität war daneben ebenso wie das Denken und Handeln der meisten Söldnerunternehmer sowohl von Elementen des Rittertums als auch von Geschäftssinn und Kalkül geprägt 10 . Was den italienischen Condottiere allerdings grundlegend vom Söldnerunternehmer unterscheidet, ist seine Unabhängigkeit. Ihn verpflichteten weder ein persönliches Treueverhältnis noch lehensmäßige Bindungen. Kaiser und Reich beanspruchten den Dienst ihrer einzelnen Stände bzw. den von deren Angehörigen, der Söldnerunternehmer war so immer in eine höhere, ideologische Pflicht genommen. Diese blieb nicht unwidersprochen, wurde durch die Berufung auf „der deutschen Nation wohlhergebrachte Libertät und Freiheit" sogar abgelehnt und häufig umgangen". Dennoch aber bestand sie, und wenn ab und zu ein Exempel statuiert wurde, schützte den verurteilten Söldnerunternehmer weder Adelsstand noch der Anspruch auf freies Bündnisrecht. Graf Emich von Leiningen und Sebastian Vogelsberger sind nur die zwei bekanntesten von zahlreichen Beispielen 12 . Den Condottiere dagegen band weder ein Staatswesen noch dessen Herrscher. Frei und ungebunden schloß er seine Verträge, und auch diese verpflichteten ihn nur für die vereinbarte Dauer. Er hatte auch keine moralische Verpflichtung gegenüber der Heimat: „Ubi bene, ibi patria." 13 Im Gegensatz zum Söldnerunternehmertum ist das Condottieresystem aber auch nicht zukunftsorientiert. Es erneuerte und verbesserte die mittelalterliche Kriegsführung, aber es überwand sie nicht. Geoffrey Trease hat es deshalb folgerichtig als Endstufe dieses Kriegswesens bezeichnet 14 . Daß Giovanni de' Medici, dem italienische Historiker den Beinamen „der letzte Condottiere" gaben, durch den Schuß aus einem Falkonett eines kaiserlichen Landsknechthaufens 1526 schwer verwundet wurde und dann am Wundbrand starb, ist schon oft als aussagekräftiges Bild für das Ende des Condottiere-Systems bezeichnet worden. Im Zusammenhang mit der bald darauf folgenden Plünderung Roms durch deutsche und spanische Soldknechte beim „Sacco di R o m a " kann man es auch durchaus als das Ende der italienischen Renaissance sehen. Wenn man bedenkt, wie sehr der Typ des Condottiere den Renaissancemenschen schlechthin verkörpert (Reiterstandbild des Colleoni von Verrocchio), dann ist es sehr aussagekräftig, daß derjenige, der das Falkonett auf Giovanni de' Medici richtete, ein Söldnerunternehmer war - Georg von Frundsberg, wie uns sein 10

G . TREASE, Die Condottieri - Söldnerführer, Glücksritter u n d Fürsten der Renaissance, M ü n c h e n 1974, 240; s. auch A. MOCKLER, T h e Mercenaries, N e w York 1969, 42-48. " F. SOLLEDER, Reichsverbote f r e m d e n Kriegsdienstes, f r e m d e r W e r b u n g und R ü s t u n g unter Maximilian I., in: Z B L G 18 (1955), 315-351, hier 325. 12 Zu Leiningen vgl. ebd., 327-333, zu Vogelsberger: R. BAUMANN, Landsknechte. Von Helden u n d Schwartenhälsen, Mindelheim 1991, 80-83. 13 A. HOCHHEIMER, Verraten u n d verkauft. Die Geschichte der europäischen Söldner, Stuttgart 1967, 20. 14

TREASE ( A n m . 10), 2 4 0 .

Von Frundsberg zu Wallenstein

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Feldschreiber und Sekretär, der schwäbische Humanist Adam Reißner, berichtet 15 . Das Söldnerunternehmertum, das seit den Venedigerkriegen 1508-1516 als vollentwickelt bezeichnet werden kann, hat auf einem ersten Höhepunkt seiner Ausprägung das Condottiere-System beendet. Es war allerdings damit nicht an einem Endpunkt seiner Entwicklung angelangt. Betrachtet man Kader und Anwerbeverfahren, „Söldnermaterial", Bekleidung und Ausrüstung sowie die Finanzierung, dann zeigen sich bedeutsame, einschneidende Veränderungen - von Frundsberg bis Wallenstein. 2. Kader und Anwerbung Es gibt nur wenige und insgesamt unzureichende Berichte, wie die frühen Söldnerunternehmer, also beispielsweise ein Friedrich Kappler, Konrad Gaeschuff oder Martin Schwarz ihre Knechte angeworben haben. Dagegen erhellen viele Quellen die Anwerbetätigkeit der ersten Generation der vollentwickelten Söldnerunternehmer. So berichtet uns z.B. die Weißenhorner Historie des Nicolaus Thoman über das Jahr 1521: Desselben jars am sampstag vor Marie Magdalene kamen etlich hauptleyt her als her Jorg von Fraintsperg, der lang Casper, Jörglin von Krumbach, ließen umbschlachen...16. Der Chronist notiert hier das Anwerben für den FrankreichFeldzug Kaiser Karls V. in Schwaben, das am 20. Juli 1521 durch die drei genannten Hauptleute in Weißenhorn über die Bühne ging. Der Chronist spricht pauschal von „hauptleyt" und unterscheidet keine Dienstgrade. Diese sind im eigentlichen Sinne noch nicht ausgebildet. Der erste der drei genannten Hauptleute, Georg von Frundsberg, spielt in Weißenhorn eine Dreifachrolle: Er ist einer der vom Kaiser beauftragten Söldnerunternehmer für diesen Feldzug, einer der zukünftigen obersten Hauptleute der Landsknechte in diesem Feldzug, also ein Landsknechtobrist, und dazu selbst als Werber in eigener Person tätig. Er hat damals bereits eine steile Karriere hinter sich und kann davon ausgehen, daß ihn altgediente Landsknechte aus den Venedigerkriegen kennen, vor allem als einen der Verteidiger Veronas, oder von seinen Erfolgen in der Württemberger Fehde 1519. Es ist also zu erwarten, daß allein schon sein Name, dazu sein persönliches Erscheinen die Männer in Scharen zum Werbetisch strömen läßt. Auch der zweitgenannte, der „lang Casper", hat einen guten Namen. Caspar Reger von Ulm ist ein erfahrener Landsknechthauptmann, der sich in manchem Feldzug bewährt hat. Ob dies auch für den dritten, Jörglin von Krumbach, gilt, läßt sich nicht ausmachen. Es ist jedenfalls davon auszugehen, daß beide Hauptleute zum „ K a d e r " Frundsbergs gehörten 15

Adam Reißner, Historia der Herren Georg und Kaspar von Frundsberg, nach der 2. Auflage hg. von K. SCHOTTENLOHER (Voigtländers Quellenbücher 66), Leipzig 1913, 85; vgl. a u c h BAUMANN ( A n m . 8 ) , 2 6 9 .

" Weißenhorner Historie des Nicolaus Thoman, in: F. L. BAUMANN, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Oberschwaben, Tübingen 1876, 56.

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und von ihm nach Erhalt der Bestallung durch den Kriegsherrn als Werber eingesetzt wurden. Unter dem Kader 17 eines Söldnerunternehmers ist damals noch keine festgefügte Organisation im Sinne der Armeen des Industriezeitalters zu verstehen, sondern ein mehr oder weniger von vornherein bestimmter Personenkreis, den der Söldnerunternehmer mit Werbe- und Verwaltungstätigkeit im Zusammenhang mit seinem in der Entstehung begriffenen Landsknechthaufen betraute. Die Männer des Kaders nahmen Spezialaufgaben wahr, die Erfahrung und eine gewisse Befähigung voraussetzten, außer den Anwerbern z.B. das Amt des Zahlmeisters, des Schultheißen und des Profossen. So darf man als sicher annehmen, daß Frundsberg außer von den beiden Hauptleuten auch noch von anderen Mitgliedern seines Kaders begleitet wurde. Sie ließen umschlachen besagt nämlich, daß auch mindestens „ein Spiel" mit dabei war, d.h. ein Pfeifer und ein Trommler, die durch die Stadt zogen und mit ihren Instrumenten auf die Werbung aufmerksam machten. Regelmäßig gehörte auch ein Feldschreiber mit dazu. Er führte die Werbeliste, in die auf jeden Fall Tauf- und Zuname sowie der Herkunftsort des Knechtes eingetragen wurden. Wahrscheinlich war auch ein Zahlmeister mit dabei, möglicherweise noch weitere Anwerber und Ausrufer. Die Angeworbenen erhielten nun Laufgeld als Anreiz und Überbrükkungszulage bis zur Musterung, während damals das Rüst- und Kleidergeld schon nicht mehr üblich war. Daß der Landsknecht mit vollständiger eigener Bewaffnung und Ausrüstung zum Musterplatz zog, ist eine Behauptung, die immer wieder in der einschlägigen Literatur zu lesen ist18, dadurch aber nicht an Wahrheitsgehalt gewinnt. Das militärische Erfordernis einer einheitlichen Bewaffnung machte es für den Söldnerunternehmer zunehmend notwendig, Langspieße einheitlicher Länge und Fertigung oder standardisierte Handbüchsen als Grundausrüstung am Beginn des Feldzuges zur Verfügung zu stellen. Leihgebühren bzw. Erwerbskosten konnten dann vom Sold abgezogen werden. So kaufte z.B. Georg von Frundsberg vor dem Paviafeldzug Handbüchsen für seine Knechte aus den Beständen der Tiroler Zeughäuser in Innsbruck und Trient, und für seinen Zug gegen die Allgäuer Bauern und nach Salzburg bezog er aus Augsburg 500 Langspieße". Bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts hatte sich die Anwerbeverwaltung 20 zu beachtlichem Umfang entwickelt: Neben dem Laufgeld konnte auch ein Darlehen ausbezahlt werden, das dann vom ersten " Vgl. dazu H. M. MÖLLER, Das Regiment der Landsknechte. Untersuchungen zu Verfassung, Recht und Selbstverständnis in deutschen Söldnerheeren des 16. Jahrhunderts (Frankfurter historische Abhandlungen 12), Wiesbaden, 15: „Regimentsverwaltung" (für Kader). 18 S. z. B. S. FIEDLER, Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Landsknechte (Heerwesen der Neuzeit, hg. von G. ORTENBURG, Bd. 2), Koblenz 1985, 66 f. " 10

BAUMANN ( A n m . 8 ) , 2 1 2 , 2 3 3 . V g l . MÖLLER ( A n m . 17), 14 f f .

Von Frundsberg zu Wallenstein

17

Monatssold wieder einbehalten wurde. Außerdem differierte die Höhe des Laufgelds. Kriterien dafür waren wahrscheinlich unterschiedliche Entfernungen vom Musterplatz und die Ausrüstungsqualität des einzelnen. Schließlich war es schon häufig üblich, daß der Feldschreiber Polletten ( = Laufzettel, von italienisch „billetti") oder Paßporten ( = Passierscheine) ausstellte, auf denen Musterplatz und Tag der Musterung vermerkt waren, dazu oft auch der Name des Hauptmanns und der des für den Knecht zukünftig zuständigen Furiers. Dies zeigt, daß erfolgreiche Werbung erheblich von einem leistungsfähigen und einsatzfreudigen Kader abhängig war. Deshalb begann bereits in der ersten Söldnerunternehmergeneration der Trend zur Spezialisierung der Kaderleute. Für das Jahr 1525 ist ein frundsbergischer Werber im Oberallgäu nachweisbar, der offensichtlich nie ein Hauptmanns- oder ein anderes Befehlsamt in Frundsbergs Regimentern innehatte 21 . Auch in den Diensten des Vorarlbergers Wolf Dietrich von Ems scheint ein solch professioneller Werber schon 1537 beschäftigt worden zu sein22. Zwar lehnen Graf Reinhart von Solms und Ritter Conrad von Bemelberg den Einsatz solcher Werber in ihrem Kriegsmemorial 1545 noch ab 23 und raten zur Verwendung von bekannten und den potentiellen Knechten vertrauten Kriegsleuten, doch gehörte dem berufsmäßigen Werber,wie er bei Schweizer Söldnerunternehmern längst üblich war, die Zukunft 24 . Prinzipiell blieb solche Werbepraxis bis in den Dreißigjährigen Krieg erhalten. Und doch hat sich das System weiterentwickelt, vervollständigt. Zum Laufgeld ist der Werbegulden 25 hinzugekommen, bereits mit seiner Annahme hat der Knecht „Leib und Leben verkauft", wie es schon hundert Jahre zuvor bei der Laufgeldauszahlung hieß. Die Werbepatente sind standardisiert, der „Werbeoffizier" als professioneller Anwerber ist die normale Erscheinung geworden, obwohl man auf den Truppenführer, der auch für die Anwerbung zur Verfügung steht, noch nicht verzichten kann. Wie zu Frundsbergs Zeiten ist der Zug der Angeworbenen zum Musterplatz noch immer eine üble Belastung für die Zivilbevölkerung links und rechts ihres Weges. Der Aufbau und die Absicherung des Kaders, unter den Söldnerunternehmern der Frundsberggeneration begonnen, hat unter Wallenstein die für eine Söldnerarmee höchste Ausformung erfahren. Als z.B. Frundsberg, verärgert über die schlechte Zahlungsmoral des Hauses Habsburg, für das Jahr 1523 eine Bestallung als Söldnerunternehmer verweigerte, kümmerte er sich dennoch um die Männer seines Kaders und bot sie als erfahrene Spezialisten dem alten Kriegsgefährten Merk Sittich von Ems 21

BAUMANN ( A n m . 8), 2 3 6 .

22

WELTI ( A n m . 8), 1 0 2 f.

23

C g m 3663, Abschnitt „Oberster Kriegsherr".

24

REDLICH ( A n m . 3), 44.

25

H. DIWALD, Wallenstein. Eine Biographie, M ü n c h e n u n d Esslingen 1969, 265.

18

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an, der damals dabei war, ein Regiment Landsknechte auf die Beine zu stellen 26 - eine persönlich integre ad-hoc-Aktion, um den Arbeitsplatz seiner Leute zu sichern. Der Herzog von Friedland dagegen plante die solide wirtschaftliche Grundlage seines Offizierskaders vorausschauend und von langer Hand. Nach dem Zusammenraffen eines gewaltigen Besitzkomplexes im Zusammenhang mit den Güterkonfiskationen nach der niedergeschlagenen böhmischen Revolution verwandelte er zwar einen großen Teil davon in fürstliche Kammergüter, vergab aber auch zahlreiche als fürstliche Afterlehen weiter. Diese „Friedländer Lehen" 27 blieben damit in seinem Besitz, waren aber meist Lehensgut von Offizieren seines (zukünftigen) Heeres, die ihm dadurch persönlich verpflichtet waren. Gleichzeitig hatte er sich einen Führungskader geschaffen, auf den er bei Bedarf schnell und jederzeit Zugriff hatte. Während Frundsbergs Kaderleute in Schwaben und Tirol verstreut waren, während bei den Hohenemser Söldnerunternehmern immerhin schon eine deutliche Konzentrierung auf Vorarlberg und den Bodenseeraum festzustellen ist, sitzt der Kern von Wallensteins Führungsstamm auf Wallenstein'schen Gütern. Und was Bewaffnung und Ausrüstung betrifft: Schon bei Wallensteins erstem größeren kriegerischen Engagement, im Friauler Krieg 1617, zeigt sich, daß er Wert und Wirkung eines soliden Kriegsvolks erkannt hat. 180 Kürassiere und 80 Musketiere werden angeworben und auf Kosten des damaligen erzherzoglichen Kämmerers und reichen mährischen Großgrundbesitzers nicht nur besoldet und verpflegt, sondern auch bestens ausgerüstet und bewaffnet 28 . Später, nach seinem beispiellosen Aufstieg zum Herzog von Friedland, organisiert er seine Territorien wirtschaftlich so, daß er mit ihnen seine Armee versorgen kann - ein riesiges Rüstungsreservoir: Tuche und Schuhe, Sättel und Zaumzeug, Pferde und Gewehre, Pulver und Patronen, ... Damit ist er unabhängig von Händlern und Lieferfristen, geradezu autark. Friedland wird das eigentliche Rückgrat seiner Armee 29 . 3. Die Söldner als Arbeitnehmer — Konstanten und Veränderungen vom späten 15. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg. „Kriegsknechte" nannte man die Söldner zu Fuß, in den Tagen Frundsbergs ebenso wie in denen Wallensteins. Und doch war es nicht mehr das gleiche Kriegsvolk. Symptomatisch für die Veränderungen ist der Gebrauch des anderen Begriffes dafür, des Wortes „Landsknecht". Landsknecht war noch nie ein Verwaltungsbegriff gewesen, weder in den Anfängen dieses so bezeichneten Kriegsvolks noch in seinen letzten Jahrzehn26

WELTI ( A n m . 8), 31.

27

DIWALD ( A n m . 2 5 ) , 2 3 1 ; G . MANN, W a l l e n s t e i n , F r a n k f u r t a . M . 1 9 7 1 , 3 1 3 .

28

DIWALD ( A n m . 25), 87 f; MANN ( A n m . 27),

29

D I W A L D ( A n m . 2 5 ) , 2 2 9 ; M A N N ( A n m . 2 7 ) , 3 1 9 ; vgl. a u c h A . ERNSTBERGER, W a l l e n s t e i n

143.

Volkswirt im Herzogtum Friedland, Reichenberg 1929.

als

Von Frundsberg zu Wallenstein

19

ten. Wenn es in den Quellen um ihre Anwerbung, Finanzierung und Entlassung, um den Einsatz und die Bezahlung geht, heißen sie „Fußknechte" oder „Kriegsknechte" oder einfach „Knechte". Landsknechte werden sie dann genannt, wenn man ihre besondere Ehre als fromme, tapfere Kriegsleute ansprechen, ihr Selbstverständnis als Kriegerorden wekken will. Landsknechte nennen sie sich auch selber, in ihren Liedern oder wenn sich Institutionen ihrer Selbstverwaltungsorganisationen schriftlich äußern: „Gemein frummer Landsknecht", „Amissaten des Regiments kaiserlicher Landsknecht." Als Landsknechte bezeichnen sie schließlich auch ihre Chronisten und Kritiker aus dem Bürgertum: Stadtschreiber z.B. wie der Weißenhorner Pfarrer Nicolaus Thoman, Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, Theologen wie Sebastian Franck 30 . Dennoch wird das Wort Landsknecht auch in der Verwaltung gebraucht, in der Staatsverwaltung zumal, wenn es um Landsknechte als Ordnungsproblem des frühneuzeitlichen Staates geht, um Landsknechte ohne Soldvertrag, die durch das Land ziehen, einzeln oder rottenweise, bewaffnet natürlich, bettelnd, stehlend, raubend. Als „Gartknechte" findet man sie in Mandaten und Sendschreiben, als „Garter" auch, als „laufende Knechte", aber, gerade in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, oft noch synonym als Landsknechte. Der Gebrauch dieses Begriffs wird nun in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts seltener und ist an seinem Ende kaum noch üblich. An die Stelle des Landsknechts tritt allmählich der „Soldat" 31 . Hier handelt es sich aber nicht nur um eine sprachliche Modeerscheinung. Der Begriffswechsel ist auf ein Bündel an Gründen zurückzuführen, auf militärische, soziale und gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen im Landsknechtwesen. Der Fußknecht des Dreißigjährigen Krieges hat sein Aussehen verändert, wenn man ihn mit dem der Burgunderkriege oder dem der Venezianerkriege oder dem der Niederländischen Freiheitskriege vergleicht. Dabei ist es nicht nur die modische Veränderung, der die Zeit zwischen 1485 und 1618 unterliegt, also nicht der Wechsel beispielsweise von den hautengen gotischen Beinkleidern in Mi-Parti-Farben über die geschlitzten und gepufften Kniehosen etwa bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zu den riesigen Pluderhosen der zweiten Jahrhunderthälfte. Es ist vor allem die immer deutlicher zutage tretende Uniformierung in den Armeen des 17. Jahrhunderts. Besonders Wallenstein bemühte sich seit Anfang seiner 30

Zum Selbstverständnis der Landsknechte vgl. M Ö L L E R (Anm. 17), 52-100; R . B A U M A N N , Das Söldnerwesen im 16. Jahrhundert im bayerischen und süddeutschen Beispiel. Eine gesellschaftsgeschichtliche Untersuchung (Miscellanea Bavarica Monacensia 79), München 1978, 133-150; zur zeitgenössischen Sicht der Landsknechte vgl. BAUMANN, ebd., 217-224. " Ζ. Β. werden in Mandaten gegen gartende Landsknechte im Herzogtum Baiern die Begriffe „Gartknecht" und „Lands-knecht" gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich durch „Soldat" ersetzt. Vgl. AStAM, Staatsverwaltung 2302, Mandat Herzog Maximilians I., 1597 Juni 6: „ . . . Knechten unnd Soldaten . . . " ; Mandat Herzog Maximilians I., 1611 Jan 12: „...das niemande underm schein eines Soldatens..."

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Karriere als Truppenführer, mit uniformierten, und das heißt im äußeren Erscheinungsbild ordentlichen Truppenverbänden aufzutreten 32 . Die Produktion des Herzogtums Friedland war darauf angelegt, solches Vorhaben in breitem Maße zu ermöglichen. Die Uniformierung begann natürlich nicht mit Wallenstein. Ansätze dazu sind schon früh erkennbar, doch kamen solche Versuche nicht über den Ansatzcharakter hinaus: Reichsstädte wie Nürnberg, die noch im Baierischen Erbfolgekrieg ihre Knechte einheitlich in rote Röcke kleideten, Zünfte wie die Memminger Schuster, die im Schweizerkrieg in Großauftrag Schuhe an das Fußvolk des Schwäbischen Bundes lieferten 33 . Was zumeist am Geldmangel scheiterte, wurde schließlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich realisiert: eine Uniformierung bereits vom Musterplatz an. Das Anwachsen der Heeresstärken einerseits, der Kaufkraftverlust des gleichgebliebenen Soldes von vier Gulden andererseits machten es nötig, die massenweise zu den Musterungen Strömenden auch einzukleiden. Ebenso hatte sich die Bewaffnung verändert. Bereits nach der Schlacht von Bicocca 1522 ging Frundsberg daran, seine Regimenter umzurüsten. Der große Sieg der kaiserlich-deutschen Langspießhaufen über die der Schweizer in Frankreichs Sold war wesentlich dem Einsatz geradezu schulmäßig feuernder spanischer Hakenbüchsen- und Handbüchsenschützen zu danken. Folgerichtig ging Frundsberg daran, die Zahl der Büchsenschützen in seinen Regimentern zu erhöhen 34 . Er hatte eingesehen, daß die Zeit des Fußknechts mit der Feuerwaffe begann, während die Spießknechte zukünftig an Bedeutung verloren. Der Landsknecht der nächsten Jahrzehnte, vor allem der am Ende des Jahrhunderts, differenzierte sich zum Angehörigen einer bestimmten Waffengattung. Am Ende dieser Entwicklung steht das Verschwinden des Begriffs Landsknecht. Im Dreißigjährigen Krieg ist der Pikenier und der Musketier an seine Stelle getreten. Viel mehr als die Landsknechte haben diese uniformierten Spießer und Schützen militärischen Drill kennengelernt. Sie können nicht nur im taktischen Körper kämpfen, sie haben das Marschieren geübt, es gibt Exerzierreglements, Gewehr- und Spießgriffe. Die Oranische Heeresreform hat ihre Wirkung gezeigt 35 . Zur Uniformierung trug die einheitliche Ausrüstung wesentlich bei. Als z. B. der Söldnerunternehmer Jakob Hannibal I. von Hohenems 1574 fünfzehn Fähnlein Fußknechte (4500 Mann) für die spanische Armee Herzog Albas zum Einsatz in den Niederlanden anwarb, kaufte er bei dem Augsburger Plattner Antoni Peffenhauser 1200 Knechtsharnische, die dieser 32

DIWALD ( A n m . 25), 88, 274.

31

J. WÜRDINGER, Kriegsgeschichte von Bayern, Franken, Pfalz und Schwaben, von 1347 bis 1506, Bd. II, München 1868, 309; StA MM, Schubl.l/Nr.l : kgl. Sendschreiben 1499.

34

BAUMANN ( A n m . 8), 2 1 1 f.

35

FIEDLER ( A n m . 18),

140-153.

Von Frundsberg zu Wallenstein

21

bereits vorrätig (!) hatte. Jede dieser Rüstungen bestand aus Rücken, Krebs, Kragen, Achselstücken und Beintaschen und wurde zum Stückpreis von elf Gulden angeboten. Außer Peffenhauser, der noch dazu 1200 Hakenbüchsen auf die Musterplätze schickte, lieferten Handwerker aus Ulm, Nürnberg, Nördlingen und Lauingen 36 . Es ist klar, daß es sich hier um standardisierte Massenware handelte, nicht mehr gediegene Handwerkerarbeit, sondern Manufakturproduktion. Das „eiserne" Regiment, das Jakob Hannibal von Hohenems in die Niederlande führte, jedenfalls mußte den Eindruck uniformierter Fußknechte hinterlassen, weil die Rüstungen die (noch) nicht uniformierte Kleidung überdeckten. Daß im Dreißigjährigen Krieg der Angeworbene am Musterplatz eingekleidet wurde, erschloß ein neues Menschenreservoir für das Söldnertum. Unterbäuerliche und unterbürgerliche Schichten folgten vermehrt der Werbetrommel. Aber auch in anderer Hinsicht hatte sich das Söldnerpotential verändert. Immer weniger waren es, die nach der Entlassung wieder in ihren angestammten Beruf zurückkehrten, immer mehr kannten nichts anderes mehr als das Söldnerleben in den Wechselphasen Landsknecht - Gartknecht - Landsknecht 37 . Vor allem aber verloren die Kriegsknechte im späten 16. Jahrhundert ihre Identität. Den Landsknechtorden machten wesentlich seine früh- und vordemokratischen Organisationsformen aus: die frei gewählten Selbstverwaltungsämter, die eigene Gerichtsbarkeit, die Gemein als Söldnergewerkschaft. Solche Organisationsformen standen meist den Interessen der Söldnerunternehmer und vor allem der Kriegsherren entgegen. Sie beschnitten deshalb die Mitwirkungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten der Knechte immer mehr, bis im Dreißigjährigen Krieg eigentlich nichts mehr davon übrigblieb. Selbstverwaltung, Mitwirkung und Mitentscheidung sind wahrscheinlich dem Militärwesen jedes Jahrhunderts entgegengesetzt. Wenn es sie gibt, werden sie deswegen zurückgedrängt und abgeschafft. Das gilt für das Landsknechtwesen ebenso wie für Guerilla-Armeen des 20. Jahrhunderts. Ersteres nimmt allerdings, was früh- und vordemokratische Organisationsformen betrifft, eine historische Sonderstellung ein und ist allenfalls mit den Kosakengemeinden der frühen Neuzeit vergleichbar. Um zu zeigen, wieviel an kultureller Substanz bis zum Dreißigjährigen Krieg verlorenging, soll hier kurz ein Stück Landsknechtgeschichte geschildert werden, das sich 1578 - also schon in der Spätzeit - im süddeutschen Raum abgespielt hat 38 .

" L. WELTI, Graf Jakob Hannibal I. von Hohenems, 1530-1587. Ein Leben im Dienste des katholischen Abendlandes, Innsbruck 1954, 183-187. "

BAUMANN ( A n m . 3 0 ) , 1 7 1 - 1 8 5 .

" HStA M, Kurbayern, Äußeres Archiv, Nr. 797, fase. 2: 19 Schriftstücke, Maßregeln gegen die freundsbergischen Landsknechte betr., die sich in der Herrschaft Mindelheim festgesetzt, 1578.

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Der Söldnerunternehmer Georg II. von Frundsberg, der Enkel des „Vaters der Landsknechte", hatte 1574 für Philipp II. von Spanien ein Regiment Landsknechte angeworben und war mit ihm auf den niederländischen Kriegsschauplatz gezogen. Im August 1577 wurde als Folge des zwischen Spanien und den Niederlanden vereinbarten „Ewigen Edikts" die Stadt Breda, die das frundsbergische Regiment verteidigt hatte, den Niederländern übergeben und die Landsknechte entlassen. Wie in solchen Situationen üblich, gab es mit der vollständigen Besoldung Schwierigkeiten, die in den Niederlanden auch nicht mehr behoben werden konnten. So wurden die Knechte vom Kriegsherrn und ihrem Obristen vertröstet und trotz Soldrückstands in die Heimat entlassen. Im Frühjahr 1578 allerdings versammelten sich viele von ihnen, nach Aussage der Quellen wohl mindestens 600 Knechte, auf dem Gebiet der frundsbergischen Herrschaft Mindelheim, um sich von ihrem Obristen das zu holen, was ihnen zustand. Daß dabei die frundsbergischen Bauern die Hauptleidtragenden waren, versteht sich von selbst. Übergriffe wie Diebstahl und Raub blieben nicht aus. Eine solche Ansammlung selbständigen Kriegsvolks rief die Nachbarn auf den Plan. Die herzoglich-bayerischen Pfleger der an Schwaben angrenzenden Gerichte, v.a. der in der Grenzfeste Landsberg am Lech sitzende Graf Schweikhart von Helfenstein, wurden zu schärfster Wachsamkeit angewiesen, die baierischen Provisioner in Schwaben, also schwäbische Adelige mit baierischem Soldvertrag, in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Doch die baierischen Sorgen waren unnötig: Die Knechte blieben auf frundsbergischem Gebiet. Dort allerdings entfalteten sie rege Aktivitäten, übten Druck aus auf ihren ehemaligen Obristen durch ihre bloße, nichtsdestoweniger bedrohliche Anwesenheit, verhandelten aber gleichzeitig durch ihre gewählten Vertreter mit Frundsberg. Daß die Knechte nicht vollständig bezahlt waren, darüber bestand kein Zweifel. Ihren Anspruch auf restlose Besoldung anerkannten sowohl die Herzöge Albrecht V. von Bayern und Ludwig I. von Württemberg (als damit befaßte Reichsstände) als auch Georg von Frundsberg selbst und seine (ebenfalls in den Konflikt hineingezogene) Gemahlin Barbara. Man war allerdings nicht bereit, die Vorgehensweise der Knechte zu akzeptieren, und betrachtete ihre Versammlung in der Herrschaft Mindelheim als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung und als Landfriedensbruch. Wer aber nun tatsächlich für die Erstattung des Soldrückstands zuständig war, läßt sich (bis heute) nicht klar ausmachen. Frundsberg wies jegliche direkte Zuständigkeit von sich, erklärte sich allerdings bereit, alle dazu bereiten Knechte für sein neues Regiment anzuwerben, dieses nach den Niederlanden zu führen und sich dann beim spanischen Statthalter für ihre gerechte Besoldung zu verwenden. Der Ausschuß der Knechte, also die Amissaten, wußte allerdings nicht nur von einer mündlichen Zusage Frundsbergs, den „Rest und Ausstand ires ehrlichen und wohl verdienten

Von Frundsberg zu Wallenstein

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Solds frey guettwillig zu erstatten", sondern auch, daß er sich „den armen, ehrlichen Kriegsleutt" in einer „stattlichen assecuration und obligation" verschrieben habe. Ende Mai 1578 handelte die Obrigkeit. Herzog Ludwig I. von Württemberg als Obrist des Schwäbischen Reichskreises setzte eine Abteilung Reiter nach Mindelheim in Bewegung. Ein Teil der versammelten Knechte wollte dem ihnen übermittelten Befehl Herzog Ludwigs, aus der Herrschaft Mindelheim abzuziehen, ohne Widerstand nachkommen, andere widersetzten sich. Es kam zu Kampfhandlungen, bei denen die Knechte, ohne Befehlsstrukturen und deshalb ungeordnet, unterlagen. Etwa 20 von ihnen wurden verwundet oder getötet, die meisten liefen deshalb auseinander. Damit gaben die frundsbergischen Landsknechte allerdings nicht auf. Der Ausschuß der Amissaten ging nicht auseinander, sondern nahm festes Quartier in den Reichsstädten Nördlingen und Dinkelsbühl und verfocht von hier aus seine Sache, zunächst schriftlich, in Briefen an Georg von Frundsberg, dann, als dieser sich auf den Weg in die Niederlande gemacht hatte, an seine Gemahlin und an die Amtleute seiner Herrschaft. Er bestand darauf, die Hälfte des Soldrests an Weihnachten 1578 zu erhalten, die andere Hälfte ein Jahr später. Sollte das nicht der Fall sein, drohten sie in einem Schreiben am 9. Dezember 1578, so müßten die Knechte nach anderen Mitteln suchen, das ihnen Zustehende zu bekommen. Solche Mittel waren sie offensichtlich schon bald bereit einzusetzen. Wenige Tage später ging ein angstvoller Brief der Barbara von Frundsberg beim Landsberger Pfleger Graf Helfenstein ein, in dem von Nachrichten über erneut in die Herrschaft Mindelheim ziehende Landsknechtscharen (die Boten wußten von 800-1000 Mann!) die Rede war. Während aber Herzog Albrecht V. bereits Vorkehrungen treffen ließ, Frau Barbara mit ihrer wertvollsten Habe im festen Landsberg in Sicherheit zu bringen, stand es um die Sache der frundsbergischen Landsknechte schlechter denn je. Am 1. Oktober 1578 war in den Niederlanden der bisherige spanische Gouverneur Juan d'Austria gestorben, der auch der Oberbefehlshaber des frundsbergischen Regiments gewesen war. Zwar hatte daraufhin auch sein Nachfolger, Alexander Farnese, Herzog von Parma, erkennen lassen, alle früheren Zusagen halten zu wollen, doch wußten die Knechte sehr wohl, daß damit noch kein Gulden Sold in ihren Händen war. Der Rat des Schwäbischen Kreises, sich also vertrauensvoll an den spanischen König oder an seinen Gouverneur zu wenden, mußte ihnen wie blanker Hohn erscheinen. Auch die Versicherung der frundsbergischen Amtleute, daß ihnen ihr ehemaliger Obrist dabei behilflich sein wolle und sich deshalb „in eigener person, unangesehen der grossen ungelegenhait und schwachhait des Leibs" (Frundsberg war 1577 krank von Breda nach Hause gekommen) wieder in die Niederlande begeben habe, dürfte sie nicht beruhigt haben. Andererseits entzog ihnen nämlich die Obrigkeit immer mehr die Grundlage für Verhandlungen, indem sie z.B. die Städte Nördlingen und Dinkelsbühl unter Druck setzte, jegliches Ver-

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sammeln dieser Knechte (offensichtlich stammte ein Großteil aus der Gegend!) in ihren Mauern zu unterbinden, auch ein Tagen des Ausschusses nicht mehr zuzulassen. Wie die ganze Angelegenheit endete, ist nicht bekannt. Daß aber die frundsbergischen Landsknechte ihren Restsold erhielten, ist eher unwahrscheinlich. Ein rascher Abschluß der Sache erscheint jedenfalls ausgeschlossen. Bezeichnend für die Situation des Landsknechtwesens im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts ist in diesem Fall, daß die Obrigkeit (Bayern, Württemberg, der Schwäbische Kreis, Frundsberg selbst) bei grundsätzlichem Anerkennen der landsknechtischen Soldansprüche das Vorgehen als Zusammenrotten, „Rottieren und Vergadern" einschätzte und die Knechte damit kriminalisierte. Man sah in ihnen Landfriedensbrecher und warf sie mit den übrigen Vagierenden 39 , deren Organisationsformen man mit Mißtrauen beobachtete, in einen Topf. Die Knechte selbst dagegen verstanden sich, obwohl bereits entlassen und wieder in der Heimat, ganz in der Tradition des Landsknechtwesens von seinen Anfängen an als „arme Kriegsleut" oder „arme Knecht". Wie im Feld hatten sie ihre Vertrauensleute gewählt, und selbstbewußt traten diese auch als solche auf: „Der Ausschuß von den sechs fenndlin Kriegsknecht zu Bredaw". Ihres Amtes, ihrer Würde und ihres Rechtes bewußt, verhandelten sie mit ihrem ehemaligen Obristen, mit dem Schwäbischen Kreis und dem Herzog von Württemberg, sogar mit dem kaiserlichen Hof. Ein solches Selbstverständnis geht in den nächsten Jahrzehnten rasch verloren. Schon die auf dem Speyerer Reichstag von 1570 beschlossenen „Artikel auf die Fußknecht" 40 beschränkten die Mitsprachemöglichkeiten auf ein Minimum. Nun bestand hier aber sicher noch ein erheblicher Unterschied zwischen auf Papier Beschlossenem und tatsächlich Praktiziertem. In welchem Ausmaß aber Mitsprache dem militärischen Befehls-Gehorsamsverhältnis am Jahrhundertende wirklich gewichen war, zeigt ein Fall aus dem Türkenkrieg von 1595: Als Amissaten des Fußknechtregiments Mansfeld vor ihren Obristen traten, um den ausstehenden Sold von ihm zu fordern, ließ er sie würfeln, und durch den, welcher die höchste Augenzahl erzielte, henken 41 . Das Amt der Amissaten gab es weiterhin, auch auf dem Ungarnfeldzug der kaiserlichen Armee unter Generalleutnant Georg Basta 1604. Als die Söldner unbezahlt in den Winterquartieren nördlich von Kaschau lagen, wurden auf Anordnung Bastas und seiner Obristen von den Regimentern Amissaten gewählt, die in Prag Geld und Verpflegung von denen einfordern sollten, die für die Aufstellung der Regimenter verantwortlich waren. "

BAUMANN ( A n m . 3 0 ) ,

40

E. von FRAUENHOLZ, Entwicklungsgeschichte des deutschen Heerwesens, Bd. I I / 2 , M ü n chen 1938, 256-300 (Reichsreuterbestallung u n d Artikel auf die F u ß k n e c h t v o n 1570). F. W. BARTHOLD, Geschichte des Kriegswesens u n d der Kriegsverfassung d e r Deutschen, Leipzig 1855, 218.

41

176.

Von Frundsberg zu Wallenstein

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Zwanzig Mann machten sich damals auf den Weg, für die böhmischen Fußknechte war der eben erst zum H a u p t m a n n beförderte Albrecht von Wallenstein dabei 42 . Solche Amissaten waren kein Ausdruck echter Interessenvertretung der Knechte mehr. Basta hatte sie wählen lassen, um von seinem Heer noch zu retten, was zu retten war. Die Amissaten sollten Dienstverweigerung und Selbstauflösung der Armee verhindern. Außerdem waren auch die Offiziere unbezahlt, die Amissaten waren deshalb auch oder vor allem in ihrem Sinn. Im übrigen ist es bezeichnend, d a ß die Amissatenkommission nur aus adeligen Offizieren bestand. Der Verlust landsknechtischer Selbstverwaltung und selbstbewußter Interessenvertretung führte allerdings nicht dazu, daß die Söldner des Dreißigjährigen Krieges zu willenlosen Werkzeugen in den Händen ihrer Anführer wurden. Wenn Sold oder Verpflegung ausblieben, wurde der Dienst auch weiterhin verweigert, aber spontan und ohne von Musterung und Vereidigung an aufgebaute, legale Organisation. U n d beim Artikelsbrief gab es nichts mehr zu verändern, und kein Obrist holte mehr vor der Schlacht die Zustimmung seiner Knechte ein. Aus dem Landsknechtrecht mit seinen verschiedenen Gerichtsverfahren, die der Gemein des Regiments Mitwirkung in erheblichem Maße garantierten, war ein von oben reglementiertes Kriegsrecht geworden, das zwar noch zahlreiche Elemente der alten Verfahren beinhaltete, aber primär doch ein Instrument der Obrigkeit war. Die Schultheißeninstruktion Tillys 43 liest sich über weite Strecken wie ein erweiterter Artikelsbrief, der nur noch Interessen der Befehlsgewalt berücksichtigt. Breiten Raum nimmt die Festlegung der Gerichtstaxen ein, geradezu krämerisch werden Strafgebühren u n d Besoldung der Gerichtsleute aufgelistet. Ansätze, die das Schultheißengericht von Anfang an besaß, hatten sich nun voll ausgebildet: Das Rechtsverfahren war zur (für das Gerichtspersonal durchaus einträglichen) Gebührenhamsterei entartet.

4. Finanzierung Die Feststellung des Condottiere Conte di Campobasso, daß zum Kriegführen drei Dinge notwendig seien: „Geld, Geld und nochmals Geld", hat natürlich auch für die Söldnerunternehmer ihre Gültigkeit behalten, von ihrer ersten Generation bis hin zu Wallenstein. Die Methoden, das f ü r die Aufstellung notwendige Geld bereitzustellen, haben sich dagegen gewandelt. Als in den Venedigerkriegen 1511 der oberschwäbische H a u p t m a n n Jos Humpis von Ratzenried den kaiserlichen Auftrag erhielt, unverzüglich tausend gute Knechte anzuwerben und in Kempten zu versammeln 4 4 , konnte er nach Wortlaut des Briefes davon ausgehen, daß dort f ü r ihn 500 Gulden aus der Innsbrucker Kasse hinterlegt seien, mit denen er das Lauf42

DIWALD ( A n m . 2 5 ) , 3 9 f ; MANN ( A n m . 2 7 ) , 8 6 f f .

43

Cgm 3954, f° 16-24. StA Rav Bü 136/C/4; StA Üb Κ III, L 3, Nr. 1183.

44

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und Zehrgeld der Knechte für den Weg zum Musterplatz nach Bruneck hätte finanzieren können. Obwohl die Sache eilig war - der Oktober neigte sich schon dem Ende zu - , wollte der vorsichtige Humpis kein unnötiges Risiko eingehen und möglicherweise mit tausend Knechten, aber ohne Geld in Kempten stehen. Deshalb erkundigte er sich bei den Kemptener Ratsherren und mußte prompt erfahren, daß man dort von kaiserlichem Geld nichts wußte. Sollte das Unternehmen nicht scheitern, mußte er andere Geldquellen auftun. So wandte er sich an seine Vettern Hans und Conrad Humpis, an die Ravensburger Handelsgesellschaft und an den Ravensburger Rat. Sein Schreiben enthält dabei gleichzeitig freundliches Bitten, die Aussicht auf lobende Erwähnung am kaiserlichen Hof und die Drohung, eine Verweigerung des Darlehens beim Kaiser anzuzeigen. Damals und in Zukunft machte es die Qualität eines Söldnerunternehmers aus, in der kurzen Zeit zwischen Bestallung und Anwerbung bzw. Musterung und damit erster Soldauszahlung genügend Geld aufzutreiben. Auch Georg I. von Frundsberg benötigte wie Jos Humpis Geld primär zur Bezahlung des Solds. Erst auf seinen letzten Feldzügen fällt die Finanzierung von Spießen und Handbüchsen ins Gewicht. Nur für seinen letzten Feldzug, den Romzug 1526/27 reicht allerdings das Quellenmaterial aus, um detaillierte Aussagen über seine Geldgeber machen zu können 45 . Im August 1526 sammelten sich Tausende von Landsknechten auf dem Musterplatz Trient. Frundsberg hatte in erzherzoglich-österreichischem Auftrag die Werbetrommel für einen kaiserlichen Italienzug rühren lassen, und massenweise waren die Knechte über die Pässe geströmt. Das brachte ihn in Schwierigkeiten, denn Innsbruck bewilligte erst nur die Übernahme der Kosten von 2000, dann schließlich von 6000 Knechten. Der Zulauf kam jedoch nicht zum Stillstand. Frundsberg sah zudem nur dann Aussicht auf einen Erfolg des Feldzugs, wenn er mit einer Heeresstärke von 10000 Mann losziehen konnte. So machte er sich Ende August selbst auf den Weg nach Innsbruck, und als dort keine weiteren Zusagen zu erreichen waren, bemühte er sich in der süddeutschen Wirtschaftsmetropole Augsburg um Darlehen. Er verhandelte mit Bürgermeister und Rat und mit den großen Kaufherren - Fugger, Pimmel, Höchstetter, Paumgartner, Herwart und Welser. Doch diese winkten zunächst ab, stellten lediglich eine Finanzierung in Aussicht, wenn Österreich das Heer erst einmal in Marsch gesetzt habe. Anfang Oktober schaffte Frundsberg schließlich aber doch den Durchbruch. Die Fugger übernahmen mit 1000 Gulden das Laufgeld der letzten Wochen und sicherten weiteres Geld für 1527 zu. Als er Augsburg verließ, hatte er zwar noch einige Geldverschreibungen von anderen Handelshäusern in der Tasche, aber damit keine Lösung, wie er das restliche Geld, eigentlich den Löwenanteil, aufbringen sollte. 45

BAUMANN

(Anm. 8), 256-263.

Von Frundsberg zu Wallenstein

27

Von seinem Schloß Mindelheim aus begann er nun eine fieberhafte Korrespondenz mit mehreren in Frage kommenden Finanziers und erhielt schließlich 1000 Gulden vom Augsburger Kaufmann Stierle, dieselbe Summe vom Kemptener Bürgermeister Gordian Sauter, und - nach besonders zähen Verhandlungen - 4000 Gulden vom Memminger Handelshaus Furtenbach. Nachdem noch vom kaiserlichen Oberbefehlshaber in Italien, Charles de Bourbon, ein Wechsel über 6000 Dukaten eingetroffen war, befanden sich insgesamt 32 800 Gulden in seiner Feldkasse. Die Innsbrucker Regentschaft sagte daraufhin noch 10000 Gulden aus der Türkensteuer zu. Mit dieser schmalen, aber gerade für den Anfang ausreichenden finanziellen Basis machte er sich auf den Weg nach Trient, um den Feldzug nun zu wagen. Doch bei seiner Ankunft mußte er feststellen, daß sein Haufe inzwischen ganze 12000 Mann stark geworden war. Erneut mußte er sich um Darlehen bemühen. Als schließlich weitere 3772 Gulden zusammengekratzt waren, sah er sich in der Lage, seinem Kriegsvolk den ersten halben Monatssold auszubezahlen. Aus der Not hatten ihm die Tiroler Musterkommissäre Anton Brandisser und Jacob Khuen geholfen, der Trienter Bürger Gallus Montafoner und die Tiroler Kaufleute Hinntz und Zeller. Frundsberg selbst jedoch hatte sich hoch verschulden müssen: Alle im Oktober erhaltenen Darlehen sind mit seinem eigenen Namen unterzeichnet, ein Umstand, den sich auch später die Innsbrucker Regentschaft sehr wohl zunutze machte. Darüber hinaus hatte er Sicherheiten bieten müssen: die Güter seiner Herrschaft, das Silbergeschirr seines Schlosses, die Kleinodien seiner Frau. Er war ein schon nicht mehr vertretbares Unternehmerrisiko eingegangen. Die so dürftig gefüllte Kasse tat ein übriges, um den Zug zum Vabanquespiel für ihn werden zu lassen. Was von Anfang an befürchtet werden mußte, trat dann auch ein: Die Zahlungsschwierigkeiten begleiteten Frundsberg von Trient an und führten schließlich zu seiner persönlichen Katastrophe im Feldlager bei Bologna; letztendlich hatten sie aber auch den Sacco di Roma zur Folge. Als 1574 der Enkel Georg II. von Frundsberg in den Fußstapfen des Großvaters ein Regiment Landsknechte anwarb, hatte sich an der Art der Finanzierung im Grunde nichts geändert. Die benötigte Geldmenge war allerdings größer geworden, mußten doch jetzt auch die Kosten für Rüstungen, Hakenbüchsen und Spieße vorgestreckt werden. Über des letzten Frundsberg Anwerbungen sind keine Quellen erhalten. Gleichzeitig mit ihm sammelten aber auch die Obristen Pollweiler, Eberstein und Hohenems Kriegsvolk. Über die Aktivitäten des letzteren, Graf Jakob Hannibals I., wissen wir durch die Hohenemser Archivbestände und die Arbeiten des Vorarlbergers Ludwig Welti ziemlich genau Bescheid 46 : Jakob Hannibal erhielt seine Bestallung als Obrist der spanischen Krone und den Auftrag, ein Regiment hochdeutschen Kriegsvolks mit 15 Fähnlein und insgesamt 46

WELTI

(Anm. 36), 183-187.

28

Reinhard Baumann

4500 Mann anzuwerben und in die Niederlande zu führen, Ende März 1574. Sogleich begann er mit umfangreichen Vorbereitungen. Drei Hauptleute seines Kaders wurden nach Augsburg geschickt, um mit dem Plattner Antoni Peffenhauser über die Lieferung von 1200 Harnischen zu verhandeln. Verhandeln hieß aber nicht nur kaufen, sondern den Preis (11 Gulden für den Harnisch) herunterzuhandeln. Insgesamt ging Jakob Hannibal bei 3000 bewilligten Doppelsöldnern von einem Bedarf von 2250 Rüstungen (Kader und andere Kriegsleute mit Harnischen in eigenem Besitz abgerechnet) aus. Peffenhauser verpflichtete sich Mitte April 1574 zur Lieferung von 2069 Harnischen unterschiedlicher Ausstattung und Ausführung sowie von 1200 Hakenbüchsen, produziert in Augsburg, Nürnberg, Ulm und Lauingen, insgesamt zum Preis von 20305 Gulden. Diese Summe, die den in Hohenems erstellten Voranschlag um etwa siebeneinhalbtausend Gulden überschritt, finanzierte Jakob Hannibal etwa zur Hälfte aus Geldern seiner Herrschaft, für den Rest bürgten Hans und Markus Fugger sowie die Reichsstadt Lindau. Zur zusätzlichen Sicherheit Peffenhausers übergab der Graf etliche Kleinodien aus dem Besitz seiner Gemahlin Hortensia Borromeo an den Lindauer Rat. Dennoch, trotz solcher Belastungen, war das Kriegsgeschäft nach wie vor so lukrativ, daß die Risiken in Kauf genommen wurden. Der Hohenemser ließ 1574 etwa 7000 Knechte auf die Musterplätze im Elsaß schicken. Er spekulierte darauf, daß ihm Spanien mehr Volk bewilligen würde, so wie es schon bei den Regimentern Pollweiler, Eberstein und Frundsberg geschehen war. Mehr Knechte aber hieß, auf die Dauer eines Feldzugs gesehen, erheblich mehr Gewinn für den Söldnerunternehmer. Jakob Hannibal wußte, daß Spanien eigentlich keine Wahl hatte: Die überzähligen Knechte würden in kürzester Zeit auf den Soldlisten der Niederländer stehen. Andererseits war auch das Risiko auf seiten des Kriegsherrn groß. Dies mußte König Heinrich VIII. von England erfahren, als er 1543 im Reich mit deutschen Söldnerunternehmern ein Heer gegen Frankreich anwarb 47 . Vom Kaiser selbst war ihm Christoph von Landenberg empfohlen worden. Man kam ins Geschäft: Landenberg sollte 4000 Fußknechte und 1000 Reiter anwerben. Sehr bald schon erwies sich der badische Unternehmer als ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann. Zuerst gelang es ihm, die (niedrigeren) Soldvorstellungen der englischen Unterhändler auf die im Reich übliche Höhe zu treiben, obwohl seine Bestallung anders lautete. Dann nahm er 16000 Gulden, vor allem für die Bezahlung von Laufgeldern, in Empfang und forderte außerdem die Verpflichtung von weiteren 400 Reitern. Schließlich schickte er vier seiner Hauptleute nach England, um gewisse Besoldungsprobleme zu besprechen. Deren Forderungen sollten, wie man bei Hofe bereits informiert war, dermaßen überzogen und geradezu erpresserisch gewesen sein, daß sich Heinrich VIII. noch 47

J. G. MILLAR, T u d o r Mercenaries a n d Auxiliaries, 1487-1547, Charlottesville 1980, 76-82.

V o n Frundsberg zu Wallenstein

29

vor ihrer Ankunft entschloß, den Vertrag mit Landenberg zu lösen. Er mußte jedoch nun einen Extrabetrag als Entlassungsgeld bezahlen, um den allgemeinen Regeln im Kriegsgeschäft nachzukommen und Landenbergs Haufen einigermaßen ruhig zu halten. Insgesamt hatte die englische K r o n e in Sachen Landenberg 9266 Pfund verloren. Landenberg war dagegen der lachende, doppelte Gewinner. Außer dem ohne viel A u f w a n d verdienten Geld wartete schon ein neuer Vertrag. D e m Kaiser blieb gar nichts anderes übrig, als Landenberg unter Sold zu nehmen, wollte er nicht einen Plünderzug von dessen Kriegsvolk durch die Niederlande und einen Übertritt in französischen Dienst riskieren. Obwohl also das Finanzierungssystem der Söldnerheere in mehrfacher Weise marode und gefährlich war, blieb es bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein erhalten. Üble persönliche Erfahrungen Wallensteins mit der schlechten Zahlungsmoral, aber auch mit der Schwerfälligkeit und manchmal auch der Zahlungsunfähigkeit des Wiener Hofes, die bitteren Tage als v o m H o f im Stich gelassener Verteidiger Gödings gegen Bethlen Gabors Übermacht 1523 lassen ihn die Finanzierung einer Armee, zumindest die seiner eigenen, auf eine neue solide Grundlage stellen. Über die eigenen Ländereien und deren wirtschaftliche Orientierung auf Rüstungsproduktion im engeren und im weiteren Sinne sowie über die Gewinne aus dem Münzkonsortium verschafft er sich eine solide Ausgangsbasis. Als Finanzier mit über ganz Europa reichenden Verbindungen steht ihm der niederländische Bankier und Großkaufmann Hans de Witte zur Verfügung, der in der Lage ist, auch in kurzer Zeit große Summen bereitzustellen. Dazu greift er auf die aus Zeiten des Finanzkonsortiums herrührenden Beziehungen zu Jakob Bassevi von Treuenburg, dem Vorsteher der einflußreichen Prager Judengemeinde, zurück. Damit wären aber Heere in den Größenordnungen, wie sie unter dem Befehl des Friedländers standen ( 150 000 Mann 1527,108 000 Mann 1531), auf die Dauer nicht zu besolden gewesen. Wallenstein entwickelte deshalb das Kontributionssystem zum Finanzierungsprinzip. Aufstellen konnte er zunächst auf eigene Kosten, bezahlen nur durch Kontribution, eigentlich nur ein anderes Wort für eine reguläre Kriegssteuer, die zur Finanzierung der kaiserlichen Armee den Reichsständen auferlegt wurde und, in Anbetracht der Armeegröße, auch von niemandem verweigert werden konnte. Was in den Tagen des Vaters der Landsknechte als unkalkulierbare G r ö ß e - die Subsidien einzelner (nie aller) Reichsstände für kaiserliche Kriegsunternehmungen -

die Bezahlung der Söldner zum Glücksspiel

machte, erfuhr hier nun seine gigantische Vollendung:

Kontributionen

nicht als einmalige Abgabe, auch nicht als Strafe, sondern als reguläre, v o m ganzen Reich zu erbringende Steuer in der Höhe, wie der Krieg und die kaiserliche A r m e e sie diktierten 48 . Dieses Finanzierungssystem brachte 48

DIWALD ( A n m . 25), 2 7 5 - 2 8 7 .

30

Reinhard Baumann

allerdings auch große Gefahren mit sich, gab es doch ein Machtmittel in die H a n d des Generalissimus, das ihn zum eigentlichen Machthaber im Reich machte. 5. Frundsberg und

Wallenstein

Die Söldnerunternehmer des 16. Jahrhunderts hatten nie eine ernsthafte Gefahr für das Reich dargestellt. Der Vater der Landsknechte war ohnehin dem Kaiser, dem Haus Habsburg und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bedingungslos loyal gewesen, die anderen mit und nach ihm hatten vielleicht einmal mit dem Wechsel in reichsfeindliche Dienste geliebäugelt oder ihn gar vollzogen, eine Katastrophe f ü r das Reich war daraus nicht entstanden. Sie alle, mit Ausnahme vielleicht der fürstlichen Söldnerunternehmer wie Albrecht Alkibiades von Brandenburg-Kulmbach, waren ja auch in ihrer Eigenschaft als Unternehmer keine Politiker, und schon gar keine, die politische Konzepte mit europäischen Dimensionen entwickelten. Gewiß, G e o r g i , von Frundsberg war kaiserlicher Rat Maximilians I. und Hofrat Erzherzog Ferdinands I.; gewiß, es gab einen FrundsbergGonzaga-Friedensplan zur Beendigung des Krieges in Italien 1528, aber die frundsbergischen Aktivitäten als Politiker sind im G r u n d e doch alle bewahrend im Sinne der Erhaltung des Bestehenden bzw. seiner Wiederherstellung zu bewerten. Auch Franz von Sickingens Ausflug in die große Politik ist doch im Zusammenhang mit Reformation und Revolution von 1525 ein Versuch am Rande geblieben. Erst der Herzog von Friedland, Politiker und Feldherr von überragendem Format, hat mit seinen politischen und militärischen Plänen den Söldnerunternehmer zu seinem Höhepunkt geführt. Indem er als Mann des Krieges aber auch Friedensbringer werden wollte, notfalls „selbst gegen Habsburg und gegen jeden konfessionellen .Revanchismus' " 4 9 , hat er auch das Ende des Söldnerunternehmers schon aufscheinen lassen. Frundsbergs Friedensvermächtnis, von seinem Feldschreiber Adam Reißner überliefert 50 , erscheint im Vergleich dazu eher als hilfloses Resignieren am Ende eines Lebens, das vor allem im Zeichen des Mars gestanden hatte. Die Zeit Wallensteins war auf jeden Fall, unabhängig von der Beurteilung seiner letzten Pläne, zugleich das Ende des historischen Typs Söldnerunternehmer. Die Heere waren zu teuer, ihre Unternehmer zu gefährlich geworden für die Mächtigen Europas. Die Zeit war reif für die stehenden Heere des Absolutismus. 49

F. PRINZ, Wallensteins Aufenthalt in Memmingen - im windstillen Zentrum des Zyklons, in: DERS., Bayerische Miniaturen, München 1988, 108-123, hier 117. " Reißner (Anm. 15), 144f: Drei Dinge sollen einen jeden vom Krieg abschrecken: die Verderbung und Unterdrückung der armen unschuldigen Leul, das unordentlich und sträflich Leben der Kriegsleut und die Undankbarkeit der Fürsten, bei denen die Ungetreuen hochkommen und reich werden und die Wohlverdienten unbelohnt bleiben.

Hans Ammerich Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer im Zeichen der katholischen Reform I

Gott weiß, so schrieb Petrus Faber am 7. November 1542 von Mainz aus an Ignatius von Loyola, was ich in Speyer ausgestanden habe, wo ich gegen die Verzweiflung am Wohle Deutschlands zu kämpfen hatte. Schließlich bin ich zum Schlüsse doch zu recht froher Zuversicht gekommen; ja ich sehe sogar ganz gewiß, daß der Herr uns dort noch viele Seelen bereithält, die bereit wären, sich durch die Exerzitien schulen zu lassen. Allerdings läßt er mich die bereitstehende Frucht nicht gemessen, bis ich wieder vom Konzil zurückgekehrt bin. Der Herr weiß, warum er mir nie die Gnade gibt, lange an einem Ort bleiben zu können; warum man mich immer dann abruft, wenn die Sachen gut zu gehen beginnen und die Erntezeit beginnt. Bisher hat das immer zum besten ausgeschlagen, das sehe ich wohl, und so möchte ich um nichts in der Welt Rom nicht verlassen haben, um nach Parma zu ziehen; Parma um nach Deutschland zu kommen, noch werde ich je den Ruf bereuen, der mich von Deutschland nach Spanien holte, und noch viel weniger den andern, der mich von Spanien hierher nach Speyer und von Speyer nach Mainz geführt hat..}. Welche Situation traf der Jesuit Petrus Faber, der sich in Paris als erster Gefährte dem hl. Ignatius von Loyola anschloß, in Speyer an? Als am 19. April 1529 auf dem Reichstag zu Speyer die endgültige Durchführung des Wormser Edikts beschlossen wurde, kam es zum Protest der Anhänger des neuen Glaubens. Weder der Kurfürst von der Pfalz, Ludwig V.2, noch der Herzog von Pfalz-Zweibrücken, Ludwig II. 3 , noch die Städte Speyer und Landau 4 , hatten dem Protest zugestimmt. Der pfälzische Kurfürst hatte es stets abgelehnt, Bündnissen protestantischer Für1

Peter Faber, Memoriale. Das Geistliche Tagebuch des ersten Jesuiten in Deutschland, nach den Manuskripten übersetzt und eingeleitet von P. HENRICI. Anhang: Fabers Apostolat, Briefe und Unterweisungen, Brief 6, vom Übersetzer gekürzt und bearbeitet, Einsiedeln 1972, 339f. - Zum Begriff „Katholische Reform": H. R. SCHMIDT, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 12), München 1992, 67. 1 V. PRESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1619 (Kieler Historische Studien 7), Stuttgart 1970, 172. ' H. AMMERICH, Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung und Verwaltung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung XI), Saarbrücken 1981, 95. 4 L. STAMER, Kirchengeschichte der Pfalz, II. Teil, Speyer 1949, 288.

32

Hans Ammerich

sten beizutreten. Als aber am Ende der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts die Macht der evangelischen Stände zusehends wuchs, hatte auch Kurfürst Ludwig V. keine Bedenken mehr, den Neugläubigen entgegenzukommen; so erließ er 1538 zusammen mit seinem Bruder, dem Pfalzgrafen Friedrich, für die pfälzischen Lande ein Religionsedikt 5 , das die evangelische Predigt erlaubte und deshalb die Berufung lutherischer Prediger vorsah; weiterhin erlaubte das Edikt die Kommunion unter beiden Gestalten und enthielt die Bestimmung, daß angeklagte Priester vor dem weltlichen Gericht zu erscheinen hätten. Das Religionsedikt griff stark in die bischöflichen Rechte ein und war bis zum Tod Ludwigs V. richtungsweisend für die kurpfälzische Religionspolitik 6 . Unter dem Eindruck des pfälzischen Religionsedikts fühlte sich nun auch der Rat der Stadt Speyer stark genug, den religiösen Umbruch zu unterstützen. So beschloß er aufgrund eines Gutachtens der sogenannten „Dreizehner" am 27. November 1538, evangelisch gesinnte Prediger zu unterstützen 7 . An der Ägidienkirche predigte bereits seit 1532 der Karmeliterprior Anton Eberhardt 8 , vom Magistrat als Prediger anerkannt, Luthers Lehre; nun sollte auch der Augustinerprior Michael Diller nicht je zuweilen, sondern alle Sonntag frühe in seiner Klosterkirch dem Volk predigen9. Eberhardt und Diller wurden aber erst 1540 als lutherische Prediger angestellt. Das Jahr 1540 kann somit als das Reformationsjahr Speyers angesehen werden. An der Pfarrkirche St. Georg übte die Stadt die Patronatsrechte aus; dort wurde aber erst 1561 ein Prädikant angestellt 10 . Die übrigen katholischen Pfarrkirchen ließ der Stadtrat unangetastet". In der Stephanspfarrkirche im Deutschherrenkloster ließ die Kaiserin 1570 während des Reichstages ihren Hofgottesdienst abhalten. St. Peter wurde in der Regel von den Karmeliten betreut. Für die Pfarreien St. Johann, St. Jakob und St. Bartholomäus wurden die Seelsorger vom Domkapitel ausgewählt und ernannt. Trotzdem war es um diese Pfarreien schlecht bestellt. 1570 klagte der Kreuzpfarrer am Dom, daß der Pfarrer von St. Johann in seine Pfarrei eingreifen würde und einer Frau in der Behausung 5

S T AMER ( A n m . 4 ) ,

6

Ebd.

291.

S T A M E R (Anm. 4), 293; W. E G E R , Speyer und die Reformation. Die konfessionelle Entwicklung in der Stadt im 16. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. III, hg. von W. EGER, Stuttgart 1989, 291-347, hier 314. 8 E G E R (Anm. 7), 307. - Wie lange Eberhardt an der Ägidienkirche predigte, ist nicht genau nachzuweisen; jedenfalls war er spätestens 1543 nicht mehr dort (Anm. 7, 322); nach Eberhardt kamen wieder katholische Priester in die Ägidienkirche (ebd., 330). ' Zitat nach E G E R (Anm. 7 ) , 3 1 4 . - Während der Aufenthalte des Kaisers in Speyer 1 5 4 1 und 1544 mußte Diller seine Tätigkeit unterbrechen, konnte sie jedoch danach wiederaufnehmen und mußte die Stadt endgültig nach dem Augsburger Interim ( 1 5 4 8 ) verlassen. 10 L. S T A M E R , Kirchengeschichte der Pfalz, III. Teil, 1. Hälfte, Speyer 1955, 47; E G E R (Anm. 7), 323. 11 Die St. Martinskirche in Altspeyer war abgebrannt; um ihre Wiederherstellung bemühte sich der Generalvikar Siegfried Pfefferkorn. Zum folgenden STAMER (Anm. 10), 48. - Ansichten von Speyerer Klöstern, Kirchen und Kapellen bei L. A. D O L L / G . S T E I N , Es ist Speier ein alte stat. Ansichten aus vier Jahrhunderten 1492-1880, Speyer 1991. 7

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

33

„zum Haspel" die K o m m u n i o n unter beiderlei Gestalt gereicht habe 1 2 . Im selben Jahr lehnte es der Vikar J o h a n n Ziegler ab, die Pfarrei St. Bartholom ä u s länger zu versehen, denn wenn er dorthin käme, wären nicht mehr als ein bis zwei Personen anwesend. Vom Domkapitel wurde er d a r a u f h i n angewiesen, die Pfarrei weiterhin zu betreuen und, falls er nicht mehr Gläubige anträfe, nur zu zelebrieren 1 3 . Konfessionelle Auseinandersetzungen blieben nicht aus 14 . Bereits 1557 hatte der Stadtprädikant von der Kanzel den katholischen Geistlichen massiv gedroht. Der Vikar von St. J a k o b berichtete 1561, d a ß ein Bürger als St. Jakobpilger verkleidet in die Kirche gekommen sei u n d das Kreuzaltarbild zerstochen habe. An Weihnachten des gleichen Jahres wurden während der Christmette Steine in die St. Germanskirche geworfen; in der Karwoche des Jahres 1562 wiederholte sich dieser Vorfall in der Kirche St. Jakob. Im selben Jahr klagte der Pfarrer von St. J o h a n n , daß Sonntag a b e n d s wiederholt Leute vor dem Pfarrhaus z u s a m m e n g e k o m m e n seien u n d ihn verspottet hätten, als er Alten u n d K r a n k e n die K o m m u n i o n brachte. 1568 beklagte sich der Pfarrer der gleichen Pfarrei über den Prädikanten von St. G e o r g ; dieser habe ihn während eines Versehgangs übel angefahren und habe a n d a u e r n d versucht zu disputieren. Die Folgen der reformatorischen Bewegung machten auch vor den Speyerer Klöstern nicht halt. K o n n t e noch 1538 das Augustinereremitenkloster als „ H o r t des alten G l a u b e n s " bezeichnet werden, so verbreitete von dort aus der bereits erwähnte Prior Diller wenig später die lutherische Lehre 15 . Die Stadt stellte ihn ebenso wie den Karmeliterprior Eberhardt als Prädikanten an 16 . 1541 waren das Augustiner- und das Karmeliterkloster wohl schon nicht mehr besetzt, während im Dominikanerkloster noch 1544 Messe gehalten wurde 1 7 . Der rheinisch-schwäbischen Augustinerprovinz gelang im Verlauf des Augsburger Interims (1548) - die Stadt Speyer n a h m die Bestimmungen an - wieder eine provisorische Besetzung des Augustinerklosters 1 8 . Im Dezember 1552 waren alle Speyerer Klöster offensichtlich wieder besetzt 19 . Doch der Anspruch der Stadt auf die mittelalterliche Tradition der Güterverwaltung bei M e n d i k a n t e n - es wurden weltliche Pfleger eingesetzt - führte dazu, d a ß Klostergebäude z u n e h m e n d

12

STAMER ( A n m . 1 0 ) , 2 4 ; E G E R ( A n m . 7 ) ,

13

STAMER ( A n m . 1 0 ) , 4 2 ; E G E R ( A n m . 7 ) , 3 2 9 f . Zum

15

f o l g e n d e n STAMER ( A n m .

STAMER ( A n m . 4 ) , 2 9 3 ;

329.

10), 4 2 f ; EGER ( A n m . 7), 3 2 9 .

H. J. ENGELS/R.

ENGELS/K.

HOPSTOCK, A u g u s t i n e r k l o s t e r ,

Schule,

Sparkasse. Geschichte auf einem Speyerer Bauplatz, Speyer 1985, 30f. "

STAMER ( A n m . 4 ) , 2 9 3 ; E G E R ( A n m . 7 ) ,

"

ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK ( A n m . 15), 31.

18

314.

Ebd. " W. SEIBRICH, G e g e n r e f o r m a t o r i s c h e Aktivitäten der Jesuiten. Dargestellt an drei Beispielen aus dem mittelrheinischen R a u m , i n : Die Gesellschaft Jesu u n d ihr Wirken im Erzbistum Trier. K a t a l o g - H a n d b u c h zur Ausstellung im Bischöflichen D o m - u n d D i ö z e s a n m u s e u m Trier, 11. September 1991 - 21. Oktober 1991 (Quellen u n d A b h a n d l u n g e n zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 66), Mainz 1991, 57-70, hier 58, Anm. 5.

34

Hans Ammerich

entfremdet wurden 20 . Nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) ernannte der Rat wieder evangelische Prediger für die Augustinerkirche; 1570 kam es mit dem Provinzial sogar zu einer vertraglichen Vereinbarung über das Nutzungsrecht der Protestanten am Langhaus zu festgelegten Zeiten 2 '. Ab April 1595 fanden in der Franziskanerkirche erstmals evangelische Predigt und Abendmahl statt22. 1569 forderte der Stadtrat von den Dominikanern die Mitbenutzung der Konventskirche; dabei argumentierte man mit der Notwendigkeit, man wolle die Klostergebäude in rechten Gebrauch bringen, zumal die Protestanten der Stadt auf die Mitbenützung angewiesen seien 23 . Prior Heinrich Stehel und der einzig noch verbliebene Konventuale verwahrten sich dagegen; vergeblich hatte der Prior daraufhingewiesen, daß Karl V. nach 1548 bereits die Stadt angewiesen hatte, die im Klosterbereich errichtete Lateinschule wieder zu entfernen 24 . Maximilian II. bewegte am 8. November 1570 auf dem Speyerer Reichstag die Dominikaner dazu, im Langhaus simultanen Gebrauch zuzulassen 25 . Nur mit äußerster Mühe konnten 1570 und ein Jahrzehnt später Bischof, Domkapitel und Orden das Franziskanerkloster vor dem Zugriff der Stadt schützen 26 . Bischof und Domkapitel dachten vorübergehend daran, die fast leerstehenden Gebäude den Jesuiten anzubieten 27 . Seit Ende 1579 waren sowohl der Stadtrat wie auch der Bischof an einem Kauf des Klosters interessiert. Aufgrund des wirtschaftlichen und sittlichen Tiefstandes betrieb Bischof Marquard von Hattstein beim Reichskammergericht und in Rom die Aufhebung des Klosters und konnte tatsächlich am 9. Juli 1580 die päpstliche Inkorporation in seine Mensa erreichen, die Kaiser Rudolf am 12. September bestätigte 28 ; zugleich wurde auch das Kloster St. Klara dem Bischof unterstellt 29 . Die Ordensleitung der Franzis-

20

SEIBRICH ( A n m . 19), 58. - Pflegschaften sind f ü r die Augustiner 1553/54, 1594 u n d 1611 bezeugt (ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK [Anm. 15], 31), f ü r die Franziskanerminoriten bereits 1546 (M. HEINRICHSPERGER, Speyer - F r a n z i s k a n e r - K o n v e n t u a l e n u n d Terziarinnen, in: A l e m a n i a Franciscana A n t i q u a V / 6 , Ulm 1959, 48-83, hier 67).

21

E N G E L S / E N G E L S / H O P S T O C K ( A n m . 1 5 ) , 31 f.

22

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 5 8 , A n m . 5.

23

Ebd., 59.

24

STAMER ( A n m . 10), 4 4 .

25

STAMER (Anm. 10), 44f. - Bereits 1567 hatte der Herzog v o n W ü r t t e m b e r g als H e r r der Propstei D e n k e n d o r f das Heiliggrabkloster eingezogen; Prior u n d K o n v e n t sprachen sich f ü r die Augsburgische Konfession aus. Nach einem zwischen d e r Stadt und d e m Propst von D e n k e n d o r f 1568 geschlossenen Vertrag k o n n t e die Stadt einen Prediger an d e r Kirche einstellen und eine Schule einrichten. 1585 w u r d e das Kloster vom Herzog von Württemberg an die Stadt verkauft; später wurde das G e b ä u d e als Lazarett verwendet (Ebd., 4 6 f ; EGER [Anm. 7], 330).

26

SEIBRICH ( A n m . 19), 59.

27

HEINRICHSPERGER ( A n m . 2 0 ) ,

28

K. EUBEL, Z u r Geschichte des Minoritenklosters zu Speier, in: Z G O 45 (1891) 675-698, hier 685-689; HEINRICHSPERGER (Anm. 20), 72-75.

29

HEINRICHSPERGER ( A n m . 2 0 ) , 72.

72-75.

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

35

kaner beschloß, weder der Stadt noch dem Bischof das Kloster zukommen zu lassen, sondern es dem Orden zu erhalten 30 . Für die Klöster bedeuteten die Anwesenheit des Reichskammergerichts sowie die Reichs- und Deputationstage eine gewisse Sicherheit. Die Furcht vor kaiserlichen Reaktionen ließ den Rat vor Enteignungen zurückschrekken 31 . Mit Ergänzungen aus dem Provinzbereich gelang die Rettung der Klöster. Die Karmeliter taten sich aber schwer, denn ihre zehn rheinischen Konvente wiesen dabei 1548 nur noch 18 Konventualen auf 32 , die Provinz der Dominikaner in Oberdeutschland zur gleichen Zeit nur noch zehn 33 . Die Augustiner konnten ihre Position durch Provinzialkapitel in Speyer in den Jahren 1572, 1587 und 1607 sichern 34 . Neben den Stiften Allerheiligen, St. German und St. Guido gab es vor dem Dreißigjährigen Krieg noch drei Frauenkonvente: das heute noch bestehende Dominikanerinnenkloster St. Magdalena 35 , das Kloster der Augustinerinnen bei St. Martin in Altspeyer 36 und das nicht weit davon entfernte St. Klarakloster 37 . Nachdem es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Disziplin der Schwestern schlecht bestellt war, erlebte das Klara-Kloster am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges eine wirtschaftliche Blüte. Der Konvent war im Wachsen begriffen, die Klosteranlagen wurden beträchtlich erweitert. Doch wurde die Aufwärtsbewegung des Klosters durch den Krieg jäh unterbrochen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erholte sich das Kloster allmählich. Am 1. Dezember 1685 inkorporierte der Bischof Johann Hugo von Orsbeck das Augustinerinnenkloster und die Pfarrkirche St. Martin mit allen Liegenschaften und Gefällen dem Kloster St. Klara 38 . Die Ordensleute waren verpflichtet, alles, was in bezug auf die Observanz vorgeschrieben war, strengstens einzuhalten. Da aber die Möglichkeit von Dispensen bestand, übertrug am 23. Mai 1580 Bischof Marquard die Pfarrei Dudenhofen (bei Speyer) wegen des ungebührlichen Verhaltens des Pfarrverwesers dem Prior des Karmeliterklosters, das damals kaum mehr als drei Mönche aufwies und die Pfarreien St. Peter und Heili-

I0

EUBEL ( A n m . 2 8 ) , 6 8 9 ; HEINRICHSPERGER ( A n m . 2 0 ) ,

J

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 5 8 .

'

74f.

î2

G . MESTERS, Die Rheinische Karmeliterprovinz w ä h r e n d der G e g e n r e f o r m a t i o n (1600 1660) (Quellen u n d A b h a n d l u n g e n zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 4), Speyer 1 9 5 8 , 9 , Anm. 14.

"

STAMER ( A n m . 1 0 ) , 4 5 .

M

ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK ( A n m . 15), 34.

15

Zu St. M a g d a l e n a : STAMER ( A n m . 10), 47 u. 187; 750 Jahre Kloster Sankt Speyer 1228-1978, Speyer 1978; DOLL/STEIN (Anm. 11), 174f.

Magdalena

16

STAMER ( A n m . 1 0 ) , 4 7 u .

17

Zu St. K l a r a : R. SCHREIBER, Der F r a n z i s k a n e r i n n e n k o n v e n t von St. K l a r a im Alt-Speier 1600-1800, in: Archiv f ü r mittelrheinische Kirchengeschichte (künftig A m r h K G ) 4 (1952), 185-203; H. STEINER, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des Klosters St. Klara in Speyer a m Rhein, in: A m r h K G 8 (1956), 133-188; DOLL/STEIN (Anm. 11), 114f.

"

STEINER ( A n m . 3 7 ) , 1 4 2 f , 1 4 7 ,

187.

152.

36

Hans Ammerich

genstein (bei Speyer) versah 39 . Gerade aber die Karmeliter hatten seit langem erkannt, daß die Übernahme von Pfarreien mit Dispens und der damit verbundene Aufenthalt von Konventualen außerhalb des Klosters den Niedergang mitverschuldet hatten 40 . Versah ein Mönch die Pfarrei excurrendo, beklagten sich die Pfarrkinder darüber, in Krankheit und Tod oft allein gelassen zu sein 41 .

II Der moralisch-seelsorgliche Tiefstand des Klerus, besonders in den Stiften, machte es notwendig, Geistliche aus anderen Diözesen und Ordensleute nach Speyer zu holen. Bischof Philipp von Flersheim (1529 - 1552)42 hatte erkannt, daß eine Reform mit diözesaneigenen Kräften nicht durchzuführen war. Der Bischof, so schreibt Petrus Faber über sein Wirken in Speyer 1541/42 in dem eingangs zitierten Brief, war schon entschlossen, mich eine theologische Vorlesung halten zu lassen; der Klerus war für uns sehr aufgeschlossen, und ebenso die angesehensten Laienpersönlichkeiten, nicht nur aus der Reichskammer [Reichskammergericht], sondern auch die führenden Leute der Stadt. Es war uns gelungen, ein paar wichtige Versöhnungen zustande zu bringen, und wir hatten eine offene Tür zu einer reichen Ernte gefunden - doch der Kardinal von Mainz hatte dringendst nach mir verlangt, und es hatte sich mir eine gute Gelegenheit geboten, mich mit meinen Gefährten von Speyer zu verabschieden. So langte ich hier in Mainz an, von wo aus mich Seine Eminenz mit einigen seiner Theologen zum Konzil schicken will (obwohl ich ja gezeigt habe, wie unfähig ich zu Aufgaben solchen Gewichts bin), und er hat mich geheißen, mich zur Reise bereit zu machen. . ,43. Offenbar erreichte Petrus Faber aufgrund seiner Frömmigkeit und Liebenswürdigkeit viele, die der katholischen Kirche inzwischen fernstanden. So berichteten die Speyerer Pfarrer dem Bischof nach Ostern 1542, daß in diesem Jahr mehr Gläubige zur Beichte und Kommunion gekommen seien als in den letzten zwanzig Jahren insgesamt 44 .

" Von 1605 bis 1721 w u r d e D u d e n h o f e n von F r a n z i s k a n e r n betreut. (F. KLOTZ, Ortsgeschichte der G e m e i n d e D u d e n h o f e n / P f a l z , D u d e n h o f e n 1964, 86f). 40

MESTERS ( A n m . 32), 9 ,

12.

41

STAMER ( A n m .

194.

42

Zu Philipp v o n Flersheim: Ney. i n : A D B 26 (1888), 4 7 - 5 0 ; F. X. REMLINC, Geschichte d e r Bischöfe zu Speyer, 2. Bd., Mainz 1854, N D Pirmasens 1975, 267-327; H. STIEFENHÖFER, Philipp von Flersheim. Bischof v o n Speyer (1529-1552) u n d Gefürsteter Propst v o n Weiß e n b u r g 1546-1552, Speyer 1941; STAMER (Anm. 4), 3 2 3 f . A m 24. O k t o b e r 1540 k a m Petrus F a b e r im päpstlichen A u f t r a g nach Worms, um beim Religionsgespräch dabei zu sein. Auf der Weiterreise z u m Regensburger Religionsgespräch hielt er sich bis 6. F e b r u a r 1541 in Speyer auf. Vom Papst beauftragt, k a m F a b e r a m 15. April 1542 ein zweites Mal nach Speyer, wo er sich d e m N u n t i u s M o r o n e zur V e r f ü g u n g stellen sollte; bis zum 10. Oktober 1542 w a r er in Speyer (STAMER [Anm. 10], 62).

43

44

STAMER ( A n m .

10), 9 1 ,

10), 6 2 .

D a s kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

37

Das Konzil von Trient, von dem Petrus Faber in seinem Brief spricht, wurde 1545 einberufen. Es tagte in drei Sitzungsperioden mit jeweils langen zeitlichen Unterbrechungen, nämlich von 1545 bis 1547, 1551/1552 und 1562/63. Petrus Faber erlebte das Ende der ersten Tagungsperiode nicht mehr. Er starb am 1. August 1546 in Rom. Das Konzil von Trient „ist bis zum II. Vatikanum wohl das wichtigste aller Allgemeinen Konzilien ... Es war die Antwort auf die protestantische Reformation und die, wenn auch nicht vollkommene, so doch eben erreichbare Erfüllung des lang angestauten Verlangens nach einer inneren Erneuerung der Kirche. Es gab der Theologie wie der Glaubensverkündigung klare Normen,.. ."4S. Damit wurde das Tridentinum zum Fundament für den Katholizismus der Neuzeit 46 . Zwei große Aufgaben waren zu lösen: Neben einer verbindlichen Festsetzung der von den Reformatoren angegriffenen Glaubenslehre mußte zur Stärkung der alten Kirche ein Programm zu ihrer Reform verabschiedet werden. Papst Pius IV. bestätigte am 26. Januar 1564 die Beschlüsse des Konzils; es „restaurierte nicht einfach das Mittelalter, sondern reformierte Verfassung und Seelsorge nach den Erfordernissen der Zeit. In Trient fand die alte Kirche ihr Selbstvertrauen, ihr Selbstbewußtsein wieder. Aufgrund der tridentinischen Beschlüsse begann die wirkliche Erneuerung der Kirche schließlich überall Tatsache zu werden..." 4 7 . Ein wichtiger Aspekt der tridentinischen Erneuerung war jener geschichtliche Prozeß, in dessen Verlauf ein „neuer Klerus" entstehen sollte, der den Normen des Konzils entsprach. Der Pfarrklerus mußte sein theologisches Wissen, sein geistliches Wirken und die Art und Weise seiner Lebensführung nach den Richtlinien dieses Reformprogramms verändern 48 . In der ungefähr 8000 Einwohner zählenden Reichsstadt Speyer dürften um 1560 nur 30 bis 40 katholische Laien mit Bürgerrecht gewohnt haben. Das kirchliche Leben war „mehr oder weniger auf das Funktionieren des Gottesdienstes im Dom und in den Stiften Allerheiligen, St. German und St. Guido reduziert" 49 . Immer wieder waren Klagen über Pflichtversäumnisse des Klerus zu hören 50 . Suspendierungen wegen mangelnden Fleißes wurden oft ausgesprochen. Die Vikare leisteten, um nicht visitiert zu wer45

46

G. SCHWAIGER, Päpstlicher Primat und Autorität der Allgemeinen Konzilien im Spiegel der Geschichte, München-Paderborn-Wien 1977, 154. M. WEITLAUFF, Das Konzil von Trient und die tridentinische Reform auf dem Hintergrund der kirchlichen Zustände der Zeit, in: AmrhKG 41 (1989), 13-59.

47

SCHWAIGER ( A n m . 4 5 ) ,

48

Zur Klerus- und Seelsorgereform in der Diözese Speyer: H. AMMERICH, Das Fürstbistum Speyer im Zeichen der tridentinischen Erneuerung, in: AmrhKG 41 (1989), 81-106; ferner V. PRESS, Das Hochstift Speyer im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Portrait eines geistlichen Staates, in: Barock am Oberrhein, hg. von V. P R E S S , E. R E I N H A R D und H. S C H W A R Z M A I E R (Oberrheinische Studien VI), Karlsruhe 1985, 251-290. - Vergleichende Darstellung der Reformmaßnahmen in den Diözesen Speyer und Straßburg nach der Reformation: H. AMMERICH, Formen und Wege der katholischen Reform in den Diözesen Speyer und Straßburg. Klerusreform und Seelsorgereform, ebd., 291-327.

49

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 5 8 .

50

Beispiele bei

STAMER

154.

(Anm. 10), 34 f.

38

Hans Ammerich

den, nur aushilfsweise den Seelsorgedienst 51 . 1563 klagte der Dompropst, er könne die Speyerer Pfarreien nicht visitieren, weil lediglich der Pfarrer von St. Johann die Investitur empfangen habe 52 . Trunksucht, Rohheitsdelikte und Unzucht wurden oft festgestellt; das größte Übel jener Jahrzehnte war das Konkubinat 53 . Bezüglich der Frage, die auf dem Augsburger Reichstag von 1566 und auf dem Tag zu Regensburg 1576 erörtert wurde, ob auch Protestanten der Eintritt in das Domkapitel gewährt werden solle, setzten sich die Domherren in Speyer entschieden für die Erhaltung des katholischen Charakters des Kapitels ein 54 . 1567 ersuchte Pfalzgraf Hans Jörg von Veldenz beim Domkapitel darum nach, daß einige seiner elf Kinder Dompräbenden erhielten unter der Voraussetzung, daß sie das Augsburgische Bekenntnis beibehalten dürften; das Domkapitel lehnte dies jedoch unter Berufung auf den Religionsfrieden und den Reichstagsabschied ab. Als der Domherr Eberhard von Hattstein der katholischen Kirche den Rücken kehrte, mußte er unverzüglich das Kapitel verlassen. Dies geschah in einer Zeit, in der in fast allen Kapiteln eine mehr oder minder starke Fraktion von Protestanten vorhanden war. 1568 legte man die Domherren bei der Verpflichtung auf das Bekenntnis des katholischen Glaubens fest. So konnte der Rektor des Jesuitenkollegs dem päpstlichen Nuntius Portia bei dessen Besuch in Speyer 1576 berichten, daß sämtliche Domherren katholisch seien. Des weiteren berichtete der Nuntius, daß das Domkapitel sich gegenüber den Machenschaften der Stadt sehr mutig zeige; man würde nicht - so wie anderwärts - kämpfen durch Aufhetzung der Prediger. An der Kanzelpolemik empfand man nicht nur keine Freude, sondern man mahnte auch die Prediger zur Mäßigung. So wurde Magister Hans Häring im Sommer 1564 aufgefordert, den Stadtprädikanten nicht mit ungebührlichen Ausdrücken zu bedenken, denn damit rufe er nur Verbitterung hervor. Die Initiative zur Reform gemäß den Richtlinien des Tridentinums im Fürstbistum Speyer ging weniger von den Bischöfen als vielmehr vom Domkapitel aus, welches eine Reihe markanter Priesterpersönlichkeiten besaß. Insbesondere zu nennen ist der Domdekan Andreas von Oberstein 55 , dessen größter Wunsch - der Eintritt in den Kartäuserorden - wegen seines Amtes in Speyer nicht in Erfüllung ging: Da er den vollständigen Zusammenbruch des Katholizismus in der Diözese Speyer befürchtete, blieb er im Dienst des Bistums bis zu seinem Tod im Jahre 160356.

51

STAMER ( A n m . 10), 3 5 .

" Ebd. "

STAMER ( A n m . 10), 3 5 ; EGER ( A n m . 7 ) , 3 2 9 .

54

Zum folgenden STAMER (Anm. 10), 26f. Zu Andreas von Oberstein siehe STAMER (Anm. 10), 131 f. Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig abgekürzt zitiert GLA KA) 61/10951, pag. 553.

5! 56

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

39

Sein Nachfolger als Domdekan wurde Adolf Wolf von Metternich 57 . Nach seinem Studium am Germanikum in Rom wurde er häufig zu wichtigen Missionen herangezogen: 1589 reiste er nach Rom, um den Papst über die Verhältnisse in der Diözese Speyer im Rahmen des „ad limina"Besuchs zu unterrichten 58 . Bereits ein Jahr zuvor hatte er den Papst im Auftrage des Bischofs aufgesucht 59 . In seiner Eigenschaft als Hofmeister der beiden für den geistlichen Stand bestimmten Söhne Philipp und Ferdinand des bayerischen Herzogs Wilhelm V. begleitete er diese 1592 nach Rom 60 . Als Ferdinand Koadjutor seines Onkels Ernst von Köln wurde, begann er dort mit der Einführung der Reformdekrete. 1586 wurde er Propst von St. Guido und 1603 Nachfolger Obersteins als Domdekan 6 1 . Bis zu seinem Tod 1619 wirkte er hier im Sinne des Tridentinums. Sein Bruder Wilhelm von Metternich 62 , der ebenfalls 1583 bis 1587 in Rom studiert hatte, trat in den Jesuitenorden ein. Als Rektor des Speyerer Jesuitenkollegs war er wesentlich an der Durchführung der tridentinischen Reformen beteiligt. Ein Mann der Reform war auch der Stiftsdekan von St. Guido, Dionysius Burckardt 63 . 1596 wurde er zum Weihbischof ernannt. Er galt als vorbildlich in der Seelsorge, gab dem St. Guido-Stift eine neue Ordnung und sorgte für die Konsolidierung der Finanzen. Für die Durchsetzung der Reform entscheidend war der Generalvikar Beatus Moses 64 , der die Diözese von 1571 bis 1602 verwaltete und wesentliche Maßnahmen zur Besserung des Klerus einleitete. Nach der von Beatus Moses in den Jahren 1583 bis 1588 durchgeführten Visitation des Archidiakonats des Dompropstes wurde deutlich, daß die notwendigen Reformmaßnahmen beim Klerus beginnen mußten 65 . Mit Vorschriften allein war es jedoch noch nicht getan; es mußte ihnen in den Kreisen der Kleriker Nachdruck verliehen werden. Dies war zweifelsohne eine schwierige Aufgabe, galt es doch gegen alte Gewohnheiten anzukämpfen. Eine Besserung der Verhältnisse und eine Erneuerung des Klerus konnten erst allmählich erreicht werden. Die untauglichen Geistlichen konnten nicht sofort entlassen werden, da der Priestermangel zu groß war. Deshalb konnten auch nur wenige überlastete Priester einen Kaplan erbitten. Aus Mangel an Nachwuchs waren die Frühmessereien fast " Zu Adolf Wolf von Metternich siehe STAMER ( A n m . 10), 132-134. 58 G L A K A 61/10949, pag. 48; siehe dazu auch J. SCHMIDLIN, Die kirchlichen Z u s t ä n d e in D e u t s c h l a n d vor dem Dreißigjährigen Kriege n a c h den bischöflichen Diözesanberichten a n den Heiligen Stuhl. Bd. 7, 5. u n d 6. Heft, Freiburg i. Br. 1910, 94. "

REMLING ( A n m . 4 2 ) , 4 0 9 .

60

V g l . STAMER ( A n m . 10), 1 3 3 .

"

G L A K A 6 1 / 1 0 9 5 1 , p a g . 553.

62

Z u Wilhelm von Metternich siehe STAMER ( A n m . 10), 134. Zu Dionysius Burckardt siehe F. SCHORN, J o h a n n H u g o von Orsbeck. Ein rheinischer Kurfürst der Barockzeit, Erzbischof u n d K u r f ü r s t von Trier, Fürstbischof von Speyer, K ö l n

6)

1 9 7 6 , 7 7 ; STAMER ( A n m . 10), 1 3 4 f. 64 65

Zu Beatus Moses siehe STAMER ( A n m . 10), 135. Z u r D u r c h f ü h r u n g u n d zu den Ergebnissen d e r Visitation; AMMERICH, F o r m e n u n d Wege ( A n m . 48), 297-301 ; DERS., Speyer ( A n m . 48), 82-85.

40

Hans Ammerich

alle eingegangen, die Pfründen waren oft zu den Pfarrpfründen hinzugenommen oder anderen Zwecken zugeführt worden, beispielsweise der Errichtung von Schulen. Dennoch wurden Maßnahmen gegen untaugliche Priester ergriffen, wie der Bericht des Bischofs Eberhard von Dienheim 66 aus dem Jahr 1588 anläßlich der „Visitatio liminum Apostolorum" zeigt: Dem Generalvikar habe er befohlen, gegen Geistliche, die einen unsittlichen Lebenswandel führen und ihre Pflichten nicht erfüllen würden, schonungslos vorzugehen. Der Bischof bat, daß die Kurie untauglichen Leuten kein geistliches Amt übertragen möge. Es seien häufig diejenigen, die zuvor aus dem Seminar des Domkapitels wegen Untauglichkeit entlassen worden wären. Er richtete an den Papst auch die Bitten, daß er von Speyer aus auch die Pfründen in den Monaten, in denen die Verleihung dem apostolischen Stuhl zukomme, besetzen dürfe, und daß künftig immer sechs Alumnen aus der Diözese am Germanikum studieren dürften, denn die bisherigen hätten sich besonders bewährt 67 . Voraussetzung für die Durchführung der vom Trienter Konzil geforderten Reformmaßnahmen war ein theologisch gebildeter, geistlich geprägter, integrer Klerus.

III Die Ausbildung des Klerus gemäß den tridentinischen Richtlinien 68 war an Voraussetzungen gebunden, die zunächst noch fehlten. Insbesondere war ein vom Konzil gefordertes Priesterseminar, welches der kommenden Pfarrergeneration die spirituellen, pastoralen und wissenschaftlichen Qualifikationen vermitteln sollte, noch zu errichten. Das Domkapitel bemühte sich, seine Schülerburse für die Erziehung von Seelsorgern im Sinne des Trienter Konzils zu verwenden. Diese Einrichtung hatte bisher in erster Linie der Ausbildung des zahlreichen Klerus an der Domkirche gedient. Mit den Alumnen sollten künftig die Patronatspfarreien des Domkapitels besetzt werden. Man teilte die Burse in eine obere und eine untere Abteilung. Die Schüler der unteren begannen mit humanistischen Studien; die Alumnen der oberen Abteilung bereiteten sich auf die Weihen und die Aufgaben der Seelsorge vor. Hatten sie das Weihealter noch nicht erreicht, so blieben sie manchmal zwei oder drei Jahre auf dieser Stufe. Sie widmeten sich dem Studium der Theologie, besonders der Kasuistik und übten 66

67 68

Zu

Eberhard

von

Dienheim:

STAMER ( A n m . 1 0 ) , 8 7 f f ;

PRESS ( A n m . 4 8 ) ,

264-266;

AMME-

RICH, F o r m e n u n d Wege (Anm. 48), 295 f; DERS., Speyer ( A n m . 48), 84 ff. G L A K A 78/1052. Zu d e n B e m ü h u n g e n , die Ausbildung des Klerus zu reformieren, siehe STAMER ( A n m . 10), 7 3 - 8 0 ; zur Errichtung d e r ersten tridentinischen S e m i n a r e für die Speyerer Diözese vgl. DERS., Die ersten tridentinischen Seminare des Bistums Speier im 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t , in: St. G e r m a n in Stadt u n d Bistum Speyer. Ein Beitrag zur Geschichte des Bischöflichen Priesterseminars Speyer, Speyer 1957, 103-109; AMMERICH, F o r m e n u n d Wege ( A n m . 48), 3 0 2 - 3 0 5 ; DERS., Speyer (Anm. 48), 88-91.

D a s kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

41

sich im Predigen. Nicht in jedem Fall wurde der Übergang von der unteren zur oberen Burse genehmigt, so z.B., wenn Alumnen wegen eines körperlichen Gebrechens nicht in der Seelsorge eingesetzt werden konnten oder wenn ihre Leistungen nicht den Anforderungen entsprachen 69 . Seit 1582 übernahmen erfahrene Pädagogen aus dem seit 1566 bestehenden Speyerer Jesuitenkolleg die Leitung der Burse. Sie wurde von nun an Alumnat und Seminar genannt 70 . Bereits nach zehnjährigem Bestehen des Seminars wird berichtet, daß dessen Entwicklung erfreulich verlaufen sei". Künftig wurden auch von den Bischöfen, so von Eberhard Dienheim und Philipp Christoph von Sötern, Alumnen zur Erziehung an die Burse geschickt. Leider war dieser Einrichtung nur ein vorübergehender Erfolg beschieden: Der zuständige Präfekt erklärte im Sommer des Jahres 1636, daß die Mittel nicht vorhanden seien, um die notwendigen Einkäufe zu tätigen. Seit dieser Zeit wird das Alumnat nicht mehr erwähnt. Angesichts des dringenden Bedarfs an Geistlichen unternahm das Domkapitel 1653 den Versuch, das Alumnat wieder in Gang zu bringen. Nach ausführlichen Beratungen kam man zu dem Schluß, das Alumnat mit zunächst zwei Schülern im Jahr 1662 wieder aufzunehmen. Doch stellte sich heraus, daß selbst dies angesichts der finanziellen Lage nicht möglich war 72 . Neben diesem ersten tridentinischen Seminar des Bistums entstand am Ende des 16. Jahrhunderts ein weiteres in Baden-Baden. Ostern 1588 wurde die Schule mit zwölf Alumnen und einigen Konviktoristen eröffnet, zu einem Zeitpunkt als ihr Begründer, Markgraf Philipp von BadenBaden, bereits gestorben war. Die Schule existierte nur drei Jahre 73 . Zur Gründung eines weiteren Diözesanpriesterseminars kam es zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges in der bischöflichen Residenz Udenheim. Das Seminar bestand allerdings nur kurze Zeit; es mußte, nachdem am 9. Januar 1632 die Schweden Philippsburg eingenommen hatten und seit 1634 die Festung und somit das Hochstift in den Händen der Franzosen war, seine Tätigkeit einstellen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden Anstrengungen unternommen, wieder ein Seminar zu errichten. Doch reichten die finanziellen Mittel nicht aus, um ein Alumnat - auch in bescheidenem Rahmen - ins Leben zu rufen. Eine Unterstützung für künftige Seelsorger war erst wieder möglich, als 1705 eine größere Stiftung zugunsten des Domkapitels gemacht worden war: Die an verschiedenen Hochschulen studierenden

" GLA KA 61/10945, pag. 504; 61/10949, pag. 80; 61/10951, pag. 853. 10 GLA KA 61/10943, pag. 386; 61/10945, pag. 952. 71 GLA KA 61/10947, fol. 412: Bewilligung von Wein in ansehung numeh desselbigen Seminarii des gantz Stifft sich zu erfrewen. Vgl. dazu und zum folgenden STAMER (Anm. 4), 197. 12 In den Jahren 1682 und 1685 wurde der Plan, ein Alumnat zu errichten, mehrfach wiederaufgegriffen, wie die Domkapitelsprotokolle zeigen. " H. BARTMANN, Die Kirchenpolitik der Markgrafen von Baden-Baden im Zeitalter der Glaubenskämpfe (1535-1622), in: Freiburger Diözesanarchiv 8 (1961), 1-352, hier 194-197.

42

Hans Ammerich

Alumnen wurden nun mit Stipendien versorgt 74 . Wie schlecht es in dieser Zeit um die Priesterausbildung bestellt war, zeigt auch die Tatsache, daß lediglich sechs Alumnen aus der Diözese Speyer im Zeitraum von 1600 bis 1655 das Germanikum in R o m " besuchten; in der Zeit von 1655 bis 1700 waren es nur vier76. Es handelte sich aber um einfiußreiche Männer, so um den späteren Dompropst in Speyer und Bischof in Wien Wilderich von Walderdorf und die Bischöfe Johann Hugo von Orsbeck und Heinrich Hartard von Rollingen. Trotz verschiedenster Bemühungen war es nicht möglich gewesen, eine adäquate Ausbildungsstätte für die künftigen Geistlichen zu schaffen. Doch erwies sich die Weiterentwicklung der Domschule zum Gymnasium durch die Jesuiten in Speyer und deren Wirken im Fürstbistum als erfolgreich. Da nach dem Tod des Dompredigers Magister Johann Häring kein Geistlicher für die Predigt im Dom zur Verfügung stand, wandte sich zu Beginn des Jahres 1566 der Domscholaster Andreas von Oberstein an den Erzbischof von Mainz, Daniel Brendel von Homburg, seinen Vorgänger als Domscholaster in Speyer; er bat ihn um die Erlaubnis, daß der Rektor des Mainzer Jesuitenkollegs, Pater Lambert Auer, die Stelle des Dompredigers versehen dürfte, bis ein neuer Domprediger gewonnen werden könne 77 . Der Erzbischof von Mainz entsprach Obersteins Bitte; er forderte aber zur Gründung eines Kollegs auf, damit das Kapitel künftig über geeignete Geistliche verfüge 78 . Mit Erlaubnis unseres Erzbischofs, so berichtet Pater Auer am 14. Januar 1566, bin ich jetzt im Acker und der Ernte von Speier. Die Aussicht auf ein Kolleg ist nicht gering. An Festtagen predige ich zweimal vor einer auserlesenen und dreifach so großen Zuhörerschaft wie früher. Von den Doktoren und Assessoren (des Reichskammergerichts) kommen viele und erweisen mir unverdienterweise viele Ehre und Liebe'9. Das Domkapitel verhandelte mit Pater Lambert Auer über die Errichtung eines Jesuitenkollegs in Speyer und beauftragte ihn am 24. Januar

"

F ü r vier Studenten k o n n t e n je 119 fl. zur Verfügung gestellt werden ( G L A K A 61/10983, fol. 36). Mit dieser Regelung hatte aber d a s D o m k a p i t e l offensichtlich keine guten Erfahrungen gemacht; 1721 w u r d e das A l u m n a t in das päpstliche Seminar nach Fulda verlegt; jeweils vier K a n d i d a t e n bereiteten sich v o n nun an hier auf ihre spätere A u f g a b e vor. Im N o v e m b e r 1730 trat n o c h m a l s eine Ä n d e r u n g ein: Die A l u m n e n studierten von n u n an am neugegründeten Jesuitenseminar in Heidelberg an der dortigen Universität. " Z u m Collegium G e r m a n i c u m siehe A. STEINHUBER, Geschichte des Kollegium G e r m a n i k u m Hungarikum

i n R o m , 2 B d e . , F r e i b u r g i. B r . 1 9 0 6 ; S T A M E R ( A n m . 1 0 ) , 8 0 - 8 4 ,

"

STEINHUBER ( A n m . 7 5 ) , B d . I , 4 1 5 ; B d . I I , 6 6 ; STAMER ( w i e A n m . 1 0 ) ,

"

STAMER ( A n m . 10), 6 3 ; D E R S . ( A n m . 6 8 ) ,

197.

197.

104.

™ Daniel Brendel von H o m b u r g an das Speyerer D o m k a p i t e l , 31. Dez. 1565 u n d 16. April 1566, Landesarchiv Speyer (künftig abgekürzt zitiert LA SP) D 2, N r . 905. Z u r Errichtung eines Jesuitenkollegs in Speyer u n d seiner Entwicklung bis 1575 siehe auch B. DUHR, Geschichte der Jesuiten in ,den Ländern deutscher Zunge, I. Bd., Freiburg i. Br. 1907, 115-120; v g l . a u c h STAMER ( A n m . 1 0 ) , 6 3 - 6 8 ; D E R S . ( A n m . 6 8 ) ,

" Zitat nach DUHR ( A n m . 78), 115.

104.

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1566, seinen Vorgesetzten diese Absicht mitzuteilen 80 . Bischof Marquard von Hattstein stand jedoch den Plänen abweisend gegenüber. Die Verhandlungen waren noch in der Schwebe, als die Frist für die Aushilfe Lamberts als Domprediger Ostern 1566 abgelaufen war; dennoch blieb er vorläufig in Speyer. Das Domkapitel war bereit, die notwendigen Mittel zur finanziellen Sicherung des neuen Kollegs zur Verfügung zu stellen: Für den Gottesdienst und die geistlichen Übungen sollte die Nikolauskapelle und als Wohnung das Haus des Dompredigers eingerichtet werden. Der Domprediger sollte ein Jesuit sein; ferner sollte seine Schule mit fünf Klassen unterhalten und wöchentlich zwei- bis dreimal eine theoretische Vorlesung für die künftigen Geistlichen gehalten werden. Der Entwurf einer Stiftungsurkunde wurde am 17. Januar 1567 gutgeheißen; er sah die Überlassung des Predigerhauses südlich des Doms an die Jesuiten vor 81 . Nach dem endgültigen Vertrag von 1571 erhielten sie die Dechanei zwischen Propstei und Stadtmauer, den nördlichen Teil ihres späteren Kollegs82. Am 6. Juli 1567 kam Petrus Canisius im Auftrag des Jesuitenordens nach Speyer, um dort letzte Schwierigkeiten, die einer Gründung noch im Wege standen, auszuräumen 83 . Doch schon im Mai war die Schule mit zunächst drei Klassen durch Jesuitenpatres eröffnet worden 84 . Noch im Herbst 1567 wurde die Schule durch die vierte und im folgenden Jahr durch die fünfte Klasse erweitert. Die Jesuiten hatten zunächst den Unterricht für die Schulanfänger abgelehnt. Sie übernahmen jedoch 1575 auf Drängen des Domdekans auch diese Aufgabe, ohne daß sie verpflichtet wurden, diese ständig auszuüben. In späterer Zeit wurde der Anfangsunterricht wieder von einem vom Domkapitel bestellten Schulmeister übernommen. Bald nach seiner Eröffnung hatte das Jesuitengymnasium schon 152 Schüler; 1580 waren es 230 Schüler, 14 Personen lebten im Kolleg, von ihnen waren fünf Priester und sechs Lehrer. Auch im Speyerer Jesuitengymnasium wurden Theaterstücke eingeübt und aufgeführt 85 . Es gehörte zu den Bildungszielen der Jesuiten, sich in der lateinischen Sprache zu üben und ein wirksames Auftreten zu pflegen. Das Theater gab die Möglichkeit, dieses Auftreten zu kultivieren. Dies geschah zunächst schulintern, dann trat man aber auch an die Öffentlichkeit. Für die öffentlichen Veranstaltungen waren Dramen geschrieben worden, die heute unter dem 80

G L A K A 6 1 / 1 0 9 4 1 , p a g . 2 6 , 5 4 , 7 2 , 7 4 , 7 8 ; STAMER ( A n m . 10), 6 3 .

81

L A S P D 2 , N r . 9 0 5 ; STAMER ( A n m . 6 8 ) , 1 0 5 .

82

LA SP D 25, N r . 343; D r u c k : F. X. REMLJNG, U r k u n d l i c h e Geschichte der ehemaligen Abteien u n d Klöster im jetzigen R h e i n b a y e r n , I. Theil, Neustadt a . d . H a a r d t 1836, Beilage 62, 359-361.

"

G L A K A 6 1 / 1 0 9 4 2 , p a g . 8 4 1 ; v g l . a u c h STAMER ( A n m . 1 0 ) , 105.

84

Vgl. dazu u n d zum f o l g e n d e n STAMER ( A n m . 10), 70 f. G L A K A 61/10942, pag. 548. Dramentitel u n d A n g a b e n d e r Daten in der Zeit v o n 1570 bis 1774 bei K. FINKEL, Musikerziehung u n d Musikpflege a n den gelehrten Schulen in Speyer vom Mittelalter bis z u m E n d e der freien Reichsstadt (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft Bd. 5), Tutzing 1973, 174f.

85

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Hans Ammerich

Begriff „Jesuitendrama" zusammengefaßt werden. Nur wenige Titel haben Eingang in die Literaturgeschichte gefunden. Es sind Dramen, die auf die „Disziplinierung" des Zuschauers ausgerichtet sind: Die Dramen bieten dem Zuschauer Exempel, mit denen er sich identifizieren kann; sie setzen die positiven neben die negativen Beispiele und grenzen diese gegen einander ab. Seit 1570 wurden theologische Vorlesungen - auf besonderen Wunsch des Domkapitels - zweimal wöchentlich in der Afrakapelle des Domes vom Domprediger gehalten. In der ersten Zeit wurde den Priestern der Trienter Katechismus erklärt; im Laufe der Zeit wurden die künftigen Geistlichen in der Spendung des Bußsakramentes unterrichtet 86 . Seitens des reichsstädtischen Rates kam es schon bald zu Angriffen gegen die Jesuiten; diese seien, so wurde argumentiert, eine neue Sekte, die im Augsburger Religionsfrieden nicht berücksichtigt sei87. Von ihnen sei auch eine Störung des Religionsfriedens zu befürchten, weil sie in der Schule und auf der Kanzel die Augsburgische Konfession als Häresie bezeichnen würden. Der Rat der Stadt forderte vom Domkapitel die Abschaffung der Jesuiten. Zusätzlich übte der pfälzische Kurfürst Friedrich III. seit der Besetzung von St. Ägidien durch einen seiner kalvinistischen Prediger im Jahr 1572 konfessionellen Druck auf den Stadtrat selbst aus und verlangte im November 1573 von ihm, daß er die Jesuiten ausweisen solle. Der Kurfürst verbot seinen Untertanen, die Stadt zu betreten und sperrte die Lebensmittelzufuhr 88 . Zeigte sich Bischof Marquard durchaus zu Zugeständnissen bereit, so widerstand das Domkapitel dem Verlangen des Rates, der die Jesuiten unter Hausarrest stellte89. Der Kaiser, der im Februar 1574 vom Wiener Nuntius Delfino auf die Situation in Speyer angesprochen wurde, scheint sich für die Jesuiten eingesetzt zu haben; jedenfalls hörten im Sommer des gleichen Jahres die unmittelbaren Pressionen auf 90 . Doch weigerte sich der Rat am 24. Juni 1575, die Jesuiten in die Rachtung der Stadt aufzunehmen und erklärte, die Angehörigen der Gesellschaft Jesu in der Stadt würden nicht mehr den städtischen Schutz genießen 91 . Kaiser Maximilian II. billigte jedoch ihre Anwesenheit ausdrücklich 92 . Künftig ging der Rat gegen die Jesuiten weniger direkt vor, doch war die Atmosphäre so gereizt, daß 1577 ein Bürger aufgrund eines Brandanschlags auf das Kolleg hingerichtet werden mußte 93 . Daß 86

STAMER ( A n m . 10), 7 0 .

87

Vgl. dazu und zum folgenden DUHR (Anm. 78), 118 f. Nuntius Portia an Como, Innsbruck 2. 12. 1573 und 6. 1. 1574. K. SCHELLHASS, Die süddeutsche Nuntiatur des Grafen Bartholomäus von Portia [1. Jahr 1573/74] (Nuntiaturberichte aus Deutschland 1572-1585 Bd. III/3), Berlin 1896, Nr. 47, 263-267 und Nr. 54, 305;

88

SEIBRICH ( A n m . 19), 6 0 . 89

SEIBRICH ( A n m . 19), 6 0 .

,0

Ebd.

"

STAMER ( A n m . 10), 7 1 ; SEIBRICH ( A n m . 19), 6 0 . LA S P D 2, Nr. 3 4 7 . SEIBRICH ( A n m . 19), 6 0 .

92 91

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

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die Reichsstadt Speyer im Jesuitengymnasium eine Konkurrenz zum eigenen humanistischen Gymnasium sah, geht auch aus der Tatsache hervor, daß den Schülern der Jesuiten der Aufenthalt in der Stadt erschwert wurde. So wurde 1586 die Bestimmung erlassen, daß jeder Bürger, der einen Jesuitenzögling in seinem Haus aufnehme, zehn Gulden Strafe zahlen und zehn Tage Gefängnis auf sich nehmen müsse 94 . Damit wurde die Annahme von Schülern erschwert, die Attraktivität des Gymnasiums eingeschränkt. Die Spannungen zwischen dem Rat und den Jesuiten blieben bestehen; 1589 nahm deshalb Kaiser Rudolf die Patres unter seine Obhut 9S . Bereits 1583 hatte der pfälzische Kurfürst Ludwig VI., der Nachfolger Friedrichs III., die Zollbeamten mehrmals aufgefordert, Jesuitisch und ander verschlagenes gesinde aufzuhalten und zu melden, weil der Papst sich bemühe, bei einigen Ständen des Reichs beschwerliche, unleidliche und ungewonliche enderungen vorzunehmen 96 . Zielgruppe für die seelsorgliche Tätigkeit der Jesuiten war besonders das Personal des Reichskammergerichts; es waren dies ein Vorsitzender aus dem Adel, zwei Richter aus dem Grafenstand, 16 Assessoren und 30 bis 40 Advokaten, zusammen mit ihrem Personal ca. 660 Personen 97 . Ein Teil davon wohnte im Franziskanerkloster und sicherte dessen Existenz 98 . Dieser Personenkreis gab durch seine Anwesenheit den Jesuiten das Gefühl der Sicherheit. Sie nahmen an Schulveranstaltungen und an Schauspielen teil, sie waren - außer dem Klerus - die Zuhörer bei den 1577 begonnenen, aber bereits 1578 eingestellten lateinischen Predigten 99 . Über die Kinder versuchte man deren Eltern und Bekannte zu erreichen, deren erstmalige Beichten oder „Konversionen" 1 0 0 man sorgfältig registrierte. Erst 1581 ließ sich eine nennenswerte Anzahl von Schülern in die gegründete Marianische Sodalität aufnehmen 101 . Das pädagogische Niveau des Gymnasiums war sehr hoch und konnte mit dem des Casimirianums in Neustadt/Weinstraße konkurrieren. Die Jesuitenschule suchte stets ihren hohen Standard zu bewahren. Als der Engländer Coryate, ein überzeugter Protestant, die Schule im Jahr 1608 besuchte, verwunderte er sich darüber, als er mit einem Bruder ins Gespräch kam, daß dieser über die innere Geschichte des mittelalterlichen England genau unterrichtet war 102 . Zwei der berühmtesten OrdensmitglieSTAMER ( A n m . 1 0 ) , 7 1 f . 95

LA SP D 2, Nr. 348.

"

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 6 0 , A n m . 2 2 .

" Ebd., 60. 98

"

HEINRICHSPERGER ( A n m . 2 0 ) , 7 5 ; SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 6 0 . SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 6 1 ; D U H R ( A n m . 7 8 ) , 4 5 0 f.

100

Unter dem Begriff „Konversion" kann - nach S E I B R I C H (Anm. 1 9 ) , 6 1 - in dieser Zeit der Empfang der Sakramente durch einen ehemals „katholisch Getauften" verstanden werden.

I0

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 6 1 .

'

102

H . H A R T H A U S E N , Geistes- und Kulturgeschichte Speyers vom 1 6 . bis zum 1 8 . Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. III, hg. von W. E G E R , Stuttgart 1 9 8 9 , 3 4 9 ^ 3 4 , hier 389.

46

Hans Ammerich

der waren in Speyer tätig, wenngleich nur für kurze Zeit. Friedrich Spee von Langenfeld war 1615/16 als Lehrer der Grammatik und Präfekt der Engelbruderschaft am Kolleg tätig und verbrachte hier 1626/27 sein sogenanntes Terziat, die dritte Prüfungszeit zur Vorbereitung auf die letzten Ordensgelübde 103 . Unmittelbar darauf absolvierte 1628 der große Barockgelehrte Athanasius Kircher sein drittes Probejahr in Speyer 104 . An der Schule wirkten 1628 sieben Professoren 105 ; unter ihnen befanden sich ein Professor, der Griechisch unterrichtete und ein zweiter, der für Kasuistik zuständig war. Außer den Professoren gehörten der Rektor, der Regens der Burse, zwei Präfekten, der Domprediger, der Advents- und Fastenprediger, je ein Katechet für Schule und Kirche, vier Präfekten für die vier Sodalitäten und je ein Beichtvater für die Studenten und für den Klerus dem Kolleg an. 1621 - zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges waren noch Jesuitenpatres aus Böhmen zur Gemeinschaft gekommen. In den dreißiger Jahren befand sich auch das Terziat der oberrheinischen Provinz in Speyer, so daß der Konvent in dieser Zeit 20 bis 30 Personen und in den vierziger Jahren 15 bis 17 Personen umfaßte. Während des Dreißigjährigen Krieges ist, abgesehen vom Seuchenjahr 1638, der Unterricht im Jesuitenkolleg zwar weitergeführt worden; er mußte aber sehr stark eingeschränkt werden. Die Zuschüsse seitens des Bischofs und des Domkapitels blieben aus106. Nach dem Krieg wurden die für die Ausbildung der Geistlichen wichtigen Vorlesungen wieder aufgenommen. Infolge der starken Zunahme der Schülerzahl hatte auch die Schule wieder einen großen Aufschwung genommen. Doch der Brand der Stadt Speyer von 1689 zerstörte die aufblühende Niederlassung der Jesuiten.

IV Da die Jesuiten offensichtlich vor allem die gebildete Schicht der Stadt ansprachen, waren besonders Maßnahmen für die breitere katholische Bevölkerung notwendig. Aufgrund einer großen Stiftung des Präbendars am Dom Rudger Eding 107 gründete der Konvent der Franziskanerminoriten 1600 eine Trivialschule 108 . Nach 1600 besserte sich bei dem allgemein in Deutschland wachsenden katholischen Selbstbewußtsein auch die Situation in Speyer. 1608 konnten

,0J

Ebd. Ebd. 10! Z u m f o l g e n d e n STAMER (Anm. 10), 184f; AMMERICH, F o r m e n u n d Wege ( A n m . 48), 308f. 106 A m 17. J a n u a r 1639 klagten die Jesuitenpatres, d a ß sie seit sieben Jahren keine Mittel m e h r erhalten hätten ( G L A KA 61/10961, pag. 464); dazu u n d zum folgenden STAMER ( A n m . 10), 198. "" Z u r Stiftung Edings siehe EUBEL ( A n m . 28), 690 f ; HEINRICHSPEROER (Anm. 20), 76 f. 104

,OI

S E I B R I C H ( A n m . 1 9 ) , 6 2 ; STAMER ( A n m . 1 0 ) , 7 9 f .

D a s kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

47

die Franziskanerminoriten ihr Provinzialkapitel in der Stadt halten 109 . Im gleichen Jahr ließen die Augustinereremiten die Altäre im Langhaus ihrer Kirche neu weihen und setzten somit praktisch das Simultaneum im Kirchenschiff durch; der Chor war den Mönchen 1 1 0 allein vorbehalten. Nachdem 1598 die Jesuiten zusätzlich die Dompropstei inklusive der Christophskapelle, den südlichen Teil ihres späteren Kollegs, erhalten hatten, wurde die Christophskapelle zur Jesuitenkirche umgebaut; ihre Weihe wurde 1602 vorgenommen" 1 . Nun wandten sich auch die Jesuiten der Seelsorge auf dem flachen Land zu. 1604 durchzogen einige von ihnen, begleitet von weltlichen Beamten, Teile der Diözesen Speyer, Worms und Mainz, predigten dort, hielten Gottesdienste und katechizierten bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Zahl der Konversionen stieg auf 269 im Jahr 112 . Auf Initiative eines Beamten, der in Speyer an Exerzitien teilgenommen hatte, kamen 1604 in Landau 60 nobiliores zusammen 1 1 3 . Gegen Besucher von Jesuitenveranstaltungen reagierten protestantische Pfarrer und Gemeinden mit Gegenpredigten oder Kirchenzuchtmaßnahmen. Bewußt setzte man seitens der Jesuiten der sinnenarmen kalvinistischen Frömmigkeit sinnenfrohe Elemente entgegen: das bekannte Jesuitenspiel, eucharistische Umzüge, die Errichtung von Weihnachtskrippen oder „öffentliches Singen" deutscher Kirchenlieder 114 . Zuweilen wurde derb kontrovers gepredigt und dabei nicht mit Verurteilungen der Häresie gespart. Wichtiger aber war, durch eine Hebung des katholischen Glaubensniveaus den anderen Konfessionen entgegenzuwirken. Dazu waren vor allem die Orden mit ihrer guten Ausbildung imstande. Noch glaubte man, die Reformation mit religiösen Mitteln überwinden zu können. Bereits Bischof Eberhard von Dienheim hatte dem Domkapitel 1602 vorgeschlagen, Kapuziner in die Diözese zu berufen 1 1 5 . Dem Domkapitel gab man seitens der Ordensleitung zu verstehen, d a ß sie niemandts für dißmahl hetten' Erst Philipp Christoph von Sötern konnte 1614 zwei Kapuziner aus der kölnisch-rheinischen Ordensprovinz für die Seelsorge in Waghäusel gewinnen 117 . Zu Gründungen des Kapuzinerordens kam es 109

Ebd.

1,0

ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK ( A n m . 15), 32.

" ' B. DUHR, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. II. Bd., 1. Hälfte, Freiburg i. Br. 1913, 169; S E I B R I C H (Anm. 19), 62, Anm. 33. 112

1,3

SEIBRICH ( A n m . 1 9 ) , 6 2 .

Ebd. " Ebd. s " Zum Wirken der Kapuziner in der Pfalz im 17. Jahrhundert siehe S T A M E R (Anm. 10), 179183, sowie im rechtsrheinischen Teil der Diözese Speyer G. MANZ, Die Kapuziner im rechtsrheinischen Gebiet des Bistums Speyer im 17. und 18. Jahrhundert, Diss, theol. (masch.), Freiburg 1979 und K. ANDERMANN, Jesuiten- und Kapuzinerniederlassungen bis 1714, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Beiwort zur Karte VIII,7, Stuttgart 1979, 16 (Karte), 22-27. "« GLA KA 61/10951, pag. 435. 117 Dazu und zum folgenden R E M L I N G (Anm. 4 2 ) , 170f; P. A. E H R E N F R I E D , Waghäusel. Die Wallfahrt und die Kapuziner, Ulm 1966. 4

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Hans Ammerich

1622 in Neustadt und ein Jahr später in Speyer 118 . Die Gründung in Neustadt wurde am Ende des Dreißigjährigen Krieges zunächst aufgelöst; 1686 kamen die Patres wieder dorthin zurück. Bemühungen in den Jahren 1653 und 1655, ein Kloster in Deidesheim zu gründen, schlugen fehl. Die bedeutendste Gründung war in Speyer; dort errichteten die Kapuziner mit Hilfe des Kaisers Ferdinand II. und des Erzherzogs Leopold von Österreich in der Vorstadt bei der St. Ägidienkirche in der Zeit von 1625 bis 1628 eine Kirche mit anschließendem Klostertrakt 119 . Die Kapuzinerpatres des Speyerer Konvents entfalteten eine erfolgreiche Tätigkeit. Sie waren als Prediger überall dort tätig, wo sie benötigt wurden: An Sonn- und Feiertagen halfen sie in verschiedenen Orten in der Diözese aus; ein Pater war zudem Sonntagsprediger im Dom, ein anderer verkündete hier an Festtagen das Wort Gottes. Wo keine Ordensniederlassungen gegründet wurden, wirkten die Kapuziner durch die Wanderpredigt, so in Landau, Deidesheim, Hambach, Kirrweiler und Roschbach 120 . Besonders in den protestantischen Gebieten betreuten sie die Katholiken; Krankenpflege gehörte wie Missionstätigkeit und Wanderpredigt zu ihren wichtigsten Aufgaben. Daß die Hilfe des Ordens auch noch an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert dringend notwendig war, wird durch die Bitte des Statthalters Heinrich Hartards von Rollingen an den Provinzial der Kapuziner in Aschaffenburg deutlich: Der Provinzial möge einige Patres in die Diözese schicken, da nur wenige Seelsorger ihr Amt ausüben könnten; ein Großteil der Bevölkerung und viele Geistliche seien erkrankt 121 . Wie bei den Jesuiten wurde auch bei den Kapuzinern große Sorgfalt auf die Vorbereitung der Predigt verwendet 122 . Die künftigen Prediger absolvierten ein sechs- bis siebenjähriges Studium, ehe sie das Wort Gottes von der Kanzel verkünden durften. Seit 1639 hielten die Kapuziner im Speyerer Dom an Sonn- und Feiertagen vormittags die Pfarrpredigt. Bedeutende Prediger auf der Domkanzel waren die Kapuzinerpatres Elias Faber (gestorben 1674), Gerhard Schmitt (1674-1676), Richard (1683-1685) und Gabriel Dünstadt (1686-1689). Seit den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts predigten morgens die Kapuziner und nachmittags die Jesuiten im Dom. Als Beichtväter der Fürstbischöfe genossen die Kapuzinerpatres besonderes Vertrauen. Der Beichtvater von Philipp Christoph von Sötern, " ! A. T h . JACOBS, Die Rheinischen K a p u z i n e r 1611-1725. Ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen R e f o r m , M ü n s t e r 1933, 100-102. LA S P D 2, Nr. 754, fol. 368-370'; J. BAUMANN, Geschichte der St. Ägidienkirche u n d des K a p u z i n e r k o n v e n t s in d e r freien Reichsstadt Speier, Speier 1918, 2 8 - 3 4 ; STAMER ( A n m . 10), 180f; F. ARENS, Pläne des Kapuzinerklosters u n d der St. Peterskirche zu Speyer, i n : Mitteil u n g e n des Historischen Vereins d e r Pfalz 67 (1969), 2 7 4 - 2 8 9 ; W. HÜMMERICH, A n f ä n g e des kapuzinischen Klosterbaues. Untersuchungen zur K a p u z i n e r a r c h i t e k t u r in den rheinischen O r d e n s p r o v i n z e n (Quellen und A b h a n d l u n g e n zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 58), Mainz 1987, 451^157. 120

STAMER ( A n m . 10),

111

L. STAMER, Kirchengeschichte d e r Pfalz, III. Teil, 2. H ä l f t e : Von d e r R e f o r m zur A u f k l ä rung. Ende d e r mittelalterlichen Diözesen (1685-1801), Speyer 1959, 73.

122

Zum

182.

f o l g e n d e n STAMER ( A n m . 1 0 ) ,

181.

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

49

Pater Anton Maria Schyrl aus Reutte in Tirol, gab diesem den Rat, die päpstliche Protestbulle gegen den Westfälischen Frieden bekanntzugeben. Auch Lothar Friedrich von Metternich, Johann Hugo von Orsbeck und Damian Hugo von Schönborn hatten Kapuzinerpatres als Beichtväter, die allerdings keinen besonderen Einfluß auf die Politik der Fürstbischöfe ausübten. Obwohl sich Fürstbischof Philipp Christoph von Sötern in den westfälischen Friedensverhandlungen die Erlaubnis zur prozessualen Auseinandersetzung mit dem Herzog von Württemberg und dem Pfälzer Kurfürsten gesichert hatte, holte sich Kurfürst Karl Ludwig nach dem Neujahrstag 1650 alle Klöster zurück. Am 3. Januar 1650 wurde das Speyerer Kloster trotz der Intervention Söterns - vom pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, der es als Annex des Klosters Hördt ansah und das Stichjahr 1618 geltend machte, den Kapuzinern weggenommen 123 . Das Domkapitel brachte die Kapuziner in einem der Sakramentsbruderschaft gehörenden Hof an der im Mittelalter „Ertbrust", im 17. Jahrhundert wohl bereits Armbruststraße genannten Straße unter; von dort aus benutzten sie die Afrakapelle, bis ihnen die Kanoniker des Allerheiligenstiftes 1654 Aufnahme gewährten. Als Klosterkirche diente nun die St. Peterskirche 124 . 1688 konnten sie in ihr Kloster zurückkehren, das der evangelische Pfarrer, dem es als Wohnung zugewiesen worden war, wegen des Einfalls der Franzosen verlassen hatte. Vom Stadtbrand 1689 blieb die Klosteranlage mit der St. Ägidienkirche verschont. Am 29. April 1709 baten die Speyerer Kapuzinerpatres den Kurfürsten von der Pfalz, Johann Wilhelm, um die Bestätigung ihrer Güter; er sei ja der Patronatsherr des Klosters Hördt und habe deshalb das Patronatsrecht an der St. Ägidienkirche inne, auf deren Grund und Boden sie teilweise ihre Gebäude errichtet hätten 125 .

V Während der Endphase des Dreißigjährigen Krieges hatte außerhalb von Speyer das Ordensleben wieder ein Ende gefunden, in der Stadt setzten wieder die gewohnten Streitigkeiten um das Simultaneum in den Klosterkirchen ein. Schon am 22. Februar 1641 hatte sich die protestantische Bevölkerung wieder die Mitbenutzung des Schiffs der Augustinerkirche gesichert 126 , bei der Dominikanerkirche scheiterte dieses Unterfangen zunächst 121 . Kaiserliche Schutzbriefe, wie der vom 26. Juli 1658 für die Kar123

D a z u u n d z u m f o l g e n d e n STAMER ( A n m . 1 0 ) , 1 8 0 ; BAUMANN ( A n m . 1 1 9 ) , 3 8 , 4 7 - 5 1 ; A R E N S

(Anm. 1 1 9 ) , 2 8 4 . 124

STAMER ( A n m . 1 0 ) ,

1 8 0 ; BAUMANN ( A n m . 1 1 9 ) , 4 7 f ; A R E N S ( A n m . 1 1 9 ) , 2 8 4 ;

( A n m . 11), l l O f . LA SP D 2 5 , Nr. 2 4 7 . I2

* ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK ( A n m . 15), 3 2 f .

,2

'

STAMER ( A n m . 10), 2 1 4 .

DOLL/STEIN

50

Hans Ammerich

meliter 128 , sicherten wenigstens das Überleben der Orden. Mit mehr als 10 Novizen pro Jahr ab 1643 war die rheinische Karmeliterprovinz auch in der Lage, für das personelle Anwachsen des bis auf 3 Patres reduzierten Konventes in Speyer zu sorgen; erst in den Jahren nach 1658 war die vollständige Wiederherstellung des Klosters möglich 129 . Der Augustinerkonvent hatte sich in den sechziger Jahren personell erholt; trotz der oft beklagten Bedürftigkeit wurde er 1681 von den 19 verbliebenen Konventen der Provinz an zehnter Stelle eingestuft 130 . Während die Dominikaner in der Stadt blieben, waren die Franziskaner geflüchtet 131 . Nach der 1648 erfolgten Rückkehr mußten sie sich in einen langwierigen Streit mit der Stadt um das Öffnen von drei Pforten des Allmendganges über ihren Friedhof einlassen. Scheint die klösterliche Disziplin auch nicht vorbildlich gewesen zu sein, so fand doch ihre neue Sebastiansbruderschaft großes Interesse, ebenso wie die musikalische Gestaltung der Gottesdienste, die alle Musici zu den Franziskanern laufen ließ. Die relativ geringe Zahl von katholischen Laien zwang zu immer neuen Aktivitäten. Die Speyerer Karmeliter gründeten eine Skapulierbruderschaft 132 . Die Jesuiten, welche die 1605 entstandene Kongregation für den Klerus und für gebildete Laien sowie die 1616 gegründete deutsche Bürgerkongregation weiterführten, öffneten 1650 letztere unter diesem Konkurrenzdruck für junge Handwerker 133 und errichteten 1655 - ohne zuvor das Einverständnis des Bischofs und des Domkapitels einzuholen - eine eigene Todesangst-Christi-Bruderschaft 134 . Die Kapuziner betreuten seit 1651 die vom Domkapitel ins Leben gerufene Sakramentsbruderschaft 135 ; sie war zu Beginn des 17. Jahrhunderts vom Domdekan Adolf Wolf von Metternich mit Unterstützung des bayerischen Herzogs Maximilian mit erheblichen Einkünften ausgestattet worden; jeden Donnerstag konnte künftig in der Afrakapelle ein feierliches Amt mit Predigt gehalten werden 136 . In dieser Zeit der Not und Bedrängnis kam die Verehrung der „Todesangst Christi" auf. Es wurde eine Bruderschaft errichtet, die in dem Assessor des Reichskammergerichts Bretzinger einen Stifter hatte; dessen Erben gaben 500 Gulden als Legat mit der Bestimmung, daß jeden Donnerstagabend nach dem Salve, während man fünf Vaterunser betete, mit einer der großen Glocken zum Gedächtnis der Todesangst Christi geläutet würde 137 . 128

,2

MESTERS ( A n m . 3 2 ) ,

61.

' Ebd., 24 f.

130

ENGELS/ENGELS/HOPSTOCK

131

Zum

132

A. Ph. BRÜCK, AUS den A n f ä n g e n der S k a p u l i e r b r u d e r s c h a f t am Mittelrhein, in: A m r h K G 1 (1949), 317-325, hier 320 f.

( A n m . 15), 3 4 .

f o l g e n d e n HEINRICHSPERGER ( A n m . 2 0 ) ,

133

STAMER ( A n m . 10), 1 3 0 ; D U H R 11,1 ( A n m .

134

STAMER ( A n m . 10),

,3S

Ebd., 130, 180. Ebd., 205. ' Ebd.

136 I3

186.

78-80.

111),

171.

Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer

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Beliebt war es, den Bruderschaften die Bezeichnung eines bisher wenig beachteten Heilsgeheimnisses oder eines neuen Heiligen zu geben 138 . Zahlreiche Bruderschaften entstanden zur Ehre der Gottesmutter; sie waren vor allem die Folge der von den Jesuiten begründeten marianischen Kongregationen. Die Speyerer Bischöfe standen im allgemeinen den Bruderschaftsgründungen wohlwollend gegenüber 1 3 9 ; sie erinnerten aber auf ihren Synoden immer wieder daran, d a ß j e d e N e u g r ü n d u n g einer Bruderschaft die oberhirtliche A p p r o b a t i o n voraussetzen müsse. Mit der Aktivität u n d der Bereitschaft zur inneren Erneuerung der Seelsorger hingen Erfolg oder Mißerfolg der katholischen Reform im Kirchenvolk eng zusammen. N a h m e n verantwortungsvolle Geistliche Predigt, Katechese u n d die Verwaltung der Sakramente ernst, so entsprach das religiöse Leben der Gläubigen durchweg den Geboten der Kirche. Vernachlässigten aber Priester ihre Pflichten oder erregten durch ihr Verhalten Ärgernis, so waren Stillstand und Rückschritt die Folge. Mittelp u n k t des religiös-kirchlichen Lebens ist die Feier der hl. Messe - eine Tatsache, der m a n sich zweifelsohne auch im 17. J a h r h u n d e r t bewußt war. Dabei lag das Hauptgewicht aber auf der Predigt, nicht auf dem eigentlichen Meßopfer' 4 0 . Charakteristisch f ü r diese G r u n d h a l t u n g ist das Verhalten des Vikars Butz vom St. Guidostift zu Speyer. Er wird getadelt, weil er die Messe zu rasch gelesen u n d die Predigt zu lang ausgedehnt hatte 141 . Es wird aber auch deutlich, d a ß die Verehrung der Eucharistie z u n a h m ; in der Barockzeit schließlich wurde die Aussetzung des Allerheiligsten während der Messe, während des ganzen Tages (zwölfstündiges Gebet) oder während vierzig Stunden Brauch. Auch die äußere Gestaltung der Messe n a h m zusehends barocke Züge an. Erste Ansätze sind bereits unter Eberhard von Dienheim festzustellen: das Kapitelsamt im Dom wurde mit Musik feierlich umrahmt 1 4 2 . Eine neue Art des Gottesdienstes wurde nun entwickelt - die Andacht. Ihre Wurzeln gehen allerdings weit ins Mittelalter zurück: die A n f ä n g e stellen das Salve-Singen - so nach der Marianischen Antiphon „Salve Regina, mater misericordiae" genannt - dar. Schließlich verselbständigte sich das Salve-Singen, so d a ß daraus eine Salve-Andacht wurde u n d mit ihr eine der hauptsächlichsten Wurzeln f ü r die Volksandacht. Seit Beginn 118

119

141 I4Î

1749 w a r in der Residenzstadt Bruchsal eine Bruderschaft unter dem Titel der Unbefleckten E m p f ä n g n i s Mariens, des hl. J o h a n n N e p o m u k u n d des hl. Karl B o r r o m ä u s ins Leben ger u f e n w o r d e n ; sie war f ü r den Seelsorgeklerus errichtet w o r d e n u n d erfaßte zwei J a h r e später den gesamten Diözesanklerus ( G L A K A 78/1055). Die A r m e n s e e l e n b r u d e r s c h a f t in N e u s t a d t - sie w a r 1716 von den Jesuiten gegründet w o r d e n - betete f ü r die a r m e n Seelen im Fegfeuer. Vgl. dazu STAMER (Anm. 121), 101. Eine a n d e r e A u f f a s s u n g über das Bruderschaftswesen hatte Kardinal von S c h ö n b o r n . In seinem R o m b e r i c h t vom J a h r 1730 erklärte er, d a ß es n u r bei den Jesuiten u n d Religiösen noch Bruderschaften gäbe u n d in m a n c h e n Pfarreien, was ihm nicht gefiele. Er wünsche n u r eine D i ö z e s a n b r u d e r s c h a f t ( G L A KA 78/1053). Vgl. dazu u n d zum f o l g e n d e n STAMER ( A n m . 10), 202. G L A K A 61/11100, p a g . 489. G L A K A 61/10947, fol. 46; vgl. dazu STAMER ( A n m . 10), 128.

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Hans Ammerich

des 17. Jahrhunderts wurden die Nachmittags- und Abendandachten durch die Aussetzung des Allerheiligsten gestaltet 143 . Die Heiligen- und Muttergotteslitanei kam nun auf. Das Rosenkranzgebet erfreute sich schon bald besonderer Beliebtheit 144 . Allgemeine Betstunden wurden insbesondere in den Jahren der Not abgehalten; zumeist dauerte das Gebet zehn, dreißig oder auch vierzig Stunden 145 . Das Domkapitel rief zum Gebet auf, und zwar sollte an vier Tagen jeweils zehn Stunden gebetet werden. Der Tag begann morgens um 7 Uhr mit einer Prozession ; anschließend hielt der Dompfarrer eine Predigt, darauf folgte ein Amt. Das Gebet wurde am Abend mit dem Salve geschlossen. Dabei wurde während der Schlußandacht musiziert. Auch das vom Kurfürsten von Sötern aus Anlaß des Friedensschlusses in Münster (1649) befohlene Tedeum am ersten Adventssonntag verlief in ähnlicher Form; an die Predigt um 8 Uhr Schloß sich ein „musikalisches Amt" des ganzen Klerus und der Ordensleute der Stadt an. Das Konzil von Trient hatte den Sinn der Heiligenverehrung hervorgehoben. Nun führten die Jesuiten den Heiligenkult im Sinne des Tridentinums auch im Bistum Speyer zu neuer Blüte: Sie förderten den Kult des hl. Karl Borromäus und der großen Jesuitenheiligen Ignatius von Loyola und Franz Xaver. Auch der hl. Joseph gehörte zu den Heiligen, die sich besonderer Beliebtheit erfreuten; vor allem die Karmeliter verbreiteten im Diözesangebiet die Josephsverehrung 146 . Die Marienverehrung lebte nun verstärkt auf. Es fanden wieder Wallfahrten zu alten Gnadenstätten statt, die in der Barockzeit eine Blüte erlebten 147 .

VI Der Stadtbrand am Pfingstdienstag des Jahres 1689148 brachte den Untergang der Kirchen und Klöster. Bereits 1687 waren die verlassenen Pfarrkirchen St. Johann, St. Jakob und St. Bartholomäus nur noch Ruinen; 1688 wurden die Fenster der Bartholomäus- und Jakobskirche teilweise zugemauert 149 . Mit dem Brand von 1689 war auch vorübergehend das Ende der Seelsorge in der menschenleeren Stadt gekommen. So stellt sich ,43

STAMER ( A n m . 1 0 ) ,

144

Ebd., 131. Dazu und zum f o l g e n d e n STAMER ( A n m . 10), 204f. A. Ph. BRÜCK, D e r heilige Josef, S c h u t z p a t r o n d e r Deutschen Katholiken (1675) u n d d e r

145 146

128f.

k u r p f ä l z i s c h e n L a n d e (1753), i n : A m r h K G 7 ( 1 9 5 5 ) , 1 5 9 - 1 6 8 , b e s . 163, 165.

"" H. AMMERICH, M a r i a Patrona Spirensis. Z u r M a r i e n v e r e h r u n g im Bistum Speyer, i n : Bistumspatrone in Deutschland. Festschrift für J a k o b Torsy zum 9. J u n i / 2 8 . Juli 1983, hg. im A u f t r a g der B u n d e s k o n f e r e n z der kirchlichen Archive in Deutschland von A. LEIDL, M ü n c h e n - Z ü r i c h 1984, 3 2 ^ t l . 148 Die umfassendste Darstellung bei K. von RAUMER, Die Zerstörung d e r Pfalz von 1689 im Z u s a m m e n h a n g d e r französischen Rheinpolitik, München-Berlin 1930. 145

STAMER ( A n m . 1 0 ) ,

192.

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letztlich die Frage nach dem Erfolg der Reformmaßnahmen nach den Bestimmungen des Tridentinums, die vom Domkapitel in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts gegen den Widerstand des Bischofs Marquard von Hattstein eingeleitet wurden. Dessen Nachfolger, Bischof Eberhard von Dienheim, nahm entschieden die kirchliche Reform der Diözese in Angriff. Nach der Visitation des Archidiakonatsbezirks des Dompropstes in den Jahren 1583 bis 1588 war allzu deutlich geworden, daß das religiössittliche Leben des Klerus, seine gottesdienstlichen Handlungen sowie das religiöse Verhalten der Laien in keiner Weise den Normen des Konzils entsprachen. Eine Reihe von Verordnungen zu Gottesdienst, Sakramentenspendung und Lebensführung der Geistlichen wurde erlassen. Der Klerikernachwuchs sollte durch die Errichtung eines Priesterseminars gesichert werden, doch brachten verschiedene Bemühungen, eine adäquate Ausbildungsstätte für die künftigen Geistlichen zu schaffen, nicht das gewünschte Ergebnis. Die Gründung eines Gymnasiums durch die Jesuiten in Speyer und deren Wirken in der Stadt und in der Diözese waren jedoch erfolgreich. Die besonderen Zeitumstände - die Reunionskriege 150 , der Dom- und Stadtbrand von Speyer 1689, die Plünderung durch französische Truppen, der dreizehn Jahre dauernde Spanische Erbfolgekrieg sowie die Annexion der südlich der Queich gelegenen Gebiete des Hochstifts durch Frankreich 151 - ließen kaum Gelegenheit, in der Diözese Speyer im Sinne der Beschlüsse des Trienter Konzils zu wirken. Doch galt die Sorge der Bistumsleitung vor allem dem Verhalten des Klerus 152 ; immer wieder wurden die Bestimmungen des Konzils von Trient, insbesondere die Verordnungen zum äußeren Erscheinungsbild, zu Gottesdienst, Predigt und zum Eheedikt eingeschärft. Orsbecks Sendbriefe sollten die Laster der Zeit bekämpfen und die Moral von Geistlichen und Laien stärken. Auf Veranlassung von Bischof Johann Hugo von Orsbeck visitierten 1683 die Jesuitenpatres Wilhelm Osburg und Martin Metz 150 Pfarreien 153 sowie 1701 Georg Klein und Urban Kobert, ebenfalls Jesuiten, 208 Pfarreien und 146 Kuratien 154 . Die Visitationsberichte lassen deutlich werden, daß trotz der Rückschläge während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges die Grund,i0

R. PILLORGET, Jean-Hugues d'Orsbeck, électeur de Trêves et la politique des réunions ( 1 6 7 8 - 1 6 8 8 ) , i n : R e v u e d ' h i s t o i r e d i p l o m a t i q u e 7 9 ( 1 9 6 5 ) , 3 1 5 - 3 3 7 ; SCHORN ( A n m . 6 3 ) , 3 2 34.

SCHORN (Anm. 63), 50; zur Situation der Diözese Speyer siehe H. TÜCHLE, Die Bistümer Worms und Speyer in den Nuntiaturberichten an die Propagandakongregation von 1697, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 40 (1973), 78-85. 152

V g l . z u m f o l g e n d e n REMLING ( A n m . 4 2 ) , 5 6 3 - 5 6 5 u n d SCHORN ( A n m . 6 3 ) , 8 0 f .

GLA KA 61/11263-11265; 78/1008. Von dieser Visitation ist nur der Bericht aus dem Amt Marientraut erhalten geblieben. GLA KA 61/11266, 11267.- Zum Klerus nach den Visitationen von 1683 und 1701: AMMERICH, Formen und Wege (Anm. 48), 309-313; DERS., Der Speyerer Klerus nach den Visitationen von 1683 und 1701, Aspekte zur Klerusreform in der Zeit von Johann Hugo von Orsbeck (1675-1711), in: Corona Amicorum. Alois Thomas zur Vollendung des 90. Lebensjahres von Kollegen, Freunden und Schülern dargeboten, Trier 1986, 5-14.

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lagen geschaffen worden waren für einen tüchtigen Klerus, der die Laien unterweisen und zur Hebung ihres sittlichen und religiösen Lebens beitragen konnte. Die Reformmaßnahmen hätten allerdings mit den diözesaneigenen Kräften nicht durchgeführt werden können: Deutlich hat sich der Einfluß der Jesuiten und Kapuziner ausgewirkt. Sie waren die treibenden Kräfte der Erneuerung und bemühten sich ebenso wie der Pfarrklerus, die Frömmigkeitshaltung und die religiöse Begeisterung unter den Gläubigen wieder zu wecken. Mit dem Mittel der Volksmission konnte in der Seelsorge ein neuer Akzent gesetzt werden. Daß dem kirchlichen Leben in Speyer, aber auch in der Diözese Impulse gegeben worden waren, zeigen die Zunahme der Wallfahrten und die Gründung vieler Bruderschaften. Auf dieser Basis konnten die Bischöfe Heinrich Hartard von Rollingen (1711-1719) und Damian Hugo von Schönborn (1719-1743) das im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts begonnene Reformwerk entscheidend fördern.

Walter Ziegler Maximilian I. von Bayern und der Kampf um Böhmen 1620 Ihr Kays. Mtt. Kriegsvolck, so heißt es in einem Schreiben aus Prag vom 10. November 1620, haben vergangenen Sontag ein große Victoria wider die Beheimben erhalten und es so weit kommen, daß sich gestern die Kleine Stadt Prag Ihr Durchl. dem Herzogen in Bayern als Kayserl. Commissario mit Überantworttung der Schlüßel auf Gnad und Ungnad ergeben, darauf dieselbe auch zu Gnaden angenommen. Die Alt und Newstatt, so es noch mit den Ständen hält, tractiren jetzo in dergleichen auch stark, daß ich hoffe, sie werden sich auch bald ergeben ... Der Herzog in Bayern soll in die 27 Fahnen erobert haben ; ist fürwahr ein gewaltige Victoria, so allen Ihr Kay. Mtt. Feinden ein grossen Schrecken bringen wirdt1. Dieser Bericht, der an einen kursächsischen Rat ging, erinnert nicht nur an die berühmte Schlacht am Weißen Berg vom 8. November 1620, eine säkulare Entscheidung der neueren Geschichte in Mitteleuropa, er ruft auch eine Tatsache ins Gedächtnis, die selbst unter Historikern oft kaum bedacht wird: Daß nämlich diese Schlacht nicht zuerst von kaiserlichen, sondern maßgeblich von Truppen der von Bayern geführten Liga geschlagen wurde, und daß als Sieger in Prag der bayerische Herzog einritt, nicht der König und Kaiser Ferdinand II. aus Wien. Der Herzog handelte freilich in kaiserlichem Auftrag und wirkte mit dem vom Grafen Bucquoy geführten kaiserlichen Heer zusammen, doch ändert dies nichts daran, daß der bayerische Landesfürst für kurze Zeit im Zentrum jener weltgeschichtlichen Vorgänge stand. Auch für Maximilian war dies nichts Gewöhnliches, schon deshalb, weil er nur selten in der langen Zeit seiner Regierung persönlich als Feldherr und Eroberer auftrat, außerhalb Bayerns und der Oberpfalz eigentlich nur bei diesem österreichisch-böhmischen Feldzug nach Linz und Prag. Und schließlich ist es nicht ohne Reiz zu sehen, daß das kurzlebige wittelsbachische Königtum Friedrichs V. von der Pfalz, der am 9. November aus Prag fliehen mußte, von einem anderen Wittelsbacher, dem Herzog in München, beendet wurde, hier also bereits der große „Hausstreit" der beiden wittelsbachischen Linien, der 30 Jahre lang Deutschland in Atem hielt, begann. So scheint es sinnvoll, den bayerischen Beitrag bei der Niederwerfung der böhmischen Rebellion einmal 1

Die Berichte über die Schlacht auf dem weißen Berge bei Prag, hg. von A. GINDELY, in : Archiv für österreichische Geschichte 56 (1878), 1-179, hier 15f.

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näher zu betrachten. Dies soll mit Hilfe von drei Fragen geschehen, die an die Ereignisse gestellt werden, nämlich warum und wie überhaupt Bayern in den böhmischen Aufstand verwickelt wurde, welche Ziele Maximilian bei seinem Eingreifen verfocht, schließlich welche Bedeutung dieses Eingreifen hatte, wie schwer also Maximilians Handeln für den Sieg der kaiserlichen Seite wog. Quellen und Darstellungen liegen für diese Zeit an sich sehr reichlich vor, ohne daß freilich das letzte Wort gesprochen scheint, vor allem weil die einschlägige Aktenedition qualitativ zu wünschen übrigläßt 2 , und weil immer noch die große Darstellung zum Leben Kaiser Ferdinands II. fehlt3. Doch entschädigt dafür der reiche, weithin erhaltene Briefwechsel des Kaisers mit dem bayerischen Herzog, der in den Archiven in München und Wien aufbewahrt wird.

I. Es war keineswegs selbstverständlich oder auch nur naheliegend, daß Bayern in die böhmischen Händel verwickelt werden mußte, vielmehr war dies eigentlich ganz unwahrscheinlich. Zwar war der Herzog, der seit 1598 in Bayern regierte und jetzt 45 Jahre alt war, als kraftvoller Fürst und prinzipientreuer Katholik bekannt, und seine Entschlossenheit auf dem Feld der Religionspolitik hatte er durch die Achtsexekution gegen die Reichsstadt Donauwörth 1607 und die Gründung der katholischen Liga 1609 im Reich deutlich gemacht 4 ; in der äußeren Politik aber, soweit sie nicht wie Donauwörth oder Salzburg im Umkreis unmittelbaren bayerischen Interesses lag, hatte sich der Herzog äußerst vorsichtig gezeigt. Das war etwa in den Auseinandersetzungen um Jülich-Kleve deutlich geworden, bei denen Maximilian als Haupt der Liga diese damals zwar bewaffnen ließ, aber dem Drängen des Kaisers und Spaniens auf ein Eingreifen gegen die Protestanten zum Teil ganz widersprach, zum Teil die Entscheidung immer wieder hinausschob, bis 1610 mit der Union ein Vergleich geschlossen war; das gleiche Bild zeigte sich an der Abneigung des Herzogs, 2

Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, N F 1,1 (1618-1620), aufgrund des Nachlasses von K . M A Y R - D E I S I N G E R bearb. und ergänzt von G. F R A N Z , München-Wien 1966. ' Bezüglich der Literatur ist vor allem zu verweisen auf A. GINDELY, Geschichte des dreißigjährigen Krieges, 3 Bde., Prag 1882-1884, Bd. 1: Der böhmische Aufstand und seine Bestrafung 1618 bis 1621, Prag 1882; H. S T U R M B E R G E R , Aufstand in Böhmen, München 1959; Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hg. von K. BOSL, II, Stuttgart 1974, 267ff (K. Richter); J. FRANZL, Ferdinand II. Kaiser im Zwiespalt der Zeit, Graz-Wien-Köln 1978; Handbuch der bayerischen Geschichte, hg. von M. SPINDLER, II, München 21988, 406ff (D. Albrecht); D. A L B R E C H T , Maximilian I., in: NDB 16 (1990), 477-80; A. K R A U S , Maximilian I. Bayerns großer Kurfürst, Graz-Wien-Köln-Regensburg 1990. 4 Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, hg. von der Kommission für bayerische Landesgeschichte, 1/3,2, München 1992, Nr. 160ff und 168; F . N E U E R LANDFRIED, Die katholische Liga. Gründung, Neugründung und Organisation eines Sonderbundes 1608-1620, Kallmünz 1968.

Maximilian I. von Bayern

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sich in die bis 1612 dauernden Zwistigkeiten des Hauses Habsburg hineinziehen zu lassen 5 . Eben dies, die Abneigung des Herzogs gegenüber der Politik und dem Verhalten der Habsburger im Nachbarland Österreich und im Reich war ein zweiter Grund, der ein Eingreifen in Böhmen keineswegs erwarten ließ. Die Abneigung gegenüber der Politik des Hauses Österreich (nicht gegen dessen einzelne Angehörige) nährte sich sowohl aus dem traditionellen Konkurrenzverhältnis beider Territorien seit dem 15. Jahrhundert, als der Aufstieg der casa d'Austria Bayern zur zweit- und drittklassigen Macht degradiert hatte, wie aus aktuellen politischen Vorgängen; hier stellten für Bayerns Herzog dauernde Negativbilder dar: der Hausstreit der Habsburger seit 1608; die Regierungsunfähigkeit des alten Kaisers Rudolf in Prag; nach dessen Tod 1612 die Nachgiebigkeit des neuen Kaisers Matthias gegenüber den Protestanten; die Versuche von Bischof Klesl, des Leiters der kaiserlichen Politik in Wien, den Habsburgern in der von Bayern geführten Liga ein eigenes Direktorium zu verschaffen, was zum vorläufigen Ende dieses Bundes 1616 führte; schließlich die Gesamtheit der Kompositionspolitik im Reich, die der in München sowieso unbeliebte Matthias und der als zutiefst verschlagen geltende Klesl betrieben. Dazu kamen aktuelle Vorwürfe gegen die österreichische Politik, etwa in bezug auf das Bistum Passau, wo ein Habsburger einen wittelsbachischen Kandidaten verdrängt hatte (1598)6, oder in bezug auf die Reichsherrschaft Mindelheim, deren Erwerb durch Bayern sich die Habsburger anfangs widersetzt und sie damit erheblich verteuert hatten 7 . Es war bei diesem gespannten Verhältnis zwischen München und Wien nicht erstaunlich, daß für die protestantische Opposition im Reich der bayerische Herzog mehrfach als Kandidat für die Kaiserkrone genannt wurde, zuletzt 1617/18, als der Plan von seiten der Pfalz für den Fall des Todes von Kaiser Matthias an Maximilian herangetragen wurde, ja Kurfürst Friedrich V. persönlich nach München kam, um ihn dem Herzog schmackhaft zu machen - freilich war der Herzog nüchtern und erfahren genug, sich von solchen Lockrufen nicht einfangen zu lassen 8 . Hier in der Kaiserfrage liegt dann auch, trotz der aktuellen Spannungen zwischen Bayern und Österreich, ein erster Zugang zur Zusammenarbeit zwischen beiden, die natürlich auch ihre Tradition hatte. Bei allem Ärger über die Tagespolitik in Prag und Wien war nämlich in Bayern die Ehrfurcht vor dem Kaisertum sehr groß, die auf vielen Gebieten bestehende Gemeinsamkeit der beiden katholischen Dynastien durchaus lebendig. So hatte denn auch der bayerische Herzog dem Erzherzog Ferdinand von Graz, 5 6 7

8

Vgl. S. RIEZLER, Geschichte Baieras, V, G o t h a 1903, 78-83 u n d 63. Vgl. D o k u m e n t e ( A n m . 4), N r . 132; RIEZLER ( A n m . 5) IV, G o t h a 1899, 663 f. Vgl. Briefe u n d Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges 12. Die Reichspolitik Maximilians des Ersten von Bayern 1613-1618, hg. von H. ALTMANN, M ü n c h e n 1978 (Stichwort Mindelheim). Ebd. 480 ff.

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Walter Ziegler

seinem Vetter und mutmaßlichen Erben der Wiener Linie, bereits eindeutig zugesagt, daß er sich nicht um die Reichskrone bewerben werde'. Dies hatte freilich auch politische Gründe, doch stellte die Person des jungen Vetters, der zusammen mit Maximilian einst in Ingolstadt studiert hatte, ein strenger Katholik war, in seinem Land den Protestantismus ausgerottet hatte und den Hoffnungsträger aller Katholiken im Reich darstellte, seit 1617 auch die böhmische Königskrone trug, zweifellos einen hellen Punkt im düsteren Bild des Hauses Habsburg für Bayern dar, obwohl auch gegen Ferdinand Eifersucht und Mißtrauen nicht fehlten 10 . Solange Kaiser Matthias regierte - er starb am 20. März 1619 - blieb jedoch das Verhältnis Maximilians zu Österreich sehr kühl. So verwundert es nicht, daß, als nach dem Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618 sowohl die revolutionäre böhmische Direktorialregierung wie Kaiser Matthias, in dem Bestreben, Bundesgenossen zu werben, auch an Bayern herantraten, sich der Herzog äußerst reserviert verhielt. Die böhmischen Gesandten wurden belehrt, sie hätten sich durch diese Eigenmächtigkeit selbst schuldig gemacht, dem Kaiser, dann auch Erzherzog Ferdinand, die um 100000 Gulden baten, dies rundweg abgeschlagen - nicht ohne den boshaften Hinweis, daß man wegen des habsburgischen Widerstands für Mindelheim soviel habe bezahlen müssen - , eine kleine Hilfe des bayerischen Reichskreises nur für die ungarischen Festungen genehmigt". Aber auch die bald einsetzenden Bemühungen des Kaisers Matthias und Klesls, zu einem Ausgleich mit den aufständischen Böhmen zu gelangen und für entsprechende Verhandlungen auch den bayerischen Herzog als Vermittler zu gewinnen, wurden in München ganz hinhaltend behandelt und mit vielen Vorbehalten bedacht; sie waren nach einem halben Jahr Schriftverkehr erst gerade vor dem Abschluß, als der Kaiser starb und damit wieder alles offen war. Diese äußerst reservierte Haltung ist um so bemerkenswerter, als die Quellen klar zeigen, daß Maximilian nicht nur schnell und genau von den Vorgängen in Böhmen unterrichtet war, sondern deren Bedeutung auch sofort erfaßt hatte. Informiert war er alsbald durch seine vielfältige Korrespondenz, dann auch persönlich durch Jaroslav von Martinitz, einen der aus dem Fenster geworfenen böhmischen Räte, der nach Bayern geflohen war und jetzt am Münchner Hof als kaiserlicher Agent wirkte 12 . Daß der Herzog die Bedeutung der Vorgänge erkannte, zeigen Äußerungen wie jene schon am 25. Juni, als Maximilian den Erzbischof von Mainz vor der ' E b d . 469 ff. Vgl. zu ihrem Verhältnis in d e r J u g e n d : U m G l a u b e n u n d Reich. K u r f ü r s t Maximilian I., Ausstellungskatalog Wittelsbach u n d Bayern, I I / 2 , hg. von H. GLASER, M ü n c h e n - Z ü r i c h 1980, 105-7.

10

"

G I N D E L Y ( A n m . 3 ) , I , 3 5 6 ; RIEZLER ( A n m . 5 ) , V ,

12

Vgl. A D B XX (1884), 517 (H. v. Zwiedineck-Südenhorst). Maximilian suchte sich auch schnell Nachrichten zu verschaffen (so etwa mit Schreiben 1618 VI 11 an Salzburg: B a y H S t A , Kasten schwarz 12484, fol. 9).

122-24.

M a x i m i l i a n I. v o n Bayern

59

Auffassung warnt, daß der Aufstand nit so gar gefehrlich fürkombt und man ihn durch Güte beilegen könne, vielmehr sei die Freiheit der katholischen Religion bedroht 1 3 ; und kaum drei Wochen später stellte er gegenüber dem Bischof von Würzburg fest: Auf das böhemische wesen ist wol acht zu geben, ... damit dis Unwesen nit auch anderer orten ausbreche14. Trotzdem blieb seine Haltung unverändert, noch im Oktober 1618, als der Krieg zwischen den Ständen und dem Kaiser in Böhmen bereits ausgebrochen war und der böhmische Söldnerführer Graf Mansfeld gegen das wichtige Pilsen zog, vertrat er gegenüber den geistlichen Fürsten in Franken den Standpunkt, es gelte jetzt, zur Sicherung allein des eigenen Landes sich etwas zu bewaffnen 1 5 . Ein Jahr später, im Oktober 1619, hatte sich Maximilian hundertprozentig gewendet, und es war bereits der berühmte Münchner Vertrag abgeschlossen, in welchem der Herzog dem Kaiser die aktive Hilfe der Liga für die Niederwerfung des böhmischen Aufstandes versprochen hatte 16 . Um diese überraschende Schwenkung zu verstehen, ist es nötig, kurz auf wichtige Veränderungen der politischen Szene nach dem Fenstersturz zu blikken. Solche waren im Hause Habsburg zuerst die Entmachtung Klesls im Sommer 1618 - Erzherzog Ferdinand ließ Klesl verhaften - , des Exponenten also jener Kräfte, die sich gegen die Liga und gegen Bayerns Politik gestellt hatten und die in München sowieso nur als unselige Kompromißpolitiker abgelehnt worden waren. Sogleich wurde von mehreren Seiten, vor allem natürlich von Bayern, der Neuaufbau der Liga ins Auge gefaßt und, nach großen Schwierigkeiten, im Lauf des Jahres 1619 erreicht, nun unter Verzicht Österreichs auf eine Teilnahme an der Leitung 17 : hier brachte der Regierungsantritt Ferdinands in Österreich im März 1619 abschließend die entscheidende Veränderung. In der böhmischen Frage war dies vorerst nicht der Fall. Im Sinne Klesls interpretierte man auch jetzt noch in Wien, um sich die evangelischen Fürsten im Reich nicht alle zum Feind zu machen, den Prager Aufstand als eine Rebellion der Untertanen, nicht aber als eine religiöse Auseinandersetzung und setzte weiterhin auf Verhandlungen und Kompromisse 18 . Hier brachte nun aber die von böhmischer Seite betriebene Radikalisierung die Sache zur Entscheidung. Mit der Machtübernahme der aufständischen Protestanten in Prag begann nämlich fast sogleich eine schnell zunehmende Bedrückung der Katholiken, im Mai 1619 wurde bereits der gesamte geistliche Grundbesitz säkularisiert, die Güter katholischer Adeliger verfielen der Konfiskation, die Je-

13

Briefe und Akten (Anm. 2) N F 1,1, 39 f. Ebd. 49 (1618 VII 12). " Ebd. 89 (1618 X 15). " Dokumente (Anm. 4), Nr. 202 ff. (Münchner Vertrag 1619 X 8). 14

"

STURMBERGER ( A n m . 3 ) , 7 0 f .

18

E b d . 3 5 ; GINDELY ( A n m . 3 ) , I I , 2 9 .

60

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suiten wurden ausgewiesen 19 . Unheilbar wurde dann der Bruch durch die Absetzung des 1617 zum König von Böhmen angenommenen Ferdinand im August 1619 durch den Generallandtag in Prag und die darauf folgende Wahl Friedrichs V. von der Pfalz zum neuen böhmischen König. Waren damit die Verhältnisse in Böhmen geklärt, so geschah dies im Reich durch die Kaiserwahl Ferdinands II. in Frankfurt Ende August gleichen Jahres - sie erfolgte übrigens auch mit der Stimme der Pfalz - , war doch nun die Unsicherheit über die Nachfolge in Österreich und im Kaisertum endgültig beseitigt. Dementsprechend konnte sich Maximilian in München der Hilferufe aus Wien, Brüssel und Madrid, vor allem aber auch der deutschen Bischöfe, die sich unmittelbar von den Säkularisierungsgelüsten der Protestanten bedroht sahen, sowie des Papstes kaum noch erwehren 20 . Schließlich ist auch die Kriegslage zu bedenken. Die anfängliche Hoffnung des Kaiserhofes, mit Hilfe weniger von Spanien besoldeter Truppen und dem aus den Niederlanden entsandten Heerführer Bucquoy den Aufstand schnell niederzuwerfen, hatte getrogen, der Kampf ging unentschieden hin und her und verwüstete das Land. Gerade im Sommer 1619 schien die böhmische Seite, der sich mittlerweile die Stände in Ober- und Niederösterreich angeschlossen hatten, den Krieg für sich entscheiden zu können; im Juni stand Graf Thurn mit 10000 Mann vor Wien, im August fiel zudem noch der Fürst von Siebenbürgen, Bethlen Gabor, in Ungarn ein, um dem Habsburger die Herrschaft auch dort abzugewinnen, im November standen seine Truppen, mit den böhmischen vereinigt, ebenfalls vor Wien - die Lage war, wenn auch beide Male dann ein schneller Rückzug folgte, tatsächlich äußerst bedrohlich, wie Maximilian dies in den Verhandlungen um die Erneuerung der Liga feststellte 21 . Vor allem in bezug auf die militärische Situation war deutlich, daß, so wie wirksame Hilfe für Böhmen nur bei einem Eingreifen der protestantischen Union erzielt werden konnte, für den Kaiser Hilfe nur möglich war durch das militärische Auftreten der Liga (und damit Bayerns) sowie die Hilfe Spaniens, die allein eine größere Zahl von Truppen stellen konnten. In dieser kritischen Situation kam es dann am 8. Oktober 1619, als der Kaiser von seiner Krönung aus Frankfurt zurückkehrte und dabei in München Station machte, zu dem bereits genannten Vertrag, in welchem Maximilian die volle Hilfe Bayerns und der Liga dem Kaiser zusagte. Insgesamt wird man deshalb sagen müssen, daß nicht so sehr Maximilian eine völlige Neuorientierung seiner Politik vollzog, vielmehr die Voraussetzungen auf österreichischer und böhmischer Seite sich grundlegend geändert hatten. Unter den neuen Umständen aber hielt Maximilian es offenbar für absolut geboten einzugreifen. " Ebd. I, 470 ff ; II, 103 ff. Vgl. z . B . Briefe u n d Akten (Anm. 2) 1,1, 85 u n d 140f. Ebd. 229 f.

20 21

M a x i m i l i a n I. v o n Bayern

61

II.

Kaum war der Münchner Vertrag abgeschlossen, ging Maximilian, der vorher so vorsichtig und zögerlich sich gezeigt hatte, mit Energie an die Einlösung seiner Versprechen. Schon im Dezember 1619 beschloß der erste Ligatag in Würzburg die Aufstellung von 25.000 Mann zur freien Verfügung Maximilians als Ligaoberst 22 . In der Folgezeit schaltete sich der Herzog jeweils ein, um Spanien und den Papst zu Hilfszusagen und deren Vollzug zu bringen und den Kaiser zu eigener Rüstung zu mahnen, andererseits das evangelische Kursachsen von der Union fern und auf kaiserlicher Seite zu halten. In der Frage des strategischen Aufmarsches, die zwischen Spanien, das zuerst im Reich gegen die Pfalz, und Maximilian, der sogleich nach Österreich und Böhmen marschieren wollte, strittig war, behielt der Herzog schließlich die Oberhand, vor allem dadurch, daß er am 3. Juli 1620 mit der protestantischen Union in Ulm einen Neutralitätsvertrag abschloß, der beide Teile zum Stillhalten im Reich verpflichtete, dabei jedoch Böhmen ausnahm und auch von Spanien nicht sprach 23 . Kaum hatte Maximilian den Rücken frei, eröffnete er den Feldzug. Am 24. Juli 1620 überschritten seine Truppen - 12000 zu Fuß und 3000 Reiter - bei Schärding die Grenze zu Oberösterreich, bereits eine Woche später betrat er als Sieger Linz, am 20. August huldigten die oberösterreichischen Stände vorläufig dem Herzog als kaiserlichem Kommissar, jeder Widerstand war zwecklos. Auch in Linz rastete Maximilian nicht. Nachdem er umsichtig seine Kräfte durch Übernahme der oberösterreichischen Truppen verstärkt und die Stände zum Widerruf des Bündnisses mit Böhmen gebracht hatte, trat er bereits am 23. August jenen Marsch gegen den Hauptfeind an, der im November dann so erfolgreich endete 24 . Es hat stets Staunen erregt, daß Maximilian, der zuerst überhaupt nichts von einem bayerischen Eingreifen in die böhmischen Händel wissen wollte, wenig später so rasch und entschlossen sich engagiert hat, und das zu einem Zeitpunkt, da die von Bayern so lange und so heiß ersehnte Chance einer Verkleinerung der habsburgischen Monarchie so nahegerückt war wie nie zuvor 25 . Es hätte ja für seine Politik auch andere Möglichkeiten gegeben, sei es auf die Angebote der wittelsbachischen Pfalz (die noch nach Kriegsbeginn mit München verhandelte) einzugehen 26 und aus dem Niedergang der österreichischen Habsburger Kapital für das Haus Wittelsbach zu schlagen, sei es auf Vermittlung und Ausgleich zu drängen, die ebenfalls für Bayerns Stellung wohl günstiger gewesen wären. Was hat also Maximilian zu dem entschlossenen und höchst erstaunli22

NEUER-LANDFRIED ( A n m . 4),

23

Dokumente (Anm. 4), Nr. 216. Vgl. dazu G I N D E L Y (Anm. 3), III, 245-50.

24 25

RIEZLER ( A n m . 5), V ,

26

Vgl.

F.

H.

SCHUBERT,

179.

134.

Ludwig Camerarius

1573-1651,

Kallmünz

1955,

82f.

62

Walter Ziegler

chen Einsatz für den österreichischen Konkurrenten gebracht? Die meisten Historiker, die sich mit dieser Frage befaßt haben, haben entweder geantwortet, daß es mehr die Vorteile waren, die Maximilian für seine Hilfe vom Kaiser erlangen konnte und die ihn deshalb auf Österreichs Seite brachten 27 , oder sie behaupteten, daß er zuerst auf Grund seiner religiösen Überzeugung, die gefährdete katholische Kirche retten zu müssen, diesen Schritt unternommen hat 28 und so die einmalige Gelegenheit, sich der habsburgischen Vormacht zu entledigen, ungenutzt vorübergehen ließ. In der Tat waren, um mit der erstgenannten Möglichkeit zu beginnen, die Vorteile, die sich der Herzog, vor allem eben im Münchner Vertrag, gesichert hatte, weitgehend und höchst bedeutsam: den alleinigen Oberbefehl über die Armee und deren Einsatz nach eigenem Plan, wodurch der Kaiser, der kaum Geld für eigene Truppen auftreiben konnte, also weitgehend von Bayern abhängig wurde; den Ersatz aller Kriegsschäden und Kriegskosten, unter Verpfändung habsburgischer Gebiete, was ihm sogleich Oberösterreich als bayerisches Pfand einbrachte, das er auch sofort in Anspruch nahm und wo er jede Einmischung des Kaisers ablehnte (1628 mit der Oberpfalz vertauscht); die Sicherung vor einem Separatfrieden des Kaisers; schließlich das damals in München ihm vom Kaiser mündlich im geheimen gegebene Versprechen, den Pfälzer zu ächten und dessen Kurwürde auf die bayerische Linie zu übertragen - alles Zusagen, die tatsächlich dann auch eingehalten wurden. Überdies hatte er sein Eingreifen noch an die Bedingung des gleichzeitigen Losschlagens der Spanier von den Niederlanden her gebunden. Von selbstloser oder freudiger Hilfe für den Kaiser konnte also keine Rede sein. Allerdings muß man gleich hinzufügen, daß der Münchner Vertrag natürlich das Fundamentalrisiko der Niederlage des Kaisers und seiner Verbündeten, damit vor allem auch Bayerns, nicht beseitigte. Da die protestantischen Gegner, geführt vom Fürsten Christian von Anhalt, dem Leiter der pfälzischen Politik, zum erklärten Ziel hatten, das Haus Habsburg im Reich völlig zu depossedieren, bereits auch Böhmen, Ungarn und Österreich an ihre Anhänger verteilten (an die Pfalz, an den Herzog von Savoyen und an Bethlen Gabor) und die Verbündeten des Kaisers damit gleichfalls bedrohten 29 , bedeutete das Versprechen Ferdinands, im Falle einer Niederlage Bayern mit eigenem Territorium zu entschädigen, nur wenig. Auch die Hilfe Spaniens, die zur Bedingung gemacht worden war, war angesichts der Zerrüttung der spanischen Staatsfinanzen und der Abneigung der spanischen Politiker gegen die deutschen Händel weitgehend noch Zukunfts-

" Ζ. Β. M. RITTER, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), III, Stuttgart 1908, 57ff. 28

Z . B . RJEZLER ( A n m . 5 ) , V , 134.

29

O. KLOPP, Der Dreißigjährige Krieg bis zum Tode Gustav Adolfs 1632, I, Paderborn 1891, 323; H. WEIGEL, Franken, Kurpfalz und der böhmische Aufstand 1618-20,1, Erlangen 1932, 138ff; F. H. SCHUBERT, Christian I., in: N D B 3 (1957), 223f.

Maximilian I. von Bayern

63

musik, Erzherzog Albrecht in Brüssel schob das Eingreifen immer weiter hinaus 30 . Die ausgehandelten Vorteile mußten also erst durch den bayerischen Herzog selbst errungen werden, und zwar gegen Feind und Freund, und wie schwierig dies war, zeigte sich schon kurze Zeit nachher, als der Kaiser nicht an die Kurverleihung herangehen wollte - gegen diese opponierten vor allem die evangelischen Kurfürsten, aber auch Spanien - und auch den Pfandschaften und Entschädigungen zu entkommen suchte, allerdings an Maximilians Härte dabei abprallte 31 . Man wird füglich zweifeln dürfen, daß der vorsichtige und allen Phantasien abholde bayerische Herzog die Situation nicht klar durchschaut hat; wenn er trotzdem mit diesem Vertrag und dem Kriegsbeginn die Existenz seines eigenen Landes an das Wohl und Wehe des Kaisers gebunden und damit aufs Spiel gesetzt hat, so kann der Blick auf den eigenen Vorteil nicht der Hauptgrund gewesen sein. Die zweite Erklärung für Maximilians Eingreifen, die religiöse, scheint deshalb näherzuliegen. In der Tat war ja die Einstellung Maximilians in religiösen Dingen allgemein bekannt, noch jüngst hatte er seine Ablehnung, an der Vermittlung zwischen dem Kaiser und Böhmen mitzuwirken, vor allem damit begründet, daß dies eine Sicherstellung oder gar Aufwertung der im böhmischen Majestätsbrief 1609 den Protestanten gegebenen Freiheiten bedeuten könnte, wodurch er aber nur sein Gewissen belasten, seine Sache besudeln und beschmutzen und an einer fremden Sünde teilnehmen würde 32 . Aber auch sonst steht die religiöse Frage, also die Gefährdung der Katholiken durch das Übergewicht der Protestanten in Böhmen, vielfach voran. So war es beim oben genannten Schreiben an den Kurfürsten von Mainz gleich nach dem böhmischen Aufstand, so bei der Instruktion zur Erneuerung der Liga im Dezember 1618, in welcher der Herzog feststellte, daß die Wirren in Böhmen und Europa alle ex uno eodemque fundamento et communi causa religionis herrühren 33 , so schließlich bei den Verhandlungen um den Münchner Vertrag, in denen immer wieder die katholische Religion und die Gefahr, die der Aufstand in Böhmen für sie bringe, vorgetragen wurde 34 , obwohl man doch vom Kaiserhof her vor allem auf die politische Rebellion bei der Interpretation des Aufstandes Wert legte. Die religiöse Frage spielte dann auch in der Korrespondenz mit den böhmischen Direktoren, etwa nach der Eroberung von Pilsen durch Mansfeld, eine besondere Rolle, drückte doch Maximilian schon im Dezember 1618 die Sorge aus, daß man nemlich nur die catholi-

30

31

E. STRAUB, Pax et Imperium. Spaniens Kampf um seine Friedensordnung in Europa zwischen 1617 und 1635, Paderborn 1980, 131 ff. Vgl. Dokumente (Anm. 4), Nr. 208; D. ALBRECHT, Die auswärtige Politik Maximilians von Bayern 1618-1625, München 1962, 49ff.

31

GINDELY ( A n m . 3), I, 4 5 7 .

33

Briefe und Akten (Anm. 2), N F 1,1, 109. Ebd. 232 f.

34

64

Walter Ziegler

sehen ganz und gar unterdrücken und auszurotten gemeint sei35. Vor allem aber hat dann der äußere Aufzug des ligistischen Heeres bei seinem Marsch gegen Österreich und Böhmen die Bedeutung der Religion für Maximilian sichtbar gemacht. Bei Beginn des Feldzugs gegen Österreich trat eine ganze Reihe Geistlicher auf, vor allem der fast als Heiliger verehrte Karmelit Dominicus a Jesu Maria; Maximilian und sein Gefolge trugen das Skapulier; mit Beichte und Kommunion, mit dem Marienbanner und mit der Losung „Sancta Maria" nahm der Marsch, besonders der gegen Böhmen, dann zeitweise den Charakter eines Kreuzzugs an; und als die Schlacht am Weißen Berg geschlagen wurde, blieben Maximilian und Bucquoy, die die Leitung ihren Generälen übertragen hatten, am Fuß des Berges zurück und beteten zusammen mit einem Jesuiten Mariengebete 36 . Auch die Protestanten in Prag hatten deutliche Zeichen gesetzt, die katholischen Adeligen enteignet, die katholischen Bürger bedrückt, vor allem aber Ende 1619 in einem wahrhaftigen Bildersturm die Domkirche auf dem Hradschin ausgeräumt und zum calvinistischen Gotteshaus gemacht, ein Vorgehen, das ihnen auch im eigenen Lager heftige Kritik eintrug. Die religiösen Beweggründe sind in der Tat so deutlich, daß die Mehrzahl der Historiker, vor allem Sigmund Riezler 37 , die Politik Maximilians davon letztlich ganz bestimmt, die Religion also in dieser Situation über den bayerischen Eigennutz, aber auch über die traditionelle bayerische Staatspolitik siegen sehen. Doch auch hier wird man Zweifel anmelden müssen. So fällt etwa schon auf, daß der von der zeitgenössischen Publizistik verständlicherweise groß herausgestellte Bildersturm im Veitsdom 38 in Maximilians Korrespondenz kaum Niederschlag findet; er war offenbar für sein Argumentationsschema ohne Belang. Stutzig macht auch, daß der Herzog bei seinem Einmarsch in Oberösterreich, wo er jeden Versuch der dortigen protestantischen Stände, die Huldigung mit rechtlichen oder religionspolitischen Vorbehalten zu versehen, konsequent abwehrte, keineswegs daran ging, das Land zu rekatholisieren ; ja als sogleich der Kaiser, durch den bayerischen Erfolg ermutigt, vom Herzog verlangte, auf der Stelle die Prädikanten und die verdammten Ketzereien in Oberösterreich abzuschaffen, zögerte Maximilian nicht nur die Antwort hinaus, er riet dem Kaiser dann auch dringend von einer solchen Maßnahme ab, da diese die Menschen zur Verzweiflung bringen würde; aller Wert sei vielmehr auf die Huldigung zu legen, später könne man weitersehen 39 . Übrigens hat Bayern dann in der ganzen Zeit der oberösterreichischen Pfandschaft, also bis 1628, die

15

E b d . 112 f.

36

GINDELY ( A n m . 3),

III, 339-41;

RIEZLER ( A n m . 5 ) , V ,

150F;

R.

BAUERREISS,

s c h i c h t e Bayerns, V I I , St. Ottilien 1970, 146f. "

RIEZLER ( A n m . 5), V ,

58

Vgl. A c t a p u b l i c a , I, hg. v o n M. C . LONDORP, F r a n k f u r t a . M . 1668, 923 ff.

J

149.

' GINDELY ( A n m . 3 ) , I I I , 2 4 4 f f .

Kirchenge-

M a x i m i l i a n I. v o n B a y e r n

65

religiösen Maßnahmen allein dem Kaiser überlassen 40 . Offensichtlich ordnete Maximilian die religiöse Problematik, also die Bekehrung der Menschen zur katholischen Kirche, den staatspolitischen Notwendigkeiten, damals vor allem der Sicherung der Eroberung, eindeutig unter. Das hatte er ja auch schon nach dem Prager Fenstersturz getan, wo ihm sogleich die religiöse Bedeutung klar gewesen war, er aber ein Eingreifen ablehnte. Und überhaupt entsprach eine solche Haltung auch insgesamt dem nüchternen und kühlen Charakter Maximilians weit mehr als die Vorstellung eines fanatischen religiösen Eiferers, die sich die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, da sie vor allem an seinen jesuitischen Beichtvätern Anstoß nahm, gerne ausmalte. Die Probe aufs Exempel bietet schließlich die intensive Zusammenarbeit des Herzogs, darin übrigens einer bayerischen Traditionslinie entsprechend, mit dem Kurfürsten von Sachsen 41 , der, obwohl offiziell das Haupt der evangelischen Reichsstände, bekanntlich eine dezidiert prokaiserliche und antirevolutionäre Politik betrieb; als es 1620 darum ging, den Sachsen gegen Böhmen zu gewinnen und dafür einen der Hauptprogrammpunkte der Katholiken, den Wiedererwerb der säkularisierten Stifter in Norddeutschland, fahren zu lassen, war Maximilian derjenige unter den katholischen Fürsten, der hier am weitesten ging (freilich andere für sich sprechen ließ). Für einen „integralen" Katholiken, der überall zuerst die katholische Religion als Leitstern gesehen hätte, wäre eine solche Zusammenarbeit und eine so weitgehende Kompromißbereitschaft nicht denkbar gewesen. Wenn also sowohl der blanke Eigennutz als auch die dezidierte Religionsfürsorge als Hauptantriebe für die Unterstützung des bedrängten Kaisers ausscheiden, worin lag dann das Motiv, das den bayerischen Herzog, zum ersten Mal in der neueren Geschichte, auf das Schlachtfeld nach Böhmen führte und das Schicksal seines Landes mit dem Ausgang des Krieges verbinden ließ? Um dies begründet herauszuarbeiten, wäre es nötig, die offiziellen wie die inoffiziellen Kundgebungen und Äußerungen Maximilians näher zu betrachten und die Begründungen zu untersuchen, die er darin für seine Unternehmungen geliefert hat. Dies ist bisher noch nicht geleistet, es bringt darüber hinaus auch Probleme mit sich: ob etwa die offiziellen Proklamationen die wahren Gründe wiedergeben oder nur für die Öffentlichkeit wirksam sein sollten, bzw. wie weit der Herzog bei privaten Äußerungen auf die spezifischen Erwartungen des jeweiligen Gegenüber Rücksicht genommen hat. Andererseits ist klar und bleibt auch der einzige Ausweg aus diesem grundsätzlichen quellenkritischen Dilemma, daß ein Querschnitt durch eine größere Zahl verschiedenartiger Äußerungen Maximilians immerhin einen ersten Pfad zu dem gesuchten Motiv legen kann. 40 41

Vgl. H. STURMBERGER, Adam Graf Herberstorff, München 1976, 199ff. Vgl. etwa Briefe und Akten (Anm. 2), N F 1,1, 281.

66

Walter Ziegler

Unternimmt man das, so bieten sich zwei Beispiele an, die die Beweggründe Maximilians näher beleuchten können. Das eine ist ein Brief des Herzogs an den Kurfürsten von Sachsen vom 3. Januar 1619, zu der Zeit, als man noch eifrig um Bayerns Mithilfe an der Vermittlung warb 42 . In diesem Schreiben, das Bayerns Teilnahme daran nochmals ausschloß, beteuerte der Herzog, daß sein ganzes Streben nicht auf das bonum privatum, sondern das bonum publicum ziele, konkret auf Friede und Einigkeit im Reich und erhaltung i. kay. Mt. reputation und hochhait\ bereits bei Beginn der böhmischen Unruhen habe er die Gefahr für das öffentliche Wohl, für Kaiser und Reich gesehen und auf Abhilfe gesonnen; seine Ziele seien nicht particular, sondern der allgemeine Nutzen, für Ihre Majestät, deren Haus und Königreich Böhmen und zugleich für das Römische Reich - wohlgemerkt nicht dem Kaiser, sondern dem evangelischen Sachsen gegenüber festgestellt. Das zweite Beispiel ist dem Briefwechsel Maximilians mit Friedrich V. von der Pfalz entnommen, zur Zeit von dessen Königswahl in Prag (27. August 1619). Als Friedrich diese Tatsache Anfang September - bevor er die Wahl annahm - nach München meldete, übersandte ihm der bayerische Herzog am 24. September ein umfangreiches Schreiben, in dem er eindringlich zehn Gründe benannte, warum Friedrich diese Wahl unbedingt ablehnen müsse 43 : 1. weil das Königreich Böhmen zerrüttet sei und Ausländer es schwer hätten, dort zu regieren; 2. weil der Türke, der sich bereits Ungarns bemächtigt habe, dann, wenn Österreich und Böhmen nicht mehr in einer Hand seien und gemeinsam kämpften, unfehlbar Böhmen überrennen und ins Reich vordringen werde; 3. weil Österreich das Wahlrecht der Böhmen verwerfe und das Erbrecht behaupte, weshalb es um den Thron kämpfen werde; 4. weil Ferdinand gewählter und gekrönter König, seine Absetzung daher unerhört sei und Konsequenzen für alle Fürsten haben müsse - aus diesen Gründen habe übrigens einst sein Vorfahre, Albrecht III., die ihm angebotene böhmische Krone abgelehnt und die böhmischen Stände treulich angewiesen, an den Erben ihres verstorbenen Königs festzuhalten 44 ; 5. bei der Kaiserwahl sei Ferdinand als böhmischer Kurfürst vom Kurkolleg anerkannt worden, jetzt sei er auch Kaiser; 6. da Österreich um seine Existenz kämpfen werde, sei auch die Pfalz gefährdet; 7. der Streit in Böhmen sei durch Vermittlung beilegbar; 8. die Absetzung eines rechtmäßigen Herrschers ohne Prozeß sei unerträglich; 9. Kaiser Matthias war zum Ausgleich erbötig, aber die Böhmen haben feindselig gehandelt; und 10. liege sein Land, Bayern, in der Mitte zwischen den Kontrahenten und sei deshalb in jedem Fall betroffen, so daß er jetzt rüsten müsse.

42

Ebd. 122 f. (Anm.).

43

LONDORP ( A n m . 38), I, 9 1 2 - 1 7 .

44

Im Jahr 1440.

Maximilian I. v o n Bayern

67

Überblickt man die in den beiden Schreiben angeführten Motive, vergleicht sie mit denen in anderen Äußerungen und hebt jene heraus, die ständig wiederkehren, so zeigen sich vor allem folgende. Stets und in allen Schreiben, die sich mit der Materie befassen, natürlich vor allem in den Streitschriften mit der Pfalz und Böhmen, wird die Absetzung des 1617 legitim angenommenen Herrschers, obwohl er ordentlicher, declarirter, gesalbter, gekrönter, belehnter König war 45 , als ungeheuerlich bezeichnet, ein Vorgehen, das alle legitimen Herrscher betreffen muß; jeder, auch der Pfälzer Kurfürst, würde gegen eine solche Absetzung um sein Recht kämpfen. Die Betonung liegt dabei nicht so sehr auf der Absetzung selbst - das wäre einfach antirevolutionär - , sondern auf der fehlenden Rechtsförmigkeit der Absetzung, genauso wie die beabsichtigte „Hinrichtung" der kaiserlichen Räte durch den Fenstersturz nicht als solche, sondern als Vorgang ohne Prozeß und Verhör als eine Tat bezeichnet wird, die selbst bei Heiden unerhört sei46. Erstaunlich häufig und dringend taucht dann als zweites das Türkenmotiv auf, meist in Bezug auf Bethlen Gabor, den Bundesgenossen der Böhmen, der in Verbindung mit dem Sultan stand. Zwar könnte man bei dieser, damals im Reich höchst populären und von allen Seiten benutzten Argumentation auch an Propagandaelemente bei Maximilian denken; doch ist die Korrespondenz des Kaisers mit dem Herzog darüber so dicht, die Bedrohung durch Bethlens Vorrücken bis Wien und Mähren so offenbar und auch Maximilians Ausdrucksweise so persönlich anteilnehmend 47 , daß an der Bedeutung dieses Motivs nicht zu zweifeln ist. Ganz auffällig und eindeutig ist dann aber als drittes der Hinweis auf die Wirkung der böhmischen Rebellion für das Reich. Dieses Motiv begleitet die Argumentation des Herzogs von Anfang an, es wurde benutzt sowohl für seine anfänglichen Bemühungen um Neutralität - damit nicht die Unruhe ins Reich komme - als auch für seinen Entschluß zum Eingreifen. Ganz typisch dafür ist der Inhalt der Instruktion für den bayerischen Grafen Preysing an die süddeutschen Bischöfe bei Gelegenheit der Verhandlungen zur Wiedererrichtung der Liga, ein Schriftstück, das etwa auf der Scheide beider Haltungen steht (Dezember 1618)48. Die böhmische Rebellion, so heißt es da, hat bereits ganz Österreich ergriffen, im Osten droht der Türke, an der Spitze des Reiches steht (mit Matthias) ein schwacher Greis, das Haus Habsburg ist durch Kriege erschöpft, die katholi45

46 47

48

LONDORF ( A n m . 3 8 ) , I I , 2 2 ( 1 6 2 0 I V 10).

Ebd. II, 21. Vgl. Maximilian an Kaiser 1620 VI 18; vnnd ist sich wo! höchstens zuuerwundern vnnd zu bedauren, dz die yenige, welche sich des rechten christlichen namens, rainen reformierten lehr vnnd glaubens benehmen, zu solcher eisseristen desperation gerathen, dem tyrannen vnnd Erbfeindt christlichen namens die Vormaur vnnsers geliebten Vatterlandts verrätherisch vnnd mainaydigerweiß einhendig machen vnnd sich sambt anndern dem abscheulichen Joch an statt der christlichen freiheit vnnderwerffen wollen (BayHStA, Kasten schwarz 27, fol. 31). Briefe und Akten (Anm. 2), N F 1,1, 108-12; J. STURM, Johann Christoph von Preysing, München 1923, 47 f.

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sehen Reichsstände sind uneinig; wird der Kaiser in Böhmen nachgeben, so werden die Protestanten im Reich die Gleichstellung und damit die Herrschaft erzwingen, zuletzt droht ein protestantisches Kaisertum (was f ü r Maximilian mit dem Ende des Reiches gleichbedeutend war) - kurz: das Zentrum der Gedanken Maximilians sind die Consilia und anschleg im reich, die die protestantische Union gegen Kaiser und Reich unternimmt 4 9 . D a ß er aber, so begründet er an anderer Stelle gegenüber Erzherzog Albrecht in Brüssel, zuerst Österreich angreife, geschehe deshalb, weil ein Angriff gegen die Union im Reich dort einen allgemeinen Krieg auslösen werde, womit die Hilfe für den Kaiser, die doch das Wichtigste sei, unmöglich wäre 50 . Diese drei Motive variieren in der Form, werden gegenüber geistlichen Fürsten stärker katholisch unterbaut, gegenüber den Protestanten mehr weltlich gewendet, werden auch durch weitere Begründungen unterstützt, kehren aber immer wieder, so daß man hier wohl den wirklichen Gründen für die Intervention Maximilians nahekommt 5 1 . Dies wird auch dadurch unterstrichen, daß bestimmte Argumentationen nicht auftauchen, etwa daß der Aufstand auch die Ruhe im benachbarten Bayern gefährden könnte - was im 16. Jahrhundert in bezug auf die österreichischen Protestanten stets angeführt wurde - oder daß die Stände in Böhmen und Österreich gegenüber dem Herrscher ihre Rechte zu weit ausdehnen würden: nicht die Ständemacht als solche wird von Maximilian angegriffen, sondern daß die Untertanen des Kaisers statt des schuldigen Respekts und Gehorsams rebellischen und vermessenen Widerstand zeigen 52 . Es geht also um die Sicherung des Reiches nach innen und außen, die Aufrechterhaltung des Rechtes und die Abwehr der Feinde, aber immer in bezug auf Kaiser und Reich, nicht auf Böhmen oder Österreich, die nur das Kampfgebiet darstellen, um das Reich, das Reichsrecht und den Kaiser als dessen Garanten zu sichern. Diese Einstellung geht aus sehr vielen Stellen deutlich hervor: pflichtmäßig müsse man zuerst dem Kaiser helfen (so an Erzherzog Albrecht im genannten Brief); der Gehorsam gegen den Kaiser habe ihn, ungern, bewogen, die kaiserliche Kommission zu übernehmen (so zum Pfälzer beim Anmarsch gegen Österreich und Böhmen 5 3 ); die Harmonie des Reiches dürfe nicht gestört werden (so in seiner Korrespondenz mit dem gleichen Pfälzer). Maximilian war auch stets darauf be45

50 51

52

"

Briefe und Akten (Anm. 2), N F 1,1, 363; noch deutlicher z.B. Maximilian an den Kaiser 1620 IV 17: gefehrliche practiken vnd anschleg wider E. May., dero loblich hauß vnd dz ganß heylig Römisch Reich Teiitscher Nation (durch Bethlen G a b o r , die Türken usw.) (BayHStA, Kasten schwarz 25, fol. 309). Ebd. 377 (1620 VII 5). So wird Maximilians Eingreifen auch gedeutet von KRAUS (Anm. 3), 102 f und D. ALBRECHT, Die Kriegs- und Friedensziele der deutschen Reichsstände, in: Krieg und Politik 16181648, hg. von K. REPGEN, München 1988, 241-73, hier 259. Diese Schlüsselworte Maximilians finden sich z.B. in seinem Brief an den Kaiser 1620 V 16 (BayHStA, Kasten schwarz 25, fol. 364). LONDORP ( A n m . 3 8 ) , I I , 198 ( 1 6 2 0 V I I I 25).

Maximilian I. v o n Bayern

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dacht, nicht im eigenen Namen oder dem der Liga, sondern als Exekutor kaiserlicher Kommissionen aufzutreten 54 . Die Ehrfurcht, ja Begeisterung für Kaiser und Reich gerade des großen bayerischen Herrschers mag heute verwundern, sie findet sich aber bei Maximilian durchgehend: So wie er jetzt in Böhmen für das Reich und sein Oberhaupt kämpfte, so hat er später dies gegenüber Wallenstein, 1646-48 sogar gegen die Habsburger selbst getan, als es galt, den unseligen Krieg im Reich zu beenden.

III. Wenn damit deutlich geworden ist, daß Maximilian sich zum Eingreifen in Böhmen entschloß nicht zuerst, um für die katholische Religion zu kämpfen, auch nicht, um für sich und sein Land Vorteile zu erringen 55 , sondern um das tradierte Reichssystem zu retten, das freilich auch allein die Fortexistenz der katholischen Kirche in Deutschland garantierte, so gilt es nun noch, die Bedeutung des Eingreifens des Bayernherzogs in den böhmischen Krieg zu bestimmen. Hat er das Reich, Österreich und den Kaiser gerettet oder war er nur ein Rädchen, ein kleiner Helfer, der, wie dies nicht selten in österreichischen Darstellungen zu lesen ist56, nur pflichtmäßig gehandelt hat und darum auch nur flüchtig oder gar nicht zu erwähnen ist? Diese letzte Frage zielt zum einen auf die großen Zusammenhänge der europäischen Politik, zum andern auf die Bedeutung der herzoglichen Kriegsführung unmittelbar beim böhmischen Feldzug. Die böhmische Rebellion brach in einer ganz besonderen Situation des Reiches und Europas aus. Das Reich war bekanntlich verfassungspolitisch damals seit Jahren lahmgelegt, die Reichsorgane blockiert, das Kaisertum schwach; die Militärbündnisse von Union und Liga bzw. deren damals wirksame Teile hatten keine staatsbildende Kraft, Deutschland stellte zweifellos ein Vakuum dar. In Europa 57 war, was die Seite der Protestanten betrifft, vor allem die Tatsache bestimmend, daß seit Heinrichs IV. von Frankreich Tod 1610 die französische Politik, die die Regentin Maria von Medici für Ludwig XIII. leitete, ihren antihabsburgischen Charakter aufgegeben und den deutschen Protestanten jede Unterstützung entzogen hatte; dieser Ausfall der traditionellen Stütze für die Protestanten im Reich war auch unmittelbar bedeutsam, als nämlich im Juli 1620 der französische Gesandte in Ulm die Union erfolgreich zur Neutralität im Reich drängte, zu jenem oben erwähnten Ulmer Vertrag, einer der Vorbedingungen für Maximilians Eingreifen in Böhmen. Ebenso wichtig war, daß Kö54

Vgl. Documenta Bohémica bellum tricennale illustrantia, II, Prag-Wien-Köln-Graz 1972, Nr. 632 (1620 VII 25, Oberösterreich) und Nr. 667 (1620 VIII 25, Böhmen). " Natürlich auch nicht, um die Tschechen unter deutsche Vorherrschaft zu bringen - die nationale Frage blieb damals außer Beachtung. 56 Z.B. H. HANISCH, Die Geschichte Österreichs, I, "1959, 339f. "

V g l . ALBRECHT ( A n m . 3 1 ) , 3 1 f f .

70

Walter Ziegler

nig Jakob I. von England, Schwiegervater des pfälzischen Winterkönigs, damals in laufenden Verhandlungen um eine Allianz mit Spanien stand und deshalb das Engagement und die Königswahl seines Schwiegersohns scharf mißbilligte und sich allenfalls zur Vermittlung, jedenfalls nicht zur Hilfe bereitfand; auch hier wurde übrigens immer wieder mit dem Argument der illegitimen Absetzung des habsburgischen Königs argumentiert 58 . Doch auch die katholische Gegenseite war nicht viel besser schlagbereit. Spanien freilich sagte aus dynastischen wie konfessionellen Interessen sofort seine Hilfe zu, aber sein weitgespanntes Engagement, besonders in Italien und Holland, hatte die Finanzen des Landes bereits so zerrüttet, daß den großen Zusagen vorerst nur wenige reelle Ergebnisse entsprachen. Zudem waren die Berater König Philipps III. einem direkten kriegerischen Engagement in Österreich ganz abgeneigt, und erst nach dramatischen Auseinandersetzungen in Madrid gelang es im März 1620, Spanien zu jenem Truppeneinsatz im Reich von den Niederlanden her zu bewegen, der erst ins Werk gesetzt wurde, als Maximilian schon losgeschlagen hatte. Die Römische Kurie, die als zweite katholische Macht zu nennen ist, und die mit dem Kaiser und Bayern natürlich eng verbunden war, zögerte doch lange, ihre finanziellen Ressourcen, etwa Dezimationen der Geistlichkeit in den deutschen Ländern, zur Verfügung zu stellen - das Oberhaupt der Kirche schlafe und müsse von den christlichen Potentaten geweckt werden, schrieb Maximilian damals nach Madrid 5 9 ; erst 1620 wurde die Unterstützung durch erhebliche Gelder wirksam. Polen schließlich, die katholische Großmacht im Osten, war durch König Sigismund III., den Schwager des Kaisers, zwar der katholischen Sache günstig, aber durch den jahrzehntelangen schwedisch-polnischen Krieg nur zu geringer konkreter Hilfe fähig; immerhin hat das Eingreifen polnischer Truppen den Aufmarsch Bethlen Gabors gegen Wien mehrfach behindert. Aus dieser Situation, nämlich dem geringen Engagement der europäischen Großmächte, ergaben sich zwei Folgen. Zum einen, daß Mächte zweiter Kategorie plötzlich maßgebliche Bedeutung errangen, etwa der Siebenbürger Bethlen Gabor oder der Herzog von Savoyen, der nicht nur ernsthaft nach der deutschen Kaiserkrone strebte, sondern dessen wenige tausend Mann Truppen, die er den Böhmen zur Verfügung stellte, unter Führung des Grafen von Mansfeld plötzlich ein wichtiges militärisches Potential darstellten 60 ; zum anderen, daß die deutschen Mächte im Reich, die Pfalz etwa, Sachsen, Würzburg, Bayern, dann natürlich besonders die Militärbündnisse von Union und Liga, einen entscheidenden Part übernehmen konnten, um so mehr, als die eigenen Truppen des Kaisers gering und schlecht organisiert waren und, den böhmischen nicht unähnlich, wegen der Soldrückstände zu Meutereien und räuberischer Selbstversorgung 58

V g l . GINDELY ( A n m . 3 ) , I I , 2 3 5 f f , I I I , 4 2 f f .

"

ALBRECHT ( A n m . 3 1 ) , 3 8 .

60

Vgl. KLOPP ( A n m . 29), I, 2 8 5 ff.

Maximilian I. von Bayern

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im Lande neigten. Von daher wuchs dem Herzog von Bayern, der eines der größten Reichsterritorien regierte, das er zudem seit Amtsantritt organisatorisch und finanziell bestens hergestellt hatte, plötzlich kriegsentscheidende Kraft zu, allerdings nur, sofern es ihm gelang, die katholische Seite zu sammeln und zu echter Mitarbeit zu bringen. Dies war in der Tat der Fall, wie ein vergleichender Blick auf Union und Liga beweist. Obwohl die protestantische Union seit 1608 unangefochten bestand und erhebliche finanzielle Mittel hatte beibringen können, war sie innerlich durch ihre lockere und schwerfällige Organisation verunsichert, durch den Gegensatz von Calvinisten und Lutheranern gespalten und durch das Fernstehen von Sachsen geschwächt; sie entzog sich deshalb auch der Unterstützung des Winterkönigs in Böhmen. Maximilian dagegen hatte die seit 1613 zerfallende und 1616 zerbrochene Liga so umsichtig, wirksam und schlagkräftig wieder aufbauen und absolut auf seine Person verpflichten können - allerdings auch den Löwenanteil der Finanzen gestellt - , daß er die gesamte Streitmacht nach eigenem Gutdünken in die Waage der Entscheidung werfen konnte, und zwar lange, bevor die mit Spanien vereinbarte Hilfe wirksam wurde. Die hohe Bedeutung des entschlossenen Eingreifens einer Macht zweiten Ranges angesichts des Vakuums im Reich und des Desinteresses der Großmächte sehen wir dann auch unmittelbar beim Feldzug nach Prag wirksam 61 . Anfangs hatte es zwar den Anschein gehabt, als würde der Kaiser mit eigenen Kräften mit den Böhmen leicht fertig - Graf Bucquoy zog bereits im September 1618 gegen Prag - , doch zwang ihn dann das starke Aufgebot der böhmischen Stände zum Rückzug auf Budweis, von wo er, trotz verschiedener Unternehmungen und Erfolge, ein ganzes Jahr lang nicht mehr fortkam. Das zweite Jahr, 1619/20, das schwierigste für den Kaiser, da mehrfach die Eroberung Wiens drohte, fesselte die kaiserliche Armee, soweit sie überhaupt organisatorisch zusammenhielt, weitgehend an die niederösterreichische Donaulinie, ohne daß bei wechselnden Gefechten den Böhmen eine entscheidende Niederlage beigebracht werden konnte, wenn man auch, vor allem durch die polnische Hilfe, Bethlen Gabor zeitweise zur Ruhe brachte. So war Bucquoy auch bereits vielfachen Angriffen aus Wiener Hofkreisen über seine lasche Kriegsführung ausgesetzt, als im Sommer 1620 Maximilian von Bayern mit drei Kolonnen gut organisierter und besoldeter Ligatruppen in Oberösterreich einrückte. Freilich brachen jetzt auch sofort Streitigkeiten aus, etwa über den Oberbefehl - Bucquoy mußte erst vom Kaiser zur Anerkennung der Oberleitung durch Maximilian gezwungen werden - oder über den Kriegsplan: ob man nämlich zuerst Niederösterreich und Wien sichern sollte, wie es Bucquoy wollte, oder, wie Maximilian verlangte, die Heere vereinigen " Vgl. für das folgende P. BROUCEK, Feldmarschall Bucquoy als Armeekommandant 16181620, in: Der Dreißigjährige Krieg (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 7), Wien 1976, 25-27.

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Walter Ziegler

und nach Prag marschieren sollte, selbst auf die Gefahr hin, daß die böhmische Armee, die östlich von den bayerischen und kaiserlichen Truppen stand, mit dem wieder aktiven Bethlen dann gegen den Kaiser in Wien vorgehen würde. Maximilian gelang es nach harten Verhandlungen, das Wagnis, mit den Feinden im Rücken auf Prag loszugehen, durchzusetzen ; tatsächlich traten darauf, wie von ihm erwartet, die Böhmen sofort den Rückzug zum Schutz ihrer Hauptstadt an. Auch beim Anmarsch selbst gab es Probleme, vor allem durch das Zögern Bucquoys, dann aber auch wegen der geringen Disziplin im kaiserlichen Heer, weshalb Maximilian beim Kaiser mehrfach wegen der Kriegsgreuel in der Armee Bucquoys protestierte; allerdings gab es nicht wenig Übergriffe auch auf seiten der Ligatruppen 62 , jedoch schritt Maximilian jeweils mit äußerster Härte ein. Auch die Schlacht am Weißen Berg wurde schließlich durch das Votum des bayerischen Generals Tilly und die Aufforderung des P. Dominicus gegen die zögerliche Haltung Bucquoys durchgesetzt. Als einer der Hauptgründe für den Sieg Maximilians und Bucquoys in dieser Schlacht gilt die bessere Soldzahlung und Ausstattung der ligistischen Truppen, die damit dem böhmischen Heer, das unter Soldrückständen seit je sehr gelitten hatte, deutlich überlegen waren 63 . Damit kann man die dritte Frage doch wohl sicher beantworten. Im europäischen Gesamtrahmen war Maximilian zweifellos nicht entscheidend, vielmehr darf man annehmen, daß auch ohne die Liga die auf sich allein gestellten Böhmen erdrückt worden wären, wenn nämlich Spaniens Truppen schließlich eingegriffen hätten. In der gegebenen Situation aber war Bayerns Aktivität von entscheidender Bedeutung dafür, daß die Herrschaft des Kaisers jetzt und hier gerettet wurde. Wenn diese Rettung damals nicht erfolgt wäre, so wäre zwar nicht die casa d'Austria untergegangen, jedoch hätte sie zumindest mit dem Verlust Böhmens und Ungarns rechnen müssen - der Verlust der Niederlande, den Spanien vor kurzem erlitten hatte, bot ein entsprechendes Beispiel. Österreich wäre also zweifellos geschwächt und degradiert aus dem Konflikt hervorgegangen, eine weitere katholische Besetzung des Kaiserthrones schon dadurch fraglich gewesen. Die Bedeutung Bayerns ergab sich dabei aus der zwar kleinen, aber politisch wie militärisch äußerst schlagkräftigen, vor allem aber finanziell gut abgesicherten Macht, nicht unähnlich der des späteren Preußen, das auch als hervorragend organisierte Mittelmacht im 18. Jahrhundert seine Erfolge errungen hat. Am 11. und 12. November 1620 leisteten die in Prag noch anwesenden evangelischen böhmischen Stände Herzog Maximilian die vorläufige Huldigung, bereits am 17. November reiste der Herzog aus Prag nach München ab - an der Befriedung und Regierung des Landes hatte er kein Interesse, weshalb er auch die ihm angebotene Administration, schließlich « Vgl. Documenta Bohémica (Anm.54), Nr. 734 (1620 XI 16) und Nr. 718 (1620 X 10). 63

RIEZLER ( A n m . 5), V ,

177.

M a x i m i l i a n I. v o n B a y e r n

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sogar ein persönliches Zusammentreffen mit dem Kaiser ausschlug. Bezüglich der in Böhmen vorzunehmenden Reformen riet er einerseits in der Religionsfrage wieder zur Vorsicht, in der Frage der Bestrafung der Aufständischen andererseits zu harter Strenge, damit die Rebellen billich ihrem verdienen nach und andern zum exempel nach gelegenheit des Verbrechens gestrafft, als nemblich etliche, so von Ihrer Mai. abgewichen und sich dem Pfalzgr. beipflichtig gemacht, an gelt und guett; andere aber, so Ihrer Kaisl. Mai. nit allein subiect, sonder auch mit ambt oder Diensten verpflicht gewesen, mit confiscation der güetter; die vornembste Rädlfiehrer aber so wol mit confiscation der güetter als an leib und leben castigiert, und die flichtigen citiert, und da si nit erscheinen, ain als andern weeg gegen ihnen procediert, und aller ortten, wo si zu bedretten, gegen ihnen zu exequiern anbevolchen, auch der proceß durch Kaisl. Commissaries formiert werden solle6* ; auch die Kassierung der böhmischen Landesprivilegien schlug er vor. Angesichts dieser Tatsache, ja überhaupt des durch Maximilian vornehmlich bewirkten Sieges über die protestantischen böhmischen Stände ist es bemerkenswert, daß die tschechische Polemik des 19. und 20. Jahrhunderts, die ja im Jahr 1620 das Schicksalsjahr Böhmens erblickte, als Urheber des Übels die Habsburger, nicht den Bayern sah, der, wenn man sich überhaupt mit ihm befaßt, relativ glimpflich davonkommt 6S . Dies liegt natürlich zuerst daran, daß diese Polemik von der damaligen Situation der Tschechen ausging, für die zu Palackys Zeiten allein die Habsburger, nicht aber die Wittelsbacher oder Bayern, ein Gegenüber waren. Doch wird man als Ausblick die Frage stellen dürfen, ob nicht auch das Verhalten des Herzogs selbst zu dieser Einschätzung beigetragen hat. Jedenfalls bleibt es merkwürdig, daß unter den protestantischen Zeitgenossen, und nicht nur im gemäßigten Sachsen, sondern auch in Württemberg und sogar in der Pfalz der Herzog und seine politischen Aktivitäten nur selten ein ganz negatives, dagegen oft ein relativ freundliches Echo hervorriefen, und daß der Haß, der Politiker wie Christian von Anhalt oder Matthias T h u m beseelte, stets den Habsburgern und kaum je dem Bayern galt, der ja sogar noch 1618 von der Pfalz als Kaiserkandidat gegen Ferdinand ins Spiel gebracht wurde. Ist dies allein der Tatsache des gegenüber dem habsburgischen Österreich und Spanien kleinen und somit weniger gefährlichen Landes Maximilians zuzuschreiben oder vielleicht nicht auch der ruhigen, zielstrebigen, nüchternen, dem Recht und dem Reichssystem zugewandten und auch immer verbindlich bleibenden Denk- und Handlungsweise des Herzogs? Und kann nicht auch die Tatsache, daß Maximilian gar nicht auf Böhmen, 64

Briefe und Akten (Anm. 2), N F 1,2, 30 (1621 I 13). " Vgl. etwa J. MALÍ, Vlastensky slovnik historicky, Praze 1877, 22 f, 495 f; K. KROFTA, Dëjiny èeskoslovenské, Prag 1946, 402 ff; J. V. POLISRNSKY, The Thirty Years War, London 1971, 1 lOff; F. KAVKA, Die Tschechoslowakei. Abriß ihrer Geschichte, Prag ! 1963 erwähnt Maximilian nicht einmal.

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Walter Ziegler

sondern auf die Erhaltung von Kaiser und Reich zielte, ein Grund für sein relativ gutes Andenken sein? Darüber ist es wohl wert nachzudenken, da dies auf den Herzog wie auf die tragischen Vorgänge in Böhmen letztlich ein freundlicheres Licht werfen kann.

Andreas

Kraus

Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte Der providentielle Charakter der Wende von 1180 in der bayerischen Historiographie der frühen Neuzeit. Um 1749 nahm der eichstättische Hofrat Johann Heinrich von Falckenstein in seinen „Vollständigen Geschichten der alten, mittlem und neuern Zeiten des großen Herzogthums und ehemaligen Königreichs Bayern" Stellung zur Einsetzung Ottos von Wittelsbach, die vom Herrn aller Herren geschehen sei, wie folgt: Gott gedachte wieder auf die aus der uralten agilolfingischen Familie entsproßene, aus ihrem alten königlichen und herzoglichen Lustre verstoßene Nachkommenschaft der alten Könige und Herzogen in Bayern. Es geschähe dieses pur einzig und allein aus der göttlichen Gnade und Vorsehung1. Den providentiellen Charakter dieses Vorgangs betont auch eine andere Äußerung Falckensteins, die mit der Empörung gegen Heinrich III. 1055 zusammenhängt 2 ; immer wieder, zu allen denkbaren Anlässen seit der Absetzung Tassilos, wird auf das Erbrecht der Familie hingewiesen, die Falckenstein für eine einzige hält, Agilolfinger, Luitpoldinger, Scheyern und Wittelsbach; immer wieder wird die Verletzung dieses Rechts beklagt, bis zur Einsetzung Ottos von Northeim 3 . Merkwürdigerweise, denn dann ließe sich die providentielle Wende von 1180 viel leichter begründen, geschieht dies nicht zum Jahr 1070, der Einsetzung Herzog Welfs I., der ja auch nicht anders zu dieser Würde kam als seine Vorgänger seit 948. Die Erklärung ist einfach: die Weifen sind, nach

1

2

3

J. H. von FALCKENSTEIN, Vollständige Geschichten der alten, mittlem und neuern Zeiten des großen Herzogthums und ehemaligen Königreichs Bayern, Bd. I, Tl. II, München, Ingolstadt und Augsburg 1763, 419. Zu Falckenstein s. A. KRAUS, Bayerische Geschichtswissenschaft in drei Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze, München 1979, 156 u. ö. (Lit.). Ebd. 298 (zur Verschwörung von 1055): Doch der göttlichen Vorsicht war es nicht gefällig, daß sie sich durch einen Kayser-Mord, ein Mittel, zu ihrer alten Gerechtigkeit, und deren Erlangung, bereiten und zuwege bringen sollten, sondern der Himmel wußte schon eine weit bessere Art zur Zeit des Kaysers Friderici, die verstossene agilolßngische Familie wieder in ihrem vorigen Glänze herzustellen. Zusammengefaßt bei A. KRAUS, Bayerns Geschichte als Selbstfindung der Nation. Die bayerische Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit und die Epoche der „fremden Herzöge", in: Festschrift für Wilhelm Volkert, hg. von D. ALBRECHT, Regensburg 1993; FALCKENSTEIN, Tl. II, 419 zur Abstammung Ottos von Wittelsbach: der aus der alten bayerischen Herzoglichen Familie der Agilolfinger entsprossen war ... dessen Vorfahren Könige und Erb-Herzöge in Bayern gewesen sind, deren Nachkommenschaft aber über 200 Jahre von diesem ihrem großen Erb-Herzogthum Bayern unbilliger Weise vertrieben worden waren.

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Andreas Kraus

Aussage Thegans, Agilolfinger, haben damit ein Erbrecht auf Bayern 4 . Aus dem gleichen Grund wohl wird auch kaum Kritik an der Lebensführung und an den politischen Aktionen des Weifen geübt, sein Abfall von Heinrich IV. wird einmal getadelt, einmal entschuldigt 5 . Allerdings ist der Chronist sehr zurückhaltend in der Darstellung der Regierungszeit der ersten Weifen, er meldet weder von Weif I. noch von seinen Söhnen große Taten, er spart sein Engagement für Heinrich den Stolzen, den er lieber als Superbus Magnanimus bezeichnen würde und dessen Herrschaft von Meer zu Meer reichte. Was ihn an dieser Gestalt fasziniert, ist aber nicht seine Bedeutung für Bayern, die nur ganz kurz berührt wird 6 , sondern sein persönliches Schicksal. Sein großes Glück, zunächst auf das höchste gestiegen, fällt auf einen Schlag; Eifersucht, böse Künste, ein Wahlvorgang wider alle Reichs-Gesetze, falsche Versprechungen bringen ihn zu Fall, zur Absetzung stellt Falckenstein fest: Die That und das Verfahren waren unbillig7 - also wie früher das Vorgehen gegen die Luitpoldinger. Wie Herzog Arnulf, der zu Unrecht Malus geheißen werde 8 , sei auch Heinrich der Stolze kein Rebell gewesen, sondern habe nur sein Recht verteidigt und sei, großmüthig, vernünftig und gerecht, dank seiner Klugheit und Tapferkeit [...] unter die größten Helden seiner Zeit zu zählen9. Wenn die Weifenherrschaft über Bayern legitim war, kann es das Zwischenspiel der Babenberger nicht gewesen sein, das wird auch ausdrücklich festgestellt; daß Gertrud, die Witwe Heinrichs des Stolzen und Mutter Heinrichs des Löwen, den Babenberger Heinrich heiratete und ihren Sohn zum Verzicht auf Bayern bewog, war ein ungebührlicher Streich, Untreue gegenüber ihrem Sohn 10 . Heinrich der Löwe, dieser vortrefliche, aber auch vielem Ungemach unterworfene Fürst, unverschuldeter Dingen Bayerns beraubt, fordert es also mit Recht zurück", 1156 erhält das Herzogtum mit Heinrich einen Fürsten, beflissen, glorreiche Thaten zu thuni2·, diese Taten, besonders seine Tapferkeit, werden gepriesen oder doch ohne Kritik vorgetragen, auch der Ausgriff auf Donaustauf 1161 wird entschuldigt,

4

Ebd. 322; 315 wird aber festgestellt, daß Weif ein Schwabe war. Thegan, Vita Hludovici, hg. von G. PERTZ, MGH SS 2, Hannover 1829, 596: de nobilissima progenie Bavariorum, schon bei A. BRUNNER, Annales Boici a primis rerum Boicarum initiis, München 1626/37 (zitiert wird nach der Ausgabe F. L. BRESLERS, Frankfurt a. M. 1710) als Beweis für die Zugehörigkeit der Weifen zum vornehmsten bayerischen Geschlecht, eben den Agilolfingern, angezogen. 5 Ebd. 318 ist die Rede von Undank, 333 Verständnis für den Abfall von Heinrich IV. wegen seiner Auffuhrung. 6 Ebd. 365 f. 7 Ebd. 374 ff, 379; s. auch 399. 8 Ebd. 361. ' Ebd. 381. 10 Ebd. 387: Sie hallen auf das Herzogthum Bayern nicht das geringste Recht; ebd. 387 f die weiteren Zitate. " Ebd. 393, 399. 12 Ebd.

Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte

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ebenso die Zerstörung von Brücke und Markt zu Föhring 13 . Der Tadel setzt ein mit der Untersuchung des Bruchs mit dem Kaiser, der es um ihn keineswegs verdienet hatte, daß er ihn auf solche Weise in der Noth stecken ließ'4. Die Ursache sieht Falckenstein mit Aventin in dem Übergang des Erbes Herzog Welfs an Barbarossa, doch dessen Vorwurf, daß Heinrich sich mit Geld habe bestechen lassen, nimmt er nicht auf 15 , obgleich er den sprichwörtlichen Geiz des Herzogs ins Ursachengeflecht durchaus miteinbezieht 16 . Der Fall des Herzogs, der auch der Eifersucht der übrigen Fürsten zuzuschreiben war, wird also nicht allein dem Kaiser angelastet, auch wenn das Schlußurteil über die Prozesse gegen den Herzog lautet, daß die Klagen und Beschuldigungen nicht erwiesen waren17 - der Übergang zum Bericht über die providentielle Erhebung Ottos von Wittelsbach, der in der Erzählung der Ereignisse keineswegs im Vordergrund steht 18 , wäre doch zu hart, wenn das Schicksal des Weifen allzu heftig beklagt würde. Falckenstein stand mit diesem Versuch, dem unglücklichen Herzog gerecht zu werden, voll und ganz in der Tradition der deutschen Geschichtsschreibung", mit der bayerischen Tradition stimmte er allerdings weniger überein. Seine unmittelbaren Vorgänger waren der Tiroler Andreas Brunner und der Lothringer Johannes Vervaux, Jesuiten am Münchner Hof, Vervaux langjähriger Beichtvater Maximilians I. Beide schrieben im Auftrag des Kurfürsten ihre Darstellung der bayerischen Geschichte, Vervaux war dabei für das frühe und hohe Mittelalter bis in den Wortlaut hinein von Brunner abhängig 20 . Obgleich beide durchaus bestrebt waren, Kaiser und Reich stets mit allem gebührenden Respekt zu behandeln - was besonders bei ihrer Darstellung des Sturzes Tassilos zum Ausdruck kommt 21 - standen sie Friedrich Barbarossa, dem Urheber des Schismas von 1158, mit größter Reserve gegenüber; das Urteil über Heinrich den Löwen war davon entsprechend beeinflußt. Daraus resultiert ein eigentümlicher Zwiespalt in ihrer Darstellung des gesamten Jahrhunderts der Weifen in Bayern. 13 14 15

Ebd. 400, 402, 407 f. Ebd. 414. E b d . 4 1 5 ; z u A V E N T I N S. A n m . 3 3 .

" Ebd. 416: Indem er aber das Geld gar zu lieb hatte und solches ihm gar zu sehr ans Herz gewachsen war. Tadel auch im Zusammenhang mit der Weigerung, für das Weifenerbe am Lechrain zu zahlen (ebd. 409). " Ebd. 419. 18 Ebd. 370 Rolle seines Vaters im Kampf um Wolfratshausen, 395 der Kampf um die Veroneser Klause. " U. JENTZSCH, Heinrich der Löwe im Urteil der deutschen Geschichtsschreibung von seinen Zeitgenossen bis zur Aufklärung, Jena 21942. 20 B R U N N E R (Anm. 4 ) ; J . V E R V A U X (Pseudonym J . A D L Z R E I T T E R ) , Annales Boicae gentis, München 1662/63 (zitiert wird ebenfalls nach der Ausgabe von 1710, in einem Band mit dem Werk Brunners hg. von F. L. BRESLER). Zu Brunner und Vervaux s. M. SPINDLER, Handbuch der Bayerischen Geschichte II, München 21988, 913 ff. (Lit.). 21 A. KRAUS, Tassilo und Karl der Große in der bayerischen Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts, in: DERS. (Anm. 1), 34ff.

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Andreas Kraus

Dem Übergang der bayerischen Herzogswürde an das Haus der Weifen, obgleich es auch Brunner für einen Zweig der Agilolfinger hält, unter Berufung auf Thegan, wird keine Legitimität zuerkannt 22 , und noch Heinrich der Stolze, dessen Bemühungen um den Landfrieden durchaus anerkannt werden - wenngleich er als Friedensstifter tief im Schatten des Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach steht23 - erfährt wenig Aufmerksamkeit, noch weniger Sympathie 24 . Ganz anders Heinrich der Löwe. Ihm wird egregia fortitudo bescheinigt, munificentia bei seinen Stiftungen im Heiligen Land, freilich auch unangebrachter Geiz beim Handel um das Weifenerbe, auch übergroße Härte beim - sonst gerechtfertigten - Vorgehen 1161 gegen Bischof Hartwig von Regensburg 25 . Der Sturz wird aber bereits aus durchaus zwiespältiger Perspektive begründet. Einmal wird ihm zugebilligt, daß er das Hilfegesuch des Kaisers 1176 religione absterritus, impium bellum delestatus abgelehnt haben könnte 26 , in bewundernswerter Charakterfestigkeit; gleichzeitig bedarf aber der Übergang zur positiven Würdigung der Erhebung Ottos der Dämpfung der Bewunderung für den Löwen. Seine Schuld am eigenen Sturz besteht in der Unfähigkeit, sich in die Zeiten zu schicken und den Wink des Schicksals zu erkennen; selbst die alte Heldenhaftigkeit, so schien es, habe ihn verlassen 27 . Sicherlich ist es keine moralische Schuldzuweisung, die hier ausgesprochen wird, und wie sie gegenüber Barbarossa seit 1158 viel härter formuliert wird. Er wird beschuldigt, die Bischöfe verfolgt zu haben, gerügt wird seine Härte Mailand gegenüber, seine Unerbittlichkeit, sein geradezu barbarisches Wüten 28 . Seine Versöhnung mit dem Papst 1177 allerdings bringt ihm zuletzt die begeisterte Zustimmung seines Geschichtsschreibers ein29, die sicherlich bereits im Hinblick auf 1180 formuliert ist. Es ist das Jahr der Erfüllung; ob seiner Verdienste kehrt jetzt endlich die Herrschaft über Bayern, die seinem Hause entfremdet worden war, wieder an den rechtmäßigen Erben zurück, nach göttlichem Ratschluß: Et vero ita visum Numini, cuius est dare, adimere, minuere, extinguere, transferre, quamcun12



24

25

B R U N N E R ( A n m . 4 ) , p . I I I , c o l . 11 f ; V E R V A U X ( A n m . 2 0 ) , p . I , c o l .

444.

VERVAUX ( A n m . 20), p. I, col. 539: Unus Otto Wittelspachius Palatinus, praetorii praefeclus, Othonis Magni Bojorum postea Ducis parens, et progenitor Principimi, qui hodie rerum in Bojaria potiuntur, odia civilia detestatus ... pacis author intercessi!. BRUNNER ( A n m . 4 ) , p. III, col. 75, ebd. 82 zu W o l f r a t s h a u s e n : Vnus omnino Otho Wittelspachius cognomento sapiens detestatus plus quam civile bellum arma non induit [...] affectu patriae. BRUNNER ( A n m . 4), p. III, col. 90: Beiname ex merito; seine Absetzung wird mit seiner ambitio begründet. VERVAUX (Anm. 20), p. I, col. 544: male sarta ambitio. Ebd., p. I, col. 562, 590, 594, 578 (medicinam fecit ipso fere morbo graviorem; invasit Ecclesiae possessiones ... Episcopii Patrimonium, suae fecit ditionis).

26

BRUNNER ( A n m . 4), p . I I I , c o l . 1 2 9 ; VERVAUX ( A n m . 2 0 ) , p . I, c o l .

27

Ebd. 599; e b d . 600: lile vero (ita eum, urgente nescius cedere tempori. S. a u c h 597.

596.

velut ad ruinam fato,

prudentia

destituerai)

28

BRUNNER ( A n m . 4), P. I I I , c o l . 1 2 7 ; VERVAUX ( A n m . 2 0 ) , p. I, c o l . 5 8 0 ,

29

VERVAUX ( A n m . 20), p. I, col. 601 : Fridericus vero Imperator Ecclesiae concilitus firmatusque totius Imperii viribus, non timeri modo, sed etiam coli sincerius et amari coeperaf, von Friedrichs superbia ist Vervaux allerdings immer n o c h überzeugt, w ä h r e n d BRUNNER ( A n m . 4), p. III, col. 129f sich im gleichen Z u s a m m e n h a n g jedes moralisierende Urteil versagt.

591.

Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte

79

que in sortem versare, quemadmodum ipsi libitum est, certissimo fatorum ordine, dominatus et imperia, ut Boica, quae annis tribus supra ducentos a Domo Schirensi ad alíenos, Bertholdo extincto, devenerat, postliminio ad legítimos nobilissimi Principatus haeredes reductaì0. Diese geradezu prophetische Ausdrucksweise ist die letzte Steigerung, die mit den zahlreichen Erwähnungen Ottonis magni vorbereitet wird, mit einem ersten Höhepunkt 1155; das dazu angemerkte Urteil ist gewissermaßen das Motto für ein ganzes Heldenleben, dessen Bestimmung sich jetzt offenbart: Wittelspachii virtus mire celebrata laudibus, ex heroico facinore cepit omen assurgendi ad fortunam longe illustrissimam31. Ungerügt bleibt sogar der Vorfall von Besançon 32 . Vervaux war der erste, der das Geschick Bayerns so pathetisch mit dem Aufstieg des Hauses Wittelsbach verband, die bayerische Geschichte seines Vorgängers Brunner, zugleich weithin seine Vorlage, blieb im Rahmen, den einst Aventin abgesteckt hatte. Für Aventin war die Weifenherrschaft zunächst Fremdherrschaft, Weif I. war ein Schwabe 33 ; sowohl für seine Herzogsjahre wie für die Jahre seiner Söhne brachte er kaum Interesse auf, er behandelte sie, der Reichsgeschichte wie auch bisher schon den absoluten Vorrang einräumend, nur auf wenigen Seiten 34 . Obgleich er auf weite Strecken hin nur erzählt, in geradezu rasendem Rhythmus, Verb an Verb schließend, ohne sich zu einem Urteil bewegen zu lassen, versagt er sich doch nicht immer bezeichnende Wendungen, die zeigen, was ihm wichtig war. So sagt er von Weif I., der sonst kaum noch Erwähnung findet, in der Chronik: fiel er auf des babsts Seiten, um wenig später fortzufahren : Da fiel er wider vom pabst zum kaiser. Dieser Aspekt war ihm der wichtigste. Auch Friedrich von Schwaben wird gerügt: der war wider das reich und den kaiser35, Weif II. dagegen wird unter die Guten gezählt, da er auf der Seite Heinrichs V. stand 36 . Heinrich der Stolze wird ebenfalls in aller Kürze charakterisiert: der hier nit unpillich der hochfertig hieß, da er

10

31

32

VERVAUX (Anm. 20), p. I, col. 601 ; keine solche Überhöhung des Berichts bei BRUNNER (Anni. 4), p. III, col. 131, nur: Is dies Schirensi sanguini, qui cum Wittelspachio idem est, longe fortunatissimus illuxit. Allerdings in seinem Buch von 1637 „Excubiae Tutelares", das dem Kurprinzen Ferdinand Maria gewidmet ist, rückt er (248-255) Otto III. Magnus in einer Reihe von Anspielungen in die Nähe von Augustus, Karl den Großen und Otto den Großen; ebd. 250 ist ebenfalls die Rede von manifesta Numinis Benevolentia. VERVAUX (Anm. 20), p. I, col. 563; ebd. 540; ebd. 601 (Ottoni cognomento Magno. Gedämpfter, aber auch Otto Magnus bei BRUNNER (Anm. 4), z.B. p. III, col. 131; ebd. 101 zu 1155: gloriosum Otton. Wittelspachii facinus). Zu 1180 s. ebd. 132. Zweifel am Bericht Rahewins bei VERVAUX (Anm. 20), p. I, col. 566; kein Kommentar bei BRUNNER ( A n m . 4 ) , p . I I I , c o l . 103.

33

Johannes Turmair's - genannt AVENTINUS - Annales Ducum Boiariae, hg. von S. RIEZLER, Bd. II (Sämtliche Werke, künftig abgekürzt: SW, III), München 1882, l.V 105, 149, 166, 175ff; zu Weif II. ebd. 182, 189; Bayerische Chronik, hg. von M. LEXER, Bd. II (SW V), München 1886, 296, 308.

34

A . SCHMID, D i e h i s t o r i s c h e M e t h o d e d e s J o h a n n e s A v e n t i n u s , i n : B D L G 113 ( 1 9 7 7 ) , 3 8 8 . AVENTIN, C h r o n i k I I ( S W V ) ( A n m . 33), 3 1 1 , 3 1 8 . AVENTIN, A n n a l e s I I ( S W I I I ) ( A n m . 33), 182.

35 36

80

Andreas Kraus

niemant bei recht und dem seinen bleiben ließ11. Allerdings imponierte ihm die Macht des Weifenherzogs, die von Meer zu Meer reichte, und der allein wegen dieser Macht fürchterlich war, gleichzeitig erschütterte ihn der jähe Abfall seiner Vasallen 38 , ohne daß er aber ein positives oder ein negatives Urteil zur rechtlichen Seite des Vorgangs äußerte. Ebenso zurückhaltend ist seine Stellungnahme zum Herzogtum der Babenberger, obwohl er sie ebenfalls für Luitpoldinger hält 39 ; den weifischen Gegenspieler indessen, so auch fiirst in Bairn wolt sein, rückt er geflissentlich ins Zwielicht, er sagt ihm nach, daß er sich von den Ungarn wie von Roger von Sizilien mit Geld für ein Bündnis gewinnen ließ40. Bayerns rechtmäßiger Herr war auf jeden Fall der König 41 . Zwiespältig ist dann schließlich auch die Darstellung der Regierungszeit Heinrichs des Löwen, über dessen Anspruch Aventin kein Urteil fällt. Gerühmt wird er im Grunde nur im Zusammenhang mit seinem gloriosen Zug nach Jerusalem 42 , schon bei der Erwähnung des Entgangs des Weifenerbes am Lechrain und in Schwaben wird auf seinen Geiz angespielt 43 , vollends sein Abfall vom Kaiser wird auf Bestechung zurückgeführt, die rechtliche Seite der Absetzung wird nicht diskutiert 44 . Alles Interesse gilt dem Kaiser 45 , wie schon bei Heinrich IV.46. Otto von Wittelsbach tritt erst mit dem Jahr 1180 strahlend hervor, gelegentlich auch vorher schon erwähnt, aber selbst zu 1155 ohne rühmende Zusätze 47 . Der hochtönende Lobpreis in den Annalen 48 , in denen solche Elogien besonders für die karolingischen Könige Bayerns zu finden sind 49 , kehrt in der Chronik nicht wieder, obgleich sich gerade hier Aventin zum Lobpreis des Fürstenhauses als dem Zweck seiner Geschichtsschreibung bekennt 5 0 ; um so größeren Nachdruck legt er auf die Betonung der langen Unterdrückung des eltisten bairischen geschlechts der 37

AVENTIN, C h r o n i k II ( S W V) ( A n m . 33), 320.

38

AVENTIN, Annales II (SW III) (Anm. 33), 203 f; Chronik II (SW V) (Anm. 33), 325. Ebd. 326.

39 40 41

E b d . 331; AVENTIN, A n n a l e s II ( S W I I I ) ( A n m . 33), 2 0 8 , 212. AVENTIN, C h r o n i k II ( S W V) ( A n m . 33), 330.

42

Ebd. 336: ist ein ernstlich weiser fiirst gewesen wie sein vater\ AVENTIN, Annales II (SW III) (Anm. 33), 231. " Ebd. 230; Chronik (SW V) (Anm. 33), 342f. 44 Annales (SW II) (Anm. 33), 232: corruptos pecuniae, suasu Jordani drugassii ab imperatore amitino suo deficit... adversus augustum ...; AVENTIN, Chronik II (SW V) (Anm. 33), 343. 45

SCHMID ( A n m . 34),

46

A. K R A U S , A U S der Frühzeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. KL., Sitzungsber. 1992), München 1993, 13 ff.

4

' AVENTIN, A n n a l e s

48

49 50

389.

II ( S W III) ( A n m . 33), 214, 217, 2 2 1 ;

DERS., C h r o n i k

II ( S W

V)

(Anm. 3 3 ) , 3 3 5 , 3 2 7 . AVENTIN, Annales II (SW III) (Anm. 33), 242: Otto maior, magni animi princeps, laboribus atque bellis asper, amicus bonorum, inimicus malorum, viribus corporis ingeniique dotibus pollens, domiforisque praeclarus, Consilio atque manu iuxta valuit. Ebd. 236 zum Ruhm des Geschlechts. Ebd. (SW II) (Anm. 33), 604f zu Ludwig d.D., 615 zu Karlmann. AVENTIN, Chronik II (SW V) (Anm. 33), 348: zu lob er und preis und wolfarung der durchleuchtigen hochgebornen fürsten und herrn (Hz. Wilhelm und Ludwig).

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pfalzgrafen von Scheirn, das zurückgehe bis auf die Zeit des Kaisers Augustus, und von ihrem erblichen Recht auf Bayern 51 ; vor allem aber klingt hier so etwas wie besondere Erwählung an: Aber ietzo kumbt das glück wider und erhebt sie wider dermassen, das ein weil über ander heuser hoch gestigen sein52. Fortuna, die geschichtsmächtige Potenz in der Historiographie des Humanismus, ist natürlich für den Jesuiten Vervaux indiskutabel, an ihre Stelle tritt also die Vorsehung. Wie sehr dies Falckenstein imponierte, haben wir gesehen; obgleich kein Untertan der Wittelsbacher, hielt er es doch für sein Recht, dem Geschichtswerk, das dem Herzogtum Bayern gewidmet war, durch diese Betonung der Auserwähltheit seiner Herrscherfamilie größten Glanz zu verleihen. Um so kraftvoller mußte dieses Thema dann bei so glühenden Patrioten gestaltet werden, wie es der Gründer der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Münchner Hofrat Johann Georg Lori war, oder Lorenz Westenrieder, „die Seele der Historischen Klasse" dieser Akademie. In Loris „Chronologischem Auszug der Geschichte von Baiern", dessen erster Band bis 1179 reicht, bildet das Thema der Freiheit der „Baierischen Nation" von 937 an, dem Jahr der Absetzung des Arnulfsohnes Eberhard, bis 1180 gewissermaßen die zentrale Achse der bayerischen Geschichte. Kein Anlaß wird versäumt, Unrecht von seiten der Kaiser, echtes oder vermeintliches, am Hause Bayern, den Luitpoldingern, Scheyrern und Wittelsbachern, anzuprangern 53 . Herrschern, die nicht vom Lande selbst, von seinen Repräsentanten, gewählt wurden, spricht er die Legitimität kategorisch ab, zuletzt auch noch den Weifen, die ohne Vorwissen der baierischen Stände, durch Bestechung des feilen Hofes zu Goßlar, an das Herzogtum gekommen seien54. Allerdings stellte er auch fest - damit wurde überhaupt erst wieder auch eine positive Stellungnahme zur bayerischen Geschichte möglich - daß Weif II. ohne jemands Widerrede seinem Vater gefolgt sei55, nicht aber ohne einzuschränken: das war auf Grund des Lehensrechts geschehen, nicht aber vermöge des alten baierischen, damals noch blühenden Landrechts, weil gemäß des selben das Erbfolgerecht nicht den Weifen, sondern dem unterdruckten Hauße Baiern, das ist den damaligen baierischen Pfalzgrafen, gebühret hätte56. Immerhin gestand er damit den Nachkommen Welfs I. ein gewisses 51

Ebd. 346-349. Ebd. 347. 53 Nachweise bei KRAUS (Anm. 3). Zu J.G. Lori s. L. HAMMERMAYER, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1 / 1 1 , München 1983 (Lit.); Briefe in: Electoralis Academiae Scientiarum Boicae Primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von M. SPINDLER unter Mitarbeit von G. DIEPOLDER, München 1959. Zu Loris Geschichtswerken s. A. KRAUS, Die historische Forschung an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1959, 9-19. 54 LORI, Chronologischer Auszug aus der Bayerischen Geschichte, 416. " Ebd. 4 5 8 . 56 Ebd. 690. 52

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Maß an Legitimität zu. Weif II. werden ab und zu rühmende Worte gewidmet, er zeichnete sich aus als eindrucksvoller kaiserlicher Gesandter, als Friedensstifter, durch seine Zurückhaltung bei dem gewaltsamen Vorgehen in Rom 1111 ; Liebe und Ansehen habe er sich erworben, beliebt bey dem Kayser sowol als bey der NationAuf ihn sei sein Bruder ohne Widerrede gefolgt, für die Nachfolge von dessen Sohn Heinrich dem Stolzen, auch der Großmüthige genannt, wird das Problem der Legitimität überhaupt nicht mehr berührt, die Dynastie scheint ihm also akzeptiert zu sein. Sein Sturz steht in keinem Zusammenhang mit der Verbindung zu Bayern, die Kausalität ist rein persönlich bedingt: hochmüthiges Betragen, die große Macht, womit er sich brüstete, habe ihm den Neid anderer Fürsten zugezogen. Ein rühmliches Andenken bescheinigt er ihm aber trotzdem, und preist seine tapferen Thaten, den Abfall seiner bayerischen Vasallen nennt er ein erbärmlichs ding5*. Der schließlich doch akzeptierten Legitimität Heinrichs des Stolzen entspricht dann allerdings die Zurückweisung des Babenbergers Leopold, den Konrad III. mit Heerskraft als Herzog eingesetzt habe und der von den Bayern abgelehnt worden sei, als ein vom König aufgedrungener mithin wenig geliebter ... Fürst59. Auch seinen Bruder und Nachfolger Heinrich Jasomirgott einzusetzen habe Konrad nicht das mindeste Recht gehabt; Lori verurteilt auch die Heirat Heinrichs mit Gertrud, der Witwe Heinrichs des Stolzen, die ihm nur einen Rechtsschein vermittelt habe. Durch ihren Verzicht auf Bayern, einen Staatsstreich, habe sie nur Land und Leut, ihren Sohn und sich selbst unglücklich gemachet60. Die legitime Herrschaft des Weifenhauses über Bayern steht für Lori demnach seit Weif II. nicht mehr in Frage. Heinrich der Löwe jedenfalls konnte, wie Lori betont, Baiern mit ungleich mehrerm Rechte behaupten als alle seine Vorgänger seit 10706'. Diese Feststellung wird aber nicht durch die Darstellung der großen Taten des Herzogs unterstrichen, offenbar steuert Lori schon alsbald die Peripetie an, den Sturz des Löwen, durch einen Kaiser freilich, der ebenfalls die Sympathien des Autors nur zum Teil genießt. Gerühmt wird vor allem die Tapferkeit Barbarossas, ausdrücklich zu Legnano, wo er schier der letzte von der Wallstatt schied 62 , aber es kommen auch andere Züge zur Geltung. Lori stößt sich daran, daß Barbarossa sich von seiner ersten Gemahlin mit Zurückhaltung des Brautschatzes scheiden ließ, daß Mailand ohne Gnade zerstöret wurde, daß er durch seine Strenge, und den Geitz seiner Beamten die italienischen Städte erbitterte und zum Aufruhr trieb, daß er einen Gegenpapst aufstellte, wider den guten Rath Konrads von Wittelsbach, Erzbischofs zu Mainz, wie denn Lori 57

Ebd. 468, " Ebd. 526, " Ebd. 532, 60 Ebd. 540, " Ebd. 633. " Ebd. 560,

477, 482; die Zitate 487 f. 525, 534, 530; vgl auch Anm. 38 (Aventin). 539. 546; vgl. dazu auch Anm. 10 (Falckenstein). 622.

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trotz seiner generellen Zustimmung zum Investiturrecht des Kaisers die Bischöfe, die sich ihm widersetzten, als standhafte Männer bezeichnete". Am schärfsten fällt seine Kritik an Barbarossa bei der Behandlung der Erhebung Österreichs zum Herzogtum aus. Er habe mit dem größten Vergnügen, das er jemals in seinem Leben gehabt, den Vergleich zustande gebracht, der Österreich von Bayern trennte, eine zweyen Reichstagsbeschlüssen zuwiderlaufende Handlung, und so sei der von K. Konrad III. aus Neide und Rachsucht gegen das weifische Haus a. 1138 angezettelte Streit durch unselige Trennung der Nation geendet worden64. Dieser Herrscher kann - damit bleibt Lori ganz in der Tradition der deutschen Geschichtsschreibung, auch der bayerischen 65 - am Sturz seines Vetters keinesfalls schuldlos sein, auch ihn leiteten niedrige Beweggründe, er nahm Rache auf eine empfindliche Art66. Aber ungeachtet der Feststellung Loris, daß es offenbar kaiserliche Gewaltthaten waren, die den letzten Akt einleiteten 67 , bleibt auch Heinrich der Löwe von Vorwürfen nicht verschont. Getadelt wird, nicht ohne despektierliche Töne, sein Verhalten im Hinblick auf das Erbe Welfs VI., dessen Verlust der Anlaß zur Feindschaft zwischen dem Kaiser und dem Herzog Heinrich geworden sei 68 ; auch läßt Lori durchblicken, daß er deshalb auf die Seite der päpstlichen Partei getreten sei 69 ; schließlich sei ihm der geforderte Preis für eine Versöhnung zu hoch oder zu niederträchtig erschienen - der letzte Versuch, den Löwen noch als Ehrenmann zu rechtfertigen. Obgleich die letzte Schuldfrage offenlassend 70 , anders als für 1138, zeigt Lori am Ende doch keinerlei Sympathie mehr für den Löwen; alle Erwartungen lenkt er auf den neuen Herrn. Otto von Wittelsbach erscheint von Anfang an als Held 71 . Auch Handlungen wie die Unbesonnenheit von Besançon werden positiv gedeutet, vom Kirchenbann heißt es, daß die edle Denkungsart Ottos und Rainalds von Dassel Ursache gewesen sei, daß beyde in die Ungnade des römischen Hofes gefallen seien, das schreckliche Urteil Ottos von Freising, des großen Bischofs Otto, wird, gestützt auf die Berichte Rahewins, entschieden zurückgewiesen 72 . Das Jahr 1180 indessen kommt in seinem ersten Band 63

Ebd. 561, 599, 602, 609, 648. Ebd. 569 f, 572, 576 f. " J E N T Z S C H (Anm. 19); K R A U S , Hist. Forschung (Anm. 53), 247 ff. " LORI, Chronol. Auszug, 628, übernommen von M. I. SCHMIDT, Geschichte der Deutschen II, Ulm 1778, 585. 67 LORI, Chronol. Auszug, 691. " Ebd. 612; die Urteile: Heinrich hofte, sein Oheim würde nicht mehr sogar lang leben; weil ihn sein Neffe äffen wollte; so äffete er ihn noch weit mehr. " Ebd. 620. 70 Ebd. 633: Ob und wie weit ihm unrecht geschehen sey, ist eine Frage, worüber heut noch gestritten wird. 71 Ebd. 562f, 564f, zum Romzug 1154/55; ebd. 581 zu Otto und Rainald von Dassel: zwey Helden, ohne welche damals nichts Grosses ist verrichtet worden; ebd. 582: seine Standhaftigkeit, sein Witz und sein Verstand [...] überwanden alle Schwierigkeiten. 72 Ebd. 580f, 583, 587, 559, 567. 64

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nicht mehr vor, der 1785 im Manuskript bereits fertige zweite Band ist nicht mehr erhalten ; wie Lori sich über die endliche Erfüllung der jahrhundertelangen Sehnsucht der baierischen Nation geäußert hat, ist nur zu erschließen aus den vielen bitteren Bemerkungen zur Unterdrückung des bayerischen Hauses im Lauf der Jahre seit 94873. Während er dabei in der Regel Falckenstein folgt, übernimmt er dessen begeisterten Hinweis auf die providentielle Funktion des Hauses Bayern in dem einen Satz, der die Bedeutung der Familie der Luitpoldinger für Bayern beschreibt, nur in säkularisierter Form: Nach Abgang des karolingischen Stammes haben die Baiern a. 911 den Edelsten und Tapfersten aus ihrer Nation zu ihrem Oberherrn erwählet, von dessen Nachkommen sie nach 866 Jahren heut noch beherrschet werden; ein Glück und Vorzug des Alterthums, welcher der baierischen Nation und dem Hause Baiern, neben dem französischen, vor allen andern eigen ist14. Der chronologische Auszug Loris war jenes Geschichtswerk, das überhaupt erst die Abfassung der weit bekannteren „Geschichte von Baiern für die Jugend und das Volk" des Literaten Lorenz Westenrieder ermöglichte, dessen Auffassung von der Bestimmung Bayerns bis weit ins 19. Jahrhundert hinein weiterwirkte. Er hatte 1782 von der Akademie den Auftrag erhalten, eine Geschichte Bayerns zu schreiben; gleichzeitig verfaßte er den ersten Band der Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der 1784 erschien, 1785 trat er mit den zwei Bänden seiner bayerischen Geschichte an die Öffentlichkeit 75 . Anders als durch rücksichtslose Anleihen bei Lori, zum großen Teil in wörtlicher Übernahme 7 6 , war dieses rasende Tempo nicht möglich. Wie Lori sprach auch Westenrieder, der immer und immer wieder, wie dieser, beklagte, daß die Herrscher seit 937 keine Rücksicht auf das Wahlrecht der Nation, aber auch nicht auf das uralte Anrecht der Grafen von Scheirn auf die Herzogswürde

"

B e l e g e b e i KRAUS ( A n m . 3).

14

LORI, C h r o n o l . Auszug, 260. Zu L. Westenrieder s. HAMMERMAYER II ( A n m . 53), passim; zum Historiker Westenrieder s. KRAUS, Hist. F o r s c h u n g (Anm. 53), 98-105; W. HAEFS, Traditionalismus u n d Patriotismus. L o r e n z Westenrieder als führender bayerischer Historiker zwischen A u f k l ä r u n g u n d Res t a u r a t i o n , i n : Vorwärts, vorwärts sollst du schauen . . . Geschichte, Politik u n d K u n s t u n t e r Ludwig I., Aufsätze, hg. von J. ERICHSEN u n d U. PUSCHNER, M ü n c h e n 1986, 253-274 (Lit.); hier ist u . a . nicht ausgewertet A. SCHMID, Das Bild des Bayernherzogs Arnulf (907-937) in der d e u t s c h e n Geschichtsschreibung von seinen Zeitgenossen bis zu Wilhelm v o n Giesebrecht, K a l l m ü n z 1976, 183-214. Z u r allgemeinen B e d e u t u n g Westenrieders s. SPINDLER II

75

( A n m . 20), 1 1 8 3 - 1 1 8 6 u.ö. 76

Die Stellen: LORI 486 = L. WESTENRIEDER, G e s c h i c h t e von Baiern f ü r die J u g e n d u n d d a s Volk, M ü n c h e n 1785, I 331, 471 f / 3 3 2 f , 4 7 4 f / 3 3 4 f , 4 7 6 / 3 3 5 , 4 7 6 f / 3 3 6 , 4 9 7 f / 3 4 0 , 498/342, 506/351, 529/359, 530/360, 5 5 1 f / 3 7 0 , 5 5 3 / 3 7 0 f , 5 5 7 / 3 7 3 f , 561/379, 5 7 2 - 5 7 6 / 3 8 0 - 3 8 3 , 6 2 7 / 4 1 0 , 6 2 8 f / 4 1 5 , 631/417. Auch da, w o Westenrieder die Originalquellen zitiert (I 331, 373, 415), f u ß t er in Wirklichkeit, wie die weitgehend wörtlichen Ü b e r n a h m e n aus Lori zeigen, a u f d i e s e m ; 340-342 f u ß t er, ungeachtet d e r Quellenzitate, auf SCHMIDT ( A n m . 66), II 492-495, d . h . er hat die bei Lori zitierten Passagen aus Schmidt nachgeschlagen u n d die dort a n g e g e b e n e n Quellen angeführt. - Die Beispiele ließen sich v e r m e h r e n ; s. KRAUS ( A n m . 46).

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genommen hätten 77 , und der sich wiederholt gegen die übertriebene Macht der Kaiser äußerte, aber von 1077 an Heinrich IV. in jeder Hinsicht verteidigte, von Weif I. als einem vom König aufgedrungenen Herzog; auch sprach er ihm wegen seiner moralischen Mängel jede Legitimität ab 78 . Seinen Sohn Weif II. dagegen, der alles getan habe, um die deutschen Urrechte wider die Anmaßungen des fürchterlichen römischen Hofes zu schützen, der in jeder Hinsicht Eifer für die Würde und die Rechte des deutschen Kaisers zeigte79, der sich überdies im Streit mit dem Papst auch klug erwies und an Gewaltthätigkeiten keinen Anteil nahm 80 , akzeptierte er durchaus als legitimen Herzog. Vollends seinen Neffen Heinrich, unter dessen Herrschaft die Macht des baierischen Staats zur höchsten Stuffe seiner Herrlichkeit, und Ausbreitung erhoben ward81, und dessen Sohn Heinrich sah Westenrieder auch nach seinem Sturz noch als rechtmäßigen Herrscher des Landes an, ja er identifizierte geradezu die Nation mit ihrem Herrschergeschlecht 82 . Allerdings verschloß er, so wenig wie Lori, die Augen vor den Gründen für den Sturz Heinrich des Stolzen nicht; er nannte seinen Hochmut, die große Macht des baierschen Staats, die daraus resultierende Eifersucht der geringem Reichsstände83, ohne deshalb jedoch die Absetzung als rechtens zu bezeichnen. Im Gegenteil, der von Konrad III. als Herzog aufgedrungene Babenberger Leopold, bisher ein baierscher Vasall, aus bloßer Hofgunst ein Herzog, hatte in seinen Augen nicht das geringste Recht auf die herzogliche Würde besessen*4. Nicht anders sieht er den aufgedrungenen Heinrich Jasomirgott, von dem er sagt, er verheeret sein eignes Land; mit Lori verurteilt er die folgenreiche Hochzeit Heinrichs mit der Witwe Heinrichs des Stolzen 85 , den Anspruch Heinrichs des Löwen hält er für berechtigt 86 , seine Gestalt ist, weit beredter als bei Lori, Gegenstand hoher Bewunderung 87 . Damit kann er aber den Weg zur enthusiastischen Zustimmung zur Wende von 1180 nicht mehr ohne höchst problematische Umwege einschlagen, denn wenn der Weife nicht nur der legitime Herrscher Bayerns war, sondern auch Großes für das Reich und sein Land geleistet hat, kann seine Absetzung nur das Ergebnis kaiserlicher Willkür sein - wie legitim ist dann die Erhebung des Wittelsbachers? Dieses Problem ließ Westenrie(Anm. 76), I 136f, 202, 204f, 206, 378, I I 10; besonders eindrucksvoll I 266. Ebd. 284. Ebd. 331 f. !0 Ebd. 336; s. auch Anm. 57. " Ebd. 347, ähnlich auch die Inhaltsangabe 341. 82 Ebd. 363 heißt es einmal, bei den Kämpfen nach 1138, der Weifen oder Baiern. " Ebd. 349 f, 352, 355. 84 Ebd. 360f, 362; vgl. auch die Anmm. 59 und 60! 85 Ebd. 367, 364 f, 371 ; vgl. auch Anm. 60. 86 Ebd. 363 ff; vgl. auch Anm. 61. 87 Ebd. 361 : den berühmten Heinrich, den Löwen, ein feuriger, junger Held (irrtümlich auf Friedrich statt auf Heinrich bezogen); ebd. 370: Sein hohes und entschloßnes Wesen ... zeugte von überlegten Entwürfen eines heroischen Muthes; ebd. 373: seiner heldenmüthigen Thätigkeit. 77

78 79

WESTENRIEDER

86

Andreas Kraus

der gänzlich unberührt, er vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen, anders als alle seine Vorgänger, auch als M. I. Schmidt 88 , die faszinierende Gestalt des Löwen, die durch die Größe seines Geistes, und seine Thaten, durch Glück und Unglück verewigt, wie er dem Bericht von seinem Tod 1195 hinzufügte 89 , bis zuletzt als Helden der bayerischen Geschichte zu stilisieren. Er rühmt die Tapferkeit und Treue Heinrichs auf dem Romzug 1154/55, überhaupt seine kriegerische Tüchtigkeit, seine Sorge für den Wohlstand des Landes90, Entschuldigungen findet er auch, selbst wenn er zugibt, daß der Weife stets mit rascher Hitze, und mit Ungestümm, mit mehrerm Eifer, als Klugheit oder Billigkeit vorging" für die Umstände seines Sturzes. Er betont dabei, daß die Eifersucht und Feindschaft seiner Gegner, die ihn schließlich zu Fall brachten, daher rühre, daß er bloß das seinige behaupten wollte92. Nachsicht zeigt er auch für sein bei anderen, auch bei Lori, so gerügtes Verhalten, das zum Verlust des Weifenerbes, damit zur verhängnisvollen Feindschaft gegen Barbarossa führte 93 , und er billigt ihm zu, daß er sich zu Chiavenna verweigerte, weil er nicht gegen den Papst oder seine Anhänger Hilfe leisten wollte 94 , ja, den lang gewünschten Frieden von 1177 verdanke man nur ihm 95 . Sein Preislied auf Heinrich den Löwen schließt mit dem Satz: Er hatte alles das, was das Glück, die Tapferkeit, und das eigne Nachdenken und die Industrie geben kann, im vollen Maaß erhalten, und er war der erste, und mächtigste aller deutschen Fürsten96. Was blieb jetzt noch, um die providentielle Bedeutung der Übertragung des Herzogtums Bayern auf den Wittelsbacher zu begründen? Westenrieder fand einen Weg, so mühsam es auch ist, ihm dabei zu folgen. Im allgemeinen stand bei den deutschen Historikern seit dem späten Mittelalter dem strahlenden Helden Heinrich das düstere Bild kaiserlicher Willkür gegenüber, auch bei vielen bayerischen Geschichtsschreibern 97 . Damit war 88

SCHMIDT ( A n m . 66) neigt eher dazu, die Partei des Kaisers zu ergreifen, dem er zwar (II 585) bescheinigt, Rache an Heinrich d. L. gesucht zu h a b e n , dessen Verhalten er in keiner Weise entschuldigt, w ä h r e n d er im Gegenteil f ü r Friedrich sonst n u r Bewunderung zeigt (II 580 f). Zu seiner kaiserfreundlichen Haltung s. H . v o n SRBIK, Geist u n d Geschichte vom deutschen H u m a n i s m u s bis z u r Gegenwart, Bd. I, M ü n c h e n u n d Salzburg 1950, 132.

89

WESTENRIEDER ( A n m . 7 6 ) , I 417.

90

Ebd. 384, 386, 406, 413. Ebd. 407. Ebd. 404, 412. 93 Ebd. 399f richtet er seine Vorwürfe gegen Weif VI., d e r sich ganz seinen sinnlichen Vergnügungen überlassen habe, n u r sich allein k e n n e n d , u n d er rügt, daß er sich nicht schämte, seine Güter an den, der ihm mehr bezahlen würde, zu verkaufen, und sein Vaterland auf eine unrühmliche Weise hinan zu setzen. 94 Ebd. 402; er bringt diese Haltung allerdings in V e r b i n d u n g mit angeblichen Absichten Alexanders III., ihn durch Überlassung des mathildischen Erbes f ü r seine Partei zu gewinnen. Ebd. 384 (Inhaltsübersicht) ist die R e d e von vielen und wichtigen Ursachen. 9i Ebd. 402. 96 Ebd. 405. 9 ' Vgl. die A n m e r k u n g e n 19, 65; zur Einschätzung der Staufer s. A. BORST, Die Staufer in d e r Geschichtsschreibung, in: Die Zeit der Staufer, Bd. III. Katalog der Ausstellung in Stuttgart 91

92

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auch die Absetzung des Löwen 1180 als Willkürakt zu betrachten, die Einsetzung des Wittelsbachers konnte nichts anderes sein. Vervaux hatte, ohne allerdings dabei besonders glaubhaft zu wirken, eine gesinnungsmäßige Umkehr Friedrichs I. in die Darstellung eingeführt, ähnlich auch Falckenstein 98 ; Westenrieder wählt ein gänzlich anderes Verfahren. Er weist zwar hin auf Enttäuschungen, die der Kaiser seinem Vetter bereitet hatte 9 ', spricht ihm auch Verschlagenheit nicht ab, vor allem im Hinblick auf die Abtretung Österreichs und die nochmalige Verkleinerung Bayerns 1180, und weist auf verhängnisvolles Handeln hin im Zusammenhang mit dem Würzburger Eid, gegen die Vorstellungen seiner klugen Räthe10°, aber er nimmt kein Wort zurück von jenem Lob, das er für den jungen Staufer bereithielt 101 , sondern spricht ihm in seiner abschließenden Betrachtung Klugheit zu, einen Geist von der ersten Größe, nennt ihn den grösten Staatsmann, er ist für ihn 1167 der einzige, der ohne die geringste Spur von Niedergeschlagenheit dastand, in einer einsamen Größe102. Die Größe des einen schließt die des andern nicht aus, das wußte schon Sallust, den Westenrieder sicher gekannt hat. So stellt er, wie Sallust einst Cato den Jüngeren und Cäsar, in einer abschließenden Syncrisis Heinrich den Löwen und Friedrich Barbarossa einander gegenüber, zween feurige Helden, welche von einer gleichen Leidenschaft, einem unersättlichen Ehrgeiz, brannten, die gelernt hätten, nichts zu fürchten, und immer das Größte, und Beschwerlichste zu unternehmen. Sie hätten ganz Europa erschüttert, wenn dem einen das Schicksal gegönnt hätte, wider den andern mit gleichen Waffen zu streiten103. Zeit und Umstände also waren schuld am Höhenflug des einen, am Untergang des anderen, nicht das geringere Maß an Größe 104 - diese Wendung, die sich bei keinem seiner Vorgänger findet, auch nicht bei M. I. Schmidt, ist eine der wenigen originellen Leistungen Westenrieders in seinem ersten Band von 1785. Damit ist das absolute Gleichgewicht herFortsetzung Fußnote von Seite 86

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102

,04

1977, Stuttgart 1977, 263-275; J. FLECKENSTEIN, Das Bild der Staufer in der Geschichte (Göttinger Universitätsreden 72), Göttingen 1984. Vgl. die Anmerkungen 14 und 29. WESTENRIEDER ( A n m . 7 6 ) , I 3 9 9 .

Ebd. 410, 392; die Abtretung der Ostmark 1156 kommentiert er ebd. 378; diesen Körper, und die geheiligten Bande desselben zu zerreissen. Dieß war das Uebertriebendste, was ein Kaiser ...je wagen, dieß war das Feindseligste, was die Mißgunst eifersüchtiger Nachbarn je veranlassen, oder zugeben konnte; ebd. 381 liest man: eigenmächtiger Machtspruch. Für 1180 spricht er von der Absicht des Kaisers, das Herzogtum Bayern, immer noch ein sehr bedeutendes Land, durch die Abtrennung der Steiermark und Tirols zu schwächen (ebd. II 3f)· Zur Auffassung Loris zu diesem Vorgang s. Anm. 64. WESTENRIEDER (Anm. 76) I 367; kömmt, gleich einem jungen Halbgott, Friedrich III.; Großmuth und Tapferkeit zeichnen ihn aus; Held auch 395. Ebd. 411. Ebd. 404. Er fährt fort: Viele Dinge gelingen zu einer Zeit, und werden dann Heldentugenden, und zu einer andern Zeit, und in andern Umständen, wo sie mißlingen, werden sie Verbrechen genannt. Vgl. auch ebd. 385, wo die Schuldzuweisung auch die so heftig gährenden Verhältnisse der geistlichen und weltlichen Macht betrifft.

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gestellt, ein geringes genügt, es zu stören, und die Waage schlägt wieder aus. Ein tragisches Schicksal, nicht so sehr echte Schuld, stürzt den Löwen. Mit dieser Wendung ist aber gleichzeitig eine höhere Macht für den Ausgang des Ringens ins Spiel gebracht, und auch der außerordentliche Held, irt ganz Europa berühmt105 steht bereit, den Auftrag der Vorsehung entgegenzunehmen. Keine der bedeutenden historischen Gestalten, die in seinem Werk auftreten, Karl den Großen 106 eingeschlossen, schildert Westenrieder gewaltiger als Otto von Wittelsbach. Er erhält alle Epitheta der Größe: Er besaß eine Gestalt voll Majestät und Huld, und sein ganzes Wesen war das Gepräge heroischer Abkunft. Er drang mit seinem Blick in das Verborgene der Dinge, und war unerschrocken, und unüberwindlich im Ausföhren. Wo irgend etwas Schweres und Ungewöhnliches zu Unternehmen, ein steiler Ort zu besteigen, ein verwickeltes Geschäft zu vollenden, oder ein Ungemach, das über die gewöhnlichen Kräfte gieng, zu ertragen war, da sah man nur ihn, ihn einsam, oder in zahlreichen Mengen, wie allein. Man bemerkte an ihm keinen Hang nach Reichthum, oder nach sonst einen Vergnügen, das geringere Menschen reizt, und sättigt, sondern voran, und der nächste und erste am Geschäft der Ehren wollte er seyn. Darnach trachtete er ohne Unterlüß und Erholung. Auch traute man ihm alles zu, wo der Muth von allen zurückwich, und wenn etwas Ungeheures zu verrichten war, rief man ihn hervor™1. Diesen Helden nun setzte der Kaiser mit dem Einverständnis der Reichsstände, unter denen er der Erste, und ansehnlichste war, und nach allgemeinem Wunsch aller baierschen Landsaßen108 in seine uralten Hausrechte ein. Die von Westenrieder hier angezogene historische Parallele, die Wahl Arnulfs zum Herzog, dann sein Vertrag mit Heinrich I., bieten alle Gesichtspunkte, auf die es auch 1180 ankam: die baierschen Stände nahmen die wohlgegründeten, und uralten freyen Rechte ihrer Hausverfassung, so wie dieselben zur Zeit der Agilolfinger ausgeübt, aber durch Karl, den Großen, und seine Nachkommenschaft unterbrochen worden, zurück, das war nach Westenrieder 911. Zu 920 stellt er fest: Die Hausverfassung der Nation, und das vermischte Erb- und Wahlrecht blieb frey, und das Geschlecht des Arnulphs war, gemäß den heiligsten Rechten, befugt, ohne Unterbruch, und ohne alle Einrede eines dritten, sich in der herzoglichen Würde auf ewige Zeiten zu folgen. Die Epoche von 948 bis 1180, das Zwischenspiel der fremden Herzöge, konnte weder den Anspruch dieses Geschlechts tilgen noch seine Kraft zum Erlöschen bringen. Es blieb, so beschließt Westenrieder den historischen Rückblick, stets das ansehnlichste und erste des Landes, und behauptete in öffentlichen Handlungen ein vorzügliches Ansehen. Sie trugen, wo sie einhergiengen, das Heiligthum ihrer 105

Ebd. Ebd. "" Ebd. 108 Ebd. 106

I 387, II 21. I 107-110. 387f; s. auch ebd. II 8 f , 18f, 21. 6 f.

Geschichtsschreibung als Sinndeutung der Geschichte

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Würde mit sich, und nach einer kurzen Pause zwangen sie, sozusagen, das Glück, nach ihnen wieder sich umzusehen109, und von Otto, dem Größeren selbst sagt er: und so sehr eilte jezt gleichsam sein glückliches Verhängniß, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ...n0. Das Glück also, nicht die Vorsehung, ein glückliches Verhängnis war es, das Otto den Größeren und sein Geschlecht wieder zur alten Größe führte und dem Lande Bayern seine Freiheit zurückgab - Westenrieder kehrt wieder zu Aventin zurück, Falckensteins fromme Bewegtheit war ihm, dem Aufklärer, doch zu aufdringlich. Trotzdem, oder gerade deshalb, besaß sein Werk durch seinen patriotischen Ton, durch sein kompromißloses Festhalten an einem erregenden Grundmotiv für die gesamte bayerische Geschichte, dem Ringen um die Freyheit der Nation, ihr Selbstbestimmungsrecht im Hinblick auf die Wahl ihrer Herrscher, auch durch die Kraft der Darstellung, für lange Zeit die Herzen seiner Leser, und es ist nicht abzuschätzen, welchen Anteil es an der inneren Zustimmung auch der bayerischen Beamtenschaft zur neuen Würde des bayerischen Hauses 1806 hatte 1 ". Selbständigen wissenschaftlichen Wert kann man ihm nicht zusprechen, aber es hat doch glücklich die bayerische historiographische Tradition seit Aventin aufgenommen und tatsächlich an die Jugend und das Volk weitergegeben.

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Ebd. 10-12. Ebd. 15; Otto der Größere auch ebd. 33, 34; das lat. Maior als Unterscheidungsmerkmal zu Ottos gleichnamigen jüngeren Bruder wird hier, im Sinne von Otto Magnus bei den Barockhistorikern (s. Anm. 23, 30, 31 ) umgedeutet. Zu Otto maior s. auch Anm. 48. " ' S. dazu H. RALL, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801, 110

M ü n c h e n 1959, 1 4 - 2 7 .

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Die bayerische Scharwerksablösung von 1665/66 Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria 1. E i n f ü h r u n g Die vorliegende Studie ist einem Historiker gewidmet, der ein ausgeprägtes Interesse den Themen Bauernschutz und Bauernbefreiung 1 entgegengebracht und große Sympathie jenem Fürstentypus bekundet hat, der den Frieden zu halten und im Wechsel der europäischen Mächtekonstellationen zu bewahren gewußt hat. Für Kurfürst Max III. Joseph (1745-1777), dem die Historiographie die volle Anerkennung als bedeutendstem „inneren" Fürst Bayerns im 18. Jahrhundert bis heute vorenthalten hat, wünscht er sich in der traditionellen Herrschertypologie einen Ehrenplatz: Er war Verhinderer eines internationalen Krieges auf bayerischem Boden, Verhinderer des totalen Staatsbankrotts, Verhinderer der Aufteilung Bayerns nach seinem Tod2. Unter den bayerischen Herrschern, welchen man Max III. Joseph mit ähnlichen Anliegen und Leistungen als Friedens- und Reformpolitiker zur Seite stellen kann, ist Kurfürst Ferdinand Maria (1651-1679) zu nennen 3 . Ihm war - wie dem Urenkel nach dem Österreichischen Erbfolgekrieg - die Aufgabe des Wiederaufbaus nach dem das Land verheerenden Dreißigjährigen Krieg gestellt. Ihm gelang es ebenfalls, seinen Untertanen eine Friedensperiode von dreißig Jahren zu sichern. Nur einen Ausschnitt seiner Innenpolitik kann die folgende Studie vertiefend bearbeiten. ' F. PRINZ, Hans Kudlich (1823-1917). Versuch einer historisch-politischen Biographie (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 11), München 1962; DERS., Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder 3, hg. von K. BOSL, Stuttgart 1968, 1-235. ; F. PRINZ, Kurfürst Maximilian III. Joseph (1745-1777), in: Christenleben im Wandel der Zeit I, hg. von G. SCHWAIGER, München 1987, 297-309; DERS., Die Kehrseite der Medaille. Sozialgeschichtliche Aspekte der Kriege Max Emanuels, in: Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700, I, hg. von H. GLASER, München 1976, Bd. 1: Zur Geschichte und Kunstgeschichte der Max-Emanuel-Zeit, 330-339; DERS., Gestalten und Wege bayerischer Geschichte, München 1982, 116 ff, 137 ff. 3 Nicht überzeugen kann der Einwand, die Rede vom Friedensfürsten sei „nur die halbe Wahrheit". Vgl. R. SCHLÖGL, Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 89), Stuttgart 1988, 203 f. Die von ihm zitierten Militärausgaben für den Unterhalt von Söldnerheeren und den Ausbau von Grenzbefestigungen müssen vor dem Hintergrund der außenpolitischen Bedrohungen im Zeitalter Ludwigs XIV. gesehen werden.

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Wiederaufbau des Bauernlandes, Regeneration und Schutz des Bauernstandes nach dem Dreißigjährigen Krieg waren für die Landesherren im Westen und im Süden des Reiches ein Gebot der Stunde, besonders im Kurfürstentum Bayern, dessen Gebiet und Bevölkerung extreme Schäden und Opfer zu beklagen hatten. Hier war - anders als in den Gebieten der östlichen Gutsherrschaft - die Eindämmung des Bauernlegens kein Thema der landesherrlichen Agrarpolitik mehr 4 . Die bayerische Wirtschafts-, Steuer- und Scharwerksgesetzgebung seit dem 15. Jahrhundert, besonders die Bestimmungen des Landrechts von 1616, hatte dieser Gefahr einen Riegel vorgeschoben, Rechtssicherheit für die Bauern im Lande geschaffen, in besonderem Maße für jene ca. 50 Prozent der Bauern, die nicht in den Hofmarken der Stände und auf den einschichtigen Gütern des edelmannsfreien Adels lebten. Die immer präsente Instanz des Landesherrn als Wahrer des Rechts war einer der Hauptgründe dafür, daß 1525 der an die Grenzen des großen geschlossenen Territoriums brandende Bauernkrieg keinen Eingang fand. Es gab in der Folgezeit Hunderte, ja vielleicht Tausende von Einzelkonflikten, in denen der Herzog als Schiedsrichter angerufen wurde: Auseinandersetzungen und Prozesse zwischen Bauern und (meist hofmärkischen) Ortsobrigkeiten, hauptsächlich in Scharwerks-, fast nie in Steuersachen, wie die zahlreichen Untersuchungen Renate Blickles5 gezeigt haben. Es entwickelten sich feste Bahnen des bäuerlichen Protesthandelns und Konñiktaustrags. Daß in Bayern die bäuerlichen Anwesen als selbständige Familienwirtschaften erhalten blieben und die Vergrößerung der ständischen Eigenwirtschaften (Hofbaue) im Unterschied etwa zum benachbarten Böhmen nach 16186 - nie ein bedrohliches Ausmaß angenommen hat, liegt aber nicht nur am bäuerlichen Widerstand, sondern auch an der in bayerischen Quellen seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesenen Norm der Hausnotdurft7 und der Vier-

' F. LÜTGE, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 21966, 159 ff; O. HÖTSCH, Der Bauernschutz in den deutschen Territorien vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im deutschen Reich 46 (1902), 1137-1169; E. PATZELT, Bauernschutz in Österreich vor 1848, in: MIÖG 58 (1950), 636-655. 5 Herausgegriffen seien hier: R. BLICKLE, Die Haager Bauernversammlung des Jahres 1596. Bäuerliches Protesthandeln in Bayern, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag, hg. von P. BLICKLE, Stuttgart 1982, 43-73; DIES., Rebellion oder natürliche Defensión. Der Aufstand der Bauern in Bayern 1633/34 im Horizont von gemeinem Recht und christlichem Naturrecht, in: Studien zur historischen Kulturforschung III, hg. von R. VAN DÜLMEN, Frankfurt 1990, 56-84. - Eine tabellarische Übersicht über die Agrarkonflikte von 1400 bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bietet die bei F. PRINZ angefertigte Dissertation von ST. KELLNER, Die Hofmarken Jettenbach und Aschau in der frühen Neuzeit. Studien zur Beziehung zwischen Herrschaft und Untertanen in Altbayern am Beispiel eines adeligen Herrschaftsbereiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 10), Kallmünz 1986, 118-132. 6 Vgl. PRINZ, Hans Kudlich (Anm. 1), 34 f. 7 Vgl. R. BLICKLE, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in : Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. von G. BIRTSCH, Göttingen 1987, 42-64. Diese gesamtgesellschaftlich akzeptierte, von den

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Juchert-Grenze für Scharwerksleistungen im Landrecht von 16168. Beiden Normen verhalfen die bayerischen Landesherren und ihre Gerichte besonders im 17./18. Jahrhundert zur Geltung. In der Regierungszeit Herzog/ Kurfürst Maximilians, einer Epoche besonderer Revoltenhäufigkeit in Europa, kann man nur auf zwei größere Bauernunruhen hinweisen: Die Haager Bauernunruhen von 1596 und den Aufstand der ostbayerischen Bauern im Jahr 1633/34. Verglichen mit benachbarten Territorien ist das ein günstiger Befund: Bayern zählt keineswegs zu den regionalen Schwerpunkten bäuerlicher Unruhen in der frühen Neuzeit. Sollte sich darin nicht eine Entwicklung spiegeln, welche die Forschung als Tendenz zu mehr Rechtssicherheit (Peter Blickle) und zur Verrechtlichung sozialer Konflikte (Winfried Schulze) gesehen hat? 9 Das relativ günstige Verhältnis zwischen Landesherrschaft und Untertanenschaft wurde freilich auch in Bayern getrübt durch die steigenden Lasten, die der Ausbau des Absolutismus der bäuerlichen Wirtschaft aufbürdete. In der Auseinandersetzung um den Ertrag bäuerlicher Arbeit war der Steuerstaat zum erfolgreichen Konkurrenten der Grundherren geworden. Fiskal- und Bauernschutzpolitik standen in einem Spannungsverhältnis, welches auch bei der Scharwerksablösung der Jahre 1665/66 zu beobachten ist. Diese umfassende Aktion brachte die weitgehende Ablösung der Naturalscharwerk durch ein Scharwerksgeld nicht nur für die fürstlichen Urbarsbauern 10 , sondern alle unter dem Niedergericht der fürstlichen Landgerichte stehenden Untertanen, mit ca. 60000 großen und kleinen Hofgütern etwa die Hälfte der gesamten ländlichen Untertanenschaft des Kurfürstentums. Sie erweist sich in mancher Hinsicht als der Höhepunkt Fortsetzung Fußnote von Seite 92 Ständen sich prinzipiell gegenseitig zuerkannte grundlegende Norm (64) sicherte jedem Untertanen und seinem Hauswesen eine gewisse Auskömmlichkeit (Hausbedarf) zu, schützte ihn so gegen die Versuche des Adels und der Geistlichkeit, die Hofbaue zu vergrößern und neue Gewerbebetriebe zu errichten und dabei jeweils die Untertanen mit größerer Scharwerk zu belasten. Der Grundsatz der „Hausnotdurft" gab der bäuerlichen Wirtschaft den Vorrang vor den Expansionswünschen der Herren. 8 Nach dem Landrecht von 1616 (Tit. 22, Art. 4) schuldete der Ganzhof - unabhängig von der Größe des Hofbaus - als Scharwerk die Bearbeitung von je 2 Joch oder Juchert Sommer· und Winterfeld. Huber und Lechner, die kleineren Gespannbauern, schuldeten die Hälfte bzw. ein Viertel dieser Arbeitsmenge. Diese Bestimmung bezieht sich offensichtlich auch auf die bereits vor 1616 vorhandenen Hofbaue, nicht etwa nur auf die seither neu errichteten, wie BLICKLE (Anm. 7), 47 und SCHLÖGL (Anm. 3), 176 unter Bezugnahme auf BLICKLE a n n e h m e n .

' W. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbruch 6), Stuttgart 1980. - P. BLICKLE, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 1), München 1988. 10 Die irrige Auffassung S. von RIEZLERS (Geschichte Baierns 8 = künftig zitiert: GB 8, Gotha 1914, 505), daß nur die „landesherrlichen Kastenbauern" von der Umwandlung betroffen waren, veranlaßt auch F. LÜTGE, Die bayerische Grundherrschaft, München 1949, 121 und M. KSOLL, Die wirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Adels 1600-1679 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 83), München 1986, 38 von „Urbarsbauern" zu sprechen. Die richtige Interpretation findet sich bei H. SCHMELZLE, Der Staatshaushalt des Herzogtums Bayern im 18. Jahrhundert (Münchner volkswirtschaftliche Studien 41), Stuttg a r t 1900, 266 u n d SCHLÖGL ( A n m . 3), 174, A n m . 225.

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der vielfältigen, in der Literatur erst teilweise gewürdigten Hilfs- und Förderungsmaßnahmen 1 1 , welche Kurfürst Ferdinand Maria seit Kriegsende zu Gunsten des bayerischen Bauernstandes ergriffen hat: Neben den noch von seinem Vater eingeleiteten Bestrebungen zur Bemeierung der Ödgüter sowie der Beseitigung der Zubaugüter rückte die Frage der Übergriffe korrupter Beamter, besonders in den Lokalverwaltungen der Gerichte, zunehmend in den Vordergrund. Ihr maßloses Fordern von Diensten und Sportein stellte die Leistungsfähigkeit der Untertanen in Frage, welche bereits unter der Last der grundherrlichen Abgaben und der Steuern an den Landesstaat schwer trugen. Maximilian hatte das Problem der Kontrolle der Außenbehörden durch die Einrichtung der Rentmeisterumritte, durch besondere Lokalkommissionen und Visitationskollegien, nicht zuletzt durch sein persönliches Regiment, zumindest in der Vorkriegszeit relativ wirkungsvoll gelöst. Die Wirrnisse des Krieges und der Nachkriegsjahre sowie die unzureichend geregelte Beamtenbesoldung 12 , ließen die Mißbräuche wieder aufleben. Die Überwachung durch die Rentmeister reichte nicht mehr aus, um die großen Mißstände bei den Außenbehörden zu beseitigen; ja selbst Rentmeister, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend aus dem Adel kamen, traf der Vorwurf der Bestechlichkeit und des „Spesenschindens". Die Vernachlässigung der rentmeisterlichen Umritte hat schon mit dem großen Krieg begonnen. Beispielsweise war das kriegsverschonte RA Burghausen in der Zeit zwischen 1620 und 1649 nur mehr in 4—6jährigem Abstand umritten worden 13 . Zahlreiche Erlasse der Regierung seit den fünfziger Jahren berechtigen zu der Annahme, daß auch die Bestechlichkeit und Pflichtwidrigkeit des Beamtentums mit für den Rückgang der Einkünfte verantwortlich gemacht wurden 14 . Die durch die wirtschaftliche Kontraktion des 17. Jahrhunderts bedingten Veränderungen in der Staatsfinanzierung zwangen zur Suche nach neuen Einkünften. Maximilian hatte die Staatsfinanzierung durch Reformen mit Schwerpunkt auf die indirekte Besteuerung mit Zöllen und Aufschlägen sowie durch den Ausbau staatlicher Unternehmertätigkeit gesi" M. von FREYBERG, Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung 2, Augsburg 1836, 241 ff; S. von R I E Z L E R , GB 7 , Gotha 1913, 108 ff; M . D O E B E R L , Innere Regierung Bayerns nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns 10 (1902), 186-262; S C H L Ö G L (Anm. 3), 82 ff. 12 P. KLEIN, Historische Entwicklung der Beamtenbesoldung in Altbayern 1180-1850. Wirtschaftswissenschaftliche Diss. Innsbruck 1966, 35ff, 59ff. N H. HORNUNG, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16.-18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen der Rentmeister des Rentamtes Burghausen. Diss. phil. München 1915, 22. 14 Ferdinand Maria erließ zahlreiche Mandate gegen Verfehlungen und Übergriffe der Beamten und Amtleute: Annahme von Geschenken und Zehrungen durch die Rentmeister (19. 2. 1659 und 17. 9. 1664), Pflichtwidrigkeiten der Beamten bei Berichten über Giltnachlässe und andere Erleichterungen für die Untertanen (28. 7. 1665), Durchführung unerlaubter Futtersammlungen (11. 3. 1666), Veruntreuung von Amtsgefällen (8. 1. 1665), Anmaßung des kleinen Weidwerks (25. 1. 1663), Einforderung der Naturalscharwerk zusätzlich zum Scharwerksgeld (6. 5. 1666). Auch Hofräte traf seine Kritik (Advokatentätigkeit, überlanger Urlaub). Vgl. S. von RIEZLER, GB 8, Gotha 1914, 427f, 431, 433.

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chert. Der Krieg hatte an vielen Stellen des Haushalts tiefe Einbrüche verursacht; besonders starke Verluste waren bei den indirekten Steuern zu registrieren. Es waren die unbewältigten Kriegsfolgen, die sinkenden Agrarpreise, schließlich die mißliche Finanzwirtschaft des alternden Hofkammerpräsidenten Johann Freiherr von Mändl, welche den noch nicht stabilisierten Staatshaushalt des Kurfürstentums dem Bankrott nahe brachten. Unter dem zunehmenden Einfluß des Ratsvizekanzlers Caspar von Schmid 15 , der die Förderung des heimischen Bauernstandes den gewerbe- und kolonialpolitischen Zielen Johann Joachim Bechers überordnete, konnte der Kurfürst eine Politik der Konsolidierung der Finanzen betreiben. Die Ausweitung des Behördenapparates, der Wiederaufbau des Militärwesens und die prunkvolle höfische Repräsentation machten den verstärkten direkten Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum erforderlich 16 . Die Scharwerksablösung sollte eines der wichtigsten Mittel zur Schließung der finanziellen Engpässe werden. Das damals eingeführte Scharwerksgeld wird allgemein als der Anfang jener direkten Steuern gesehen, die, als Anlagen bezeichnet, im 18. Jahrhundert systematisch ausgebaut und zu einem zentralen Bestandteil der Untertanenlasten wurden 17 . Im Unterschied zur Landsteuer waren die Stände von der Bewilligung und Verwaltung dieser Anlagen ausgeschlossen. Die fiskalpolitischen Aspekte der Scharwerksgelder, auch die bei den Verhandlungen erzielte stärkere Bindung der Außenbeamten an die Zentrale hat kürzlich R. Schlögl 18 im Überblick behandelt. Noch nicht befragt wurden die umfangreichen Quellen 19 hinsichtlich der vielfältigen regiona15

Vgl. L. HÜTTL, Caspar von Schmid (1622-1693), ein kurbayerischer Staatsmann aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. (Miscellanea Bavarica Monacensia 29), München 1971, L14 ff ; S. von RIEZLER, GB 7, Gotha 1913, 121 ff. " SCHLÖGL (Anm. 3), 198-261 stellt den Wandel der Staatsfinanzierung im 17. Jahrhundert ausführlich dar. "

S. v o n RIEZLER, G B 7 , G o t h a 1 9 1 3 , 1 5 4 ; G B 8, G o t h a 1 9 1 4 , 4 8 1 . SCHMELZLE ( A n m . 1 0 ) , 2 6 4 .

" SCHLÖGL (Anm. 3), 225-228 kann wichtige Zusammenhänge nicht erfassen, da er die umfangreichen Akten nur punktuell auswertet. Der Aufsatz von F. M. HUBER, Altbayerische Frondienste, eine Geschichte des Scharwerks, in: Bayerisches landwirtschaftliches Jahrbuch 68 (1991), 823-907, der die Arbeit von SCHLÖGL (Anm. 3) (1988) nicht kennt, illustriert die Scharwerksablösung von 1665/66 vor allem am Beispiel des LG Schwaben (845, 854 ff). 15 Die nur teilweise erhaltenen Kommissionsberichte (künftig zitiert: KB) und Instruktionen aus den einzelnen Gerichten der vier Rentämter (abgekürzt: RA) liegen im Hauptstaatsarchiv München, Bestand Generalregistratur ( = GR): GR 1274/10 = RA München; GR 1275/10 = RA Burghausen; GR 1276/10 = RÄ Landshut und Straubing; GR 1272/5 = LG Traunstein, Erding, Natternberg, Neuötting, Dingolfing, Rosenheim, Kranzberg). Den Berichten waren ursprünglich Statistiken über die bemeierten und öden Güter, über die Zahl der von der Scharwerk befreiten Güter, ferner über den Anteil der fürstlichen Urbarsgüter im Einzelgericht beigelegt. Sie sind größtenteils - wohl von den auswertenden Beamten - entfernt worden. Ihre statistischen Inhalte sind, sofern sie nicht im Bericht selbst einen Niederschlag fanden, verlorengegangen. Eine in der Hofkammer damals vermutlich kompilierte Gesamtgüterstatistik hat sich bisher nicht auffinden lassen. Neben dem genannten zentralen Bestand finden sich im Hauptstaatsarchiv München verstreut Einzelakten (Kommissionsberichte, Instruktionen, Dekrete, Statistiken über die Erträge sowie „Beschaidpunkte" des Scharwerksrats an die Gerichte): Finanzministerium (MF) 12. 289 sowie Hofkammerregistratur (HR) 440 Nr. 1/2. Die Berichte beziehen sich auf die Verwaltungs-

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len Aspekte der Scharwerksablösung, der Reaktion der Untertanen sowie ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage im zweiten Jahrzehnt nach Kriegsende. In der älteren Literatur 20 wird lediglich konstatiert, daß in diesen Verhandlungen das Scharwerksgeld von Fall zu Fall ausgehandelt und auf 6-8 Gulden für den Ganzhof festgesetzt wurde.

2. Die Aufgabe der Scharwerks- und Visitationskommissionen und ihr Verhältnis zu den Untertanen Aus der bereits unter Kurfürst Maximilian gemachten Erfahrung, daß die Verwirklichung der Umwandlungspläne von den Lokalbehörden behindert, wenn nicht gar vereitelt worden war, zog Caspar von Schmid 1665 die Konsequenzen. In diesem Jahr wurden aus erfahrenen und qualifizierten Beamten der Mittel- und Zentralbehörden drei Kommissionen für die Rentämter München, Burghausen und Landshut/Straubing gebildet 21 , welche den Auftrag zur Scharwerksablösung bekamen. Die Durchführung dieses Auftrags erschien der Regierung nur erfolgversprechend in Verbindung mit einem zweiten, nämlich dem zur Visitation der Außenbehörden. Den Kommissionen wurden Vollmachten erteilt, jeden Widerstand gegen die geplanten Scharwerksverhandlungen mit den Untertanen zu brechen und gegen vorliegende dienstliche Verfehlungen scharf einzuschreiten. Die Visitationsinstruktion vom 2. 5. 166522 hielt die Kommissionen an, dem Vorwurf der Veruntreuung von Gebühren und Geldern durch die Gerichts·, Kasten-, Maut- und Zollbeamten nachzugehen. Die Durchsicht von Verhör- und Briefprotokollen sollte ergründen, ob Straf-, Abschiedsund Briefgelder widerrechtlich erhoben worden waren. Auch die VerrechFortsetzung Fußnote von Seite 95 einheit der fürstlichen Land- und Pfleggerichte (einheitlich abgekürzt: LG) sowie ihre Untereinheiten der Obmannschaften (abgekürzt: Obm). 20 W. X. A. Frh. von KREITTMAYR, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem Teil II, Kap. 11, o. O., o. J. ca. 1774; A. KOPF, Die Grundherrlichkeit in den älteren Bestandteilen des Königreichs Baiern, Landshut 1809, 106 f; S. von RIEZLER, GB 7, Gotha 21

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1 9 1 3 , 1 5 0 ; SCHMELZLE ( A n m . 1 0 ) , 2 6 4 ; DOEBERL ( A n n i . 1 1 ) , 5 6 f ; LÜTGE ( A n m . 1 0 ) ,

121 f. Es waren drei Kommissionen mit folgenden Mitgliedern tätig: 1. Die Kommission für das RA München mit Wolf Ehrenreich von Zeilhofen, Hofoberrichter; Georg Heygl, Hofkammerrat; Dr. Johann Hayl, Hofrat. 2. Die Kommission für das RA Burghausen mit Georg Konrad Frh. von Lerchenfeld, Kämmerer, Rat und Pfleger zu Stadtamhof·, Dr. Johann Baptista Kreutt (Khreit), Hofrat; Johann Friedrich Sedlmayr, Hofkammerrat. 3. Die Kommission für die RÄ Landshut und Straubing mit Christoph Benno Frh. von Eisenreich auf Beuerpach, Kämmerer, Hofrat und Pfleger von Kranzberg; Quirinus Reifenstuel, Ratskanzler zu Straubing; Dr. Joan Baptist Leidl, Hofkammerrat. Instruktion und Gewaltbrief für die Kommissare von 2. 5. 1665 (HR 440 Nr. 1 ; GR 113/5 Nr. 5 und GR 1273/8). In dieser Instruktion wird der Traktationsauftrag einleitend nur kurz genannt (neben der ihnen der Scharberch halber ufgetragen Verrichtung). - E. ROSENTHAL, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns 2, Würzburg 1906, 399 ff, beschreibt ausführlich die Gerichts- und Beamtenvisitation, kennt jedoch den Zusammenhang mit den Scharwerksverhandlungen nicht.

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nung der Besitzveränderungsgebühren (Anfall und Abfahrt, Tisch- und Einzugsgelder) mußte überprüft werden. In Erfahrung zu bringen war, ob die Beamten die von Deponenten hinterlegten Gelder nicht zu ihrem Nutzen verwendeten. Die Prüfung der Gantakten sollte den Vorwurf der Parteilichkeit bei Vergantungen von Untertanengütern auf den Grund gehen. Die Visitation der Rauhfutteranlage-, Kirchen-, Musterungs- und Kopfsteuerrechnungen sollten ebenfalls Eigennützigkeiten der Amtleute und Beamten an den Tag bringen. Anhand von Verzeichnissen der bemeierten und öden Urbarsgüter war dem Verdacht nachzugehen, ob die Beamten die Verstiftung der Gründe zum eigenen Nutzen betrieben und damit die Bemeierung der öden Güter verzögerten. Eine spezielle, den Verhandlungsauftrag der Kommissionen erläuternde Instruktion 23 visiert als Verhandlungsziel folgende Ablösungssummen an: Von guten Ganzhöfen 12-14 und mehr Gulden, von mittleren 10-12, von schlechten 6-8 Gulden. Für die Halb- und Viertelhöfe, die Sölden und Leerhäusl waren entsprechende Teilbeträge vorgesehen. Letztlich sollten aber für die Obergrenze die von den Hofmarksherren in den einzelnen Gerichten verlangten Ablösungsbeträge ausschlaggebend sein. Klarzustellen war den Untertanen, daß mit dem Geld allein die von den landgerichtsunmittelbaren Untertanen geschuldeten ungemessenen Fuhr- und Handscharwerke (OrdinariScharwerk) abzulösen waren; ausgenommen war die Jagdscharwerk und die im Falle der Landesnot zu leistende Scharwerk 24 . Die Hauptaufgabe der Kommissare bestand in der Vorbereitung und Durchführung der Verhandlungen ( Traktationen) mit den Landgerichtsuntertanen. Eines ihrer zentralen Probleme bestand darin, auf der Grundlage der Bestimmungen des Landrechts von 161625 die Untertanen zur Einwilligung in die Ablösung zu bringen. Das Landrecht schrieb einen Vergleich zwischen Herrschaft und Untertanen vor, welcher für beide Seiten jährlich kündbar war. Die Einigung war herbeizuführen nicht mit einzelnen Unter" Original-Instruktion vom „Juli 1665" (dt. D a c h a u ) f ü r die K o m m i s s a r e im R A Burghausen ( G R 1273/7). 24 Die ablösbare Scharwerk war als „ n i e d e r e S c h a r w e r k " nur ein Teil der d e m L a n d e s h e r r n geschuldeten „ h o h e n " o d e r „ t e r r i t o r i a l e n " Scharwerk; hierzu zählten Vorspanndienste u n d T r a n s p o r t e zu militärischen Zwecken, Bauarbeiten a n Befestigungen, öffentlichen Gebäuden, Flüssen, Brücken u n d Straßen. Vgl. LÜTGE (Anm. 10), 114. K o r r e k t u r e n an seiner Einteilungssystematik bringt der Aufsatz von R. BLICKLE, Scharwerk in Bayern. Fronarbeit u n d Untertänigkeit in d e r F r ü h e n Neuzeit, i n : Geschichte u n d Gesellschaft 17 (1991), 407-433. 25 Die einschlägige Stelle im Landrecht (Tit. 22, Art. 8) lautet: Nemblich wann die Herrschafft und Underthonen sich deshalben selbs güetlich miteinander vergleichen/ so bleibt es bey solchem Vergleich und Geding/ doch daß die Underthonen hierzu nit gezwungen werden. Und obgleich die Underthonen ein Gelt versprochen/ so stehet es dennoch in ihrer Wahl/ sich nach Ausgang des Jars widerumb zu der Scharwerchlaistung zuerklären und alsdann sein sie das Gelt nit schuldig/ Deßgleichen stehet es auch in des Herrn Wahl/ die Scharwerch wider zuerfordem/ und das Gelt dem Underthonen zulassen. Aber kein Herr ist befugt/ von einem oder etlichen Underthonen/ das Scharwerchgelt zubegern/ und von den andern die Scharwerch zu erfordern/ Sonder es soll hierinnen ein Gleichheit gehalten werden Es folgen S o n d e r b e s t i m m u n g e n f ü r einschichtige Güter der H o f marken.

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tanen, sondern - zur Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung mit dem gesamten Untertanenverband, dessen Zusammensetzung und Umfang das Landrecht nicht näher beschrieb. Für den hier relevanten Bereich der landgerichtischen Untertanen sollte es die Obmannschaft sein, welche meist als die unterste Verwaltungseinheit des Landgerichts bezeichnet wird 26 . Das Landrecht bot somit ungünstige Voraussetzungen hinsichtlich des gesetzten Ziels einer landesweiten und auf Dauer angelegten Geldablösung. Dem bäuerlichen Denken war die Einsicht in die Vorteile des Wirtschaftens ohne die Last der Naturalscharwerk schwer zu vermitteln. Tatsache war, daß die den landgerichtsunmittelbaren Untertanen abverlangte Scharwerk gering war verglichen mit jener, welche Hofmarksuntertanen zu leisten hatten; hinzu kam, daß sie mancherorts nur in größeren Abständen angefordert wurde. Da aber Zentralorte, die Nachbarschaft von fürstlichen Residenzen, Burgen und Jagdgründen, ferner wichtige Verkehrswege den Anwohnern unerträgliche Lasten aufbürdeten, hatte der Landesherr eine Legitimation zum Ausgleich und zur Gleichbehandlung aller seiner Untertanen. Die aus der Regierungszeit Maximilians stammende Erfahrung, daß eine freiwillige Entscheidungssituation der Bauern zu keinem Ergebnis führt, veranlaßte die Regierung, beim neuen Versuch eine echte Wahlmöglichkeit nicht anzubieten. Mit dem in der Instruktion anzutreffenden Hinweis auf Hofmarksherren, welche das Scharwerksgeld von ihren Bauern teils schon seit langer Zeit beanspruchten, wurde angedeutet, daß die von diesen praktizierte Mischung von Freiwilligkeit und Zwang in abgemilderter Form bei den bevorstehenden Traktationen mit den Landgerichtsuntertanen angewandt werden sollte. Umgekehrt war eine freie Entscheidung für das Scharwerksgeld dort nicht vorgesehen, wo das landesherrliche Interesse entgegenstand: Den Untertanen des LG Riedenburg und der um Ingolstadt liegenden kleinen Gerichte Gerolfing, Kösching und Stammham-Otting wurde weiterhin die Naturalbzw. Festungsscharwerk abverlangt 27 . Den Kommissaren standen nur ganz begrenzte Mittel zur Verfügung, auf die Mehrheitsfindung Einfluß zu nehmen. Primär sollten sie argumentativ den Untertanen die Vorteile der Ablösung der ungemessenen Scharwerk für ihren Ackerbau und andere Erwerbsformen nahelegen. In die Waagschale sollten sie dabei das Versprechen des Fürsten legen, für die Einwilligung in ein Scharwerksgeld in Zukunft alle berechtigten Beschwerden der Untertanen über ungerechte Beamte und ungleiche Lasten abstellen zu wollen. Die Kommissare hatten Vollmacht für den Fall, das ein oder der ander Underthon eines widersessigen Kopf were, von denen nichts anders als ain Aufwiglerey und Verleitung

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D i e Rolle der Obmannschaft ist in der Literatur noch völlig unzureichend untersucht. Vgl. P. FRIED, Zur Geschichte der bayerischen Landgemeinde, in: Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen (VuF 7), Sigmaringen 1964, 79-106. 2 ' N a c h den Vermerken eines Kommissionsprotokollisten (HR 440 Nr. 1) wurden in diesen Gerichten die Seharwerchssach in altem Standi gelassen.

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der Willigen zubesorgen (...), einen vorübergehenden Ausschluß dieser Personen von den Verhandlungen zu verfügen, damit sie nach dem Vergleich mit der Mehrheit umbso viel mehr zur Nachvolg Ursach haben. Im Falle einer Weigerung waren die Kommissare berechtigt, die Möglichkeit der Erhöhung der bisher geleisteten Naturalscharwerk anzudeuten; der Spielraum zwischen dem herkömmlichen Niveau und dem eines Hofmarksuntertanen war in der Regel beträchtlich. Als eine konkrete Drohung konnte der Hinweis auf die landrechtlich erlaubten Wege verstanden werden : Errichtung neuer Hofbaue oder Verkauf der Scharwerksrechte an ständische Gerichtsherren. Ferdinand Maria hat die in der Instruktion von 1665 genannten Druckmittel früh entschärft: Die Errichtung neuer Hofbaue sei nicht einfach realisierbar, erinnerte er seine Kommissare. Sofern gütliches Zureden nicht helfe, hätten sie sich hauptsächlich des Instruments der unmittelbar sanktionierten Scharwerksfuhren zu bedienen, welche vorzeitig abgeforderten Verpflichtungen gleichkamen 28 . Die mancherorts begrenzten Möglichkeiten solcher „Straffuhren" mußten den Untertanen überschaubar gewesen sein. Neu zu untersuchen und zu bewerten hatten die Kommissare die bisherigen Scharwerksbefreiungen, welche teils den Ödgütern gewährt worden waren, teils auf früheren Verkäufen oder auf Privilegierung (z.B. für die Jesuiten in den LG Vohburg und Mainburg) beruhten. Mit dem Scharwerksgeld nicht zu belasten waren beispielsweise die Untertanen von 54 Höfen ( = HFE) im LG Eggenfelden, welche - gleich wie Landauer Untertanen 29 - in den Jahren 1595/96 für 100 fl pro Ganzhof das Scharwerk auf ewige Wiederlösung abgelöst hatten und entsprechende Urkunden vorlegten. Bis ins 15. Jahrhundert gingen die Exemtionen einzelner, an der Stellung von Heerwägen beteiligter Bauern zurück. Falls die Untertanen dem ausgehandelten Ablösungskontrakt ohne Einwilligung ihrer Grundherrschaften nicht zustimmen wollten oder letztere gegen den Abschluß opponierten, sah die Instruktion Berichterstattung an den Hof vor. Grundsätzlich mußten die Kommissare in jedem Gericht die Bestandsaufnahme an bisheriger Naturalscharwerk sowie die Verhandlungsergebnisse mit den Untertanen in den Obmannschaften zum Gegenstand eines Berichts an den Geheimen Rat machen. Die Entscheidung über das Vorgehen, die Genehmigung der ausgehandelten Quoten verbunden mit Direktiven für die geplanten Entschädigungsverhandlungen mit den Gerichtsbeamten wurden den Kommissaren in jedem Gericht in eigenen Instruktionen mitgeteilt. In einigen von ihnen wird deutlich, daß Caspar von Schmid von An21

Dekret vom 6. 10. 1665. GR 1273/8. ® Die Frage des Rückkaufs der zwischen 1595 und 1605 verkauften Landauer Scharwerk wurde 1666 aufgeworfen, da der Ablösungsumme von 100 fl und einem jährlichen Zinsbetrag von 5 fl nun das Scharwerksgeld in Höhe von 8-12 fl pro Ganzhof gegenüberstand. Auf den vom Scharwerksrat erstatteten Bericht entschied der Geheime Rat (Signatur vom 29. 5. 1673; MF 12. 289), daß zuerst die versetzten Scharwerke bei den Urbarsgütern, dann bei den Kloster- und Kirchengütern abgelöst werden sollten.

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fang an den bestimmenden Einfluß auf das Unternehmen ausübte. Es stand damit unter einem günstigen Vorzeichen, denn Schmids Sympathie für den Bauernstand ist aus seinem an den Kurfürsten gerichteten Gutachten 30 bekannt: Gnädigster Herr, aus dem Ackerbau fließen hundert andere Quellen des Reichstums, und ein Land, welches von lauter Fabrikwesen lebt, ist mit einem Bauernland gar nicht zu vergleichen, und mir sind hundert wohlhabende Bauern lieber als ohne diese sechshundert Tuchmacher (...). Auch ist der Bauer ein ganz anderer Untertan als der Fabrikant. Man kann eigentlich nur von dem, der einen Grund und Boden hat, sagen, daß er herein zu uns gehöre und ein Vaterland habe, und bei Feindeszeiten würde es bald aufkommen, daß ich recht habe. Der Bauer nimmt hundertmal mehr Anteil am lieben Vaterland und am Landesfürsten als der Fabrikant".

3. Das Gerichtspersonal zwischen Kommissaren und Untertanen in den Obmannschaften Fachliche Eignung, Unbestechlichkeit und Effizienz der Beamten in den Land- und Pfleggerichten (Pfleger, Pflegverwalter, Richter und Gerichtsschreiber) sowie in den Ämtern der Finanz- und Kammerverwaltung (Kastner, Forstmeister, Zollner, Mautner und ihre Gegenschreiber) hatten durch den Krieg gelitten. Besonders die seit dem 16. Jahrhundert verbreitete Praxis, Pflegämter an verdiente Hofbeamte zu verleihen und ihre Geschäfte durch sog. Pflegverwalter führen zu lassen, hatte zu vielfältigen Belastungen der Untertanen geführt. Gesteigert wurden sie durch die Sammlungen und Abgaben an die Amtleute oder Schergen31. Aus der Erfahrung unter Maximilian war man auf einen erheblichen Widerstand der Außenbehörden vorbereitet und stellte sich dementsprechend in der Planung darauf ein. Die Gerichtsbeamten wurden von den Kommissaren nach Vorlage ihrer Vollmacht zunächst mit Nachdruck zur Kooperation aufgefordert. Sie sollten ihnen mit Informationen und Argumenten bei den Verhandlungen zur Seite stehen. Vorzulegen waren den Kommissaren die Scharwerksbücher, Gerichtsrechnungen, Aufstellungen über die öden und bemeierten Güter mit Angabe der Grundherrschaften und der zum J0 31

Zitiert n a c h DOEBERL ( A n m . 11), 86. Z u r Sicherstellung einer ausreichenden Qualifikation und Versorgung w a r e n seit 1643 Ern e n n u n g u n d Besoldung der Pflegverwalter d e r H o f k a m m e r übertragen. Vgl. R. HEYDENREUTER, Die B e h ö r d e n r e f o r m Maximilians I., in: U m G l a u b e n u n d Reich. K u r f ü r s t Maximilian [, hg. von H. GLASER, M ü n c h e n 1980, 247; KSOLL ( A n m . 10), 4 4 f f . - D e n n o c h flössen die A m t s n u t z u n g e n nicht vollständig in die Kasse des L a n d e s h e r r n , s o n d e r n teilweise in die Tasche des Pflegverwalters u n d a n d e r e r Beamter, welche überdies die Vorschriften d e r T a x o r d n u n g e n bei d e r E r h e b u n g von Taxen u n d Sportein von den U n t e r t a n e n weitgehend ignorierten.

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Feldbau benötigten Pferde. In Absprache mit den Gerichtsbeamten waren die geplanten Geldentschädigungen 32 zu berechnen, welche der Pfleger bzw. Pflegverwalter für die von ihm berechtigterweise beanspruchten Untertanenleistungen auf seinem Hofbau, und die Amtleute anstelle ihrer Einnahmen von den sog. Brotbauern in Zukunft erhalten sollten. Darüber hinaus waren die Geldbeträge zu eruieren, welche künftig für die mit Lohnarbeit und Lohnfuhrwerk zu tätigenden Dienst- und Fuhrleistungen für den Landesherrn ausgegeben werden mußten. Die Gerichtsbeamten waren also nicht nur an den Scharwerksverhandlungen mit den Untertanen beteiligte Exekutivorgane, sondern gleichzeitig Objekt intensiver Nachforschungen durch die Kommissare und die sie begleitenden Hofkanzlisten. Sie waren direkt zu befragen, ob sie Grundstücke unbemeierter Güter verstiftet hatten, ohne deren Stiftgeld abzurechnen. Ihnen waren Berichte abzuverlangen über den Umfang der von den Untertanen in den vergangenen Jahren geleisteten Scharwerk: Wem war sie zugute gekommen? Wieviel Futter und Zehrung war ausgegeben worden? Wieviel war dem Fürsten bzw. dem Hauptpfleger vom Ertrag verrechnet worden? Eine zentrale Frage an die Beamten und Amtleute war, ob sie die Scharwerk bzw. die Leistungen von ihren Gerichtsuntertanen und Brotbauern aufgrund ihrer Bestallungsbriefe, Amts- oder Bestandzettel erlangt oder sich selbst zugeaignet hatten. Zur Überprüfung der Angaben und Abrechnungen hatten die Kommissare - in der Vorgehensweise der Rentmeister - die Untertanen über das Ausmaß der geleisteten Scharwerksdienste bzw. die Summen des dafür freiwillig erlegten Geldes zu befragen. Nach dem im LG Erding verwendeten Fragenkatalog deckten die an die Untertanen gerichteten Fragen alle Bereiche der Landgerichtsverwaltung ab: Strafverhör, Kirchengutsverwaltung, Rauhfutter, Gant, Musterung, Güterbemeierung, Urbargüter, Steuer, Scharwerk und den Aigennutz der Beamten. Bei Verfehlungen in der Verwaltung, besonders bei einem Versuch der Beamten, Amtleute und Gerichtsprokuratoren, die Einwilligung der Untertanen in das Scharwerksgeld zu verhindern, gab die Instruktion den Kommissaren Vollmacht, sie mit Arrest oder Gefencknis pro qualitatepersonarum alsbald oder wohl nach Gestaltsame des Verbrechens nacher München liffern (zu) lassen. Dieser Umgang mit den Lokalbehörden erinnerte an die besten Zeiten Maximilians.

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Ein Verzaichnus, was die kj7. Beamten und die Amtleute von den Scharwerchgeldern empfangen ( G R 1273/9) n e n n t für die R e n t ä m t e r f o l g e n d e S u m m e (jeweils f ü r die Beamten bzw. Amtleute in G u l d e n ) : M ü n c h e n 3461 + 3296; Burghausen 1485 + 422; L a n d s h u t 2503 + 3406; Straubing 1895 + 1528. G e s a m t s u m m e f ü r d i e Beamten 9344, f ü r die A m t l e u t e 8652 G u l d e n . Die vier R e n t ä m t e r lassen also g r o ß e U n t e r s c h i e d e in den Verwaltungs- u n d Besoldungsstrukturen erkennen. Die Brotbauern d e r Amtleute w u r d e n 1665/66 teils abgelöst, teils b e s t a n d e n sie weiter.

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4. Die Auswertung der Kommissionsberichte a. Formen des Widerstands gegen das Scharwerksgeld, die Reaktion der Kommissare und der Landesherrschaft Die an den Geheimen Rat gesandten Kommissionsberichte und die von dort erteilten Instruktionen und Direktiven lassen, obgleich nicht vollständig erhalten, für zahlreiche Gerichte und die wichtigsten Regionen Altbayerns die Haltung der Untertanen in der Ablösungsfrage erkennen. Die Möglichkeit der Ablehnung war ihnen bekannt, teils aus der Zeit Maximilians, teils aus den Angeboten der jüngst vergangenen Jahre. Wie würden sie sich nun verhalten, wenn der Landesherr nicht mehr zum Einlenken bereit war und zu Mitteln griff, die aus der Herrschaftspraxis der Hofmarksherren stammten? Der Landesherr wollte es dieses Mal nicht auf langwierige Verhandlungen ankommen lassen; er wollte sich auch nicht jedes Zwangs (...) enthalten, wie Friedrich Lütge33 annimmt. Die Kommissare standen deshalb unter starkem Zeit- und Erfolgsdruck, welcher manchmal zu nervösen Reaktionen und zu schroffem und hartem Umgang mit den Untertanen führte. Wegen des der Münchner Zentrale zu langsam erscheinenden Vorgehens im Innviertel wurden die im RA Burghausen tätigen Kommissare Ende August 1665 kritisiert und unmißverständlich zu größerer Eile aufgefordert; sie sollten sich in keinem Gericht länger als 14 Tage aufhalten 34 . Diese Anweisung galt sicherlich auch für die anderen Kommissionen, welche zur Bewältigung der umfangreichen Visitationsaufgaben und Verhandlungen in großen Gerichten länger gebraucht hatten, z.B. in Erding vom 9.-29.Mai. Besonders einige frühe Kommissionsberichte schildern ausführlich das Vorgehen, wenn bei den Verhandlungen Schwierigkeiten auftraten. Das LG Erding, wo am 9. Mai die Visitation und nach Anfertigung der Statistiken der bemeierten und öden Güter am 18. Mai die Verhandlungen begannen, stand nicht zufällig am Anfang der Route der Kommission für die Rentämter Landshut und Straubing. Von dem auf reichen Getreideböden gelegenen Gericht, dem größten und bevölkerungsreichsten Altbayerns, waren hohe Ablösesummen zu erwarten. Da von den ca. 2700 landgerichtsunmittelbaren Untertanen ( = 6 5 % aller Gerichtsbewohner) die überwiegende Mehrheit geistliche Grundherren hatte, unter ihnen auch einige geistliche Reichsstände (z. B. das Hochstift und Domkapitel Freising, die Fürstpropstei Berchtesgaden), war in der Auseinandersetzung mit den Grundherren die Probe aufs Exempel zu machen. Hier konnten die Kommissare ihre ersten Erfahrungen mit „widersässigen" Untertanen sammeln : Von den 84 Obmannschaften ließen sich auf sehr miehesamb und "

LÜTGE ( A n m . 10), 121.

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Schreiben des Kurfürsten an die K o m m i s s a r e Lerchenfeld, Kreitt u n d Sedlmayr (dt. München 30. 8. 1665; G R 1272/5 Neuötting f. 1).

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bewegliches Zuesprechen immerhin 74 zu einem mäßigen Scharwerksgeld von 8 Gulden gewinnen 35 . Einigen kam man ihrer Armut halber mit Quoten von 7 oder 6 Gulden (Obm Talham, Teufenbach) entgegen. Höhere Quoten waren auch bei Hofmarksuntertanen dieses Gerichts selten 36 . Und selbst dieses Ergebnis war den Erdinger Landgerichtsuntertanen nur abzuringen gegen das Versprechen, das allgemeine Brotbauerngeld und die Kornsammlungen für Amtleute und Überreiter, die Hirschjagd während der Ernte und die Fuhrleistung bei Wolfs- und Schweinejagden abzuschaffen. Um den Verzicht auf die durchgehende Jagdscharwerk, also jede Art von Leistung bei der fürstlichen Jagd, dem in diesem Punkt kompromißlosen Fürsten akzeptabel zu machen, wiesen die um einen Verhandlungsabschluß bemühten Kommissare auf die großen Belastungen hin, welche den Untertanen Anlaß bieten könnten, bald ein Meitterey an(zu)fangen und das Scharwerchgelt inskhönßig (zu) verwaigern, zemahlen sie ohnedas zu der Scharwerch in natura vili genaigter sind17. Ferdinand Maria schien jedoch eine derartige Entwicklung nicht zu befürchten. Bei den übrigen Erdinger Obmannschaften, die teils zu den wohlhabendsten (Amt Berglern), teils zu den ärmsten (Amt Reithofen) des Gerichts gezählt wurden, verfingen weder Drohungen noch Versprechen. Sie waren nicht einmal zu 4—6 Gulden bereit. Schnelle Strafmaßnahmen gegen die „Widersässigen" ließen sich nicht ohne weiteres finden. Zur Errichtung eines Hofbaus gab es unter den wenigen öden Gütern des Gerichts kein einziges landesherrliches Urbarsgut. Bezogen auf den Wohnsitz der betroffenen Untertanen hätte es überdies im Umkreis von einer Meile liegen müssen, auf den das Landrecht (Tit. 21, Art. 5) derartige Scharwerksleistungen eingrenzte. Die Drohung, sie den Amtleuten als Brotbauern zu überlassen und den Rest mit der Scharwerk an Adelige zu verkaufen, veranlaßte Ende Mai einige weitere Obmannschaften zum Einlenken. Die übrigen sollte der Pflegverwalter zur Räson bringen. Die Weigerung des Kurfürsten, die in den LG Erding und Rottenburg vereinbarte Einschränkung der Jagdscharwerk hinzunehmen, stellte Ende August das bisher Erreichte erneut in Frage 38 . Am 1. Oktober wurden die Vertreter der Obmannschaften (die Obleute und 6 Untertanen von jeder Obmannschaft) zu erneuten Verhandlungen über die Jagdscharwerk vom Pflegverwalter einberufen. Der von den Bauern gebildete „Ausschuß" bekundete erneut, daß sie sich niemals freiwillig zur Bezahlung eines Scharwerksgeldes bereit erklärt, sondern die Kom-

3S

KB vom 19. , 23. und 29. Mai, 27. August 1665. Bericht des Erdinger Pflegers vom 14. Dezember 1665. GR 1272/4. " Die Hofmarksuntertanen im LG Erding verrichteten überwiegend die Naturalscharwerk. Das Scharwerksgeld betrug 6 fl in der Hfm Tegernbach, 4 Π in der Hfm Taufkirchen; nur einschichtige Untertanen zahlten 12-14 fl pro Ganzhof, die aber schon bei der Gutsverstiftung paktiert worden waren, ein Verfahren, welches die Kommissare auch für die künftige Verstiftung von (öden) Urbarsgütern empfahlen. " KB vom 19. 5. 1665. 38 KB vom 27. 8. 1665 (dt. Straubing).

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missare stets um ein Belassen bei der Naturalscharwerk gebeten hätten. Manche Bauern gaben auch zu, durch ihre Grundherren zu ihrer Haltung merkhlich instigirt und animiert worden zu sein, wie der Erdinger Beamte berichtete. Erst die Verhandlungen am 7. November, an welchen der Scharwerkskommissar Leidl teilnahm, führten zu Teilerfolgen 39 . Der Hinweis auf die inzwischen erfolgte Einwilligung fast aller Landgerichte des RA Landshut, die Androhung großer Naturalscharwerk, vor allem aber der zu erwartenden Ungnade des Fürsten, weill sye nit änderst als fiir widersessige Underthonen zehalten seindt, indeme sye die Ausreittung ( = Ausrottung) des so vilfeltig beclagten Wildts und also zu ihrem aigen Nutzen angesechen Geiaidtscharwerch nit verrichten (...), veranlaßte die Obmannschaften von sechs der acht Ämter zu der Erklärung, wanns ie nit änderst sein khöndte, müessen si woll parirn, sowoll das Scharwerchgeld bezallen, als auch die begehrte Geiaidscharwerch verrichten. Zehn der zwölf Obmannschaften des Amtes Berglern und alle im Amt Reithofen waren zum Nachgeben nicht zu bewegen. Sie erwarteten — wie sie erklärten - jede Art von Scharwerk, es gehe ihnen wie der Liebe Gott wolle (...). Nachdem ihnen das Ausmaß der sie erwartenden Naturalscharwerk, welches ihnen der Fürst den Landrechten gemäß zumuten wollte, bekanntgegeben worden war, willigten im Dezember die Obmannschaften von Berglern versuchsweise auf ein Jahr ein; das gesamte Amt Reithofen bot aber nicht mehr als vier Gulden 40 . Der Kurfürst wollte die auf gewisse Conditiones ausgestellte Einwilligung nicht annehmen und überließ jedem Amtmann acht, jedem Amtsknecht vier Ganzhöfe. Jedes der betroffenen Anwesen sollte eine Brotbauernanlage (10 Gulden pro Ganzhof) bezahlen 41 . Erst zu diesem Zeitpunkt der Auseinandersetzung wagte einer der größten Grundherren des Gerichts die offene Einmischung. Die Verweigerung des Paktierens auf ein Jahr veranlaßte den Freisinger Bischof Albrecht Sigmund zu einem Schreiben an seinen Vetter Ferdinand Maria. Er könne nicht glauben, daß der Kurfürst im Widerspruch zu den klaren Bestimmungen des Landrechts seine und andere Grunduntertanen wider ihren Willen stricte erfordert habe, sich neue Lasten aufzubürden 4 2 . Dieser milde Protest beeindruckte Ferdinand Maria in keiner Weise; noch im Frühjahr 1666 scheint er das Nachgeben der restlichen Erdinger Bauern erreicht zu haben. Den Vertretern Erdinger Ehaftberufe, die teilweise trotz eines entge39

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Berichte des E r d i n g e r Pflegverwalters vom 1. 10., 7. 11. u n d 14. 12. 1665, a u f w e i c h e Anweisungen des Fürsten v o m 20.10. und 21.11. 1665 folgten (f. 33-38). N a c h einer Liste von O b m a n n s c h a f t e n v o m 10. 12. 1665, die sich auf khain bestenndigs ( = Scharwerksgeld auf m e h r als ein Jahr) eingelassen, betrug die S u m m e dieser U n t e r t a n e n insgesamt 127 H o f f u ß e i n h e i t e n = H F E ( G R 1272/4, f. 41, 42), also 12 Prozent aller landgerichtsunmittelbaren U n t e r t a n e n (f. 10: 1027 H F E ) . Befehlsschreiben des Fürsten vom 10. 1. u n d 31. 3. 1666 (f. 45,53). N a c h d e m der K u r f ü r s t das Angebot der R e i t h o f e r Untertanen mit 4 fl noch E n d e März zurückgewiesen hatte, d ü r f t e er den von d e r H o f k a m m e r gemachten K o m p r o m i ß v o r s c h l a g vom 21. Mai (f. 55: weil doch die Nolh und Armuth bey ihnen so groß) a n g e n o m m e n h a b e n . Schreiben vom 17. 2. 1666 dt. Freising ( G R 1272/5, f. 45).

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gensprechenden Mandats von 165943 ihre angeblich traditionelle Scharwerksfreiheit durchsetzen wollten, erteilte er eine klare Absage 44 . Mit Sicherheit ist der lange Widerstand einiger Erdinger Obmannschaften 45 als Folge der Ermunterung durch die Grundherren zu verstehen. Auffallend ist, daß in keinem weiteren Bericht der drei Kommissionen ein offener Widerspruch von Grundherren gegen die Scharwerksablösung erwähnt wird, obwohl die Instruktion mit diesem Fall gerechnet hatte. Mit Blick auf das Ausmaß der in den Hofmarken verlangten Scharwerksgelder und die Methoden ihrer Erlangung, über welche sich die Kommissionen in den einzelnen Gerichten informierten, fanden die Grundherren anscheinend keine Argumente gegen das Prinzip der Ablösung und die Höhe des landesherrlichen Scharwerksgeldes. Erst die mancherorts vorkommende Doppelbelastung mit Naturalscharwerk und Geld, wobei es sich offensichtlich um Übergriffe der Außenbehörden handelte, gab den Ständen auf dem Landtag von 1669 eine Handhabe zur Beschwerde 46 . Nicht zutreffend war jedenfalls die Behauptung der Regierung auf diesem Landtag, es sei in das Belieben der Untertanen gestellt, die Naturalscharwerk zu leisten oder das nicht übermäßige, zudem durch die Entschädigungen an die Beamten geschmälerte Scharwerksgeld zu zahlen. Sie war in Wirklichkeit nicht bereit, die teilweise mit Druck herbeigeführte Entscheidung für das Scharwerksgeld zurückzunehmen und die landrechtlich garantierte jährliche Wahlmöglichkeit einzuräumen. In der Haltung zur freien Entscheidung der Untertanen in der Scharwerksfrage unterschied sich die Regierung nicht mehr von den Ständen. Die Auseinandersetzungen mit Bauern und Grundherren im LG Erding, welche die Kommissionsarbeit in den niederbayerischen Rentämtern einleiteten, schienen die Fronten geklärt zu haben. Einerseits hatte der Landesherr seine feste Entschlossenheit zur Scharwerksablösung demonstriert, andererseits war den Bauern die Paktierung auf einem als maßvoll zu bezeichnenden Niveau gelungen. Die durch den langen Wi43

Nach dem Mandat vom 31. 5. 1659 (GR 1281/30, Abschrift) sollen die Gerichtsbeamten die in einigen Gerichten herkömmlichen Scharwerksbefreiungen von Mesnern nicht berücksichtigen und durchgehende Gleichheit halten, sich dabei von den Einreden und Anmaßungen von den Geistlichen oder anderen nil irren lassen (...). Der Pfleger von Schwaben erhielt einen Verweis, weil er dem geistlichen Gericht in Freising, an welches die Mesner appellierten, geantwortet hatte. Die Freisinger Geistlichkeit mische sich zunehmend in Temporalia ein! Einer Exemtion der Mesner von der Scharwerk, welche der Prälatenstand in seinen Gravamina verlangt hatte, war auf dem Landtag von 1612 seitens des Fürsten widersprochen worden mit dem Hinweis, daß diese auf dem Grundbesitz fundiert sei. Vgl. von F R E Y BERG ( A n m . 1 1 ) , 4 5 f .

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Mit Bescheid vom 20. 3. 1666 wurde das Ansuchen der Erdinger Bader, Schmiede, Mesner und Feldhüter, die als Ehehafft- und gemaine Dienner vorhero niemals die ringste Scharwerch verrichtet (Bericht des Pflegers vom 14. 2. 1666) hätten zurückgewiesen (f. 32,50): Es sei Sache ihrer Gemeinde, ihnen die Last des Scharwerksgeldes abzunehmen. " Das Erscheinen des in Bearbeitung befindlichen Historischen Atlas' für das LG Erding wird die Möglichkeit bieten, das Verhalten einzelner Obmannschaften vor dem Hintergrund der grundherrlichen Besitzverhältnisse näher zu beleuchten. 46

Vgl. S. v o n RIEZLER, G B 7, G o t h a 1913, 150.

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derstand der Erdinger Obmannschaften erzielten Ergebnisse prägten die Verhandlungen in den folgenden Gerichten. Das ist bereits erkennbar im LG Kirchberg, wo die Obmannschaften in der Auseinandersetzung des Landesherrn mit den Regensburger Reichsständen und ihren Besitzungen im Gericht seit dem 15. Jahrhundert eine starke Stellung gewonnen hatten 47 . In diesem Gericht, in dem nur ein Drittel der Gerichtsuntertanen dem landesherrlichen Niedergericht unterstanden, wurde den beim Eintreffen der Kommissare bereits versammelten Obleuten nach einem Vortrag der Auftrag erteilt, bei ihren Obmannschaften zu klären, was und wievil Gelt (...) sy geben wollen, und zwei Tage später mit anderen Bevollmächtigten wieder zu erscheinen. Die 23 Obmannschaften traten am Versammlungstag mit meist 2-6 Vertretern, welche im Bericht als Deputierte und Abgeordnete bezeichnet werden, den Kommissaren der Reihe nach gegenüber. Die Obm Hirschling hatte nicht weniger als 16, die Obm Haindlingberg 12 Vertreter, darunter eine Frau in Stellvertretung ihres Mannes 48 . Nach dem Vorbringen ihrer Beschwerden sprachen sich zuerst mehrere Gruppen für die Beibehaltung der als gering bezeichneten Naturalscharwerk aus, willigten aber schließlich ohne längeren Verzug in einen Betrag von 8 fl pro Ganzhof ein. Wie die Berichte in Landgerichten mit kleinen Gütern und einer breiten Söldnerschaft (z. B. im LG Teisbach 49 ) zu erkennen geben, spielten die Vertreter dieser Gruppen in den Verhandlungen neben den Bauern eine maßgebliche Rolle. Lediglich zwei Gruppen verweigerten im LG Kirchberg die Zustimmung. Die Deputierten der Obm Oberergoldsbach, welche im Namen der Gemain die Immunitet50 praetendir(en), erklärten, daß sie - von einem halben Tag Heufahren für den Pfleger abgesehen - nie Scharwerk geleistet hätten. Wann immer an sie Forderungen gerichtet wurden, hätten sie sich an den Rentmeister gewandt und stets Befreiung erlangt, was sie auch in diesem Fall tun wollten. Die Obm Hadersdorf verweigerte die Zustimmung wegen ihrer Gravamina gegen die hohe Hoffußbelegung. Als besonders nachgiebig wird die Bevölkerung des Bayerischen Waldes in den Berichten dargestellt, obwohl ihr ein unzumutbar hohes Scharwerksgeld aufgedrängt wurde: Als die Kommission Mitte November mit 47

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Mit dem Reichsstift Obermünster waren die Streitigkeiten um Sallach und Geiselhöring erneut 1640 und 1655 aufgeflammt und konnten erst 1763 beigelegt werden. Vgl. G. PÖLSTERL, Mallersdorf (HAB, Teil Altbayern, H. 53), München 1979, 175. - KB vom 8. 6. 1665. Nach P. WILHELM, Rechtspflege und Dorfverfassung, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 80 (1954), 76 galt bei Gmainversammlungen Anwesenheitspflicht der Männer; die Vertretung durch Frauen sei als Unsitte empfunden worden. Im vorliegenden Fall wird das Auftreten der Frau im Kommissionsbericht nicht kritisch kommentiert. Während sich in diesem Gericht alle übrigen Obmannschaften zu 6-8 fl neben der durchgehenlen Geiadscharwerch überreden ließen, fanden sich die Obm Siegensdorf und Prinkhofen zwar zu 8 fl, nicht aber zur unbegrenzten Jagdscharwerk bereit. In der Obm Loiching haben sich nur die Sölden, die Bauern aber gar nit accomodirt. MF 12. 289 (KB vom 20. 6. 1665). Hier in der Bedeutung: Freiheit von der Scharwerksverpflichtung bzw. vom Scharwerksgeld.

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dem LG Deggendorf 51 die Verhandlungen in den nördlich der Donau gelegenen, ertragsarmen Gerichten des RA Straubing einleitete, führte sie durch ihr Bestehen auf 8 Gulden pro Ganzhof ein überhöhtes Verhandlungsergebnis herbei. Sie wollte mit diesem Manöver verhindern, daß in den folgenden, teilweise noch ärmeren Gerichten der Betrag zu stark abfiel. Nach ihrem Kalkül sollten nach Abschluß der Verhandlungen den ärmeren Gerichten Moderation gewährt werden. Die Folge dieses auch in anderen Rentämtern geübten Taktierens war, daß das Niveau von 8 Gulden nicht nur in den Gerichten der Vorberge (Linden, Mitterfels), der Chamer- und Regensenke (Cham, Regen, Kötzting, Viechtach), sondern auch in jenen des Hinteren Waldes (Furth, Neukirchen, Diessenstein, Bärnstein) gehalten wurde. Mit Ausnahme einiger Obmannschaften in den Landgerichten Regen 52 und Cham 53 fügten sich die Wäldtier über vorheriges starckhes Lamentirn überall der bestimmten Verhandlungsführung der Kommission, vor allem auf deren Zusicherung eines Entgegenkommens im Falle ihrer Zahlungsunfähigkeit. Einige an den Fürsten gerichtete Petitionen 54 , insbesondere aus dem LG Regen, versuchten zu verdeutlichen, daß das Waldgebiet nicht die gleiche Last tragen konnte wie jene fruchtbaren Gebiete, wo ain Hof sovil als aida aiti ganzes Dorf zupawen hat. Ein ähnlicher Vorgang des Taktierens ist bei der Burghausener Kommission im LG Trostberg zu beobachten. In diesem vom Krieg verschonten Rentamt glaubten die Kommissare überdurchschnittlich hohe Ablösungssummen durchsetzen zu können. Nachdem sie in den reichen Ge51

KB vom 17. 11. 1665: Er führt über die Untertanen aus, daß ihre Anwesen ganz an dem Waldt ligen, auch was schlechte Pau und Gründ diselben haben, ingestalten sye die Speis gleichsamb nie erpawen (...), sondern vielmahl den Samen erkaufen und in großer Armuth leben müssen (...). Es wäre ungünstig gewesen, (...) wann man diesorths weit gefallen were, da Deggendorf der erste Orth an dem Waldt ist, worauf andere so noch schlechter seind, folgen. Diese Begründung wird im Kommissionsbericht über das LG Regen modifziert wiederholt: (...), daß wir besorgt, es werde gleich ein böse Consequenz gegen Viechtach und andere bessere Orth abgeben, daher wir für thunlich erachtet, daß man von Anfang auf bemelten Gelt tradire und ihnen gleichwohlen hernach, wann der Wald expedirt sein würde, dasselbe dergestalt moderire, wie es ir grosse Nott und Armueth erfordert (...). 52 Es handelt sich um insgesamt 14 Ganz-, 49 Halbhöfe und 3 Bausölden in den Hauptmannschaften Schönanger, Reichertsried, Unterneumais, Hangenleithen, Mitterbichl und Kirchberg des LG Regen. - Der Grundherr fast aller dieser Untertanen war das Kloster Niederaltaich. Dessen Untertanen im LG Hengersberg hatten bei der Traktation vorgebracht, daß sie diesem Kloster v/7 Gültscharwerch (...) verrichten, auch grosse Diensten abstatten müssen. " Von den 41Ά Höfen ( = HFE), 24 Sölden und 8 Häusl, die sich im LG Cham nicht auf eine Ablösung einlassen, ist nach Meinung der Kommission nit zuzweißen, daß wann die übrige leidenlich gehalten und dise mit der gezimenden Scharwech inmitls angestrengt, auch dise verwilligen werden (...). Man wollte also mit Geduld und leichtem Druck mittels der Naturalscharwerk ans Ziel kommen. 54 Hofkammerrat Johann Baptist Leidl (Schreiben dt. München 7. 4. 1666) empfiehlt aufgrund dieser Petitionen eine Senkung von acht auf sechs Gulden: Bei ihrer Verhandlungstaktik sei ihm gleich vom Anfang an klar gewesen, das dise ( = Bittsteller aus dem LG Regen) und andere in der Waldtrefir entlegene Underthonen die pactirte 8 fl nit werden geben khinden. Er wehrt sich aber energisch gegen die in einer Bittschrift erhobene Behauptung, den Untertanen sei mit Geschriften ernst anbefohlen worden, die acht Gulden zu akzeptieren. Der Vorgang zeigt das schnelle und sensible Reagieren des Geheimen Rats, der die Beschuldigung aufgriff und die Kommission umgehend zu einer Stellungnahme veranlaßte.

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richten des Innviertels (Schärding, Ried, Braunau) unter großem Druck auf die Untertanen - wie die spärlichen Quellen andeuten - den ganzen Hof auf 20 fl gebracht hatten, wurden sie durch die ganz anderen Verhältnisse im LG Trostberg vor große Probleme gestellt. Da sie das Niveau der Landstände, welche in diesem Gericht von einem Viertelacker ( = Viertelhof) nur 2-3 fl verlangten, nicht übersteigen konnten, befürchteten sie, daß dieser Satz das Ablösungsergebnis in den ausstehenden Gerichten des RA Burghausen präjudizieren und dem Kurfürsten vili 1000 fl. Schaden bringen könnte. Der Kurfürst und der Ratsvizekanzler Caspar von Schmid entschieden sich für den Abbruch der Verhandlungen in Trostberg; die Wiederaufnahme im folgenden März führte das gewünschte Ergebnis von 10-16 Gulden für den Ganzhof herbei 55 . Die Zwischenzeit wurde genutzt, um in anderen links des Inns gelegenen Gegenden an die Innviertier Werte anzuknüpfen. Das gelang in den fruchtbaren Gerichten Neumarkt und Neuötting. Als sich im LG Neuötting mehrere Obmannschaften einem Abschluß widersetzten, wurden die 12 wortführenden Bauern zum Scharwerken auf den Hofbau in Mörmoosen verwiesen, einige weitere Bauern, welche auf die Vorladung hin nicht erschienen waren, in Handschellen vorgeführt und im Amtshaus Neuötting gefangengesetzt. Diese Maßnahmen bewirkten, daß bereits am fünften Verhandlungstag die meisten Bauern sich auf ein Scharwerksgeld von 20 fl pro Ganzhof einließen 56 . Mit ähnlichen Anfangsschwierigkeiten kämpfte die Kommission für das RA München, dessen südliche, alpennah gelegene Gerichte keine guten Verhandlungsergebnisse versprachen. Aus unbekannten Überlegungen machte man dennoch hier den Anfang. Beträchtlichen Widerstand setzten einzelne Gerichte des Münchner Oberlands den Kommissaren entgegen, so daß man bereits Ansätze der vierzig Jahre später im Oberländer Aufstand gezeigten Haltung zu spüren glaubt. Mit einem Mißerfolg endeten die Verhandlungen im LG Weilheim 57 im Juli 1665. In diesem Gericht waren zwar keine Ödgüter mehr vorhanden, doch erschwerten ungünstige Umstände die Verhandlungen: Gravamina gegen die Beamten, Klagen über große grundherrliche Lasten, gartende Soldaten und verheerende Unwetter im Vorjahr. Die Obm Etting und Magnetsried beharrten auf der Naturalscharwerk. Die folgenden Obm Seeshaupt, Wielenbach und 55

Die Kommissare halten Caspar von Schmid für den eigentlichen Entscheidungsträger im Geheimen Rat und in der Regierung: Gleichzeitig mit dem Schreiben der Kommission (Georg Konrad von Lerchenfeld, Johann Baptist Leidl, Friedrich Sedlmayr) an den Fürsten (dt. 1. 8. 1665) richtete Lerchenfeld ein Schreiben an den Geheimen Ratsvizekanzler. In diesem Schreiben schlägt Lerchenfeld eine Verschiebung der Trostberger Traktation vor. In beiden Schreiben wird von den sehr clainen Höf und Viertlacker im LG Trostberg und den negativen Konsequenzen der Festsetzung einer Quote von 2 fl 30 kr pro Viertelacker auf die Rentämter Burghausen und München gesprochen. " KB vom 5. 9. 1665. Die Kommissare planten einen Abschluß der Verhandlungen bis zum 12./13. September, um anschließend nach Braunau zu gehen. 57 KB vom 16. 7. 1665.

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Haunshofen schlossen sich ihnen an. Während hier einige Söldner Bereitschaft zum Abschluß zeigten, verhinderten die Bauern die Mehrheitsbildung. Einige Bauern aus Pähl zeigten sich besonders hartneckig und widersessig und wurden deshalb von den Verhandlungen ausgeschlossen. Obwohl manche der 12 Obmannschaften drei- und viermal thails insgesambt, thails absonderlich die Obleith und Dorffsführer vorgeladen wurden, ließ sich keine zu einem höheren Angebot als 1-3 Gulden bewegen. Die Obm Hofheim, welcher fast ausschließlich Untertanen geistlicher Grundherren angehörten 58 , war zu keinerlei Zugeständnis bereit. Über den weiteren Verlauf der Verhandlungen bis zur Einigung auf 6 fl für den Ganzhof schweigen die Quellen. Die Situation in diesem Gericht überrascht um so mehr, da die Literatur davon ausgeht, daß hier - von Ansätzen im 16. Jahrhundert abgesehen - die Obmannschaftseinteilung nicht durchgeführt wurde 59 . Nicht mit Obmannschaften, sondern mit „Dorfschaften" verhandelten die Kommissare im LG Mering 60 . In diesem Gericht, in dem der Bericht eine stattliche Zahl von Ödgütern und schwere Getreidedienste der Untertanen erwähnt, begann man mit dem Dorf Mering, der vornehmbste(n) Dorfschaft, auf welche alle yberige Underthonen ir Absechen gerichtet. Das selbstbewußte Auftreten seiner Vertreter entbehrt nicht komischer Züge. Ihr Widerstandsgeist erwies sich schließlich doch als brüchig, nachdem sye von 6 in 8 mahlen abgetretten, sich von neuem underreth und Zusammenkonfften gehalten, iederzeit und endtlich ain für allemal all beweglich und ernstlichen Zuesprechens mit diser Erclerung erschinen, daß sy khein Scharwerchsgelt geben khunden. Die Anordnung von 10 Getreidefuhren von Friedberg nach München ließ sie auf ein Angebot von vier Gulden einschwenken, welches bald auf sieben Gulden hochgetrieben war. Den Untertanen jener Gerichte, in welchen die Kommissare erst im Frühjahr 1666 eintrafen, und das war bei einer Reihe überwiegend gebirgsnaher Gerichte des RA München der Fall, mußten wichtige Informationen über die Arbeitsweise der Kommission bereits vorgelegen haben. Sie bestärkten offensichtlich deren Widerstandshaltung: Bei den Verhandlungen im LG Wasserburg 61 im Februar 1666 war nicht die Obmannschaft, sondern die Pfarrgemeinde die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Organisationseinheit des Landgerichtsvolks 62 . Die zuerst vorgela58

Vgl. D. ALBRECHT, LG Weilheim (HAB, Teil Altbayern, H. 4), München 1952, 13.

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ALBRECHT ( A n m . 5 8 ) , 9 .

60

KB vom 12. 9. 1665. - S. HIERETH, Die LG Friedberg und Mering (HAB, Teil Schwaben, H. 1), München 1952, 5,10 stellt im Musterungsbuch des LG Mering von 1522 eine Einteilung in „Obmannschaften und Dörfer", in den Steuerbüchern eine nach „Dorfschaften" fest. Er nimmt an, daß einer der Dorfvierer die Aufgaben des Obmanns übernahm. " KB vom 4. 2. 1666. " Vgl. T. BURKHARD, Die LG Wasserburg und Kling (HAB, Teil Altbayern, H. 15), München 1965, 143 ff über das Verhältnis von Pfarr- und Ämtereinteilung im LG Wasserburg. Sie stellt eine Obmannschaftseinteilung in diesem Gericht erst in der Konskription von 1752 fest, will aber nicht ausschließen, daß es vorher keine solche gegeben hat.

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denen Vertreter der Pfarreien Rott und Pfaffing gingen auf das Zureden der Kommissare nicht ein, ließen sich auch durch Drohungen nicht einschüchtern. Nach dem Kommissionsbericht sind sie von den Verhandlungen genzlich darvon gegangen mit diser Erclerung, daß sye die Scharwerch, welche man ihnen mit Recht anfallen khan, erwartten wollen. Erst als die Vertreter der Pfarreien Edling und Attel sich zu acht Gulden bereit erklärten, schlossen sich ihnen die erstgenannten Pfarreien an unter dem Eindruck des Arguments der Kommissare, sie seien unter mehr als vierzig Gerichten die einzigen, die das Geld verweigerten. In der als merklich ärmer bezeichneten Pfarrei Rieden, in welcher sich eine größere Zahl kurfürstlicher Urbarsuntertanen befand, wurde eine Quote von sieben Gulden zugestanden. Im LG Tölz wurde unter Androhung von Scharwerksfuhren die Quote von 3 auf 6 Gulden gesteigert, doch die Mehrheit der Untertanen verweigerte die Zustimmung. Wiederum das Interesse an den eigenen Urbarsuntertanen 63 scheint in Tölz bei der Festsetzung der sehr niedrigen Quote von drei Gulden den Ausschlag gegeben zu haben. Auch in den reichen getreidebauenden Gerichten im Norden des RA München sind widersässige Obmannschaften nachzuweisen. Unbeeindruckt davon, daß die „Dörfer" und „Dorfschaften" 6 4 der übrigen Ämter des LG Vohburg 65 auf das Drängen der Kommissare sieben, zuletzt neun Gulden bewilligt hatten, wichen die Untertanen des Amtes Siegenburg kein Zollbreit von ihrem Angebot von sechs Gulden ab, selbst als die Kommissare ihre Forderung auf acht und sieben Gulden mäßigten. Als Begründung gaben sie die schlechtere Ertragslage ihrer Güter an. Auch die Drohung, daß künftig die gesamte anfallende Scharwerk von ihnen allein zu tragen sein werde und Inen alsdann Ir Halssterigkeit sauer genug kommen were, (hat) keinen Verfang gehabt. Die Kommissare beauftragten deshalb den Pfleger, diesem widersessigen Untertanen (ca. 28 HFE) 8-10 Scharwerksfuhren mit Kastengetreide nach Ingolstadt aufzuerlegen. Erst diese Maßnahme scheint den Widerstand gebrochen zu haben. Im kleinen, an das Hochstift Eichstätt grenzenden Landgericht Dietfurth 66 (RA Straubing) kam es zu keiner Vereinbarung mit den Untertanen. Nachdem die Kommissare anfangs allerhandt Argumenta und gietliche Persuasiones, hernach aber die ernnstliche Ermahnung und Anbetrohung (...) gebraucht " KB vom 22. 2. 1666. Das Verzeichnis der Urbarsuntertanen nennt 11 Ganz-, 17 Halb-, 5 Viertelhöfe und 1 Halbviertelhof, welche zusammen 65 Inhaber hatten. Hinzu kamen 114 Söldner. 64 H. FREILINGER, Ingolstadt (HAB, Teil Altbayern, H. 46), München 1977, 171, 180 bemerkt, daß die seit dem 15. Jahrhundert greifbare Einteilung in Obmannschaften in den Quellen des 18. Jahrhunderts nur mehr fragmentarisch erhalten ist und im allgemeinen von „Dörfern" und „Dorfschaften" gesprochen wird. " KB vom 8. 11. 1665. In der Instruktion vom 14. 11. 1665 erscheint Siegenburg vom Satz von 9 fl nicht ausgenommen. 66 KB vom 13. 12. 1665. Obwohl die Hofkammer ein Angebot der Untertanen in Höhe von 4 fl (anstatt der verlangten 8 fl) im Schreiben von 17. 11. 1667 als akzeptabel bezeichnete, scheint es in diesem Gericht bei der Naturalscharwerk geblieben zu sein.

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hatten, erklärten die Dietfurther alle Roboldt auf sich nehmen zu wollen, wenn sie nur beim Naturaldienst verbleiben durften. Wie im benachbarten LG Riedenburg dürften auch in Dietfurth die Ungunst der Landesnatur, die Armut der Untertanen, nicht zuletzt die Grenznähe die Gründe gewesen sein, die Naturalscharwerk zu belassen. Schon im Oktober 1665 übte der Kurfürst Kritik an den „Disproportionen" der Ablösegelder in den Rentämtern Burghausen (18, 20 und mehr Gulden), Landshut/Straubing (7, 8, meist 10 Gulden) und München (4-7 Gulden) und forderte eine Belegung der Güter nach dem Ertrag 67 . Dem Abschluß der Verhandlungen im Sommer 1666 folgte bis 1670 eine Phase der Koordination der unter uneinheitlichen Voraussetzungen zustandegekommenen Quoten zwischen 4 und 20 fl. Eine Fülle von Gesuchen um Moderation auf Zeit und auf Dauer, die auch von den Außenbehörden unterstützt wurden, ließ bereits Befürchtungen aufkommen, das ganze Werk könne in Gefahr kommen 68 . So entschloß man sich zum Abbau der extremen Werte und zur Annäherung der Quoten: Von der Bandbreite von 6 - 1 0 Ω gab es nur sehr wenige Abweichungen nach unten und oben. Das bedeutete für zahlreiche Gerichte besonders im RA Burghausen eine radikale Senkung der ursprünglich ausgehandelten Quoten. In manchen Gerichten wie in Schärding unterstrichen Widersessigkeiten69 der Untertanen die Dringlichkeit ihrer Moderationsgesuche. Das Prinzip der Differenzierung der Quoten nach Obmannschaften und Ämtern wurde beibehalten. Die Senkung hatte offenbar die Zustimmung des Großteils der Untertanen und den Anschluß der wenigen, sich noch verweigernden Untertanengruppen zur Folge. Wo immer ein grundsätzlicher Widerstand gegen das Scharwerksgeld oder gegen den verlangten Betrag als berechtigt anerkannt wurde, wie im Bayerischen Wald, in den Gerichten Tölz, Wasserburg und Vohburg, wurden für das ganze Gericht oder einzelne Obmannschaften niedrigere Quoten bewilligt. Diese Moderationen schienen den Unmut der Untertanen zu dämpfen. Längerfristig ergaben sich dadurch Verzerrungen, daß die den kriegsgeschädigten guten Getreidebaugebieten, beispielsweise des westlichen Oberbayern, gewährten Vergünsti67

Damit war den Kommissaren der Auftrag erteilt, die hauptsächlich durch den Krieg bedingten Mängel der Hoffußeinteilung zu korrigieren. In der Tat wurden im Verlauf der Verhandlungen und in der Folgezeit große Erfolge in der Verfeinerung der Hoffußeinteilung erzielt. Die Verdienste der Kommissionen um Verbesserungen des Hoffußsystems wird der Verfasser in einer eigenen Untersuchung ausführlich behandeln. 68 Den zahlreichen Supplikationen entnahm der Geheime Rat, daß des Anhaltens umb Nachlaß oder Moderation der Scharwerchsgelder und zwar auf bestenndig kein End sey, daß auch iedesmal die Berichten von den Beambten denen Supplikanten zue guten erstattet werden, daraus erfolgt, das immerdar einer die Nachfolg auf den andern nemet und in den Scharwerksachen kein bestendigen Fues zu haben sein wirdt. Der Scharwerksrat hatte Aufstellungen über die bereits genehmigten Moderationen auf Zeit und Dauer sowie über den Stand der Ausgaben einzusenden. M F 12. 289. Signatur vom 10. 7. 1670. " HORNUNG (Anm. 13), 76, berichtet, daß nach dem Scharwerksbuch von 1665 der Ganzhof mit 20 fl belegt wurde, was eine Summe von 10288 fl ausmachte. Durch Resolution vom 4. 7. 1668 sei der Satz für den Ganzhof auf 8 fl moderiert worden.

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gungen auch nach der Wiederaufbauphase in Kraft blieben. Ein grundsätzliches Manko der abschließenden Regelung war die geringe Quotenspanne. Damit wurde den Unterschieden der Bodenbonität (ca. 3-10 facher Samen) in den einzelnen Regionen nicht ausreichend Rechnung getragen und eine erhebliche Benachteiligung ärmerer Gebiete eingeleitet, welche durch den Ausbau der Hofanlagen im 18. Jahrhundert verstärkt wurde. Das in den Jahren vor 1670 wahrnehmbare flexible Reagieren auf die Moderationswünsche der Untertanen hatte eine klare Grenze. Die landrechtlich garantierte jährliche Aufkündung des Scharwerkspaktes wurde nicht gewährt. Als der erste derartige Versuch im Jahr 1670 von den Untertanen einiger Moosburger Obmannschaften gemacht wurde, wohl auch nur in der Absicht, eine Moderation leichter zu erreichen, reagierte die Regierung schroff ablehnend. Dem Moosburger Pfleger, welcher die Supplikation an den Scharwerksrat 70 mit dem Hinweis auf die landrechtlichen Bestimmungen befürwortet hatte, erhielt wegen der ihm vorgeworfenen „Aufhetzung" der Untertanen einen schweren Tadel 71 . Die vom Landshuter Rentmeister geführten Untersuchungen hatten auch in diesem Fall sicherlich nur die Gewährung von Nachlässen für bestimmte Obmannschaften oder einzelne benachteiligte Anwesen zur Folge. Die lückenhafte Überlieferung der Kommissionsberichte aus den mehr als 80 großen und kleinen Gerichten erlaubt eine sichere Beurteilung des Ausmaßes des bäuerlichen und grundherrlichen Widerstandes nicht. Man wird aber nicht weit fehlgehen, wenn man die Zahl der Gerichte, in welchen ein mehrere Tage oder ein über die Verweildauer der Kommissare 70

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Die Supplikation war von den Obm Kleinmünchen, Martinszell, Schergenöd, Gammelsdorf, Peterswahl, Badendorf und Bachhorn des LG Moosburg gestellt worden. Der Bericht der zum Scharwerkswesen verordneten Räte vom 5. 5. 1670 an den Geheimen Rat (MF 12. 289) folgt im wesentlichen der Empfehlung des Pflegers: Nicht Gewährung der Rückkehr zur Naturalscharwerk, weil dies unüberschaubare Konsequenzen haben könnte, wohl aber Senkung der Quote auf 3 Gulden. Die Klagen der Untertanen über zunehmende Wildschäden und das Erschießen ihrer Hunde ist in diesem Bericht in größere Zusammenhänge gestellt: Das Hauptproblem wird darin gesehen, daß die Grundherrschaften Untertanen aufnehmen, welche die Güter weder mit lebendem noch totem Inventar ausreichend beschlagen können, und selbst keine Unterstützung zum Aufbau der Güter leisten. Nur wenige dieser Untertanen können durch Rodung die Ackerflächen vor dem Krieg wiederherstellen. Die Grundherren geben sich damit zufrieden, daß ihre Untertanen nur ain oder anders Äckerl nechsl der Herberg angepaulh, wol auch durante bello die völlige Grundgilt geraicht und also dieybrige Velder biß an die Herberg hinzu verwillten und verwachsen lassen, ia daß auf manichem Ackher voll zimmermessige Holz zuefinden (...). Allein die Erwähnung der landrechtlichen Regelung brachte dem Pfleger den Vorwurf der Aufhetzung der Untertanen zur Aufkündigung des Scharwerksgeldes ein. Wie im Schreiben an den Pfleger fordert der Geheime Rat auch von den Scharwerksräten eine entschlossene Haltung (7. 6. 1670; M F 12. 289): Dieweilen diss aber eine Sach von sollicher Konsequenz, deren sich andere mehr und villeicht alle Landsunderthonen wan sye dessen Wissenschaft bekhomen sollen, zebedienen und gleichgestalt des Scharwerchsgelt zeentladen Anlaß nemen derfften und es hechstgedachte Chf. Drtl. nit gemaint ist, das ganze Scharwerchswesen, waryber sovil Zeit, Miehe und Uncossten ergangen, auf solche Weis und so schlechterding übern Hauffen stossen und zu nichts machen zelassen.

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am Gerichtssitz (ca. 1-2 Wochen) andauernder Widerstand gegen die Ablösung auftrat, auf weniger als ein Dutzend schätzt. Manchmal verweigerte nur ein Amt oder gar nur eine Obmannschaft die Paktierung des Scharwerksgeldes. Die Ermunterung der Grundherren leuchtete in einigen Fällen als Ursache der bäuerlichen Verweigerung auf. Keinesfalls bestimmte das Ausmaß der wirtschaftlichen Not der Bauern die Intensität des Widerstands: Die „ärmsten" Obmannschaften des LG Erding waren reich gegenüber den meisten Gerichten des Bayerischen Waldes, deren Untertanen die neue Bürde gottergeben auf sich nahmen. In den meisten Gerichten, besonders dort, wo umfangreichere Naturalscharwerk zu leisten war, stießen die Kommissare auf eine mit taktischer Zurückhaltung verbundene Bereitschaft zur Ablösung der Dienste. Es ging den Untertanen hauptsächlich um eine mäßige Ablösungssumme, um die gleichzeitige Abstellung von Beschwerden und Entlastungen, etwa durch die Befreiung oder Senkung des Brotbauerngeldes 72 . So kann man keineswegs mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Mehrheit der Untertanen - wie der Prälatenstand auf dem Landtag von 166973 behauptete - für die Beibehaltung des alten Zustandes war.

b. Die Gravamina der Untertanen und die Erweiterung der Befugnisse der Kommission Die Beschwerden der Untertanen gegen unangemessene Forderungen des Gerichtspersonals durchziehen die Stände- und Verwaltungsgeschichte der frühen Neuzeit. Sie wurden in der Regel von den Ständen auf den Landtagen vorgetragen und hatten zahlreiche Versuche der Landesherren zur Beseitigung der Mißstände zur Folge. Zu keinem Zeitpunkt kam es jedoch zu einem Vorgehen des Landesherrn in der Art der Jahre 1665/66: Ohne maßgebliche Impulse der Stände bzw. der Landschaftsverordnung wurden in allen Gerichten die Gravamina der landgerichtischen Untertanen angehört und daraufhin den Kommissionen und Verwaltungsorganen umfassende Handlungsanweisungen zur Beseitigung bestehender sowie Verhinderung künftiger Übergriffe gegeben. Die Anhörung der Beschwerden der Untertanen bei den Ablösungsverhandlungen erwuchs in der Regel aus der Darstellung ihrer wirtschaftlichen Situation und fand in den Protokollen teilweise breiten Niederschlag. Die Kommissare registrieren an zahlreichen Orten die Klagen der Untertanen über die Armut der kleinen Anwesen, die begrenzte Leistungsfähigkeit der Güter auf schlechten

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Es stellte sich heraus, d a ß viele Gerichte im R A M ü n c h e n dazu übergegangen w a r e n , ein „ B r o t b a u e r n g e l d " in Form einer U m l a g e von allen landgerichtischen G ü t e r n zu verlangen. Das bedeutete Belastungen bis zu 1 fl 20 kr f ü r den G a n z h o f . " L a n d t a g v o n 1669, 375 ff, 390, 399, 405, 497. Die Vertreter d e r Städte u n d M ä r k t e beschwerten sich auf dem Landtag, d a ß das Geld auch von ihren bislang von der Scharwerksleistung befreiten U n t e r t a n e n eingetrieben werde.

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Böden, in Wald- oder Gebirgslage. In manchen Gegenden, auch solchen mit guten Böden und teilweise großen Gütern wird als ertragsschmälerndes Moment der Mangel an Wald, noch mehr der an Wiesen mit entsprechend negativen Auswirkungen auf den Viehbestand vorgebracht 74 . Unter „gartenden Soldaten" haben mehrere Landgerichte (Weilheim, Erding) zu leiden 75 . Wildschäden, über die schon auf den Landtagen des 16. Jahrhunderts eindringliche Klagen geführt worden waren, scheinen 1665 besonders in niederbayerischen Gerichten (Erding, Moosburg, Reisbach, Dingolfing, Reichenberg, Griesbach) groß gewesen zu sein 76 . Nach den Kommissionsberichten war den Untertanen die Hundehaltung mancherorts entweder verboten (Erding) oder es wurden ihnen nur kleine Hunde gestattet. Die Folge war, daß das Wild am Tag bis an die Höfe kam (Dingolfing), was kostspielige Flurwachen bei Tag und Nacht erforderte 77 . In Volkmannsdorf (LG Moosburg) mußten die Bauern für Nachtwachen vor der Ernte 1665 20 Gulden ausgeben 78 . Im LG Teisbach versuchten die Bauern das Wild bei hellem Tag mit Gaislen ab(zu)treiben (...), weil ihnen auch die gepriegelte kleine oder mittere Hund (...) nit bestattet, sondern erschossen und sye darzue gestrafft werden. Unter Ferdinand Maria, der im Unterschied zu seinem Vater ein leidenschaftlicher Jäger war und häufig die um München liegenden Schlösser zur Schweinehatz und Hirschjagd besuchte, scheinen bisher erlaubte bäuerliche Abwehrmaßnahmen gegen das überhandnehmende Wild 79 behindert worden zu sein. Vom Mai 1665 liegt ein Generalbefehl an alle Gerichte des RA Landshut vor, welcher die 74

Solche Klagen findet man in Altmannstein, Dachau, Rain, Schongau und Vohburg. In Dachau (ähnlich in Vohburg) klagen die Untertanen trotz ihrer meist zimlich weitschichtig und gueten Paustatt über großen Mangel an Weide und Wiese, welcher sie daran hindere, diese Güter mit Vieh und Dung zu beschlagen. " Dort kommen angeblich zu manchem Bauernhofe täglich 8, 10, 12 gartende Soldaten, von welchen jeder einen Heller verlange, da doch mancher aus inen selbsten o f f t keinen Heller im Haus habe. Die Untertanen sind beunruhigt durch die Androhung des Abbrennens, welche bei Abweisung ausgesprochen wird. 76 Über solche Klagen auf dem Landtag von 1543 vgl. S. von RIEZLER, GB 6, Gotha 1903, 221 f. - Zu den Maßnahmen Maximilians vgl. von FREYBERG (Anm. 11), 23 f. - LG Reichenberg: Das Überhandnehmen des Wildes komme daher, daß ein Teil der zur Hochjagd berechtigten Hofmarksherren nicht jage. LG Reisbach: dann khain Mann gedennckht, das man umb dise Gegent Hirsch oder Schwein ainesmahls geiagt hette, wodurch das Wildt in copia. 77 Das im LG Erding von den Untertanen erwähnte Verbot der Hundehaltung hatten die Kommissare als Verstoß gegen die Bestimmung der Gejaidordnung Art. 18 bezeichnet. - Die in der Instruktion vom 5. 7. 1665 für Dingolfing (GR 1272/5) erwähnten großen Wildschäden führten zu einer Untersuchung, über welche das Hofkammergutachten vom 25. 8. 1665 informiert: Die Stellungnahme des Wildmeisteramts Landshut läßt die Lage der Untertanen in milderem Licht erscheinen; dafür hebt sie die große Nachlässigkeit der Hofmarksherren in Jagdangelegenheiten, besonders bei der Wolfsjagd, hervor. 7 " Erwähnt im Hofkammerschreiben vom 27. 6. 1665. " Mandate Maximilians aus dem Jahr 1627 erlaubten den Untertanen ihre Felder einzuzäunen und Hunde zu halten. Ein Hofbauer durfte zwei, ein Huber, Lechner und Bausöldner einen Hund halten. Die Tiere mußten tagsüber angelegt und geprügelt, d. h. durch Anhängen eines Prügels davon abgehalten werden, das Wild zu jagen. Vgl. S. von RIEZLER, GB 6, Gotha 1903, 222.

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Bestimmung der Polizei- und Forstordnung einschärfte, ohne auf die Anliegen der Landbevölkerung einzugehen 80 . Der Wildfrevel jener Zeit, gegen den Caspar von Schmid zahlreiche Mandate erlassen mußte, entsprang nicht nur dem Wunsch der Untertanen, ihren kargen Tisch zu bereichern. In manchen Gegenden war es der Zwang zum Schutz der Ernte und zum wirtschaftlichen Überleben. Um Wildbretschützen abzuschrecken, schlug der Kurfürst einmal vor, jedem ein Hirschsymbol auf die Stirn brennen zu lassen. Der gottesförchtige Fürst ließ sich aber von seinen Räten und Theologen überzeugen, daß dieser Plan nicht ausführbar war 81 . Ferdinand Maria ließ zwar 1665/66 auch den Klagen der Untertanen über die Wildschäden nachgehen, war jedoch in wesentlichen Punkten gänzlich unnachgiebig. Im Unterschied zu den Wild- und Jägermeisterämtern, welche die teilweise schlimmen Verhältnisse beschönigend darstellten, suchte die Hofkammer den von Kurfürst Maximilian ergriffenen Maßnahmen zur Geltung zu verhelfen 82 . Die große Last der hohen Jagdscharwerk wird von den Untertanen besonders in den Gerichten um München (Starnberg, Dachau, Erding) beklagt. Die Untertanen mußten dabei das Wild treiben, Zäune errichten, Wildnetze und Wildbret auf Wägen führen. Im LG Dachau mußte ein Ganzbauer mitten in der Erntezeit gemainiclich mit 2 Rossen in die 5 Teg zuebringen (...). Im LG Erding war der Verzicht auf die durchgehende Jagdscharwerk die Hauptbedingung der Bauern für eine Einwilligung in ein Scharwerksgeld: Sie waren bereit zur Wolfs- und Wildschweinjagd zu Fuß, wollten aber nicht mehr für die Hirschjagd zur Erntezeit mit Fuhrleistungen zur Verfügung stehen. Die Kommissare, welche für dieses Anliegen der Bauern volles Verständnis hatten, erklärten dem in diesem Punkt unnachgiebigen Fürsten 83 vergeblich die ungleich höheren Belastungen der Landgerichtsuntertanen bei der hohen Jagd gegenüber jenen der Hofmarksuntertanen beim Raisgejaid. Ferdinand Maria wollte nicht akzeptieren, daß die ihm von den Kommis80

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Es heißt darin, ungeprügelte Hunde hätten durch das Jagen und Fällen von Jungwild den Jagdbeständen merklichen Schaden zugefügt. Abschrift des Generalmandats vom 22. 5. 1665. GR 1272/5, f. 24. - Vgl. auch von F R E Y B E R G (Anm. 11), 24 ff. Aufgrund dieser Einstellung des Fürsten nimmt es nicht wunder, daß Sohn und Knecht des Überreiters von Wartenberg (LG Erding) den Bauern die Hunde abschössen, wenn sie damit das Wild verscheuchten. Nach H Ü T T L (Anm. 15), 36. Die auf die Klagen über die großen Rotwildschäden in den LG Erding und Moosburg eingeleiteten Untersuchungen führten zur Berichterstattung durch das Jägermeisteramt und die Regierung Landshut. Die Hofkammer schließt sich in ihrem Bericht vom 27. 6. 1665 (GR 1272/5) der Meinung der Regierung Landshut an, das Abschießen der Hunde zu verbieten. Sie setzt sich ein für das Recht der Bauern zur Einzäunung und Haltung von Hunden (außer der großen Riden, die das fVildprel gleich erlegen und niderreißen) nach der Jagdordnung, nil zweiflent, weil die Hirschfaist nunmehr an der Hanndt, Eur Churfsll. Drl. werdlen, wo nit yezt, doch auf selbe Zeit solchen Beschwerdien abzuhelffen gdist gedacht sein. Die im LG Teisbach weilenden Kommissare wurden in Schreiben vom 10./12. und 15.6. beauftragt, in künftigen Verhandlungen die durchgehndle Jagtbarkeit und den landesherrlichen Anspruch auf Wildfuhren über die Landgerichtsgrenzen hinaus durchzusetzen. MF 12. 289 (KB vom 20. 6. 1665).

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saren vorgerechneten Kosten von 800-900 Gulden, welche eine viertägige Hirschjagd mit 400-600 Mann und 26 Wägen verursachte, aus der Scharwerkskasse bestritten wurden 84 . Auch die Dauer der Wolfsjagden allgemein und die dabei ausgeübten Schikanen der Jäger und Überreiter im besonderen waren in vielen Gerichten Gegenstand der Klage. Sie dauerten in Reisbach 12-16 Tage, in Haidau 28 Tage. In Griesbach, wo sie sich über 30-40 Tage erstreckten, wurden den Bauern die Rosse zuschanden geritten. Das geschah auch im LG Teisbach, dessen Untertanen von den Jägern harte Straich einnemen und manichesmahl bluetige Köpf davon tragen mußten 85 . In Rottenburg durften die Untertanen bei diesen Jagden nicht einmal umb ain Stuckh Prott nach Hause gehen und wurden deswegen bestraft, obwohl die Jäger und Überreiter manchmal bis Mittag im Wirtshaus saßen, die Underthonen aber mit hungerig Bauch bis abents warten lassen. Die Landgerichtsuntertanen empfanden vielerorts eine große Benachteiligung gegenüber den Hofmarksuntertanen, welche an den Wolfsjagden kaum teilnahmen. In Reichenberg wurden die Landgerichtsuntertanen von den Hofmarchischen bei der Wolfsjagd, so von 20 in 30 Tag maistens ohne Effect wehrt, nur ausgelacht (...), indeme dise gar nit oder wenig dabey erscheinen. Ein diese Jagden betreffendes Generale war weder nach Reichenberg noch nach Griesbach gelangt 86 . Den Amtleuten und Schergen war schon 1652 unter Androhung der Entlassung verboten worden, gegen Geld und Geschenke Befreiung von der Wolfsjagd zu erteilen und die ganze Last auf die armen und unvermöglichen Untertanen abzuwälzen 87 . Die Beseitigung der Mißstände bei den Wolfsjagden war seither nicht gelungen. Die Erdinger und Teisbacher Bauern sprachen 1665 offen aus, daß die winterlichen Wolfsjagden von den Jägern und Überreitern nur ihrer Deputatgelder wegen bis ins Tauwetter des Frühlings hinein ausgedehnt wurden. Die daraufhin eingeleiteten Nachforschungen erbrachten den statistischen Nachweis, daß die Zahl der während der allgemeinen Wolfsjagden gefangenen Wölfe weit geringer war als die auf der Pirsch der Jäger und Überreiter geschos-

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Den Hinweis des Fürsten auf Adelige, die Scharwerksgeld nehmen und daneben die Naturalscharwerk beanspruchen, greifen die Kommissare auf: Selten seien Hofmarksherren im Besitz der hohen Jagd, meistens nur des Raisgejaid, welches in wenigen Tagen vorbei sei, nur selten mehr als eine Fuhre erfordere und die Untertanen nicht hindere, täglich abends daheim zu sein. Manchmal dürfen sie auch ihre Kinder (Pueberi) als Ersatzleute schicken. KB vom 23. und 29. Mai 1665. 85 KB vom 20. 6. 1665. - Im Befehl vom 25. 6. 1665 (dt. Dachau) wurde den Kommissaren aufgetragen, die in vieler Hinsicht bedrängten Untertanen des LG Teisbach zu trösten, daß wür den unbiltichen Beschwerden nachtrucklich remedieren und abhelffen lassen wollen. 86 Die Rentmeisterinstruktion von 1669 (künftig: RMI von 1669), P. 55 und 114 knüpft an diese Gravamina direkt an: Sie beauftragt den Rentmeister mit der Abstellung der Praktiken der Jagdbediensteten, welche die Unterthanen nach Gunst oder Eigennutz zur Jagd beschreiben, ja ihre Pferd sehr abfrötten und zur Feldarbeit untüchtig machen (...). Er sollte sich deshalb bei den Dorfvierern über Vorkommnisse auf den Wolfsjagden erkundigen. 8 ' Befehl vom 26. 1. 1652 (GR 1272/5, LG Erding, f. 25).

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senen Tiere. Es stellte sich heraus, daß der Kostenaufwand für einen gefangenen Wolf viermal höher lag88. Zu den Hauptklagen der Untertanen gehörten jene über hohe Steuern und grundherrliche Lasten, welche ein zusätzliches hohes Scharwerksgeld nach ihrer Darstellung als untragbar ausschlossen. Da diese Klagen meist als Entgegnung auf die von den Kommissaren zitierten hohen Scharwerksgelder in manchen Hofmarken vorgebracht wurden, ergaben die Erörterungen grundlegende Einsichten in die Unterschiede der Belastung der Landgerichtsuntertanen einerseits, der Hofmarksuntertanen andererseits: Die Untertanen des LG Aichach gaben auf die Vorhaltung eines Scharwerksgeldes von 12 fl in der Hfm Obergrießbach die Antwort, daß die hofmärkischen Güter weit größer und besser seien, auch Wiesen und Wald besäßen und nit so grosse Güllten und Steurn weder ( = wie) sy landgerichtische Underthanen haben. Auch seien einzelne Untertanen dieser Hofmark wegen des hohen Scharwerksgeldes bereits von Haus und Hof gezogen. Es war eine schwierige Aufgabe für die Kommissare, die in verschiedenen Landgerichten (Dachau, Mering und Friedberg) stereotyp vorgetragenen Klagen über unertregliche Steurn, Grundgilten und andere Bürden auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen und zu berücksichtigen 89 . Im LG Reisbach betrug das Landsteuersimplum eines Ganzhofs meist 12-20 fl, hinzu kamen vor allem bei den fürstlichen Urbarsuntertanen nahezu unerschwingliche Traidtdienste. Den Hinweis der Kommissare auf die Ciosnerischen Untertanen zu Warth, die 8-12 Π Scharwerksgeld zahlten, konterten die Untertanen mit der Feststellung, daß diese Hofmarksuntertanen bei gleicher Qualität der Güter für den Ganzhof nur 6-8 fl Land88

Aufgrund der Vorkommnisse im LG Teisbach wurde der Hofkammer befohlen (1.7. 1665; M F 12. 289), vom Oberstjägermeisteramt eine Stellungnahme einzufordern. Die Untertanen in Teisbach zahlten pro Wolfsjagd 6-8 kr, wobei also auf jeden Jäger und Überreiter für einen erlegten Wolf leicht 20 Thaller kämen. Dennoch verzögerten sie die Jagden, auf welchen mit 400-600 Bauern nur 1-3 Wölfe erlegt würden, unnötigerweise wegen ihrer zusätzlich empfangenen Deputate. Die Untersuchungen zeigten folgendes Ergebnis (GR 1272/4, LG Dingolfing, Beilage zu f. 6): Die Kosten der Wolfsjagd und -pirsch (in fl) im Kurfürstentum (1664): Rentamt

München Burghausen Landshut Straubing

Öffentliche Wolfsjagden

Pirsch d. Jäger/Überreiter

gefangene Wölfe

geschossene Wölfe

Kosten (keine Deputate)

14 508 9 552 6 159 (hier keine Jagden)

40 2 4 37

480 18 63 342

29

83

Dschn. Kosten pro Wolf

Kosten (inkl. Deputate)

1219 42 Π

903 10 Π.

" Nicht sehr überzeugend erscheinen die Klagen der relativ reichen Dachauer Bauern: Verglichen mit anderen Orten seien sie mit unertreglichen Steurn, Grundtgilten und andern Bürden beladen und wurde von den Herrschaften schier kheinem sovil zuegelassen, daß er vor (=für) sich und die Seinigen den blossen Aufenthalt (= Unterhalt) haben, geschweige zu etwas vor sich bringen und seinen Kindern erhausen khindte (...).

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Steuer zu erlegen hätten. Die auf fruchtbaren, aber offenbar sehr kleinen Ackergründen wirtschaftenden Reisbacher Untertanen fühlten sich vom Ruin bedroht, da manicher Hof mit Steur, Pfennigult und Scharwerchgelt ausser der Traiddiensten über 30 fl hinauflchombt (...). Am deutlichsten wird den Kommissaren im LG Teisbach gesagt, daß kheine Underthonen mit der Steuer also ybermessigt belegt und ybergilt sein als eben die landgerichtischen und Urbarsunderthanen, seithemalen den andern von ihren Herrschaften gleich geholfen wird (.. J 9 0 . Auch im LG Natternberg wurde auf die steuerliche Überbürdung der Urbarsuntertanen hingewiesen: Ein Halbhof mußte dort neben den großen Getreidediensten 14 und mehr Gulden Steuer erlegen". Die genannten Beispiele zeigen, daß in den Jahren 1665/66 infolge der Kriegsauswirkungen selbst in Landgerichten mit guten Getreideböden die Lasten kaum zu erschwingen waren. Dies gilt in erster Linie für die Urbarsgüter, die für ihre guten Besitzrechte die teils überhöhten Landsteuerwerte von 1602/12 zu tragen hatten. Die Situation der Reisbacher Bauern nahm die Regierung zum Anlaß, bei der Landschaft auf Abstellung der vorhandenen Ungleichheiten in der Besteuerung von Hofmarks- und Landgerichtsuntertanen zu pochen 92 . Die im Verlauf der Traktationen gewonnenen Einblicke der Kommissare in die Techniken der Steuermanipulation der Stände mittels Veränderung der Besitzrechte ihrer Untertanen zum Zweck steuerlicher Herabstufung sollten für die Landesherrschaft eines der auslösenden Momente sein, auf dem Landtag von 1669 eine Reform der Land- und Standsteuer einzuleiten 93 . In etwa einem Dutzend Landgerichte brachten die Untertanen außer allgemeinen Klagen über Belastung durch Steuern und Abgaben mehr oder minder umfangreiche Anschuldigungen gegen die Gerichtsbeamten vor. Die Gravamina der Untertanen im LG Wolfratshausen 94 führten zur 9

° KB vom 20. 6. 1665 ( M F 12. 289). Als Beispiel wird der Graf Königsfeld von Aichbach genannt, welcher die besten landgerichtischen Güter aufkaufe und ihnen sofort Steuernachlaß gewähre, so dem Andre Friz zu Schwatzhofen eine Reduzierung von 6'/2 auf 1 fl ; in zwei weiteren Fällen wurde auf 2 Drill die Steuer gemindert. " KB vom 1. 8. 1665 (dt. Natternberg). 93 In einem Antwortschreiben des Geheimen Rats (12. 7. 1665) auf den Reisbacher Kommissionsbericht wird das Auseinanderklaffen der Steuerwerte im LG Reisbach teilweise mit der „Ungleichheit der Gütergerechtigkeit" erklärt: Die Urbarsuntertanen hätten meistens Erbrecht, die Hofmarksuntertanen nur Leibrecht, veranlaitete oder auch nur blosse Freistift. Eine höhere Steuer sei gerechtfertigt, weil ia ein Erbhof höher als ein bloßes Leibrecht oder veranlaitete Freistift verkauft wird. Das von Q. Reifenstuel und J. B. Leidl unterzeichnete Schreiben vom 30. 7. 1665 (dt. Natternberg; GR 1272/5, f. 1) enthält eine fundamentale und differenzierte Auseinandersetzung mit der Problematik dieser Auffassung. 9J In der auf dem Landtag von 1669 beschlossenen neuen „Güterbeschreibung", die in den Jahren 1671-1684 durchgeführt wurde, verstanden es jedoch die Stände, mit Hilfe der landschaftlichen Steuerverwaltung ihre bisherigen Steuermanipulationen aufrechtzuerhalten. Vgl. H. RANKL, Zwischen „Privatnuz" und „gemeinem Besten". Anmerkungen zur Frage der Wirksamkeit der bayerischen Landschaftsverordnung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag 1, hg. von F. S E I B T , München 1988, 490ff. 94 Gravamina, so wider die churftl. Pfleggerichtsbeamten zu Wolfratshausen, dann die Procuratoren und Amtleith vorkhomen (GR 1274/10, f. 7).

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Aufdeckung besonderer Exzesse: In diesem Gericht mußten beim Tod eines Bauern oder seiner Ehefrau zwischen 6-10 Gulden Inventurgeld dem Gericht, darüber hinaus allen Oberamtleuten und Knechten je 30 Kreuzer gezahlt werden, obwohl meist nur eine Amtsperson die Inventur durchführte oder sie manchmal auch unterließ. Dieses Vergehen belegten die Untertanen in ihrer Beschwerdeschrift in fast 50 Fällen. Verschiedene Amtleute und Knechte dieses Gerichts forderten bei Hochzeiten, bisweilen auch bei Stuhlfesten 95 das Mahlgeld oder setzten sich unaufgefordert an den Festtisch. Sie verlangten übermäßige Gebühren bei der Inspektion der Feuerstätten, die Zungen von hausgeschlachteten Tieren, Eier zu Ostern, bei Hafersammlungen - entgegen dem landrechtlichen Verbot feste Mengen, über Hafer hinaus auch besseres Getreide, Brotlaibe und Büschel Flachs. Bei Verweigerung des Verlangten wurde in einigen Fällen auch eine gebührenpflichtige Vorladung vor Gericht ausgesprochen. Die Gerichtsvisitation der Kommissare ergab überdies eine fehlerhafte und nachlässige Führung der Kirchen- und Gerichtsrechnungen. Die von der Kommission im März 1666 ausgesprochenen, von der Regierung unter dem 18. April bestätigten Strafen bestanden in Verweisen für Beamte, in Geldstrafen, Gefängnis und Pranger für einzelne Amtleute und Knechte 96 . Im LG Tölz97 wurde der Pflegverwalter wegen Selbstbereicherung zu einer Geldstrafe von 300 Talern und zur Erstattung der Visitationskosten von 200 Talern verurteilt. Ähnlich ging man im LG Neuötting vor 98 . Die Regierung stand von Anfang an hinter den Urteilen der Kommissionen und ®5 Vgl. J. A. SCHMELLER, Bayerisches Wörterbuch 2, München 1877, 753: a. feierliches Eheverlöbnis, b. jede Übernahme eines Gutes oder Gewerbes vor Gericht; evtl. auch die Bestätigung der Befugnis, ein Gewerbe auszuüben. " Die Verbschaidung der Kommission, publiziert am 12. 3. 1666, bestätigt am 18. 4. 1666 (ebd.): Die Amtleute von Perlach, Thanning, Oberwarngau sowie der Amtsknecht von Oberhaching und Thanning erhielten wegen Übermaß bey den Nachrechten, Nemung des Mahlgells bey den Hochzeiten, bey der Feuerstattgschau, Samblung der Air und Zungen von geschlachten Vieh, des Habers, Flax, Traidtgarben (...) außer eines ernstlichen Verweises auch die Androhung der Entlassung. Die erstgenannten Amtmänner hatten je 20 Reichstaler an Visitationskosten zu tragen, beim letztgenannten kamen noch 8 Tage Gefängnis hinzu. Schließlich wurden noch darzue neben beden Vnderambtleuten zu Tönning und Oberhaching mit öffentlicher Vorstellung in den Prengem an ainem Verhörstag abzupäessen anbefolchen. " KB aus Tölz (HK 440 Nr. 1 dt. 27. 5. 1666). 98 Im LG Neuötting wurden der Pflegverwalter und Gerichtsschreiber zum Ersatz der Visitationskosten in Höhe von 120 bzw. 72 fl unter Androhung der Amtsentsetzung im Wiederholungsfall verurteilt. Nach den Interrogatoria und Beschaidpunkten (GR 1272/5, f. 42,45) führten die Beschwerden der Untertanen zu folgenden Vorwürfen gegen die Beamten: Duldung des hohen Seelgerätes der Pfarrer, die von einem Unterthan, so ain schlechtes Vermögen hat, von 5,6 in 7 fl nemen\ Zulassung zahlreicher Sammlungen von Hafer, Korn und Flachs; Veruntreuung von Kirchengeldern, für deren Verwaltung absonderliche Deputate genommen wurden; Mißbräuche bei den Inventuren; Eigennützigkeit bei Vergantungen. Die in einem Zechschrein fehlenden Gelder mußten erstattet, die unberechtigten Inventurgelder den Untertanen zurückgegeben werden. Über die Rückerstattung der für die Ausmusterung einzelner Untertanen empfangenen Bestechungsgelder von 2-6 Reichstalern, die als besonderer Exzeß bewertet wurden, mußte der Kommission eine schriftliche Bescheinigung vorgelegt werden.

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gab den Einwänden der Betroffenen keinen Raum". Dennoch nahm sie - soweit erkennbar - von der Dienstenthebung von Pflegern, Pflegverwaltern und Richtern Abstand. Auch allgemeine Organisationsmängel in der Verwaltung brachten die Visitationen an den Tag: Im LG Traunstein, wo nur die Ärmsten die Salzfuhren übernahmen, um sich das truckne Brodi zu verdienen, wurde die Form der Entlohnung von den Kommissaren beanstandet 100 . Im selben Gericht fand die Verwendung von Kirchengeldern der Ortskirchen die Mißbilligung der Untertanen. Sie stellten fest, daß Klöstern hohe Anleihen, teilweise ohne Zins und Sicherheit, sogar ins Ausland, gegeben wurden, während ihre eigenen Zinsausstände unverzüglich eingefordert wurden. Sie empfanden dies um so schmerzlicher, weil dieses Geld nur von den Underthonen und nit von den Prälathen oder Clösstern herkhombt, dattero sye vermainen, es würde ein bessers Werckh sein, wann bisweillen ein solche Paarschafft zw Aufhelffung der armen Underthonen verwendet worden were (.. ,)m. Die bei den Gerichtsvisitationen 1665/66 an den Tag gelegten Mißbräuche der Beamten und Amtleute vermitteln eine Vorstellung von jenen Lasten, welche bei der Ertragsberechnung von Bauernwirtschaften meist nicht berücksichtigt werden. Indem die Landesherrschaft dieses Übel an der Wurzel packte, gelang es ihr, günstige Voraussetzungen für die Übernahme des von ihr verlangten Scharwerksgeldes zu schaffen. Ein besonderes Entgegenkommen erfuhren die in mancher Hinsicht stark belasteten Urbarsuntertanen des Landesherrn. Die nach der Abschaffung der Naturalscharwerk auf den fürstlichen Hof- und Schloßbauen, in den Gerichts-, Kasten- und Mautverwaltungen in großem Umfang anfallenden bezahlten Handarbeiten und Fuhraufträge sollten - so bestimmte die Scharwerksinstruktion der Kommissare - vorrangig den fürstlichen Urbarsuntertanen überlassen werden (P. 44)102. Überhaupt sollte man die ärmeren Unter-

" Das Recht der Kommissare, den Beamten bei Verfehlungen die Visitationskosten aufzuerlegen und mit allen Mitteln einzutreiben, war am 8. 7. 1665 (dt. Dachau) nochmals eigens bestätigt worden. HR 440 Nr. 1. 00 ' Anstatt Lohn in Bargeld ( = 1 4 Kreuzer samt den 3 Kreuzern „Drangeid" für eine Scheibe Salz von Traunstein nach Wasserburg) wurden den Fuhrleuten Lohnzettel ausgehändigt, welche sie - mangels Geld in den Kassen - bei den Bürgern von Reichenhall, Traunstein und Wasserburg, hauptsächlich aber beim Traunsteiner Salzmeieramtskastner und dessen Frau verkauften, dabei aber jeweils 1-2 Pfennige einbüßten. KB vom 24. 1. 1666. Unter dem 14. 10. 1667 berichtet die Hofkammer über die Abschaffung dieser Zettel. 10 ' Genannt werden Anleihen an die Klöster Niederschönenfeld (2000 fl) und Prüll (600 fl) sowie an den Prälaten von Baumburg (zur Erbauung des Pfarrhofs Siegertskirchen in Unterösterreich: 600 fl vom LG Trostberg, 400 fl vom LG Traunstein auf sieben Jahre). 102 Die RMI von 1669 (P. Ilo) ordnete an, daß über Taglohn, Zahl der Arbeitstage und Namen der Tagwerker „Wochenzettel" zu führen und dem Verwalter zu übergeben waren. Beamte durften keine Fuhraufträge übernehmen oder solche zum Schein etwann auf andere umschreiben lassen. Auch auf andere betrügerische Transport- und Verkaufspraktiken der Beamten mit dem Kastengetreide wird hingewiesen und zur Überwachung empfohlen (P. 44).

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tanen mit Fuhraufträgen zuerst bedenken, damit sie, wie es in Neuötting heißt, das Jahr hindurch auskhomen (...) und gevolklich das Scharwerchsgelt desto leichter abrichten khinden10\

5. Z u s a m m e n f a s s u n g Die Scharwerksablösung, die in den Jahren 1665/66 mit ca. 60000 landgerichtsunmittelbaren Bauern ausgehandelt wurde, ist in ihren Auswirkungen auf die herrschaftliche Achse Bauern - unmittelbare Obrigkeit - Landesherrschaft differenzierter zu beurteilen als es bisher geschehen ist104. Einigkeit besteht darüber, daß als der Hauptgewinner der absolutistische Staat zu bezeichnen ist: Mit dem Nettoertrag von ca. 90000 Gulden an Scharwerksgeldern konnte er - zusammen mit den auf dem Landtag von 1669 den Ständen abgerungenen finanziellen Zugeständnissen - die Einnahmenseite des Staatshaushalts wesentlich verbessern. Das mancherorts hartnäckige Verhandeln der Kommissionen mit den Untertanen hatte letztlich überall zur Paktierung geführt, weil die do-ut-des-Haltung des Landesherrn den Untertanen nicht nur die Möglichkeit bot, offen und ungestraft die Mißstände bei der Lokalbürokratie anzuprangern, sondern auch - für alle erkennbar und spürbar - Bestrafung, Abhilfe und Wiedergutmachung einleitete. Der „Pakt", der dem Landesherrn die dringend benötigten Finanzmittel, den Untertanen zwar eine neue Bürde, aber gleichzeitig eine Verminderung von Taxen, Sportein und Abgaben, überdies einen verstärkten Rechtsschutz brachte, war - zumindest für die Regierungszeit Ferdinand Marias - geeignet, das bisher überwiegend positive Verhältnis zwischen Landesherrschaft und Untertanenschaft zu vertiefen. Diese in essentiellen Fragen bestehende Interessenidentität zwischen Fürst und Volk ging unter Kurfürst Max Emanuel verloren : Ein extremer Fiskalismus mit exzessiven Landsteuern, außerordentlichen Defensionsanlagen und umfangreichen Verkäufen von Gerichts- und Scharwerksrechten an die Stände, besonders an die Prälatenklöster, brachte die Untertanen an den Rand des Ruins, bevor Krieg und rücksichtslose Besatzer den Aufstand von 1705/06 auslösten 105 . Das Aufbrechen der alten Mißstände bei vielen Lokalbeamten zusammen mit ihrer Kollaboration mit der österreichischen Administration hatte zur Folge, daß sich der Volkszorn teilweise auch gegen sie richtete.

"" GR 1272/5, LG Neuötting, f. 6. IM Auf eine Bewertung verzichtet S. von RIEZLER, GB 8, Gotha 1914, 428, 505. Ganz überwiegend positiv wird die Ablösung von M. DOEBERL, Entwicklungsgeschichte Bayerns 2, München M 928, 83 beurteilt: War sie auch eine fiskalische Maßregel, so bedeutete sie doch den Anfang zu einer segensreichen, freilich erst im 19. Jahrhundert weitergreifenden Reform der bäuerlichen Verhältnisse. "" PRINZ, Die Kehrseite der Medaille (Anm. 2), 330ff.

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Der organisatorische Rahmen der Verhandlungen von 1665/66 war auf einer Verwaltungsebene angesetzt, welche die Berücksichtigung lokaler Ertrags- und Einkommensverhältnisse ermöglichte: Es war nicht die altbayerische Gmain, also die Wirtschaftsgenossenschaft der an Wald und Weide nutzungsberechtigten Haussässigen, die nur einen Teil der Dorfbevölkerung darstellte. Es war vielmehr die Obmannschaft, Hauptmannschaft und „Dorfschaft" ( = das von einer Obmannschaft überwölbte Großdorf), die von der Landesherrschaft im 15. Jahrhundert geschaffene unterste Verwaltungsebene eines Landgerichts, in welcher der Ob- oder Hauptmann ein sowohl landesherrliches wie auch bäuerliches Amt innehatte. Abweichend von der Meinung der Literatur 106 , welche die Obmannschaft in manchem Gericht des 17. Jahrhunderts bereits totgesagt oder in ihr nur eine ohne genossenschaftliche Elemente ausgestattete Einrichtung zur Erfüllung landesherrlicher Scharwerks-, Steuer- und Wehrpflichten gesehen hat, erscheint sie 1665/66 als effiziente Beschwerde- und Verhandlungsinstanz, zu welcher der Landesherr - teilweise unter Umgehung der Lokalbehörde - in Verbindung tritt 107 . Die Obmannschaft, nicht die Gmain, erweist sich als der institutionelle Rahmen des bäuerlichen Besch werdeverfahrens und Protesthandelns, welches in der Wahl von Bevollmächtigten und Ausschüssen, im Verfassen von Supplikationen auch bei den Ablöseverhandlungen zum Tragen kommt. Vor allem auf längere Sicht wird man als Nutznießer der Ablösung auch große Teile der landgerichtsunmittelbaren Untertanenschaft bezeichnen können. Aus der Beseitigung der grundsätzlich ungemessenen, unregelmäßig und oft zu den ungünstigsten Zeiten anfallenden Naturaldienste ergaben sich für jeden bäuerlichen Betrieb wirtschaftliche Vorteile. Die verbesserte Wirtschafts- und Steuerkraft der Güter bringen die hohen Landsteuererträgnisse der siebziger Jahre am deutlichsten zum Ausdruck. Einerseits die wesentlich höheren hofmärkischen Scharwerksleistungen bzw. -gelder, andererseits das landesfürstliche Argument der Gleichbehandlung aller landgerichtsunmittelbaren Untertanen dürften jene Untertanen, welche in bislang begünstigten Rand- und Insellagen des Herzogtums seßhaft waren, bald mit der neuen Last versöhnt haben. Der Gerechtigkeitssinn des Fürsten mußte vor allem jenen Untertanen aufleuchten, deren im Übermaß getragene lokale Lasten nun als öffentliche Aufgabe Anerkennung fanden. So wurden beispielsweise die von den Untertanen der LG Neuötting, Mörmoosen, Kling, Trostberg, Kraiburg und Eggenfel106

FRIED ( A n m . 26), 105.

107

Im Schreiben vom 24. 9. 1665 (GR 1272/5, f. 16-26) fragte der Fürst bei der Hofkammer an, ob die verlangten Scharwerchszetl vorbereitet seien, damit sie den Obmannschaften zugestellt werden könnten. Es handelt sich dabei offenbar um die von der Zentralbehörde verfaßten Mitteilungen über das paktierte und vom Landesherrn genehmigte Scharwerksgeld unmittelbar an die Obmannschaften, wobei die Lokalbehörde ausgeschaltet ist oder nur Überbringerdienste leistet. Wie an anderer Stelle wird auch hier die Obmannschaft als Organisationsrahmen des Paktes zwischen Untertanenschaft und Fürst hervorgehoben.

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den getragenen großen Kosten für die Uferverbauungen des Inns als Landesangelegenheit deklariert und - allem Anschein nach - vom Fürsten aus der Scharwerkskasse beglichen 108 . Immerhin liegen Hinweise vor, daß diese untertanenfreundlichen Regelungen später teilweise rückgängig gemacht oder anders interpretiert wurden 109 . Mancherorts blieb überdies eine begrenzte Verpflichtung der Bauern zur Instandhaltung von Brücken erhalten; die dabei entstehenden Kosten durften durch Geldumlagen auf alle Gerichtsuntertanen, die hofmärkischen eingeschlossen, eingebracht werden 110 . Besonderen Gewinn konnten die nebenberuflich tätigen bäuerlichen Fuhrunternehmer sowie die handarbeitenden Schichten aus der neuen Situation ziehen. Nach dem Verzicht auf die Naturalscharwerk war nämlich der Landesherr als Wirtschaftsunternehmer gezwungen, zur Bewältigung der bei den fürstlichen Schlössern und Amtsgebäuden anfallenden Baumaßnahmen sowie der umfangreichen Transportaufgaben der Kastenverwaltungen Aufträge zu erteilen und aus den Scharwerksgeldern zu vergüten. Ebenso wie im Salzwesen 111 , in dem der Landesherr bis ins endende 18. Jahrhundert nicht daran dachte, das Produktions- und Handelsmonopol durch ein Transportmonopol zu ergänzen, sah er auch für 108

Im Schreiben vom 24. 9. 1665 an die Hofkammer (GR 1272/5, f. 16-26) will der Kurfürst wissen, ob die Uferarbeiten im LG Neuötting zu Verfridung der Underthannen selbe aigne Gründten oder allein zu unserm Nuzen angesehen werden müßten. Nach Erkundigungen bei den Ortsbehörden teilen die Kommissare mit, daß die Baumaßnahmen immediate Eurer churfrtl. Dil. allain und zwar solchermaßen zu Nuzen geraichen, daß dieselbe an der Pruckhen gelegen und solche beriehren thuen. - Im Auftrag des Fürsten führte der Rentmeister von Burghausen Untersuchungen mit uns unbekanntem Ergebnis durch, wie der Mautner von Neuötting die von den umliegenden Landgerichten gezahlten Ablösungen für den ihnen zudiktierten Beitrag zu den Innverbauungen ausgegeben und verrechnet hatte. Der Verdacht lag nahe, daß der Mautner Teile der namhaften jährlichen Summen (z. B. Trostberg 343 fl, Kling 314 fl, Eggenfelden 333 fl), welche die Gerichte angeblich freiwillig als Ersatz der Naturalscharwerk zahlten und in Umlagen aufbrachten, in die eigene Tasche gewirtschaftet hatte. - Ohne daß die Kommissare von solchen Zahlungsverpflichtungen detaillierte Kenntnis bekommen hatten, wurden sie von den Untertanen - offenbar überall ohne Widerspruch - als Teil der abgelösten Naturalscharwerk betrachtet. "" Die RMI von 1750, Punkt 87 (StV 1876, f. Iff) weist auf das Generalmandat vom 1. 6. 1648 hin, wonach die Reparaturkosten von Wasserbauten zu einem Drittel vom Fürsten, zu zwei Dritteln von den anliegenden Untertanen und Grundherrschaften zu tragen seien. Der Rentmeister soll die Verbauungen besichtigen und der Hofkammer Bericht erstatten, vorläufig aber nach dem Generalmandat vom 25.10.1721 verfahren und den an den Strömen und Flüssen wohnenden Untertanen, Fischern, Floß- und Schiffsleuten und deren Amtleuten fleißige Aufsicht und Meldung bei drohender Gefahr auftragen. 1,0 Nach einem Befehl vom 19. 8. 1689 sollten Fuhren, welche den Untertanen als gemeine Landesbürde oblagen, von den mit geeigneten Zugtieren versehenen Untertanen abwechselnd übernommen, ihre Kosten aber durch eine gemeine Anlage - offenbar nach dem Hoffuß - von allen Gerichtsuntertanen, einschließlich der betroffenen Hofmarksuntertanen, aufgebracht werden. Die von den Richtern und Hofmarksinhabern überprüften Abrechungen waren dem Rentmeister vorzulegen. Gesetz-Lexikon II, Pappenheim 1800, 362. " ' Erst an der Wende 18./19. Jahrhundert wurden Kalkulationen für ein eigenes landesherrliches Speditionswesen angestellt, nachdem die Kosten für den Salztransport seit 1780 erheblich angestiegen waren. Vgl. E. SCHREMMER, Beginnender Strukturwandel im Transportgewerbe an der Wende zum 19. Jahrhundert. Selbstsubventioniertes bäuerliches Fuhrwesen im Nebenberuf oder kostendeckendes hauptberufliches Transportgewerbe in landesherrlicher Regie?, in: Festschrift zum 75. Geburtstag von M. Spindler, hg. von K. Reindel, München 1969, 577-591.

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seine Kastenämter keinen Bedarf an einem Transportgewerbe in landesherrlicher Regie 112 . Im 17. und 18. Jahrhundert kam in beiden Bereichen die Inanspruchnahme des subventionierten bäuerlichen Fuhrwesens im Nebenberuf (E. Schremmer) wesentlich billiger, da besonders in den Gerichten am südostbayerischen Alpenrand die Zahl der Frachtdienste anbietenden Bauern hoch war und die fixen Kosten für die Gespanne aus dem Agrareinkommen der Fuhrleute größtenteils gedeckt waren. Auch hier wußten die Untertanen ihre Interessen zu vertreten; bereits 1665/66 kam es in der Frage der Arbeits- und Fuhrlöhne, die der Landesherr auf niedrigem Niveau zu halten suchte, zum Streit 113 . Was die nicht-landesherrliche Untertanenschaft betrifft, sollte sich die Hoffnung der Regierung, auch die Hofmarksherren auf das Niveau des landesherrlichen Scharwerksgelds als „Landesobservanz" festlegen zu können, im 17./18. Jahrhundert nicht erfüllen 114 . So stellt der Vergleich der stets gleichbleibenden Ablösungssummen von 6 - 1 0 Gulden bei den landgerichtischen Bauern mit den teilweise um ein Mehrfaches höheren Summen bei hofmärkischen Bauern den maßvollen Ansatz von 1665/66 voll heraus. Eine engere Bindung des landgerichtsunmittelbaren Volks an den Landesherrn ist eine Folge von 1665, eine ebensolche Bindung der Lokalbürokratie an die Zentralbürokratie eine andere. Die Umstellung von der natural- zur geldwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffung im Land- und Hofbauwesen der Unter- und Mittelbehörden brachte eine Beseitigung der administrativ-organisatorischen Nachteile der Naturalwirtschaft und tat damit wie R. Schlögl 115 feststellte - einen wichtigen Schritt auf dem langen Weg zur Auflösung feudaler Strukturen im frühmodernen Staat. Die Generalvisitation und die folgende Überwachungspraxis nach den Bestimmungen der " 2 Welche Mengen an Lohnfuhren besonders an Orten mit Kastenverwaltungen zur Disposition standen, kann an folgendem Beispiel (siehe Traktationsakten Reichenhall) gezeigt werden: Am 20.3. 1666 mahnte die Hofkammer den Geheimen Rat zu einer Entscheidung in der Frage der zum Verlag der beiden Salzmeierämter Reichenhall und Traunstein jährlich benötigten Getreidemengen, welche sich im J. 1666 auf 1500 Landshuter Schaff ( = ca. 6 700 Doppelzentner) beliefen. Zu entscheiden war, ob das Dienstgetreide (a) durch Fuhrlöhner von den fürstlichen Kästen im Flachland zu einer günstigen Jahreszeit ins Gebirge transportiert werden soll (so der Vorschlag der Hofkammer) oder (b) im Flachland verkauft und mit den Erlösen der Bedarf in Traunstein und Reichenhall gedeckt werden soll (so der Vorschlag der Visitationskommission). Die Entscheidung ist nicht bekannt. " J In seinem Dekret vom 2. 8. 1667 an die Hofkammer (GR 1273/8) betont der Kurfürst die Notwendigkeit einer Gesamtaufsicht des Visitationsrats u. a. deswegen, weil es vorkomme, daß die Untertanen aus Truz und Muetwillen Iheils Ortt ganz übermessige Lohn fordern und umb ein billiches nit diennen wollen. Die Beamten wurden angewiesen, mit den Bauern um den Fuhrlohn aufs rechtest als möglich (zu) handeln (Abrechnungsformular 1666; MF 12. 289). - Die Bauern stellten Überlegungen an, wie sie den Einsatz ihrer Arbeitskraft und Zugtiere im agrarischen und gewerblichen Bereich optimal kombinieren konnten: Im Salzwesen kam es vor, daß die Fuhr-Bauern keine Transportleistungen erbrachten, weil sie durch landwirtschaftliche Arbeiten gehindert waren oder die Löhnung als nicht ausreichend empfanden. SCHREMMER (Anm. 111), 599. " 4 Vgl. K O P F ( A n m . 20), 106 f ; KELLNER ( A n m . 5), 93 ff. 1,5

SCHLÖGL ( A n m . 3), 2 2 8 .

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Rentmeisterordnung von 1669 entzogen den Gerichtsbeamten die Verfügung über nahezu unbegrenzte Naturalleistungen und damit einen wichtigen Teil ihrer ökonomischen Selbständigkeit, brachten aber nur eine begrenzte Verbesserung des Besoldungssystems durch Verschiebung in Richtung einer stärkeren Geldbesoldung. Verlierer der neuen Politik waren eindeutig die Gerichtsbeamten, da - wie der Pfleger von Neuötting, Maximilian Graf von Portia, dem Rentmeister von Burghausen klagte - die Aufhebung der Frondienste den churförstlichen Pflegern nit zu geringem Nachtheill und praeiuditio gereicht, weillen die Underthonen bey so beschaffnen Sachen, die bis dato hergebrachte Scharwerch nit mehr leisten, sonndern für alle dergleichen Verrichtungen paare Bezallung haben wollen116. Zudem war nicht mehr überall sichergestellt, daß die von den Lokalbeamten für Hofbau- und Amtsfuhren benötigten Arbeitskräfte jederzeit zur Verfügung standen" 7 . Für eine volle Auslastung oder gar eine Erweiterung des Pflegerhofbaus standen die Zeichen in der Folgezeit schlecht. Die den Beamten gewährte Geldentschädigung (Rekompens)1'* war kein Ersatz für die bisher mancherorts üppig genossenen Dienste und sollte zudem, wie die Rentmeisterinstruktion von 166911® (P. 45) anordnet, möglichst niedrig gehalten werden! Auswirkungen hatte die Generalvisitation auch auf die übrigen Verwaltungsinstanzen: Für die im Verlauf der Untersuchungen bei den Außenbehörden sich abzeichnenden Fehlentwicklungen machte der Fürst auch die Mittel- und Zentralbehörden verantwortlich. Nach Abschluß der Traktationen in den Gerichten und Belohnung der verdienten Kommissare 120 veranlaßte er die Einsetzung einer besonderen Untersuchungsbehörde, von welcher neue Impulse für die gesamte Behördenorganisation ausgehen sollten. Es war das am 4. Mai 1666 errichtete Scharwerks- und Visitationskollegium, welchem außerordentliche Vollmachten zufielen. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Gerichtsbeamten zu überwachen und da-

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Schreiben an den Rentmeister vom 15. 3. 1666. GR 1272/1, f. 27. Die Kostenaufstellung der für den Hofbau in Teisbach benötigten Fuhr- und Handarbeitsdienste ( = 232 fl) schließt mit der Bemerkung des besorgten Pflegverwalters, daß man um solche Zeit, da ieder mil ihme selbst zethun, obige Fuhren und Taglöhner umb baar Gelt nit wirdet haben könden (MF 12. 289). Im LG Kranzberg, wo dem Pfleger ein Hofbau zustand, welchen die Untertanen mit zwei Pflügen bebauen mußten, betrug der Scharwerksgeld-Rekompens nach 1665 300 fl (Bestallungsbriefe von 1448 und 1732). Vgl. K L E I N (Anm. 12), 41, 78. W. X. A. Frhr. von K R E I T T M A Y R , Sammlung der neuest- und merckwürdigsten churbayerischen Generalien und Landesverordnungen, München 1771, 547-557: RMI von 1669, P. 45. Nach fast zweijähriger Tätigkeit baten die Kommissare in einer Eingabe an den Geheimen Rat um Enthebung von ihrer beschwerlichen Aufgabe und - im Hinblick auf den durch ihre Pflichterfüllung sich zugezogenen Haß und Widerwillen - um den Schutz des Fürsten und eine ihren Leistungen gemäße Entschädigung: Den Revisions-, Hof- und Hofkammerräten Kreut, Haill, Jobst, Sedlmayr, Leidl und Heygl gewährte der Kurfürst am 20. 2. 1667 in Ansehung irer mit den Visitations- und Scharwerkshandlungen gehabten absonnderlichen Miiehe und darbey erwiesenen Eifer te 600 fl Rekompens; je 100 fl wurde drei Hofrats- und Hofkammerkanzlisten ausgezahlt (GR 1273/8).

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für zu sorgen, daß die arme(n) Landtsunderthonen mit allerhandt ungebirlichen Exactionen und Oblagen nit beschwert (...), der zugesagte Schuz threulich gehalten und mit Nachtruckh remediert werden121. Der Fürst nahm also das anläßlich der Traktationen gegebene Versprechen auf Abstellung der Untertanenbeschwerden und auf Schutz vor den Beamten ernst. Bei berechtigtem Verdacht auf Übergriffe einzelner Beamter sollten sofort Nachforschungen eingeleitet werden. Es heißt weiter, die Generalvisitation hätte bewiesen, daß die regelmäßigen Rentmeisterumritte die Mißstände nicht eingedämmt hätten. Sie wurden deshalb in allen Rentämtern bis auf weitere Resolution eingestellt. Stattdessen sollten überraschende Visitationen durch das neue Kollegium die Beamten mehr in der Zucht und gueter Ordnung erhalten. Der Hofrat und die Regierungen wurden angewiesen, die früher erstatteten, seit geraumer Zeit aber unterlassenen Quartalsberichte über die Qualifikation und das Verhalten der Beamten wieder zu verfassen und an das neue Kollegium einzusenden. Dieses sollte auch anstatt der Geheimen Kanzlei nun neuer Adressat für die Scharwerksgelder sein. Die Unabhängigkeit des neuen Kollegiums gegenüber sowohl Hofrat und Hofkammer als auch den Regierungen demonstrieren mehrere Dekrete des Fürsten, welche diese Behörden auffordern, sich in keiner Weise in die Angelegenheiten des Kollegiums einzumischen. Neben einer Rüge erhielt der Hofrat den Auftrag, den Gerichtsbeamten per Generale aufzutragen, daß sie den Obmannschaften bedeuten sollen, dafern sie künftig in Scharwerkssachen oder wider die Beambte und Gerichtsbediente einig billiche Beschwerden haben würden, solche bei mehrerwähnten Collegio anzubringen (,..)122. Deutlicher konnte die Bindung zwischen Fürst und Armem Mann unter Umgehung aller Instanzen nicht zum Ausdruck gebracht werden! Das Kompetenzgerangel mit Hofkammer und Hofrat führte im Juni 1669 zur Auflösung des Scharwerks- und Visitationskollegiums 123 und zur Wiederaufnahme der Umritte durch die Rentmeister, de121

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Es liegt nur vor ein Extract aus der Instruction für das Collegium vom 4. 5. 1666 (GR 1273/ 7). Über die Mitglieder des neuen Kollegiums liegen keine Informationen vor. - Mit Dekret vom 6. Mai 1666 gab der Kurfürst der Hofkammer die Abordnung des Kollegiums zur Scharwerksregulierung und Generaivisitation, die Einstellung der Rentmeisterumritte in allen Rentämtern bis auf weitere Resolution sowie deren Auftrag bekannt. Unter dem gleichen Datum wurden die Regierungen angewiesen, alle Beschwerdefälle an das neue Kollegium weiterzuleiten. M F 12. 289. Das Dekret vom 2. 8. 1667 spricht der Hofkammer, ein weiteres vom 13. 8. 1667 dem Hofrat das Mißfallen des Fürsten wegen Einmischung in die dem Kollegium ganz übergebenen Scharwerkssachen aus (GR 1273/8). Das Dekret vom 19. 6. 1669 (HK 440 Nr. 1) hob das Visitationskollegium auf, nachdem der Fürst festgestellt hatte, wie schlecht es bey dem aufgestellten Visitationscollegio hergangen, indeme die dazue verordneten Räte zu dem Directorio den gebihrenten Respect nit getragen. Die von der abgeschlossenen Visitation herrührenden Angelegenheiten wurden zur Bearbeitung übertragen dem Hofoberrichter Wolf Ehrenreich von Zeilkofen, dem Rentmeister im Oberland, Franz Felix Scharfseder, und den Hofräten Franz Adam Präntl und Dr. Johann Baptist Kreutt. Mit der Bearbeitung der Scharwerkssachen wurden die Hofkammer- und Hofräte Brodtreiß, Leidl, Heygl betraut, welche bisher die Visitations- und Scharwerkssachen abgewartet (...). Nach ROSENTHAL (Anm. 22), 401 wurde 1678 erneut ein Visitationskolle-

Bauernschutz und Fiskalismus unter Kurfürst Ferdinand Maria

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ren herausragende Stellung erneut betont wird 124 . Die Behebung der Beschwerden der Untertanen war ein auch in der Folgezeit überzeugend bewiesenes Anliegen der Regierung Ferdinand Marias, was in der Hauptsache für Caspar von Schmid gilt. Das Studium der Traktationsakten läßt die Feststellung zu, daß die erneuerte Rentmeisterinstruktion von 1669125, welche Caspar von Schmid nach dem Münchner Landtag im Sommer und Herbst 1669 ausarbeitete, im Grunde eine Zusammenfassung der seit 1665 ergriffenen Maßnahmen gegen jene Mißstände war, die im Zuge der Traktationen und der einhergehenden Visitationen der Gerichte im Lande aufgedeckt worden waren. Die in ihre Bestimmungen eingegangene Detailkenntnis des Vizekanzlers ist wohl der beste Beweis für seine tragende Rolle bei jenen innenpolitischen Vorgängen von 1665/69: Die Instruktion, ein Dokument landesherrlicher Schutzherrschaft und Fürsorge insbesondere für das landgerichtische „Staatsvolk", möchte die entdeckten Verstöße der Beamten und Amtleute durch die strenge Überwachungstätigkeit des Rentmeisters verhindern. Nachdem die Rentmeisterumritte während des Krieges zum Stillstand gekommen waren und die in den fünfziger Jahren reaktivierte Behörde sich als Kontrollinstanz zur Beseitigung der MißStände unfähig erwiesen hatte, brachte die von Caspar von Schmid erneuerte Instruktion eine Wiederbelebung der Institution. Ein typischer Zug der Instruktion war der Versuch der Disziplinierung des landesherrlichen Gerichtspersonals durch den Auftrag an den Rentmeister, die Untertanen selbst über deren Maßnahmen und Vergehen zu befragen und auszuhorchen. Aber der Rentmeister bekam insgesamt nur beratende und überwachende Funktion, nicht jene Machtbefugnisse, mit welchen die französischen Intendanten und die brandenburgischen Militär- und Zollkommissare ausgestattet waren. Hinter diesen Bestimmungen stand nach L. Hüttl die Absicht Caspar von Schmids, alle Entscheidungsbefugnisse der Münchner Regierung, nicht zuletzt sich selbst, vor(zu)behaltenn6. Schmids Bemerkung in seinem Kommentar zum Landrecht von 1616, daß die unter seiner maßgeblichen Mitwirkung beschlossene Scharwerksumwandlung änderst nit (hätte) geschehen könne(n), außer die Untertonen thun freywillig einwilligen, ist der zentrale Beleg dafür, daß die insgesamt Fortsetzung Fußnote von Seite 126 gium (Visitationsrat) bestellt. Wiederum wurde es dem Hofrat und der Hofkammer untersagt, sich in die Visitations- und Inquisitionssachen einzumischen oder Visitationen anzuordnen. Die Hofkammer durfte nur in reinen Kameralsachen eine Inquisition vornehmen (Dekret vom 7. 10. 1678). 124 Der Kurfürst verfügte unter dem 12. 7. 1675, daß dem Rentmeister immer der Vorgang vor anderen Räten gelassen werde. G. K. MAYR, Sammlung der Churpfalz-Baierischen allgemeinen und besondern Landes-Verordnungen, München 1788, 130. Von den 117 Punkten der RMI von 1669 sind die P. 1-56, 107-117 für den ländlichen, die übrigen für den städtischen Bereich einschlägig. - DOEBERL (Anm. 11), 44 und HÜTTL (Anm. 15), 180 ff würdigen die Bedeutung der Instruktion, jedoch ohne Kenntnis der Zusammenhänge mit den Vorgängen der Jahre 1665/69. H Ü T T L ( A n m . 1 5 ) , 1 8 3 . V g l . a u c h DOEBERL ( A n m . 1 1 ) , 4 5 .

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noch erträgliche Gangart der Traktationen von seiner bauernfreundlichen Haltung entscheidend mitgeprägt wurde. Seiner von der christlichen Liebe vorgeschriebenen Auffassung 127 , (...) dann unsere Bauern seynd freie Leuth, und keiner Dienstbarkeit oder Servitut unterworffen, und also nicht auf Böhmische Arth zu tractiren und auf das Bluth auszusaugen, konnte er während der Traktationen nicht nur gegenüber maßlosen Beamten und Adeligen, sondern gelegentlich auch gegenüber dem Landesherrn Geltung verschaffen. So hielt er eine Verschärfung des Verhandlungsklimas, welche die Kompromißlosigkeit des Kurfürsten in der Frage der Jagdscharwerk manchmal verursachte, in Grenzen. Die von Caspar von Schmid zitierten Verhältnisse in Böhmen, wo es zum ständischen Großbetrieb und zur Erbuntertänigkeit kam, seien anhand der im Jahr 1666 veröffentlichten Schilderung des zeitgenössischen Schriftstellers I. E. Wegener 128 beleuchtet: Die schuldigen Roboten sind (die Untertanen) schuldig zu verrichten; daß man sie aber Tag vor Tag die ganze Woche will auf die Robot treiben, und den Feiertag ins Schloß kommen lassen, Geld zu geben, wie an vielen Orten geschieht, ist nicht rühmlich, sondern so zu reden Türkisch (...); man muß die Wahrheit bekennen, wenn ein böhmischer Bauer alle Arbeit, so ihm von seiner Obrigkeit auferleget wird, alle Kontributionen und schwere Pressuren, die er ausstehen muß; item alle Unbilde, welche ihm von denen Soldaten zugefügt wird, mit Geduld übertrüget (= erträgt), gewiß wohl kann unter die hl. Märtyrer gerechnet werden. In Böhmen wurde durch das Robotpatent von 1680, welches der Kaiser als böhmischer Landesherr ohne Mitwirkung der Stände erließ, die Fronarbeit auf höchstens drei Tage pro Woche herabgesetzt. In Bayern hatte die landesherrliche Schutzpolitik eine Begrenzung der Scharwerk hofmärkischer Untertanen auf maximal 50 Tage im Jahr, also auf einen Tag im Wochendurchschnitt, erreicht 129 . Mit der weitgehenden Ablösung der landesherrlichen Scharwerk, die nur einen Bruchteil der hofmärkischen betrug, gab Ferdinand Maria 1665/66 ein zukunftsweisendes Signal.

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C. von SCHMID, Commentarius oder Auslegung des Chur-Bayerischen Land-Rechts, 2. Theil, Augsburg 1747, 150. Joannis Erasmi WEGENERS Oeconomia Bohemo-Austriaca, Prag 1666, 21-23, zitiert nach PRINZ, Hans Kudlich (Anm. 1), 34. V g l . PRINZ, H a n s K u d l i c h ( A n m . 1), 3 6 ; SCHLÖGL ( A n m . 3), 176.

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Anhang Die Ergebnisse der Scharwerksablösung in den Gerichten der vier Rentämter nach dem Stand von ca. 1668130 Die Höhe der ausgehandelten Scharwerksgelder für den Ganzhof (in Gulden) ist in einzelnen Land- u n d Pfleggerichten nach Ämtern oder Obmannschaften gestaffelt: RA München: Abensberg 4; Altmannstein 3; Aibling, Aichach, Auerburg je 6; Dachau 6 - 8 ; Friedberg 7-10; Kranzberg 5 - 6 ; Landsberg 6 - 7 ; Mainburg 7; Marquartstein 8; Mering 7; Neustadt 8; Pfaffenhofen 6 - 8 ; Rain 7; Rauhenlechsberg 6; Reichenhall: 45 kr für die gemeine Sölde, 22'/2 kr f ü r das Leerhäusl; Rosenheim 8; Schongau 6; Schrobenhausen 7; Schwaben 6-8 ; Starnberg 6 ; Tölz 3 ; Traunstein 8 ; Vohburg 7-9 ; Wasserburg 6; Weilheim 6; Wolfratshausen 6-7. In der Liste fehlen Gerolfing, Kösching, Riedenburg und Stammham-Otting; dort wurde die Naturalscharwerk beibehalten. RA Burghausen: Braunau 8; Friedburg 10-12, Julbach 8, Kling 2 und 3Ά fl für das Lehen; Kraiburg 3; Leonberg-Marktl 8 - 9 ; Mattigkofen 9 12; Mauerkirchen 12; Mörmoosen 8 - 9 ; Ried 6 - 1 6 ; Schärding 7 - 1 0 ; Trostberg 7 - 8 ; Wildshut 9. Keine Angaben liegen vor für das Forstgericht und Kastenamt Burghausen, Land- und Forstgericht Neuötting sowie für Uttendorf. RA Landshut: Dingolfing 6; Dorfen 8; Eggenfelden 7 - 8 ; Erding 6 - 8 ; Geisenhausen 8; Griesbach 8 - 1 0 ; Hals 6; Landau 8; Landshut (Hofkastenamt) 8 ; Moosburg 6-7 ; Natternberg, Neumarkt, Osterhofen, Reichenberg je 8 ; Reisbach 7 ; Rottenburg 6 - 8 ; Teisbach 6-8 ; Vilsbiburg 8 ; Vilshofen 6-8. Angaben für Eggmühl u n d Kirchberg fehlen. RA Siraubing: Abach 9; Bärnstein, Cham, Deggendorf, Diessenstein je 6; Haidau-Pfatter, Hengersberg je 8; Kelheim 8 (das Kastenamt nur 4); Kötzting 4—6; Leonsberg 8; Linden 5; Mitterfels 6; Neukirchen 8; Regen 6; Stadtamhof 10; Straubing 8 - 1 0 ; Viechtach, Winzer je 6; Zwiesel 6. Für Diethfurt, Furth i. W. , Schwarzach und Weissenstein liegen keine Angaben vor.

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Extract aus denen Rechnungen (...), welchergestalt nemlichen wegen dem Ordinari Scharwerchgeld mit denen Underthonen tractirt worden (GR 1273/6 Nr. 18). Aufgrund der bereits vorgenommenen Moderationen (z. B. im Bayerischen Wald und im LG Schärding) ist die Liste auf die Jahre 1668/70 zu datieren.

Christoph Henzler Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung Der Kampf eines bayerischen Kurfürsten um seinen absoluten Herrschaftsanspruch „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte!" 1 - Diese Einschätzung Friedrich Schillers zur Beurteilung der historischen Persönlichkeit Albrechts von Wallenstein läßt sich zweifellos auch auf den letzten altbayerischen Wittelsbacher Maximilian III. Joseph (1745-1777) übertragen, dem noch zu Lebzeiten seine Untertanen den Beinamen „der Gute", „der Mildtätige" oder „der Vielgeliebte" zuerkannten 2 . Auch die drei bisher erschienenen Biographien aus den Jahren 1785, 1833 und 1863 sind im Stil weitgehend Panegyrik 3 . Doch nachdem die bayerische und deutsche Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, welche allzu sehr an einer offensiven Außenpolitik und am Einheitsstaat orientiert gewesen war, Max III. nur noch als „schwächlichen Herrscher" in die Ecke des Vergessens gedrängt und ihm höchstens noch als „ehrbaren Charakter" einen Platz in den Darstellungen bayerischer Geschichte eingeräumt hatte 4 , erachtete nicht einmal die Bayerische Akademie der Wissenschaften 1977 ihren Gründer zu seinem 200. Todestag einer Vortragsveranstaltung für würdig. Jüngere Arbeiten von Friedrich Prinz, Ludwig Hammermayer, Waltraud Müller, Alois Schmid und Manfred Rauh 5 zeigen aber, daß dieser barocke Herrscher völlig zu Un1 2

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Friedrich Schiller, Prolog zu „Wallensteins Lager". Vgl. bes. L. von WESTENRIEDER, Geschichte von Baiern für die Jugend und das Volk, Bd. II, München 1785, 660-670. W. ROTHAMMER, Biografie Maximilian III. von Baiern, Regensburg 1785; F. J. LIPOWSKY, Leben und Thaten des Maximilian Joseph III, München 1833; F. A. W. SCHREIBER, Max Joseph III. der Gute, Kurfürst von Bayern, München 1863. - Kritische Stimmen zum Wirken Max III. waren hingegen selten; vgl. A. L. SCHLÖZER, Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts, Göttingen 1780, bes. 256. Vgl. K. Th. von HEIGEL, Maximilian III. Joseph, in: ADB 21 ( N D 1970), 27-31; A. MITTERWIESER, Kurfürst Maximilian III. Joseph, der Mildtätige, in: ZBLG 1 (1928), 48-51; B. HUBENSTEINER, Bayerische Geschichte, München '"1985, 280-284. F. PRINZ, Max III. Joseph - ein glanzloser bayerischer Kurfürst?, in: ZBLG 41 (1978), 595606; L. HAMMERMAYER, Bayern im Reich und zwischen den großen Mächten. Vom Frieden zu Füssen bis zum Tode des Kurfürsten Max' III. Joseph, in: Handbuch der bayerischen G e s c h i c h t e I I , h g . v o n M . SPINDLER, M ü n c h e n

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1 9 8 8 , 1 1 3 8 - 1 2 3 6 ; A . SCHMID, M a x I I I . J o -

seph und die europäischen Mächte. Die Außenpolitik des Kurfürstentums Bayern von 1745-1765, München 1987; W. MÜLLER, „Zur Wohlfahrt des gemeinen Wesens". Ein Bei-

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recht der Vergessenheit anheimgefallen ist. Seine bisher wissenschaftlich eher geringere Attraktivität hat sicherlich etwas mit dem zu tun, was F. Prinz mit dem modernen Begriff des „Verzichtspolitikers" zu umschreiben sucht 6 : Max III. Joseph, am 20. Januar 1745 an die Regierung gekommen, war kein strahlender Kriegsheld oder außenpolitischer Machtmensch, sondern ein Landesfürst, der erheblich nüchterner als sein Vater und Großvater, Karl Albrecht und Max Emanuel, die Möglichkeiten seines politischen Handelns in Deutschland und Europa einzuschätzen wußte und aus dieser Fähigkeit heraus - wenn auch nicht leichten Herzens - auf außenpolitisches „Muskelspiel" verzichtete und Positionen im Mächtespiel zwischen Habsburg, Frankreich und Preußen aufzugeben bereit war, die unter seinen Vorgängern nur unter Aufbietung aller Kräfte und letztlich um den Preis eines kriegsverwüsteten und vom Staatsbankrott bedrohten Landes aufgebaut worden waren 7 . Hingegen ist dem innenpolitischen Wirken Max' III. Joseph bereits eine größere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Hatte dieser doch selbst einmal die Aufgabe seiner Regierung auf die knappe Formel gebracht: Meine erste Absicht ist die Ruhe und Wohlfahrt meiner Untertanen, und mein Partikularinteresse, welches bei so vielen Landesfiirsten die erste zu sein pflegt, ist bei mir erst die andere8. Eine derartige Maxime mußte ihn jedoch in besonderer Weise mit jener staatlichen Einrichtung konfrontieren, die seit der für Bayern in einer Katastrophe endenden Außenpolitik Max Emanuele wieder zunehmend im Lande Einfluß erlangt hatte: die Landstände, zu jener Zeit durch die Landständeverordnung repräsentiert 9 . Im Mittelalter

Fortsetzung Fußnote von Seile 131 trag zur Bevölkerungs- und Sozialpolitik Max III. Joseph (1745-1777) (Miscellanea Bavarica Monacensia 133), München 1984; M. RAUH, Verwaltung, Stände und Finanzen. Studie zu Staatsaufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späten Absolutismus (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XIV), München 1988. 6

F. PRINZ, Kurfürst Max III. Joseph (1745-1777), in: Christenleben im Wandel der Zeit, hg. von G. SCHWAIGER, Bd. 1 : Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Freising, München 1987, 2 9 7 - 3 0 9 .

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Daß es Max III. aber dennoch gelang, Bayern weiterhin als umworbenen Bündnispartner auf dem Kontinent zu erhalten, hat erst die Habilitationsschrift von SCHMID (Anm. 5) facettenreich für die Jahre 1745 bis 1765 herausgearbeitet. - Zur Kaiserwahl 1745 vgl. A. SCHMID, Bayern und die Kaiserwahl 1745, in: Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag, hg. v. P. FRIED und W. ZIEGLER (Münchner Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte, Bd. 10), Kallmünz 1982, 257-276. 8 Zitiert nach: M. DOEBERL, Entwicklungsgeschichte Bayerns II, München 31928, 293; vgl. Th. BITTERAUF, Die kurbayerische Politik im siebenjährigen Krieg, Nördlingen 1901, 19. ' Neben RAUH (Anm. 5) grundlegend zur Entwicklung der Landstände: K. O. Frhr. von ARETIN, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714-1818, München 1976; DERS., Die bayerische Landschaftsverordnung 1714-1777, in: D. GERHARD, Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 27), Göttingen 1969, 208 ff; K. BOSL, Die Geschichte der Repräsentation in Bayern. Landständische Bewegung, landständische Verfassung, Landesausschuß und altständische Gesellschaft, München 1974; R. VIERHAUS, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, in: HZ 223 (1976), 40-60; K.-L. AY, Land und Fürst im alten Bayern.

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

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waren die Ständevertreter durch den zunehmenden Geldbedarf der Fürsten und die zunächst nur als zusätzliche und freiwillige Abgabe gewerteten Steuern immer stärker an der Regierung des Landes beteiligt worden 1 0 . Der g e w o n n e n e Einfluß der Stände als geschlossen auftretende Gruppe war unter der energischen Regierung des ersten bayerischen Kurfürsten, Maximilians I., weitgehend auf eine Beratungs- und Verwaltungstätigkeit

Fortsetzung

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Fußnote

von Seite

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16.-18. J a h r h u n d e r t , Regensburg 1988. - Die Arbeit von RAUH ( A n m . 5) geht dabei auch auf die eigenberechtigten Gewaltbefugnisse d e r einzelnen Ständemitglieder in deren Verwaltungs- u n d Herrschaftsbezirken ein. D e r Ü b e r g a n g von der Natural- zur G e l d w i r t s c h a f t im 11./12. J a h r h u n d e r t und die gleichzeitig einhergehende M i n d e r u n g des G e l d w e r t e s f ü h r t e dazu, d a ß die herzoglichen K a m mergefälle schon bald nicht m e h r zur D e c k u n g des landesherrlichen G e l d b e d a r f s ausreichten. Als außerordentliche Steuerleistungen, die zunächst von den unmittelbaren herzoglichen U n t e r t a n e n gefordert, auch von den G r u n d h o l d e n u n d Vogtholden des A d e l s eingefordert werden sollten, ließ sich dieser die zusätzlich erhobenen Gelder ausdrücklich als freiwillige u n d nicht regelmäßige Z a h l u n g bestätigen. D a r ü b e r hinaus erkannten die bayerischen Landesfürsten ausdrücklich ein Einigungs- u n d Widerstandsrecht des Adels, der Prälaten u n d der Bürger als gemeinsam h a n d e l n d e r G r u p p e ( „ L a n d s t ä n d e " ) an, wobei d e m Adel u n d den Prälaten - zunächst in N i e d e r b a y e r n - noch zusätzlich die niedere Gerichtsbarkeit zugestanden wurde. Damit w a r j e n e enge Verflechtung d e r sich herausbildenden u n d als geschlossene, politisch h a n d e l n d e K ö r p e r s c h a f t a u f t r e t e n d e n L a n d s t ä n d e mit der Steuer- u n d Finanzpolitik der bayerischen Herzöge und späteren Kurfürsten grundgelegt, d i e das Verhältnis von Landesherr u n d S t ä n d e n bis zum E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s bestimm e n sollte. Weitere E t a p p e n bei der A u s f o r m u n g einer geschlossenen L a n d s c h a f t sind die U r k u n d e n von Landshut u n d Straubing (1394) sowie von M ü n c h e n (1395). N a c h der Wiedervereinigung von Ober- u n d N i e d e r b a y e r n 1505 im K ö l n e r Spruch Kaiser Maximilians I. w a r es d a n n die „ L a n d e s f r e i h e i t s e r k l ä r u n g " von 1508 als das erste gesamtbayerische Gesetzbuch - 1514 geändert u n d 1516 endgültig ausformuliert - , in d e m eine einheitliche Form u l i e r u n g der landständischen Position niedergelegt u n d als verfassungsmäßige Stellung verbindlich formuliert wurde. D a r ü b e r h i n a u s kam es w ä h r e n d d e r schwachen Regierung Wilhelms IV. (1508-1550) zu einem ersten H ö h e p u n k t landschaftlicher M a c h t f ü l l e , als die S t ä n d e w ä h r e n d der Zeit der Minderjährigkeit des Landesfürsten direkt a n der Regierung beteiligt wurden. - Vgl. D o k u m e n t e z u r Geschichte von Staat u n d Gesellschaft in Bayern, hg. von K. BOSL, Abt. I: Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 2: Altbayern von 1180 bis 1550, bearb. von K.-L. AY, M ü n c h e n 1977; M. Frhr. v o n FREYBERG, Z u r Geschichte der bayerischen L a n d s c h a f t u n d Steuern, bearb. U r k u n d e n u n d Beilagen, München 1800; G . K. MAYR, S a m m l u n g der Kurpfalz-Baierischen allgemeinen u n d b e s o n d e r e n Landesverordn u n g e n , 6 Bde., M ü n c h e n 1784-1799; P. FRIED, Z u r Geschichte d e r Steuern in Bayern, in: L a n d u n d Volk, Herrschaft u n d Staat in der Geschichte u n d Geschichtsforschung Bayerns. Festschrift f ü r Karl Alexander von Müller z u m 80. Geburtstag, in: Z B L G 27 (1964), 5 7 9 f f ; J. P. HARL, Erster Versuch d e r Geschichte des Steuerwesens in d e r Steuerliteratur von den älteren Zeiten bis auf unsere Tage, o . O . 1814; L. HOFFMANN, Geschichte d e r direkten Steuern in Bayern vom E n d e des 13. bis z u m Beginn des 19. J a h r h u n d e r t s . Ein finanzgeschichtlicher Versuch (Staats- u n d sozialwissenschaftliche Forschungen, N . F. 4 / V ) , Leipzig 1883; H . LIEBERICH, Die L a n d s c h a f t des H e r z o g t u m s Bayern, i n : Mitteilungen für d i e Archivpflege in O b e r b a y e r n 14 (1943), 285 f f ; DERS., D e r Bürgerstand in der baierischen L a n d schaft, in: Mitteilungen für die Archivpflege in O b e r b a y e r n 23 (1945), 593 ff ; DERS., Die bayerischen L a n d s t ä n d e 1313/40-1807 (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 7), K a l l m ü n z 1990; J. B. G . PANZER, Versuch ü b e r d e n U r s p r u n g u n d die A n f ä n g e der landständischen Rechte in Baiern. Abt. 1 u. 2, o . O . 1798; H. RANKL, Staatshaushalt, S t ä n d e u n d „ G e m e i n e r N u t z e n " in Bayern 1500-1516 (Studien zur bayerischen Verfassungs- u n d Sozialgeschichte VII), M ü n c h e n 1976; Recht, Verfassung u n d Verwaltung in Bayern 15051946. Ausstellungskatalog, M ü n c h e n 1981, bes. 19; H. RALL, K u r b a y e r n in der letzten E p o che d e r alten Reichsverfassung 1745-1801, M ü n c h e n 1952, bes. 366f.

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Christoph Henzler

zurückgegangen", um sich dann in der Zeit des Exils Max Emanuels (1706—1714) erneut als „Landesvertretung" gegenüber der österreichischen Besatzungsmacht stärker in den Vordergrund zu schieben 12 . Das unglückselige Kaiserabenteuer Karl Albrechts, dem es nach Ludwig dem Bayern (1314-1347) als zweitem Wittelsbacher nochmals gelang, von 1742 bis 1745 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu werden, ließ diese Position weiter festigen 13 . Zudem hatte sich noch unter Ferdinand Maria eine verfassungspolitische Entwicklung stabilisiert, die nicht unwesentlich zum nochmaligen Machtanstieg ständischer Vertreter führte. Schon 1577 hatte ein zwölfköpfiges Gremium mit Vertretern des Adels-, des Prälaten- und des Bürgerstandes als „Verordnung" erstmalig die Ermächtigung vom Landtag erhalten, die Geschäfte auf 12 Jahre zu führen. Diese Praxis wiederholte sich in den folgenden Jahren, zumal die Verordnung sogar die Möglichkeit hatte, die in ihren Reihen durch Tod oder Rücktritt freiwerdenden Stellen durch Nachwahl neu zu besetzen. Damit hatte sich diese zunächst als Verwaltungsgremium geschaffene Einrichtung endgültig vom Landtag, der 1669 zum letzten Mal tagte, gelöst

"

N e b e n dem gesteigerten fürstlichen Selbstbewußtsein, besonders eng v e r k n ü p f t mit d e m A u f b a u eines stehenden Heeres bzw. allein d e m Landesfürsten verpflichteten S ö l d n e r t r u p p e n , ist v o r a l l e m d e r U m s t a n d d e r z u n e h m e n d e n S t r e i t i g k e i t e n i n n e r h a l b d e r L a n d s c h a f t e i n n i c h t u n w e s e n t l i c h e r G r u n d , d a ß die S t ä n d e als G e s a m t v e r t r e t u n g z u n e h m e n d d e m E i n griff des Fürsten ausgesetzt waren. So ging eine Mitsprache im G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n ber e i t s u n t e r M a x i m i l i a n I. f a k t i s c h v e r l o r e n , s o d a ß s e i n S o h n F e r d i n a n d M a r i a n u r n o c h „ G u t a c h t e n " e i n z u h o l e n pflegte. A u c h a u f R e i c h s e b e n e , b e s o n d e r s d u r c h d i e W a h l k a p i t u l a r i e n K a i s e r L e o p o l d s I. v o n 1658, w u r d e d i e d i r e k t e M i t s p r a c h e d e r S t ä n d e z . T . d r a s t i s c h e i n g e s c h r ä n k t . D o c h d e r R e i c h s s c h l u ß v o n 1670, d u r c h w e l c h e n d e n S t ä n d e n d i e A u f e r l e g u n g a l l e r m i l i t ä r i s c h n ö t i g e n M i t t e l a b g e z w u n g e n w e r d e n sollte, b i l d e t e e i n e n g e w i s s e n S c h l u ß s t r i c h u n t e r d e n a n d a u e r n d e n M a c h t z e r f a l l . K a i s e r L e o p o l d I. w e i g e r t e s i c h , i h n z u bestätigen, u n d damit begann jene Verbindung zwischen Ständen u n d Kaiser, die für den n o c h m a l i g e n A u f s t i e g d e r L a n d s c h a f t v o n b e s o n d e r e r B e d e u t u n g w a r . - Vgl. bes. v o n ARETIN, B a y e r n s W e g ( A n m . 9), 13; BOSL ( A n m . 9), 2 0 7 - 2 1 0 ; F. L. CARSTEN, D i e U r s a c h e n d e s N i e d e r g a n g s d e r d e u t s c h e n L a n d s t ä n d e , i n : H Z 192 (1961), 2 7 3 - 2 8 1 ; F . ZIMMERMANN, Bayerische Verfassungsgeschichte v o m A u s g a n g der L a n d s c h a f t bis zur V e r f a s s u n g s u r k u n d e v o n 1818, M ü n c h e n 1940, b e s . 13 f f . - E s gilt j e d o c h , w i e RAUH ( A n m . 5) h e r a u s a r b e i t e t , z u b e t o n e n , d a ß h i e r lediglich d i e M i t s p r a c h e d e r S t ä n d e a n d e r d i r e k t e n R e g i e r u n g s t ä tigkeit des K u r f ü r s t e n betrachtet w e r d e n k a n n . D u r c h die g r u n d h e r r l i c h e n Rechte der einz e l n e n S t ä n d e m i t g l i e d e r fiel diesen in B a y e r n i m m e r e i n e d i r e k t e a d m i n i s t r a t i v e A u f g a b e „ v o r O r t " z u . T r o t z d e m b l e i b t es f r a g l i c h , o b d i e E i n g r i f f e M a x i m i l i a n s I. in d i e l a n d s t ä n d i s c h e V e r f a s s u n g w i r k l i c h n u r eine v o n i h m b e w u ß t e „ z e i t w e i l i g e D u r c h b r e c h u n g d e r V e r f a s s u n g " d a r s t e l l e n , w i e RAUH ( A n m . 5), 167 feststellt. O f f e n s i c h t l i c h w a r es g e r a d e d i e a d ministrative E b e n e der ständischen M i t w i r k u n g , die der erste bayerische K u r f ü r s t nicht g r u n d s ä t z l i c h a u s z u s c h a l t e n g e d a c h t e , n i c h t j e d o c h d i e M i t s p r a c h e d e r S t ä n d e als g e s c h l o s s e n e r K ö r p e r s c h a f t im R a h m e n d e r f ü r s t l i c h e n F i n a n z p o l i t i k . Vgl. a u c h T e s t a m e n t M a x i m i l i a n s I. i n : M . F r h r . v o n FREYBERG, P r a g m a t i s c h e G e s c h i c h t e d e r b a y e r i s c h e n G e s e t z g e b u n g u n d S t a a t s v e r w a l t u n g seit d e n Z e i t e n M a x i m i l i a n I., B d . 1, L e i p z i g 1836, 1 1 2 ; AY ( A n m . 9), 167 f.

12

Vgl. B. DAUERER, D i e R o l l e d e r b a y e r i s c h e n L a n d s t ä n d e im S p a n i s c h e n E r b f o l g e k r i e g ( 1 7 0 5 ) , M ü n c h e n 1985 ( M a g i s t e r a r b e i t ; e i n s e h b a r a m I n s t i t u t f ü r B a y e r i s c h e G e s c h i c h t e , L u d w i g s t r . 14, M ü n c h e n ) . Z u r P e r s o n K a r l A l b r e c h t s vgl. P. C . HARTMANN, K a r l A l b r e c h t - K a r l V I I . : G l ü c k l i c h e r K u r f ü r s t - u n g l ü c k l i c h e r K a i s e r , R e g e n s b u r g 1985. - L e t z t l i c h ließ sich K a r l A l b r e c h t v o n d e r L a n d s c h a f t finanziell e n t m ü n d i g e n , v o n FREYBERG ( A n m . I I ) , 102 f f ; AY ( A n m . 9), 171.

13

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

135

und stieg zum „Landtagsersatz" auf 14 . Das eigentliche Fundament landständischer Macht bildeten dabei die finanzpolitischen Rechte, die den Kurfürsten zwangen, die Zustimmung zu allen relevanten steuerpolitischen Angelegenheiten einzuholen und zudem der Verordnung die selbständige Erhebung und Verwaltung einer Reihe von Steuern und Abgaben zu überlassen 15 . Für den jungen Monarchen zweifellos eine besondere Herausforderung, nicht nur im Hinblick auf sein fürstliches Selbstverständnis, sondern auch unter dem Aspekt einer sich zunehmend entwikkelnden umfassenden staatlichen Verwaltungsstruktur 16 . Für Max III. Joseph gab es bei Regierungsantritt neben der Frage, inwieweit die Pläne des Vaters fortgesetzt werden könnten, nur ein brennendes Problem: die völlig zerrütteten Staatsfinanzen 17 . So war selbst der Hausschatz größtenteils verpfändet, wie auch die kurfürstlichen Familien1,1

15

Zur Ausbildung eines ständischen Ausschusses in O b e r b a y e r n 1430 vgl. D o k u m e n t e (Anm. 10), 574-581. - Vgl. von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 13-17; RALL ( A n m . 10), 371; O.V., D e r Landtag im K u r f ü r s t e n t u m Bayern v o m Jahre 1669. Aus authentischen H a n d s c h r i f t e n gesammelt, o. O. 1803. - Der von Bosl im Z u s a m m e n h a n g mit der Festigung der L a n d s c h a f t s v e r o r d n u n g benützte Begriff eines „ p a r l a m e n t a r i s c h e n O r g a n s " (BOSL [Anm. 9], 210), m u ß m. E. mit größter Vorsicht a n g e w a n d t werden, wenn er nicht sogar am eigentlichen C h a r a k t e r der V e r o r d n u n g vorbeigeht, von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 16 f lehnt einen solchen Begriff a u f g r u n d der in ihm enthaltenen Interpretation ab, wie auch R. VIERHAUS, D e u t s c h l a n d im Zeitalter des Absolutismus (1648-1763), in; Deutsche Geschichte 2. Frühe Neuzeit, hg. von B. MÖLLER, M. HECKEL, R. VIERHAUS, K. O. Frhr. von ARETIN, Göttingen 1985, 357-512, bes. 450f betont, d a ß die S t ä n d e u n d auch die Verordn u n g nach ihrem Selbstverständnis das Land nicht vertraten, s o n d e r n es „darstellten". Vierhaus ist zweifellos zuzustimmen, wenn er die L a n d s t ä n d e als „ e i n e historische Vorstufe des Repräsentationssystems u n d des m o d e r n e n P a r l a m e n t a r i s m u s " charakterisiert. Z u m Bereich des Finanz- u n d Steuerwesens in Bayern vgl. n e b e n den Arbeiten von FRIED ( A n m . 10) u n d HOFFMANN ( A n m . 10) b e s . E . SCHREMMER, D i e F i n a n z w i r t s c h a f t d e s a b s o l u -

ten Staates: Bayern im 18. J a h r h u n d e r t , in: E. HINRICHS, Absolutismus, F r a n k f u r t a. M. 1986, 196-213; AY (Anm. 9), 159-184; z u m V e r w a l t u n g s a u f b a u vgl. A. SCHMID, R e f o r m a b solutismus K u r f ü r s t M a x ' III. J o s e p h von Bayern, in: Z B L G 54 (1991), 39-76. - Dabei gilt es j e d o c h grundsätzlich festzustellen, d a ß in Bayern die fürstlichen (Camerale) u n d ständischen (Contrihutionale) Finanzgebiete i m m e r streng getrennt blieben. " Vgl. RAUH (Anm. 5), bes. 21-136, 169; k n a p p e Darstellung in: Recht, Verfassung u n d Verwaltung in Bayern (Anm. 10), bes. 79-92. - Z u m Aspekt d e r d u r c h den V e r w a l t u n g s a u f b a u möglichen sozialen Mobilität vgl. AY ( A n m . 9), 13-29. 17 Die Staatsschulden des K u r f ü r s t e n t u m s Bayern hatten sich unter M a x E m a n u e l u n d Karl Albrecht kontinuierlich verschlechtert: von ca. 20 Mill, fi im J a h r e 1720 waren die Schulden von 25.830.000 fl (1747) auf schließlich 34 Mill, fi im Jahre 1749 angewachsen. Zahlen n a c h : E. SCHREMMER, Die Wirtschaft Bayerns. Vom h o h e n Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung, M ü n c h e n 1970, 262. - Insgesamt gestaltet es sich äußerst schwierig, über den G e s a m t h a u s h a l t des bayerischen Staates genaue Aussagen zu m a c h e n , d a es einen vollständigen Bruttohaushalt erst im 19. J a h r h u n d e r t gibt. Somit m u ß der Haushalt des absolutistischen Fürsten als „ N e t t o h a u s h a l t " bezeichnet w e r d e n , da er sich n u r aus d e m zusammensetzt, was in der zentralen Kasse d e r fürstlichen Verwaltung eintraf. Z u r Auszahlung k a m e n d a n n S u m m e n f ü r die Posten U n t e r h a l t des H o f e s (mit Z e n t r a l b e h ö r d e n ) , Mittel f ü r das Militär (wenn nötig f ü r aktive Kriegsführung) u n d Schuldentilgung. So sind die Angaben z.B. bei H. SCHMELZLE, D e r Staatshaushalt des H e r z o g t u m s Bayern im 18. J a h r h u n d e r t ( M ü n c h n e r volkswirtschaftliche Studien 41), Stuttgart 1900, 2 4 9 f / 3 1 2 f - d e r fürstliche Haushalt in Bayern wird auf durchschnittlich 3,8 Mill, fl angesetzt - n u r die S u m m e n eines „ R u m p f h a u s h a l t e s " . Vgl. J. G . KRAUS, Die Staatshaushaltskontrolle in Bayern seit dem Ausgang des 18. J a h r h u n d e r t s , 1. Teil, i n : Finanz-Archiv 42 (1925), 1 - 6 8 ; RAUH ( A n m . 5), 187-195.

136

Christoph Henzler

güter Gläubigern zur Verwaltung übertragen worden waren 18 . Für den jungen Fürsten war es daher von besonderer Bedeutung, Einblick und direkten Zugriff auch in jene Steuereinnahmen zu erhalten, die allein der Ständevertretung zustanden 19 . Barsch und dabei dem Entwurf seines bisherigen Lehrers von Ickstatt folgend, erhielt die Verordnung bereits kurz nach seinem Regierungsantritt die Aufforderung, alle Steuerausstände unverzüglich einzutreiben sowie die Verwaltung sämtlicher Aufschlagsgefälle, Stempelgelder und des gesamten Schuldentilgungswerkes der fürstlichen Verwaltung zu übergeben. Dabei wurden ausdrücklich Verhandlungen über diesen Vorgang als „zeitraubend" abgelehnt 20 . Die Verordnung setzte zunächst auf Zeitgewinn. So bat sie in ihrem Antwortschreiben um Aufschub des geforderten Schuldenstatuts sowie um Aufhebung des Erlasses zur Abtretung der Steuerverwaltung, kollidierte doch letzterer mit jenen Privilegien von 1712, in denen ihnen die Tilgung der Staatsschulden eidlich übertragen worden war. Selbstbewußt verwiesen die Ständevertreter darüber hinaus auf die Wirkung eines derartigen kurfürstlichen Vorgehens, beruhte doch bisher die Kreditwürdigkeit des Landes gerade auch auf der Liquidität der Landschaftskasse 21 . Es überrascht kaum, daß Max III., der außenpolitisch immer stärker unter Druck geriet, zu diesem Zeitpunkt keinen offenen Konflikt mit den Ständevertretern auszufechten in der Lage war, so daß er auf einer eilends einberufenen Deputiertenversammlung zunächst nochmals seine dringlichsten Finanzforderungen mit dem Hinweis unterbreitete, bei einer möglichst schnellen Eintreibung der ausstehenden Gelder keine Ständerechte zu verletzen 22 . Doch trotz dieses offensichtlich schnellen Einlenkens war der Kurfürst keinesfalls bereit, seine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der steuerpolitischen Mitsprache der Verordnung aufzugeben. Obwohl die Ständevertreter um Stillschweigen über die laufenden Verhandlungen - die Diskussion über

18

Vgl. W . SCHREIBER, G e s c h i c h t e B a y e r n s . D i e V e r b i n d u n g m i t d e r d e u t s c h e n G e s c h i c h t e , 2. B d . : Vom ö s t e r r e i c h i s c h e n E r b f o l g e k r i e g bis a u f d i e G e g e n w a r t , F r e i b u r g i. Br. 1891, bes. 149. - D e r A u t o r verweist d a r a u f , d a ß n o c h z u r Zeit d e r E n t s t e h u n g seines W e r k e s Teils c h u l d e n aus d e r K u r f ü r s t e n z e i t mit E r t r ä g e n des M a l z a u f s c h l a g e s a b g e t r a g e n w e r d e n m u ß ten. - Es m u t e t r ü h r e n d a n , zeigt a b e r a u c h e i n e n h o h e n G r a d v o n V e r z w e i f l u n g u n d Hilflosigkeit, w e n n M a x I I I . in einer d e r ersten S i t z u n g e n d e r G e h e i m e n R ä t e im H i n b l i c k a u f die F i n a n z l a g e s p o n t a n vorschlug, sich, u m die K o s t e n f ü r e i n e H o f h a l t u n g zu s p a r e n , in s p a n i s c h e K r i e g s d i e n s t e zu b e g e b e n . Vgl. SCHREIBER ( A n m . 3), 7 8 ; LIPOWSKY ( A n m . 3), 50. " N e b e n d e m S t e u e r b e w i l l i g u n g s r e c h t w a r es b e s o n d e r s d a s R e c h t d e r E i n t r e i b u n g u n d Verwaltung bestimmter Steuerarten, die den Ständen bzw. der V e r o r d n u n g die Möglichkeit e i n e r f a k t i s c h e n „ M i t r e g i e r u n g " e i n r ä u m t e n . Die H a u p t s t e u e r s u m m e n w u r d e n d a b e i d u r c h die L a n d - b z w . d i e S t a n d s t e u e r e r b r a c h t , d e r e n V e r w a l t u n g allein d e r V e r o r d n u n g o b l a g . Vgl. HOFFMANN ( A n m . 10); FRIED ( A n m . 10); k n a p p e Z u s a m m e n f a s s u n g i n : R e c h t , V e r f a s s u n g u n d V e r w a l t u n g in B a y e r n ( A n m . 10), 1 3 5 - 1 3 9 ; AY ( A n m . 9), 166-173. 20

Vgl. SCHREIBER ( A n m . 3), 7 8 ; BOSL ( A n m . 9), 225. - F ü r d e n K u r f ü r s t e n w a r d a b e i sicherlich von b e s o n d e r e r B e d e u t u n g , d a ß 1744 k e i n e S t a n d - u n d L a n d s t e u e r n a u s g e s c h r i e b e n word e n w a r e n . Vgl. J. E. v o n SEYFRIED, Z u r G e s c h i c h t e b a y e r i s c h e r L a n d s c h a f t , o. O., o. J., ca.

21

B a y H S t A A l t b a y e r i s c h e L a n d s c h a f t , 5 0 4 / 4 4 ; vgl. SCHREIBER ( A n m . 3), 78 f.

22

V g l . SCHREIBER ( A n m . 3 ) , 7 9 .

1800, 107.

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

137

den Bestand ihrer Privilegien eingeschlossen - gebeten hatten, demonstrierte Maximilian Stärke, indem er öffentlich im gesamten Kurfürstentum die Aufschlagsgefälle beschlagnahmen ließ - ein offener Verstoß gegen die bisher bestehende Praxis, denn die Akziseverwaltung war den Ständen übertragen worden 23 . Doch der Kurfürst hatte mittlerweile durch den Abschluß des Füssener Friedens zumindest die drängendsten außenpolitischen Probleme unter Kontrolle gebracht und hielt offensichtlich daher die Zeit für günstig, sich dem ständischen Widerstand zuzuwenden. Der Vorstoß des jungen Fürsten trägt, neben pragmatisch-steuerpolitischen Überlegungen, zweifellos auch die Handschrift seines bisherigen Lehrers, eines der bedeutendsten katholischen Staatsrechtler seiner Zeit, Johann Adam Freiherr von Ickstatt 24 . Dieser hatte, angeregt durch die schrankenlose Herrschaft der französischen Bourbonen, Max III. einen Unterricht in Rechts- und Staatswissenschaft erteilt, der durchdrungen war von der politischen Theorie einer einheitlichen Regierungsgewalt, die eine Teilung der Macht zwischen Fürst und Ständen ablehnte. Nach der Beendigung des Krieges und dem Abschluß des Füssener Friedens mußte die Situation dem jungen Landesfürsten günstig erschienen sein, die kurfürstliche Politik im Verhältnis zur Gesamtvertretung der Stände neu zu bestimmen, denn nicht nur die Staatskasse, sondern auch jene der Verordnung war leer; und die Gläubiger schienen kaum noch Vertrauen in die Schuldenrückzahlung durch die Landschaft zu besitzen, die während des Krieges eingestellt worden war. Das bisherige Argument der Ständevertreter - zweifellos in den vergangenen Jahrzehnten in der Praxis bestätigt - , ihre finanzielle Liquidität sei ein fester Garant im Kampf gegen den Staatsbankrott, hatte an Gewicht verloren. Doch es ist charakteristisch für die frühen Jahre seiner Regierung, daß Max III. nicht selten vor endgültigen bzw. radikal einschneidenden Maßnahmen zurückschreckte bzw. sie zu lange verzögerte 25 . Hatte er zunächst jede Verhandlung über sein grundsätzliches Vorgehen scharf zurückgewiesen, so empfahl er in den folgenden Schreiben wiederum die Beibehaltung der gemeinsamen Gespräche über die Aufbringung der Steuersummen, erkannte also die Verordnung als Verhandlungspartner an. Diese hatte sich von ihrem ersten Schrecken erholt und ging nun ihrerseits zur Offensive über. Nachdem sie sich grundsätzlich bereiterklärt hatte, zur Abwendung des unmittelbar drohenden Staatsbankrotts eine Summe von 2 Mill, fi dem Kurfürsten zur Verfügung zu stellen, wenn " Vgl. BOSL ( A n m . 9), 74

225.

Zur Person Ickstatts vgl.: F. KREH, Leben und Werk des Reichsfreiherrn Johann Adam von Ickstatt (1702-1776) (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görresgesellschaft NF 12), Paderborn 1974. - Die hohe Verehrung, die Max III. Ickstatt, aber auch dessen Vorbild Christian Wolff, entgegenbrachte, drückt sich auch darin aus, daß er beide in den Reichsfreiherren-Stand erhob. Vgl. H A M M E R M A Y E R (Anm. 5 ) . " Vgl. die immer wieder schwankenden Entscheidungen im Rahmen seiner frühen Außenpolitik bei S C H M I D (Anm. 5 ) ; A Y (Anm. 9).

138

Christoph Henzler

dieser ein Budget vorlege wie auch zur Reduzierung der Armee bereit sein würde, fand der Landschaftskanzler Unertl in einer zusätzlichen Note harte Worte gegenüber der kurfürstlichen Politik, die nach seiner Ansicht eigentlich auf die Mehrung des Ruhmes seines Landes ausgerichtet sein müßte; die Vorfahren des Kurfürsten hätten es im Hinblick auf dieses Ziel mit Eroberungen versucht, und der Kanzler setzte zynisch hinzu: Hierin haben Euer Kurfürstlichen Durchlaucht Herr Vater und Großvater bekanntermaßen das Ziel nicht erreicht, ob es durch schlechte Gesinnung der Alliierten, durch Unzulänglichkeit selbsteigener Verständnis oder durch unergründliches Verhängnis entstanden sei, grübeln wir nicht nach, sondern begnügen uns zu erwähnen, daß Euer Kurfürstliche Durchlaucht keine andere Ausflucht gelassen sei, als nunmehr durch bessere Einrichtungen ihrer selbsteigenen Lande dasjenige hereinzuführen, was beide allerhöchst und höchst erwähnte Vorfahren durch Eroberungskriege nicht zu erreichen vermocht haben, aber gewiß erreicht haben würden, wenn man seit dreißig Jahren auf die innere Landeseinrichtung mit Ernst und Nachdruck bedacht gewesen wäre26. Damit nicht genug, ließ sich die Verordnung ihre Freiheiten und Privilegien vom gerade neugewählten Reichsoberhaupt Kaiser Franz I. demonstrativ bestätigen 27 . Doch Kurfürst Max III. ließ sich zu keinem wirklichen Entgegenkommen gegenüber den Ständevertretern bewegen. Das Auftreten des Landschaftskanzlers scheint ihn eher noch in seiner Haltung bestärkt zu haben, die Verordnung stärker aus der Verwaltung des Landes hinauszudrängen. Zunächst signalisierte er seine Bereitschaft, nicht nur die Armee nachhaltig zu verringern, sondern auch das umstrittene Aufschlagsmandat zurückzunehmen. Als jedoch zu Beginn des Jahres 1746 die Deputierten in München zu den alljährlichen Postulatsverhandlungen zusammentraten, legten ihnen der Hofkammerpräsident Graf Törring und der geheime Vizekanzler Freiherr von Braitlohn die kurfürstliche Steuerforderung von 1,5 Mill, fi vor, in der Hauptsache begründet durch die Beibehaltung einer Armee. Gleichzeitig forderte der Landesherr nochmals die Offenlegung der ständischen Steuerverwaltung, wie auch das Aufschlagsmandat noch keinesfalls aufgehoben worden war 28 . Die Verordnung reagierte empört und lehnte alle Forderungen ab. Damit trat eine Verzögerung in der Klärung von finanzpolitischen Grundentscheidungen ein, denen gerade zu diesem Zeitpunkt besondere Signalwirkung zukam, denn sowohl der Kurfürst als auch die Landschaft mußten in diesen Tagen endgültig feststellen, daß sie nicht einmal mehr kleinste Anleihen auf den wichtigsten Geldplätzen er-

26

Zitiert nach

SCHREIBER

(Anm.

3), 8 6 ;

gleichfalls bei von

ARETIN,

Bayerns Weg (Anm.

9),

2 4 f ; M A Y R ( A n m . 10), B d . I I , 4 5 7 f. 27

Urkunde über die kaiserliche Bestätigung in: BayHStA Altbayerische Landschaft, vgl. v o n ARETIN, B a y e r n s W e g ( A n m . 9), 25.

28

V g l . SCHREIBER ( A n m . 3 ) , 8 5 f.

13/14;

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

139

hielten 29 . Da entschied sich Max III. nach achtwöchigen ergebnislosen Verhandlungen zum Schlag gegen die landständische Steuerhoheit. Beraten durch Ickstatt, Kreittmayr und den Grafen Seinsheim, die sich am österreichischen Vorbild ausrichteten, ließ der Kurfürst am 7. März 1746 eine Steuerreform verkünden, die neben der Erhöhung der bisherigen Abgaben die Einführung einer allgemeinen Kopfsteuer vorsah 30 . Das helle Entsetzen der Deputierten, die im Prälaten Bernard von Windberg einen engagierten Sprecher fanden, ist verständlich, denn mit dieser Besteuerungsart waren erstmals die Angehörigen der Stände mit dem gemeinen Untertan im Steuerrecht gleichgesetzt. Damit lag aber auch ein Besteuerungssystem vor, das die Abgaben stärker am Vermögen ausrichtete und sich letztlich sozialer gestaltete 31 ; ein erster Schritt auf dem Weg in die moderne Staatlichkeit wäre damit auf der Ebene der Besteuerung beschritten gewesen. Wenn auch die Verordnung als erste Reaktion mit einem Beschluß vom 17. März 1746 drei Landschaftsverordnete, die gleichzeitig hohe kurfürstliche Ämter innehatten, emeritierte, mußte sie schließlich vor dem massiven Auftreten des Kurfürsten, der selbst vor der Androhung von Waffengewalt nicht zurückschreckte, kapitulieren. In der üblichen " Vgl. ebd., 86 f; von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 26. - Zu dieser Zuspitzung der Lage auf den öffentlichen Geldmärkten hatte sicherlich auch die Erklärung des Kurfürsten geführt, er fühle sich nicht zur Zahlung der Schulden seiner Vorfahren verpflichtet. Erst nach monatelangen Verhandlungen gelang es auch Max III., in Augsburg gegen Faustpfänder eine Anleihe über 150.000 Gulden zu sechs Prozent aufzunehmen, wobei er sich ausdrücklich zur fristgerechten Rückzahlung verpflichten mußte. Eine gleich hohe Summe erhielt er von Salzburger Juden gegen eine jährliche Salzlieferung. Vgl. hierzu BayHStA Altbayerische Landschaft, Postulatsverhandlungen, 505. 50 von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 26; SCHREIBER (Anm. 3), 88. - Maria Theresia hatte diese Form der Besteuerung durch die türkische Finanzpolitik kennengelernt und sie erfolgreich im Kampf gegen die österreichischen Stände eingesetzt. - Interessant ist im Zusammenhang mit der eigenmächtigen Einsetzung einer neuen Steuerzahlung durch den Kurfürsten die Frage nach der juristischen Basis seines Vorgehens. Hierbei weicht selbst der fürstliche Berater Kreittmayr zurück, wenn er feststellt, eine Zustimmung der Stände sei wo nicht nötig, doch ratsam. W. X. A. Frhr. von KREITTMAYR, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes. München und Leipzig 1769, 23; RAUH (Anm. 5), 2 7 4 f. J1

V g l . G e n e r a l r e s k r i p t a n d i e K a s t e n ä m t e r v o m 1 6 . 4 . 1 7 4 6 , i n : MAYR ( A n m . 10), B d . I I , 1 1 8 4 f ; v o n SEYFRIED ( A n m . 2 0 ) , 9 ; SCHREIBER ( A n m . 3 ) , 88. - S o w u r d e n u . a . f o l g e n d e

Steuersätze festgelegt: Abt, Domherr, adliger Hofmarkbesitzer und Bürgermeister 100 Gulden; Klosterrichter 200 Gulden; größerer Gutsbesitzer 150 Gulden; Dekan, Magistratsrat oder Äbtissin 80 Gulden; Pfarrer 50 Gulden; Mönch, Kaplan oder Nonne 2 Gulden; Beamter je nach Einkommen und Position 2-50 Gulden; Bürger 2-30 Gulden; Bauer 4 Gulden; Dienstbote 15 Kreuzer; Sprach-, Tanz- und Fechtlehrer zehn Prozent ihres jährlichen Einkommens. Hinzu kamen Frauen und Kinder, welche die Hälfte der Steuersumme ihrer Männer und Väter zu zahlen hatten. - Während HOFFMANN (Anm. 10), 154 ff und von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 26f sich dafür aussprechen, daß Max III. hiermit eine neue Besteuerungsform einzuführen suchte, lehnt RAUH (Anm. 5), 214, bes. Anm. 4, fußend auf SCHMELZLE (Anm. 17), 389 f, eine derartige Sichtweise ab, da es sich seiner Ansicht nach nur um einen „einmaligen Personalbeitrag" gehandelt haben könne. Insbesondere wird der „steuertechnisch in hohem Maße plumpe" Ansatz bemängelt. Hierbei wird jedoch übersehen, daß bei Max III. gerade zu Beginn seiner Regierungszeit ein enormer Drang zur Veränderung auffällt, häufig aber die Realisierung derartiger Projekte an ihrer allzu theoretischen und manchmal auch „blauäugigen" Planung scheiterte. Für seine These legt RAUH zudem keine zwingende Beweisführung vor. - Vgl. AY (Anm. 9), 123.

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Gratulationsadresse der Ständevertreter zum Geburtstag des Kurfürsten am 29. Mai, dem Tag der Unterzeichung des neuen Personalsteuergesetzes, war ihre Enttäuschung, aber auch die ohnmächtige Wut über die Ereignisse spürbar: Es bleibt uns nichts übrig, als unsere äußerste Bestürzung Gott zu klagen und mit dem Propheten auszurufen: Sieh die herbste Bitterkeit im FriedenP1 Damit war Max III. ein entscheidender erster Schritt zur Durchsetzung seiner Herrschaftszentralisierung gelungen, ein Vorgehen, das eng verknüpft mit einer allgemeinen Verwaltungsreform gesehen werden muß, die der junge Landesfürst gleich von Beginn seiner Regierungszeit an durchzuführen gewillt war". Doch Erfolg und Scheitern lagen dicht beieinander. Die so eindrucksvolle Durchsetzung des Herrscherwillens stieß bereits innerhalb kürzester Zeit auf unüberwindliche Grenzen, denn Max III. hatte die organisatorischen Probleme bei der Durchführung einer allgemeinen Kopfsteuer völlig unterschätzt. Die kurfürstliche Verwaltung erwies sich als unfähig, die Eintreibung der Steuer vorzunehmen. Bereits im darauffolgenden Jahr waren die fürstlichen Pläne vergessen und die alte Steuerordnung wieder hergestellt. Die bisherige Einteilung, die Einnahmen und Ausgaben von zwei getrennten Verwaltungsorganisationen - dem Hof und der Landschaft - bewirtschaften zu lassen, hatte sich als unüberwindliche Barriere erwiesen. Dies mag im Rückblick kaum verwundern, verfügte der Kurfürst doch nicht einmal über einen einheitlichen Gesamthaushalt. Zur Abwicklung seiner Finanzangelegenheiten standen ihm drei Kassen zur Verfügung, das Hofzahlamt, das Hofkriegszahlamt und die Churfürstliche Geheime Kabinettskasse, die jedoch untereinander nicht in Kontakt standen, und somit am Hofe niemand, außer vielleicht der Kurfürst selbst, über den aktuellen Stand der Finanzen Bescheid wußte 34 . Erst 1762 versuchte Max III. durch die Einrichtung einer Generalkassa zumindest das Abrechnungswesen von Hofkammer und Hofkriegszahlamt zusammenzulegen; doch auch diese Reform wurde nur halbherzig durchgeführt 35 . Der Blick in die Geheime Kabinettskasse blieb weiterhin versperrt, so daß der Aufbau eines geordneten Finanzwesens im Kurfürstentum Bayern auch zu dieser Zeit selbst in dem vom Kurfürsten kontrollierten Bereich nicht möglich wurde. Eine Zusammenarbeit auf finanzpolitischem Sektor gab es zwischen 32 33

34

Zitiert nach S C H R E I B E R (Anm. 3 ) , 9 2 . Vgl. S C H M I D (Anm. 15), bes. 65 f. - Schon Zeitgenossen war der Reformeifer des jungen Regenten aufgefallen: Neue Genealogische Nachrichten 3, Leipzig 1750, 131 f; J. G. KEYSSLER, Neueste Reisen durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen I, Hannover 1751, bes. 53. Zur kurfürstlichen Finanzverwaltung und dem Haushaltsgebaren vgl. S C H M I D (Anm. 1 5 ) , 5 5 f ; R A U H ( A n m . 5 ) , b e s . 1 9 4 f f ; SCHMELZLE ( A n m . 1 7 ) , b e s .

155-164.

" BayHStA H R I 428/8; 525/2; W. X. A. Frhr. von K R E I T T M A Y R , Sammlung der neuest- und merkwürdigsten churbaierischen Generalien und Landesverordnungen, München 1771, 115-120; R A U H (Anm. 5), 194f; A Y (Anm. 9), 171.

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kurfürstlicher und landschaftlicher Verwaltung lediglich im Rahmen des Schuldenabledigungswerkes, doch auch hier suchte Max III. zunächst eine Zentrierung in seinen Händen zu erreichen. Dabei hatte er, neben den Aufschlägen und Gefällen, die der Ständevertretung zur Abtragung der Schuldenlast überantwortet worden waren, die ungeheure Schuldensumme von ca. 34 Mill, fi vor Augen, eine Belastung, die besonders durch seine Vorgänger Max Emanuel und Karl Albrecht angehäuft worden war 36 . Bei seinen Reformbestrebungen orientierte sich Max III. besonders am österreichischen Vorbild, wo zur Schuldentilgung u.a. eine Bank errichtet worden war 37 . Der Kurfürst ließ sich Pläne des Wiener Bankiers Küner vorlegen, der für Bayern in seinen Überlegungen von 30 Mill, fi Schuldenlast ausging und zu ihrer langfristigen Tilgung einen Bankfundus von jährlich 800.000 fl zur Gründung einer „Banco del Giro" veranschlagte. Ziel der Einrichtung war, das gesamte Schuldenwerk in eine kurfürstliche Landschaftsbank zu verwandeln und alle Schuldenwerksforderungen in Bankpapiere umzuschreiben. Gleichzeitig sollte eine Reduzierung der Schuldensumme bzw. ihrer Verzinsung vorgenommen und die seit 1740 sich ansammelnden Schulden zusätzlich je nach ihrer Dringlichkeit in fünf Klassen eingeteilt werden 38 . Bei der Vorlage des Bankprojektes ließ sich die Verordnung mit ihrer Antwort zunächst Zeit. Erst als am 28. Dezember 1748 bei ihr die kurfürstliche Aufforderung einging, die ihr unterstehenden Gefälle unverzüglich bis Jahresbeginn der Bank zu überstellen, legten die Deputierten ihren Widerspruch gegen das gesamte Vorhaben ein. Denn mit der Abgabe des bisherigen Schuldenabledigungswerkes wäre die Verordnung zweifellos einer wichtigen Stütze ihres Einflusses verlustig gegangen. Und so verbanden sie ihren Widerstand gleichzeitig mit der Forderung nach Einberufung eines allgemeinen Landtages, der über die finanzpolitische Misere des Staates beraten sollte39. Damit wurde das Bemühen der Verordnung deutlich, den landschaftlichen Einfluß wieder stärker zur Geltung zu bringen und über die Schuldentilgung eine ver" von A R E T I N , Bayerns Weg (Anm.9), 28; S C H R E I B E R (Anm. 3), 92/152; H . von P O S C H I N G E R , Die Banken im Deutschen Reiche, Österreich und der Schweiz. Mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte und Statistik derselben. Bd. 1: Das Königreich Bayern, Erlangen 1876, bes. 35. - Bei der endgültigen Höhe der Schuldensumme bewegen sich die Angaben zwis c h e n 3 4 , 5 Mill, fl ( v o n ARETIN, 28; SCHREIBER, 92) u n d 3 0 Mill, fl (POSCHINGER, 35). "

J!

"

S C H M I D (Anm. 15), 66 f; BayHStA Gesandtschaft Wien 257-276, 395; Anweisung an den Legationssekretär Barth (26.9.1752), sich Einblick in die Wiener Reformpläne zu verschaffen (BayHStA Kasten schwarz 506). BayHStA Landesfürstliche Verhandlungen mit den bayerischen Landständen 1749, 8. Folgende Einteilung wurde vorgenommen: an die erste Stelle rückten die auf den Hausschatz aufgenommenen Darlehen von 800.000 fl; in der 2. Klasse waren die Darlehen der Kaiserin-Witwe und weiterer hoher Persönlichkeiten sowie von Kirchen und Klöstern zusammengefaßt; die 3. Klasse beinhaltete die Landschaftsanleihen über 4 Mill, fl; die 4. Klasse umfaßte die Bundes- und Hofzahlamtsschulden, während in der 5. Klasse Kurrentschulden und Zinsausstände von insgesamt 18 Mill, fl verzeichnet waren. Hinzu kamen noch 1 Mill, fl, ratenweise zurückzuzahlen an den Ansbacher Hof und den König von Preußen. SCHREIBER ( A n m . 3 ) , 9 7 .

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stärkte finanzpolitische „Mitregierung" zu erreichen. Aber noch schien das Selbstvertrauen des Kurfürsten ungebrochen zu sein, und in einem Antwortschreiben teilte er den Ständevertretern unmißverständlich mit: In Bayern hat man keinen anderen Gesetzgeber anzuerkennen als den jeweiligen Kur- und Landesfürsten und Wir werden Uns ebenso wenig als Maximilian I. die Gewalt nehmen lassen, landesherrliche, beständige oder provisorische Verordnungen zu machen, so oft es das gemeine Beste erfordert... Glaubet ja nicht, daß sämtliche Stände Bayerns Uns zu einem anderen Regime abbringen werden!40 Das Einlenken der Verordnung erfolgte umgehend: In aller Eile wurde die Regierungsvorlage genehmigt, während der Fürst gleichzeitig die Lokalität der zukünftigen Bank bestimmte und die kurfürstlichen sowie landschaftlichen Bankkommissare ernannte. Max III. hatte sich damit einen direkten Zugriff auf die Schuldentilgung verschafft, zweifellos eine Stärkung der landesherrlichen Gewalt. Doch auch dieser Vorstoß blieb auf halbem Wege stecken. Nicht nur, daß der Landesherr an der Bank auch die Verordnung direkt beteiligen mußte, die Höhe der Staatsschulden ließ es nicht zu, ihre Tilgung allein an die Person des Kurfürsten zu binden, der selbst nur mit Mühe kleinere Summen auf dem allgemeinen Geldmarkt aufnehmen konnte. So kam es am 23. September 1749 zur Verkündigung eines weiteren Mandates, in dem festgelegt wurde, daß zum einen für die Schulden, die von der Landschaft seit 1543 übernommen worden waren, ein sog. „altes Werk" eingesetzt wurde, während unabhängig davon zum anderen ein neues „Schuldenabledigungswerk" ins Leben gerufen wurde, dem die Schulden seit Regierungsantritt Karl Albrechts zugeordnet waren 41 . Die gleichzeitig durch kurfürstliches Mandat vom 21. April 1749 gebildete Schuldentilgungskommission umfaßte neben den vier, vom Kurfürsten persönlich ernannten Kommissären vier Vertreter der Landschaft sowie den Landschaftskanzler. Bereits diese numerische Überlegenheit der ständischen Vertreter zeigt, daß Max III. zwar eine Mitsprache, nicht aber die alleinige oder auch nur mehrheitliche Kontrolle bei der Schuldentilgung erreicht hatte. Die ausgewiesenen jährlichen Zahlungen des Schuldenabledigungswerkes beliefen sich dabei von 1751-1768 auf durchschnittlich 627300 fl, einen Betrag, der zwar nicht für eine schnelle Gesamttilgung geeignet war, wohl aber für eine konstante Rückzahlung aufgenommener Gelder im ersten Regierungsjahrzehnt des jungen Kurfürsten 42 .

40 41

42

Zitiert nach ebd., 99. M a n d a t a b g e d r u c k t in: KREITTMAYR ( A n m . 35), 574; SCHMELZLE (Anm. 17), 2 4 0 f / 3 8 9 . V e r b u n d e n damit war d i e Liquidierung aller neuen Schulden u n d F o r d e r u n g e n sowie die gleichzeitige A u f h e b u n g aller älteren T i l g u n g s p l ä n e ; der Zins w u r d e von kurfürstlicher Seite auf 4% gesenkt u n d neue V e r h a n d l u n g e n mit den Gläubigern festgelegt. Damit waren die alten Schulden grundsätzlich a n e r k a n n t . W ä h r e n d RAUH ( A n m . 5), 214 die kurfürstliche Mitwirkung an der Schuldentilgung als einen geringen Erfolg wertet, sollte m . E . nicht übersehen werden, d a ß es M a x III. gelungen war, sich in diesen besonderen D o m ä n e n ständischer Finanzpolitik verstärkt E i n f l u ß zu si-

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Daß Max III. jedoch im Rahmen der Schuldentilgung den ständischen Einfluß besser zu überwachen gedachte, zeigt ein Vergleich der Kommissionsbücher, in denen die Einnahmen und Ausgaben der Schuldenwerkskasse verzeichnet sind, mit dem „summarischen E n t w u r f , der im September 1765 erstellt wurde und die Brutto-Steuerzahlungen voraussetzt. Hierbei zeigt sich, daß die ausgeschriebenen Zahlungen nicht mit den wirklich geleisteten übereinstimmen. Der Entwurf verzeichnet die einzelnen Einnahmen meist um etwa 20 bis 50 Gulden höher als das Abrechnungsbuch, in dem oft sogar angesetzte Zahlungen fehlen. Derartige Vorkommnisse gehen zweifellos auf das Konto einer fehlenden zentralen Finanz- und Steuerbehörde, und es gelang Max III. während seiner ganzen Regierungszeit nicht, eine derartige Kontrollinstanz einzurichten. Trotz dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten brachte die nun wieder ernsthaft betriebene Schuldentilgung - gestützt auf eine sich erholende Steuerbasis - eine wichtige Beruhigung in die bayerische Finanzpolitik. Daß der Kurfürst in dieser Stabilisierungsphase gleichzeitig auch die Beamtenschaft schärferen Gesetzen unterwarf, ist sicherlich nicht nur ein Nebeneffekt, denn Max III. war die z.T. erhebliche Ineffizienz der meisten seiner Behördenmitglieder bekannt 43 . Übersehen werden dürfen aber nicht die schweren Auseinandersetzungen mit der Verordnung, die der Kurfürst auch weiterhin bereit war zu führen, denn an seinem grundsätzlichen Ziel, die ständische Mitsprache auch im Finanzbereich so weit wie möglich zurückzudrängen, hielt er fest. Für ihn war es unannehmbar, daß die Verordnung zwar an der Schuldentilgung des Staates maßgeblich beteiligt war, ohne aber dafür konkrete Bürgschaften zu übernehmen 44 . Auch widersetzte sie sich weiterhin energisch den Überwachungsbestrebungen des Kurfürsten. Hierin lag der Hauptgrund, als Anfang Januar 1750 die Deputierten die Pläne zur Zentralisierung der Schuldentilgung ablehnten, insbesondere verstimmt darüber, daß Max III., der den „braunen Bieraufschlag" für die Schuldentilgungskasse gefordert hatte, bereits eigenmächtig mit einigen privaten Brauhäusern in Verhandlungen getreten war, um Pauschalbeträge auszuhandeln. Als der Landesherr noch zusätzlich betonte, er beabsichtige, alle Aufschläge unter seine persönliche Kontrolle zu stellen sowie die Zahlung des Bieraufschlages auch für die bisher nicht betroffenen Ständemitglieder einzuführen, griff die Verordnung zu ihrem letzten, aber auch wirkungsvollsten Widerstandsmittel: Sie klagte beim Reichshofgericht gegen den Kurfürsten. Dabei hatten sich die Deputierten zunächst - Max III. weilte Fortsetzung Fußnote von Seite 142 ehern. Und im Hinblick auf die Finanzpolitik in seiner gesamten Regierungszeit sollte es sicherlich ein erster Schritt zu einer stärkeren Kontrolle der ständischen Finanzarbeit sein. 43 Mandat von 1747 und 1762 in: M A Y R (Anm. 10), Bd. III, 312, 740; A Y (Anm. 9), 134-143. 44 Der österreichische Gesandte Graf von Podstatzky hat diesen Sachverhalt dem Wiener Hof 1769 besonders nachdrücklich mitgeteilt. Vgl. G E R H A R D (Anm. 9), 218.

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außerhalb von München auf Schloß Lichtenberg - mit dem österreichischen Gesandten von Podstatzky in Verbindung gesetzt, um dann auch bei Maria Theresia in Wien direkt vorstellig zu werden. Dieser Vorstoß der Verordnung fiel zusammen mit den vom Kurfürsten geführten Subsidienverhandlungen mit Wien, wo man offensichtlich bereit war, dem finanziell immer noch schwer bedrängten Max III. aus seinen drängendsten Problemen zu helfen 45 . Dabei spielten sicherlich nicht nur Überlegungen eine Rolle, mit Bayern einen direkten Verbündeten gegen den Preußenkönig Friedrich II. zu sichern, sondern auch der Umstand, daß die Ehe Maximilians schon mehrere Jahre kinderlos geblieben war, und die Habsburger sich Hoffnungen auf eine mögliche Erwerbung des Kurfürstentums machten. In dieser angespannten Situation war Maria Theresia klug genug, den Kurfürsten nicht durch einen direkten Urteilsspruch aus den laufenden Verhandlungen zu treiben, und schaltete zunächst das Reichshofgericht als eigentliche Instanz aus. Erst jetzt erhielt der bis dahin ahnungslose Kurfürst die Punkte der landschaftlichen Anklage mitgeteilt, und aus Wien traf der Sondergesandte Graf von Baschi ein, um möglichst hinter den Kulissen die Angelegenheit zu bereinigen. Als Ausweg überließ man der Landschaft den Bieraufschlag auf 6 Jahre, jedoch unter der Bedingung, jährlich eine halbe Million Gulden der Bank zu überstellen, die Rechnungen vorzulegen und den festgesetzten Tarif unbedingt anzuerkennen 46 . Der durch das Vorgehen der Landschaft sichtlich überraschte Kurfürst zeigte dabei in der Schlußpassage seines Dekretes, daß für ihn eine Grenze des Annehmbaren erreicht war: Das ist Unsere Finanzresolution, worüber Wir von euch keine weiteren Einwendungen mehr anzuhören oder anzunehmen gedenken, dagegen aber euren schuldigsten Dank erwarten und fordern, daß mit dem Schuldenwerk fortgeschritten werde. Im Verweigerungsfalle werden Wir diejenigen Mittel und Wege ergreifen, welche Wir aus der von Gott Uns anvertrauten Gewalt zur Erhaltung Unserer höchsten Autorität für nötig finden werderf1. Deutlich wird hier die Souveränität des Landesherrn eingefordert, doch nach fünfjährigen Auseinandersetzungen mit der Verordnung mußte Max III. endlich erkennen, daß er nicht in der Lage war, den Einfluß der Stände im Finanzbereich wirkungsvoll zurückzudrängen. Die Gründe hierfür waren mannigfaltig, wobei einerseits die Unfähigkeit der kurfürstlichen Verwaltung, Aufgaben zu bewältigen, die bisher von der Verordnung und ihren Organisationen wahrgenommen 45

46

47

Die vom K u r f ü r s t e n i m m e r streng geheim g e f ü h r t e n S u b s i d i e n v e r h a n d l u n g e n erfahren erstmals bei SCHMID ( A n m . 5), bes. 142ff, 179-199, 211 f f , 2 3 8 f f , 321-333, 4 1 0 - 4 2 0 , 4 3 7 - 4 4 4 eine ausführlichere Gesamtdarstellung. Ältere Arbeiten sind u n v o l l s t ä n d i g ; vgl. J. von STICHANER, Geschichte d e r bayerischen Subsidien vom Jahre 1740 bis 1762, M ü n c h e n 1842; vereinzelt a u c h bei LIPOWSKY ( A n m . 3) u n d SCHREIBER ( A n m . 3); A b d r u c k einer Reihe v o n Verträgen, j e d o c h o h n e die Geheimklauseln, bei: C. M. Frhr. von ARETINI, C h r o n o l o g i s c h e s Verzeichnis der bayerischen Staatsverträge, Passau 1838. Vgl. Darstellung bei SCHREIBER ( A n m . 3), 105 f f ; zu d e n S u b s i d i e n v e r h a n d l u n g e n zwischen M ü n c h e n u n d Wien SCHMID (Anm. 5), bes. 179 ff. Zitiert nach SCHREIBER (Anm. 3), 106.

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worden waren, besonders anzuführen ist, andererseits den Ständen die katastrophale Finanzlage des Kurstaates bei Regierungsantritt Max' III. zu Hilfe kam, dem es nicht gelang, die Liquidität des Staates an seine Person zu binden. Daß sich die Verordnung ihre Privilegien bereits 1745 vom Reichsoberhaupt zusichern ließ, festigte ihre Position zusätzlich. Der Kurfürst mußte spätestens ab 1750 erkennen, daß er sich auf eine Zusammenarbeit mit der Verordnung einzurichten hatte, somit das Herz des Staates, die Finanzverwaltung, auch weiterhin in den Händen zweier Organisationen lag. Die folgenden Jahre bis zum Ausbruch des Siebenjährigen Krieges waren geprägt von einer langsamen Konsolidierung der Finanzen, wenn auch die Schuldentilgung hinter den Planungen zurückblieb. Die vom Kurfürsten und von der Landschaft betriebene Bank arbeitete nicht mit dem erhofften Gewinn, wie auch die ausgegebenen bayerischen Staatspapiere schon bald nur noch 50% ihres Wertes erbrachten 48 . Daraufhin plante Max III. 1754, eine weitere Bank ins Leben zu rufen, doch sein Vorhaben kam über die erste Planungsphase nicht hinaus 49 . Demgegenüber setzte er jedoch unnachgiebig eine Reihe von Steuererhöhungen durch, flankiert von persönlichen Sparmaßnahmen, ζ. B. eine strenge Beschränkung des Hofstaates oder das Einschmelzen von Tafelsilber bzw. Gold. Der Ausbruch des Krieges 1756 veränderte jedoch die finanzpolitische Lage des Kurfürstentums wiederum grundlegend. Die Bezahlung der Schulden wurde für Jahre ausgesetzt und die freiwerdenden Gelder sowie neue Darlehen der Armee zugeleitet, die als Teil des Reichskontingentes gegen Preußen auszurüsten war. Damit wurde aber auch das mühevoll ausbalancierte Gleichgewicht der Kräfte zwischen Kurfürst und Verordnung zerstört, denn Max III. stellte - ganz in der Manier seiner Vorfahren - alle Steuerforderungen auf das nun zu verdoppelnde Militärbudget ab und erhöhte entsprechend die Abgabenfestschreibungen. Die Ständevertreter protestierten, doch diesmal zögerte der Kurfürst mit harten Maßnahmen keinen Moment. Umgehend löste er die Deputiertenversammlung auf und teilte den Verordneten mit, daß er nun ohne ihre Zustimmung nach der von ihm eingeschätzten Notwendigkeit die Steuern erheben werde 50 . Zweifellos sah Max III. erneut eine Chance, dem Einfluß der 41

Die Beschuldigung bei SCHREIBER ( A n m . 9), 109, d a ß an dieser Entwicklung b e s o n d e r s „jüdische S p e k u l a n t e n " schuld seien, ist unsinnig, d a sich eine leere Staatskasse zwangsläufig negativ auf den Wert ihrer Staatspapiere auswirkt, zumal die immer wieder a u f g e s c h o b e n e S c h u l d e n r ü c k z a h l u n g das Vertrauen in die bayerischen Finanzen k a u m stärken k o n n t e .

49

POSCHINGER ( A n m . 3 6 ) , 3 9 - 4 3 .

50

Im Hinblick auf mögliche Protestschreiben ä u ß e r t e sich d e r K u r f ü r s t zusätzlich: Wir erwarten demnach solche euch nicht zustehenden Anzüglichkeiten, da Wir Uns weder von Euch noch von jemandem anderen das geringst Maß vorschreiben lassen. - Zitiert nach SCHREIBER ( A n m . 3), I I I . - Die Aufstellung „sämtlicher E i n k ü n f t e u n d A u f w e n d u n g e n kurfürstlicher K a s s e n " v o n 1 7 5 8 , b e i SCHMELZLE ( A n m . 17), 2 8 5 f u n d RAUH ( A n m . 5), 2 0 8 f e x e m p l a r i s c h

f ü r die Staatsausgaben M a x ' III. a n g e f ü h r t , m u ß auch unter dem 1756 ausgebrochenen

146

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Stände zu begegnen, denn als Verbündeter Wiens war er vor Eingriffen des Kaiserhauses weitgehend geschützt. Ob Max III. hierbei das Vorgehen seines Vorgängers Maximilian I. vor Augen hatte, der die Stände in ihrer Mitwirkung als Gesamtkörperschaft im Laufe des 30jährigen Krieges energisch zurückdrängte, ist aktenmäßig nicht nachzuweisen, aber durchaus im Rahmen des Möglichen, wie frühere Hinweise vermuten lassen 51 . Ganz in Anlehnung an die Handlungsweise seiner Vorfahren gelang es Max III. zudem, daß Papst Benedikt XIV. ihm in der Bulle „Venerabiiis Frater" vom 25. 4. 1758 auf fünf Jahre die Besteuerung des Klerus erlaubte und ihn zur Dezimation der Stiftseinkünfte ermächtigte, was ihm eine geschätzte jährliche Summe von ca. 200.000 fl Mehreinnahmen verschaffte. Was den Kurfürsten dabei neben dem finanziellen Aspekt mindestens ebenso interessiert haben dürfte, war die Reaktion der Ständevertreter. Der Protest der Geistlichkeit war vorherzusehen und blieb ohne Wirkung; interessant war die Zustimmung des Adels, während die bürgerlichen Vertreter schwiegen. Die Aktion des Kurfürsten hatte ganz offensichtlich zu einer Spaltung der Verordnung geführt, ein Vorgang, der Max III. nur recht sein konnte und offensichtlich im taktischen Kalkül des Landesherrn lag. Denn bereits zu Beginn des Jahres 1758 hatte der Kurfürst, wohl im Hinblick auf die Verhandlungen mit dem Papst, dem Klerus die Entrichtung ihres Ständesteueranteils erlassen, vom Adel und der Bürgerschaft ihn jedoch in unveränderter Höhe - neben zusätzlichen Konditionssteuern - gefordert 52 . Damit war die bisherige Phalanx der Verordnung ins Wanken geraten, die verschiedenen Ständevertreter waren gegeneinander ausgespielt worden. Des weiteren hatte die Straffung der kurfürstlichen Finanzverwaltung durch die 1762 eingerichtete Generalkasse zweifellos auch den Zweck, den Einfluß der Stände weiter zu untergraben". Doch wie schon in den Jahren vorher war Max III. letztlich nicht in der Lage, den Einfluß der Stände nachhaltig zurückzudrängen. Die sich durch den Krieg wieder erhöhende Schuldenlast brachte den Kurstaat erneut in finanzpolitische Turbulenzen, die weder durch Pläne des Wiener Bankiers Küner für ein Zahlenlotto noch durch weitere Bankpläne wirkungsvoll Fortsetzung

Fußnote von Seite 145

Krieg zwischen Österreich und Preußen gesehen werden. Hier liegt sicherlich auch die Erklärung f ü r die außerordentlichen A b f ü h r u n g e n von Summen an das Kriegszahlamt. " Vgl. Schreiben Max' III. Joseph vom J a n u a r 1749 an die Verordnung, in dem er explizit auf die Vorgehensweise Maximilians I. Bezug n i m m t ; abgedruckt bei SCHREIBER (Anm.3), 99. " Vgl. H. HTTZELBERGER, Das Steuerbewilligungsrecht der Landstände in Bayern im Zeitalter des Absolutismus und seine Auswirkung auf die Verfassung von 1818, Diss, masch. Erlangen 1949, 101. 53 SCHMID (Anm. 15), 56. - Gescheitert ist Max III. auch mit seinen mehrmaligen Versuchen, die Erstellung eines allgemeinen Hofanlagebuches durchzusetzen, also eine völlige Zentralisierung u n d Rationalisierung des Hofanlagewesens zugunsten des Kurfürsten durchzusetzen.

Vgl.

KREITTMAYR

(Anm.35),

131 f f ,

151 f f ;

SCHMELZLE

( A n m . 17),

292ff;

RAUH

(Anm. 5), 226 ff, 235, 248-251; H. SCHORER, Die Vornahme der kurbayerischen Volkszählung von 1771/81, in: Archivalische Zeitschrift 11 (1904), 157-185.

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147

angegangen werden konnten 54 . Dafür versuchte Max III. erneut, zumindest die ständischen Steuerprivilegien einzuschränken. So setzte er trotz heftigen Widerstandes 1761 für alle Untertanen die Zahlung eines sog. „Bierpfennigs" durch, verpflichtete auch die Ständemitglieder zur Zahlung des Fleischaufschlages und führte zusätzlich noch ein neues Taxgesetz ein 55 . Schließlich wurde von der kurfürstlichen Kanzlei ein Reskript über eine allgemeine „Herdstätten-Anlage" in Umlauf gebracht, das vorsah, generell alle Herdstätten ungeachtet ihrer Nutzung zu besteuern. Davon betroffen waren gerade auch Besitzer größerer Wohnanlagen, und somit war die Stoßrichtung des neuen Besteuerungsplanes offensichtlich 56 . Doch der Krieg zwischen Österreich und Preußen neigte sich dem Ende zu, und die Verordnung wurde damit wieder in die Lage versetzt, mit einer erneuten Vorsprache in Wien zu drohen. Wie sich zeigte, hatten die Stände die Situation richtig eingeschätzt: Max III. hielt zwar grundsätzlich an einer Herdstätten-Anlage fest, befreite jedoch Klöster sowie Besitzer von Schlössern und Pfarrwohnungen. Der steuerpolitischen Maßnahme war damit die eigentliche Spitze genommen, und die Landschaft hatte nach jahrelanger Auseinandersetzung endlich wieder erfolgreich Widerstand geleistet 57 . Niederschmetternd für Max III. muß auch eine erste Überprüfung der Staatsfinanzen gewesen sein, die schnell deutlich machte, daß von den hoffnungsvollen Ansätzen und ersten Erfolgen bei der Reduzierung des staatlichen Finanzdefizits in den ersten zehn Regierungsjahren kaum noch etwas übriggeblieben war. Es hatten nicht nur neue Schulden aufgenommen werden müssen, sondern während der Kriegsjahre waren keine Einbzw. Abzahlungen im Rahmen des Schuldenabledigungswerkes erfolgt, 54

K ü n e r s Plan f ü r ein Z a h l e n l o t t o o r i e n t i e r t e sich a n den bereits b e s t e h e n d e n L o t t e r i e n in L o n d o n u n d Paris. Zur S c h u l d e n t i l g u n g s a h e n die P l ä n e d e s B a n k i e r s v o r , die A n l e i h e k a p i talien u n d Zinsen einseitig zu s e n k e n u n d d i e sechs Mill, fi K i r c h e n - u n d S t i f t s k a p i t a l i e n , statt sie j e m a l s z u r ü c k z u z a h l e n , g r u n d s ä t z l i c h n u r mit 4 P r o z e n t zu verzinsen. N e u e m o d i f i zierte P l ä n e K ü n e r s s a h e n schließlich eine Z w a n g s a n l e i h e von 40 Mill, fi - schließlich ges e n k t auf 25 Mill, fi - vor. V o m gleichen F i n a n z i e r ließ sich der K u r f ü r s t a u c h e i n e n erneut e n B a n k p l a n a u s a r b e i t e n , d e r von e i n e r j ä h r l i c h e n F u n d a t i o n s s u m m e v o n 680.000 fl ausging. Vgl. B a y H S t A L a n d e s f ü r s t l i c h e V e r h a n d l u n g e n mit den b a y e r i s c h e n L a n d s t ä n d e n 1762, 1 5 6 / 2 2 1 ; POSCHINOER ( A n m . 36), 4 4 ; D e n k s c h r i f t als A n h a n g V a b g e d r u c k t ; SCHREIBER ( A n m . 3), 117-120.

55

Beim Taxgesetz w a r mit d e r Ü b e r n a h m e eines A m t e s der I n h a b e r v e r p f l i c h t e t , e i n e n gewissen Teil seines E i n k o m m e n s a n die k u r f ü r s t l i c h e Kasse als e i n m a l i g e A b g a b e zu überweisen. So m u ß t e z. B. ein A b t b e i m A n t r i t t seines A m t e s den z w a n z i g s t e n Teil seines klösterlic h e n E i n k o m m e n s a b f ü h r e n . G e r a d e die Gültigkeit des Gesetzes a u c h bei K i r c h e n ä m t e r n m a c h t deutlich, wie weit sich d e r K u r f ü r s t s c h o n auf dem Sektor d e r K i r c h e n p o l i t i k vorgew a g t h a t t e ; aus R o m k a m keinerlei E i n w a n d . Vgl. SCHREIBER ( A n m . 3), 117. K u r f ü r s t l i c h e I n s t r u k t i o n v o m 11.5.1762, i n : KREITTMAYR ( A n m . 35), 1 7 5 f f ; SCHMELZLE ( A n m . 17), 2 0 8 f ; AY ( A n m . 9), 138, 172. - D i e H e r d s t ä t t e n - A n l a g e w a r die einzige allgem e i n e Steuer, die auch v o n d e n o b e r s t e n B e a m t e n entrichtet w e r d e n m u ß t e . In dieser Phase gilt es g l e i c h w o h l zu b e a c h t e n , d a ß b e s o n d e r s der A d e l u n d der K l e r u s von d e r S t e u e r b e f r e i u n g b e t r o f f e n w a r e n ; d i e n e u e G e s e t z e s f a s s u n g t r u g d e r B ü r g e r s c h a f t nicht R e c h n u n g . O f f e n s i c h t l i c h b e m ü h t e sich M a x III. a u c h weiterhin, d i e V e r o r d n u n g d u r c h unterschiedliche B e s t e u e r u n g d e r S t ä n d e zu spalten.

54

57

148

Christoph Henzler

und es war fraglich, in welchem Umfang sie wieder aufgenommen werden konnten. Offensichtlich schätzte die engere Umgebung des Kurfürsten die Finanzlage dermaßen kritisch ein, daß Geheimrat Stubenrauch vorschlagen konnte, einfach den Staatsbankrott zu erklären 58 . Bei den Postulatsverhandlungen 1764 war jedoch von derartigen Maßnahmen keine Rede mehr. Max III. legte erneut den Plan einer unabhängigen Bank vor, die hauptsächlich zur Schuldentilgung eingesetzt und an der auch wieder die Verordnung beteiligt werden sollte. Als besondere finanzielle Unterstützung hatte der Kurfürst zudem erreicht, daß ihm vom Papst eine zehnprozentige Steuer auf das gesamte kurbayerische Kirchenvermögen für fünf Jahre sowie eine anschließende dreijährige Besteuerung in Höhe von fünf Prozent erlaubt worden war59. Gerade diese zusätzliche Möglichkeit der Klerusbesteuerung ist besonders interessant, denn sie steht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem am 13. Oktober des gleichen Jahres erlassenen Amortisationsgesetz, das den kirchlichen Vermögenserwerb wesentlich einschränkte und damit ein weiteres Anwachsen des Kirchenbesitzes drastisch einzudämmen versuchte 60 . Es wird damit schlaglichtartig deutlich, daß Max III. nicht allein auf finanzpolitischem Gebiet versuchte, den Einfluß der Stände zurückzudrängen. Die z.T. erheblichen steuerpolitischen Eingriffe gegenüber dem Klerus können auch als Teil der kurfürstlichen Kirchenpolitik gesehen werden, die darauf abzielte, den Einfluß des Klerus in Bayern im Bereich der Staatsverwaltung weitgehend zurückzudrängen. Hier fand der Kurfürst neben seinem alten Lehrer Ickstatt besonders in Peter von Osterwald, den er 1761 zum Geheimen Rat und weltlichen Direktor des Kurfürstlichen Geistlichen Rates ernannt hatte, einen leidenschaftlichen Verfechter der absoluten Souveränität des Staates über die Kirche 61 . Es läßt sich also feststellen, daß Max III. in sei58

Vgl. SCHMELZLE ( A n m . 17), 244. - D i e Einzahlungen d e r V e r o r d n u n g im R a h m e n d e r Schuld e n t i l g u n g hatten zwar erst 1753 die endgültige H ö h e von 432.000 fl erreicht, waren d a n n a b e r 4 J a h r e lang regelmäßig gezahlt worden u n d hatten so zu einer gewissen Konsolidier u n g auch auf d e m öffentlichen F i n a n z m a r k t beigetragen. Zusätzlich positiv wirkten sich a u c h die steigenden Aufschlagserträge aus. " Bereits zu Beginn des Krieges hatte sich Max III. auf dieses, auch unter seinen V o r f a h r e n b e w ä h r t e Mittel der F i n a n z b e s c h a f f u n g gestützt. Vgl. MAYR ( A n m . 10), Bd. V, 378 ( f ü r 1757), 382ff ( f ü r 1764), 388ff (für 1771); POSCHINGER ( A n m . 36), 5 8 - 8 3 ; W. FICHTL, Aufklär u n g u n d Zensur. Die Zeit des K u r f ü r s t e n M a x III. Joseph (1745-1777), i n : Wittelsbach u n d Bayern, Bd. III, 1, hg. von H. GLASER, M ü n c h e n 1980, 174-178; AY ( A n m . 9), 172. 60

V g l . MAYR ( A n m . 10), B d . I I , 1 0 7 8 f f ; FICHTL ( A n m . 5 9 ) , 1 7 4 f f ; AY ( A n m . 9 ) , 3 3 f . - D a s G e -

setz sah vor, d a ß Klöster u n d geistliche Stiftungen v o n keiner lebenden o d e r toten Person m e h r als 2.000 fl in G e l d oder Sachwert als G e s c h e n k a n n e h m e n durften. - Bereits 1756 hatte M a x III. A u s k ü n f t e darüber einziehen lassen, welche G ü t e r geistliche Stiftungen seit 1672 o h n e landesherrliche Z u s t i m m u n g in ihren Besitz gebracht hatten. Vgl. MAYR ( A n m . 10), Bd. II, 1059ff. " Vgl. M. DOEBERL, D e r Ursprung d e r Amortisationsgesetzgebung in Bayern, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns 10 (1902), 186-262; AY ( A n m . 9), 208-213; einen k o m p r i m i e r ten Einblick gewährt: S. von MOISY, Von d e r A u f k l ä r u n g zur R o m a n t i k : Geistige S t r ö m u n gen in M ü n c h e n , Regensburg 1984, 38-64. - D a ß M a x III. n e b e n einer weiteren zusätzlichen Besteuerung des kirchlichen Besitzes (1.7. 1768) sogar in d e r Lage w a r , in dem a m 1.8. 1769 erlassenen M a n d a t über die Z e n s u r aller schriftlichen Werke im K u r f ü r s t e n t u m

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

149

nem Kampf gegen die Ständeprivilegien, die zweifellos gerade auf finanzpolitischem Gebiet hervortraten, sich im letzten Drittel seiner Regierungszeit - spätestens mit dem Amortisationsgesetz - besonders um die Zurückdrängung des Klerikerstandes und, damit verbunden, der besonderen Rolle der Kirche im Staatswesen bemühte. Der Kurfürst erkannte hier klar seine Chancen und nutzte sie zielstrebig. Daß mit der Auflösung des Jesuitenordens in Bayern 1773 das gesamte Schulwesen allein in die Obhut des Staates gebracht wurde, ist ein weiterer Aspekt dieses Vorgehens 62 . Dabei darf aber der Kampf gegen den Einfluß der Kirche nicht den Blick dafür verstellen, daß eine Reihe namhafter bayerischer Aufklärer gerade aus dem Prälatenstand kam und somit eine pauschale Vereinheitlichung des bayerischen Kirchenwesens und Teilen ihrer Vertreter im 18. Jahrhundert an der Realität vorbeigeht 63 . In der Konfrontation mit der ständischen Gesamtvertretung stand nach dem Siebenjährigen Krieg auch weiterhin die Schuldentilgung im Mittelpunkt. Und es war wiederum die katastrophale Finanzlage des Landes, die den Kurfürsten zwang, mit der Verordnung ζ. T. auf das engste zusammenzuarbeiten. So erreichte diese sogar den direkten Zugriff auf ein neues Bankprojekt des Landesherren ; im Rahmen der Schuldentilgung wurde es ihr 1768 eigenverantwortlich übertragen 64 . Zusätzlich erlangte die Landschaft zur Schuldentilgung noch die Überschreibung der Einnahmen aus der Herdstättenanlage und dem Tabakaufschlag. Damit hatte die Verordnung über das Schuldentilgungswerk alle wichtigen Steuern und Aufschläge wieder unter ihre Kontrolle gebracht und ihre Position im Rahmen der staatlichen Finanzpolitik deutlich gefestigt 65 . Die Maßnahmen zur Gesundung der Staatsfinanzen wurden jedoch zum Ende der Regierungszeit Max' III. nochmals zurückgeworfen, als Bayern von 1769 bis 1771 durch anhaltende Mißernten und Hungersnöte Forlsetzung

Fußnote von Seite 148

auch die bischöflichen und päpstlichen Hirtenbriefe bzw. alle geistliche Literatur der kurfürstlichen Kontrolle zu unterstellen, unterstreicht das massive Vorgehen des Landesherrn gegen die Kirche. Vgl. FICHTL (Anm. 59), 174f. - Wie eingehend sich Max III. mit kirchlichen Einrichtungen beschäftigte, zeigt auch ein Mandat von 1769: Als die ersten kirchlichen Institute vom finanziellen Zusammenbruch bedroht waren, schränkte der Kurfürst per Gesetz ihre Möglichkeiten der S c h u l d e n a u f n a h m e drastisch ein. Vgl. KREITTMAYR (Anm. 35), 501 f. 62 Z u r Stellung der Kirche im Kurstaat vgl. AY (Anm. 9), 30-38, 195-208; zum Schulwesen ebd., bes. 203 ff, 216-225. - Hier geht AY auch auf d a s massive Vorgehen des Kurfürsten in Fragen der staatlichen Eheerlaubnis ein. Max III. ließ Familien, die von einem Pfarrer o h n e staatliche Eheerlaubnis getraut worden waren und in Armut lebten, gewaltsam in das Herrschaftsgebiet des jeweiligen Bischofs bringen (ebd., 57). " Vgl. Beiträge zur Aufklärung im kirchlichen Bereich in Bayern von W. MÜLLER, W. WÜST, W . BRANDMÜLLER, F . - R . B Ö C K , F . KRAMER u n d A . SCHROMM i n : Z B L G 5 4 ( 1 9 9 1 ) , 2 0 3 - 2 9 8 . 64

BayHStA ( A n m . 10),

Altbayerische Bd.

I,

501 f ;

Landschaft, POSCHINGER

Landesfürstliche ( A n m . 36),

Verhandlungen

83-110;

von

ARETIN,

1263; Bayerns

MAYR Weg

(Anm. 9), 33. - Die Bank erwies sich jedoch als ungeeignet, den bäuerlichen Kapitalmangel gerade in den Notjahren ab 1770 abzudecken. " Instruktion vom 12. 3. 1767 i n : BayHStA O K Mü G.R. 1036/160; zu den Verhandlungen 1763-67 vgl. BayHStA O K Mü 978-983.

150

Christoph Henzler

schwer heimgesucht wurde, so daß der Landesfürst gezwungen war, die Steuerquote in Anbetracht der allgemeinen Not um die Hälfte zu senken. Eine zunehmende Todesrate und eine ansteigende Auswanderungswelle taten ihr übriges, um die finanziellen Probleme weiter anwachsen zu lassen. In dieser Notlage versuchte Max III. nochmals ein persönliches Wechselgeschäft - über österreichische Zwischenhändler - in Genua abzuwickeln. Die Pläne waren 1771 in aller Heimlichkeit vorbereitet worden und hatten zum Ziel, eine Anleihe über 12 Mill, fi (bei vierprozentiger Verzinsung) aufzunehmen. Mit dieser Summe gedachte der Regent, die restlichen 11,4 Mill, fi des Schuldenwerkes zu bezahlen und mit dem noch verbleibenden Geld eine ihm allein unterstehende Bank zu gründen 66 . Die Verhandlungen standen 1775 vor dem Abschluß, als die italienischen Bankiers plötzlich die bayerischen Landstände als Bürgen für die Anleihe forderten. Diese, nun doch von Max III. in die Pläne eingeweiht, lehnten aus verständlichen Gründen ab, denn die Verordnung war keineswegs bereit, die für sie nicht unwichtige Schuldentilgung auf diese Weise aus der Hand genommen zu bekommen 67 . Das verhinderte Anleihegeschäft scheint den Kurfürsten nochmals bewogen zu haben, in schärfere Auseinandersetzungen mit der Verordnung einzutreten. Neben der Veröffentlichung eines Erbschaftssteuermandates, mit dessen Einnahmen der Landesfürst einen Armenfonds zu gründen beabsichtigte 68 , erließ Max III. zusätzlich eine Anordnung, wonach es den Direktorialbeamten in den Kreishauptstädten verboten war, sich längere Zeit von ihrem Amtssitz zu entfernen. Verschärft wurde diese Gesetzesvorlage noch zusätzlich durch die ausdrücklich vom Kurfürsten eingeflochtene Ergänzung, ein zum Verordneten gewählter Direktorialbeamter müsse entweder sein Amt oder seine Wahl niederlegen. Ausschlaggebend für dieses Mandat war dabei der Beschluß der Landschaft, keine Deputierten mehr zu wählen, die ein Hof- oder Ministerialamt bekleideten 69 . Beide Seiten waren also offensichtlich zu einer Eskalation des Streites bereit. Diese trat endgültig ein, als Max III. im Herbst 1776 überraschend 66

67

Vgl. POSCHINGER ( A n m . 36), 111-136; SCHMELZLE ( A n m . 17), 245 geht nur k n a p p auf diese B e m ü h u n g ein. BayHStA O K Mü G.R. 9 8 9 / 7 ; POSCHINGER (Anm. 36), 121 ff druckt das Reskript v o m 27. 9. 1776 fast vollständig ab. - Das gefestigte Selbstbewußtsein spiegelt sich a u c h 1775 in d e r Reaktion d e r V e r o r d n u n g auf Pläne des K u r f ü r s t e n , eine neue, zuverlässige Landtafel über die ständischen Besitzungen anzulegen. D a b e i hatte M a x III. den gemäßigteren Plänen den Vorzug gegeben, die vorsahen, n u r die Zahl d e r G ü t e r im Besitz der Stände festzustellen sowie die E i n s t u f u n g im H o f f u ß ; A n g a b e n über ihren Wert o d e r über zu leistende A b g a b e n w a r e n bewußt ausgeklammert worden. D o c h die V e r o r d n u n g lehnte ab u n d verweigerte eine Einsicht in die selbst erstellte Landtafel. D a s kurfürstliche U n t e r n e h m e n w a r damit letztlich zum Scheitern verurteilt. Vgl. Anweisung M a x ' III. vom 5. 7. 1775 (Geheimes Land e s a r c h i v 1 4 6 0 ) ; RALL ( A n m . 9), 4 2 2 ; RAUH ( A n m . 5), 181 f.

68

H i n t e r g r u n d waren die a n h a l t e n d e n M i ß e r n t e n , was u. a. a u c h zu gesetzlichen M a ß n a h m e n f ü r das Bettelwesen führte. 1770 hatte der K u r f ü r s t z u d e m die G r ü n d u n g v o n Bettelhäusern e i n g e l e i t e t . V g l . M A Y R ( A n m . 10), B d . I V , 6 2 8 u n d e b d . , B d . I I , 9 1 0 ; KREITTMAYR ( A n m .

421 f f ; AY ( A n m . 9), 58-65. 69

V g l . SCHREIBER ( A n m . 3 ) ,

131.

35),

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

151

von der Landschaftsverordnung die Übergabe der von ihr verwalteten Bank forderte. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Vorwurf, die Ständevertreter hätten bisher keine wesentliche Reduzierung der Staatsschulden erreicht 70 . Eine derartige Argumentation ließ jedoch bewußt außer acht, daß die Verordnung durchaus ca. 17 Mill, fi zur Schuldentilgung aufgebracht hatte, diese jedoch durch neue Schulden in Höhe von ca. 15 Mill, fi - nicht zuletzt auch bewirkt durch wirtschaftliche Spekulationen des Kurfürsten, besonders bestärkt durch seine Berater Max von Berchem und Franz Xaver von Stubenrauch - fast völlig wieder überlagert worden waren 71 . Doch wie schon in den Jahrzehnten vorher hatte der Kurfürst im Streit mit der Verordnung seine Kräfte überschätzt. Die Deputierten erklärten sich zwar bei den Postulatsverhandlungen zu Beginn des Jahres 1777 bereit, nochmals zwei Mill, fi kurfürstlicher Schulden und eine jährliche Zahlung von 220.000 fl auf vier Jahre zu übernehmen, doch an ihrer Position im Finanzgebaren des Staates ließen sie nicht rütteln 72 . Max III. Joseph stand damit im letzten Jahr seiner Regierungszeit bei dem Versuch, den Einfluß der Stände zurückzudrängen, letztlich wieder dort, wo er bereits bei Regierungsantritt 1745 begonnen hatte: die Staatsschulden waren ohne die Landschaft nicht abzutragen. War der letzte altbayerische Wittelsbacher also ein Opfer der völlig verfehlten Außen- und Finanzpolitik seiner Vorfahren Max Emanuel und Karl Albrecht? Zweifellos hatte diese Erblast ein nicht unerhebliches Gewicht bei dem letztlich erfolglosen Kampf des Kurfürsten gegen den Einfluß der Landständeverordnung. Die Unfähigkeit, ausschließlich an seine eigene Person die Kreditwürdigkeit des Landes zu binden, brachte Max III. sogar noch in den letzten Jahren seiner Regierung in die Zwangslage, seine Finanzaktivitäten mit der Landschaft abzustimmen. Doch zusätzlich war von entscheidender Bedeutung, daß es dem Kurfürsten 1745/ 46, in einer Phase, in der auch die Landschaft ihre Kreditwürdigkeit verloren hatte, nicht gelang, die Finanzpolitik des Kurstaates unter seine alleinige Kontrolle zu bringen. Signifikant hierfür ist der erfolglose Versuch, 1746 eine allgemeine Kopfsteuer durchzusetzen. Dies scheiterte aber letztlich nicht nur an der Unfähigkeit der fürstlichen Beamten; der Kurfürst hatte völlig unterschätzt, daß die Landschaft über eine effiziente Verwaltung verfügte, die von einer in diesen organisatorischen Dingen unerfahrenen fürstlichen Zentralverwaltung nicht „über Nacht" ersetzt werden konnte. Auch der während des Siebenjährigen Krieges eingeschlagene Weg - durchaus mit gewissen Parallelen zur Vorgehensweise Maximilians I. - erwies sich als nicht begehbar, diesmal nicht vorrangig aufgrund verwaltungstechnischer Probleme, sondern wiederum gezwungen durch 70

Vgl. POSCHINGER ( A n m . 3 6 ) ,

71

Vgl. von ARETINI, Bayerns Weg (Anm. 9), 54. Vgl. AY (Anm. 9), 252; von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 36. - M a x III. f ü h r t e z u d e m noch einen neuen Bierpfennig ein. Vgl. MAYR ( A n m . 10), Bd. I, 92, 518 ff.

72

264.

152

Christoph Henzler

die schnell von der Verordnung wiedererlangte Kreditwürdigkeit. Auffällig bleibt zudem die nicht selten zutage tretende Unschlüssigkeit bzw. Unsicherheit Max' III. Joseph. Sein z.T. sehr selbstbewußtes Auftreten wich nicht selten einer allgemeinen Nachgiebigkeit, sicherlich aber meist unter dem Druck des Faktischen". Dabei konnte die Verordnung immer wieder auf verbrieftes Recht zurückgreifen: die Absicherung ihrer Existenz durch Reichsgesetz, vom Kaiser bereitwillig - solange kein Präjudiz für die eigenen Stände geschaffen wurde - bestätigt. Daß im Kampf um Finanzfragen die oberste Verwaltung zunehmend williger und wirkungsvoller sich einschaltete bzw. das fürstliche Ansinnen mittrug, zeigt, wie sehr auch schon unter dem letzten altbayerischen Wittelsbacher die Zentralverwaltung ein eigenes institutionelles Schwergewicht gewonnen hatte und sich zunehmend verantwortlicher für das Staatsganze zeigte. Hierbei verblaßten dann auch die Standesunterschiede, so daß aufklärerisches Gedankengut und zunehmend rationaleres Verwaltungsdenken schon zu Lebzeiten Max' III. zu beobachten sind74. Um so verständlicher ist die Zähigkeit, mit der die Landschaft ihre steuerpolitischen Privilegien und ihre finanzpolitische Mitsprache verteidigte. Zwar gelang es Max III. nur selten, die Verordnung als Ganzes zurückzudrängen, aber er konnte im Rahmen seiner Verwaltungs- und Kirchenpolitik zumindest dem Stand der Prälaten eine Reihe von Privilegien entwinden und zusätzlich eine gewisse Interessenspaltung innerhalb der Verordnung erreichen. Genutzt hat er diesen taktischen Vorteil jedoch nicht. Und wie schwierig es war, sich gegen die finanzpolitische Mitwirkung der Stände insgesamt durchzusetzen, zeigt auch das Schicksal seines Nachfolgers Karl Theodor. Als dieser am 4. Juni 1778 der Verordnung, weil diese aus Protest gegen die Tauschpläne des Kurfürsten keine Steuern mehr zahlen wollte, die steuerpolitischen Rechte entriß, mußte er diese auf Intervention des Reichshofrates wieder zurückgeben. Auch die zunächst nicht mehr aufgenommene Schuldentilgung wurde zusammen mit der Verordnung wieder vorangetrieben, wie diese auch umgehend die Steuerverwaltung zurückerhielt 75 . So müssen selbst wenige Jahre nach dem Tod Max' III. als Gründe für das Scheitern finanzpolitischer Eigenständigkeit des bayerischen Kurfürsten neben der Reichsverfassung sowohl die Schuldentilgung als auch Verwaltungsaspekte aufgezeigt werden. War Max III. Joseph letztlich in seinem Versuch gescheitert, die ständischen Steuerprivilegien und die finanzpolitische Mitsprache der Landschaftsverordnung zurückzudrängen, so kann von Aretin nur zugestimmt werden, der im Hinblick auf eine abschließende Beurteilung der Verord73

In seinem Bericht nach Wien führt 1769 der österreichische Gesandte aus, dem Kurfürsten fehle die Standhaftigkeit, getreue Diener ... nach Verdienst zu belohnen und ungetreue zu bestrafen. Zitiert nach AY (Anm. 9), 141.

74

V g l . R A U H ( A n m . 5 ) , 2 1 3 f.

75

BayHStA O K (Anm. 9), 53.

MÜ G.R.

1271 ; vgl.

HITZELBERGER

(Anm. 52), 153; von

ARETIN,

Bayerns Weg

Maximilian III. Joseph und die bayerische Landständeverordnung

153

nung feststellt, daß diese trotz aller Machtkämpfe grundsätzlich „ein Element wirtschaftlicher Stabilität" geblieben war. Ihr Mitwirken hat zweifellos dem Kurstaat nicht nur einmal den Staatsbankrott erspart, wie man den Deputierten insgesamt auch nicht absprechen kann, bei ihren Verhandlungen „das Wohl des Landes" im Auge gehabt zu haben 76 . Ihren nochmaligen politischen Aufstieg hatte die Verordnung erst unter Karl Theodor zum Ende des 18. Jahrhunderts, eine Entwicklung, die Max III. Joseph durch seine ausgleichende Politik immer zu verhindern gewußt hatte. Gescheitert ist der letzte altbayerische Wittelsbacher aber nicht nur an der politischen und finanziellen Hypothek seiner Vorfahren, sondern auch an seiner eigenen Unentschlossenheit und nicht zuletzt Unfähigkeit, Reformen konsequent durchzuführen, wenn er diese für notwendig erachtete. Hier stieß der Kurfürst, der sich zeit seines Lebens immer als Souverän sah, an seine Grenzen 77 . Damit muß die Charakteristik Doeberls, der Max III. Joseph als „aufgeklärten Absolutesten" sah, eine notwendige Korrektur erfahren 78 . Der Kurfürst war im Steuer- und finanzpolitischen Streit mit der Verordnung von den Lehren der Aufklärung stark genug beeinflußt, um die Notwendigkeit von Reformen zu erkennen und diese anzustreben, aber zu wenig souveräner Fürst, um seine Ziele auf diesem Gebiet nachhaltig durchsetzen zu können 79 . Der letzte altbayerische Wittelsbacher war also auch auf diesem innenpolitischen Feld kein strahlender Sieger; und dennoch hat in ihm der bayerische Staatsreformer Montgelas den „herausragendsten Kurfürsten" Bayerns gesehen. Max III. Joseph hatte mit seinem letztlich erfolglosen Versuch, die alleinige Finanzhoheit im Kurstaat zu erlangen, nur Wege aufzeigen können ; sie zu gehen, blieb der nachfolgenden Generation vorbehalten.

" von ARETIN, Bayerns Weg (Anm. 9), 58. - O. STEINWACHS, Der Ausgang der landschaftlichen Verordnung in Bayern, in: OA 55-57 (1910-1913) hat die Geschichte der Landschaftsverordnung in der Regierungszeit Max III. weitgehend als Verfall beschrieben; dies spiegelt sich in dem insgesamt negativen Urteil von ZIMMERMANN (Anm. 11), lOf wider, wie auch HITZELBEROER (Anm. 52) die Zeit zwischen 1669 bis 1778 äußerst negativ darstellt. "

V g l . SCHMID ( A n m . 15), 7 6 . - RAUH ( A n m . 5 ) , b e s . 2 1 9 - 2 8 2 l e g t a u s f ü h r l i c h e r d i e

Bemühun-

gen Max' III. dar, sich über Statistiken Einblick in die ständische Finanzkraft zu verschaffen, ein letztlich erfolgloses Unterfangen. 78

DOEBERL ( A n m . 8 ) , 2 9 0 .

" Zu den definitorischen Schwierigkeiten im Hinblick auf den Begriff des Aufgeklärten Absolutismus vgl. bes. G. BIRTSCH, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große, Karl Friedrich von Baden und Joseph II. im Vergleich (Aufklärung 2,1), Hamburg 1 9 8 7 , 9—47.

Ludwig

Hammermayer

Ökonomische Sozietät en miniature Zur G e s c h i c h t e der F e l d b a u g e s e l l s c h a f t i n S e e f e l d / O b e r b a y e r n (ca. 1 7 8 9 - 1 8 0 7 / 0 8 ) ' I. Vor- und Umfeld, Gründung,

Ziele

Die Vorgeschichte der Seefelder Feldbaugesellschaft - auch Adlige Sozietät des Ackerbaues und der Jagd genannt 2 - begann Anfang 1785, als Graf Anton Clemens von Toerring-Seefeld zum Hofkammerpräsidenten ernannt und damit für Kurbayerns Finanzen und Wirtschaft verantwortlich ' Es werden folgende Siglen und Abkürzungen verwendet: AAW = Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Korrespondenzen. - BayHStAM = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München. - GVM = Gesamtverzeichnis der Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, neu bearbeitet von M. STOERMER, München 1984. - HB 2I1 = Handbuch der bayerischen Geschichte, begründet von M. SPINDLER, Bd. 2 II, hg. von A. KRAUS, München 1988. - HBG, Kat. 1992 = Bauern in Bayern von der Römerzeit bis zur Gegenwart, hg. von M. H E N K E R u. a. (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 23, hg. vom Haus der bayerischen Geschichte = Ausstellungskatalog Straubing), München 1992. - HStK = Kur(pfalz)bayerischer Hof- und Staatskalender. - Prot. = Sitzungsprotokolle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (AAW). - StAM-TSA = Archiv der Gräflichen Familie zu Toerring-Seefeld im Staatsarchiv München. 2 Der genaue Name der Gesellschaft schwankt bereits in den Quellen: Feldbau- und Jagdsozielät zu Seefeld (Statuten 1789, vgl. Anm. 10), Ackerbaugesellschaft (Statuten § 7), Feldbausozietät (Bayerischer Landbot, 13.-17. 1. 1790, vgl. Anm. 20). Mindestens in den späteren Mitgliedsdiplomen nannte die Gesellschaft sich Adeliche Societàt des Ackerbaues und der Jagd zu Seefeld - Nobilis Societas agriculturae et venatorum Seefeldensis (z. B. Mitgliedsdiplom des Münchener Residenzgärtners Ludwig d'Evouvray, dat. 25. 2. 1795; StAM-TSA, H. H. H. 22, Nr. 2). Zur Gesellschaft vgl. Lorenz W E S T E N R E I D E R , Geschichte der baierischen Akademie der Wissenschaften Bd. 2, München 1807, 481; Friedrich S C H L I C H T E G R O L L , Dem Andenken an die Akademiker Graf Anton von Törring-Seefeld und Johann Nepomuk Krenner, Beilage B: Kurze Nachricht von der Ackerbaugesellschaft in Seefeld (Denkschriften der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 3), München 1811/12, 19-25; H . H A U S HOFER, Die Anfänge der Landwirtschaftsförderung im Ammerseegebiet. Die Seefeldische Feldbauvereinigung (Lech-Isarland), Weilheim 1936, 134-137; Ch. BORCHERDT, Fruchtfolgesystem und Marktorientierung als gestaltende Kräfte der Agrarlandschaft in Bayern (Arbeiten aus dem geographischen Institut des Saarlandes 5), Kallmünz 1960, 57 ff; grundlegend H. HAUSHOFER, Die Seefeldische Feldbau-Sozietät, in: ZBLG 31 (1988), 726-744; DERS., Bauer und Grundherr im Ammerseegebiet im Jahr der Französischen Revolution (Lech-Isarland), Weilheim 1969, 64-82; N. S C H I N D L E R und W. B O N S S , Praktische Aufklärung. Ökonomische Sozietäten in Süddeutschland und Österreich im 18. Jahrhundert, in: Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, hg. von R. VIERHAUS, München 1980, 255-353, 291, 346; S. GRAF, Aufklärung in der Provinz. Die kurbayerische Gesellschaft sittlich- und landwirtschaftlicher Wissenschaften von Otting und Burghausen (17651802), Phil. Diss, masch. München 1982, 433-438; L. H A M M E R M A Y E R , Freie Gelehrtenassoziation oder Staatsanstalt. Zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in der Zeit der Spätaufklärung und Reform, 1787-1807, in: ZBLG 54 (1991), 159-202, bes. 178 f.

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wurde 3 . Noch im gleichen Jahr erhob Kurfürst Karl Theodor Toerrings Hofmark Seefeld in den Rang einer gefreiten Herrschaft. Als Hofkammerpräsident hatte Graf Toerring-Seefeld die oberste Leitung der damals anlaufenden Reformen der sogenannten Landeskultur, insbesondere natürlich auf dem Gebiet der Agrar- und Forstwirtschaft. Als Herr der gefreiten Herrschaft Seefeld war er, mit Ausnahme des Blutbannes, vom zuständigen Landgericht Weilheim völlig gerichtsunabhängig 4 . Im folgenden Jahr 1786 durfte er sogar seine Herrschaftsrechte auch auf seine in einschichtigen Gütern lebenden Untertanen aus den Landgerichten Weilheim, Starnberg und Landsberg ausdehnen. Die Toerring-Seefeldische Herrschaft am Pilsensee, etwa dreißig Kilometer südwestlich von München zwischen den Nordufern von Ammerund Starnbergersee gelegen, war nunmehr ein weithin geschlossener stattlicher Grundherrschaftskomplex aus vier Hofmarken und zahlreichen einschichtigen Gütern. Diözesanherr war der Bischof von Augsburg. Das nahe Augustiner-Chorherrenstift Diessen sowie die Benediktinerabtei Andechs besaßen grundherrliche und Zehntrechte auf Toerringschem Gebiet. Das sozialökonomische Gefüge dieser gefreiten Herrschaft wies bemerkenswerten Mischcharakter auf ; denn nicht die großen Bauern dominierten, sondern mittlere Bauern und insbesondere Bausöldner, die alle ihr Land zum günstigen Leibrecht innehatten. Da Graf Toerring-Seefeld keine nennenswerte Eigenwirtschaft betrieb, gab es kaum Scharwerke, dafür entsprechende Ersatzabgaben. Die eigentlich bäuerlichen Schichten, d.h. die großen und mittleren Bauern sowie die Bausöldner, befanden sich gegenüber den landarmen Unterschichten und den Dienstboten sogar in der Minderzahl. Handwerksarbeit wurde hauptberuflich von etwa einhun1

Zu Anton Clemens Graf von Toerring-Seefeld (1725-1812) vgl. ADB XXXVIII 1894, 549f (fälschlich unter „Joseph Anton"!); GVM 3f, 12; S C H L I C H T E G R O L L (Anm. 2); W E S T E N RIEDER, Akademie I, München 1784, 176, 296, 449, 462, ebd. II (Anm. 2), 163-167, 481, 545, 588; P. LEGBAND, Münchener Bühne und Literatur im 18. Jahrhundert, in: OA 51 (1901), bes. 287, 346 f, 369 f, 393 f; Adalbert Prinz von BAYERN, Max I. Joseph von Bayern. Pfalzgraf, Kurfürst und König, München 1957, 78, 133, 182F und passim; H. RALL, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 45), München 1952, 351, 354f; A. KRAUS, Die Historische Forschung an der churbayerischen Akademie der Wissenschaften 1759-1806 (Schriftenreihe s. o. 59), München 1959, 96, 105, 175, 227, 228, 298; DERS., Die naturwissenschaftliche Forschung an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung (Bayer. Akademie d. Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Abhandlungen, Heft 82), München 1978, 70 f, 112, 156f; R. VAN DÜLMEN, Der Geheimbund der Illuminaten, Stuttgart-Bad Cannstatt 2 1977, 27, 54 ff, 257 f, 302, 333; L. H A M M E R M A Y E R , Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II: Zwischen Stagnation, Aufschwung und Illuminatenkrise 17691786, München 1983, 413 (Register); J. E N G L B R E C H T , Drei Rosen für Bayern. Die Grafen zu Toerring von den Anfängen bis heute, Pfaffenhofen 1985, bes. 296ff, 316-333; L. H A M M E R MAYER, i n : H B

4

Z

II (1988), 1178, 1180, 1184, 1219.

Vgl. u. a. F. T Ö P F E R , Geschichte des Schlosses Seefeld, in: OA 9 (1848), 3-58; D. A L B R E C H T und E. KLEBEL, Das Landgericht Starnberg (HAB, Teil Altbayern, H. 3), München 1951, bes. 7f, 26 f; D. ALBRECHT, Das Landgericht Weilheim (HAB, Teil Altbayern, H. 4), München 1952, bes. 9, 21, 30 ff, 37, 40 ff; P. FRIED, Historisch-statistische Beiträge zur Geschichte des Kleinbauerntums (Söldnertum) im westlichen Oberbayern, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München 51, (1968), 5-39; R A L L (Anm. 3), 355, 434.

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dertdreißig Meistern und Gesellen, als unerläßlicher Nebenerwerb jedoch auch von den meisten Bausöldnern geleistet. Wie allenthalben im altbayerischen Raum war die Dorfgerechtigkeit auch in der Seefelder Herrschaft wenig entwickelt. Nicht das Dorf, sondern der Hofmarks- ( = Herrschafts-) Verband bildete die Grundlage des politisch-administrativen Lebens auf unterster Ebene. Doch genau dieser herrschaftliche Rahmen bot für die Konstituierung einer Feldbausozietät die einzig möglichen Grundlagen. Die Vor- und Frühgeschichte der Seefelder Sozietät bleibt untrennbar verbunden mit jenem agrar- und forstwirtschaftlichen „Gründungsfieber", das 1786 einsetzte und sich in zahlreichen landesherrlichen Mandaten, Reformansätzen, Reformprojekten niederschlug. So erfolgte schon 1787 ein neuer Anlauf zu einer statistischen Erhebung über die Leibeigenschaft 5 . Zwei Jahre später gelang die Gründung der Donaumoos-Kommission, ein folgenreicher positiver Schritt auf dem Feld der sogenannten „Landeskultur". Nicht zu unterschätzen ist der Einfluß zeitgenössischer Experten-Reiseberichte, etwa des damals an der Universität Ingolstadt lehrenden Naturforschers Franz von Paula Schrank aus den Jahren 1785 bis 1788, auch der ab 1788 erscheinenden Beyträge Lorenz Westenrieders 6 . In eben diesen Zusammenhang fügen sich die Zufälligen Gedanken über das Landeskulturwesen in Baiern, die der Landgerichtssekretär Mathias Hauser 1787 der Münchener Hofkammer unterbreitete 7 . Hauser war hier kein Unbekannter, er hatte sich durch ebenso einfalls- wie erfolgreiche Kulturbaumaßnahmen in niederbayerischen Klosterhofmarken einen guten Namen gemacht und durfte in München Gehör erwarten. Seine Denkschrift verband handfeste und detaillierte Vorschläge für obrigkeitliche Maßnahmen mit originellen Anregungen, wie die Bauern zur Hebung der Landeskultur angereizt werden könnten. Dabei dachte er an eine doppelte Institutionalisierung von Bauernsozietäten auf Rentamts- und Landge5

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Hinweise bei A. SANDBERGER, Entwicklungstendenzen der Leibeigenschaft seit dem 13. Jahrhundert, in: ZBLG 25 (1962), bes. 83-92. Auf Anführung älterer wie neuerer Literatur zur bayerischen Agrargeschichte und -struktur des 18. Jahrhunderts muß hier aus Raumgründen verzichtet werden; allgemein vgl. A. SANDBERGER U. P. FRIED, Die Landwirtschaft, in: HB 2 II (1988), 736-752; D. STUTZER, Geschichte des Bauernstandes in Bayern, München 1988; HBG Kat. 1992, bes. 125, 159, 204 (Lit.). Franz v. Paula Schrank, Naturhistorische Briefe über Österreich, Salzburg, Passau und Berchtesgaden, 2 Bde. (gemeinsam mit Κ. E. von Moll), Salzburg 1785; Baierische Reise, München 1786; Akademische Reise, gemacht im Jahr 1788, München 1793; Naturhistorische Briefe über das Donaumoor, Mannheim 1795; Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Staatistik und Landwirtschaft [...], hg. von Lorenz Westenrieder, 10 Bde., München 1788-1817. Orig. BayHStA, GR 337/21; vgl. O. WARMUTH, Geschichte der Moorkultur in Bayern unter Kurfürst Karl Theodor, München 1908, 80-85, 215-219 (Teildruck); F. X. WISMULLER, Geschichte der Moorkultur in Bayern, Bd. 1, München 1909, 92-95. Richtete sich Hauser nach den in den österreichischen Erblanden seit den sechziger Jahren planmäßig errichteten Ackerbausozietäten? Vgl. V. FULL, Die Agrikultursozietäten und ihr Einfluß auf die Landwirtschaft der österreichischen Monarchie, Phil. Diss, masch. Wien 1937; K. DINKLAGE, Gründung und Aufbau der theresianischen Ackerbaugesellschaften, in: Zeitschrift für A g r a r g e s c h i c h t e u n d A g r a r s o z i o l o g i e 13 ( 1 9 6 5 ) , 2 0 0 - 2 1 1 ; SCHINDLER/BONSS ( A n m . 2).

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richtsebene. In diesem regional-lokalen Rahmen sollten mehrere Gesellschaften oder Bauernverbrüderungen errichtet und zum Gegenstand gewählt werden, sich untereinander zu verbinden, bei vierteljährig oder jährlichen Zusammenkünften über Culturs- und ökonomische Versuche einander Unterricht mitzuteilen. Diese Gesellschaft, die mehr praktisch als theoretisch und nur durch Facta und Tätigkeit unterweist, könnte mehr als alle gelehrte Gesellschaften und Bücher und weit sicheren und dem bayerischen Erdreich mehr angemessenen und von dem Landmann mehr annehmbaren Vorteil verschaffen, indem nicht Wort, sondern Taten von gleichen Stand bei der Bauernschaft zu wirken pflegen [...]*. Mit diesen Bauernsozietäten eng verbunden, doch keinesfalls identisch, war jener von Hauser konzipierte sogenannte Bauernorden. Er sollte in jedem Landgericht die durch praktische Leistung wie durch vorbildliche moralische Haltung ausgewiesene bäuerliche Oberschicht vereinigen und jeweils vierundzwanzig Tagwerk guten Ackerbodens zur Anlage einer Musterwirtschaft pro Landgericht zugeteilt erhalten. Die Ordensmitglieder sollten herausgehoben werden durch Abzeichen, Kleidung und vor allem durch rechtliche distinguierende Privilegien und Freiheiten. Die Voraussetzungen zur Aufnahme in diesen „Bauernorden" konnten geschaffen werden durch drei erfolgreiche Culturs-Handlungen auf einem sehr breit gefächterten agrar- und forstwirtschaftlichen Gebiet, von Stallfütterung, Klee-Anbau und Düngung über Vieh-, Bienen- und Obstbaumzucht bis zu Sparmaßnahmen beim kostbaren Holz. Hausers Denkschrift dürfte auch dem Hofkammerpräsidenten Graf Toerring-Seefeld bekannt geworden und bei ihm auf erhebliches Interesse gestoßen sein. Zwar mußte er bereits Ende 1787 wegen Zugehörigkeit zu Illuminatenorden und Freimaurerloge vom Hofkammerpräsidium zurücktreten, doch fand er nunmehr Muße, sich seiner Herrschaft am Pilsensee verstärkt zu widmen und hier einige der Hauserschen Vorschläge zu verwirklichen. Damals entschloß er sich wohl zur Gründung einer AckerbauSozietät. Zwei weitere Motive dürften miteingespielt haben: zum einen Toerrings Wunsch, das gestörte Verhältnis zum Landesherrn, Kurfürst Karl Theodor, mittels vorbildlicher Kulturbaumaßnahmen und durch Gründung einer Ackerbau-Sozietät zu verbessern, zum anderen die günstigen Aussichten, die sich einer solchen Sozietät durch den Niedergang der seit 1765 bestehenden Sittlich-Ökonomischen Gesellschaft von Burghausen eröffnen mochten 9 . 8

Zit. n a c h WARMUTH ( A n m . 7),

215.

' N e b e n den z.T. noch unentbehrlichen älteren Studien von K. v o n REINHARDSTÖTTNER (1895) und H. SCHAROLD (1917), vgl. H. HAUSHOFER, Die A n f a n g e d e r Agrarwissenschaft u n d des landwirtschaftlichen Organisationswesens in Bayern, in: Z B L G 29 (1966), 2 6 9 280;

SCHINDLER/BONSS

( A n m . 2);

GRAF ( A n m . 2);

HAMMERMAYER,

Akademie

II

( A n m . 3),

8 f , 134f u. passim; S. GRAF, Die Gesellschaft der Schönen Wissenschaften zu Öttingen a m Inn 1765-1769, in: Z B L G 46 (1983), 8 1 - 1 3 7 ; DIES., Provinzpatriotismus. U n t e r s u c h u n g e n zum Mitgliederprofil d e r Churbaierischen landwirtschaftlichen Gesellschaft von Ötting-Burg-

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*

Am 13. Juni 1789 wurde die Seefelder Ackerbaugesellschaft offiziell ins Leben gerufen. Die zeitliche Nähe zu frührevolutionären Ereignissen in Frankreich - von der Berufung der Generalstände bis zur Selbstkonstituierung des Dritten Standes als Nationalversammlung - fällt ins Auge, war aber von Graf Toerring-Seefeld schwerlich beabsichtigt. Die Sozietätsstatuten wurden in der Gründungsversammlung verlesen, gebilligt und bald darauf in München publiziert 10 . Sie waren wohl im wesentlichen ein Werk des Sozietätsgründers Graf Toerring-Seefeld, der seit langem der Bayerischen Akademie der Wissenschaft wie der Burghausener Sozietät als aktives Mitglied angehörte und damals sogar als Vizepräsident der Akademie amtierte. Hinzu traten wohl Anregungen aus jener Hauserschen Denkschrift. Auf die dort empfohlene doppelte Institutionalisierung in Gestalt sowohl einer Bauerngesellschaft als auch eines Bauernordens hat Graf Toerring-Seefeld jedoch wohlweislich verzichtet. Der potentiell geheimgesellschaftliche Charakter einer solchen Konstruktion dürfte gerade ihm, dem einstigen Illuminaten und Freimaurer, nicht entgangen sein. So verblieb es in Seefeld bei einer Bauernsozietät, die sich als Feldbausozietät konstituierte. Die rechtlichen und organisatorischen Fragen wurden durch die Statuten präzise geregelt. Als Sozietätsoberhaupt galt der jeweilige Herr der Hofmark und Herrschaft Seefeld. Die Geschäfte des ständigen Sekretärs übernahm der Herrschafts-/Hofmarkskanzler. Als oberstes Sozietätsgremium fungierte ein sogenanntes Kapitel, dem die Mitglieder der gräflichen Familie, sämtliche adligen und geistlichen Herrschaftsangehörigen, die Herrschaftsbeamten sowie - völlig gleichberechtigt - die beiden ältesten Mitglieder vom Bauernstande angehörten. Alljährlich sollten mehrere Treffen stattfinden, bis hin zur spätherbstlichen ökonomischen Final-Versammlung. Das Stiftungsfest am Antoniustag, dem 13. Juni, als dem Namenstag des Sozietätsgründers Graf Toerring, sollte mit Gottesdienst und feierlicher Sitzung in der barocken Wallfahrtskirche Grünsink begangen werden 11 . Ganz im Sinne jener Hauserschen Denkschrift verstand sich die Seefelder Sozietät nicht als isolierte Institution, abgeschirmt durch Einfluß und Forlsetzung Fußnote von Seite 158 hausen 1765-1778, in: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert, hg. von H.-E. B Ö D E K E R und U. H E R M A N N (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 85), Göttingen 1987, 66-93. Künftig auch ausführlich H A M M E R M A Y E R , Akademie III (1787-1807) (in Vorbereitung). 10 Gesätze und Regeln der Feldbau- und der Jagdsozietät zu Seefeld unter dem Titel: Freunde im Acker und auf der Jagd, errichtet im Jahre 1789, München, gedruckt bey Anton Franz churfürstlicher Hof-, Akademie- und Landschaftsbuchdrucker (Exemplar in StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). " Die nach 1740 entstandene Wallfahrt hatte nach 1763 durch eine von den Grafen ToerringSeefeld gestiftete Kirche neuen Auftrieb erhalten ( E N G L B R E C H T [Anm. 3 ] , 330 f).

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Prestige ihres Gründers und Protektors, vielmehr als Muster und Ausgangspunkt für ähnliche Gesellschaften in benachbarten Hofmarken und Landgerichten 12 . Manchen Eingeweihten galt die Seefelder Sozietät gar als Kern einer künftigen allgemeinen Landeskultur-Gesellschaft, somit als Ersatz für die darniederliegende Burghauser Sittlich-Ökonomische Gesellschaft. Doch anders als diese sollte sich eine künftige allgemeine Landeskultur-Sozietät nicht mehr von oben, sondern in zahlreichen Schritten von unten, von der lokalen, grundherrschaftlich-hofmärkischen bzw. landgerichtlichen Ebene aus aufbauen. Eine solche Sozietät neuen Typs würde sich - so hoffte man damals wohl - als volks- und praxisverbunden erweisen, die interessierte Mitwirkung adliger und geistlicher Grundherren sowie landesherrlicher Beamter finden und damit die schwersten Hindernisse überwinden, an denen die Burghausener Sozietät bisher gescheitert war 13 . Der Zugang zur Seefelder Feldbausozietät stand sämtlichen Herrschaftsbauern offen, sofern sie ein Zeugnis ihres Ortspfarrers vorlegten. Alle bäuerlichen Sozietätsmitglieder erhielten ein Abzeichen, das einen Pflug mit der Inschrift Heil dem Ackersmann und dem Hausvater darstellte 14 . Wer dies Zeichen trug, genoß erhebliche rechtliche und prestigemäßige Vergünstigungen, insbesondere allzeit freien Zugang zum Grafen sowie Befreiung von den zeit- und kräftezehrenden Treibjagden. Damit aber stellte sich die Feldbausozietät ganz bewußt den konfliktsschwangeren Jagdproblemen. Die bereits bestehende Seefelder Jagdgesellschaft sollte sich mit der neuen Feldbausozietät verbrüdern, um künftigen Jammer bestmöglich zu verhüten. Daß sich die Feldbausozietät auch Adeliche Societät des Ackerbaues und der Jagd nannte, schien zunächst auf weitgehende institutionelle Verschmelzung beider Sozietäten zu deuten 15 . Existenz, Zusammensetzung, Rechte und Pflichten jener älteren Seefelder Jagdgesellschaft sind nur spärlich erhellt; die Gründungsstatuten der Feldbausozietät von 1789 gehen nur kurz auf sie ein. Jene Jagdgesellschaft entsprach zweifellos einem dringenden und immer drängenderen Anliegen der bäuerlichen Untertanen, die - wie überall in Bayern - verhältnismäßig harte Jagdfronen zu tragen und wachsenden Wild- und Jagdscha12

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Sollten auch andere angrämend und umliegende Herrschaften eine dergleichen Societät in ihren Ortschaften zu errichten und zum Besten ihrer Untertanen und des geliebten Vaterlandes die Landeskultur zu erweitern und zu verbessern bedacht sein, so wird man mit Vergnügen dazu beitragen und ihnen als dies Orts Einkommendes mit Freud kommunizieren [...] (Statuten § 7, Anm. 10). [...] wenn mehrere Hofmarksherrn diesem vortrefflichen Beispiele folgen und mit eigner Teilnahme und Verwendung (denn ohne diese ließ man es besser bleiben) solche Gesellschaften errichten wollten! Hierauf ließ sich dann eine allgemeine Landeskultur-Gesellschaft gründen, die einen Ausschuß von jenen kleineren Gesellschaften zu Mitgliedern haben und aus den gesammelten Resultaten ein für das ganze Land heilsames Regulativ abziehen könnte (Baierischer Landbot, Nr. 5, dat. München 13.-17. 1. 1790, vgl. Anm. 34). Statuten § 7 (Anm. 10). Zur vollständigen Verschmelzung scheint es jedoch nicht gekommen zu sein. Vgl. Anm. 55.

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den auf ihren Äckern und Wiesen zu beklagen hatten 16 . Gegen diese Mißstände aufzubegehren schien zunächst fast aussichtslos. Noch 1778/80 waren zwei Schriften des bedeutenden bayerischen Agronomen und Juristen Dr. Simon Rottmanner auf Betreiben einer adligen Jagdpartei von der Regierung verboten worden 17 . Doch bereits Anfang 1787, als noch Graf Toerring-Seefeld der Hofkammer vorstand, suchte Kurfürst Karl Theodor den bäuerlichen Beschwerden entgegenzukommen, wiewohl noch zaghaft, eher verbal und ohne wirkliche Schmälerung adliger Jagdprivilegien 18 . Mehr Aussicht auf Erfolg bot der Umweg über eine schrittweise institutionelle, personelle und fachwissenschaftliche Neuordnung des Forstwesens, die dessen Priorität vor der Jagd betonte und schlüssig begründete 19 . Eben dies wurde in Bayern zwischen 1786 und 1790 mit einigem Erfolg in die Wege geleitet. Dagegen hatten die Bauern in Bayern wie im ganzen Reich von der sonst so regen und kritischen ökonomischen Publizistik sowie von den jungen Ökonomischen und Ackerbau-Sozietäten in Jagdfragen kaum Hilfe zu erwarten. Auch die Burghausener Sittlich-Ökonomische Sozietät und der von ihr zwischen 1778 und 1786 herausgegebene Bayerisch-Öko" Vgl. u. a. Die über das Jagdwesen in Bayern bestehenden Verordnungen, hg. von G. DÖLLINGER, Regensburg 1842; F. HÖCHT, Systematische Darstellung des im rechtsrheinischen Bayern geltenden Jagdrechts, München 1893; M. ENDRES, Geschichte des Jagdrechts in Bayern, in: Forstwirtschaftliches Centralblatt, Neue Folge 23 (1901), 170-189; H. W. ECKARDT, Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik, Göttingen 1976; E. ERGERT, Skizzen aus dem Gebiet der Jagd und ihrer Geschichte mit besonderer Rücksicht auf die Wittelsbacher, München 1980, 9-59. " Johann Theodor Frhr. zu Schollenberg und Reutha [= S. Rottmanner], Anmerkungen über das bayerische Mandat, welches in Betreff der Wildschützen und Landkultur den 1. August 1778 erschlichen [...] worden, München 1778; Ο. V. [ = S . ROTTMANNER], Notwendige Kenntnisse und Erläuterungen des Forst- und Jagdwesens in Bayern, München 1780. - Zu R O T T M A N N E R (1740-1813) vgl. u. a. Cl. A. B A A D E R , Lexikon verstorbener baierischer Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts, Bd. I I / l , Augsburg 1825, 25ff; K. EICHHORN, Wirtschaftliche Reformliteratur in Bayern vor Montgelas (Forschungen zur Geschichte Bayerns 16), München 1908, 231-282, bes. 253-274; S. ENDRES, Dr. S. Rottmanner, der erste bayerische Forstschriftsteller, München 1908; H. HAUSHOFER, Dr. Rottmanner und seine Bibliothek, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1 u. 2 (1953/54), 119-125; H. SCHEEL, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1962 (21971), 449-452 u. passim; E. WEIS, Montgelas 1759-1799. Zwischen Revolution und Reform, München 21988, 299 ff; E C K A R D T (Anm. 16), 167f; W. D E M E L , Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/081817 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 76), München 1983, 576 (Register); V. PRESS, Art. „Rottmanner", in: Landkreis Erding, hg. vom Landkreis Erding, red. von H. Z E H E T M A I R , Erding 1985, 81 f; L. H A M M E R M A Y E R , in: HB ! I I (1988), 1159, 1177, 1265; HBG, Kat. 1992, 139 f. Eine Biographie bleibt ein Desiderat. 18 Der Wildbestand sollte einerseits nicht zu einem dem Bauersmann zum Schaden gereichenden Übermaß anwachsen, jedoch andererseits nicht allzu rasch in Abnahme geraten (Kurfürstl. Mandat, 2 4 . 1. 1 7 8 7 ) ; vgl. Sammlung der kurpfalzbayerischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen, hg. von G. K. MAYR, Bd. 5, München 1788, 1029; Hinweis auch bei E C K A R D T (Anm. 1 6 ) , 8 9 f. 19 Unter dem Motto Bei Differenzen muß das Jagdwesen dem Forstwesen allzeit nachstehen wurde am 16. 11. 1790 ein selbständiges Oberstforstmeisteramt aus dem traditionellen Oberstjägermeisteramt ausgegliedert; vgl. M A Y R (Anm. 18), 205; J . K Ö S T L E R , Geschichte des Waldes in Altbayern, München 1934, 120, 152f; E C K A R D T (Anm. 16), 168.

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nomische Hausvater haben dies heikle Thema tunlichst vermieden. Um so stärkere Aufmerksamkeit verdiente das Seefelder Experiment. Gewiß sollten auch hier die adligen Jagdinteressen möglichst ungeschmälert bleiben, doch Wille wie konkreter Ansatz zu einem gewissen Interessenausgleich sind unverkennbar. Graf Toerring-Seefeld wagte den Versuch, ein auch auf der lokal-herrschaftlichen Ebene gefährlich sich mehrendes Konfliktpotential durch Konstituierung einer weitgehend vereinigten Feldbauund Jagdsozietät zu entschärfen, wobei er selbst zu einem bestimmten Maß an Selbstverpflichtung und Selbstbindung bereit war. Daß die französische Nationalversammlung am 11. August 1789 sämtliche adligen Jagdprivilegien abgeschafft hatte, mochte Toerring-Seefeld in seinem Vorhaben bestärkt haben; es bleibt gleichwohl bedeutungsvoll. Nach der Erntezeit des Jahres 1789 entfaltete die Seefelder Feldbausozietät eine rege Aktivität. Ihre Versammlung vom 14. Oktober beschloß zweiundzwanzig sogenannte Frag-Punkte, um den Bauernstand mittels des Feldbaues in bessere Vermögens-Umstände zu setzen20. Überlegt und präzise wurde die künftige Sozietätstätigkeit beschrieben und begrenzt. Natürlich nannten die Frag-Punkte zuvörderst jene agrar- und forstwirtschaftlichen Probleme, die allenthalben als vorrangig erkannt und auch in Hausers Denkschrift, in den Publikationen der Burghausener Sozietät, in manchen Preisaufgaben der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und in den Preisfragen und Publikationen anderer in- und ausländischer Akademien und Sozietäten immer wieder behandelt wurden. Daneben aber konzentrierten sich jene Frag-Punkte auf die spezifischen Bedingungen und Bedürfnisse im lokal-regionalen Bereich, in der Toerring-Seefeldischen Herrschaft, im westlichen bayerischen Oberland. Dabei ging es um die besonderen Bodenverhältnisse und die entsprechende Düngung und Bebauung, um Umfang und Methode der Kultivierung öder oder moosichter Gründe, um Möglichkeiten und Gefahren von Viehzucht und -fütterung, um Getreide- und Futtermittelanbau, um die existentiell wichtige Holzersparnis und schließlich auch darum, ob die Gemeinweiden zugunsten der erstrebten Zweimähdigkeit der Wiesengründe ganz oder nur teilweise geopfert werden müßten und sollten. Hier sowie bei der Frage, ob größere und mittlere Bauerngüter besser Tagelöhner oder Dienstboten beschäftigen sollten, wurden drängende Probleme der agrarischen Sozialstruktur berührt. In ihrem Selbstverständnis zeigte sich die Sozietät ausgesprochen praxisorientiert. Von Theorie und Wissenschaft war die Rede nur am Rande, etwa beim Wunsch nach empfehlenswerten Büchern zur ländlichen Ökonomie. Auf Preisfragen wollte die Sozietät zwar nicht verzichten und dabei jene Frag-Punkte als Grundlage benutzen, doch regelmäßige Publikationen erstrebte sie nicht, dafür war ihre personelle wie finanzielle Basis zu schmal. 20

Der Baierische L a n d b o t , N r . 5, 13.-17.1. 1790 (Beylage)·, zu dieser Zeitschrift vgl. A n m . 35.

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Zu Beginn des Jahres 1790 bemühte sich Graf Toerring-Seefeld um ein landesherrliches Plazet für die Feldbausozietät, obwohl dies für ein rein privates Unterfangen keineswegs erforderlich gewesen wäre 21 . Die latente Illuminatenkrise und sein eigenes, gespanntes Verhältnis zu Karl Theodor ließen jedoch dem Sozietätsgründer eine wie immer geartete Zustimmung des Landesherrn dringend geraten erscheinen. In einem Schreiben an den Kurfürsten betonte Graf Toerring-Seefeld die Harmlosigkeit und den hohen praktischen Nutzen der jungen Sozietät. Diese bezwecke nichts anderes als bessere Landeskultur und bessere Behandlung des Ackermannes. Bezeichnenderweise reagierte Karl Theodor nicht persönlich, doch durfte sein Geh. Kabinettssekretär Stephan von Stengel - Akademiemitglied, Promotor der Landeskultur, Leiter der Donaumoosgesellschaft - bereits am 11. Januar 1790 den Beifall und das Wohlwollen des Landesherrn für die Sozietät kundtun 22 . Wiederum zwei Tage später wurden die Statuten und die Frag-Punkte der Sozietät samt Stengeis Schreiben in der Münchener Presse veröffentlicht 23 . Damit war die Seefelder Sozietät de facto vom Kurfürsten bestätigt, in der Öffentlichkeit bekannt gemacht, ihre Gründungsphase abgeschlossen.

II. Die Mitglieder Wie viele Mitglieder die Seefelder Feldbausozietät zwischen 1789 und 1808 umfaßte, ist noch nicht völlig geklärt, es mögen zwischen siebzig und achtzig gewesen sein24. Die zeitlichen Aufnahmeschwerpunkte verteilen sich höchst ungleichgewichtig. Die Zahl der etwa fünfundzwanzig Gründungsmitglieder vergrößerte sich in der relativ ruhigen Periode bis zum Franzoseneinfall von 1796 durch Zuwahlen um knapp das Doppelte, stagnierte dann aber weitgehend in den folgenden drei Krisen- und Kriegsjah21

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[...] da nun diese Societal so unschuldig als für die Wohlfahrt meiner Herrschaft Seefeld und in der Folge fur das gesamte Vaterland höchst ersprießlich ist, da dieselbe blos auf die bessere Landescultur und Vervollkommnung derselben, dann zu besserer Behandlung des Ackermanns abzweckt, entgegen hiereinfalls doch Einwendungen gemachet werden könnten, als ging uns höchstlandesherrliche Confirmation ab [...] (Graf A. C. von Toerring-Seefeld an Karl Theodor, 9. 1. 1790, Orig. BayHStAM, HR 290/Nr. 20, fol. 2"). [...] erhielt ich daher den Auftrag, Euer Excellenz den Höchsten Beyfall zu erkennen zu geben, und Sie zu versichern, daß diese ihre Errichtung, so wie sie den Dank des Vaterlandes verdient, sich zu jeder Zeit des gnädigsten Wohlwollens Seiner Churfürstlichen Durchlaucht zu erfreuen haben solle (St. von Stengel an A. C. Graf Toerring-Seefeld, 11.1. 1790, Orig. StAMTSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22; Abdruck im Bäuerischen Landbot Nr. 5, 13.-17. 1. 1790, Beylage). Vgl. Anm. 20. Jedes Sozietätsmitglied erhielt ein Exemplar dieser Ausgabe des Landbot (Patent des Sozietätskanzlers Blauhut, dat. 18. 1. 1790; StAM-TSA, Lit. H. H. H. 22, Nr. 3). Wertvolles einschlägiges Material aus dem Sozietätsarchiv (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). Die Angaben von HAUSHOFER, Bauer und Grundherr (Anm. 2), 70 f über einen Mitgliederbestand von insgesamt siebzig Personen scheinen bedingt ergänzungsbedürftig; so ist etwa die Zuwahl des Fürstbischofs von Regensburg und Freising (vgl. Anm. 25) nicht erwähnt. Biographische Einzelheiten über die meisten Sozietätsmitglieder können an dieser Stelle nicht geboten werden. Das wäre Aufgabe einer von kompetenter agrarhistorischer Seite noch zu leistenden abschließenden Untersuchung.

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ren. Doch in der Umbruchszeit von 1799 bis 1807 wurden wiederum mindestens ein Dutzend neuer Mitglieder zugewählt. Eine geographische Aufschlüsselung fällt leicht, da die meisten Mitglieder entweder in der Herrschaft Seefeld oder in der Haupt- und Residenzstadt München wohnten. Auch die soziale Schichtung der Mitglieder läßt sich unschwer nachzeichnen. Von etwa zwanzig Adligen gehörten allein neun - darunter fünf Frauen - der Gründerfamilie der Grafen von Toerring-Seefeld an; hinzu kamen verschwägerte oder sonst verwandte Angehörige aus den gräflichen Familien Minucci, Holnstein und Basselet de la Rosée. Die besondere Rolle des geistlichen Elements in der Sozietät zeigt sich an der Zuwahl von mindestens neunzehn Mitgliedern, vorab die Pfarrer der Hofmarksdörfer, der Kaplan und der Hofmeister auf Schloß Seefeld, ferner zu München zwei emigrierte französische Geistliche, ein Lyzealprofessor und wohl auch der eine oder andere aus dem Weltklerus. Eine herausragende Stellung unter den geistlichen Sozietätsmitgliedern nahm der neue Fürstbischof von Freising und Regensburg ein, Joseph Conrad von Schroffenberg, der wohl im Herbst 1789 in die Seefelder Sozietät zugewählt wurde 25 . Nach und neben der Dorfgeistlichkeit bildeten Herrschaftsbeamte und mittlere Bauern den Kern der Mitgliedschaft im Seefelder Sozietätszentrum : der Herrschaftspfleger und -kanzler Johann Jakob Blauhut als permanenter Sozietätssekretär, dann der Communrichter und Oberbeamte Johann Baptist Hänle, der Ökonomieverwalter, der Pächter des Herrschaftsgutes, auch der herrschaftliche Oberjäger. Die eigenbäuerliche Schicht war vertreten durch mittlere Bauern, Wirte, Bräumeister, auch etliche sogenannte Schwaigbständer, welche die herrschaftlichen Schwaigen gleichsam eigenverantwortlich bewirtschafteten. Als zweites Sozietätszentrum darf die Haupt- und Residenzstadt gelten. Die Münchener Mitglieder sind zu trennen in eindeutig aktive, potentiell nützliche und solche, die eine - in den Statuten allerdings nicht vorgesehene - Ehrenmitgliedsfunktion erfüllten. Zu letzteren zählten eine Reihe bürgerlicher Hofkünstler, einschließlich des Residenzgärtners. Aus der adligen Hofgesellschaft fand sich nur der Hofintendant Graf Seeau, der bereits in den siebziger und frühen achtziger Jahren etliche Bühnenstücke

" Zu Schroffenberg (1743-1803), seit 1780 bereits Fürstpropst von Berchtesgaden, vgl. u. a. G. S C H W A I G E R in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945, hg. von E. GATZ, Berlin 1983, 677 f; G. SCHWAIGER, Die altbayerischen Bistümer Freising, Passau und Regensburg zwischen Säkularisation und Konkordat, München 1959, bes. 8-11, 111-121; K. H A U S B E R G E R , Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 2, Regensburg 1988, 37-42; N. KEIL, in: Christenleben im Wandel der Zeit. Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Freising, hg. von G. SCHWAIGER, Bd. 1, München 1987, 364-376; DERS., Das Ende der geistlichen Regierung in Freising (Studien zur altbayerischen Kirchengeschichte 8), München 1987, bes. 73-80; DERS., Der letzte Berchtesgadener Fürstpropst [...], in: Geschichte von Berchtesgaden. Stift, Markt, Land, hg. von W. B R U G G E R , H . D O P S C H , P . K R A M M L , Bd. 2, Salzburg 1993 [im Satz).

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des Grafen Clemens Anton von Toerring-Seefeld hatte aufführen lassen 26 . Von diesen Hofkreisen zu unterscheiden sind eine Reihe Münchener Sozietätsmitglieder aus Toerring-Seefelds Mitarbeiter- und bürgerlichem Bekanntenkreis, etwa der Hofkammer- und Rechnungskommissar Johann Michael Gallinger, der Arzt Dr. Joseph Wiedemann, der aus Stift Weyarn kommende Lyzealprofessor Albert Kirchmayr C. R. sowie der Naturforscher Johann Baptist Toussaint de la Sarre, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 27 . Zwischen dieser Akademie und der kleinen privaten und lokalen Agrikultursozietät am Pilsensee bestand von Anfang an eine höchst ungewöhnliche und fast optimale Verbindung, amtierte doch der Sozietätsgründer Graf Toerring ab 1780 auch als Akademie-Vizepräsident und von 1793 bis 1806 sogar als Akademiepräsident. Für die praktische Zusammenarbeit beider Sozietäten bedurfte es jedoch einer Persönlichkeit von der Gelehrsamkeit und Beweglichkeit de la Sarres. Über die Lebensdaten und äußeren Lebensumstände dieses französischen Weltgeistlichen und einstigen Franziskaner-Rekollektenmönches ist wenig bekannt. Er zählte nicht zu den frühen Revolutionsflüchtlingen, sondern war bereits zu Beginn der sechziger Jahre aus Frankreich nach Südwestdeutschland geflohen. Als ihn die Münchener Akademie 1763 zum auswärtigen Mitglied zu wählte, hielt er sich in der Reichsabtei Isny auf. Nach Lehrtätigkeit in den Reichsabteien Salem und St. Blasien wirkte er spätestens seit Mitte der siebziger Jahre in München als Kaplan, Sprachmeister, Lehrer der Geschichte und Erdbeschreibung am Kadettenkorps28. Die Philosophische Akademieklasse wählte ihn 1783 als ordentliches Mitglied zu; in ihren Abhandlungen veröffentlichte er damals zwei umfangreiche Studien zur Optik 29 . In diesen Jahren erwarb er wohl das Vertrauen des Akademie-Vizepräsidenten Graf Toerring-Seefeld. Im Frühjahr wurde er Akademiebibliothekar, durfte die akademischen Schriften auf eigenes Risiko verkaufen und besorgte zudem Wartung und Reparatur der elektrischen Maschinen des physikalischen Armariums der Akademie 30 . So sehr scheint er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt zu haben, daß er bei der öffentlichen Akademiefeier im Frühjahr 1789 den Festvortrag halten durfte. Zwischen Februar und Mai jenen Jahres las er in mehreren regulären Akademiesitzungen über die Ökonomie in Bayern3'. Als er dann Anfang Juli, gewiß auf 26

HAMMERMAYER, Akademie II (Anm. 3), 288 f. ' Zu de la Sarre (gest. ca. 1792) vgl. GVM 118; WESTENRIEDER, Akademie I (Anm. 3), 425, II 300, 482, 614; KRAUS, Naturwiss. Forschung (Anm. 3), 73-76, 116, 225f, 248; vgl. Anm. 69. 28 HStK 1777, 137. 29 Dissertatio catadioptrica (167-242); Abhandlung von den Haupteigenschaften der sphärischen Spiegel und Linsen (305-488); vgl. HAMMERMAYER, Akademie II (Anm. 3), 396. J0 Prot. 21. 3. 1786, 28. 4. 1786 (AAW). Am 12. 2. 1788 wurde de la Sarre beauftragt, mit Westenrieder und dem Akademiehausmeister die Kupferplatten zusammenzusuchen und zu ordnen; am 4. 3. 1788 erklärte er sich bereit, auch den Abdruck der Landkarten zu besorgen (Prot., AAW). JI Prot. 9. 2., 20. 4., 4. 5., 11. 5., 18. 5. 1789 (AAW). 2

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Toerring-Seefelds Vorschlag, in die junge Feldbausozietät zugewählt wurde, zählte er zu den tätigsten Münchener Akademiemitgliedern. Von den übrigen in der Haupt- und Residenzstadt ansässigen Akademiemitgliedern wurden nur zwei auch in die Seefelder Sozietät zugewählt, der schon erwähnte Hofintendant Graf Seeau sowie der Wirkliche Geheime Rat Graf Johann Aloys Caspar Basselet de la Rosée 32 . Er war bereits 1774 mit einer physiokratisch gestimmten Akademierede entschieden für den Bauernstand eingetreten und hatte zwischen 1779 und 1788 die junge Belletristische Akademieklasse geleitet. Eine glückliche Hand bewies Graf Anton Clemens von Toerring-Seefeld gegenüber der aufstrebenden Münchener Publizistik, indem er für die Feldbausozietät die Unterstützung der seit Jahresbeginn 1790 erscheinenden Wochenschrift Der baierische Landbot gewann 33 . Hier konnte sich die Sozietät bereits Anfang Januar der Öffentlichkeit präsentieren 34 . Herausgegeben wurde der Landbot von zwei jungen, vielseitigen und ehrgeizigen Juristen, dem als anti-illuminatistischen Publizisten wie als Theaterschriftsteller bekannten Pfälzer Joseph Marius Babo sowie von Felix Joseph Lipowsky, einem Bayern und ebenso begabten wie unermüdlichen historischen Dilettanten 35 . 12

13

Zu G r a f de la Rosée (1710-1795) vgl. G V M 4, 12; Th. WILCKENS, Militärisches aus der Zeit Karl T h e o d o r s , i n : M a n n h e i m e r Geschichtsblätter 8 (1907), 2 4 0 f ; HAMMERMAYER, Akademie II ( A n m . 3), 35f u n d passim. - Zu G r a f Seeau (1713-1799) vgl. G V M 14; LEGBAND ( A n m . 3); HAMMERMAYER, Akademie II ( A n m . 3), 83 u n d passim. Eine u m f a s s e n d e U n t e r s u c h u n g d e r bayerischen Aufklärungspublizistik fehlt e b e n s o wie eine M o n o g r a p h i e zum Baierischen Landbot, die u. a. auch die Verbindungen zum Sozialref o r m e r u n d bayer. Kriegsminister General Graf R u m f o r d (Sir Benjamin T h o m p s o n ) zu klären hätte. Z u m Landbot vgl. D. HILDEBRAND, Das kulturelle Leben im letzten Viertel des 18. J a h r h u n d e r t s im Spiegel von drei bayerischen Zeitschriften (Miscellanea Bavarica M o nacensia 36), M ü n c h e n 1971, 160 F; H. BÖNING, Der „ g e m e i n e M a n n " u n d die Französische R e v o l u t i o n , i n : B u c h h a n d e l s g e s c h i c h t e H e f t 2 ( 1 9 8 9 ) , 4 1 - 6 4 , b e s . 5 1 f ; F . MARKMILLER, J a h -

res- u n d Lebenslauf im Spannungsfeld von T r a d i t i o n u n d Aufklärung. Die Zeitung als Quelle: Der baierische Landbot von 1790, i n : Bayerisches J a h r b u c h f ü r Volkskunde, M ü n chen 1992, 25-43. - Z u r zeitgenössischen bayer. Aufklärungspublizistik vgl. u . a . HILDEBRAND ( s . o . ) ; L. HAMMERMAYER, Ingolstädter gelehrte Zeitschriftenprojekte im R a h m e n d e r bayerischen-süddeutschen Publizistik der zweiten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s , in: Sammelblatt d e s Histor. Vereins Ingolstadt 83 (1974), 2 4 1 - 2 8 3 ;

DERS. i n : H B

!

II (1988),

1173ff

(Lit.), 1181-1187; Β. HEIDRICH, Fest u n d A u f k l ä r u n g . Der Diskurs über die Volksvergnüg u n g e n in bayerischen Zeitschriften 1765-1815 ( M ü n c h e n e r Beiträge zur V o l k s k u n d e 2), M ü n c h e n 1984; M. SCHAICH, Joseph Milbiller. Studien zur süddeutsch-katholischen Publizistik u n d Geschichtsschreibung im a u s g e h e n d e n 18. und b e g i n n e n d e n 19. J a h r h u n d e r t , Magisterarbeit, masch. M ü n c h e n 1990. E i n e U n t e r s u c h u n g v o n M. Schaich zur bayerischen Aufklärungspublizistik des späten 18. J a h r h u n d e r t s ist in Vorbereitung. 34

35

Des Herrn Grafen von Törring-Seefeld Excellenz hat zur Beförderung des Ackerbaues und der Landwirtschaft in der gefreiten Herrschaft Seefeld eine Ackerbau-Gesellschaft errichtet, die unter dem Schutze des Herrn Grafen und durch seine tätigen Teilnahme belebt alles, was zur Verbesserung und Emporbringung dieses allerwichtigsten Gegenstandes dienlich sein kann, vermittels gemeinschaftlicher Verwendung und Beratschlagung in Ausübung zu bringen sich bestreben soU[...} (Baier. Landbot, 13.-17. 1. 1790, Beylage). Es folgen das Schreiben von St. von Stengel ( A n m . 22), ein Teildruck d e r Statuten sowie die Frag-Punkte. Vgl. A n m . 20 u n d 23. Z u Babo (1756-1822) vgl. N D B 1 (1953), 461; LEGBAND (Anm. 3), 264-269; HAMMERMAYER, A k a d e m i e II (Anm. 3), 320-328. - Zu F. J. Lipowsky (1764-1844) vgl. A D B X V I I I , 1893,

Ö k o n o m i s c h e Sozietät en miniature

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Eine weitere verheißungsvolle publizistische Verbindung ergab sich damals zwischen der Seefelder Sozietät und dem Herausgeber des Neuburger Kalenders, dem Regierungsrat und -archivar Ulrich Birzele zu Amberg 36 . Der Neuburger Kalender auf das Jahr 1791 brachte die Sozietätsstatuten im Wortlaut und kündigte für den kommenden Jahrgang weitere Mitteilungen über die Seefelder Sozietät an. Birzele, der seinen Kalender als gemeinnützige Volksschrift und notwendigen Beitrag zur Volksaufklärung betrachtete 37 , schien somit ein bedeutender Aktivposten für die Seefelder Sozietät; sie hatte nunmehr auch in den Pfalz-Neuburger Landen und in der Oberpfalz ein wirkungsvolles Sprachrohr gefunden. Der Jurist, Rentamtsbeamte und Publizist Birzele gehörte zu der zahlenmäßig begrenzten, doch bemerkenswerten Gruppe von Sozietätsmitgliedern, die sowohl außerhalb des Toerring-Seefeldischen Herrschaftsbereiches als auch außerhalb der Haupt- und Residenzstadt tätig waren. Diesen Mitgliedern zuzuordnen sind ferner der Pflegamtsverweser Maximilian Frhr. von Mändl aus Landsberg am Lech, der reichsstädtische Patrizier Andreas Nepomuk von Langenmantel aus Augsburg, der Hofrat Andreas Nepomuk Frhr. von Reisach von der herzoglich Neuburgischen Regierung, der Landgeometer Andreas Friedrich von Winter vom Rentamt Landshut, schließlich aus der kurbayerischen Enklave Wiesensteig der Pflegamtskommissar Joseph Alois Ströber, der aus dem bayerischen Oberland stammte und sich im Landgericht Tölz seine beruflichen wie wissenschaftlichen Sporen und sogar die Zuwahl in die Bayerische Akademie der Wissenschaften verdient hatte 38 . Bei einer institutionellen Erweiterung der Seefelder Ackerbau-Sozietät in welcher inhaltlichen Form oder geographischen Ausdehnung auch imFortsetzung Fußnote von Seite 166 730; GVM 87; J. GERSTNER, Züge aus dem Leben des pensionierten k. Centrairaths und Ständearchivars F. J. Lipowsky, in: OA 12 (1851/52), 84-112; E. WALCH, Das Geistesleben der Montgelas-Zeit im Spiegel der Zeitschrift „Aurora", in: OA 67 (1930), bes. 160-165; KRAUS, Histor. Forschung (Anm. 3), 132f, 158, 228, 235, 240, 298; Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt-Landshut-München, hg. von L. B O E H M und R. A. MÜLLER, Bd. III/2, München 1979, Nr. 4564. Eine monographische Studie ist zu wünschen. 16 U. Birzele, geb. ca. 1728 in Lutzingen/Opf., war 1779/81 Student der Rechte in Ingolstadt; vgl. B O E H M - M Ü L L E R , Matrikel (Anm. 35), Nr. 4509. " Birzele an Graf Toerring-Seefeld, dat. Amberg 15. 2. 1791 (StA M-TS A, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). - Zum Begriff und Forschungsfeld „Volksaufklärung" vgl. u. a. H. BÖNING, Der „gemeine Mann" als Adressat aufklärerischen Gedankenguts. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung (Das achtzehnte Jahrhundert 12), 1988, 52-80; D E R S . und R. S I E G E R T , Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfangen bis 1850. Bd. I. Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; zu Bayern vgl. u. a. F. M. PHAYER, Religion und das gewöhnliche Volk in Bayern 1750-1850 (Miscellanea Bavarica Monacensia 21), München 1970; E. STAHLEDER, Altbayerische Landjugend im Griff der „Aufklärung", in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25 (1977), 170-198. J8 Auf die Akademiemitgliedschaft berief sich Ströber, als er um Aufnahme in die Seefelder Sozietät nachsuchte (an Graf Toerring-Seefeld, dat. Wiesensteig, o. D. 1797, StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). Zu Ströber (1761-1835) vgl. GVM 142.

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mer - wäre diesen beamteten Mitgliedern aus Karl Theodors Herrschaftsbereich eine besondere Bedeutung zugefallen. Daß derlei Expansionsabsichten hier und da tatsächlich angestellt wurden, davon zeugen anno 1790 Hinweise im Münchener Landbot sowie ein Dankesschreiben des neugewählten Regensburger und Freisinger Fürstbischofs Schroffenberg 39 . Dieser verstand seine Zuwahl in die Seefelder Sozietät als Verpflichtung, vorzüglich Bedacht zu nehmen, eine dergleichen Sozietät auch in meinen Landen zu errichten. Von entsprechenden Fortschritten wollte er die von ihm so genannte adeliche Seefeldische löbliche Haupt-Societät unverweilt unterrichten. An Schroffenbergs gutem Willen war nicht zu zweifeln, doch die widrigen Umstände waren wohl stärker. Eine Ausdehnung der Sozietät gelang nicht. So vermessen es wäre, bei einer nach Zielsetzung, Expansionsmöglichkeiten und Binnenstruktur so eng begrenzten Sozietät wie der Seefelder eine Fülle bedeutender Mitgliedsnamen zu erwarten: man vermißt gleichwohl etliche Persönlichkeiten, deren Zuwahl nahegelegen hätte, sei es durch Sachkompetenz, Einfluß oder Verwandtschaft zur Gründerfamilie. So fehlt vom Adel der andere Zweig der Familie Toerring, die Grafen von Toerring-Jettenbach-Cronsfeld, von prominenter geistlicher Seite der Bischof von Augsburg als geistlicher Ordinarius der Hofmark Seefeld. Die Ökonomen von Stift Diessen und aus der Abtei Andechs sowie die führenden Beamten des zuständigen Landgerichts Weilheim scheinen nicht zum Beitritt eingeladen worden zu sein oder sich bewußt von der Sozietät fernegehalten zu haben. Ähnliches mag gelten von einigen herausragenden Agronomen oder Experten und Förderern der Landeskultur in der Regierung wie in der Publizistik, vor allem vom Geheimen Kabinettssekretär Stephan von Stengel, dem Landesdirektionsrat Frhr. v. Weichs 40 , von Joseph Utzschneider und Lorenz Westenrieder in München, Franz von Paula Schrank in Ingolstadt, Simon Rottmanner auf Gut Ast bei Landshut 41 . Soweit bekannt, wurden nicht einmal jene beiden Herausgeber des Baierischen Landbot in die Seefelder Sozietät zugewählt. Nach Gründen und Motiven zu forschen, verbietet die spröde Quellenlage. Doch ist die Antwort möglicherweise ganz einfach und liegt in der Selbstgenügsamkeit und Selbstbegrenzung der Seefelder Ackerbausozie" 40

41

S c h r o f f e n b e r g an G r a f Toerring-Seefeld, dat. Regensburg, o. D. 1790 (StAM-TSA, Lit. H. H. H . 1, N r . 22). Auch der Baierische Landbot meldete die Z u w a h l ( N r . 25, 23. 2. 1791). J o s e p h Maria Frhr. von Weichs (1756-1819), a b 1798 Vizepräsident, ab 1801 Präsident d e r Oberlandesregierung, Akademiemitglied seit 1795, veröffentlichte im Baierischen Landbot b e m e r k e n s w e r t e u n d kenntnisreiche Bemerkungen über die [...] von einem lateinischen Wirte gestellte ökonomische Frage der Seefelder Feldbausozietät (Baier. L a n d b o t , N r . 38—40, 8. 3., 9. 3. u n d 11. 3. 1791). Zu Weichs vgl. G V M 15; J. B. STROBL, Gallerie d e n k w ü r d i g e r Baiern, M ü n c h e n 1807, 3 5 - 6 7 ; Die Briefe R o m a n Zirngibls v o n St. E m m e r a m in Regensburg, hg. von A. KRAUS, S o n d e r d r u c k , Regensburg 1965, Nrr. 102-104, 106, 112, 114; L. LENK, Bildungswesen, A u f k l ä r u n g u n d Regierungspraxis in Straubing zwischen 1750 und 1850, in: Straubing, hg. von K . BOSL, 1968, 221-258, bes. 229 f, 254. Vgl. A n m . 17.

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tät. Diese Haltung mag freiem Willen entsprungen, aber auch von der Ungunst der Zeitläufte befördert oder sogar erzwungen worden sein. III. Die Preisfragen. Über die Tätigkeit der Seefelder Feldbaugesellschaft ist bisher verhältnismäßig wenig bekannt. Sitzungsprotokolle fehlen und scheinen auch nicht geführt worden zu sein. Wir wissen nicht einmal, ob sich die Sozietätsmitglieder in halbwegs regelmäßigen Abständen zusammenfanden. Das Stiftungsfest im Juni und die Final- Versammlung im Oktober dürften jedoch mindestens bis ins Kriegsjahr 1796 regelmäßig stattgefunden haben. Als wichtigstes und auch allgemein bedeutungsvolles Ergebnis der Sozietätstätigkeit bleiben somit die Preisfragen, von denen drei im Wortlaut und zwei weitere eher umrißhaft und tendenziell überliefert sind 42 . Die thematischen Anregungen kamen wohl zuvörderst vom Sozietätsgründer Graf Toerring-Seefeld, einem gründlichen Kenner sowohl regional-lokaler Bedürfnisse und Gegebenheiten als auch allgemeiner agrarwirtschaftlicher Probleme, wie seine Abhandlungen für die Bayerische Akademie der Wissenschaften und für die Burghausener Sittlich-Ökonomische Gesellschaft beweisen 43 . Bei Themenwahl und -formulierung wurde Toerring vermutlich beraten vom Sozietätssekretär und Herrschaftskanzler Blauhut, mehr noch vom Münchener Akademiemitglied de la Sarre, der auch bei den ersten Preisfragen als Gutachter tätig wurde 44 . Die Seefelder Feldbausozietät ging bei ihren Preisfragen behutsam zu Werke. Die erste reguläre Versammlung stellte im Oktober 1789 nicht etwa ein festumrissenes Thema, sondern unterbreitete ein reiches Auswahlangebot, eben jene zweiundzwanzig Frag-Punkte, die noch im Januar 1790 im Baierischen Landbot erschienen 45 . Dabei bezeichnete die Sozietät als allgemeines Ziel künftiger Tätigkeit und Preisfragen, daß alle Mittel vorgeschlagen und anwendbar gemacht werden, wie der Ackerbau verbessert und also der Bauersmann in bessere häusliche Umstände versetzt werde. Jene richtungsweisenden Frag-Punkte sollten zunächst den Ortsgeistlichen in der Hofmark und Herrschaft Seefeld zur Beantwortung anvertraut werden, weil gerade sie die Beschaffenheit der Feld- und Wiesengründe und den hievon abhängenden Wohlstand des Bauersmanns genau kannten und beurteilen konnten. Doch auch jedes andere Mitglied und selbst Auswärtige konnten jene Frag-Punkte erhalten und bis Anfang Juni 1790 beantworten. Dabei hoffte die Sozietät auf Anregungen für weitere wichtige

42

HAUSHOFER, B a u e r u n d G r u n d h e r r ( A n m . 2 ) , 7 2 - 7 8 .

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Vgl. Anm. 9. de la Sarre an Graf Toerring-Seefeld, dat. München 10. 6. 1790; desgl. dat. Seefeld (!), 2. 10. 1791 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). Auszug aus den abgegebenen Beantwortungen über die in der Seefeldischen Feldbausozietät vorgelegte Fragpunkte für das Jahr 1790 (Baier. Landbot, Nr. 25, 23, 1791, Beilage 1).

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Preisfragen. Die Preise in Höhe von zwölf Dukaten sollen aus dem Fond der Gesellschafts-Kassa bezahlt werden. Jene Frag-Punkte dürften inner- wie außerhalb der Seefelder Feldbausozietät lebhaften Widerhall gefunden haben. Allerdings erwies sich der Juni-Termin als viel zu kurz; erst Ende Februar 1791 konnte Graf Toerring-Seefeld im Baierischen Landbot die wichtigsten Ergebnisse vorlegen. Zustandegekommen war bereits jetzt nicht mehr und nicht weniger als eine realistische Inventur der natürlichen Produktionsbedingungen46 in der Hofmark und Herrschaft Seefeld, vor allem hinsichtlich Bodenbeschaffenheit, Klima und sozial-ökonomischer Struktur. Als besonders diskussionsund reformbedürftig galten demzufolge die Kultivierung der Gemeingründe sowie der akute Dienstbotenmangel infolge überhöhter Löhne und Landflucht. Als Grundvoraussetzung jedweder wirkungsvoller Verbesserung wurden Steuer- und Abgabereformen bezeichnet. Nicht übersehen wurden die anderen dringlichen agrarwirtschaftlichen Probleme, wie etwa die Proportionen zwischen Feldbau und Viehbestand oder die Urbarmachung öder und moosichter Gründe. Für künftige Preisfragen der Sozietät bot sich nunmehr in der Tat eine Fülle gewichtiger Themata. Es ist bezeichnend, daß sich bereits ab Anfang 1790 und scheinbar unabhängig von der Seefelder Sozietät im Baierischen Landbot eine rege Diskussion über agrarwirtschaftliche Fragen entspann, die weitere Anregungen für Seefelder Preisfragen erbrachte 47 . Eben diese Situation ermutigte wohl den Grafen Toerring-Seefeld Anfang 1791 zu dem Vorschlag, die Sozietät möge künftig jährlich nicht nur eine, sondern zwei Preisfragen stellen und die beste Antwort mit jeweils sechs Dukaten belohnen; der Termin sollte großzügig bemessen, doch unbedingt verpflichtend sein48. Diese Anregung schien zunächst durchaus einleuchtend und sozietätsaktivierend, doch nahm Toerring-Seefeld bald davon Abstand, da Eigenkräfte wie Zielgruppen der Sozietät überfordert wurden. Die nächste Preisfrage, fällig bis zum Michaelitag, dem 29. September 1791, behandelte wiederum keine agrarwirtschaftlichen Details; unter Hinweis auf die Ergebnisse jener Frag-Punkte wollte sie wissen, wie man mit der Landkultur den Anfang machen könne, um den untrüglichsten Fortgang zu erreichen49.

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HAUSHOFER, Bauer und Grundherr (Anm. 2), 73. In die einschlägigen Veröffentlichungen im Baierischen Landbot zwischen März und Mai 1791 hatte sich auch der Oberlandesregierungsrat Frhr. von Weichs eingeschaltet (vgl. Anm. 40). Bereits zu Jahresbeginn hatte ein Anonymus - vielleicht Weichs? - der Seefelder Sozietät folgende Preisaufgabe empfohlen: Wie läßt sich bei einer ganzen Dorfgemeinde die Aufhebung der Brache, der Gemeinweide und der Futterbau einfuhren, ohne großen Nachteil der Schaf- und Schweinezucht, ohne Nachteil der darin sich befindenden Handwerker und Taglöhner? (Baier. Landbot, Nr. 11, 19. 1. 1791). Graf Toerring-Seefeld an die Feldbausozietät, dat. München 4. 1. 1791 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). StAM-TSA, s. o.; HAUSHOFER, Bauer und Grundherr (Anm. 3), 75f.

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Soweit bekannt, liefen drei Lösungen ein, zwei davon von Ortspfarrern der Seefelder Hofmark und eine von einem Arzt aus München 50 . Sonderlich die Arbeiten der beiden Geistlichen verbanden treffliche allgemeine ökonomische Kenntnisse und ortsspezifische Erfahrungen mit ehrlicher und sogar mutiger Anteilnahme am Schicksal gerade auch der unterbäuerlichen Schichten. Bei ihren Reformvorschlägen stießen sie jedoch immer wieder an die Grenzen, die selbst eindeutig lokalen, hofmärkischen Verbesserungen gesetzt waren und nur vom Landesherrn überwunden werden konnten. Ohne Scheu nannten die beiden geistlichen Verfasser die Mißstände beim Namen 51 . Ein aufgeklärter Patriarch wie Graf Toerring-Seefeld mag solchen Freimut geschätzt haben. Dem als Gutachter tätigen Münchener Akademiker de la Sarre fiel die Entscheidung sichtlich schwer 52 ; vermutlich wurden sämtliche drei Preisschriften belohnt. Wahrscheinlich wurde auf das Jahr 1792 eine neue, dritte Preisfrage aufgeworfen, obschon weder deren Inhalt noch Bearbeiter und Ergebnisse überliefert sind 53 . Im Sommer wurde ein weiteres Thema gestellt, die Bearbeitungsfrist auf zwei Jahre verlängert, die Preise von sechs auf zwölf Dukaten erhöht. Die Seefelder Dorfschaften wurden zum Wettstreit aufgerufen, ob und mit welchen Mitteln der Viehbestand am besten vermehrt werden kônné4. Wie hier in einer Preisfrage ganze Dorfschaften angesprochen und 50

Es handelte sich um die Pfarrer von Perchting und von Frieding im Landgericht Starnberg. Ihre Preisschriften wurden, nach den Entwürfen in den jeweiligen Pfarrarchiven, erstmals verwertet bei BORCHERDT (Anm. 2), 56-60. Die Originale der drei Preisschriften befinden sich im Gräfl. Toerring-Seefeldischen Archiv (StAM-TSA). Stammte die dritte Preisschrift von dem als Sozietätsmitglied bekannten Münchener Arzt Dr. Joseph Wiedemann? Zum ganzen vgl. auch HAUSHOFER, Bauer und Grundherr (Anm. 2), 75 ff. 51 So meinte der Pfarrer von Frieding: [...] es war aber nicht eitel Unmut und Unvermögen des Bauers das seine Ökonomie verdarb. Man tut dem baierischen Bauer sehr Unrecht, wenn man glaubt, er sey zu trög oder zu dum, seine Vortheile zu benutzen. Man lasse ihm nur einen Profit seiner Arbeiten, und mache ihm also einen Muth dazu: und setze ihn in das Vermögen ein, um etwas thun zu können; und man wird Wunder sehen, wie bald sich derselbe aus seinem Verfahl herausarbeiten, wie seine Felder wieder florieren, und er das Vorurtheil der Dum- und Trägheit, das er ungerecht trägt, von sich ablehnen würde. Auf Acker-Philosophie und neue ModeArt zu bauen, wird er sich freilich nicht verstehen, aber beidersinnig auf die althergebrachte, und durch Jahrhunderte erprobte Praxis wird er nebst seinem Vaterlande um ein Ausland mehr als dermalen ernähren. Aber so bey seiner dermaligen Lage sucht und verlangt der Bauer niemal mehr, als nur so vil zu bauen als er wieder ein Jahr etwas weniges zu essen habe; denn er schleppt seine Noth von Jahr zu Jahre, und sieht derselbe bei allem Fleiß und dem reichsten Segen kein Ende[...] (zit. nach BORCHERDT, Anm. 2, 59). 52 Nach Ansicht de la Sarres hätten alle drei Einsender recht, wenn sie die Vermehrung des Futters als Grundvoraussetzung und zentralen Punkt jeder Reform bezeichneten (an Graf Toerring-Seefeld, dat. Seefeld, 2. 10. 1791, StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). " Hinweis auf einen - ungenannten - Preisträger im Verruf des Grafen Toerring-Seefeld an die Feldbausozietät, dat. 22. 8. 1792 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). 54 In einem Verruf an die Sozietät vom 22. 8. 1792 (vgl. Anm. 53) erklärte Graf Toerring-Seefeld, jener ungenannte Preisträger sei willens, seinen Preis einer solchen Dorfschaft zukommen zu lassen, die sich am ersten zur Verbesserung der Landwirtschaft auszeichnen wird. Den Preis werde somit jene Dorfschaft erhalten, welche sich vorzüglich zur Vermehrung des Viehstandes auf immermöglichste Weise, als mit Anbauung der Futterkräuter, Verteilung der Gemein weid, Abtrocknung der Moser, mithin zur Zweimähdigmachung ein und anderer Grunde [...] verstehet. Die genauen Vorgänge und Hintergründe sind ungeklärt und etwas mysteriös.

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in die Sozietätstätigkeit eingebunden werden sollten, war wohl neuartig und ingeniös, angeregt durch die Preisschriften jener beiden Pfarrherren, in denen die agrarwirtschaftliche Einheit und die je spezifischen Interessenlagen der Dorfschaften überzeugend dargestellt worden waren. Zwischen den Preisfragen von 1792/94 und den ergänzenden elf Statuten der Seefelder Jagdsozietät, die damals im August 1792 erlassen und gedruckt wurden 55 , bestand zweifellos ein enger Zusammenhang. Jene Statuten beweisen zudem, daß die Verbrüderung zwischen Feldbau- und Jagdsozietät von 1789 keineswegs das Ende der letztgenannten bedeutet hatte. Sowohl die neuen Jagdsozietätsstatuten als auch jene Preisfrage der Feldbausozietät von 1792/94 waren wohl zusätzlich von der Absicht geleitet, die Seefelder Hofmarksbauern in Zeiten allgemein wachsender und auch von außen andrängender Gärung zu beruhigen und sie noch stärker in die vom Hofmarksherrn geleiteten und kontrollierten beiden Sozietäten einzubinden. Solcherart Disziplinierungserwägungen mochten auch miteingespielt haben, als Graf Toerring-Seefeld 1793/94 mit einer Abhandlung bzw. Rede über den Klee- und Futtermittelanbau vermutlich erstmals unmittelbar in die Tätigkeit seiner Feldbausozietät eingriff 56 . Der äußere Anstoß erfolgte wohl von einer landesherrlichen Verordnung zugunsten verstärkten und rechtlich begünstigten Futtermittelanbaus. Dessen Vor- und Nachteile gegenüber den traditionellen Anbauweisen wog Graf ToerringSeefeld sorgfältig ab; seine Vorschläge wurden gewiß beachtet und wenigstens teilweise befolgt. Ob Graf Toerring-Seefeld mit seiner Initiative auch Hilfestellung zur Beantwortung der anstehenden Preisfrage der Feldbausozietät geben wollte und ob ihm dies gelang, das ist (noch) nicht zu klären; Existenz wie Schicksal möglicher Preisschriften liegen im Dunkel. Ungleich glücklicher war die Feldbausozietät dagegen mit ihrer Preisfrage auf das Jahr 1795 über das Verhältnis von Holzkultur und Viehweide57. Das Thema entsprang zwar spezifisch Seefeldischen Bedingungen, betraf aber zugleich fast das gesamte bayerische Oberland und besaß im Grunde deutsche, ja europäische Bedeutung. Da das Münchener Akademiemitglied de la Sarre entweder verstorben oder verzogen war, jedenfalls als Hauptgutachter nicht mehr zur Verfügung stand, zirkulierten die Fortsetzung

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Fußnote

von Seite / 71

Fast d r ä n g t sich die Vermutung auf, als sei j e n e Preisschrift eines u n b e k a n n t e n Wohltäters vom Sozietätsoberhaupt bestellt, vielleicht g a r v o n ihm selbst verfaßt w o r d e n , u m die Sozietätsaktivitäten a n z u f e u e r n u n d in d i e gewünschte Richtung zu lenken. Graf Toerring-Seefeld m a n g e l t e es weder an F a c h k o m p e t e n z noch a n der Fähigkeit zu solcher Taktik. Neue Regeln für die Mitglieder der Seefeldischen Jagd-Sozietät. dat. 2. 8. 1792 (StAM-TSA, Lit. H . H. H. I, Nr. 22). Das Verhältnis von Jagd- u n d Feldbausozietät bleibt n o c h klärungsb e d ü r f t i g ; vgl. A n m . 2, 10, 14-19. Meinung über den Kleebau. Der Landwirtschaftlichen Gesellschaft (sic! L. H.) zur Prüfung übergeben·, vgl. hierzu HAUSHOFER, Bauer u n d G r u n d h e r r ( A n m . 2), 79 f. Ob es besser sey, sich in Seefeld auf eine Holzkultur, oder zu einer Viehweide für umliegende Dorfschaften zu verwenden? (dat. 28. 5. 1794; S t A M - T S A , Lit. H. H. H. I, Nr. 22); vgl. HAUSHOFER, Bauer u n d G r u n d h e r r ( A n m . 2), 7 8 f ; H B G , Kat. 1992, 172f.

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drei eingegangenen Preisschriften zwischen Juli und Oktober 1795 unter insgesamt vierzehn (!) Sozietätsmitgliedern 58 . Fraglos zu Recht gekrönt wurde die Abhandlung des Niederaltaicher Benediktiners P. Candidus Huber 5 9 , der damals zu Ebersberg die klostereigene Pfarrei sowie die weiten Kommendewaldungen des Malteser-Großpriorats verwaltete. Durch eine sogenannte Holzbibliothek und durch etliche einschlägige Studien hatte er sich einen guten N a m e n verschafft, bereits 1792 die Zuwahl in die Münchener Akademie erreicht und im Jahr darauf die Preisfrage der Burghausener Sittlich-Ökonomischen Gesellschaft gewonnen. Auch der 1790 zu Regensburg gegründeten Botanischen Gesellschaft gehörte Huber als aktives Mitglied an. In beinahe idealer Weise vereinigte er die Erwartungen an einen Preisträger der Seefelder Feldbausozietät: eingehende Kenntnisse lokal-regionaler Verhältnisse wie auch der übergreifenden agrarwirtschaftlichen Probleme und Zusammenhänge. Huber wollte der Seefelder Sozietät künftig in holz- und forstwirtschaftlichen Fragen zur Seite stehen und hoffte - allerdings vergeblich - auf Publikation seiner Preisschrift 60 . Ob jene Festsitzung der Feldbausozietät vom Herbst 1795, die den P. Candidus Huber auszeichnete, gleichzeitig auch eine neue Preisaufgabe f ü r 1796 oder 1797 stellte, ist nicht mehr verifizierbar, jedoch anzunehmen. Noch war die Sozietät handlungsfähig. Auf Bitten eines ihrer pfarrherrlichen Mitglieder gewährte sie damals einem notleidenden alten Söldner eine bescheidene ständige Unterstützung 6 1 . Thema und Schicksal einer möglichen neuen Preisfrage sind unbekannt. Als über sie entschieden werden sollte, standen Not und Krieg ins Haus.

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Feldbausozietät an Candidus Huber, 22. 10. 1795 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). " Zu P. Candidus Huber (1747-1813) vgl. GVM 72; A. LINDNER, Die Schriftsteller und die um Wissenschaft und Kunst verdienten Mitglieder des Benediktiner-Ordens im heutigen Königreich Bayern vom Jahre 1750 bis zur Gegenwart, Bd. 2, Regensburg 1880, 27 f; K. S T A D L B A U E R , Die letzten Äbte des Klosters Niederalteich, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 23 (1884), 130-136; M. U. KASPAREK, Candidus Huber (22. Bericht des naturwissenschaftlichen Vereins), Landshut 1956; A . F E U C H T E R - S C H A W E L K A , Candid Hubers forstwissenschaftliches Wirken in Ebersberg (Der Landkreis Ebersberg, Geschichte und Gegenwart, Heft 3), Stuttgart 1990, 38—47; HBG, Kat. 1992, 172f. Überaus positiver zeitgenössischer Bericht bei Johann Christoph PLÜMECKE, Briefe auf einer Reise durch Deutschland im Jahr 1791, Bd. 2, Liegnitz 1793, 266 ff. 60 Candidus Huber an Feldbausozietät, 2. 11. 1795 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). " Auf eine Bitte von Pfarrer Georg Mändl aus Inning (dat. 28. 9. 1795) antwortete Graf Toerring-Seefeld: Die Cassa-Umstände einer löblichen Ackerbaugesellschaft sind nicht immer gleich gut. Die Aufnahme der Mitglieder, wodurch sich die Kassa vermehren könnte, sind sehr zufällig, auch wird der geringe jährliche Beytrag, welchen jedes Mitglied zu verrichten hätte, von vielen in Ausstand gelassen. Dergleichen Betrachtungen bewogen, glaube ich, bisher eine löbliche Gesellschaft keine jährlichen oder monatlichen Pensionen auszusprechen. Die besonders zu betrachtende Umstände, so bey diesem Supplicanten eintretten, und die hohe Empfehlungen leiten mich von der Regel in etwas ab und bewogen mich, meinen Wunsch daher zu eröffnen, daß man dem Mathias Feigl, Söldner, auf Ruf und Widerruf, monatlich einen Gulden auszahle [...] (an Feldbausozietät, 3. 10. 1795, StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22).

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IV. Niedergang und Ende Der deutliche Verfall der Seefelder Ackerbausozietät datiert zwar eindeutig vom Kriegssommer 1796, er war jedoch seit dem Zusammenbruch der publizistischen Basis in den frühen neunziger Jahren vorbereitet. Der Neuburger Kalender des Amberger Rentamtsbeamten Ulrich Birzele gelangte schon 1791 an ein Ende; die angekündigte Fortsetzung des Berichts über Statuten und Aktivität der Feldbausozietät unterblieb 62 . Noch folgenschwerer war anno 1791 die Krise des Münchener Baierischen Landbot. Bis in den Sommer 1791 diente diese Wochenschrift nicht nur der Seefelder Sozietät, sondern auch anderen agrar- und sozialreformerischen Kräften als Diskussionsforum 63 . Noch im Mai 1791 kam hier ein Experte wie Professor Franz v. Paula Schrank aus Ingolstadt zu Wort 64 . Doch bereits im Herbst suchte man vergeblich nach einer Ankündigung der neuen Seefelder Preisfrage. Stattdessen verbreitete sich der Baierische Landbot mit erhobenem Zeigefinger über Anstandsfragen, bürgerliche Tugendlehre, Aufklärung des Landmannes65. Die agrarwirtschaftlichen Beiträge aber waren nunmehr so dünn gesät, daß ein Anonymus zu Recht klagte, der Baierische Landbot habe über lauter Philosophieren und Moralisieren sein Versprechen vergessen, uns viel Nützliches auch von der Land- und Hauswirtschaft zu liefern66. Dieser Sinneswandel geschah schwerlich freiwillig, eher aus Orientierungslosigkeit angesichts vielfacher Widerstände, aus Furcht vor neu anhebender Illuminatenverfolgung, auch aus Absatzschwierigkeiten. Es dürfte sich wohl so verhalten haben, wie die Herausgeber Babo und Lipowsky im November 1791 zu ihrer Verteidigung anführten: Was immer der Baierische Landbot unternehme, ob er handfeste ökonomische Information und Hilfe biete, ob er sich satirisch gebe oder einer moralisierenden Volksaufklärung verschreibe, allemal erntete er massive Angriffe, 62

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Hinweis im Schreiben von Anton von Bucher an Stadtpfarrer Josef Dellinger in München, dat. Engelbrechtsmünster 31. 10. 1804 (StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). Ein Exemplar dieses Kalenders war leider noch nicht aufzufinden. Zu Birzele vgl. Anm. 36. Vgl. etwa die anonymen Briefe über die Möglichkeit, die Kultur in Baiern allgemein aufleben zu machen. Über unzielsetzliche Vorschläge hierzu (Baier. Landbot, Nr. 78-80, 17. 5., 18. 5. und 20. 5. 1791); vgl. S. 166f. Vgl. Anm. 6; zu Schrank (1747-1835) vgl. u.a. A. ZIMMERMANN, Franz v. Paula Schrank. Naturforscher zwischen Aufklärung und Romantik (Neue Münchener Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften. Naturwissenschaftshistorische Reihe 4), München 1 9 8 1 ; L. HAMMERMAYER, Z e i t s c h r i f t e n p r o j e k t e ( A n m . 3 3 ) , b e s . 2 6 3 - 2 7 0 ; DERS., A k a d e m i e I I

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(Anm. 3), 412 (Register). Sein agrarwissenschaftlicher Beitrag im Baier. Landbot (Nr. 81, 22. 5. 1791) war bislang nicht bekannt. Vgl. u.a. Über das Studium der Geschichte (Baier. Landbot, Nr. 139, 30. 8. 1791); Über die Aufklärung des Landmannes (Nr. 147-149, 14., 16. u. 18. 9. 1791), Über den besonderen Charakter eines jeden Menschen (Nr. 162-164, 11., 12. und 14. 10. 1791), Über die einsame Lebensart (Nr. 178, 25. 11. 1791), Über die Bekanntschaft mit sich selbst (Nr. 189, 27. 11. 1791), Über die Wahrheitsliebe (Nr. 192-194, 2., 4. und 6. 12. 1791). Ausnahme: Von Zäunen und Befriedigungen der Feldgründe (Nr. 152-154, 23., 25. und 27. 9. 1791). Baier. Landbot, Nr. 202, 20. 12. 1791.

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Vorwürfe, Verleumdungen, bis hin zum Illuminatismusverdacht 6 7 . In solch schwieriger Lage war Graf Toerring-Seefeld als einstiger Illuminât und Freimaurer keinesfalls der erhoffte u n d benötigte Protektor. Zum Jahresende 1791 resignierten Babo und Lipowsky und stellten ihre Zeitschrift ohne großes Bedauern ein 68 . Die Seefelder Ackerbausozietät wurde bald schon von weiteren empfindlichen Schlägen getroffen. Mit Ableben oder Wegzug de la Sarres verlor sie einen ebenso fähigen wie zuverlässigen Helfer 69 . Die fast schon totgeglaubte Burghausener Sittlich-Ökonomische Sozietät schien sich zu regenerieren, nannte sich Ende 1792, sehr zum Verdruß des Grafen Toerring-Seefeld, sogar kurbayerische Landwirtschaftliche Akademie und okkupierte damit möglicherweise ein Wunsch- und Fernziel der Seefelder Ackerbausozietät 7 0 . Der Burghausener Aufschwung entpuppte sich allerdings als Windei und Utopie, während die Seefelder Sozietät Ende 1793 durch Berufung des Grafen Toerring-Seefeld zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften einen zumindest ideellen Auftrieb erhielt, der ihren Niedergang wohl bis ins Kriegsjahr 1796 verzögern half. Dann aber ließ sich der Verfall nicht mehr aufhalten. Die Beitragszahlungen - gerade auch der finanzkräftigen adligen Mitglieder - ließen immer häufiger und länger auf sich warten; Preisfragen scheinen nicht mehr gestellt, Versammlungen nicht mehr abgehalten worden zu sein 71 . Im Februar 1799, zu Beginn der neuen Ära unter Kurfürst Max IV. Jo67

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Als der Landbot ökonomisierte, und sogar ganze Bögen über die Landwirtschaft gratis beylegte, machte man ihm, statt des Dankes, Vorwürfe und schrieb ihm von allen Seiten zu, daß er das unnütze Gewäsche bleiben lassen solle. Als er satirisierte, machte er's dem einen Haufen zu fein, dem andern zu grob [...], als er Miene machte, gegen Aberglauben und Vorurtheile zu Felde ziehen zu wollen, nannte man ihn einen naseweisen und gefährlichen Bauernkönig, wollte ihm sogleich den Kappenzaun enger schnallen, setzte ihn vielleicht schon um des kleinen Versuches willen auf die heimliche Liste der Erleuchteten [Illuminateli, L. H.], um ihn dereinst ohne weiteres für vogelfrey erklären zu können. Nun, da er moralisiert, nennt man ihn einen faden Schwätzer [...] (Baier. Landbot, Nr. 202, 20. 12. 1791). [...] die Geneigtheit, womit man den Landboten während seiner Existenz beehrt hat, war nicht von so zärtlicher Art, daß sie ein wehmütiges Zurücksehnen hervorbringen könnte. Mit dem Bedauern und Danksagen, welches sonst wesentliche Ingredienzien beym Abschiednehmen zu seyn pflegen, wollen wir's also vor der Hand bewenden lassen (Der Baierische Landbot nimmt Abschied, 1. Jänner 1792). Näheres über das späte Schicksal und Ende von de la Sarre ist nicht bekannt. Gegenüber Graf Toerring-Seefeld erwähnte er am 6. 10. 1790 eine für Juli bevorstehende Reise nach Straßburg, doch im Oktober 1791 war er längst wieder in München bzw. Seefeld (vgl. Anm. 44 und 52). Im HStK. 1793, der die Situation von Sommer/Herbst 1792 wiedergibt, ist de la Sarres Name nicht mehr aufgeführt. Vgl. Anm. 9. [...] die einige Jahre her angedauerte Kriegsursachen haben manche Geschäfte, die zu einem nützlichen Endzweck bestimmt waren, in Untätigkeit versetzt. Und ebenso mußte man auch mit Bedauemis jenen glücklichen Zeitpunkt erwarten, welcher die Ordnung und Aufrechterhaltung der hiesigen Ackerbau- und Jagd-Sozietät herzustellen verhoffen läßf, es folgt die dringende Bitte um Zahlung des längst ausstehenden Beitrags (Feldbausozietät an die Grafen Franz und Ferdinand Minucci in München bzw. Odelzhausen, 7. 3. 1803, StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). Toerring-Seefeld klagte bereits um 1794/95 über mangelnde Zahlungswilligkeit mancher Mitglieder (vgl. Anm. 61).

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seph und Minister Frhr. von Montgelas, war die Seefelder Feldbausozietät zwar arg geschwächt und völlig auf den grundherrschaftlich-hofmärkischen Bereich zurückgeworfen, aber sie existierte noch und fand sogar die Kraft zu gelegentlichen Zuwahlen im Seefelder Herrschaftsbereich wie in der Haupt- und Residenzstadt 72 . Nach wie vor amtierte ihr Gründer und Oberhaupt auch als Präsident der Münchener Akademie. Dergestalt überlebte die Seefelder Sozietät auch die moribunde Burghausener SittlichÖkonomische Gesellschaft, die Ende Januar 1802 zusammen mit der dortigen Rentamtsregierung offiziell aufgehoben wurde. Unmittelbar nach der Säkularisation, im Juli 1803, machte Graf Toerring-Seefeld erneut von sich reden, als er seine Herrschaftsbauern ohne Entgelt aus der - formal noch immer bestehenden - Leibeigenschaft, nicht jedoch aus den sonstigen herrschaftlichen Lasten entließ 73 . Das hohe Lob für diese Maßnahme scheint auf Umwegen auch der siechen Feldbausozietät zugutegekommen zu sein; denn im Herbst 1804 wurde der angesehene bayerische Schriftsteller und Akademiker Anton von Bucher, Pfarrer zu Engelbrechtsmünster bei Geisenfeid, von ausländischer Seite über die Seefelder Sozietät um Auskunft gebeten 74 . Da sich Buchers Kenntnisse auf die unvollständigen Angaben in Birzeles Neuburger Kalender beschränkten, wandte er sich durch einen geistlichen Mittelsmann an den Grafen Anton Clemens von Toerring-Seefeld. Eine so schöne, wahrhaft patriotische Gesellschaft dürfe, so meinte Bucher, im Ausland nicht unbekannt sein. Graf Toerring ergriff die Gelegenheit und verpflichtete seinen Sozietätssekretär Blauhut zu vollkommener Information75 ; sie ist wohl erfolgt. Der Sozietät selbst war zwar damit nicht mehr aufzuhelfen, doch erstaunt die Zähigkeit, mit der sie sich bis weit ins erste Jahrzehnt des neuen Säkulums, über die Proklamation des Königreichs, die Suspendierung der „alten" und die Etablierung der neuen, königlichen Akademie der Wissenschaften hinaus zu behaupten verstand. Noch im Frühjahr 1806 spendete sie für das Krankenhaus der Barmherzigen Brü-

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A u f g e n o m m e n w u r d e n u . a . : Georg Riest, Bräumeister zu Seefeld (16. 6. 1799), A n t o n von Bachmayer, Bürger in M ü n c h e n (27. 7. 1801), Josef Hierneiß, Ökonomie-Verwalter zu Seefeld (27. 7. 1801), Josef von Dorner, Maler in M ü n c h e n (3. 7. 1804), Michael G a t t e r b a u e r , H o f m e i s t e r u n d Weltgeistlicher zu Seefeld (3. 7. 1804), Sebastian Pföderl, Pfarrer zu Treßling u n d Meilling (7. 10. 1804), Josef Zeller, K a p l a n bei der Pfarrei Oberalting (22. 6. 1806), A n t o n Wolfganer, D e k a n u n d Pfarrer zu Frieding (23. 7. 1807), Josef Moralt, Konzertmeister in M ü n c h e n (23. 7. 1807); vgl. Material in S t A M - T S A , Lit. H. H. H. 1, N r . 22. " Churbayerisches Regierungsblatt, M ü n c h e n 10. 8. 1803, 542; vgl. SANDBERGER ( A n m . 5), 90. 74 Vgl. A n m . 62. Zu Bucher (1746-1817) vgl. N D B II (1955), 700; G V M 38; H. PÖRNBACHER i n : H B 2 II (1988), 1016ff, 1022; H. GRASSL, in: Barock u n d A u f k l ä r u n g , hg. v. H. SCHINDLER, M ü n c h e n 1972, 151-167; wichtiges N a c h w o r t von R. WITTMANN in seiner Edition von Buchers Bäuerische Sinnenlust, bestehend in weit- und geistlichen Comödien, Exempeln und Satiren, M ü n c h e n 1980. Bucher, einstiger Illuminât u n d Freimaurer, scheint sich in den J a h r e n nach 1799 häufiger in München a u f g e h a l t e n zu h a b e n , vgl. J. A. SCHMELLER, Tageb ü c h e r , Bd. 1, M ü n c h e n 1954, 36 (dat. 24. 11. 1801). 75 Zettel von H a n d Toerring-Seefelds im Brief Buchers (vgl. A n m . 62).

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der zu München 76 , und noch im Sommer 1807 wurden in der Seefelder Herrschaft wie in München neue Sozietätsmitglieder zugewählt 77 . Doch bald darauf, spätestens aber anno 1808, erlosch die Seefelder Ackerbausozietät, ohne daß ein königliches oder herrschaftliches Dokument davon kündete. Die Gründe für dieses jähe und leise Ende sind ebenso vielgestaltig wie einsichtig. Graf Anton Clemens von Toerring-Seefeld stand im dreiundachtzigsten Lebensjahr und für eine aktive Sozietätsführung nicht mehr zur Verfügung. Seine Akademiepräsidentschaft hatte mit der Suspendierung der „alten" Akademie im Dezember 1806 sangund klanglos geendet 78 . Eine hektische und reformbesessene Zeit war über den greisen bayerischen Standesherrn hinweggegangen; nur einige Stichworte 79 : 1803 die radikale Säkularisation mit ihren unabsehbaren rechtli-

76

Die Feldbausozietät h a b e schon seit langem jedes Jahr 50 fl. für arme Kranke gegeben (Schreiben vom 12. 5. 1806, StAM-TSA, Lit. H. H. H. 1, Nr. 22). " Vgl. A n m . 72. ' 8 Z u m E n d e d e r „ a l t e n " A k a d e m i e vgl. HAMMERMAYER, Gelehrtenassoziation (Anm. 2), bes. 196-200.

" Z u m U m b r u c h der J a h r e 1799 bis 1808/10 in Bayern auf agrarischem, steuerlichem, ständischem, verfassungs- u n d verwaltungsmäßigem, religiös-kirchlichem u n d mental-sozialpsychologischem Bereich vgl. u. a. A. SANDBERGER, L a n d w i r t s c h a f t ( A n m . 5) u n d P. FRIED, Sozialentwicklung im Bauerntum u n d L a n d v o l k , in: HB I V / 2 M ü n c h e n 1975, 732-750 bzw. 751-776; F. HAUSMANN, Die Agrarpolitik der Regierung Montgelas, F r a n k f u r t 1975; D. STUTZER, Klöster als Arbeitgeber. Die bayerischen Klöster als U n t e r n e h m e r u n d ihr Sozialsystem zur Zeit d e r Säkularisation (Schriftenreihe der Historischen K o m m i s s i o n bei d e r Bayer. A k a d e m i e der Wissenschaften 28), G ö t t i n g e n 1986; DERS. (Anm. 5); DEMEL ( A n m . 17), bes. 78-88 u. passim (Agrarverfassung), 208-270 (Steuerreform); DERS., Der bayerische Adel von 1750 bis 1871, in: Europäischer Adel 1750 bis 1950, hg. von H. U. WEHLER (Geschichte u n d Gesellschaft, S o n d e r h e f t 13), G ö t t i n g e n 1990, 4 4 - 5 9 ; E. WEIS, Die höfische Gesellschaft u n d König M a x I., in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift f ü r Karl Bosl, hg. von F. SEIBT, Bd. 2, M ü n c h e n 1988, 297-307; K. MÖCKL, D e r m o d e r n e bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte v o m Aufgeklärten Absolutismus bis zum E n d e d e r Ref o r m p e r i o d e , M ü n c h e n 1979; M. JUNKELMANN, N a p o l e o n u n d Bayern. Die A n f ä n g e des Königreiches, Regensburg 1986; J. SEITZ, Die landständische V e r o r d n u n g in Bayern im Ü b e r g a n g von der altständischen R e p r ä s e n t a t i o n zum m o d e r n e n Staat, 1778-1808 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 97), M ü n c h e n 1993 [im Satz]; G. SCHWAIGER, Bistümer ( A n m . 25); zur Säkularisation samt Folgen vgl. E. WEIS, Die Säkularisation d e r bayerischen Klöster 1802/03. N e u e Forschungen zu Vorgeschichte u n d Ergebnissen (Bayer. A k a d e m i e der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 6), M ü n c h e n 1983; W. MÜLLER, in: H a n d b u c h der bayerischen Kirchengeschichte, hg. von W. BRANDMÜLLER, Bd. III, St. Ottilien 1991, 1 - 1 2 9 ; G l a n z u n d Elend d e r alten Klöster. Säkularisation im bayerischen O b e r l a n d 1803, hg. von J. KIRMEIER u n d M. TREML (Katalogbuch zur Ausstellung in Benediktbeuern), M ü n c h e n 1991; PHAYER (Anm. 37); W. K. BLESSING, Staatsintegration als soziale Integration. Die E n t s t e h u n g der bayerischen Gesellschaft im f r ü h e n 19. Jahrh u n d e r t , in: Z B L G 41 (1978), 633-700; DERS., U m b r u c h s k r i s e u n d „ V e r s t ö r u n g " . Die napoleonische Erschütterung u n d ihre sozialpsychologische Bedeutung, in: Z B L G 42 (1979), 7 5 - 1 0 6 ; DERS., Staat u n d Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität u n d mentaler W a n d e l in Bayern w ä h r e n d des 19. J a h r h u n d e r t s , G ö t t i n g e n 1982; unentbehrlich sind zwei S a m m e l b ä n d e : 1.) K r o n e u n d Verfassung. K ö n i g Max I. Joseph u n d der neue Staat (Wittelsbach u n d Bayern I I I / 1 ) , hg. von H. GLASER, M ü n c h e n 1980 (Beiträge u. a. von L. BoEHM, W . D E M E L , G . M Ö H L E R , G . S C H W A I G E R , D . S T U T Z E R , E . W E I S u n d W . Z O R N ) ; 2 . )

Refor-

men im r h e i n b ü n d i s c h e n D e u t s c h l a n d (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 4), hg. v o n E. WEIS, M ü n c h e n

1 9 8 4 ( B e i t r ä g e u . a . v o n W . K . BLESSING, W . DEMEL, P . FRIED,

K.

MÖCKL u n d W. VOLKERT). Unentbehrlich zum gesamten Bereich, wiewohl o f t schwer er-

178

Ludwig Hammermayer

chen, sozialökonomischen, kirchlich-religiösen und mentalen Folgen, dann 1807 die Auflösung der altbayerischen Ständevertretung, in welcher das Haus Toerring eine herausragende Stellung eingenommen hatte, bald darauf 1807/08 die tiefgreifende Steuerreform, mit der, unter völliger Mißachtung der alten Hofmarksgrenzen, die Pfarreien als staatliche Steuereinheiten konstituiert wurden, schließlich 1808 die Verfassung für das neue Staatsbayern. Der Bedingungsrahmen für Genese, Tätigkeit und Fortdauer einer Agrarsozietät à la Seefeld - das herrschaftliche und sozialökonomische Gefüge des Ancien Régime und der aufgeklärte Patriarchalismus der wohlgestellten altadligen bayerischen Grundherrschaft - war damit zerbrochen und nicht wiederherstellbar. In Montgelas' staatsabsolutistischem neuen Bayern, diesem sich rasch und unter Schmerzen formierenden rationalen Flächenstaat mit weitgehend homogenem Untertanenverband, war für eine Adlige Sozietät des Feldbaues und der Jagd kein Platz mehr. Gleichwohl war diese Sozietät nicht vergessen. Als bereits ab 1808 über zeitgemäße Organisationsformen für die gesamtbayerischen - nicht zuletzt adligen - Agrarinteressen beraten wurde, erkannte man, daß jene Seefelder Sozietät zwar einer unwiderruflich vergangenen Epoche angehörte, einem künftigen agrarisch-bäuerlichen Vereinswesen jedoch manch grundsätzliche Wegweisung vermitteln konnte: durch feste lokale bzw. regionale Verankerung, Praxisnähe und Volksverbundenheit, Öffnung gegenüber sämtlichen besitzenden agrarischen Schichten. Dies wurden Grundprinzipien des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, der sich Ende 1810 in München konstituierte 80 . Graf Clemens Anton von Toerring-Seefeld, ältester Sohn, engster Helfer und 1812 auch Erbe des Seefelder Sozietätsgründers, nahm im Landwirtschaftlichen Verein von Anfang an einen herausragenden Platz ein 81 .

Forlsetzung

80

81

Fußnote

von Seite

177

schließbar, bleibt M. DUNAN, N a p o l é o n et l'Allemagne. Le système Continental et les débuts du r o y a u m e d e Bavière, 1806-1810, Paris 1942 ( 2 1948). [C. FRAAS], Die Landwirtschaft in Bayern. D e n k s c h r i f t zur Feier des f ü n f z i g j ä h r i g e n Bestehens des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, M ü n c h e n 1860; Denkschrift zur Feier des 100jährigen Bestehens des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, [hg. v o m Bayerischen Landwirtschaftsrat], M ü n c h e n 1910; A. STEUERT, Die kgl. A k a d e m i e W e i h e n s t e p h a n u n d ihre Vorgeschichte, M ü n c h e n 1905; I. TORNOW, D a s M ü n c h e n e r Vereinswesen in der ersten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s (Miscellanea Bavarica M o n a c e n s i a 75), M ü n c h e n 1977, bes. 9 3 98; G . MÖHLER, Zentrallandwirtschaftsfest u n d Landwirtschaftlicher Verein. Ein Beitrag zur „ L a n d e s k u l t u r " u n t e r M a x I. Joseph, in: Wittelsbach u n d Bayern I I I / l ( A n m . 79), 1980, 3 1 7 - 3 2 5 ; ZIMMERMANN, Schrank ( A n m . 64), 22, 47, 60, 71 f f ; H B G , Kat. 1992, 214f. Eine Mon o g r a p h i e steht aus. Zu G r a f C l e m e n s A n t o n M a r i a von Toerring-Seefeld (1758-1837) vgl. G V M 15; ENGLBRECHT ( A n m . 3), 320, 325 ff u. passim. Er w a r 1789 Gründungsmitglied der Seefelder Feldbausozietät u n d w u r d e im J a n u a r 1799 Ehrenmitglied der Bayerischen A k a d e m i e der Wissenschaften. Aufschlußreich ist seine auch im D r u c k erschienene Rede bey dem Eintritte [...] in die Akademie der Wissenschaften, München 1799 ( E x e m p l a r StAM-TSA, Lit. F. F. F. N r . 26).

Ö k o n o m i s c h e Sozietät en miniature

179

Unter institutionsgeschichtlichem Aspekt erscheint die Seefelder Feldbausozietät keineswegs als antiquiert-kurioser Kümmer- und Schrumpftyp, vielmehr als eigengeprägte Ökonomische Sozietät en miniature. Ungeachtet aller organisatorischen, personellen, räumlichen und inhaltlichen Begrenzungen gewann sie Charakter und Ansehen. Zu ihrer Zeit und auf eigene unverwechselbare Weise war sie ein legitimes Glied der bayerischen, der deutschen und sogar der europäischen Akademie- und Sozietätsbewegung 82 .

82

Zum deutschen und europäischen institutionellen Hintergrund vgl. u. a. R. RÜBBERDT, Die ökonomischen Sozietäten, phil. Diss. Halle 1932; G. TORCELLAN, Un tema di ricerca. Le accademie agrarie nel settecento, in: Settecento Veneto e altri scritti storici, Torino 1969, 329418; K. HUDSON, Patriotism with Profit. British Agricultural Societies in the 18th and 19th Centuries, London 1972; L. H A M M E R M A Y E R , Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Tendenzen und Wandel während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa, hg. von E. A M B U R G E R (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 3), Berlin (West) 1976, 1-84, bes. 14-23, 55-69; H.-H. MÜLLER, Akademie und Wirtschaft im 18. Jahrhundert. Agrarökonomische Preisaufgaben und Preisschriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (DDR) 1975; D. ROCHE, Le Siècle des Lumières, Bd. I, Paris 1978, bes. 195-198; Ch. C. GILLISPIE, Science and Polity in France at the End of the Ancien Régime, Princeton 1980, bes. 368-387; Deutsche Patriotische und Gemeinnützige Gesellschaften, hg. von R. V I E R H A U S (Wolfenbütteler Forschungen 8), München 1980; U. IM HOF, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982, bes. 134—163, 259-263 (Verzeichnis); weitere Lit. bei H A M M E R M A Y E R , Gelehrtenassoziation (Anm. 2), bes. 164 ff.

Reinhard

Wittmann

Zwieback für die Grande Armée Sechs Briefe des bayerischen Diplomaten Anton von Cetto an Joseph Utzschneider Anton Freiherr von Cetto (1756-1847) gehört zu den herausragenden Gestalten der bayerischen Politik in der Napoleonischen Zeit. Seine zu Unrecht vergessene Bedeutung hat jüngst erstmals Daniela Neri ausführlich gewürdigt 1 . Der geborene Zweibrücker leistete bereits dem Hause Birkenfeld nach seinen Studienjahren in Würzburg und Göttingen ab 1776 wertvolle Dienste - zunächst als Sekretär von J. C. von Hofenfels, nach dessen Tod zusammen mit seinem lebenslangen Freund Montgelas als wichtigster politischer Ratgeber für Karl II. und ab 1795 für dessen Bruder Max Joseph 2 . Schon 1796 von Herzog Max Joseph entsandt, blieb er mit kurzen Unterbrechungen in Paris als Vertreter des Kurfürstentums und Königreiches bis 1813. Ob in Basel 1795, in Paris 1801, bei den Allianzverhandlungen mit Talleyrand 1804-1805, stets betätigte er sich als entschiedener Wegbereiter und Förderer eines Zusammenwirkens von Bayern und Frankreich. Ja gegen die Vorbehalte des Königs unterzeichnet er am 12. Juli 1806 in Paris die Rheinbundakte, weil er die Einschränkung der bayerischen Souveränität als vorübergehend in Kauf nimmt angesichts der zukünftigen Perspektiven: „Wenn der Kaiser der Franzosen in die Grenzen der Gedankenwelt gewöhnlicher Sterblicher zurückgekehrt sein wird, dann wird der König von Bayern es nicht zu bedauern haben, sich als Glied einer Konföderation zu wissen, die seiner nicht entbehren könnte und die, geschickt verwendet, das Werkzeug zur Größe und wahren Unabhängigkeit der bayerischen Monarchie werden wird." 3 Dank seiner langjährigen intimen Vertrautheit mit den politischen und gesellschaftlichen Honoratioren der Hauptstadt, insbesondere dank seiner guten persönlichen Verbindungen mit allen französischen Außenmini' D. NERI, Anton Freiherr von Cetto (1756-1847). Ein bayerischer Diplomat der napoleonischen Zeit. Diss. phil. masch. München 1991. Ich danke Frau Neri für ihre freundliche Erlaubnis, die noch unpublizierte Arbeit einsehen zu dürfen. Siehe auch H. AMMERICH, Anton Freiherr von Cetto, in: Pfälzer Lebensbilder 3 (1977), 203-225 (mit weiteren Literaturangaben). Außerdem mehrfache Hinweise auf Cetto v. a. bei E. WEIS, Montgelas. Zwischen Revolution und Reform 1759-1799. Band 1, München M988. S. auch M. DUNAN, Napoléon et l'Allemagne. Le système continental et les débuts du royaume de Bavière 1806-1810, Paris 1942. 2 Vgl. dazu W E I S (Anm. 1), 262 f u. passim. ] Zit. nach A M M E R I C H (Anm. 1), 217.

182

Reinhard Wittmann

stern stellte Cetto in seiner herausragenden Funktion einen außerordentlichen G e w i n n für sein Land dar. Sowohl N a p o l e o n als auch Talleyrand schätzten ihn hoch. Das Urteil ist nicht übertrieben, d a ß A n t o n von Cetto „ d u r c h seine genauen Kenntnisse der französischen Verhältnisse u n d sein selbständiges Auftreten in Paris maßgeblichen Einfluß auf die Z u k u n f t u n d d a s Wohl Bayerns in der Ära N a p o l e o n s g e n o m m e n " hat 4 . Allerdings hatte er wegen seiner Sympathie f ü r Frankreich in Bayern auch Neider: als er sich im September 1811 urlaubshalber in M ü n c h e n aufhielt, kolportierten seine österreichfreundlichen Gegner die scheinheilige Frage: „ N é à Deuxponts, doit il être consideré c o m m e sujet français?" 5 Bereits f ü r seine Verdienste bei den Entschädigungsverhandlungen 1801-1803 hatte ihm der König eine Gratifikation in der ungewöhnlichen H ö h e von 50000 G u l d e n zuerkannt 6 . Eine weitere finanzielle Z u w e n d u n g wurde Cetto 1811 gemacht, über die Montgelas sich in seinen „ D e n k w ü r d i g k e i t e n " etwas maliziös äußerte: damals entledigte sich Bayern „ d u r c h einen Vergleich mit der Administration der ausserordentlichen D o m ä n e n in Paris der auf Beyreuth u n d Regensburg lastenden französischen D o t a t i o n e n : diess kostete allerdings große Summen [...]. Herr v. Cetto leistete uns einen sehr wesentlichen Dienst, indem er diese Angelegenheit zu E n d e führte, wenn auch seine Thätigkeit dabei keine ganz unentgeltliche war. Der König m a c h t e ihm eine Schenkung von 200,000 fl. in Papieren, welche er zum A n k a u f des Gutes Egloffsheim verwendete: es war diess sicher nicht zu viel, doch hätte ich gewünscht, dass dieses Gnadengeschenk nicht durch die A n d e u t u n g veranlasst worden wäre, Frankreich werde zu seinen G u n sten eine Rente von 10,000 fl. ausbedingen." 7 In d e n hier erstmals veröffentlichten Briefen Cettos stehen solche privaten, insbesondere aber staatliche Finanzprobleme im Mittelpunkt. D a Cettos N a c h l a ß verschollen ist u n d Privatschreiben des Diplomaten aus diesen Jahren ansonsten kaum v o r h a n d e n zu sein scheinen, mag die Mitteilung der kleinen Korrespondenz nicht unwillkommen sein. Sie wirft sowohl auf die persönliche Situation Cettos wie auf seine offiziellen Unterh a n d l u n g e n während einer besonders heiklen Phase der bayerisch-französischen Beziehungen einige Schlaglichter. Im Erfurter Vertrag vom 14. 10. 1808 erhielt Bayern das nach dem 4. Koalitionskrieg von Frankreich besetzte ehemals preußische Bayreuth gegen eine Entschädigungszahlung von 15 Millionen F r a n k e n , zahlbar in 150 Raten bis 1820. D a Finanzminister Hompesch die S u m m e zu hoch f a n d , verzögerte zunächst Bayern die Ratifizierung. Doch blieben Cettos 4

NERI ( A n m .

5

Berichtet vom französischen Gesandten a n den A u ß e n m i n i s t e r D u c de Bassano, zit. nach

1), 6 5 1 .

N E R I ( A n m . 1), 6 0 7 .

' Vgl. ebd., 5, 387. 1 Maximilian G r a f von Montgelas, D e n k w ü r d i g k e i t e n . Im Auszug aus d. französischen Original übersetzt von M. von FREYBERG-EISENBERG, hg. von L. G r a f von MONTGELAS, Stuttgart 1887, 230.

Zwieback für die Grande Armée

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Bemühungen um einen N a c h l a ß erfolglos, j a n u n betrieb die französische Regierung ihrerseits eine hartnäckige Verschleppungstaktik, wobei Napoleon zusätzliche Forderungen stellte 8 . Die Neuverhandlungen mündeten in die Pariser Konvention vom 28. 2. 1810, in der die Summe von 15 Millionen Francs f ü r Bayreuth bestätigt wurde. Der König wies bereits im Dezember 1810 Cetto erneut an, mit dem Außenminister D u c de Bassano über einen Schuldenerlaß für Bayern oder wenigstens eine Reduzierung der Zahlungen f ü r die Bayreuther D o m ä n e n zu verhandeln 9 . Damit war dieser freilich nicht allzu erfolgreich, um so weniger als der Finanzbedarf Frankreichs angesichts der T r u p p e n a u s h e b u n g e n zur Vorbereitung des Rußlandkrieges weiterhin anstieg. N a p o l e o n benötigte die 15 Millionen Francs dringend f ü r seine Militäroperationen. Max I. Joseph seinerseits hielt eine solche Reduzierung f ü r unabdingbar, um die eigenen T r u p p e n unterhalten zu können 1 0 . Cetto bekräftigte am 7. Mai 1812 des Königs Arg u m e n t e " : die Zahlungen waren vereinbart worden, als man noch fest mit einer längeren Friedenszeit gerechnet hatte; da sich durch die Kriegslasten das Staatsbudget völlig verändert habe, sei Bayern außerstande, die Schuldenlast zu tragen. Doch gerade jetzt war der Verbündete f ü r Frankreich „ z u n e h m e n d nur noch als Geldgeber und Truppenlieferant interessant" 1 2 ; deshalb konnte Cetto vor Beginn des Feldzugs keinen Erfolg vermelden. N a p o l e o n war Mitte Mai zum Fürstentag nach Dresden abgereist, u n d der G e s a n d t e mußte dem König am 22. Juni berichten: „ D é p u i s le départ de l'Empereur il est plus difficile que jamais de se procurer sur la marche des affaires politiques des notions vraies et qui aient de l'intérêt pour V. M . " In dieser Situation setzt die hier abgedruckte K o r r e s p o n d e n z ein. Leider sind die Antwortschreiben des Adressaten Joseph von Utzschneider nicht überliefert. Dieser (1763-1840) war zweifellos eine der farbigsten Persönlichkeiten Bayerns in dieser Zeit 13 . Als Mitbegründer des optisch-mathematischen Instituts mit Liebherr u n d Reichenbach, als Finanzpolitiker, als Bürgermeister M ü n c h e n s und als begüterter Unternehmer ist er eine Leitfigur der wirtschaftlichen u n d innenpolitischen Modernisierung u n d Liberalisierung Bayerns gewesen. Über seine Initiativen angesichts der äußerst bedrängten Finanzlage des Staates in diesen Jahren teilte er mit: „Von 1799 bis 1809 folgte ein Krieg dem a n d e r n , Bayern war ein Tummelplatz f r e m d e r Truppen, die Staatseinnahmen reichten nicht aus, u m die Ausgaben zu decken. 1810 mußten die bei Seeligmann u n d Westheimer-Straßburger gemachten Staatsanleihen zurückbezahlt werden. Der Zustand war so schlimm, d a ß selbst der laufende Staatsdienst nicht mehr bezahlt wers

9

V g l . N E R I ( A n m . 1), 5 6 6 f f .

Ebd., 589, 592. Vgl. M a x I. Josephs A n w e i s u n g an Cetto vom 8. 2. 1812. NERI ( A n m . 1), 611. " Ebd., 612. 12 Ebd., 630. 11 Vgl. zu ihm I. MACKENTHUN, J o s e p h von Utzschneider, sein Leben, sein W i r k e n , seine Zeit. ( N e u e Schriftenreihe des Stadtarchivs M ü n c h e n 11), M ü n c h e n 1958.

10

184

Reinhard Wittmann

den konnte. Die Staatsdiener erhielten nicht in barem Geld, sondern in Staatskassentratten ihren Sold. Wer solche Anweisungen nicht nehmen wollte, mußte halbe Jahre und noch länger auf seine Bezahlung warten. Die Kassenanweisungen konnten nur mit 40 bis 50% Verlust gegen bares Geld eingetauscht werden. In den folgenden Jahren war es noch schlimmer. Die Centraistaatskasse war zugleich Staatsschuldentilgungskasse. Am 1. Oktober begann die Staatsschuldenkommission ihre Arbeit. Innerhalb von vier Monaten war der laufende Staatsdienst geordnet und wieder regelmäßig bezahlt. Kaum in Betrieb, so brach der französisch-russische Krieg aus." 14 Utzschneiders Sanierungsvorschläge bewirkten eine Verordnung vom 20. August 1811, mit der er selbst zum Vorstand der Staatsschuldentilgungskommission bestimmt wurde 15 . In dieser Situation bestrebt, auch unkonventionelle Lösungswege zu suchen, um mittels Kompensations- und Naturaliengeschäften die drückenden Lasten gegenüber Frankreich zu lindern, hatte er offenbar direkte Kontakte mit der Pariser Regierung zu knüpfen versucht.

1. Paris den 9. May 1812. Ew. Hochwohlgebohrn werden durch das königl. Ministerium erfahren was wegen denen Zahlungen an Frankreich zu thun ist. H. De Fermont an den Sie sich unmittelbar gewendet hatten war für unser Ansinnen nicht günstig gestimmt. Ich glaube aber durch meinen Vorschlag kommen wir zum Zweck. Es ist mir jederzeit so angenehm als erwünscht Ew. Hochwohlgebohrn in Ihren patriotischen Bemühungen zu Herstellung des Finanzwesen so viel an mir liegt zu helfen. Mit Vergnügen nehme ich wahr daß die Neider und übelgesinnte im Innern durch den grösern Beyfall im Auslande überstimmt werden. Der astronomische Kreiß den H. Reichenbach 16 dahier aufgestellt hat so wie das Objectif von bayerischem Flint Glas [finden] fortdauernden Beyfall. Beide werden zu denen astronomischen Beobachtungen gebraucht. Ich rede davon weil Ew. Hochwohlgebohrn in einem Schreiben vom 12.ten Dec. v. J. davon [S. 2] unterrichtet zu seyn wünschen. Erlauben mir derselbe Ihnen zwey Anliegen zu empfehlen. Das erste be14 15

16

Zit. n a c h e b d . , 75 f. Vgl. d a z u e b d . , 7 6 f . Z u r E n t w i c k l u n g der b a y e r i s c h e n S t a a t s s c h u l d e n s. a u c h k u r z W . ZORN, Die w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g B a y e r n s u n t e r M a x I. J o s e p h 1799-1825, i n : K r o n e u n d V e r f a s s u n g . K ö n i g M a x I. Joseph u n d der n e u e Staat ( W i t t e l s b a c h u n d B a y e r n I I I / 1 ) , M ü n c h e n - Z ü r i c h 1980, 2 8 1 - 2 8 9 . Z u G e o r g F r i e d r i c h von R e i c h e n b a c h (1771-1826) vgl. Bosls Bayerische B i o g r a p h i e . 8000 P e r s ö n l i c h k e i t e n a u s 15 J a h r h u n d e r t e n , hg. v o n K. BOSL, R e g e n s b u r g 1983, 621 f (Lit.); H a n d b u c h d e r b a y e r i s c h e n Geschichte, hg. v o n M. SPINDLER, Bd. I I I / 2 , M ü n c h e n 1971, 1042.

Zwieback für die Grande Armée

185

trifft mich persönlich und bezieht sich auf das lezte Ziel von 2475 fl. meines Zweybrücker Riikstandes17 welches am lten Oct. v. J. hätte [bejzahlt werden sollen. Ich will deshalb nicht zudringlich seyn. Nur wäre mir lieb zu wissen wann ich auf die Zahlung dieses Rückstandes sicher zählen kann. H. Seeligmann 18 hat von mir Vollmacht solchen zu erheben und zu quittiren. Das andere Anliegen betrifft Madame Dumesnil Schwester des General der Infanterie Baron von Zweybrücken". Diese Dame hat einen beträchtlichen Rükstand ihrer jährlichen Pension für welchen die Commission ihr zwey Wechsel zugesendet hat, wovon der eine von 1620 fl. am 23ten März 1814 und der andere von 1876 fl. am 23ten März 1815 zahlbar ist. Mad. Dumesnil ist Wittwe und hat ausser dieser Pension ein mäsiges Einkommen so daß dieser Rükstand ihr sehr beschwerlich wird. Ew. Hochwohlgebohrn [S. 3] ist der Ursprung der Pension hinlänglich bekannt und Sie werden mit mir einstimmen daß rüksichtlich desselben Sie einigen Bedacht und Vorzug verdient. Könnten Sie dahero nicht die Einleitung treffen daß die obged. zwey Wechsel von der Commission zurückgenommen und der Betrag ohne Abzug entweder baar oder in einer kurzen Frist bezahlt wird? Oder wollte die Commission nicht solche ohnverzüglich escomptiren und sich mit einem Abzug von 5 p.% begnügen? Was Ew. Hochwohlgebohrn hiebey gefälliges thun können werde ich selbst mit Dank erkennen. Ich wünschte sehr Mad. Dumesnil dadurch zu verbinden. Ich beharre mit ausgezeichneter Hochachtung Ew. Hochwohlgebohrn! gehorsamer Diener Cetto [Mit hs. Vermerk Utzschneiders: Beant. den 2t. Juli 1812]

" Max Joseph hatte in seiner Zweibriicker Regierungszeit die Gehälter seiner Minister und Diplomaten durchaus zögerlich ausbezahlt. Cetto führte darüber zu Montgelas schon 1798 bewegte Klage (vgl. WEIS [Anm. 1], 448). I! Zu dem Hofbankier Aaron Seligmann (1747-1824) vgl. WEIS (Anm. 1), 315 f und Bosls Bayerische Biographie. 1000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten, hg. von K. BOSL, Ergänzungsband, Regensburg 1988, 34. " Elisabeth Friderica von Zweybrücken, Gräfin von Forbach (geb. 1766). Die naturalisierte Französin heiratete 1786 den Husarenobristen und Maréchal du Camp Marquis Chatellier Dumesnil, der bereits 1790 starb. Offenbar wird hier Bezug genommen auf die Pensionen, die 1777 den Nachkommen der Forbach'schen Linie von selten des damaligen Pfalzgrafen Max Joseph bewilligt worden waren. Zu ihr und den weiteren Nachkommen aus der Verbindung des Herzogs Christian IV. mit der Tänzerin Anne Chamasse, den Grafen von Forbach insgesamt vgl. A. Prinz von BAYERN, Der Herzog und die Tänzerin. Die merkwürdige Geschichte Christians IV. von Pfalz-Zweibrücken und seiner Familie, Neustadt/Weinstr. 1966 (hier v. a. 106). Cetto verschweigt, daß er mit der Familie Forbach in besonders enger Beziehung stand. Nach dem Tode seiner ersten Frau Marie Anne Cazin (1767-1811) im Jahr 1811 heiratete er kurz vor seiner Abberufung aus Paris dort am 25. 6. 1813 die Nichte der Madame Dumesnil, Marie Anna Freiin von Zweibrücken bzw. Ariane de Deuxponts (1785-1857), die Tochter Wilhelms Graf von Forbach, Freiherrn von Zweibrücken (17541807) und Enkelin Christians IV. Cettos künftiger Schwager, ihr Bruder Karl August wurde 1812 auf dem Rußlandfeldzug bei Moschaisk tödlich verwundet.

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Reinhard Wittmann 2.

Paris d. 9ten July 1812. Hochwohlgebohrner insonders Hochgeehrtester Herr! Am 1 lten May hatte ich die Ehre Ew. Hochwohlgebohrn durch einen abgehenden Courier zu schreiben. Der Brief muß aber denenselben nicht zugekommen seyn, weil solcher bis jezo unbeantwortet geblieben. Ich ersuchte Sie darinnen: l.o Die verwittibte Mad. Dumesnil, Schwester des General der Infanterie Freyh. v. Zweybrück, rüksichtlich ihres Pensions-Rükstandes zu begünstigen. Dieser Rükstand ist nemlich dieser Dame mittels Wechsel der Schulden-Tilgungs-Commission die erst im Jahr 1814 und 15 [S. 2] zahlbar sind, vergütet worden. Ihr vorzüglichstes und reinestes Einkommen ist aber eben diese Pension. Da nun obige Wechsel dahier ohne ansehnlichen Verlust nicht können zu Geld gemacht werden so leiden ihre häuslichen Verhältnisse doppelt durch den erlittenen Rükstand. Ew. Hochwohlgebohrn ist vermuthlich auch bekannt daß jene Pension ihres Ursprungs wegen besondere Rüksicht verdient. Ich hatte dahero gebeten die obbesagte Wechsel mögten zurückgezogen und der Mad. Dumesnil ihr PensionsRükstand in kurzen Fristen bezahlt werden. Ew. Hochwohlgeborn würden mich dadurch persönlich verbinden. 2.0 ersuchte ich Hochdieselbe in meinem Schreiben vom 1 l.ten May die Zahlung eines Restes von [S. 3] meinen Zweybrücker Rükständen zu befördern. Die lezte Frist ist am l.ten Oct. v. J. verfallen, und beträgt 2475 fl. HofBanquier Seeligman hat zum Empfang Vollmacht von mir. Ew. Hochwohlgebohrn wissen daß ich in Zweybrücken meine Besoldung auch in Rüksicht auf Bayern gewissenhaft verdient habe 20 . Mein Rükstand ist also eine heilige Sache für einen guten bayerischen Patrioten, wie Sie es immer gewesen. In meinem mehrgedachten Schreiben vom 1 l.ten May habe ich Sie auch unterrichtet welchen Ruhm das Instrument d. H. v. Reichenbach auf der hiesigen Sternwarte aufgerichtet hat, täglich erwirbt. Noch gestern sprach der Senator De La Place von denen wichtigen Diensten so dieses Instrument zu denen Beobachtungen leistet. H. v. Reichenbach und Ew. Hochwohlgebohrn erhielten bey dieser Gelegenheit [S. 4] ein verdientes Lob. Ich biete Ew. Hochwohlgebohren aufrichtigst meine Dienste an zu allen wo ich denenselben dahier in privat oder andern Angelegenheiten nüzlich oder angenehm seyn kann. Mit vollkommenster Hochachtung beharrend Ew. Hochwohlgebohrn! gehorsamster Dr. Cetto 20

Zur Würdigung von Cettos Verdiensten um Zweibrücken und Kurbayern bei Territorialverhandlungen, gegen Österreich und mit Talleyrand vgl. NERI (Anm. 1), Kap. II I—IX passim; s. a u c h WEIS ( A n m . 1), v. a . 3 3 7 , 356, 3 5 9 .

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3. Paris d. 13.ten July 1812. Hochwohlgebohrner insonders Hochgeehrtester Herr! Bald nach Abgang meines leztern Schreibens erhielt ich das Ihrige vom 2ten dieses, wodurch jenes und mein vorheriges Schreiben auf die verbindlichste Weise beantwortet sind. Ich danke vorzüglich für die angenehme Nachricht daß Mad. Dumesnil wegen ihres Pensions Rükstandes gute Termine erhält. Belieben Ew. Hochwohlgebohrn mir zu melden was deshalb beschlossen und bestimmt verordnet ist damit Mad. Dumesnil ihrem dortigen Geschäfftsmann ähnliche Weisung geben könne. Nun zur Beantwortung ihres obged. Schreibens vom 2ten d. M. Was die Zahlungen an Frankreich betrifft habe ich unserem Hofe mehrmalen und zulezt a m 1 lten May gemeldet, daß ohnerachtet der durch mich nachgesuchte Aufschub biß jezo nicht ausdrücklich [S.2] bewilligt worden, man jedoch ohne Besorglichkeit unsererseits mit Zahlung der Capital Schuld inne halten könne wann nur die Interessen richtig abgeführt werden. Ist Ihnen d a n n dieser mein Vorschlag nicht eröffnet worden? oder finden Sie daß die Schulden-Tilgungs-Commission dadurch noch nicht hinlänglich erleichtert ist? Über den Vorschlag Zwibak und gesalzen Fleisch für die Armee nach Dresden zu liefern habe ich gestern mit dem Gr. v. Cessac, Ministre Directeur de la guerre, gesprochen unter dessen Leitung der Intendant General zu handeln hat und ohne welchen lezterer nichts abschliesen kann. Das Resultat meiner Unterredung ist: man nimmt den Vorschlag an, in der Voraussezung [S. 3] der Zwibak sey frisch und komme nicht von einem ältern Vorrath. Dem Stande der Armee zufolg will man d a ß die Lieferung eher durch Böhmen an einem zu bestimmenden Orte als durch Sachsen geschehe. H. v. Cessac behauptet die Lieferung in Dresden veranlaße einen Umweg von da zur Armee nach dem jezigen Stand derselben. Ausser Zwibak und gesalzen Fleisch wünscht derselbe daß wir Pferde für die Armee liefern mögten. Können Sie hierauf eingehen. Melden Sie mir daher lo zu welchen Preißen der Zwibak und das Fleisch geliefert werden können. 2o den Ort in Böhmen wo die Lieferung geschehen kann. 3. O b Sie Pferde und wie viele liefern können. 4. in wessen N a h m e n ich den Vorschlag zu diesen Lieferungen an den obbenannten Minister gelangen lassen kann. Es würde gut seyn d a ß Ew. Hochwohlgebohrn veranlaßen, d a ß mir hiezu ein Auftrag von dem Ministerio der auswärtigen Geschäffte zugehe; wäre es auch nur ein privat Schreiben des Ministres der Verschwiegenheit wegen.

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Reinhard Wittmann

Komt ein Contract mit dem Kriegs Ministerio zu Stande so hat es keinen Anstand daß wir mit denen Bons mit welchen unsere Lieferungen bezahlt werden die Casse des Domaine extraordinaire bezahlen können. Gr. Defermont hat hiebey nichts zu thun und nichts zu erinnern. Dero Antwort sehe ich bald entgegen und beharre mit vollkommenster Hochachtung Ew. Hochwohlgebohrn! gehorsamer Dr. Cetto [mit Vermerk U.s: beantw. nach Copie den 29. jul. 1812] 4. Paris d 20ten August 1812. Hochwohlgebohrner insonders Hochgeehrtester Herr! Der Gegenstand unseres Briefwechsels läst sich nicht so geschwind beendigen als Sie es wünschen und glauben. Der Kriegsverwaltungs Minister kennt wohl das Bedürfniß der Armee für jezo und diese ist schon gedekt. Was solche für die Zukunfft erfodert ist das Geheimnis des Kaysers. Nach einer Unterredung mit dem Gr. v. Cessac habe ich ihm und einverständlich mit ihm anliegende Note [nicht vorhanden] zugefertigt die er mit Bericht an den Kayser abgeschikt hat. Vor Ankunfft der verlangten kayserl. Weisung kann der Minister mit mir nichts abschliesen. Könnte er es auch so hätte ich dennoch einen andern Anstand an welchem Ew. Hochwohlgebohrn Schuld sind, nemlich den Preiß um welchen [S. 2] Sie den Zwibak abgeben können. Hier sind dafür keine Preise bestimmt, weil überall die Fruchtpreiße auf welche es ankömmt verschieden sind. Es ist also nöthig daß Sie den Preiß bestimmen und zwar wie hoch wann die Lieferung biß eine Entfernung wie z.B. Linz; wie hoch wann solche in Prag oder nur in Passau geschehen soll. Bleiben Sie dabey bey dem Grundsaz meiner Note daß dadurch kein Gewinnst bezielt werden soll und die Lieferung besser und wohlfeiler als ein particulier solche leisten kann, geschehen soll. Je einfacher das Geschäfft wird je geschwinder und leichter kommen Sie zum Zwek. Gesalzen Fleisch will man nicht; weil die Armee durch die benachbarte Länder wo Überfluß an Vieh ist mit frischem Fleisch versorgt wird. [S. 3] Dahingegen verlangt man Pferde 21 . Welche Preiße dafür verwilligt werden und wie die Pferde beschaffen seyn müßen ist aus anliegendem gedruktem Zettel [fehlt] zu ersehen. Melden Sie mir, in so fern die Preiße annehmlich sind, welche Gattung Pferde und wie viel auch binnen welcher Zeit geliefert werden kann. 21

Vgl. M. JUNKELMANN, Napoleon und Bayern, Regensburg 1985, 294, wo von den massenhaften Verlusten an Pferden auf dem Feldzug die Rede ist.

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Ew. Hochwohlgebohrn werden bemerken daß in meiner Note das ganze Anerbieten darauf beruht daß die Bons statt Zahlung für die Bayreuther Domaine angenommen werden sollen. Genehmigt der Kayser das Anerbieten so genehmigt er auch die Bedingung. Übrigens habe ich sorgfältig vermieden diesem Anerbieten einen ministeriellen Anschein zu geben. Die Note ist nahmens der Schulden-Tilgungs-Commission verabfast und ist von mir nicht einmal unterschrieben. [S. 4] Ich bin auf diese Art der Besorglichkeit unsers Ministerii ausgewichen. Es kann also nichts als Gutes daher erfolgen. Ew. Hochwohlgebohrn wollte ich vorschlagen die verfallene Zinsen für die Bayreuther Domainen ohne Aufschub zu berichtigen. Ich h a b e solches zugesagt, als ich die Rükstellung der Termine f ü r die Capital-Zahlungen verlangte. Wann wir auch mit denen Zinsen nicht einhalten könnte solches eine üble Wirkung haben. Ich erwarte bald vollständige Antwort auf obiges und beharre mit vollkommenster Hochachtung Ew. Hochwohlgebohren! gehorsamer Diener Cetto Die königl. Steuer und Domainen Section hat H. Bonnard keine Ausfertigung über seinen Rükstand von fl. 17635.25 zukommen lassen. Wollen Sie nicht gefälligst veranlassen, daß solches noch geschehe damit die Forderung dieses Mannes gehörig gedekt werde. Sie thun mir dadurch einen Gefallen. *

Welches Ergebnis diese Unterhandlungen über Verpflegungs- und Pferdelieferungen für den Rußlandfeldzug hatten, ist nicht bekannt. Zweifellos war die Desorganisation des Nachschubs ein wesentlicher G r u n d für das Scheitern des Feldzugs; auch Montgelas betonte in seinen Denkwürdigkeiten: „Ihre [der Truppen, R. W.] Versorgung mit dem Nöthigen geschah ohne Präcision und mit häufigen Unterbrechungen" 2 2 . Daran konnten auch spekulative Vorschläge wie jene Utzschneiders und Cettos nichts ändern. Der f ü n f t e Brief wurde wohl im März 1813 geschrieben, als die stark dezimierten bayerischen Truppen wieder Sachsen erreicht hatten. Cettos Situation in Paris scheint in finanzieller Hinsicht immer bedrängter gewesen zu sein. Überdies war ihm wohl kaum verborgen geblieben, d a ß man ihn als Frankreichfreund immer stärker überging - die Verhandlungen Bayerns über einen Bündniswechsel liefen monatelang an ihm vorbei 23 . Er wurde erst am 10. Oktober 1813 vom König darüber offiziell in Kenntnis gesetzt und angewiesen, nach München zurückzukehren. 22

Montgelas (Anm. 7), 261.

21

V g l . N E R I ( A n m . 1), 6 2 0 .

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Reinhard Wittmann 5.

[März 1813?] Ew. Hochwohlgebohrn danke ich für Ihre theilnehmende Aeusserung. Es würde mir unendlich leid seyn die Veranlassung zu etwas zu werden so Ihnen unangenehm oder dem Dienste des Staates nachtheilig wäre. Wann ich vielleicht zudringlich scheine so schreiben Sie dieses keinesweges einem gehäßigen Triebe zu sondern lediglich gebieterischen Umständen die ich nicht abzuändern vermag. Wie wenig ich die St. Sch. T. Commission zu belästigen geneigt bin hat mein ganzes Benehmen seit Sechs Monaten gezeigt. Ich habe dero verehrliche Zuschrifft vom 30ten Sept. v. J. vor mir liegen, worinnen Sie mir die Zusage gethan, daß meine Seeligmannschen Obligationen vom lten Nov. anfangend mit 8 / m fl. monatlich cum rato Interesse und meine Wechsel mit 3000 fl. monatlich mit laufenden Zinsen abgetragen werden sollten. Ich habe hierauf nicht bestanden weil [S. 2] ich das Geld entbehren konnte. Dermahlen kann ich ohne den empfindlichsten Schaden nicht umhin darauf zu bestehen daß ich binnen jezo und der Hälffte May 36/m fl. zu meiner Disposition habe. Wann ich auch nicht alles in baarer Münze bekäme so müste es doch in Anweisungen oder Wechseln auf längere Termine deren Zahlung keinem Anstand ausgesezt wäre geschehen. In diesem Falle würde ich mit einer geringeren Summe baar mich begnügen können. Etwas zuverläßiges muß ich aber ohnumgänglich deshalb wissen damit ich meine Geschäffte volenden kann. Überlegen Sie dieses mit Genauigkeit und theilen Sie mir mit wie sie mein Interesse und die Umstände der St. Sch. T. Commission zu vereinbaren vermögen. Ich wünsche recht sehr die Sache unter uns zur wechselseitigen Zufriedenheit zu verhandeln. Ich sehe Ihrer Antwort mit [S. 3] denen Gesinnungen einer unwandelbaren Hochachtung entgegen mit welchen ich beharre Ew. Hochwohlgebohrn! gehorsamer Dr. Cetto [Vermerk U.s: beantw. d. 8. April 1813] *

Auch nach seiner Rückkunft nach München im November 1813 hoffte Cetto, bei einem erneuten Bündnis wieder als Gesandter nach Paris zurückkehren zu können. Obgleich auch Talleyrand diesen Wunsch hegte, lehnte König Max I. Joseph eine solche Wiederentsendung ab, was für Cetto (wie auch der folgende letzte Brief andeutet) zweifellos eine große persönliche Enttäuschung darstellte. Immerhin wurde er im selben Jahr 1813 in den Freiherrenstand erhoben und 1814 zum Staatsrat ernannt. Für seine neue Würde benötigte er auch einen angemessenen Landsitz - er fand ihn im Gut Alteglofsheim bei Regensburg. Zu dessen Ankauf waren

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wiederum erhebliche Geldmittel vonnöten, und so erscheint sein dringlicher Ton bezüglich der zumindest ratenweisen Auszahlung seiner Ansprüche an die Staatskasse nur verständlich. Die von Montgelas etwas maliziös erwähnte (s. o.) Summe von 200000 fl. in Papieren bedeutete, wie dieser Brief zeigt, keineswegs eine entsprechende Dotation an Bargeld. Nach dem Sturz von Montgelas im Februar 1817 wurde er als „außerordentlicher" Staatsrat aus der politischen Mitwirkung verdrängt. Sein gastfreundliches Haus war in den folgenden Jahrzehnten ein Mittelpunkt carlistischer Gesinnungen; einundneunzigjährig starb er am 23. März 1847. 6.

München d. 26ten April 1814 Hochwohlgebohrner Herr! Dero Schreiben vom 24ten d. M. konnte ich nicht eher beantworten, weil ich mich lediglich nach dem Willen und denen Gesinnungen des Königs in betreff meiner persönlichen Angelegenheit, die Allerhöchstdieselbe mit der S. May. eignen Billigkeit zu beherzigen geruhen, richten will. Ich nehme das Anerbieten der SZ. Sch. T. Commission mir auf die verfallenen Wechsel und Obligationen, biß auf bessere Zeiten [S. 2] mir monatlich Fünf Tausend Gulden zu zahlen an und seze auf Ew. Hochwohlgebohrn das Zutrauen, daß ich durch die Verbindlichkeiten die ich selbst auf dero Wort übernehmen werde in keine Ungelegenheit gerathen sondern diese versprochene Zahlung monatlich richtig erfolgen werde. Zu Volziehung des begonnenen Güter-Ankaufes ist mir ohnumgänglich nöthig daß die Zahlungen der 5000 fl mit Ende dieses Monats / : A p r i l : / anfangen. [S. 3] Ich bitte dahero die Verfügung zu treffen, daß ich dieses Geld binnen heute und dem lten May beziehen könne. In Erwartung einer willfährigen Antwort beharre ich mit vollkommenster Hochachtung Ew. Hochwohlgebohren gehorsamer Diener Cetto [mit hs. Vermerk U.s: beantw. den 27. April 1814 und bedingungsweise zugesichert. JU.]

Georg Schwaiger Liberalismus als geistiges Problem Was ist Liberalismus 1 ? Einer seiner deutschen Theoretiker und politischen Verfechter, Ralf Dahrendorf, gibt (1975) diese umschreibende Antwort: „Anarchie ist schön, aber unpraktisch. Wer den Gedanken gleicher Lebenschancen für alle zu Ende denkt, kommt fast unausweichlich zum Begriff einer Gesellschaft, in der Menschen nicht über Menschen herrschen; aber wer den Gedanken einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu Ende gedacht hat, ist in der Regel mit Thomas Hobbes, oder etwas zurückhaltender mit John Locke, zu dem Schluß gekommen, daß der .Naturzustand Unzuträglichkeiten mit sich bringt, für die der Bürgerstaat die richtige Medizin ist'. So wie die Menschen sind, bedarf Gesellschaft jeder Art gewisser Regeln, und diese müssen geschützt, sanktioniert werden; zumindest ein ,minimaler Staat' ist unumgänglich. So wie die Menschen sind, können diese Regeln und die zu ihrem Schutz ersonnenen Instanzen sich als irrig erweisen, sie müssen daher veränderbar bleiben; die Chance des Wandels und damit auch des Fortschritts ist Voraussetzung der Bekämpfung des Irrtums. Womit der Liberalismus beinahe schon definiert wäre: Misanthropie plus Hoffnung; der Versuch, die praktische Notwendigkeit von Herrschaft so intim wie möglich mit den größten Lebenschancen der größten Zahl von Menschen zu verbinden; der Glaube an die Kraft und ' Aus der kaum überschaubaren Literatur zum Thema „Liberalismus" und „Freiheit" im Rahmen der Geschichte und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts nenne ich nur: Th. SCHIEDER, Handbuch der europäischen Geschichte V: Europa von der französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, hg. von W. B U S S M A N N , Stuttgart 1981; VI: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum ersten Weltkrieg, Stuttgart 1968; H. LUTZ, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866 (Die Deutschen und ihre Nation 6), Berlin 1985; Th. N I P P E R D E Y , Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München "1987; D E R S . , Deutsche Geschichte 1866-1918, I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; Handbuch der Kirchengeschichte VI/1, VI/2, hg. von H. JEDIN, Freiburg-Basel-Wien 1971-1973; M. S C H M I D T / G . S C H W A I G E R , Kirchen und Liberalismus im 19. Jahrhundert (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 19), Göttingen 1976; Art. Liberalismus, in: Evangelisches Staatslexikon I, Stuttgart J 1987, 2006-2026; Staatslexikon, hg. von der Görresgesellschaft III, Freiburg i. Br. Ί 9 8 7 , 916-921; H. MAIER, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg i. Br. '1988; DERS., Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte. Festveranstaltung 40 Jahre Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe am 25. November 1991, Heidelberg 1992; G. SCHWAIGER, Die katholische Kirche in den geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, in: In Verantwortung für den Glauben. Beiträge zur Fundamentaltheologie und Ökumenik. Festschrift für Heinrich Fries, hg. von P. N E U N E R und H. W A G N E R , Freiburg i. Br. 1992, 119-133; Kommunitarismus, hg. von A. Honneth, Frankfurt a. M./New York 1993.

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das R e c h t des einzelnen M e n s c h e n , getaucht in d e n Zweifel a n der Vollk o m m e n h e i t d e r menschlichen D i n g e ; ein Stück M o r a l u n d ein Stück Erkenntnistheorie"2. In diesen W o r t e n eines liberalen Politikers d e r G e g e n w a r t schwingt noch d a s g r o ß e Freiheitspathos des Liberalismus im vorigen J a h r h u n d e r t n a c h , u n m i t t e l b a r g e b o r e n aus d e m älteren G e d a n k e n g u t der A u f k l ä r u n g u n d d e r neuzeitlichen K o n z e p t i o n des N a t u r r e c h t s , a u s der g r u n d s t ü r z e n den Französischen Revolution 3 . I Die v o n liberal abgeleitete B e z e i c h n u n g „ L i b e r a l i s m u s " b ü r g e r t e sich in K o n t i n e n t a l e u r o p a in d e r politischen R e s t a u r a t i o n s e p o c h e d e s f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t s f ü r die gesellschaftlich-politische Bewegung ein, die gek e n n z e i c h n e t ist d u r c h die O p p o s i t i o n gegen die W i e d e r h e r s t e l l u n g der v o r r e v o l u t i o n ä r e n Gesellschafts- u n d M a c h t v e r h ä l t n i s s e auf der einen, gegen eine E r s c h ü t t e r u n g durch frühsozialistische K r ä f t e auf d e r a n d e r e n Seite u n d d u r c h das Bekenntnis zu einem konstitutionellen System, in d e m bürgerliche Freiheiten u n d bürgerliche Teilhabe an der politischen M a c h t wirksam gesichert sind. Bezeichnenderweise t a u c h t „ l i b e r a l e s " in diesem Sinn erstmals 1812 f ü r die V e r f a s s u n g s b e w e g u n g in S p a n i e n auf, die sich gegen die Wiederherstellung des absolutistischen Systems gerichtet h a t , u n d b e z e i c h n e n d e r w e i s e w u r d e d a s 19. J a h r h u n d e r t die Zeit der b e d e u t e n d s t e n E n t f a l t u n g liberalen G e d a n k e n g u t e s , die eigentliche Blütezeit d e s Liberalismus. Liberalismus k a n n m a n sehr allgemein charakterisieren als ein System o d e r n o c h allgemeiner als eine weltanschauliche R i c h t u n g , d e r e n Mittelp u n k t die Idee der Freiheit ist. Hier erheben sich sofort eine R e i h e von F r a g e n , die bereits d a s T h e m a u n m i t t e l b a r b e t r e f f e n : L i b e r a l i s m u s als geistiges Problem. Ist Liberalismus ein System? Auf welchem G e b i e t ? In der Praxis oder in der Theorie, im Geistesleben, vor allem in Religion u n d Philosophie, o d e r in d e r Politik o d e r in der W i r t s c h a f t ? U n d schließlich: W a s ist Freiheit? M u ß hier n i c h t sofort gefragt w e r d e n : Freiheit w o v o n , Freiheit wozu, Freiheit f ü r w e n ? Ist die Idee der Freiheit innerlich, persönlich, als Freiheit des I n d i v i d u u m s o d e r ist sie v o r r a n g i g sozial a u f z u f a s s e n ? Ist sie ein ethisches, ein ästhetisches o d e r ein Z w e c k m ä ß i g k e i t s u n d N ü t z l i c h k e i t s p r i n z i p für d e n Alltag? Betrifft sie i n n e r h a l b d e r Politik nur d e n Staat o d e r a u c h das Verhältnis des einzelnen M e n s c h e n zu a n d e ren M e n s c h e n u n d zu j e d e m Sozialgebilde, etwa zur Familie, z u r K i r c h e ? 2

R. DAHRENDORF in dem Sonderbeitrag „ L i b e r a l i s m u s " in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon XV, M a n n h e i m - W i e n - Z ü r i c h 1975, 47-51, hier 47. ' M. NEUMÜLLER, Liberalismus und R e v o l u t i o n : Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. J a h r h u n d e r t s , Düsseldorf 1973; R. DAHRENDORF, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, M ü n c h e n 1965; DERS., Die C h a n c e n der Krise. Über die Z u k u n f t des Liberalismus, Stuttgart 1983.

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Geht m a n bei der näheren Bestimmung dessen, was Freiheit ist, vom Verlangen des Einzelmenschen n a c h Selbstverwirklichung aus oder vom Wohl der Gesellschaft, in die der einzelne gebunden ist? Eine Reihe weiterer Fragen ließe sich anschließen. Verlangen nach Freiheit als Anspruch oder Soll-Forderung teilt mit den meisten allgemeinethischen Begriffen, zum Beispiel Liebe, Gerechtigkeit, Güte, diese Schwierigkeit der Umgrenzung, diese Allgemeinheit: Alles hängt letztlich davon ab, welche konkrete f a ß b a r e Unterart m a n meint. Der schlagwortartige Haupttitel „ F r e i h e i t " wird erst durch die nähere Konkretisierung im Untertitel wirklich faßbar. Die Gültigkeit jedes Urteils über Freiheit hängt davon ab, welche S o n d e r f o r m m a n im Auge hat. Das Ideal individueller Freiheit, wie es da u n d dort in der griechisch-römischen Antike auftritt, wie es im G r o ß e n seit der Renaissance in der abendländischen Neuzeit fortschreitend gesehen u n d seit der Aufklärung proklamiert wird, wäre f ü r Menschen u n d M e n s c h e n g r u p p e n herkömmlich starker sozialer E i n b i n d u n g kaum ein Ideal, vielfach sogar völlig unverständlich. Ein Blick auf die abendländische Gesellschaft des Mittelalters macht dies unmittelbar einsichtig, ebenso ein Blick auf das alte u n d neue C h i n a oder auf d a s Sozialgefüge sogenannter primitiver Kulturen, die man heute mit Recht alles andere als vom europäischen „Fortschritt" her abschätzig beurteilt. D e n n der auch wesentlich vom neuzeitlichen, individualistischen Freiheitsideal h e r k o m m e n d e Fortschrittsglaube ist längst fragwürdig geworden.

II Mit diesen kurzen Skizzierungen ist bereits ausgesprochen, d a ß Liberalismus historisch zu betrachten u n d zu bewerten ist. In jedem Zeitalter u n d in j e d e m Land ist er etwas anderes. Hier liegt ein unvermeidlicher Widerspruch vor: Alle wesentlichen ethischen Forderungen, so auch das Verlangen n a c h Freiheit, haben allgemeine, die jeweilige Epoche weit übergreif e n d e Geltung. Sie sind im Metaphysischen oder im allgemein Menschlichen verankert. Ihr Sinngehalt liegt gerade darin, d a ß Freiheit über das Alltägliche, zeitlich Vergängliche hinausragt. Aber sie soll ihre Verwirklichung im Getriebe des Alltags, in den Schwankungen der Politik, in den ständigen Veränderungen der Wirtschaft, in den Parteiungen u n d Gegensätzen der Praxis finden. Damit ist das Freiheitsprinzip notwendig den Ausdeutungen u n d dem wechselnden Verhalten der Menschen ausgesetzt. Eine bestimmte Auslegung u n d A n w e n d u n g des Prinzips gilt nur f ü r einen begrenzten Zeitraum. Verwechselt man den sittlichen Kerngehalt einer solchen Idee mit den realen Bedingungen einer Situation, so verfällt man in einen Doktrinarismus, der zum Verhängnis wird: Die Idee erstarrt in einer Ideologie, welche die W ü r d e der Idee vernichtet oder doch verdun-

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kelt und verfälscht. In Geschichte und Gegenwart sind uns zahlreiche Beispiele bekannt. Für die große Idee der Brüderlichkeit, der Menschheitsverbrüderung, hat dieser Sachverhalt in dem sarkastischen Wort Ausdruck gefunden : Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein. Auch der tatsächliche Ablauf so vieler Freiheits-Revolutionen, bis zu den sozialistischen und kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, beweist schmerzlich diese Erfahrungstatsache. Leopold von Wiese hat schon in der Epoche des Ersten Weltkriegs und dann ein langes Gelehrtenleben hindurch gerade auf diesen Sachverhalt hingewiesen, gerade in seinen soziologischen Liberalismus-Studien auf die Notwendigkeit von Veränderungen hingewiesen, aber auch stets nachdrücklich betont, daß man darüber das sittliche Pathos und den kategorischen Imperativ der Idee des Liberalismus, die ja ihren Kern bilden, nicht vernichten dürfe 4 .

III Überall und zu allen Zeiten, wo sich Menschen und Menschengruppen in drückender Abhängigkeit fühlen oder sich auch nur in ihrer Betätigung eingeschränkt wähnen, verlangen sie nach Freiheit. Bringen sie diese Bestrebungen in ein einigermaßen geordnetes System von Ansprüchen, Forderungen oder Anschuldigungen, so kann man von Liberalismus sprechen. So allgemein verstanden ist seine Geschichte sehr alt und keineswegs eine Erscheinung der europäischen Neuzeit. Seine ersten theoretischen Keime und Diskussionen finden sich, wenn nicht früher, bei den Griechen, soweit es sich um politische Freiheit handelt. Thukydides gibt dafür in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges eindrucksvolle Zeugnisse. Erschwert und nahezu unausführbar wird eine begriffliche Erfassung des Liberalismus nicht nur dadurch, daß er auf alle Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens in wechselnden Verbindungen angewendet wird, sondern daß er zu manchen Zeiten eine enge Verknüpfung mit den Prinzipien der Gleichheit - politisch als Demokratie - einging oder auch, gerade umgekehrt, als Ausgangspunkt sozialer Auslese betrachtet wird - im Wirtschaftsleben erschien dann Liberalismus vielfach als „Ellenbogenfreiheit" für die Stärkeren, für die Reichen und Geschäftsgewandten. Die Vermischung dieser beiden möglichen und historisch tatsächlichen Erscheinungsformen des Liberalismus führte zu erheblichen Widersprüchen im Ideen- und Handlungssystem des Liberalismus, besonders seit der großen Französischen Revolution. Das 19. Jahrhundert, das 1789 in dieser Revolution begann und im Kriegsausbruch 1914 endete, ist 4

L. von WIESE, Liberalismus und Demokratismus, in: Zeitschrift für Politik 9 (1916), 407425; DERS., Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917; DERS., Liberalismus (soziologisch und wirtschaftssoziologisch), in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart IV, Tübingen 1960, 344-349.

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auf weite Strecken Schauplatz und Spiegelung dieser Widersprüchlichkeit des Liberalismus. Für Menschen in drückender Abhängigkeit und sozialer Not ist das Verlangen nach Freiheit und nach Gleichheit ein untrennbares, harmonisches Prinzip, so in den Anfängen der meisten Revolutionen. Später erkennt man aber, daß Freiheit, wenn mit ihr nicht nur Beseitigung von Sklaverei, Leibeigenschaft und grober Ausbeutung gemeint ist, eher eine aristokratische Forderung darstellt: durch Gleichsetzung der Begabteren, Begünstigteren und Fleißigeren mit den Unfähigeren, Leistungsschwächeren oder auch Faulen wird die freie Entfaltung der Überdurchschnittlichen gehemmt. Dies beweisen alle sozialistischen Bildungsmodelle und die Versuche ihrer Verwirklichung im Anfangsstadium, auch die rasche Abkehr von dieser nivellierenden Gleichmacherei in allen sozialistischkommunistischen Ländern, nämlich dann, wenn man überdurchschnittlich tüchtige Menschen braucht. Der Doppelsinn der Freiheitsidee, auf der einen Seite die Bedrängten zu emanzipieren, auf der anderen Seite den Fähigeren beste Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, macht sich immer wieder verwirrend geltend und spiegelt sich deutlich in den Schulreformen der Gegenwart. Neben dieser Grundsätzlichkeit der Freiheitsidee stehen noch andere Thesen und Antithesen: der Unterschied von innerer, seelisch-geistiger Freiheit und materieller, ökonomischer Unabhängigkeit oder die verwandte Differenz von religiöser Freiheit, die kirchlich-dogmatische Bindung einschließen kann, und allgemeiner politisch-sozialer Freiheit - erhebliche Kämpfe um die Schule, um Ehegesetzgebung und in Fragen der öffentlichen und privaten Moral ziehen sich durch das ganze 19. Jahrhundert und reichen bis in die Gegenwart herein. Als Beispiele seien nur Deutschland, Italien und Spanien genannt; betroffen waren in Europa aber alle Länder herkömmlich christlicher Gesellschaftsstruktur, und in der übrigen Welt alle religiös geprägten Völker 5 . Und welches Volk der Welt ist in seiner Geschichte nicht religiös geprägt? Die Gegensätze ließen sich vermehren. Bald steht die eine, bald die andere Bestrebung im Vordergrund, jeweils im Namen der Freiheit. Bisweilen wendet sich eine liberale Bestrebung auch gegen eine andere liberale oder geht zu diesem Zweck Bündnisse mit unliberalen Forderungen ein. 5

Entwicklung in Deutschland: Zur Rechtsstellung der katholischen Kirche und der Katholiken in den Territorien des Deutschen Bundes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gute Übersicht bei M. PERMANEDER, Handbuch des gemeingültigen katholischen Kirchenrechts, mit steter Berücksichtigung der die äußeren Seiten der katholischen Kirche berührenden Landes-Verordnungen der deutschen Bundesstaaten, insbesondere Bayerns, I, Landshut 1846, 72-149; E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, I-VI, Stuttgart 19571981 (I

2

1 9 6 7 ) ; E . R . H U B E R / W . HUBER, S t a a t u n d K i r c h e i m 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t .

Do-

kumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechtes I-III, Berlin 1973-1983; K. SCHATZ, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986; H. HURTEN, Kurze Geschichte d e s d e u t s c h e n K a t h o l i z i s m u s 1800-1960, M a i n z 1986, bes. 3 3 - 1 5 9 .

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Noch heute wird oft in Theorie und Praxis kein klarer Unterschied zwischen Liberalismus und Demokratie gemacht. Die Geschichte der Parteipolitik in Europa und Amerika bietet dazu viele Beispiele. Radikale Demokraten haben oft nicht nur das Bestreben, Unterdrückte zu befreien, sondern auch Höherstehende herabzuziehen. Hier ist der Wunsch zu helfen nicht das einzige Motiv, sondern auch der Neid oder Haß auf die Bessergestellten ist dann ein starker Antrieb. Auf der anderen Seite kann sich auch das Verlangen nach Macht und Prestige im Gewand edlen Strebens nach Freiheit darstellen. Man fordert Freiheit für sich und seinesgleichen, und ist weit davon entfernt, sie im Geist echter Demokratie jedermann zuzugestehen. Freiheit kann, wie Schiller sie verstand, das edelste Ziel sein. Aber auch niedrige Selbstsucht, Eitelkeit, Habgier und brutalste Unmenschlichkeit können sich phrasenhaft als Freiheit und Befreiung ausgeben. Was man auf dem Gebiet der Wirtschaft als Kapitalismus bezeichnet und dem vom Prinzip der Gleichheit beeinflußten Sozialismus gegenüberstellt, gilt den einen als Ausdruck der Freiheit, den anderen als verhängnisvoller Widerspruch nicht nur zur Gleichheit, sondern auch zur wirklichen Freiheit, weil nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem der großen Masse des Volkes die materiellen Grundlagen des Glücks und echter Menschenwürde vorenthalte.

IV Um einen Überblick über die Erscheinungsformen des Liberalismus in der Geschichte zu gewinnen, ist eine Differenzierung notwendig. Leopold von Wiese nennt drei Hauptgruppen 6 : 1. Der Gesinnungs-Liberalismus. Im Geist des Glaubens an den hohen sittlichen Wert der Freiheit und als unerläßliche Voraussetzung eines menschenwürdigen Daseins durchzieht er die ganze Geschichte der Menschheit. Er führt einen ständigen Kampf gegen alle Arten von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Eine Geschichte dieses Gesinnungs-Liberalismus ist schwer darzustellen. Im weitesten Sinn könnte man hier alle Persönlichkeiten einreihen, die je für Arme, Unterdrückte, Schwache eingetreten sind. Freilich wird man hier hinzufügen müssen, daß die Antriebskräfte in den meisten Fällen der älteren Zeiten nicht aus der Idee der Freiheit und einer innerweltlich verstandenen Menschenwürde gekommen sind, sondern aus religiösen Motiven, im christlichen Bereich aus dem Glauben der Gottebenbildlichkeit und grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott und aus dem Hauptgebot der Nächstenliebe. Ähnliches ließe sich für die islamische Welt in ihren besten Vertretern sagen.

' Wie A n m . 4.

Liberalismus als geistiges P r o b l e m

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Der Gesinnungs-Liberalismus schließt historisch in sich die Tatsache religiösen Freisinns und einer säkularisierten Denkungsweise. Diese Entwicklung ist in der europäischen Christenheit seit dem Ausgang des Mittelalters mit wachsender Deutlichkeit faßbar. Sie hat zu den bekannten Auseinandersetzungen innerhalb der christlichen Kirchen und zur Auseinandersetzung dieses Liberalismus mit den Kirchen geführt, bis in die Gegenwart herein. Dieser Gesinnungs-Liberalismus hat sogar durch die Auseinandersetzung mit den Kirchen in Europa und in der europäisch orientierten Gesellschaft Nordamerikas und Lateinamerikas sein besonderes Gepräge erhalten. Mit dem endgültigen Durchbruch der Aufklärung im 18. und mit der fortschreitenden Verwirklichung ihrer Ideen im 19. Jahrhundert trat dieser Gesinnungs-Liberalismus in seine entscheidende Phase ein. Er betont die Autonomie der freien Persönlichkeit und wendet sich gegen äußere und innere Abhängigkeit von der weltlichen Autorität. Frei sein bedeutet hier: innere Selbstbestimmung, grundsätzliche Autonomie des Menschen aufgrund vernünftiger, von Autoritäten unabhängiger Erkenntnis. Ein klassisches Dokument dieser Forderung ist Kants berühmte Antwort auf die Frage, was denn Aufklärung eigentlich sei, niedergelegt in der „Berlinischen Monatsschrift" von 1784: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude ... das ist also der Wahlspruch der Aufklärung1. Bei dieser Begriffsbestimmung zielte Kant auf die theoretische Aufklärung, deren Wesensmerkmal eben die völlige Autonomie der menschlichen Vernunft ist. Er dachte in erster Linie an „Religionssachen"; denn hier galt ihm die Unmündigkeit als am meisten schädlich und den Menschen als freies Vernunftwesen entehrend. Das Programm der Aufklärung blieb in allen wesentlichen Punkten für die Geisteshaltung der Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmend. Der hier kurz gestreifte Konflikt zwischen innerer Autonomie des Menschen und kirchlich-religiöser Bindung, also Heteronomie, begleitet seit vierhundert Jahren die ganze Christenheit und, zumindest seit dem 19. Jahrhundert, auch alle anderen Religionen. 2. Die Problematik des Liberalismus betrifft in hohem Grad nicht nur das menschliche Individuum und sein persönliches Leben, sondern auch das Zusammenleben der Menschen und die Beziehungen der Völker zueinander. Deshalb ist diese Problematik Hauptgegenstand der Politik und des Rechts. Bestimmungen zugunsten der Freiheit des einzelnen finden sich deutlich im römischen Recht, besonders in der Ausgestaltung des Pri7

„ W a s ist A u f k l ä r u n g ? " : I m m a n u e l K a n t , Werke, hg. v. W. WEISCHEDEL, XI, F r a n k f u r t a. M. 1964, 53.

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vatrechts, aber auch im germanischen Rechtsbereich. In der Geschichte der Rechtstheorie wird Hugo Grotius, der Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges, als der Rechtsphilosoph genannt, der in liberaler Denkweise als erster deutlich das Recht über den Staat gestellt hat: Das Recht hafte am Individuum. Seit dreihundert Jahren kann man die Rechtsphilosophen bis zu einem gewissen Grad danach unterscheiden, ob sie mehr die Macht und Kraft einer Gemeinschaft, eines Kollektivs, des Staates betonen oder die Selbständigkeit des einzelnen. Hier lag bis zum Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ideologien das wichtigste Unterscheidungskriterium zwischen der westlichen und östlichen Welt und dem jeweiligen Verständnis von Freiheit und Demokratie. Aber schon die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ist erfüllt von dem politischen Gegensatz zwischen Liberalismus und Patriarchalismus oder Konservativismus auf der einen Seite, Sozialismus oder Kommunismus auf der anderen. Besonders in der deutschen Partei-, Parlaments- und Verwaltungsgeschichte wechseln das Vordringen und die Zurückdrängung liberaler Grundsätze und liberaler Praxis beständig. Man könnte hier sogar einen Schritt weiter zurückgehen: zum aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts und den Reaktionen auf die Revolution in Frankreich. In Deutschland verband sich der gemäßigte Liberalismus mit dem Nationalismus. Dies führte zu folgenschweren Widersprüchen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach dem Höhepunkt und Scheitern des älteren Liberalismus in den Jahren 1848 bis 1850, hat sich ein beträchtlicher Teil des Liberalismus in Deutschland deutsch-national verengt und damit, auch von Bismarcks skrupelloser Erfolgspolitik geblendet, ein gut Teil des freiheitlichen Erbes verraten. Im deutschen Schicksalsjahr 1866 trat dies grell zutage 8 . 3. Das wohl umfangreichste Kapitel in der Geschichte des Liberalismus liefert die ökonomische Entwicklung. Auch hier wird man Ansätze schon vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellen können, selbst in der Blütezeit des Merkantilismus. Der Beginn des eigentlichen Wirtschafts-Liberalismus ist aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusetzen, als François Quesnay, Leibarzt Ludwigs XV., 1757/58 die Mitglieder der später so genannten physiokratischen Schule um sich sammelte, darunter Graf Mirabeau, Vincent Gournay und Anne Robert Jacques Turgot, als er das Laissez-faire-Prinzip aufgriff und die übrigen Physiokraten ihm darin folgten, besonders als Turgot 1776 die Zünfte in Frankreich aufhob und im gleichen Jahr Adam Smiths „Wealth of Nations" erschien. Dabei ist festzuhalten, daß der frühe ökonomische 8

Sprechendes Beispiel: H. BAUMGARTEN, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik. Hg. u. eingeleitet von Α. M. BIRKE, F r a n k f u r t a. M.-Berlin-Wien 1974. - H. A. WINKLER, Liberalism u s u n d Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t s , G ö t t i n g e n 1979; J. J. SHEEHAN, Der deutsche Liberalismus. Von den A n f ä n g e n im 18. J a h r h u n d e r t bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914, M ü n c h e n 1983.

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Freisinn im Gesinnungs-Liberalismus wurzelte. Er war für Quesnay, Turgot, vor allem für Adam Smith, Thomas Robert Malthus, zum Teil auch für James Mill, nicht nur ein Problem der Zweckmäßigkeit und des Reichtumserwerbs, sondern eine Sache des Vertrauens in eine vernünftige, von Gott geschaffene Weltordnung, eine prästabilierte Harmonie der ganzen Schöpfung auf dem Hintergrund des religiösen Deismus dieser Zeit. Bald schon vollzog sich die Säkularisierung, besonders in Verbindung mit dem Utilitarismus, schon bei James Mill, David Ricardo und anderen Nationalökonomen dieser Zeit. Es wäre aber nicht richtig, die späteren Liberalen in England, Frankreich und Deutschland, schon im 19. Jahrhundert, als skrupellose „Manchesterleute" hinzustellen. Dies wäre zu sehr das Zerrbild ihrer sozialistischen Gegner. Aber ihr schwerer Fehler bestand in der allzu optimistischen Einschätzung des ökonomischen Prinzips der freien Konkurrenz. Beide Markt-Parteien traten nämlich keineswegs auch nur annähernd gleich stark in den Wettbewerb. Die Folgen waren neue drückende Abhängigkeiten bis an den Rand der Versklavung. Daraus wuchs die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, wuchsen schließlich fast alle Revolutionen des 20. Jahrhunderts. In den genannten drei hauptsächlichen Erscheinungsformen des Liberalismus - dem Gesinnungsliberalismus, dem politisch-rechtlichen und dem Wirtschaftsliberalismus - geht es immer wesentlich um den Menschen und seine Freiheit, und gerade in der Macht und Ohnmacht einer Idee, in ihrer erhabenen Verwirklichung oder ihrer tatsächlichen Pervertierung, wird in der Sozialgeschichte der letzten zweihundert Jahre die ganze Problematik dessen deutlich, was man unter Freiheit versteht.

V Liberalismus als geistiges Problem - in einem kurzen abschließenden Teil möchte ich hier noch auf das Verhältnis der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts zum Liberalismus 9 eingehen. Dafür wähle ich den „liberalen Katholizismus" in Frankreich 10 als Beispiel, freilich nicht von ungefähr. Die geistige Auseinandersetzung war schon im 18. Jahrhundert von Frankreich angeführt worden. Am Ende des Jahrhunderts hatte das Land ' SCHMIDT/SCHWAIGER (Anm. 1); darin: M. SCHMIDT, Der Liberalismus als Problem für die Kirche und Kirchengeschichte im 19. Jahrhundert, insbesondere seine Stellung zum evangelischen

Christentum

(9-32);

H.-J.

BIRKNER, „ L i b e r a l e T h e o l o g i e "

(33-42);

H.-J.

WIE-

GAND, Friedrich Julius Stahls Bild des Liberalismus (43-83); M. BRANDL, Theologie im österreichischen Vormärz (126-142); G. SCHWAIGER, Liberaler französischer Katholizismus im Vormärz (1830-1848) (143-154); A. M. BIRKE, Bischof Kettelers Kritik am deutschen Lib e r a l i s m u s ( 1 5 5 - 1 6 3 ) ; V. CONZEMIUS, L i b e r a l e r K a t h o l i z i s m u s i n E n g l a n d ( 1 7 3 - 1 9 6 ) ;

Th.

M. LOOME, „Die Trümmer des liberalen Katholizismus" in Großbritannien und Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts (1893-1903): Die kirchenpolitische Grundlage der Modernismus-Kontroverse (1903-1914) (197-214). 10

Lit. bei SCHWAIGER, Liberaler französischer Katholizismus (Anm. 9); MAIER, Revolution und Kirche (Anm. 1).

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in der großen Revolution bereits die vielfältigsten Möglichkeiten bis zum Exzeß verwirklicht, erfahren und erlitten. Leidenschaftlicher als anderswo stießen hier die Bannerträger revolutionärer Änderung mit den seit 1789 unheilbar verstörten Anwälten der Tradition zusammen. In diesem bewegten, hochexplosiven Gelände stehen auch die verschiedenen, verschiedenartigen Versuche innerhalb des französischen Katholizismus, Christentum und Kirche in der neuen, vom Erbe der Revolution in jedem Fall mitgeprägten Zeit zu verwirklichen. Zwischen den Umstürzen von 1830 und 1848, im „Vormärz", hat der „liberale Katholizismus" in Frankreich seinen Höhepunkt erreicht. Die Bezeichnungen „libéraux catholiques" - „catholiques libéraux" finden sich zum erstenmal in einem Artikel „Sendung des französischen Volkes, d.h. der Katholiken von Frankreich" (Mission du peuple français, c'est-à-dire, des catholiques de France), der am 3. Januar 1831 in der Zeitung „L'Avenir" erschienen ist. Der Gedanke einer politischen Verbindung von Liberalen und Katholiken ist aber einige Jahre älter. Er tritt schon in den späten zwanziger Jahren in Belgien auf, wo ein großer Teil der katholischen Bevölkerung in Opposition gegen die niederländischprotestantische Vorherrschaft stand. Das Zusammengehen von Katholiken und Liberalen in Belgien leitete hier eine Katholische Bewegung ein, die wesentlich zur staatlichen Emanzipation der katholischen Südprovinzen des Königreichs der Niederlande in der Revolution von 1830 beitrug. Um 1830 sah in allen Ländern Europas die Masse der Katholiken das Heil der Kirche ausschließlich in der Wiederherstellung der politischen Verfassung des Ancien Régime und in der Rückeroberung der privilegierten Stellung der Kirche in der Gesellschaft. Zur gleichen Zeit begann eine steigende Zahl junger Kleriker und Laien nach einer Möglichkeit zu suchen, den Katholizismus in gewissem Maße mit dem Liberalismus auszusöhnen. Die jungen Leute waren mächtig ergriffen von der Mystik der Freiheit, die sowohl die Literaten und Künstler der Romantik als auch die liberalen revolutionären Verschwörer und jene Studenten inspirierte, die Gegner des Systems der Heiligen Allianz waren. Ohne den eigenen Glauben preiszugeben, begannen sie, eine auf den Grundsätzen von 1789 basierende Gesellschaftsordnung anzunehmen. Diese Grundsätze lauteten: persönliche Freiheit anstelle der willkürlichen Gewalt; politische Freiheiten, die nicht mehr nur gnädig gewährtes Privileg, sondern gesetzlich gesichert waren; das Recht der Völker auf nationale Selbstbestimmung gegenüber dem Legitimitätsprinzip einer monarchischen Herrschaft von Gottes Gnaden - dies war besonders aktuell für Irland, Belgien, Italien, Polen, für Teile des Kaisertums Österreich und Lateinamerika; schließlich Freiheit in dem Bereich, der unmittelbar das religiöse Leben betraf, Presseund Religionsfreiheit zusammen mit einer Einschränkung der kirchlichen Privilegien. Sogar die Trennung von Kirche und Staat wurde als Möglichkeit erwogen. Hier wird klar, daß es beim „liberalen Katholizismus" des

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19. Jahrhunderts - ganz anders als etwa im deutschen Protestantismus nur um den politischen und gesellschaftlichen Liberalismus gehen kann, nicht um einen theologischen. Der theologische Liberalismus innerhalb der katholischen Kirche ging über Ansätze, etwa in kleinen Gruppen des belgischen Klerus der dreißiger Jahre, kaum hinaus. Er scheiterte und mußte scheitern, wo er versucht wurde, an der straff geübten Zensur der kirchlichen Autoritäten, die mit der wieder wachsenden Bedeutung der hierarchischen Ordnung, namentlich mit dem Ausbau der Geltung des Papsttums und der Römischen Kurie in der Kirche, überall erstarkt waren. Die Freiheit des aufgeklärten Zeitalters lag weit zurück. Wirklicher oder vermeintlicher Liberalismus in der Theologie endete in kürzester Zeit in der Entfernung aus jeder kirchlich bedeutsamen Stellung und auf dem Index der verbotenen Bücher. Die Beweggründe für die da und dort versuchte Versöhnung zwischen katholischer Kirche und Liberalismus waren recht verschieden. Die einen hofften, dadurch wieder die kirchenfremde intellektuelle Jugend zu gewinnen. Andere erwarteten größere Freiheit für Katholiken unter protestantischer oder orthodoxer Herrschaft (Belgien, Irland, Polen). Wieder andere wollten die liberalen Institutionen dem Bund von Thron und Altar, der sich in der Praxis so häufig als erstickende Staatskirchenhoheit erwies, vorziehen, und andere teilten den Optimismus der Aufklärungsphilosophen über die Möglichkeiten des freien Menschen; sie betrachteten das demokratische Ideal, das die Liberalen beflügelte, als Verwirklichung des Evangeliums: die Gleichheit der Natur sei über die Ungleichheit historischer Bedingungen und die Freiheit aller über die Herrschaft einiger zu setzen. Andere würden bald noch weiter gehen und größeren Freiheitsraum innerhalb der Kirche anmelden: weniger Behinderung theologischer und philosophischer Arbeit; größere Beweglichkeit in Hinsicht auf die traditionellen Pastoralmethoden; Hereinnahme aller Stände der Kirche, des niederen Klerus und auch der Laien in die kirchliche Mitbestimmung und Mitverantwortung, etwa auf Synoden. Von solchem Pathos christlicher, innerkirchlicher Freiheit waren zum Beispiel die Reformvorschläge eines Johann Baptist Hirscher 11 in Tübingen und Freiburg, eines Raffaele Lam-

" Mit Rücksicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse hat J. B. HIRSCHER, Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit, Tübingen 183S, in der 4. Auflage (1845) entscheidend umgestaltet. Hier einschlägig sind außerdem vor allem folgende seiner Werke: Erörterungen über die großen religiösen Fragen der Gegenwart, Freiburg i. Br. 1846 (1. Heft), 1847 (2. Heft), 1855 (3. Heft); Die Notwendigkeit einer lebendigen Pflege des positiven Christenthums in allen Klassen der Gesellschaft, Tübingen 1848; Die socialen Zustände der Gegenwart und die Kirche, Tübingen 1849; Die kirchlichen Zustände der Gegenwart, Tübingen 1849; Antwort an die Gegner meiner Schrift: Die kirchlichen Zustände der Gegenwart, Tübingen 1850. - J. RIEF, Reich Gottes und Gesellschaft nach Joh. S. Drey und Joh. B. Hirscher, Paderborn 1965; DERS., Kirche und Gesellschaft. Hirschers kritische Analysen und Reformvorschläge der vierziger Jahre, in: Kirche und Theologie im 19. Jahrhundert, hg. von G. S C H W A I G E R (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 11), Göttingen 1975, 103-123; E.

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bruschini 12 oder eines Antonio Rosmini 13 in Italien, eines Lamennais 14 in Frankreich bestimmt. Das Problem eines möglichen „liberalen Katholizismus" oder „katholischen Liberalismus" hat das ganze 19. Jahrhundert hindurch katholische Intellektuelle fast aller Länder bewegt 15 . Die Lösung erschien um so schwieriger, da die Liberalen aufgrund der wiederholten Verurteilung des Liberalismus durch die kirchlichen Autoritäten, vor allem durch Gregor XVI. und Pius IX., ihren Antiklerikalismus nur noch steigerten. So trieb ein Keil den anderen. Die meisten Verantwortlichen in der Kirche sahen ihre Überzeugung nur bestätigt, daß die Liberalen im Bund mit der Freimaurerei und als Erben der „ungläubigen" Philosophen des 18. Jahrhunderts die herrschende Ordnung auf religiösem und politischem Gebiet stürzen wollten. Man hat lange Zeit Lamennais für den Begründer des katholischen Liberalismus gehalten, für den Mann, der in prophetischer Vision die Vorteile gesehen habe, die der Kirche erwüchsen, wenn sie sich auf das Gebiet der modernen Freiheiten begäbe. Neueste Forschungen haben stärker differenzieren lassen. Schon vor Lamennais hatten in Frankreich andere begonnen, ähnliche Gedanken zu entwickeln, zum Beispiel der einige Jahre recht einflußreiche Nikolaus von Eckstein (1790-1861), ein dänischer Konvertit, der seit 1816 in Frankreich ansässig war und mehrere junge Leute des späteren Kreises um Lamennais nachhaltig beeinflußt hat. Auf der anderen Seite ist heute nachgewiesen, daß die Verbindung des Katholizismus mit den modernen Freiheiten in Belgien zwischen 1825 und 1828 eingeleitet worden ist und daß diese tatsächlich verwirklichte „union" die Entwicklung Lamennais' beeinflußt hat. Doch das Verdienst Lamennais' Forlsetzung

Fußnote von Seite 203

KELLER, J o h a n n Baptist Hirscher, in: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert, hg. von H. FRIES und G. SCHWAIGER, II, München 1975, 40-69; Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, hg. von R. REINHARDT (Contubernium 16), Tübingen 1977; DERS., J o h a n n Baptist von Hirscher - ein Verräter an der deutschen Kirche?, in: Zeitschrift f ü r K i r c h e n g e s c h i c h t e 1 0 1 ( 1 9 9 0 ) , 3 7 4 - 3 7 9 ; W . G R O S S - W . FÜRST, D e r e d l e H i r s c h e r . B e i -

träge zu seiner Biographie und Theologie, Rottenburg 1988. 12

,J

Q Q . u . L i t . b e i JEDIN ( A n m . 1) V I / 1 , 3 8 4 .

Ebd. 2 8 8 , 3 8 5 f. Ebd. 272f, 320-347; L. LE GUILLOU, Félicité de Lamennais, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. von M. GRESCHAT, 9,1: Die neueste Zeit I, Stuttgart 1985, 187-199 (Werke, Lit.); MAIER, Revolution und Kirche (Anm. 1). " H. HAAG, Les origines du catholicisme libéral en Belgique (1789-1839), Louvain 1950; R. AUBERT/J. B. DUROSELLE/A. JEMOLO, Le libéralisme religieux au XIX siècle: X Congresso internazionale di scienze storiche. Relazioni V, Firenze 1955, 305-383; A. SIMON, Aspects de l'unionisme, Wetteren 1958; DERS., Rencontres mennaisiennes en Belgique, Bruxelles 1963; Κ. JÜRGENSEK, Lamennais und die Gestaltung des belgischen Staates. Der liberale Katholizismus in der Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1963; A. DRU, Erneuerung und Reaktion. Die Restauration in Frankreich 1800-1830, München 1967; CH. WEBER, Liberaler Katholizismus. Biographische und kirchenhistorische Essays von Franz Xaver Kraus, Tübingen 1983 (mit einem ausgezeichneten Vorwort S. V I I - X X X V , das den Forschungsstand und das ganze wichtige Schrifttum bringt). 14

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bestand darin, daß er in genialer Intuition die Möglichkeit erkannte, die sich am belgischen praktischen Beispiel für die Kirche überhaupt gewinnen ließ, daß er den Einzelfall sofort zu einem theoretischen System weiterentwickelte. Und er zögerte nicht, die Kirche aufzufordern, von sich aus die Richtung einzuschlagen, welche die Völker zur Demokratie drängte. Die Tragödie Lamennais' und seiner enthusiastisch proklamierten, im Christentum verankerten Freiheit kann hier nicht dargestellt werden. Der begeisternde Aufbruch wurde schon 1832 in der Enzyklika „Mirari vos" 16 verurteilt, zwei Jahre später in einem neuen Schreiben Gregors XVI., jetzt mit deutlicher Nennung, verworfen: Sein revolutionäres Werk sei um so verwerflicher, als es diese Lehren auf die Heilige Schrift zu stützen suche 17 . Erst im November 1836 reagierte Lamennais - zutiefst verwundet, verbittert, bereits kirchenfremd geworden. Die Veröffentlichung seiner „Affaires de Rome" machten seinen Bruch mit der Kirche offenkundig. Wir wissen heute, daß nicht so sehr die Enzykliken „Mirari vos" und „Singulari vos", so wichtig sie sein mochten, Lamennais in eine religiöse Krise stürzten, als vielmehr die Haltung Gregors XVI. gegenüber dem russischen Kaiser Nikolaus I. in der brutalen Niederwerfung der revoltierenden katholischen Polen 18 . Lamennais' Gedanken aber wirkten in der katholischen Bewegung des 19. Jahrhunderts in vielen Rinnsalen fort, auch wenn man den genialen, geistesmächtigen Urheber kaum mehr kannte. Erst in den letzten Jahrzehnten hat man die Bedeutung Lamennais' wieder klarer erkannt, dieses mächtigen Vorkämpfers kirchlicher, christlicher, und in fortschreitender Entwicklung menschlicher Freiheit überhaupt, dieses selbstlosen Anwalts der sozial Entrechteten. Lamennais steht in der langen Reihe großer katholischer, tragischer Gestalten, an denen das 19. Jahrhundert reich ist. Das Kennzeichen der Frühstufe einer katholischen liberalen Bewegung, verbunden mit den Namen Lamennais und seiner Zeitung „L'Avenir", ist die ausschließliche politische, genauer gesagt die kirchenpolitische Zielrichtung, die den „liberalen Katholizismus" von allen weltanschaulichen Liberalismen trennt. Liberal ist dieser Katholizismus nur in bezug auf das Verfahren in der Politik (Teilnahme am Parlamentarismus, Bildung von Parteien, öffentliche Wirksamkeit durch Volksversammlungen und Volkspetitionen), nicht aber im Hinblick auf eine gleichsam dogmatisch verstandene Idee der Freiheit oder die Absolutsetzung der Demokratie als Staatsform. Auch der „liberale Katholizismus" Frankreichs nach 1831, der sich von 16 A. BERNASCONI, Acta Gregorii PP XVI, I, Roma 1901, 169-174. " Ebd. 433 f. 18 L. LE GUILLOU, L'évolution de la pensée religieuse de Félicité Lamennais, Paris 1966; DERS., Les discussions critiques. Journal de la crise mennaisienne, Paris 1967.

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Lamennais getrennt hat, gehört noch der Frühstufe des „unionisme" an, des taktischen Zusammengehens mit dem Liberalismus, wie wir ihn auch in Deutschland in den 30er und 40er Jahren feststellen können. Er tritt vor allem mit kulturpolitischer Tendenz auf, vornehmlich als Anwalt der katholischen Freiheiten in Kirchen- und Unterrichtsfragen. Vom weltanschaulichen Liberalismus hält sich dieser „Unionismus" betont fern. Liberalismus ist hier letztlich nur Mittel zum Zweck, wenn auch Lamennais selber bereits bedeutend weitergeht. Die Blütezeit dieses „liberalen Katholizismus" in Frankreich fällt in die Jahre 1835-1848. Sein letzter bedeutender Erfolg, zugleich das letzte Beispiel des Zusammengehens katholischer und liberaler Parteien in Europa, ist das französische Schulgesetz von 1850. In der Revolution von 1848 in die Opposition gedrängt, weicht der „liberale Katholizismus" in der Zeit des Zweiten Kaiserreichs allmählich der wachsenden intransigenten Richtung in der französischen Kirche. Der Syllabus Pius' IX. von 1864 scheint dann auch sein Schicksal zu besiegeln. Doch kommt es gerade in dieser Zeit noch einmal zu bedeutenden Anstrengungen der liberal-katholischen Vermittlungstheologie. Dupanloup, der Wortführer des Unionismus im französischen Episkopat, löste den Begriff der Freiheit von der Bindung an die demokratische Staatsform los und öffnete den Weg für den Einbau liberal-konstitutioneller Elemente in die katholische Politik. Diese Lösung, vom Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherrn von Ketteier auch für den deutschen politischen Katholizismus übernommen 19 , wurde später von Papst Leo XIII. weiter ausgebaut und genauer differenziert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel der Liberalismus immer mehr auf seine voltairianischen Ausgangspositionen zurück. Er nahm in wachsendem Maße ein antikirchliches, kulturkämpferisches Gepräge an. Dadurch wurden die Grundlagen eines möglichen Unionismus immer schwankender. Die entscheidenden Stufen der Entwicklung sind: die Spaltung des politischen Katholizismus in Frankreich nach 1848 in die gegnerischen Schulen des liberalen „Correspondant" und des konservativen „Univers", wovon die zweite Gruppe siegreich blieb; die Inanspruchnahme der katholisch-liberalen Formel L'église libre dans l'état libre (Montalembert) durch Cavour, den politischen Gegner der Päpste in Italien; endlich die katholisch-liberale Opposition gegen das Unfehlbarkeitsdogma (1870) und die späteren - wirklichen oder vermeintlichen - Verbindungen zwischen dem „liberalen Katholizismus" und dem Modernismus. Durch diese Entwicklungen gewann der verdächtige „liberale Katholizismus" vollends den Geruch des Kirchen- und Papstfeindlichen, der Häresie. Es wurde im späteren 19. Jahrhundert immer schwieriger, schließlich so gut wie unmöglich, das Wort " A. M. BIRKE, Bischof Ketteier und d e r deutsche Liberalismus. Eine U n t e r s u c h u n g über d a s Verhältnis des liberalen Katholizismus z u m bürgerlichen Liberalismus in d e r Reichsgründungszeit, M a i n z 1971. Eine kritische G e s a m t a u s g a b e „ S ä m t l i c h e Werke u n d Briefe" Kettelers, bearbeitet v. E. ISERLOH u.a., erscheint in Mainz seit 1977.

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„liberaler Katholizismus" unpolemisch zu gebrauchen und auf seinen politischen Sinn zu beschränken 20 . Erst durch Leo XIII. beginnt - recht zaghaft und zunächst wenig wirksam - wieder eine genauere Unterscheidung. Der große Durchbruch, die prinzipielle Versöhnung der katholischen Kirche mit den positiven Errungenschaften der neuzeitlichen Freiheitsrevolution, kam erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) 21 zustande. Dabei hätte man die seit dem späten 18. Jahrhundert proklamierten Menschenrechte, die ja den wesentlichen Inhalt der neuzeitlichen Freiheitsidee bilden, durchaus als große christliche Tradition begrüßen können, die lange verschüttet gewesen war. Pascal hat das Wort geprägt von grandeur et misère de l'homme. Dieses Wort ließe sich auch im Rückblick auf die Freiheitsidee zitieren: Glanz und Elend der Freiheit, was man proklamierte, was in der Verwirklichung daraus wurde und welches Schicksal ihren Vorkämpfern beschieden war.

20

21

Aus dem umfangreichen neueren Schrifttum seien nur genannt: C. BAUER, Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964; Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Zum Streit um Reformkatholizismus und Modernismus, hg. von G. S C H W A I G E R (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 23), Göttingen 1976; TH. LOOME, Liberal Catholicism, Reform Catholicism, Modernism. A Contribution to a New Orientation in Modernist Research (Tübinger theologische Studien 14), Mainz 1979; M. WEITLAUFF, „Modernismus" als Forschungsproblem. Ein Bericht, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), 312-344; DERS., „Modernismus litterarius". Der „Katholische Literaturstreit", die Zeitschrift „Hochland" und die Enzyklika „Pascendi dominici gregis" Pius' X. vom 8. September 1907, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, hg. vom Verein für Diözesangeschichte von München und Freising, München 1988, 97-175; W E B E R (Anm. 15); D E R S . , Kirchengeschichte, Zensur und Selbstzensur. Ungeschriebene, ungedruckte und verschollene Werke vorwiegend liberal-katholischer Kirchenhistoriker aus der Epoche 1860-1914, Köln-Wien 1984; K. H A U S B E R G E R , Anton von Henle und Herman Schell. Ein Briefwechsel im Vorfeld der „Modernismus"-Kontroverse, in: Papsttum und Kirchenreform. Historische Beiträge, hg. von M. W E I T L A U F F und K. H A U S BERGER, St. Ottilien 1990, 699-743; H. MAIER, Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 201), Heidelberg 1992. Concilium Vaticanum II. Constitutiones, Decreta, Declarationes, cura et studio Secretariae generalis, Roma, Città del Vaticano 1966; Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hg. von J. A L B E R I G O u.a., Bologna M 9 7 3 , 8 1 7 - 1 1 3 5 .

Zdenëk

Solle

Böhmen und Österreich* Die Völker unser beider Länder lebten Jahrhunderte lang in einem Staatsgebilde, und selbst wenn es nach dem ersten Weltkrieg zur Trennung von Böhmen und Österreich kam, blieb ihr historisches Schicksal auch weiterhin verknüpft. Ich will nicht im einzelnen und systematisch die geschichtliche Entwicklung in der Neuzeit schildern. Ich möchte eher an einige grundsätzliche historische Momente erinnern, und vor allem will ich mich auf zwei bedeutsame Persönlichkeiten der neuzeitlichen böhmischen Geschichte konzentrieren, die meiner Meinung nach für die Beziehung der Tschechen zu Österreich von grundsätzlicher Bedeutung sind. Ich meine damit F. Palacky, eine führende Persönlichkeit aus der Anfangsperiode der tschechischen Geschichte im 19. Jahrhundert und T. G . Masaryk im 20. Jahrhundert. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formierten sich auch in Mitteleuropa die einzelnen Nationen. Die aus dem Mittelalter überlebenden dynastischen und Ständestaaten wurden seit dieser Zeit stufenweise durch die modernen bürgerlichen Staaten ersetzt. Der Josephinismus, der sich bemühte, den Ausbau der zentralisierten, bürokratisch verwalteten und sprachlich einheitlichen österreichischen Monarchie zu vervollständigen, bereitete auch den Boden für die Entwicklung vor, die später zur vollständigen Befreiung der Volksmassen führte. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß dadurch gleichzeitig die Voraussetzungen zur Verwandlung der bisher nicht selbstbewußten und rechtlosen Volksmassen in moderne, sprachlich differenzierte Nationen geschaffen wurden. Weitere Fortschritte der sozialökonomischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der sich verbreitende Einfluß der Ideale und Grundsätze der Französischen Revolution - insbesondere der Gleichheit aller Menschen und der Souveränität des Volkes - , die von J . J . Rousseau propagiert wurden, bewirkten die Veränderung der politischen Atmosphäre. Der Geist des Konstitutionalismus, des Parlamentarismus und der Demokratie aktivierte die Volksmassen. Diese Volksbewegungen, die sich bemühten, in alle Bereiche der Verwaltung und des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vorzudringen, gestalteten sich in allen Ländern als nationale Bewegungen.

* Sprachliche Überarbeitung von Manfred Fleischer M . A .

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Im Jahre 1848 kam es in Europa zu einer Krise der bisherigen sozialen und politischen Systeme. Während in Italien und Deutschland das Ziel der revolutionären demokratischen Bewegungen die Abschaffung der zahlreichen, teilweise aus dem Mittelalter überkommenen dynastischen Staaten war, um moderne Nationalstaaten entstehen zu lassen, bemühten sich andererseits solche Bewegungen in Österreich um die Teilung des riesigen mittelalterlichen Länderkonglomerats, um den unterdrückten Nationen die Emanzipation zu ermöglichen 1 . Auch die tschechische Nation trat damals, nach hundertjährigem Schweigen, selbstbewußt auf das Forum der europäischen Politik. Ihr Wortführer wurde Frantisek Palacky, der bis dahin nur als erfolgreicher Literat und Wissenschaftler tätig gewesen war und dessen Lebenswerk Die Geschichte des böhmischen Volkes in Böhmen und Mähren - bis dahin nur in deutscher Sprache gedruckt - im Jahre 1848 in tschechischer Sprache veröffentlicht wurde 2 . Anlaß zu seiner politischen Aktivität bot ihm eine Einladung zum „Fünfzigerausschuß", der die Einberufung des gesamtdeutschen Parlaments nach Frankfurt a. M. vorbereitete. In seiner am 11. April 1848 veröffentlichten Antwort auf diese Einladung skizzierte Palacky nicht nur seine persönlichen politischen Vorstellungen, sondern gab de facto die erste umfassende Erläuterung des gesamten böhmischen Nationalprogramms. In seinem Schreiben erkannte Palacky die Berechtigung der Frankfurter Versammlung und der nationalen Einheitsbestrebungen der Deutschen an. Er lehnte es aber ab, selbst an dieser Versammlung teilzunehmen, denn er sei kein Deutscher, sondern „Böhme slawischer Herkunft". Im folgenden erläuterte Palacky das eigene politische Programm. Die Böhmen seien eine kleine mitteleuropäische Kulturnation, die schon im Mittelalter ihren eigenen souveränen Staat gebildet habe und ihre nationale Unabhängigkeit in der Zukunft bewahren wolle, und dies sowohl gegenüber der entstehenden Großmacht Deutschland als auch gegenüber dem russischen Reich: „Nein, ich sage es laut und offen, ich bin kein Feind der Russen; im Gegenteil, ich verfolge von jeher mit Aufmerksamkeit und freudiger Teilnahme jeden Schritt, den dieses große Volk innerhalb seiner natürlichen Grenzen auf der Bahn der Civilisation vorwärts tut; da ich jedoch, bei aller heißen Liebe zu meinem Volke, die Interessen der Humanität und Wissenschaft von jeher noch über die der Nationalität stelle, so findet schon die bloße Möglichkeit einer russischen Universalmonarchie keinen entschiedeneren Gegner und Bekämpfer als mich; nicht weil sie russisch, sondern weil sie eine Universalmonarchie wäre." 1

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Die zusammenfassende Schilderung damals begonnener geschichtlicher Entwicklungsprozesse bietet F. PRINZ, Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hg. im Auftrag des Collegium Carolinum von K. BOSL, Bd. III, Stuttgart 1967-1968, 1-235. J. F. ZACEK, Palacky. The Historian as Scholar and Nationalist, The Hague-Paris 1970.

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Die kleinen Nationen in Mittel- und Südosteuropa seien imstande, sich gegen die Übermacht einer universellen zaristischen Monarchie zu behaupten. Voraussetzung dazu sei allerdings ihre Einheit. Die Donau sei die Achse dieses Bundes kleiner Nationen und Österreich ihr politischer Ausdruck. So kommt Palacky zu seiner berühmten These: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen." 3 Ein multinationaler österreichischer Donaustaat ist nach Palacky der ideale Schutz kleiner mitteleuropäischer Nationen, wie zum Beispiel der Tschechen. Sie wünschten sich daher die Erhaltung Österreichs und zugleich dessen Reform im Sinne der gegenwärtigen demokratischen Prinzipien der Gleichheit und der bürgerlichen Freiheiten, ebenso wie seine Umgestaltung in einen Bundesstaat gleichberechtigter und selbstverwaltender Nationen. Palackys Brief nach Frankfurt wurde sofort zur Tagessensation. Im modernen politischen Leben Europas legitimierte sich dadurch die tschechische Nationalbewegung als Erbin des mittelalterlichen böhmischen Staates. Worin besteht nun aber der Zusammenhang zwischen Palackys Brief nach Frankfurt und der Politik des böhmischen mittelalterlichen Staates? Palacky begründete zwar im Jahre 1848 seine gesamte Politik mit der neuzeitlichen Theorie des Naturrechts. Doch beschränkten sich seine Vorstellungen nicht nur auf die spezifisch böhmischen Belange; die eigentliche Bedeutung der böhmischen Politik, die Palacky repräsentiert, besteht gerade in ihrem idealistischen Standpunkt, von dem aus die Interessen aller europäischen Nationen anerkannt werden, und darin, daß er in der harmonischen Einheit aller Nationen die Vorteile der eigenen Nation sah. Die naturrechtliche Argumentation ist nur ein der modernen Zeit entsprechender Ausdruck dieser großen edlen Politik. In dem Moment, als in Österreich die endgültige Reform der innenpolitischen Struktur des Staates vorbereitet wurde, am Vorabend des preußisch-österreichischen Krieges von 1866, verteidigte Palacky in seiner Schrift „Österreichs Staatsidee" - sie ist seine umfangreichste politische Äußerung - von neuem seine Auffassung von der zukünftigen Gestaltung der österreichischen Verhältnisse. Später erklärte er, daß dieses Werk nur eine ausführlichere Begründung des föderativen Programms sei, das schon in den Jahren 1848/1849 aufgestellt worden war. Das konkrete Ziel der politischen Bemühungen von Palacky wie auch der gesamten tschechischen Politik war, sich mit den Deutschen in den böhmischen Ländern zu einigen, damit ein autonomes politisches Gebilde aus den Ländern

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Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren. Als Beitrag zur Zeitgeschichte, hg. von F. PAI.ACKY, Prag 1874, 148-155.

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der böhmischen Krone im Rahmen der habsburgischen Monarchie entstünde 4 . Palacky ging es jedoch nicht nur um die Interessen der böhmischen Nation. Er war sich bewußt, daß dieses gemäßigte böhmische Programm der nationalen Föderalisierung Österreichs - die Frage des historischen Rechts hat nur eine unterstützende, taktische Bedeutung, die die Zusammenarbeit mit dem konservativen Adel ermöglichen sollte - das einzige realistische Programm einer dauernden Regelung der mitteleuropäischen Verhältnisse sei, die conditio sine qua non der Existenz des österreichischen Staates. Deshalb drückt er zum Schluß seines Werkes „Österreichs Staatsidee" angesichts des drohenden Österreich-ungarischen Dualismus offen seine Zweifel an der weiteren Lebensfähigkeit Österreichs aus: „Sollte der gerade Gegensatz der modernen Staatsidee Österreichs durchgeführt werden, sollte dieses aus verschiedenen Völkern zusammengesetzte und in seiner Art einzige Reich nicht Allen gleiche Gerechtigkeit, sondern Macht und Herrschaft den Einen über die Übrigen bieten wollen, sollten die Slawen wirklich für eine niedrigere Race, und, wie bereits bemerkt wurde, nur für das Regierungsmaterial für zwei andere Völker erklärt werden : dann tritt auch die Natur in ihre Rechte ein und ihr unausbleiblicher Widerstand wird den häuslichen Frieden in Unfrieden, Hoffnung in Verzweiflung umwandeln und Kämpfe und Streitigkeiten hervorrufen, deren Richtung, Umfang und Ende Niemand absehen kann. Der Tag, an dem der Dualismus proklamiert wird, wird zugleich durch unwiderstehliche Naturnotwendigkeit der Geburtstag des Panslawismus in seiner am wenigsten erfreulichen Gestalt werden; als Pathen werden ihm die Väter des Dualismus stehen. Was dann folgen wird, kann sich der Leser selbst vorstellen. Wir Slawen werden dem zwar mit gerechtem Schmerze, aber ohne Furcht entgegensehen. Wir waren vor Österreich da, wir werden es auch nach ihm sein." Der konkrete Ausdruck des Widerstandes gegen die dualistische Umgestaltung der Habsburgermonarchie war die sogenannte passive Opposition, d.h. die Abstinenz vom österreichischen Parlament, dem Reichsrat in Wien, und vom böhmischen und mährischen Landtage. Kurzsichtige Kritiker sahen einen Widerspruch zwischen Palackys Standpunkt im Jahre 1848 und seiner skeptischeren Einstellung in „Österreichs Staatsidee". In Wirklichkeit blieb Palackys Ansicht unverändert. Österreich als eine demokratische Föderation gleichberechtigter Völker blieb auch weiterhin 4

F. PALACKY, Österreichs Staatsidee. - Ursprünglich w u r d e Palackys A b h a n d l u n g in einer Artikelserie vom 9. bis 16. M a i 1865 im Prager Blatte „ N á r o d " veröffentlicht. In demselben J a h r erschien diese A b h a n d l u n g a u c h als selbständige Publikation, der, als Beweis d a f ü r , d a ß es keinen W i d e r s p r u c h zwischen Palackys Ansichten im J a h r e 1848 u n d im J a h r e 1865 gibt, zwei Beilagen zugefügt waren: a) Palackys Schreiben n a c h F r a n k f u r t vom 11. April 1848. b) Palackys Artikel „ Ü b e r die Zentralisation u n d nationale Gleichberechtigung in Ö s t e r r e i c h " , d e r ursprünglich am 21. Dezember 1849 in der Prager Zeitung „ N á r o d n í nov i n y " veröffentlicht w u r d e .

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sein Ideal. Seine Erfahrungen jedoch lehrten ihn, nicht allzu sehr jenen Vertrauen zu schenken, die in der Habsburgermonarchie die wirklichen Machthaber waren. Daher rührte seine wachsende Skepsis gegenüber der österreichischen Monarchie. Palacky legte durch sein Auftreten im Jahre 1848 und in den sechziger Jahren den Grundstein zur modernen böhmischen Politik. Als Ende des Jahrhunderts Masaryk die politische Szene betrat, knüpfte er an dieses Programm Palackys an. Die Situation änderte sich nun jedoch. Schon seit Anfang der sechziger Jahre begann sich innerhalb der bisher einheitlichen böhmischen nationalen Partei ein linker, eher volkstümlicher Flügel zu bilden, für den allmählich der Name „Jungtschechen" geläufig wurde, während die offiziellen Repräsentanten der nationalen Partei den Namen „Alttschechen" erhielten. Die Jungtschechen erwarteten von der Führung der Alttschechen, die nationalen politischen Ziele mit größerer Energie zu verfolgen - ohne opportunistische Rücksichtnahme auf den Adel und die einflußreichen Kreise der katholischen Hierarchie. Zudem forderten sie mehr Verständnis für die aktuellen sozialen Probleme. Im Jahre 1874 wurden die Jungtschechen eine selbständige Organisation, die den Namen „Nationale Freigeistige Partei" annahm. Aber auch als selbständige Partei unterschieden sie sich nicht allzu sehr von den Alttschechen. Anfangs bestand der wesentliche Unterschied darin, daß sieben jungtschechische Abgeordnete als erste in den böhmischen Landtag eintraten. Erst 1879 bildeten Alt- und Jungtschechen einen gemeinsamen Abgeordnetenclub im Reichsrat 5 . Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Regierung der Deutschliberalen in Österreich gerade in einer Krise und wurde schließlich vom konservativen Kabinett des Grafen Taaffe abgelöst. In den letzten zwei Dezennien des 19. Jahrhunderts kam es allmählich zu gravierenden Veränderungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Außenpolitisch erfolgte im Jahre 1878 die Okkupation von Bosnien und Herzegowina, was eine neue Phase der aggressiven Balkanpolitik einleitete. Damit hing auch die Annäherung der ehemaligen Rivalen, nämlich der Habsburgermonarchie und des Bismarckschen Deutschen Reiches, zusammen. Der Zweibund der beiden deutschen Monarchien im Jahre 1879 wurde zum Grundstein der Teilung Europas in feindliche Kriegsblöcke, zwischen denen letzten Endes 1914 der Krieg ausbrach. Auch in den sozialpolitischen Verhältnissen Österreichs machten sich zu jener Zeit wichtige Veränderungen bemerkbar. Die politische Partizipation beschränkte sich nicht mehr nur auf die wohlhabenden und gebildeten Schichten, sondern erstreckte sich mittlerweile auch auf die breiten Volksmassen, die anfingen, sich in modernen Parteien zu organisieren. Die sozialistische Arbeiterbewegung überstand am Ende der 80er Jahre 5

H. G. SKILLING, The Politics of the Czech Eighties, in: The Czech Renascence of the Nineteenth Century. Essays Presented to O. Odlozik in Honour of his Seventieth Birthday. Edit e d b y P. BROCK a n d H . G . SKILLING, T o r o n t o 1970, 2 5 4 - 2 8 1 .

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die kritische Anfangsperiode ihrer Entwicklung. Mit dem Hainfelder Kongreß und dem 1. Mai 1890 begann die Entfaltung der Sozialdemokratie in Österreich. Auf dem Lande formierte sich die Bauernbewegung infolge der ansteigenden Konkurrenz des Auslands. Charakteristisch für die österreichischen Verhältnisse war vor allem das Anwachsen des Nationalismus, der die Spannung zwischen den einzelnen Nationalitäten im Lande hervorrief. Die bedeutendste dieser nationalistischen Strömungen war die Alldeutsche Bewegung Georg Schönerers, die erfüllt war vom Haß gegen alles Nichtdeutsche und vom Antisemitismus. Wie gestaltete sich zu dieser Zeit die Lage der tschechischen Nation? Die Tschechen erlebten gerade eine rasante wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Aus einer rückständigen Masse untertäniger Bauern auf dem Lande, armer Händler und Handwerker in den Städten sowie einer kleinen Gruppe begeisterter und zugleich skeptischer Intellektueller verwandelten sich die Tschechen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ein selbstbewußtes, modernes Volk. Die nächsten Jahrzehnte bedeuten einen Zeitabschnitt großer ökonomischer, sozialer sowie kultureller Fortschritte. Der deutsche Konsul in Prag hat in einem Bericht aus dem Jahre 1899 die volkswirtschaftliche Entwicklung der Tschechen in den zurückliegenden Jahrzehnten folgendermaßen beurteilt: „Das Königreich Böhmen ist ein reiches, von der Natur gesegnetes Land. Seine Staatsabgaben gegenüber den meisten übrigen der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder sind im Vergleiche zu seinen Staatsausgaben bedeutend größere und die Bezeichnung Böhmens als ,Juwel' in der Krone Österreichs ist daher allein von diesem Standpunkte aus betrachtet nur angemessen." Dieser gesegnete Zustand wird jedoch durch nationale Zwistigkeiten zwischen den beiden Nationalitäten, die die böhmischen Länder bewohnen, bedroht. „Diese Zwistigkeiten", schreibt der deutsche Konsul weiter, „waren im Königreiche Böhmen längst vorhanden, acut wurden sie aber erst unter der Regierung Taaffe, die den Slawen, namentlich aber den Tschechoslawen, ihre besondere Gunst zuzuwenden begann. Die Errichtung einer tschechischen Universität in Prag und Abhaltung der LandesJubiläums-Ausstellung im Jahre 1891 haben das bisher innerlich gedrückte Selbstbewußtsein der Tschechen bis zur Überhebung gehoben. Namentlich war es die letzte Ausstellung, welche für die wirtschaftliche Entwicklung im ganzen Lande von großer Bedeutung und Tragweite war und darf diese Ausstellung mit Recht auch als der erste Anfang einer nationalen wirtschaftlichen Separierung beider Volksstämme in Böhmen bezeichnet werden. Dadurch, daß die von den Deutschen mitinaugurirte, später jedoch von den Tschechen bloß für sich in Anspruch genommene Ausstellung mit Hilfe einer Deutschen Regierung und unter Gönnerschaft eines damals sich deutsch gerührenden Statthalters, des jetzigen Minister-

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Präsidenten Grafen Franz Thun, Erfolg hatte, stieg das wirtschaftliche Bewußtsein der Tschechen zu einer solchen Höhe, die es erklärlich macht, daß das seitherige Losungswort: ,Svoje k svému' (!), d.h. los von allem Deutschen practisch in die That umgesetzt wurde. Von diesem Zeitpunkte an zeigt sich eine ungewohnte Rührigkeit unter den Tschechen, Handel und Wandel zu tschechisieren ; es wurden nicht nur Orts- und Straßennamen tschechisch unübersetzbar gemacht, sondern es wurde zu gleicher Zeit versucht auf allen Gebieten den bisher fast ausschließlich in Deutschen Händen befindlichen Handel an sich zu reißen. Bei der Rührigkeit, bei dem Organisationstalent, bei der willensstarken Verbissenheit gegenüber allem Deutschen, bei der Ausdauer, wenn es materiellen und zugleich nationalen Gewinn anbetrifft, haben die Tschechen unzweifelhaft, trotz vielfacher dem Deutschen gegenüber geringerer Erfahrung, Kenntnis und Übung so manches Angestrebte erreicht. Sie haben dies um so leichter gekonnt, als die Regierungen in ständiger Aufeinanderfolge sich allen tschechischen Wünschen aus Majoritäts-Gründen im Parlament stets willfährig erwiesen haben. So haben sie im Bankwesen viele Gründungen zu verzeichnen, in der Errichtung von Tuchfabriken und eines tschechischen Hopfenhandels sich auf eigene Füße zu stellen versucht; viele Maschinenfabriken und Elektricitätswerke prosperieren in tschechischer Hand, viele Local- und electrische Bahnen wurden und werden fortwährend unter tschechischer Verwaltung errichtet, und Deutsche Unternehmer werden nur ganz ausnahmsweise von den Tschechen zur Ausführung solcher Arbeiten herangezogen." 6 So sah also der deutsche Konsul in Prag im letzten Jahr des vorigen Jahrhunderts die tschechische ökonomische Entwicklung. Der Konsul überschätzte jedoch die Bedeutung der Gunst der Taaffeschen Regierung, der österreichischen Verwaltung und der Politiker im allgemeinen hinsichtlich ihres Beitrages zur Entwicklung der tschechischen Gesellschaft. Angemessener war meiner Meinung nach die Einschätzung Ludwig Langs, der als führende Persönlichkeit der ungarischen liberalen Partei und als Vizepräsident des ungarischen Abgeordnetenhauses ungefähr zu dieser Zeit schrieb: „Es besteht kein Zweifel, daß während der Regierung des Grafen Taaffe die Slawen in den Vordergrund und die Deutschen in den Hintergrund traten; aber ebensowenig zweifellos ist, daß die Verantwortung dafür nicht der Graf Taaffe trägt. Wir haben es hier nicht mit der Sympathie oder Antipathie der einzelnen Regierungen zu tun, sondern mit der Wirkung einer allmählichen, aber unaufhaltbaren Wirkung tiefer ethnographischer und wirtschaftlicher, moralischer und gesellschaftlicher Faktoren. Die Herrschaft der Deutschen in Österreich hatte vor allem in 6

Anlage zu Bericht des Kaiserlichen Deutschen Konsulats in Prag, Nr. 1613 vom 14. Juli 1899, vom Wiener Botschafter am 24. Juli 1899 dem Reichskanzler nach Berlin abgeschickt ' (Politisches Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Fond Österreich, Bd. 9, A 8944, 1899).

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dem Willen des Kaisers und in der absolutistischen Tradition ihre Grundlage. In dem Maße, in welchem sich diese Traditionen abschwächten, mußte es zur Erschütterung der Hegemonie der Deutschen kommen, auch im Falle, daß die Deutschen nicht so viele politische Fehler begangen hätten, die sich letzten Endes gegen sie selbst wendeten." 7 Im tschechischen Milieu wuchs jedenfalls in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in den breiten Schichten der Bauern und der Kleinbürger die Popularität der Jungtschechen, während der Einfluß der Alttschechen abnahm und schließlich zu Beginn der 90er Jahre gänzlich endete. Bei den Reichsratswahlen im Jahre 1891 fielen sämtliche alttschechischen Kandidaten durch; an deren Stelle wurden ausnahmslos Jungtschechen gewählt 8 . Die Tatsache, daß eine der beiden tschechischen Parteien die politische Szene verließ und der gesamte Einfluß sich bei den bisher oppositionellen Jungtschechen konzentrierte, hatte bedeutende Folgen. Der Aufstieg der Jungtschechen bedeutete allerdings nicht in erster Linie das Anwachsen der Macht ihrer ursprünglichen Parteiführer. Denn viele beliebte jungtschechische Journalisten und „Volkstribunen", die bisher durch ihre scharfe Kritik des alttschechischen Konservativismus und Opportunismus berühmt geworden waren, kamen nun, nach dem fast absoluten Sieg ihrer Partei, kaum mehr zur Geltung. Vielmehr betrat eine ganz neue Generation politischer Führer die Szenerie. Zunächst sind hier drei sogenannte Realisten zu nennen: zwei Professoren der Prager tschechischen Universität, nämlich Josef Kaizl, Professor der Volkswirtschaft, und T. G. Masaryk, Professor der Philosophie, und als dritter schließlich der junge Publizist Dr. Karel Kramár 9 . Während Kaizl und nach ihm Kramár schon sehr bald zu profilierten Persönlichkeiten innerhalb der jungtschechischen Partei aufstiegen, verzichtete Masaryk schon 1893 auf das Abgeordnetenmandat und verließ kurze Zeit später die jungtschechische Partei. Im Jahre 1895 eröffnete er mit seinem Buch „Die böhmische Frage" eine Serie von rasch aufeinanderfolgenden Studien über das tschechische politische Programm 10 . Masaryk erneuerte in diesen Schriften Palackys Vor7

Zitiert nach K. KRAMÁS, Rezension von L. LANG, Die Nationalitäten in Ungarn und Österreich, Budapest 1898, in: Ceská revue, Jg. I, Prag 1897-1898, 1083 ff. Grundlegend für die Entwicklung der Jungtschechischen Partei: B. M. GARVER, The Young Czech Party 1874-1901 and the Emergence of a Multi-Party System, New Haven-London 1978. ' S. B. WINTERS, Kramár, Kaizl and the Hegemony of the Young Czech Party, 1891-1901, in: The Czech Renascence (Anm. 5), 282-314. 10 Neben der „Böhmischen Frage" handelt es sich besonders um folgende Publikationen von T. G. MASARYK: Unsere gegenwärtige Krise, 1895; Jan Hus, 1896; Karel Havlièek, 1896; Palackys Idee der böhmischen Nation, 1898; Die Ideale der Humanität, 1901. Über T. G. Masaryk wurden in der letzten Zeit folgende Publikationen veröffentlicht: J. OPAT, Filozof a Politik T. G. Masaryk 1882-1893, Praha 1990. - E. SCHMIDT-HARTMANN, Thomas G. Masaryk's Realism (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 52), München 1984. - R. J. HOFFMANN, T. G. Masaryk und die tschechische Frage. Bd. 1. Nationale Ideologie und politische Tätigkeit bis zum Scheitern des deutsch-tschechischen Ausgleichsversuchs vom Februar 1909 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 58), München 1988. - T. G. Ma8

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Stellungen, entwickelte sie weiter und ergänzte sie. Zwar lehnte er die Theorie vom böhmischen Staatsrecht nicht ausdrücklich ab, setzte sich aber ausgesprochen kritisch mit ihr auseinander: „Das historische Recht wurde und wird durch die moderne Nationalität bekräftigt. Je mehr wir uns sprachlich und national entwickelt haben, je größere Fortschritte wir in der Entwicklung unserer nationalen Kultur gemacht haben, desto stärker wurden wir politisch, und verschiedene ,alte Pergamente' gewannen dadurch auch einen höheren Wert. Die Nationalität ist in der neuen Zeit die eigentliche politische Treibkraft, nicht das historische Recht." Masaryk stand damit in ausdrücklicher Opposition zu der konservativen und einseitig nationalistischen Interpretation des Staatsrechts, blieb dabei aber nicht stehen, sondern erweiterte seine Argumentation noch durch die Betonung der sozio-ökonomischen Faktoren: „Palacky hat das Wesen unserer neuzeitlichen Entwicklung gut erfaßt, und deshalb betonte er mehr die moderne nationale Idee als das historische Recht. Palacky begriff auch bald die wirtschaftliche und soziale Bedeutung jener ,Weltzentralisation', er begriff die politische Bedeutung der ökonomischen Macht und Fähigkeit. Er propagierte zwar nicht den historischen Materialismus, aber er begriff, was für eine Treibkraft die Industrie und die modernen Kommunikationsmittel sind." 11 Noch weitaus bedeutender war es, daß Masaryk seine Aufmerksamkeit der bis dahin vernachlässigten sozialen Seite des tschechischen nationalen Programms widmete. Auf Grund dieser Aufgeschlossenheit für den sozialen Aspekt der Probleme konnte er sich besser als andere tschechische Politiker in der damaligen politischen Situation orientieren, besser das Entstehen neuer tschechischer politischer Parteien bewerten, vor allem aber ein besseres Verhältnis zur Sozialdemokratie erlangen und die sozialistische Arbeiterbewegung in den einheitlichen Entwicklungsstrom der nationalen Gesellschaft einreihen 12 . Ebenso wie zu Palackys Zeiten war für die tschechische Politik auch unter Masaryk die Beziehung zu den deutschen Mitbürgern das Grundproblem. Charakteristisch für Masaryks diesbezügliche Haltung ist folgende, aus dem Jahre 1896 stammende Äußerung: „Erstens erkläre ich, daß ich überhaupt auf keinem nationalen Standpunkte stehe und daher auch nicht in der Frage unseres Verhältnisses zu den Deutschen. Ich stehe auf unserem böhmischen Humanitätsprogramme." Dann formulierte Masaryk das Fortsetzung Fußnote von Seite 216 saryk (1850-1937), Volume 1. Thinker and Politician, ed. by S. Β. WINTERS; Volume 2. Thinker and Critic, ed. by R. B. PYNSET; Volume 3. Statesman and Cultural Force, ed. by H. HANAK, London 1889-1890. " T. G. MASARYK, Právo prirozené a historieké [Das Natur- und historische Recht], Prag 1900, 27 f. 12 Z. SOLLE, Masaryk a nëmeckà sociálni demokracie [Masaryk und die deutsche Sozialdemokratie], in: Rozum a vira. Κ problematice mySlení a púsobení T. G. Masaryka, hg. vom Philosophischen Institut der t S A V , Prag 1991, 73-81.

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Problem gemeinsamer Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in Österreich konkreter: „Der Friede zwischen uns und den Deutschen, ein dauernder Friede ist auf dem Programme des politischen Nationalismus nicht möglich. Der heutige Nationalismus ist ein Aberglaube und Fanatismus; wer in der Sprache einen Abgott sieht, der wird im Namen dieses seines Abgottes jene zu erdrücken trachten, die einen anderen Abgott haben. Der Friede zwischen uns und den Deutschen oder, besser gesagt, eine positive und gemeinsame, kulturelle und politische Zusammenarbeit ist aber möglich, wenn wir als sogenanntes formales Princip die Freiheit und als sogenanntes materielles Princip die soziale Gerechtigkeit anerkennen. Diese Principien anzuerkennen, bedeutet aber, nach ihnen handeln, mag der politische Gegner so oder anders handeln. Wenn also wir Böhmen uns ganz aufrichtig und um jeden Preis auf die Seite der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit stellen, so ist schon viel gewonnen. Vice versa gilt dasselbe von den Deutschen. Wer von uns beiden früher und aufrichtiger den Anfang macht, der bereitet für den Frieden den dauernden Untergrund." Da in den böhmischen Ländern die Sprachenfrage eine bedeutende Rolle spielte, kam Masaryk in seiner Erklärung auch auf dieses Problem zu sprechen: „In den böhmischen Ländern sind alle drei Landessprachen (Tschechisch, Deutsch sowie das Polnische in Schlesien) Amtssprachen. Die Amtssprache der Behörden richtet sich nach der Sprache der Majorität der Bevölkerung, der die Behörde dient. Die Behörden korrespondieren miteinander in ihrer Sprache. Die Zentralbehörden korrespondieren mit anderen Behörden und Korporationen in der Sprache dieser Behörden und Korporationen. Die Zentralbehörden sind utraquistisch; gegebenenfalls kann einzelnen Personen ein Sprachdispens erteilt werden. Bei der Arbeitsteilung kann natürlich in den einzelnen Abteilungen auf die Sprachkenntnis Rücksicht genommen werden. Zu den Ämtern erster Instanz werden einsprachige Beamte zugelassen. Die nationalen Minoritäten werden durch ein besonderes Nationalitätengesetz geschützt, das auf dem Principe der Gleichberechtigung beruht; der einigermaßen unbestimmte Begriff : Gleichberechtigung bedeutet nicht nur die gleiche Stellung beider Sprachen in Schule und Amt, sondern auch den Schutz der Minoritäten vor Majorisierung." In der Stellungnahme aus dem Jahr 1896 formulierte Masaryk auch die politischen und sozialen Voraussetzungen und Folgen eines tragfähigen Kompromisses zwischen Tschechen und Deutschen in Österreich: „Einen dauernden Frieden zwischen uns Böhmen und Deutschen halte ich für unmöglich, wenn die jetzige Verfassung nicht geregelt wird. Soll das Nationalitätsprincip politisch mit Nutzen angewendet werden, so muß es dem Sozialprincip untergeordnet werden - eine ernste Versöhnung der Böhmen mit den Deutschen bedeutet die Sozialisierung der Politik aller unserer Parteien, unserer Verwaltung und aller politischen Einrichtungen. Die

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fortgeschrittene kapitalistische Unternehmerschaft, der damit zusammenhängende Zustand des Kleingewerbes und der Agrikultur, die Existenz einer zahlreichen und aufgeklärten Arbeiterschaft, das alles fordert in den böhmischen Ländern zur sozialen Politik geradezu auf. Die böhmische Frage, die böhmisch-deutsche Frage ist in meinen Augen in erster Linie eine soziale Frage, die Klärung der sprachlichen und staatsrechtlichen Probleme soll eben dem sozialen Fortschritte dienen." In diesem Zusammenhang äußerte sich Masaryk auch über seinen Standpunkt zur Frage des böhmischen Staatsrechtes: „Ein dauernder Friede zwischen uns Tschechen und Deutschen setzt die Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses zwischen der böhmischen Krone und dem Reiche voraus. Das böhmische Staatsrecht ist keine Formalität, kein Trödel - es existiert. Das bestreitet eigentlich, so weit ich sehe, keiner von seinen Gegnern, der Ehrlichkeit und politische Bildung besitzt... Die politische Selbständigkeit und Suverenität (sie!) mußte in neuerer Zeit auch staatswissenschaftlich ganz anders bestimmt werden, als es in älterer Zeit geschah ... Ein selbständiger böhmischer Staat nach dem absolutistischen und absolutistisch-zentralistischen Begriffe ist nicht möglich, aber die Selbständigkeit der böhmischen Länder nach dem modernen Begriffe der Autonomie und Föderation ist möglich. Und nicht nur möglich, auch nothwendig und geradeso nothwendig für die böhmischen Länder wie für ganz Österreich. Das böhmische staatsrechtliche Programm bedeutet für uns keinen politischen Krähwinkel. Wenn man das anerkennt, dann werden wohl auch unsere politischen Parteien anerkennen, daß der organisierende Zentralismus nicht der veraltete Absolutismus, sondern die Konzentration aller Kräfte für die Ziele einer großen Weltpolitik ist. Weltpolitik bedeutet aber nicht nur die auswärtige Politik, sondern zuvörderst eine wirksame Politik im Innern. Weltpolitik ohne selbstbewußte, gebildete und sittliche Völker ist ephemeres, kosmopolitisches Spiel - nichts anderes. Weltpolitik macht man nicht für eine Woche, sondern für die lange Zukunft." „Wir sind auch nicht so naiv zu glauben", schrieb Masaryk weiter in seinem Programmartikel, „daß sich ein selbständiger böhmischer Staat neben Deutschland erhalten könnte, wenn seine deutsche Bevölkerung längere Zeit hindurch sich unzufrieden fühlte. In den böhmischen Ländern leben circa 9 Mill. Einwohner und von diesen machen die Deutschen etwas mehr als ein Drittel aus; ich denke es wird auch der größte nationale Chauvinist nicht glauben, daß wir die deutsche Bevölkerung vergewaltigen wollten." Masaryk dagegen glaubte: „Ein kräftiges nationales Bewußtsein wird uns an unserem Einverständnis keineswegs hindern. Im Gegenteil, national bewußte Tschechen, national bewußte Deutsche trachten nach einem solchen Einverständnis, und nur diese werden dafür die Formel finden, weil ihnen das nationale, vom Staate respektierte Bewusstsein ganz selbstverständlich ist - nur auf solche Weise lässt sich das nationale

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Princip in Österreich überwinden und positiv benützen, sonst bleibt es nur ein Mittel, das heute gegen den, morgen gegen jenen dienen muß. Daß besonders wir Tschechen und Deutsche nicht begreifen sollten, wem wir mit unserem nationalen Zwiste dienen? Duobus litigantibus tertii gaudent, und dieser tertii haben wir, denke ich, beide gerade - genug." 13 In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand also die erste Variante von Masaryks böhmischem Programm, die wir am ehesten als die österreichische bezeichnen können. Die österreichische Monarchie biete nach Masaryks damaliger Ansicht genügend Raum zur Entfaltung aller nationalen Kräfte des tschechischen Volkes. Es sei jedoch notwendig, Österreich im Geiste der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und des Verständnisses für alle seine Nationen zu reformieren. Die grundlegende Voraussetzung einer solchen Reform sei die Übereinstimmung beider Völker, die die böhmischen Länder bewohnen - der Tschechen und der Deutschen. Österreich, auf dieser Grundlage modernisiert und befestigt, sei ein geräumiger und günstiger Wall des sozialen Fortschritts und der politischen Freiheit für die kleinen Nationen Mittel- und Südosteuropas. Offensichtlich war diese erste österreichische Variante des böhmischen Programms Masaryks im Grunde eine Applikation des ursprünglichen Programms von Palacky auf die modernen mitteleuropäischen Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts 14 . Masaryk gab dies auch offen zu: „Ich behauptete in der ,Böhmischen Frage', und ich wiederhole es, daß Palackys Programm bis jetzt richtig ist, ich meine sein staatsrechtliches Programm, wie er es im J. 1865 formulierte ... Ich akzeptiere dieses Programm ohne jegliche Vorsätze oder Einschränkungen. Nicht nur deswegen, daß ich nicht Landkarten zeichnen kann, sondern deshalb, weil ich ziemlich fleißig Geschichte studiert habe, aus welcher ich Folgendes gelernt habe : Falls Österreich in einer europäischen Konflagration besiegt und zerschlagen würde, würden wir Deutschland, mit welchem wir schon tausend Jahre Beziehungen haben, zufallen. Jedermann kann sich vorstellen, was das bedeuten würde ..." l s . Die für den Erfolg dieses Programms unverzichtbaren Voraussetzungen waren jedoch nicht gegeben. Denn die österreichischen Regierungskreise, die Bürokratie, der Hof, die Führer der einflußreichsten politischen Parteien und Strömungen waren nicht gewillt, Österreich im Geiste der Demokratie und der positiven Mitarbeit gleichberechtigter kleiner Völker zu reformieren. Die herrschenden Kräfte, die innerlich demoralisiert und gelähmt waren, verbanden das Schicksal des Habsburgerreiches mit dem 13

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Aus Masaryks Antwort in der Enquête über den Ausgleich d e r Tschechen u n d Deutschen in Österreich, veröffentlicht in: Rozhledy sociální, politické a literárni, Prag 1896, 418-425. Wir zitieren aus der deutschen Übersetzung dieser Antwort M a s a r y k s „ Z u r deutsch-böhmischen Ausgleichsfrage" i n : Die Zeit, Jg. VII, Nr. 82, 51-54, Wien, 25. April 1896. Z. SOLLE, O smyslu n o v o d o b é h o í e s k é h o politického p r o g r a m u , in: Cesky òasopis historicky 18 (1970), 1-22. T. G . MASARYK, Naáe nynéjsí krise [Unsere gegenwärtige Krise], Prag 2 1936, 297.

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Schicksal Deutschlands, das damals die mächtigste Großmacht in Europa war. Diese einseitige Verbindung Österreichs mit dem imperialistischen Deutschland bestärkte natürlich den extremen großdeutschen Chauvinismus, den die österreichischen und vor allem die böhmischen Deutschen niemals überwunden hatten. Dadurch wurde jedwede Möglichkeit einer Verbindung von Deutschen und Tschechen in Böhmen zunichtegemacht. Die österreichische Monarchie wurde als Staatsgebilde immer deutschnationaler, und dies obwohl es in vielfältiger Weise von Deutschland abhängig und damit eine zweitklassige Macht war. Hand in Hand mit den unglückseligen innenpolitischen Folgen machten sich die schädlichen Konsequenzen auch in der Außenpolitik bemerkbar. Österreich als das verlängerte Werkzeug des deutschen Imperialismus agierte vor allem auf dem Balkan in einer Weise, durch die der Ausbruch eines Krieges des öfteren in bedrohlicher Nähe war. Masaryk war bemüht, sich dieser katastrophalen Entwicklung Österreichs entgegenzustellen. Noch 1911 kämpfte er scharf in der Presse und im Parlament gegen die unglückselige österreichische Außenpolitik, die einen Konflikt mit den Südslawen geradezu provozierte. Die Würde der Habsburgischen Monarchie zu verteidigen, sei das eigentliche Motiv für sein Auftreten gegen die österreichische Außenpolitik gewesen. Diese hätte nämlich schon so viele Fehler angehäuft, daß es, wie er sagte, „sein Herz, das Herz eines bewährten Dieners der Monarchie, erschütterte." 16 Nach drei Jahren, im Juli 1914, führte die vom deutschen Imperialismus gestützte, aggressive Verhaltensweise Österreich-Ungarns Serbien gegenüber zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Masaryk hielt an seinem Programm des Kampfes für die Ideale der Humanität, der Demokratie und des Friedens zwischen den Völkern, insbesondere an seinem Programm der positiven Zusammenarbeit und Koexistenz der kleinen Völker in Mittel- und Südosteuropa weiterhin fest. Er erkannte jedoch, daß er diese seine Idee nicht mit Hilfe von Österreich und in Österreich realisieren konnte und daß das mittlerweile von Deutschland völlig abhängige Österreich sogar das größte Hindernis für die Verwirklichung seines Programms war. Von dieser Überzeugung ausgehend, trat er nun seinen kompromißlosen Kampf gegen Österreich an. 16

In seiner Rede in den österreichischen Delegationen am 22. Februar 1911, in der er Minister Aehrentals Balkanpolitik kritisierte, führte Masaryk über die Motive dieses seines Auftritts folgendes an: „Graf Aerenthal erlaubte sich einige Male die Motive meines Auftritts zu verdächtigen. Darüber, weshalb ich derart auftrat, äusserte sich Novoje Vremja, dessen Redakteur vor nicht langer Zeit Gr. Aerenthal die Ziele seiner Politik erläuterte. In Novoje Vremja stand, daß ich zur Verteidigung der Staatswürde der Habsburgermonarchie auftrat; daß der Agramer Prozeß, die Friedjungs- und endlich die Vasii-Affäre so viel Unrichtigkeit in der Handlung der österreichisch-ungarischen Diplomatie aufwies, daß angeblich mein Herz, als das eines bewährten Dieners der Monarchie erschüttert war. Zuletzt führte das russische Blatt an, es müßte sich eigentlich freuen, sollte meine Bemühung fehlschlagender. G. MASARYK, Rakouská zahraniíni politika a diplomacie. [Österreichische auswärtige Politik und Diplomatie], Prag 1911, 76.)

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Masaryk erlebte nun, wie v o r ihm schon Palacky, die traditionelle Entwicklung der tschechischen Politik. Seine politische Karriere hatte er in den 90er Jahren begonnen, überzeugt v o n der Möglichkeit einer inneren R e f o r m Österreichs zu einer demokratischen Föderation gleichberechtigter mitteleuropäischer Nationen. Der hartnäckige Widerstand der habsburgischen Monarchie, der österreichischen Bürokratie, der einflußreichen, aber matten Aristokratie, besonders jedoch der allmächtige Einfluß der Deutschen in Österreich, die von der Macht des imperialistischen Deutschen Reiches gestützt und von reaktionären pangermanischen Ideen durchdrungen waren, bewogen ihn jedoch dazu, die ursprüngliche österreichische Variante seines Programms des harmonischen Zusammenlebens kleiner mitteleuropäischer Völker aufzugeben, um diese Idee in F o r m selbständiger Nationalstaaten, vor allem der tschechoslowakischen Republik, zu realisieren 17 . Sicher trennte sich Masaryk von seiner Idee der R e f o r m Österreichs nicht leichten Herzens, doch sah er keine Alternative zu diesem Schritt. Im Laufe des Krieges einigten sich schließlich alle Staaten der Entente und die U S A darauf, die von Deutschland ausgehende Gefahr einzudämmen. Ein markanter Faktor dieser Gefahr war die Beherrschung der habsburgischen Monarchie durch die großdeutsch orientierten Deutschen in Österreich und in den böhmischen Ländern. In diesem Sinn ist es zu betonen, daß nicht Masaryk und die Tschechen Österreich zerstört haben, sondern die pangermanisch orientierten Deutschen ; weiterhin ist zu betonen, daß, im Gegensatz zu den nationaltschechischen Anhängern eines staatsrechtlichen Radikalismus, die Tschechoslowakei für Masaryk nicht das einzige und endgültige Ziel seines Strebens sein konnte. Masaryk hätte bestimmt seine politischen Absichten lieber im großen Rahmen des alten Österreich realisiert. Die Tschechoslowakei war für ihn nur eine Notlösung, eine Art Österreich im kleinen. Deshalb bemühte sich Masaryk noch während seines Aufenthalts in A m e rika, aus den neu entstehenden nationalen Staaten die „ M i d - E u r o p e a n U n i o n " zu bilden, die jedoch wegen der Zwistigkeiten unter den kleinen Völkern nur ein totgeborenes K i n d blieb 18 . Bereits am A n f a n g seiner politischen Karriere in den 90er Jahren sagte Masaryk, die böhmische Frage solle als Europa- und Weltfrage verstanden werden. Nun, inmitten des Streits um die neue Weltordnung der Menschheit, proklamierte Masaryk sein neues Europaprogramm, das gekennzeichnet war von den Idealen der Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und des Völkerfriedens. Es handelte sich nicht mehr nur um Österreich. D i e ganze Zone kleiner Nationen v o m Baltischen zum Ägäi" 18

Z. SOLLE, Masaryk's Voyage to the New Europe, in: Czechoslovak and Central European Journal 10/2 (1991), 56-67. J. KOVTUN, Masarykùv triumf [Masaryks Triumph], Toronto 1987, 493-496, 551-556, 617621.

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sehen Meer mußte von der Vorherrschaft halbfeudaler multinationaler Großmächte befreit werden. Das Bestehen souveräner demokratischer Staaten kleiner Völker in Mittel- und Südosteuropa ist die Voraussetzung einer dauernden und friedlichen Zusammenarbeit der Völker in diesem Raum und einer wirtschaftlichen und kulturellen Integration Europas im allgemeinen auf der Grundlage der Demokratie und des Friedens. Das war der eigentliche Gegenstand des Weltstreits zwischen dem Lager der Entente und dem der Mittelmächte. Darin bestand die Berechtigung der Entente, den Kampf bis zum siegreichen Ende zu führen. Die Forderung nach politischer Emanzipation der kleinen Völker stand für Masaryk nicht im Gegensatz zur grundsätzlichen Tendenz der modernen Zeit, die zur Integration Europas, ja, der ganzen Welt führt. „Wenn sich kleinere und kleine Staaten", meinte Masaryk zu diesem Thema, „selbständig machen, so widerspricht das keineswegs der Tendenz der Entwicklung, die auf die Festigung einer immer engeren und innigeren zwischenstaatlichen und internationalen Verbindung gerichtet ist; es ist wahr, die Individuen und Völker haben geradezu das Bedürfnis, sich untereinander zu verbinden, und die Geschichte steuert der Organisation der gesamten Menschheit zu. Diese historische Entwicklung stellt aber einen Doppelprozeß dar; parallel zu der auf allen Gebieten feststellbaren Individualisation setzt sich auch die Organisation der Individuen durch. Politisch ausgedrückt: Es entwickelt sich die Autonomie und Selbstverwaltung der Individuen, Klassen, Nationen und gleichzeitig verbinden, organisieren, zentralisieren sich die Individuen, Klassen, Nationen immer stärker. Dieser Prozeß geht innerhalb der Nationen vor sich, aber auch in den Beziehungen von Volk zu Volk, die immer enger werden. Europa neigt entschieden einer den ganzen Kontinent umspannenden Organisation zu. Das Nationalitätsprinzip hat gleichzeitig mit dem Internationalitätsprinzip Geltung. In dem Maße, als sich die europäischen Völker individualisieren, bemühen sie sich auch um einen wirtschaftlichen bzw. verkehrstechnischen Zusammenschluß und nähern sich überhaupt einander, soweit die technische Kultur in Betracht kommt; aber die Individualisation und die Zentralisation werden auch geistig durch Austausch der Ideen und der gesamten Kultur vertieft, insbesondere durch die Kenntnis fremder Sprachen, aber auch durch Übersetzungen fremdsprachlicher Werke. Europa, die Menschheit werden immer mehr zu einer Einheit. Zwischen der Nationalität und der Internationalität besteht kein Widerspruch, sondern vielmehr Übereinstimmung; die Nationen sind die natürlichen Organe der Menschheit. Die Menschheit ist nichts Übernationales, sie ist die Organisation der einzelnen Nationen. Wenn sich also die einzelnen Nationen um ihre Selbständigkeit bemühen und die Staaten zu sprengen trachten, in denen sie bisher gelebt haben, so ist das kein Kampf ge-

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gen die Internationalität und die Menschheit, sondern ein Kampf gegen die Unterdrücker, die die Staaten zur Nivellierung und zur Schaffung politischer Einförmigkeit mißbraucht haben. Die Menschheit strebt aber nicht der Einförmigkeit, sondern der Einheit zu, und gerade die Selbständigkeit der Nationen wird die organische Assoziation, die organische Föderation der Völker Europas und der ganzen Menschheit möglich machen." 19 Die Emanzipation der kleinen Völker in Mittel- und Südosteuropa war die notwendige Voraussetzung für das Entstehen eines vereinten Europa. Daß zwischen dem Interesse einzelner Nationen und dem der internationalen Gemeinschaft kein Widerspruch, sondern Einvernehmen besteht, brachte Masaryk in der Schrift „Das Neue Europa" deutlicher zum Ausdruck als irgendeiner der Sozialisten. Masaryks Kriegsprogramm des „Neuen Europa" ist nicht Ausdruck rassistischer, antideutscher Hysterie aus dem Geiste des tschechischen Chauvinismus oder Panslawismus. Die Überwindung des gefährlichen und inhumanen Pangermanismus sei eine Notwendigkeit, könne aber nur durch Krieg verwirklicht werden. Nach dem Sieg müsse jedoch auch den Deutschen, Österreichern und Magyaren ein gerechter Platz in Europa gesichert werden. Man sollte endlich den circulus vitiosus der Rache und des gegenseitigen Mißtrauens zwischen den Völkern durchbrechen. Es handele sich nicht darum, eine Unterdrückung durch eine neue zu ersetzen, Ziel sei vielmehr eine Harmonie internationaler Interessen. Masaryk drückte es mit dem biblischen Vergleich aus, den er bereits in seiner Habilitationsschrift über Selbstmord im Jahre 1881 benützte: „Auch die Demokratie hofft und stellt sich das Ziel, eine Schafherde und einen Hirten zu schaffen." Doch das Symbol dieses Hirten soll kein Repräsentant der Eroberung und des Imperialismus - Caesar, sondern ein Repräsentant der Brüderlichkeit der Völker und der Liebe der Menschen untereinander Jesus sein! Das ist der eigentliche Sinn der zweiten Variante von Masaryks böhmischem Programm, die er inmitten des Krieges und der Revolution in seiner Schrift „Das Neue Europa" konzipierte. Man kann sagen, daß der antiösterreichische Revolutionär Masaryk aus dem Krieg zurückkam, um sein Ideal der Demokratie, des Humanismus, der sozialen Gerechtigkeit, der nationalen Gleichberechtigung und der internationalen friedlichen Zusammenarbeit auf dem kleinen Territorium der Republik, deren Präsident er wurde, zu verwirklichen. Es handelte " T. G. MASARYK, Das neue Europa. Der slawische Standpunkt. Autorisierte Übertragung aus dem Tschechischen von E. SAUDEK, Berlin 1922, 47 f. Zum ersten Mal war dieses Programmwerk Masaryks in Fortsetzungen in der Zeitschrift tschechoslowakischer Legionäre in Rußland „Ceskoslovensky denik" im Frühjahr 1918 veröffentlicht. Vollständig erschien es dann in Englisch und Französisch im Herbst 1918 als Privatdruck, um in Regierungsund Diplomatenkreisen verbreitet zu werden. Tschechisch erschien es in Buchform unter dem Titel: Nová Evropa. Stanovisko slovanské. Napsal T. G. Masaryk. Nàkladem Gustava Dubského. V Praze 1920.

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sich um sein ehemaliges tschechisches Programm, das von Palacky ausging, sich aber im Rahmen der österreichischen Monarchie nicht realisieren ließ. Der neugegründete Staat hatte jedoch seine ernsten Probleme. Wesentlich und unsagbar kompliziert war die Frage der Beziehungen zu den Deutschen. Die generelle Linie in dieser Angelegenheit wurde von Masaryk in seinem Brief an Benes vom 31. Oktober 1918 formuliert 20 . Vor allem betonte er den prinzipiellen, absoluten Bruch mit den Habsburgern und mit dem aristokratischen System, das die Verantwortung für die frevelhafte Verwüstung der vorangegangenen vier Jahre trüge. Deutschland gegenüber wolle er zwar selbstbewußt auftreten, aber durchaus Verhandlungs- und Gesprächsbereitschaft signalisieren. Den böhmischen Deutschen gegenüber müsse man vom historischen Recht ausgehen und damit von der Einheit der Länder der böhmischen Krone, also Böhmens, Mährens und österreichisch Schlesiens. Den 3 Millionen Deutschböhmen stünden zwar 10 Millionen Tschechoslo waken gegenüber, doch wäre dies immer noch besser, als wenn Deutschland das ganze ehemalige habsburgische Österreich beherrschte. Diese Gedanken modifizierte dann Masaryk in einer Reihe weiterer Briefe. Gleich am 3. November wiederholte er, daß die Reichsdeutschen natürlich die verräterischen Habsburger und die Österreicher hassen würden, aber auch die Deutschen in den böhmischen Ländern seien in Deutschland nicht populär, da sie durch ihre unkluge Politik Schuld am Krieg trügen. Deshalb sei es notwendig, Deutschland gegenüber fest, aber aufmerksam und korrekt aufzutreten. Vier Tage später kehrte Masaryk wiederum zu diesem Problem zurück. Er betonte die Notwendigkeit, die historisch-rechtlichen Realitäten zu respektieren. Die Tschechoslowakei werde keine territorialen Ansprüche in bezug auf das Gebiet stellen, das von den slawischen Lausitzer Sorben bewohnt ist, ebenso werde Deutschland nicht das von Deutschen bewohnte historische Territorium der böhmischen Länder beanspruchen. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, daß die böhmischen Deutschen sowie die Deutschen in der ehemaligen Habsburgermonarchie als solche politisch unfähig und die Pangermanisten unter ihnen die radikalsten gewesen wären. Wie reagierten nun die Deutschen in Österreich und die Deutschen in den böhmischen Ländern auf die Entstehung der Tschechoslowakei? Die weitreichenden Germanisierungspläne, die von Seiten der Mittelmächte für den Fall eines siegreichen Kriegsendes vorbereitet waren - man denke ζ. B. an das sogenannte Osterprogramm der deutsch-österreichischen Poli20

Unsere angeführte Abhandlung (Anm. 17) faßt in kürzerer Form den Inhalt der Einleitung zur Edition des Briefwechsels zwischen T . G . M A S A R Y K und E . B E N E S aus der Zeit der Pariser Friedensverhandlungen im Jahre 1919 zusammen. Diese Edition wird vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam zur Publikation vorbereitet.

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tiker vom Jahre 1916 - , wurden stillschweigend beiseite gelegt. Stattdessen traten nun die deutsch-österreichischen Politiker mit der Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auf, um auf diesem Wege sogar noch im Moment der Niederlage das Ziel der Vereinigung aller Deutschen zu verwirklichen. Dabei wurden allerdings die kompromittierten chauvinistischen, reaktionären und pangermanistischen Kräfte in den Hintergrund geschoben, und die Sozialdemokraten übernahmen die Initiative. Am 21. Oktober 1918 kam es zu einem Treffen der deutschen Abgeordneten aus Österreich und den böhmischen Ländern in Wien, wo sie sich als „Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs" konstituierten. Außer auf die alpenösterreichischen Länder erhob dieses neue Staatsgebilde auch Anspruch auf die deutschen Grenzgebiete der böhmischen Länder. Ende Oktober bildeten sich in diesen von Deutschen besiedelten Grenzgebieten vier autonome Provinzen, die den tschechischen Staatsverband verließen und sich als Bestandteile Deutschösterreichs erklärten. Es handelte sich um die Provinzen „Deutschböhmen" in Nordböhmen, das „Sudetenland" auf dem Territorium des österreichischen Schlesien und Nordmährens, „Deutschmähren" im südlichen Grenzgebiet Mährens und den „Böhmerwaldgau" an der südwestlichen Grenze Böhmens. Die zwei größten Provinzen, „Deutschböhmen" und das „Sudetenland", hatten mit Österreich keinerlei gemeinsame Grenzen. Am 12. November 1918 wurde in Wien die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Ihr Kanzler, der Sozialdemokrat Karl Renner, erklärte an demselben Tage, daß Österreich seine Volksgenossen nicht fallen lassen werde, weder in der Tschechoslowakei noch anderswo. Die neue Deutschösterreichische Republik - ihr Außenminister war der Sozialdemokrat Otto Bauer - erklärte sich sofort als Teil Deutschlands, wo es nach dem Waffenstillstand am 9. November 1918 zum Sturz der Monarchie und zur Errichtung der Republik gekommen war. Sowohl in Deutschland wie auch in Österreich nahmen nun die Sozialdemokraten in allen Bereichen die Schlüsselpositionen ein. „Masaryk und andere tschechische Politiker waren im Frühjahr 1919 bereit," schrieb über die damalige Situation der österreichische Historiker Herbert Steiner, „den Deutschen in der Tschechoslowakei zahlreiche Zugeständnisse zu machen bis zu einer eventuellen Regierungsbeteiligung." Bauer bekam diesbezüglich Meldungen und Briefe. Er und Staatsrat Josef Seliger, als Repräsentant der sogenannten deutschböhmischen Landesregierung, die ihren Sitz im Parlament in Wien hatte, waren strikt gegen alle Verhandlungen. Bauer wies die diplomatische Vertretung Deutschösterreichs in Prag an, sie solle auf die deutsche Presse in Prag einwirken, daß diese bei ihrer Ablehnung jeglicher Verhandlungen „fest bleibe". Wie soll nun die Anweisung des Staatssekretärs für Äußeres der jungen Republik, Bauer, an den österreichischen Gesandten in Prag, Marek, verstanden werden, in der Bauer die ablehnende Haltung zu deutsch-tschechischen

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Verhandlungen folgendermaßen begründete: „Zu unseren Gunsten wirkt nicht nur der soziale Entwicklungsprozeß in Böhmen, sondern wir haben erst später die Möglichkeit, mit den Slowaken, Polen, Magyaren u n d Ruthenen eine Allianz zu bilden, die uns gestattet, die nationalen Gegensätze auszunützen." Es ist fast folgerichtig, wenn der Gesandte Marek in seiner Antwort meint, die einzige Antwort auf Verhandlungen (die man nicht wünscht) sei „eine verstärkte nationale Agitation in Deutschböhmen gegen den Anschluß an die tschechoslowakische Republik und die Erwekkung und Stärkung der deutschen Irredenta." 21 Der grundsätzliche Fehler der deutschösterreichischen Austromarxisten und deutschböhmischen Politiker überhaupt war, wie der italienische Historiker Francesco Leoncini konstatiert, „daß sie den .historischen Augenblick' nicht verstanden, daß sie die Konsequenzen aus der Niederlage der Kaiserreiche und im besonderen aus der Niederlage jenes deutschen Nationalismus, auf den sie vorher weitgehend vertraut hatten, um ihre privilegierte Situation im Habsburg-Staat zu erhalten, nicht ziehen konnten oder nicht ziehen wollten. Dazu hatten sie geglaubt, den alten Weg eines Großdeutschland aufgrund eines Rechtes beschreiten zu können, das sich eben gerade im Kampf gegen den deutschen Imperialismus erst gezeigt hatte. Mit der Wiederbelebung dieser Tendenz hatten sie die Angst der Tschechen vor dem Pangermanismus und ihre Forderung nach sicheren Grenzen neuerdings legitimiert. Denn die Völker, die in diesem historischen Augenblick aufstanden, waren vor allem die Slawen der Donaumonarchie. Sie waren es, die mit dem Krieg und von ihm die Anerkennung ihrer nationalen Individualität erhielten, sie waren es, die den Zyklus ihres geschichtlichen Risorgimento erfüllten, und nicht das deutsche Volk, das seine Einheit und Unabhängigkeit schon im vorigen Jahrhundert erlangt hatte und nun dem imperialistischen Umschwung zum Opfer gefallen war, der seine weitere politische Entwicklung bestimmen sollte." 22 Den Standpunkt der politisch maßgeblichen Kreise in der Tschechoslowakei gegenüber den deutschen Mitbürgern beschrieb der berühmte tschechische Publizist Ferdinand Peroutka mit folgenden Worten: „Fast alle einflußreichen Leute unter den Tschechen waren der Meinung, daß, falls in dem neuen Staat ein Gebiet mit einer zahlenmäßig großen deutschen Bevölkerung einbegriffen sein sollte, man die Zufriedenheit der Deutschen beachten müsse." Diese Tschechen waren davon überzeugt, daß es nicht möglich sei, die Deutschen mit der bloßen Staatsmacht zu beherrschen. Am 29. Oktober telegraphierte Masaryk an Benes: „Man muß mit unseren Deutschen verhandeln, damit sie unseren Staat akzeptieren, der 21

H. STEINER, Otto Bauer und die „Anschlußfrage" 1918-19, in: Die Auflösung des Habsburgerreichs. Zusammenbruch und Neuorientierung im Donauraum, hg. von R. G. PLASCHKA u n d K . H . MACK, W i e n 1 9 7 0 , 4 7 8 .

22

F. LEONCINI, Das Problem der deutschen Minderheit in Böhmen in der internationalen Politik der Jahre 1918-1919, in: Bohemia, Jahrbuch des Collegium Carolinum 13 (1972), 314.

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kein nationalistisches Gebilde sein wird, sondern eine moderne fortschrittliche Demokratie." - Im Nationalausschuß schlug J. S. Machar gleich nach dem Umsturz vor, der Sieger solle dem Überwundenen weise die Hand bieten, und man solle für die Verhandlungen mit den Deutschen Sonderkommissionen wählen. Antonin Svehla war bereit, vor der tschechischen Öffentlichkeit die Verantwortung auf sich zu nehmen, und bot Lodgeman eine Vertretung der Deutschen im Nationalausschuß an, woraus sich dann automatisch ihre Vertretung in der revolutionären Nationalversammlung ergeben hätte. Auch im Oktober 1918 sprach man in Genf bei den Verhandlungen zwischen der tschechoslowakischen Regierung im Ausland (Benes) und der tschechischen heimischen Delegation über die deutsche Frage. Obwohl in der Innenpolitik Dr. Kramár das große Wort führte, der später Hauptgegner eines Eintritts der Deutschen in die Regierung wurde, war man damals einhellig der Ansicht und betrachtete es als selbstverständlich, daß in der Regierung auch ein deutscher Minister sitzen werde. Es bestand die Absicht, den Deutschen einen Minister ohne Portefeuille als Landsmannsminister anzubieten. Die Deutschen lehnten alle diese Vorschläge in einer Weise ab, die offenkundige Spuren von Überheblichkeit trug. Sie verachteten den tschechoslowakischen Staat und verachteten ihn - so fürchte ich - aufrichtig 23 . „Hier liegt der springende Punkt", bemerkte zur damaligen Situation und ihren Schlußfolgerungen der schon zitierte italienische Historiker Leoncini, „hier bot sich den Sudetendeutschen die Möglichkeit, entschieden mit der Vergangenheit und mit dem deutschen Nationalismus zu brechen, um ein bedeutender Faktor des Gleichgewichts im tschechoslowakischen Staat und ein dynamischer Faktor der Entwicklung des friedlichen Zusammenlebens in Mitteleuropa und besonders zwischen Deutschland und der Tschecho-Slowakei zu werden. Man mußte deshalb vor allem das politische Gewicht und die expansive Kraft dieses neuen Staates erkennen, man mußte verstehen, daß die neue Wirklichkeit aus dem historischen Augenblick war, mit der man sich also zu messen hatte. Alles das aber wurde von den Sudetendeutschen nicht in Betracht gezogen, weder Spannungen und die Reaktionen noch die Leidenschaften, die ein so erschütternder Krieg in den Gemütern der Völker und besonders der Sieger entfesselt hatte. Man hielt es vielmehr für opportun, die alte gesamtdeutsche Politik und die eigene Opposition gegen jede Verständigung mit den Tschechen, die die Annahme eines gemeinsamen Staates voraussetzte, zu bekräftigen. Indem sie sich den Friedensverhandlungen anvertrauten, um ihre eigenen Forderungen erfüllt zu sehen, verlangten die Sudeten etwas, was die Verhandlungen nicht geben konnten. Friedensverträge sind im allgemeinen nichts anderes als die Niederschrift und die Anerkennung von 2)

F. PEROUTKA, Budování státu. Ceskoslovenská politika ν letech prevratovych. [Der A u f b a u des Staates. Die tschechoslowakische Politik in d e n J a h r e n n a c h dem Umsturz.], Bd. 1, Prag 1933, 187 f.

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Kräfteverhältnissen, die sich aus vorhergehenden Situationen und aus dem Lauf früherer Geschehnisse herleiten; selten ändern sie diese Verhältnisse." 24 Die reichsdeutschen Politiker zeigten damals mehr politische Voraussicht als die Wiener Austromarxisten und die deutschböhmischen Politiker. Im Hinblick auf die Situation, die sich nach der Niederlage Deutschlands im Krieg und nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie entwikkelte, schien die Haltung der politischen Kreise in Berlin den Annexionsforderungen der Sudetendeutschen gegenüber eher der politischen Wirklichkeit des Augenblicks Rechnung zu tragen. Diese Kreise waren nämlich einem direkten Übereinkommen der Beteiligten günstig gesonnen, wobei sie die Bereitschaft der Sudetendeutschen voraussetzten, sich am neuen tschechoslowakischen Staat zu beteiligen. Der entschiedenste Verfechter dieser Lösung war der deutsche Konsul in Prag, Friedrich von Gebsattel, der auch von deutsch-böhmischen Wirtschaftskreisen unterstützt wurde, die im Falle einer Vereinigung mit Deutschland die Konkurrenz der stärkeren deutschen Industrie fürchteten. In einem Bericht an Max von Baden vom 25. Oktober 1918 erklärte von Gebsattel: „Wenn sich also die Deutschen mit den Tschechen jetzt an den Verhandlungstisch setzen wollen, so ist dies für sie der günstigste Augenblick, weitgehende Zugeständnisse in jeder Richtung zu erhalten. Allerdings müßten sich die Deutschen dazu verstehen, sofort, also vor den Friedensverhandlungen, die sich ihnen entgegenstreckende Hand zu ergreifen." Dem deutschen Konsul zufolge hätte die freiwillige Annahme der neuen Situation den Sudetendeutschen völlig neue Aussichten eröffnet und ihnen die Möglichkeit verschafft, in der Festlegung aller politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen, die zwischen den zwei ethnischen Gruppen des Gebietes noch offen waren, über ein entsprechendes Gewicht zu verfügen. Auf diese Weise wäre die Gefahr von Reibungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei vermieden und das gute Verhältnis zwischen den beiden Staaten gefördert worden. Er machte darauf aufmerksam, daß „wir sie (die Tschechen) an ihrer empfindlichsten Stelle treffen würden, wenn wir die Bestrebungen der Deutschböhmen, sich an Deutschland anzuschließen, begünstigen würden." Daß die Voraussetzungen für ein Abkommen effektiv bestanden, beweist die Tatsache, daß zwischen den beiden Seiten schon Verhandlungen eröffnet worden waren, die aber an der strikten Weigerung der Sudetendeutschen scheiterten, sich als Glieder eines tschecho-slowakischen Staates zu verstehen. „Dieses Verhalten beweist nach all dem bisher Gesagten", schließt der italienische Historiker seine Betrachtung, „meiner Meinung nach einen großen Mangel an politischer Feinfühligkeit." 25 24

LEONCINI ( A n m . 2 0 ) , 3 2 5 .

25

Ebd., 323 f. - Über das Verhalten der reichsdeutschen Diplomaten zum neuen tschechoslowakischen Staat siehe: Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Teil 1. Von der Staats-

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Am Ende des Jahres 1918 begann sich die Situation in den böhmischdeutschen Grenzgebieten allmählich zu konsolidieren. Der Hauptgrund hierfür waren die geregelten Verhältnisse in der Tschechoslowakei: „Wir sind die einzigen, die vorbereitet sind und imstande sind, Ordnung zu schaffen und zu erhalten. Unser Vorbild wird entscheidend sein. Das sagen die Wiener und alle anderen", schrieb Masaryk an Benes in einem Brief. Weiter heißt es dort: „Meine Position ist sehr stark ... unsere Deutschen in Prag und anderswo sind schon auf unserer Seite, sie sind aber noch befangen, öffentlich aufzutreten ... Wien ist in den Händen unfähiger Menschen. Die Wiener beginnen das zu begreifen. Unser Einfluß wird bedeutend sein. Wir können es erreichen, daß es sie nicht nach Deutschland ziehen wird." Kurt Eisner, der bayerische Repräsentant, wollte Kontakt mit Prag aufnehmen, und auch Graf Czernin, der ehemalige österreichische Außenminister, entschuldigte sich wegen der groben Attacke gegen Masaryk in seiner Rede am 2. April 1918; es heißt sogar, Czernins Sohn habe sich zur tschechoslowakischen Armee gemeldet. In seinen Briefen entwickelte Masaryk zu Beginn des Jahres 1918, wie wir gesehen haben, seine Ansichten über die Beziehung des neuen tschechoslowakischen Staates zu Deutschland. Die Briefe machen auch verständlich, weshalb Masaryk und die tschechoslowakische Politik allgemein auf der Einhaltung der historischen Grenzen der Länder der böhmischen Krone mit einer Minderheit von mehr als 3 Millionen Deutschen bestand. Gleich in seinem ersten Brief vom 5. Januar 1919 wiederholte Masaryk von neuem sein „ceterum censeo": „Gegenüber den österreichischen und böhmischen Deutschen, aber auch gegenüber Deutschland selbst, müssen wir nachdrücklich unseren Standpunkt vertreten, müssen jedoch korrekt handeln." Wichtig ist auch Masaryks Brief vom 21. Januar 1919. Er antwortete hier auf die Argumente der Deutschböhmen und erläuterte nochmals den Sinn des historischen Staatsrechts, das dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker nicht widerspreche: Die historischen Grenzen hätten sich seit der Entstehung des böhmischen Staates im frühen Mittelalter nicht geändert. Da die Bevölkerung im böhmischen Grenzgebiet gemischt sei, ergebe sich die Notwendigkeit der Selbstbestimmung nicht nur der Deutschen, sondern auch der Tschechen. Und schließlich sprächen auch ökonomische Gründe für die Beibehaltung der bisherigen Grenzen, da ein Verlust der Forlsetzung

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gründung bis zum ersten Kabinett Beneä. 1918-1921, hg. von M. ALEXANDER (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 49/1), München-Wien 1983. - M. ALEXANDER, Die erste Phase der deutsch-tschechoslowakischen diplomatischen Beziehungen 1918-1919, in: Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift f ü r Karl Bosl zum 75. Geburtstag, hg. von F. SEIBT (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 55), München 1983, 228239.

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hochindustrialisierten Gebiete an Deutschland die allgemein anerkannte internationale Position Böhmens bzw. der Tschechoslowakei beeinträchtigen würde. Die Selbstbestimmung der deutschen Nation war in jedem Fall gesichert, denn wenn das Deutsche Reich auch den Krieg verlor, so blieb es doch eine europäische Großmacht. Seit 1918 gab es auch noch DeutschÖsterreich, und die deutsche Bevölkerung des böhmischen Grenzgebietes wurde in der Tschechoslowakei mit allen in einem demokratischen Staat üblichen Minderheitsrechten ausgestattet. Der einzige Unterschied bestand allerdings darin, daß die Deutschen in der Tschechoslowakei ihre hegemoniale Position, die sie im alten Österreich hatten, verloren. Ein bedeutsames moralisches, aber durchaus auch politisches Argument, das zugunsten des jungen tschechoslowakischen Staates spricht, ist schließlich die Tatsache, daß die tschechoslowakische Revolution als einzige in der Geschichte ohne Blutvergießen vor sich ging, und dies nach vier leidvollen Jahren unter der Schreckensherrschaft der Deutschen. „Ich respektiere das Nationalitätsprinzip", hatte Masaryk gefordert, „aber auch die Nationalität muß dem höheren moralisch-politischen Prinzip unterstellt werden - der Demokratie inner- und außerhalb." Es scheint, daß Masaryk hier in seine jungen Jahre zurückkehrt, als er in der „Böhmischen Frage" und in weiteren Schriften der neunziger Jahre aus ähnlichen moralischen und politischen Gründen gegen den engstirnigen Nationalismus der Vertreter einer radikalen Auffassung des böhmischen Staatsrechts polemisierte. Es ist offensichtlich, daß der tschechoslowakische Staat, der im Herbst 1918 geschaffen wurde, nicht gerade die Wünsche der tschechischen Radikalen erfüllte, sondern eher die den konkreten Verhältnissen angepaßte Modifikation der ursprünglichen Postulate Masaryks vom harmonischen Zusammenleben der kleinen mitteleuropäischen Völker im Geiste der Humanität und der Demokratie darstellte. Darum drängte Masaryk in seinem Brief vom 23. Januar 1919 darauf, daß der neue tschechoslowakische Staat ein klares Konzept haben müsse hinsichtlich des eigenen Verhaltens gegenüber den Deutschen in den böhmischen Ländern, „und daß wir ihnen alles geben werden, was sie haben und haben müssen, um das nicht in kleinen Dosen von uns zu erzwingen." Der nationalistischen Agitation müsse schnellstens Einhalt geboten werden, und die Deutschen in der Republik müßten für das gemeinsame Werk gewonnen werden. Was Deutschland selbst anbelangte, war nach Masaryks Meinung nicht so sehr dessen Größe oder die Frage einer etwaigen Teilung wichtig, sondern vielmehr dessen Charakter und damit die Frage, ob es bereit sein werde, seinen alten antidemokratischen und imperialistischen Kurs zu ändern oder nicht: „Deutschland in die Kniee zwingen, wie es manche naive Franzosen wünschen", schrieb Masaryk am 19. Februar 1919, „das ist nur Naivität. Die Deutschen werden nur um so energischer arbeiten und wer-

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den auch Einheit fordern ... Wichtig ist die einzige Aufgabe - das Verhältnis zu Deutschland muß korrekt sein. Ich arbeite daran." Die Unzufriedenheit mit der kurzsichtigen Rachsucht der Pariser Friedensstifter klang auch in weiteren Briefen Masaryks an Benes an. So schrieb er am 26. März 1919: „Die Entente verhält sich nicht gut. Sie verliert den Frieden. - Es überrascht mich jedoch nicht - so war es während des Krieges, sie sind ebenso kleinlich nach dem Krieg. Gut - mögen sie Wilhelm und die Schuldigen verurteilen, aber ihr Mangel an Kenntnissen und Seriosität (auch jetzt in der Nachkriegszeit) verschuldete und verschuldet weiterhin Tausende und Tausende von Opfern. Es kostet mich schon lange viel Überwindung, schweigen zu müssen." Am 31. März 1919 schrieb er wiederum an Benes: „Die Entente und ihr Schaffen des Friedens ist schrecklich. Eine ausgesprochene Unkenntnis Osteuropas, aber auch Deutschlands und Österreichs. Da ist jedes Wort vergeblich. Bei uns sieht es bereits jedes Kind und sicherlich auch anderswo. Die Entente verliert ihr Prestige." In ähnlichem Ton schrieb Masaryk an Benes auch am 7. April: „Deutschland soll bestraft werden - das Preußentum und sein Militarismus müssen geschwächt werden, aber das Volk darf nicht wirtschaftlich ruiniert werden. Denn dann könnte es nichts bezahlen. Es darf keine Rachepolitik herrschen. Wir müssen vorsichtig sein, aber nichts mehr. Deutschland würde sich am Osten schadlos halten, falls der Westen ihm ganz versperrt bliebe; es ist unser Interesse sowie das Interesse aller übrigen Staaten, daß Deutschland nicht feindselig sei." Gleich am nächsten Tag schrieb er wiederum: „Deutschland ist nicht genügend konsolidiert, und deswegen wird es auf vieles eingehen. Selbstverständlich: die Entente muß die Deutschen strafen und muß sie ... sozusagen nackt ausziehen, darf ihnen jedoch nicht die Hand abhacken, mit der sie arbeiten und verdienen müssen. Die Franzosen könnten die Deutschen und ihre Beschützer mit Leichtigkeit durch eine generöse Geste entwaffnen." Zum Abschluß meines Beitrags möchte ich auf die innenpolitischen Probleme des jungen tschechoslowakischen Staates zu sprechen kommen. Der Konflikt mit den Deutschen kennzeichnete die innenpolitische Entwicklung der Tschechoslowakei seit den ersten Momenten ihrer Existenz. Es war dies im wesentlichen die Fortsetzung des tschechisch-deutschen Nationalitätenkonflikts, der alle Versuche einer Reform und Stabilisierung der Verhältnisse bereits im alten Österreich vereitelt hatte. Der Vergleich der tschechoslowakischen Verhältnisse in bezug auf das Nationalitätenproblem mit denen in der ehemaligen Habsburgermonarchie war sogar in den demokratischen deutschböhmischen Kreisen sehr beliebt. So erklärte der Führer der deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei, Josef Seliger, auf dem konstituierenden Parteitag am 1. September 1919 in seinem Referat: „Richtig betrachtet, stehen wir heute da, wo die Sozialdemokratie des alten Österreich im Jahre 1899 auf ihrem

B ö h m e n und Österreich

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Brünner Parteitag stand ... Denn dieser S t a a t . . . ist in seinem ganzen Wesen, in seinen Grundlagen ein Staat zum Verwechseln ähnlich dem des alten Österreich." Nach den Erfahrungen der dreißiger Jahre und des Zweiten Weltkriegs charakterisierte J. W. Brügel die Situation der Deutschen in der Tschechoslowakei im Vergleich zu den Verhältnissen im alten Österreich genauer: „Es wurden nicht, wie etwa in Polen, Splitter des deutschen Volkes in einen vorwiegend nicht deutschen Staat eingegliedert. Vielmehr ging es um einen mehr als drei Millionen Köpfe zählenden, über bedeutende wirtschaftliche und kulturelle Werte verfügenden Bevölkerungsteil, der über Nacht aus seiner beherrschenden Position verdrängt worden war, wobei der Reiz, den Deutschen etwas von der Medizin kosten zu lassen, die ihre Repräsentanten anderen aufgezwungen hatten, oft unwiderstehlich gewesen sein muß. Darum war auch so manche Maßnahme, besonders der ersten Jahre, eine Anwendung altösterreichischer Prinzipien mit umgekehrten Vorzeichen. Trotzdem läßt sich nicht sagen, daß die Tschechoslowakei eine Neuauflage der Praktiken des alten Österreich gewesen wäre. Der Hauptunterschied, der zugleich der entscheidende war, lag in der Tatsache, daß die Tschechoslowakei, als demokratische Republik geboren, die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie so lange hochhielt, wie sie als unabhängiger Staat bestand." 26 Zum Verständnis der Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Lage der Nationalitäten in der Tschechoslowakei und im ehemaligen Österreich zitiere ich noch eine Stelle aus einer zeitgenössischen Studie, die sich allerdings nur auf die sprachliche Seite des Nationalitätenkonflikts konzentriert: „Es kann den Deutschen von 1848 nicht leichtgefallen sein, sich mit einem Male als Pares inter Pares unter zehn anderen Völkern Österreichs zu betrachten, nachdem sie zweieinhalb Jahrhunderte das Herrenvolk gewesen waren. Es hätte einige Zeit gebraucht, um die Deutschen mit diesem Gedanken zu versöhnen. 1848 war ihre Stellungnahme noch subjektiv und psychologisch zu verstehen, in den achtziger und neunziger Jahren war sie bereits unverzeihlich. Das Vorgehen der Tschechen, nach 1918 sich selbst zum Staatsvolk mit einer in jeder Beziehung begünstigten Staatssprache zu erklären und die Deutschen zu einer Minderheit mit einer nur unter sehr verklausulierten Bedingungen zu gebrauchenden Minderheitssprache zu machen, war um 1920 psychologisch und subjektiv zu entschuldigen. Ein zwei Generationen währender Kampf um Sprache und Schule und die harten, oft grausamen Verfolgungen der Tschechen während des Krieges rechtfertigen völkerpsychologisch ihr Vorgehen. Eine gleiche Behandlung der Sudetendeutschen in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts wäre ein unentschuldbarer Fehler, der sich an den Tschechen ge-

u

J. W. BRÜGEL, Tschechen und Deutsche 1918-1938, München 1967, 545.

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ñau so rächen würde, wie sich die Intoleranz der Deutschen an diesem Volke gerächt hat." 27 Leider hatte die Tschechoslowakei keine Zeit, den Beweis ihrer Staatskunst anzutreten, denn seit den dreißiger Jahren war sie genötigt, sich auf einen Kampf um Leben und Tod mit dem Reich Hitlers vorzubereiten. Sie wurde auch zum letzten Zufluchtsort der deutschen demokratischen Emigration in Mitteleuropa. Durch diesen Mangel an Zeit zur Bewährung der eigenen Staatskunst und der Fähigkeit zur Schaffung von Bedingungen für eine friedliche Koexistenz zwischen den kleinen mitteleuropäischen Völkern unterscheidet sie sich grundsätzlich von der Habsburgermonarchie, die zwar genug Zeit hatte, im Jahre 1918 jedoch wegen ihrer Unterordnung gegenüber dem Deutschen Reiche zu einer positiven Weiterentwicklung schon nicht mehr fähig war. Der tschechoslowakische Präsident Masaryk repräsentiert im tschechoslowakischen politischen Leben jene Strömung, die nach einem Ausgleich zwischen den Tschechen und Deutschen in der Tschechoslowakei auf der Grundlage der Demokratie und der Gleichberechtigung der Völker strebte. In der Außenpolitik versuchte diese demokratische Richtung der tschechoslowakischen Politik, mit allen demokratischen Staaten, wie es die Weimarer Republik in Deutschland und die Republik Österreich waren, zusammenzuarbeiten. Obzwar die Repräsentanten der tschechoslowakischen Auslandsaktion mit Masaryk an der Spitze auf der Seite deutschlandfeindlicher Mächte standen, entwickelte sich nach Kriegsende zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei erstaunlicherweise bald ein ganz gutes Verhältnis. Dazu trug die Mäßigkeit der ersten deutschen Regierungen bei und besonders die Tatsache, daß es zwischen beiden Staaten von Anfang an keinen G r u n d zu territorialen Streitigkeiten gab. Komplizierter gestaltete sich die Beziehung der Tschechoslowakei zu Österreich. Die Situation komplizierten anfangs die Deutschen in Böhmen, die die Vereinigung mit Deutschösterreich forderten. Erst nach Konsolidierung der Verhältnisse im deutschböhmischen Grenzgebiet sowie auch in Österreich kam es zur Anknüpfung guter gegenseitiger Beziehungen beider Nachbarstaaten. Masaryks Einstellung zum Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Österreich ist einem Gespräch zu entnehmen, das er im August 1922 mit Paul Kisch, dem Redakteur der Neuen Freien Presse führte: „Während des Krieges waren wir gegen das alte Österreich-Ungarn. Nach dem Fall der Dynastie mit allem, was damit zusammenhing, bildet sich jetzt die gegenseitige Beziehung beider Völker, und diese Beziehung kann nicht unfreundschaftlich sein, desto mehr, da Österreich nun auch eine Republik ist, und wir halten an der republikanischen Staatsform mit aller Entschlos27

H. KLEPETAÄ, Der Sprachenkampf in den Sudetenländern, Prag-Wien 1930, 9 f.

Böhmen und Österreich

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senheit fest. Es ist unser - sofern Sie wollen - , egoistisches Interesse, daß Österreich sich erhole. Ich glaube, daß wir bereits praktisch den Beweis geliefert haben, und wir wollen jetzt und auch weiterhin alles tun, was in unserer Macht ist, um Österreich zu helfen." Im Kommentar zum Gespräch fügte der Redakteur Kisch noch hinzu, daß Masaryks Ausführungen nicht zuletzt auch durch wärmste Sympathien für Wien motiviert gewesen seien, wo er lange Jahre gelebt habe. Im August 1922 besuchte der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel die Tschechoslowakei, Deutschland und Italien, um für das von der schweren sozialpolitischen Krise betroffene Österreich Hilfe zu erlangen. In Prag hatte er ein Treffen mit Eduard Benes und T. G. Masaryk. Seipel äußerte die Meinung, es würde möglicherweise notwendig sein, daß sich Österreich ökonomisch und politisch auf einen benachbarten Staat stütze. In diesem Zusammenhang schrieb Masaryk an die westlichen Alliierten Mächte ein vertrauliches und privates Memorandum, in dem er seine Ansichten über die Lösung des österreichischen Problems äußerte. Er lehnte die Verbindung Österreichs mit Deutschland oder Italien entschieden ab. Zur Frage der Vereinigung Österreichs mit der Tschechoslowakei sagte er: „Zwischen den böhmischen und österreichischen Ländern bestehen eine jahrhundertelange wirtschaftliche Zusammenarbeit und enge politische Beziehungen.... Daß Österreich trotzdem auseinanderfiel, wurde verschuldet durch die unmögliche Politik der Habsburger und die Einmischung des preußischen Deutschland in das ehemalige Österreich. Österreich mußte fallen, weil die deutsche und magyarische Minderheit die Majorität anderer Nationen unterdrückte. Der Weltkrieg machte diesem unnatürlichen Zustand ein Ende; Österreich und die Tschechoslowakei wurden selbständig und frei. Beide Staaten können nunmehr frei über ihre gemeinsamen Interessen Vereinbarungen treffen; jedoch gerade die Geschichte des alten Österreich belehrt uns ebenso wie die Österreicher, daß beide Staaten selbständig bleiben müssen, auch wenn ihre engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Erwägung gezogen würde ... Ich bin mir dessen bewußt, daß die engere Zusammenarbeit mit Österreich die vollkommene politische Versöhnung der deutschen Minderheit mit unserem Staat voraussetzt; es besteht jedoch die Möglichkeit, daß gerade die Aussicht auf die Mitarbeit mit Österreich unsere deutsche Minderheit zu einer positiven Politik bewegen und ihr tschechoslowakisches Staatsbewußtsein stärken würde ... Ich lasse mich nicht auf das Skizzieren eines detaillierteren Programms ein, wie sich Österreich staatsrechtlich mit der Tschechoslowakei verbinden ließe. Zum Nachdenken über das politische Schicksal Österreichs zwingen uns jedoch die bestehenden Ereignisse selbst. Wir verschweigen die großen Schwierigkeiten des Problems nicht und sind uns bewußt, daß die Angelegenheit sehr vorsichtig und bedacht behandelt werden müßte. Von unserem Standpunkt aus gesehen, erkläre ich jedoch loyal, daß wir - wenn auch ungern und gezwungen durch die

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Ereignisse - unserer Verbindung mit Österreich Vorrang vor dessen Verbindung mit Deutschland oder Italien geben. Das, glaube ich, geht aus der Weltsituation und aus der Geschichte und namentlich aus dem Weltkrieg hervor; es kann nicht unsere und auch nicht der Alliierten Aufgabe sein, die Verwirklichung des pangermanischen Programms Berlin-Bagdad in dieser oder jener Form zu unterstützen." 28 Dieses Memorandum ist ein offensichtlicher Beweis dafür, daß Masaryks Auslandsaktion während des Krieges und die Entstehung der Tschechoslowakei im Jahre 1918 keine Verneinung seines ursprünglichen Bemühens um ein dauerndes Zusammenleben kleiner mitteleuropäischer Nationen im Rahmen eines breiteren, übernationalen Staatsgebildes darstellte, sondern deren Modifikation, zu der ihn die unüberwindlichen objektiven Zustände zwangen. Das Verhältnis der Deutschböhmen zum tschechoslowakischen Staat besserte sich seit Ende 1918 schrittweise. Im Herbst 1926 traten zum ersten Mal auch die Repräsentanten der deutschböhmischen Politik in die tschechoslowakische Regierung ein. Die Zusammenarbeit der tschechischen und deutschen demokratischen Kräfte in der tschechoslowakischen Regierung bildete den Höhepunkt und die Blütezeit der Existenz der Tschechoslowakei. Dieser Zeitraum, in dem deutliche Anzeichen einer endgültigen Überwindung des uralten tschechisch-deutschen Antagonismus erkennbar waren, endete leider, bevor er noch beiden die böhmischen Länder bewohnenden Völkern Früchte bringen konnte. Leider lastete die Wirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre sehr drückend auf der tschechoslowakischen Wirtschaft. Als unselig erwiesen sich die Folgen dieser Krise gerade im böhmischen Grenzgebiet, wo vor allem der größte Teil der Verbrauchsgüterindustrie konzentriert war, die von der Krise in erster Linie betroffen wurde. Noch schlimmere Folgen für die weitere Entwicklung hatte das Schicksal des größten Landes West- und Mitteleuropas, Deutschlands, wo im Jahre 1933 Hitler an die Macht gelangte und die Demokratie vernichtete. Angesichts der sich verschlimmernden internationalen politischen Stellung der Tschechoslowakei war die Einheit aller inneren demokratischen Kräfte im Staate für das Geschick der Demokratie in der Zukunft entscheidend. So war insbesondere die Unterstützung der deutschen demokratischen Kreise mit Rücksicht auf die zahlenmäßige Stärke der deutschen Bevölkerung im böhmischen Grenzgebiet und mit Rücksicht auf den wachsenden Einfluß Hitlers im benachbarten Deutschland sehr bedeutungsvoll. Auch in den Reihen der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei nahm der Einfluß des Hitler-Nazismus zu. Da die nationalsozialistische Partei Hitlers in der Tschechoslowakei verboten war, gründeten hier 28

T. G. MASARYK, Cesta demokracie. Soubor projevù za republiky. Bd. II, 1921-1923, Prag 1934, 307-312.

Böhmen und Österreich

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ihre Agenten mit Konrad Henlein an der Spitze seit Herbst 1933 eine Tarnorganisation, die sogenannte Sudetendeutsche Heimatfront und später die Sudetendeutsche Partei. Diese Agentur Hitler-Deutschlands war bis zum Jahre 1935 im tschechoslowakischen Parlament überhaupt nicht vertreten; bei den letzten tschechoslowakischen Parlamentswahlen vor dem Zweiten Weltkrieg, im Mai 1935, konnte diese Partei annähernd zwei Drittel aller deutschen Wählerstimmen (1200000) auf sich vereinigen, während jene deutschen Parteien, die die Politik eines friedlichen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in der demokratischen Tschechoslowakei unterstützten, bei diesen Wahlen empfindliche Verluste erlitten. Ludwig Czech, die leitende Persönlichkeit der deutschböhmischen Sozialdemokratie, kommentierte den Wahlsieg Henleins in einem Schreiben an Karl Kautsky folgendermaßen: „... der eigentliche Sieger auch bei unseren Wahlen ist - außer dem Hunger - Herr Adolf Hitler gewesen." 29 Um so mehr ist es Sache der historischen Gerechtigkeit, den Heldenmut jener deutschböhmischen Demokraten gehörig zu würdigen, die in dieser schweren und traurigen Zeit nicht zauderten, sich an die Seite der demokratischen Kräfte des tschechischen und slowakischen Volkes gegen die gefährliche Flut des Faschismus und Nazismus zu stellen. Indem diese deutschen Patrioten die Tschechoslowakei verteidigten, verteidigten sie auch das letzte Territorium, auf dem noch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ein Teil der deutschen Nation in demokratischen Verhältnissen lebte. Sinn und Ziel ihrer Politik brachte damals der bedeutende deutschböhmische Sozialdemokrat Josef Hofbauer zum Ausdruck, als er schrieb: „Wenn wir gleichzeitig für nationale Gleichberechtigung und für die Erhaltung der Einheitlichkeit und politischen Macht der Tschechoslowakei kämpfen, wenn wir für unsere nationalen Rechte und gegen die Schaffung eines nationalsozialistischen deutschen Staates in der Tschechoslowakei kämpfen, so gilt unser Kampf gleichermaßen der Erhaltung des letzten Stückchens Boden, auf dem Deutsche noch in Freiheit atmen können ..." 30 . Die Tschechoslowakei bildete seit dem Jahre 1933 den Zufluchtsort demokratischer Emigranten, die vor Hitler aus Deutschland flohen. In dieser düsteren und tragischen Zeit wurden auch zahlreiche führende Repräsentanten der deutschen Kultur tschechoslowakische Staatsbürger. Thomas Mann und seine Familie wurden mit begeisterter Freude in der kleinen ganz tschechischen Gemeinde Proseó als Bürger aufgenommen, und Karl Kautsky erhielt die Heimatberechtigung in seiner Geburtsstadt Prag. 29

J0

K . u n d L. KAUTSKY, B r i e f w e c h s e l m i t d e r T s c h e c h o s l o w a k e i

1 8 7 9 - 1 9 3 9 , h g . v o n Z . SOLLE

unter Mitwirkung von J. GIELKENS. Die Edition ist zur Veröffentlichung vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam vorbereitet. Zit. Brief Nr. 288 : L. Czech 11. VII. 1935 an Κ. Kautsky. Zitiert in J. W. BRÜGEL, Ludwig Czech. Arbeiterführer und Staatsmann, in: Ludwig Czech. Arbeiterführer und Staatsmann, hg. v. J. W. BRÜOEL, Wien 1960, 127.

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Als im Februar 1934 die parlamentarische Demokratie in Österreich liquidiert wurde, fanden die demokratischen Österreicher gleichfalls in der Tschechoslowakei einen Zufluchtsort. Unter diesen Umständen schrieb Karl Kautsky, der damals 80 Jahre alt war und auch nach den Februarereignissen 1934 in Wien blieb, an Ludwig Czech, der ihm, wie Kautsky bemerkte, unter den deutschen Genossen in der Tschechoslowakei am nächsten stand, daß ihn zur Zeit mehr als je das politische Geschehen in der Tschechoslowakei interessiere, denn die Tschechoslowakei „ist jetzt das letzte Bollwerk der Demokratie in Europa östlich des Rheins, und es wäre höchst verhängnisvoll für die ganze Menschheit, wenn dieses Bollwerk zusammenbräche." 3 1 Damit sind wir bei den tragischen Ereignissen des Jahres 1938 angelangt und sozusagen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges: Österreich wurde im Frühjahr an das Deutsche Reich „angeschlossen", und im Herbst führte das Münchener Abkommen zur Vernichtung der Tschechoslowakei. Mit dem Münchener Abkommen beginnt eigentlich eine ein halbes Jahrhundert dauernde Zäsur in der Existenz der Tschechoslowakei. Denn auf die nazistische Besetzung folgte beinahe unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die sowjetische Hegemonie. Diese fünfzig Jahre dauernde Zäsur macht es erforderlich, den Menschen von heute, vor allem der jungen Generation, gewisse grundsätzliche Konstanten unserer historischen Entwicklung ins Gedächtnis zu rufen. Ich wollte in meinem Beitrag an zwei große Gestalten unserer neuzeitlichen Geschichte, Frantisek Palacky und T. G. Masaryk, erinnern, die man zu Unrecht als Prototypen des engherzigen tschechischen Nationalismus bezeichnet hat. Ich würde sie vielmehr als große Böhmen und Österreicher bezeichnen, sofern wir unter Österreichertum nicht die gewaltsame Hegemonie über kleine Völker verstehen, sondern im Gegenteil die Zusammenarbeit der kleinen selbständigen, mitteleuropäischen Völker im Sinne der Demokratie und Gleichberechtigung und zum Schutz vor mächtigen Nachbarn. So eine Einheit kleiner mitteleuropäischer Demokratien wäre gewiß ein bedeutender Beitrag zur gesamteuropäischen Einheit.

" K. u n d L. KAUTSKY ( A n m . 29). Brief Nr. 227: K. K a u t s k y 4. III. 1934 an L. Czech.

Monika G let tier Ökonomie und Nationalismus - ein Kernproblem im multinationalen Staat Ein Vergleich der Politik Ernest von Koerbers und Sándor Wekerles* Ende November 1916 fuhr der damals 68jährige Sándor Wekerle zu den Begräbnisfeierlichkeiten Kaiser Franz Josephs nach Wien. Am Tag der Beerdigung wollte er - wie vereinbart - wieder im Salonwagen nach Budapest zurückkehren. Beim Frühstück im Hotel Sacher bat ihn Ernest von Koerber, seinen Aufenthalt um einen Tag zu verlängern und sich mit ihm zu einer Unterredung zu treffen. Dies rettete Wekerle das Leben. Am 1. Dezember ereignete sich bei Herceghalom das bis dato furchtbarste Eisenbahnunglück der Monarchie, bei dem Wekerles Begleiter ums Leben kam. Von Zufällen soll natürlich im folgenden nicht die Rede sein. Für die Geschichte Ostmitteleuropas bedeutet die Kenntnis der Geschichte der Habsburgermonarchie den Ausgangspunkt vieler wichtiger Fragestellungen, wobei sich die Forschung einig ist, daß für Cisleithanien den Tschechen, für Transleithanien den Magyaren eine entscheidende Rolle zukommt. Der Zusammenhang zwischen ökonomischer Integration und nationaler Emanzipation als einer Schlüsselfrage im Vielvölkerstaat um 1900 sei hier an einem Vergleich der politischen Strategien zweier Ministerpräsidenten aufgezeigt: für die österreichische Reichshälfte an Ernest von Koerber (1850-1919), für die ungarische an Sándor Wekerle (1848-1921). Bei beiden Staatsmännern handelt es sich um hervorragende Verwaltungs- und Wirtschaftsexperten, deren soziale Mobilität als exponierte Vertreter des aufstrebenden Bürgertums einzigartig und richtungweisend war. Beide habe ich auch im Hinblick darauf ausgewählt, daß zwar ihre wichtigsten politischen Tätigkeiten in jeweils speziellen Zusammenhängen verschiedener Fachgebiete untersucht wurden, daß aber die Umstände ihres beruflichen Aufstiegs oder die über die Amtszeiten als Regierungschefs hinausgehenden Aktivitäten bisher so gut wie unerforscht sind. Wie groß diese Forschungslücke ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß ihre politische Karriere mehr als 30 Jahre österreichisch-ungarische * Vortrag, gehalten am 14.01.1993 an der Universität Wien.

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und europäische Geschichte umfaßt. Wekerle war überdies - nach Kliman Tisza - der am längsten amtierende ungarische Ministerpräsident der Monarchie (1892-1895, 1906-1910,1917/18), Koerbers Ministerpräsidentschaft umfaßte die Jahre 1900 bis 1904 und kurzfristig nochmals 1916.

Zu Quellenlage und Forschungsstand Für Koerber gehören - neben zahlreichen kürzeren oder längeren positiven oder eher negativen Beurteilungen von Zeitgenossen oder Historikern nach 1945 - die Analyse Alfred Ableitingers über Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900, die vor 20 Jahren erschien, sowie die wirtschaftspolitische Studie Alexander Gerschenkrons aus dem Jahr 1977 zu den „jüngsten" größeren Untersuchungen 1 . Allerdings ist ein privater Nachlaß Koerbers bisher unbekannt, vielleicht auch vernichtet worden. Hinzu kommt der Verlust der bedeutendsten amtlichen Quellen zur altösterreichischen Regierungspolitik durch den für Österreich schicksalhaften Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927, - Hindernisse, die einer Biographie technische und methodische Schwierigkeiten bereiten. Daß eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Wekerle bisher ausblieb, lag wohl weniger an der Quellenlage als an den Zeitumständen: Für die ungarischen Historiker der Zwischenkriegszeit war Wekerle als Liberaler kaum eine ungarisch-nationale Identifikationsfigur, so hat man sich mit ihm wenig beschäftigt. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges war es der die ungarische Historiographie beherrschende historische Materialismus, der die Rolle des Individuums in der Geschichte gering erachtete und daher Biographien über Politiker, die nicht in der Tradition der Arbeiterbewegung standen, so gut wie unmöglich machte. Als eines der wenigen biographischen Werke über die führenden Politiker des Dualismus erschien 1985 von Ferenc Pölöskei ein Lebensbild über Graf István Tisza, den Ministerpräsidenten der Jahre 1903-1907 und 1913-1917, im selben Jahr verfaßte auch der Amerikaner Gábor Vermes eine Tisza-Biographie 2 . Historische Forschungen über Wekerle wurden seit dem 2. Weltkrieg in Ungarn überhaupt nicht betrieben. Bezeichnend ist, daß in den 1985 erschienenen, breit angelegten „Porträts aus der ungarischen Geschichte" [Ezer év. Arcképek a magyar tôrténelembol] Wekerle als erwähnenswerte Persönlichkeit überhaupt nicht berücksichtigt wurde, wie auch die über ihn handelnden Artikel in den ungarischen Lexika neueren Datums seiner geschichtlichen Rolle nicht annähernd gerecht werden. 1

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A. A B L E I T I N G E R , Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1 9 0 0 . Österreichische Nationalitäten- und Innenpolitik zwischen Konstitutionalismus, Parlamentarismus und oktroyiertem allgemeinem Wahlrecht, Wien-Köln-Graz 1 9 7 3 ; A. G E R S C H E N K R O N , An Economic Spurt That Failed. Four Lectures in Austrian History, Princeton N.J. 1977. F. PÖLÖSKEI, Tisza István, Budapest 1985; G. VERMES, István Tisza, New York 1985. Auch zu anderen ungarischen Politikern der Zeit des Dualismus, wie Kálmán Tisza, Graf Albert Apponyi, Gyula Andrássy gibt es keine wissenschaftlich fundierten Biographien.

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In einer mir zugänglich gemachten Münchener Dissertation (bei Gerhard A. Ritter) erfährt Wekerle nun eine adäquate Berücksichtigung: Géza von Geyr konnte erstmals den bisher gänzlich unbekannten, in der Familie verbliebenen Nachlaß Wekerles einsehen, als Grundlage der Erforschung von Wekerles Familie, Jugend und Aufstieg, seiner Aktivitäten zwischen den Amtszeiten sowie seines Privatlebens 3 . Für die Gesamtthematik der ungarischen Finanzpolitik im Dualismus ist allerdings auch hier die Quellenlage schlecht, weil die Archivbestände des ungarischen Finanzministeriums durch mehrere Brände extrem in Mitleidenschaft gezogen wurden. Somit ist man auf die zeitgenössischen Aufarbeitungen von Sándor Matlékovíts, János Teleszky und Sándor Popovics sowie auf die neueren Untersuchungen von Berend/Ránki und György Kôvér angewiesen 4 . Zunächst möchte ich bis zum Zeitpunkt der Übernahme der Ministerpräsidentschaft auf Parallelitäten hinsichtlich Herkunft, Bildungsgang und Aufstieg der beiden Staatsmänner eingehen, die Zeit ihres politischen Höhepunktes getrennt betrachten und abschließend ein Resümee versuchen. Ernest von Koerber, 1850 in Trient geboren, entstammte der Schicht altösterreichischer Offiziers- und Beamtenfamilien, die der Monarchie bis zu ihrem Ende eine solide Stütze blieben. Sein Großvater war Feldmarschalleutnant, sein Vater Gendarmerieoberstleutnant gewesen. Koerbers Mutter war die Tochter eines Hofrates; von ihr, einer hochgebildeten Frau, sind wohl viele Eigenschaften auf ihn übergegangen. Als Sándor Wekerle 1848, zwei Jahre vor Koerber, im Städtchen Mór unweit der alten Residenzstadt Székesfehérvár geboren wurde, war die Familie, die zur Zeit Kaiserin Maria Theresias mit den „Schwabenzügen" vermutlich aus Horb am Neckar nach Ungarn gekommen war, bereits in der zweiten Generation ansässig. Großvater und Vater standen im Dienst einer der reichsten Grundbesitzerfamilien Ungarns, der Grafen Lamberg. Das Prestige des Vaters als sog. „Güterdirektor" eines Aristokraten entsprach - laut Péter Hanák - im Vergleich mit Komitatsbeamten dem eines Untergespans 5 . Die Mutter, Antonia Szép, aus einer Handwerkerfamilie, wird als besonders klug und „nach oben strebend" beschrieben, wobei sich ihr Ehrgeiz besonders auf ihre Söhne Sándor und den zwei Jahre jün1

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G. von GEYR, Sándor Wekerle. Eine politische Biographie, (derzeit noch ungedruckte Phil. Diss. München). G. KÔVÉR, Iparosodás agrárországban. Magyarország gazdaság torténete (Industrialisierung in einem Agrarland. Ungarns Wirtschaftsgeschichte) 1848-1914, Budapest 1982. - I. BEREND/G. RÁNKI, Hungary - a Century of Economic Development, New York 1974. DIES., Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1848-1918, in: Die Habsburgermonarchie 1 8 4 8 - 1 9 1 8 , h g . v o n A . WANDRUSZKA u n d P. URBANITSCH, B d . 1, W i e n

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1 9 7 3 ; S. MATLÉKO-

VÍTS, Das Königreich Ungarn. Volkswirtschaftlich und statistisch dargestellt, Leipzig 1900. (S. auch Anm. 13). P. HANÁK, Ungarns Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: DERS., Ungarn in der Donaumonarchie, Wien 1984, hier 371. Zur Position des Untergespans: G. BARANY, Ungarns Verwaltung 1848-1918, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 2, Wien 1975, 318.

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geren Móricz konzentrierte, der - stets kränklich - noch als Gymnasiast starb 6 . Demnach konnten die Eltern - ähnlich wie bei Koerber - den einzigen Sohn mit all ihren Mitteln unterstützen. Koerber absolvierte die Gymnasialzeit im Theresianum. Er war ein exzellenter Schüler, dessen Vorliebe den klassischen Sprachen, der Geschichte und der Philosophie gehörte. Das Rechtsstudium an der Wiener Universität schloß er 1872 mit der Promotion ab und war dann sofort im Staatsdienst tätig: zuerst im Wiener Landgericht, seit 1874 in der Eisenbahnabteilung des Handelsministeriums. Hier tat er sich besonders bei der Verstaatlichung der Kaiser-Franz-Joseph-Bahn hervor (1882), bis ihn Handelsminister Marquis von Bacquehem 1887 zum Präsidialchef ernannte. Nun erwarb er sich umfassende Kenntnisse in Handelspolitik und Industrieförderung, im Eisenbahn- und Verkehrswesen, wurde Vorstand der Abteilung für Handelspolitik und Zollwesen und trat dann an die Spitze der Generaldirektion der österreichischen Staatsbahnen. 1895 ernannte ihn Badeni zum Ersten Sektionschef im Innenministerium. Im Kabinett Gautsch wurde er 1897 Handelsminister, im Ministerium Clary leitete er zwei Monate das Innenministerium. Am 18. Januar 1900 übernahm er die Ministerpräsidentschaft, zugleich das Innenministerium, und seit Oktober 1902 auch das Justizministerium. Seit mehr als drei Jahrzehnten (seit Schmerling) erhielt mit ihm zum ersten Mal nicht ein Mitglied des Hochadels, sondern ein hoher Beamter die Berufung zum leitenden Minister. Wekerle besuchte das „Hauptgymnasium" der Zisterzienser in Székesfehérvár und war - wie eine Gymnasiumsfestschrift betont - stets ein ausgezeichneter Schüler 7 . Weil sich die Mönche nach 1849 gegen die Wiener Germanisierungstendenzen sperrten, wurde letztlich der Unterricht einmal auf Ungarisch, einmal auf Deutsch, einmal auf Lateinisch gehalten. „Devant les domestiques" sprach die Familie ohnehin Latein. „Maturus eximio modo" wollte Wekerle eigentlich Arzt werden. Sein Lehrer überredete jedoch die Eltern, aus ihm einen Juristen zu machen. Dies war wohl auch im Sinn der ehrgeizigen Mutter, da ein medizinisch-naturwissenschaftlicher Beruf damals bei weitem nicht den gesellschaftlichen Status eines Juristen erreichte, dem prinzipiell der Weg in Verwaltung und Politik und somit der Einzug in die Führungsschicht des Landes offenstand 8 . Sein Jurastudium bei den führenden Finanz- und Wirtschaftsexperten Ungarns (Sándor Matlékovits, Gyula Kautz, Károly Kerkápoly) beendete Wekerle mit Staatsprüfung und Rigorosum. Anschließend unternahm er 6 7

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GÖRÖG-STAUB : Wekerle, 5, Szechényi Staatsbibl. Hss.-Abtlg. Fol. Hung. 3421. D. LAKATOS, A székesfehérvári ciszterci rendi katolikus fogimnázium száz éves tôrténete [Die 100jährige Geschichte des Székesfehérvárer Hauptgymnasiums der Zisterzienser] Székesféhérvàr 1914, 155. I. BEREND/G. RÁNKI, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Südosteuropas 1850-1914, in: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Osteuropas 1850-1914, hg. von A. KAHAN, Stuttgart 1980, 110.

Ö k o n o m i e und Nationalismus

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eine längere Studienreise nach Italien, in die Schweiz und nach Frankreich und lernte dabei - im Vergleich zum aristokratisch geprägten Ungarn - die bürgerliche Gesellschaft dieser Länder kennen. Dies beeinflußte ihn später bei seinem nachhaltigen Eintreten für den Aufschwung des Bürgertums 9 . 1870 trat Wekerle seine erste Stellung als Hilfsreferendar im Finanzministerium an, wobei wohl gute Beziehungen zu Kerkápoly eine Rolle gespielt haben. Innerhalb von 14 Jahren arbeitete er sich aus der Masse der Hilfsreferendare zu einem der sechs Ministerialräte im Finanzministerium empor. Neben seiner Tätigkeit habilitierte er sich 1877 (mit 29 Jahren) auf dem Gebiet des Finanzrechts und wirkte die nächsten Jahre als Privatdozent an der Budapester Universität 10 . Im Charakterbild lassen sich - ähnlich wie bei Koerber - neben hervorragender Sachkompetenz und Organisationstalent ein immenser Arbeitseifer und ein ebensolcher Ehrgeiz feststellen, seinen beruflichen Wirkungskreis erfolgreich auszudehnen. Nachdem sich Ministerpräsident Tisza 1887 entschlossen hatte, Wekerle zu seinem Staatssekretär vorzuschlagen, fuhr er mit ihm nach Wien, um die Zustimmung des Königs einzuholen 11 . Wekerles Erhebung in ein politisches Amt, das vorher noch nie mit einem Fachmann aus der Bürokratie besetzt worden war, war eine Sensation. Nach seiner Ernennung brachte die Budapester Sonntagszeitung (Vasárnapi Ujság) ein ausführliches Porträt und betonte, daß üblicherweise „Erfolg im Parlament, vornehme gesellschaftliche Stellung, hohe Geburt, historischer Name, Rang und Reichtum - leugnen wir es nicht, wir sind noch ein Volk mit großem aristokratischem Rang" 12 - zusammentreffen mußten, um eine politische Führungsposition zu erreichen. Nach zweijähriger Bewährung als Staatssekretär erfolgte im Frühjahr 1889 seine Ernennung zum Finanzminister. Dies bedeutete, daß erstmals „ein Beamter" und nicht ein langjähriger Parlamentarier in das Kabinett berufen wurde. Am 17. November 1892 wurde Wekerle der erste „bürgerliche" Ministerpräsident Ungarns. Wekerles finanzpolitische Tätigkeiten nach einzelnen Bereichen getrennt zu betrachten, würde seinen eigenen Bestrebungen zuwiderlaufen. Zum einen können sie nicht mit seiner Tätigkeit als Finanzminister (1889— 95) begrenzt werden, da er faktisch schon seit 1887 die finanzpolitischen Kompetenzen innehatte und da seine Tätigkeit auch als Grundlage der Politik seiner direkten Nachfolger, wie auch seiner 2. Amtszeit (1906-10) zu gelten hat. Zum anderen ist seine Finanzpolitik in ihrer Gesamtheit als ein Konzept zu sehen, das mehrere Bereiche integrierend umfaßt: die höchst erfolgreiche Haushaltssanierung durch Erhöhung der Verbrauchs' 10 11 12

G Ö R Ö G - S T A U B , Wekerle, 11. S. M A T L É K O V I T S , Wekerle Sándor emlékezete (Erinnerungen an S. W.), Budapest 1922, 6f. MTJK, 11.2.1887. [Ungarische Ministerratsprotokolle]. Vasárnapi Ujság, 6.3.1887.

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steuern, die Reform der Finanz-, vor allem der Steuerverwaltung und die Vorbereitung und Durchführung der Konversion eines Teils der Staatsschulden. 1888 hatte sich das Defizit des Staatshaushaltes bereits auf 23,9 Mio fl verringert, 1889 konnte erstmals seit 22 Jahren wieder mit einem Überschuß abgeschlossen werden. Zwischen 1886 und 1894 war der Staat auf Mehreinnahmen von 163,7 Mio fl gekommen 13 . Die finanzpolitische Konsolidierung der Jahre 1887-90 und der gesunde Staatshaushalt der 90er Jahre waren die entscheidende Basis des endgültigen „take o f f " der Industriellen Revolution in Ungarn und somit der Annäherung und Anpassung an die wesentlich fortgeschritteneren mittel- und westeuropäischen Wirtschaftssysteme. In Ungarn hat im Zeitalter des Dualismus das rasche Wachstum der Fabrikindustrie - jährlich rund 6% - die Wachstumsrate der Landwirtschaft von 2,6% bedeutend überstiegen ; dieser Unterschied zeigt, daß - obgleich Ungarn Agrarland blieb - die Industrie den dynamischeren Faktor darstellte. Dadurch erreichte die ungarische Volkswirtschaft um die Jahrhundertwende die Zuwachsrate der westeuropäischen Länder zur Zeit der Industriellen Revolution 14 . Außerdem bildete der konsolidierte Staatshaushalt die Grundvoraussetzung für die Währungsreform von 1892, die in ihrer Konzeption und Organisation stets einhelliges Lob gefunden hat. Um auch in Österreich die öffentliche Meinung für die gemeinsame Währung zu gewinnen, benutzte Wekerle den deutschsprachigen „Pester Lloyd" und die „Neue Freie Presse", mit deren Herausgeber (Dr. Benedikt) er eng befreundet war und dem er „geradezu eine ausschlaggebende Rolle bei der Überzeugung der Öffentlichkeit im Sinne einer Goldwährung" zuschrieb 15 . Gold bildete nun das allgemeine Zahlungsmittel, und in der Folgezeit fand aufgrund eines gestiegenen Vertrauens in die neue Währung ein starker Zustrom ausländischen Geldes statt. Wie groß die Rolle des ausländischen Kapitals für die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns war, zeigt die Tatsache, daß zwischen 1867 und 1914 6,8 Mrd. Kronen an ausländischem Kapital nach Ungarn flössen, das waren 40% der zur Entwicklung der ungarischen Wirtschaft eingesetzten Investitionen' 6 . Ein besonders wichtiger Faktor für den Erfolg war der Übergang auf den bargeldlosen Zahlungsverkehr, der in den 90er Jahren eines der Hauptanliegen der ungarischen Finanzpolitik war 17 . Im Rahmen seiner finanzpolitischen Konzeption hatte sich Wekerle schon immer für eine Erstarkung der Wirtschaft eingesetzt, obwohl er eine massive Eingriffspolitik erst während seiner zweiten Ministerpräsidentschaft praktizierte. Tendenzen lassen sich jedoch auch schon bis 1895 feststellen. József Szterényi, ein Politiker, der lange mit Wekerle im 1896 ge" S. MATLÉKOVITS, Geschichte des ungarischen Staatshaushaltes 1867-1893, Prag 1895, 40. 14 BEREND/RÄNKI, U n g a r n s wirtschaftliche E n t w i c k l u n g ( A n m . 4), 516. 1! A. WEKERLE, Die Verdienste der „ N e u e n Freien Presse" um die Valutaregulierung, N F P , 30.8.1914. 16

BEREND/RÁNKI ( A n m . 8),

N

F. FELLNER, Die W ä h r u n g s r e f o r m in U n g a r n , Wien 1911, Teil 2.

138.

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gründeten Landesindustrierat war, stellte einmal die Frage, ob Wekerles wirtschaftspolitische Aktivitäten nicht höher zu bewerten seien als seine finanzpolitischen, und bezeichnete Wekerle „als den, der die heimische Industrieentwicklung eigentlich zum Aufschwung gebracht hat" 18 . So gelang es ihm schon 1890 in Verhandlungen mit dem Wiener Bankverein, die erste industriestützende Bank Ungarns, die „Ungarische Industrie- und Handelsbank AG", zu gründen 19 . Ein weiterer Schwerpunkt der staatlichen Industrialisierungspolitik wurde auf die Verbesserung der Schiffbarkeit der Donau, die Verstaatlichung der Eisenbahnen und auf den Ausbau des ungarischen Adriahafens Fiume gelegt20. Die staatliche Unterstützung galt auch der Landwirtschaft, durch Förderung der Mühlenwirtschaft und anderer landwirtschaftliche Produkte verarbeitender Industrien 21 . 1910 lebte Ungarn immer noch zu zwei Dritteln von der Landwirtschaft. Der von ihr erwirtschaftete Teil des Nationaleinkommens lag 1913 noch bei 62% (im Deutschen Reich 1905/09 bei 26%). Mit dem GA III von 1907 zur Förderung der heimischen Industrie wurde eine breite Palette staatlicher Erleichterungen für Industrieunternehmungen festgeschrieben, wobei dem Staat freie Hand blieb, in welchen Zweigen und wodurch er die einheimische Produktion fördern wollte 22 . Allerdings konnte das Ziel, bessere Verdienstmöglichkeiten für breitere Schichten zu schaffen und damit die Auswanderungswelle zu stoppen, nicht im angestrebten Umfang erreicht werden. Im Bereich der Außenwirtschaft setzte sich Wekerle stets für die Beibehaltung des gemeinsamen Zolltarifs mit Österreich ein: „Ich möchte nicht, daß wir uns mit einer chinesischen Mauer umgeben, sondern daß wir mit einem noch weiteren Kreis von Zollallianzen unsere eigenen Interessen sichern", sagte er im November 189023. 1904/05 entstanden zunächst in Berlin, dann in Budapest und Wien die mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine mit dem Ziel, „die Volkswirtschaft der mitteleuropäischen Staaten durch einheitlichere Gestaltung und zweckmäßigeres, strafferes Zusammenarbeiten zu größerer Leistungsfähigkeit zu erheben" 24 . Den österreichischen Verein führte Baron Ernst Ple" J. SZTERÊNYI, Wekerle Sándor, in: A. BALLA, A Magyar Országgyülés tôrténete [Geschichte des Ungarischen Abgeordnetenhauses], Budapest 1927, 156. "

KÔVÉR ( A n m . 4), 3 4 .

20

L. KATUS, Transport Revolution and Economic Growth in Hungary, in: J. KOMLÓS, Economic Development in the Habsburg Monarchy in the Nineteenth Century, New York 1983, 192. - SZTERÉNYI ( A n m . 18), 157. I. B E R E N D / G . RÄNKI, T h e E u r o p e a n P e r i p h e r y a n d I n d u -

21

22

2J 24

strialization, Budapest 1982, 100. A. J. MAYER, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft, München 1984, 32ff; I. BEREND/G. RANKI, Europa gazdasága a 19. században [Die Wirtschaft Europas im 19. Jh.] 1780-1914, Budapest 1987, 280. F. ECKHART, A magyar kozgazdaság száz ève [100 Jahre ungarische Volkswirtschaft] 18411941, Budapest 1941, 122 ff. K N 1887-1892. 5.11.1890. J. WOLF, Autobiographie, in: Die Volkswirtschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von F. MEINER, Leipzig 1924, 223. Im deutschen Verein führte Herzog Ernst Günther zu

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ner, den ungarischen Wekerle 25 . Eines der wichtigsten Anliegen war der Abbau der Zollschranken in Mitteleuropa, ein Thema, das wegen des in Europa die nationale Wirtschaftspolitik noch dominierenden Schutzzollgedankens illusionär bleiben mußte. Wekerle nahm seine Tätigkeit als Vorsitzender des ungarischen Vereins intensiv wahr und wurde von vielen Seiten zeitlebens als „Europäer" bezeichnet. Die Blickrichtung nach Mitteleuropa - nicht zum Balkan - ließ Wekerles ungarisches Nationalbewußtsein sich einem größeren Selbstverständnis als „Europäer" unterordnen. Diese Einstellung verstärkte den wirtschaftspolitischen Primat in seinem Denken, das in seiner ganzen Karriere vor dem Nationalismus stand. Allein die wirtschaftliche Ausrichtung an den am stärksten industrialisierten Staaten Europas war für ihn die Gewähr, Ungarns Zukunft zu sichern. Interessant ist das Bild, das er - nach siebenjähriger Abwesenheit von der großen Politik - im September 1917 für Wien und Berlin abgab und das der Deutsche Botschafter in Wien, Graf Wedel, der Wekerle noch aus seiner Zeit als Generalkonsul in Budapest gut kannte, so formulierte: In Wien sei Wekerle neben István Tisza der einzige ungarische Politiker, dem zugetraut werde, in der gegenwärtigen Situation eine Regierung „mit fester und geschickter Hand lenken zu können [...] Auch gehört er zu der kleinen Zahl ungarischer Politiker, deren Interesse nicht am ungarischen Grenzpfahl endet. Herr Wekerle ist,Mitteleuropäer'" 2 6 . Als ein Teil der Wirtschaftsförderung, aber auch als ein eigener Bereich der Finanzpolitik Wekerles, sind die Maßnahmen zur Entwicklung der Hauptstadt Budapest zu sehen, deren Bevölkerung sich zwischen 1869 und 1910 verdreifachte. Da Anfang der 90er Jahre die Ketten- und Margaretenbrücke dem Benutzerstrom nicht mehr gewachsen waren, erfolgte 1894 die Ermächtigung für den Bau der Franz-Joseph- und Elisabethbrücke, die die längste ohne Stützpfeiler gebaute Brücke Europas wurde. Besonders beteiligt war Wekerle auch am Bau der Untergrundbahn, die nach der Londoner „Metro" die einzige U-Bahn der Welt war, ihr jedoch den von der Firma Siemens und Halske konstruierten elektrischen Betrieb voraushatte 27 . Während Wekerles zweiter Amtszeit wurde durch Nutzung der warmen Quellen die „Bäderstadt" Budapest begründet. Die im PrivatbeForlsetzung Fußnote von Seite 245 Schleswig Holstein den Vorsitz. Julius Wolf, den Dieter Krüger einen „Antikathedersozialisten" nennt und der aus seiner Zeit als Universitätslehrer in Zürich zu dortigen Kreisen gute Beziehungen hatte, dominierte die Arbeit des Vereins, dem u.a. die Vorsitzenden des Zentralverbandes der deutschen Industrie, der Sozialdemokrat Max Schippel und der wissenschaftliche Gegner Wolfs, Carl Jentsch, angehörten. WOLF, Autobiographie (s.o.), 224ff; D. KRÜGER, Nationalökonomie im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, 18.

" E. PLENER, Erinnerungen, Stuttgart 1921, Band III, 347. 26 Bericht des Deutschen Botschafters in Wien. 23.8.1917. AA. PA. I A, 92, 6a, Band 8. 27 F. GOTTAS, Anmerkungen zum Urbanisierungsprozeß der Stadt Budapest. Von der Vereinigung (1873) bis zur Jahrtausendwende, in: Südostforschungen 32 (1973), 123-167, hier 134 ff.

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sitz des Erzherzogs József befindliche Margareteninsel wurde 1908 vom Staat erworben und als Erholungsgebiet für die Bevölkerung freigegeben. Im Bereich der Urbanisierung Budapests vereinigte Wekerle auf sich eine einzigartige Machtfülle. Er war amtierender Ministerpräsident, Finanzminister, Vorsitzender der Vorbereitungskommission im Landesindustrierat und von September 1908 bis Februar 1910 auch Vorsitzender im „Rat der Hauptstadt für öffentliche Arbeiten". Eine soziale Errungenschaft, in der sein Name bis heute fortlebt, ist die Wekerle-Siedlung im XIX. Bezirk, die bei Baubeginn 1909 - als ausschließlich mit staatlichen Mitteln finanzierte Gartenstadt - in Europa einmalig war und als Vorbild für die Wiener Gartenstadt-Bewegung diente 28 . Die Bedeutung dieses Siedlungsbaus ist unter mehreren Gesichtspunkten zu beurteilen: Sie leistete einen erheblichen Beitrag zur Lösung des Problems mangelnder billiger Wohnungen, indem hier ein erschwinglicher Wohnraum für ca. 20.000 Arbeiter, vornehmlich der staatlichen Maschinenfabrik und der Hauptwerkstätte der Ungarischen Staatsbahnen, geschaffen wurde. Die Förderung der Volksbildung in dieser Sozialsiedlung war ein integrativer Teil der Gesamtkonzeption, und bald bildete sich hier ein vielfältiges gesellschaftliches und kulturelles Leben aus. Die Anlage dieser Gartenstadt war Bestandteil eines Umdenkens in der Lebensführung, die auch Bereiche wie Arbeiterschutz, Umweltschutz, Gesundheitsfürsorge und viele andere Bereiche des direkten Lebensumfeldes umfaßte und die zweifellos die Integration der fremdsprachigen Zuwanderer des Umlandes gefördert hat. Wie manche seiner Kollegen widersprach auch Wekerle einer gewaltsamen Magyarisierung, kritisierte jedoch die Verunglimpfung der Regierung in der Nationalitätenpresse und suchte den Kern der Problematik nicht im Verhältnis der Verwaltung zu den Minderheiten, sondern z.B. in Siebenbürgen - im Verhältnis der Grundbesitzer zu ihren Bauern 2 '. Auch in Parlamentsreden betonte Wekerle zwar sein Verständnis für die Wünsche der Minderheiten, bezeichnete sie aber als eine weit untergeordnete Problematik. Als es 1893 Probleme mit der nationalen Presse der Serben gab, sagte Wekerle im Parlament: „Es gibt eine einheitliche, unteilbare, ungarische politische Nation, bei der wir innerhalb der politischen Nation eine andere politische Aufgliederung hinsichtlich der Nationalitäten nicht kennen" 30 . In bezug auf die Emanzipationsbestrebungen der slawischen Völker gab er sich stets höchst magyarisch-national und konservativ. Alles weist d a r a u f h i n , daß die Nationalitätenpolitik für Wekerle nur se28

K. KÖRMÖCZI, A fovárosi lakáshelyzet és a Wekerle állami munkástelep [Die Wohnungssituation in der Hauptstadt und die staatliche Wekerle-Arbeitersiedlung], Teil I, II in: Folia Histórica 8 (1978), 9 (1980). " P. HANÂK, Iratok az 1894-95 évi kormányválság torténetéhez [Akten zur Geschichte der Regierungskrise des Jahres 1894/95], in: Tôrténelmi Szemle 3-4 (1959), 310. 50 K N , 1982-1986. 5. 10. 1893.

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kundäre Bedeutung hatte. Primär war für ihn die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns. In diesem Bereich war er nie ein Vertreter der Forderung nach nationaler Eigenständigkeit, sondern der beizubehaltenden Anbindung an Österreich, ja sogar des engen transnationalen Zusammenschlusses in Mitteleuropa. In den Bereichen der Militär-, Unterrichts- und Sprachenpolitik unterstützte er „nationale Anliegen" nur so weit, wie er die Zugeständnisfähigkeit des Monarchen nicht ernsthaft gefährdet sah. Die großen politischen Probleme, deren Bereinigung sich während Wekerles zweiter Amtszeit die Koalition zum Ziel gesetzt hatte, wurden ständig aufgeschoben und blieben letztlich ungelöst. Die Kräfte, die auf die Regierung einwirkten, so das Parlament mit seinen Mehrheitsverhältnissen, Wien mit seinen divergierenden Machtfaktoren des Monarchen, des Thronfolgers, der Gemeinsamen Ministerien und der labilen österreichischen Regierungen, die ungelöste soziale Frage in Ungarn, die gegen Budapest gerichteten Bestrebungen der nicht-magyarischen Nationalitäten und die inneren Verhältnisse im Kabinett wirkten vom ersten Moment an zentrifugal. In diesem Sinne ist es als Verdienst Wekerles zu werten, daß die Koalition überhaupt vier Jahre an der Regierung blieb. Mit ihr umging die Monarchie die für sie größte innenpolitische Krise in Ungarn, in der alle Zeichen darauf hindeuteten, eine der liberalen 67er Partei oppositionelle Regierung, die den Status quo in Frage stellte, würde die politische Führung in Ungarn übernehmen. Die Gegnerschaft zu der von Wekerle zu verantwortenden Politik wuchs zusehends; den Autoritätsverfall beschreibt Lajos Thallóczy in einem Tagebucheintrag: „Wekerle ist bald nur mehr ein Schäfer, der keine Herde hat" 31 , und der „Pester Lloyd" meinte: „Er war im besten Fall ein Bindeglied zwischen der Krone und deren Widerstreben gegen die Koalition" 32 . Deren Ziele, die auf die grundlegenden Probleme der Gesellschaft, wie das allgemeine Wahlrecht und die Emanzipationsbestrebungen der Nationalitäten hinausliefen, hatte Wekerle nicht verwirklichen können und wollen. Sein politisches Selbstverständnis sollte jedoch nicht allein aus der ungarischen Perspektive, sondern aus der Position der Gesamtmonarchie betrachtet werden. 1906-1910 mußte sich die ungarische Regierungspolitik, bejahte man das System des Dualismus, in den Dienst der Gesamtmonarchie stellen. Daß Wekerle dies bewerkstelligen konnte, kann nicht allein durch faktische wirtschaftliche Präferenzen des Finanzfachmannes erklärt werden. Vielmehr muß er in dieser Phase auch in seinem persönlichen, magyarischen Selbstverständnis ein Fundament für eine gesamtmonarchische Grundeinstellung besessen haben. Am Tag seiner Wiederernennung, am 15. Oktober 1918, wurde in Wien auf dem letzten gemeinsamen Kronrat der Monarchie beschlossen, das Völkermanifest des Monarchen zu verkünden. Auf der Grundlage der Personalunion, des gemeinsamen Herrschers als alleinigem Band zwischen JL 32

N. THALLÓCZY, Tagebuch Th.s, ca. 21.6.1907. Pester Lloyd 29.9.1909.

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den ansonsten völlig getrennten Staaten, sollte Ungarn - so Wekerle seine Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungspolitik fortan eigenständig und unabhängig bestimmen 33 . Dies stand zu seinen Grundüberzeugungen in vollem Gegensatz, und so wirkte er auf seinen österreichischen Verhandlungspartner Rudolf Sieghart als „gebrochener Mann" 3 4 . Noch im September 1918 hegte Wekerle einen langfristigen Plan: er betraf den weiteren Ausbau der Schiffbarkeit der Donau. Wie bereits während seiner ersten Amtszeit legalisiert und später durchgeführt, sollte nun das Donaubecken derart vertieft werden, daß Schiffe mit einem Tiefgang von bis zu drei Metern vom Schwarzen Meer bis Budapest fahren konnten. Dazu sollte am Eisernen Tor mittels eines Wasserkraftwerks Europas größte Elektrizitätsanlage gebaut, die Energie nach Budapest geleitet und von hier Industrie, Verkehr und Landwirtschaft elektrifiziert werden 35 . Verwirklichen konnte er davon nichts mehr. Bei Cisleithaniens Wirtschaftsentwicklung insgesamt handelt es sich laut Nachum Gross und Richard Rudolph - um „eine Fallstudie langsamer Industrialisierung". Zweitens zeigt sich, daß das industrielle Wachstum Österreichs im Vergleich zu dem anderer europäischer Staaten nicht so ungünstig abschneidet, wie oft gedacht wurde: z.B. weist der deutsche Wirtschaftsraum zwischen 1870 und 1913 eine jährliche Wachstumsrate für Industrie und Handwerk von 3,7% auf, im Vergleich dazu beträgt die österreichische für diese Zeit 3,6%36. Nun zu Koerber: Im Januar 1900 wandten sich etwa 6.000 tschechische und deutsche Industrie- und Handelsfirmen an die Wiener Regierung und die Reichsrats- und Landtagsabgeordneten mit einem dringlichen Aufruf zur Beilegung der nationalen Feindseligkeiten, die von Böhmen aus immer mehr auf die übrigen Kronländer übergriffen 37 . Koerber gelang es, die Vertreter der beteiligten Parteien wenigstens an den Verhandlungstisch zu bringen, und so fanden im Februar und März auf seine Einladung tschechisch-deutsche Verständigungskonferenzen statt. Von Anfang an galt Koerber in weiten Kreisen, auch bei der Krone, als der geeignete Mann, die Sprachenfrage zu lösen, als die - in seinen eigenen Worten „hauptsächlichste Ursache des auf allen Gebieten öffentlicher Wirksamkeit eingetretenen Stillstandes, den Kernpunkt allen politischen Zwistes". Hierbei kam ihm zustatten, daß sich sein Kabinett nicht als Exponent einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder einer Partei, sondern als Beam" KN, 16.10.1918. " R. SIEGHART, Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932, 108. 35 Anfang September 1918 besprachen Wekerle und Szterényi diese Projekte an der Unteren D o n a u v o r O r t . SZTERÉNYI ( A n m . 18), 158. 36

R. L. RUDOLPH, Quantitative Aspekte der Industrialisierung in Cisleithanien 1848-1914, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918 (Anm. 4), Bd. 1: Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, 233-249, hier 246. " A. SRB, Politické dèjiny národa èeského od roku 1861 [Politische Geschichte des tschechischen Volkes seit dem Jahr 1861], Bd. 2, Prag 1901, 513 f.

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tenkabinett konstituierte. Allerdings - und damit stand sein Vorhaben wohl einzigartig in der jüngeren österreichischen Geschichte da - wollte Koerber sich nicht mehr nur auf den Sprachenstreit zwischen Deutschen und Tschechen beschränken, sondern im Rahmen eines Oktroi eine Sprachenordnung für ganz Cisleithanien erlassen. Ich verweise nochmals auf die Analyse Alfred Ableitingers und betone nur den gesamtcisleithanischen Aspekt, der sich bei seinem Wirtschaftsprogramm fast zu einem europäischen ausweitete. Als Koerbers Reform der Wahlordnung des Parlaments als ein „zu großes Zugeständnis an die Demokratie" 38 bei der ungarischen Regierung und beim Außenminister Graf Goluchowski auf Widerspruch gestoßen war, versuchte er, durch umfassende Wirtschaftsprojekte die Aufmerksamkeit vom nationalen Konflikt abzulenken. Dadurch gelang es, den österreichischen Reichsrat wenigstens vorübergehend zu pazifizieren und so eine gemeinsame Plattform für die nationalen Lager und Parteien zu schaffen. Die Ausgestaltung des Handels zwischen Österreich-Ungarn und den Balkanländern machte den Anschluß des bosnischen Eisenbahnnetzes in Richtung Südosten spruchreif, so daß sich der gemeinsame Ministerrat in acht Sitzungen vom September bis November 1900 damit beschäftigte. Als Bosnisch-Herzegowinisches Bahnbauprogramm wurde es 1913 noch einmal diskutiert, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht 39 . Bedeutender, wenn auch mit Überschreitungen des Kostenvoranschlags verbunden, waren die fünf Alpenbahnen: die Tauern-, Karawanken- und Wocheinerbahn als zweite Schienenverbindung nach Triest sowie die 1905-1908 erbaute Pyrhn-Paß-Strecke und die Wechselbahn. Dadurch sollte die handelspolitische Stellung des Hafens Triest verbessert und die Monopolstellung der privaten Südbahn gebrochen werden. Da die Slowenen den größten Wert auf die Triester Linie legten, beteiligten sie sich nicht mehr an der Obstruktion und wirkten auf die Tschechen ein, die nun - allen voran die Jungtschechen mit Kramár - mildere Töne anschlugen 40 . Während die Richtung der Bahnen nach Süden zur Adria verlief, zielte das Projekt der Wasserstraßen nach Norden zum Baltischen Meer und zur Nordsee. 38

H. FRIEDJUNG, Ernest von Koerber, in: Neue Österreichische Biographie 1815-1918, Wien

19

Projektiert wurde der Ausbau der Strecke von Sarajewo bis zur Sandschakgrenze, der Ausbau der Strecken Banjaluka-Jajce, Bugojno-Arzano und Samac-Doboj. A. NOVOTNY, Ministerpräsident Ernest von Koerber (1850-1919), in: H. HANTSCH, Gestalter der Geschichte Österreichs, Innsbruck-Wien-München, 2. Bd., 485-500, hier 494; K. WESSELY, Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina, in: Die Habsburgermonarchie 18481918, Bd. 1 (Anm. 4), 528-604, hier 549 f. GERSCHENKRON (Anm. 1), 73 ff. K. KRAMÁR, Anmerkungen zur böhmischen Politik, Wien 1906, 50: Dr. von Koerber versuchte das Feuer unserer Obstruktion mit dem Goldregen von einigen hundert Millionen an Investitionszwecken zu ersticken. Außerdem hat er durch die Vorlage betreffend die Alpenbahnen die Slovenen gewonnen, unsere nächsten Alliierten, und die beeinßußten dann wieder uns mit dem gewichtigen Moment ihrer wirtschaftlichen Not ...[...] Erst die Zukunft wird die wirtschaftliche Tragweite und hiermit auch die soziale und politische Bedeutung desjenigen einschätzen, was wir für das Aufgeben der Obstruktion gegen die Investitionen erreicht haben.

1923, 2 3 - 4 1 , hier 27.

40

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Am 1. Juni 1901 verabschiedete das österreichische Abgeordnetenhaus die Wasserstraßenvorlage, die zu den im wörtlichen Sinne weitreichendsten Vorhaben der Geschichte der Doppelmonarchie gehört. Die großen Ströme der westlichen Reichshälfte Donau, Moldau, Elbe, Oder, Weichsel, San und Dnjestr sollten zu einem einzigen gigantischen Schiffahrtsnetz verknüpft werden. Vorgesehen waren ein Donau-Oder-Kanal zwischen Wien und Oderberg entlang March und Beèva, ein Donau-MoldauKanal zwischen Linz oder Korneuburg und Budweis, eine Verbindung zwischen dem geplanten Donau-Oder-Kanal bei Prerau a. d. March und der Elbe bei Pardubitz und schließlich ein Kanalsystem quer durch Galizien, bestehend aus künstlichen Wasserstraßen zwischen Oder (Ostrau), Weichsel (Krakau), San und Dnjestr. Insgesamt waren 1.700 km Kanalstraße geplant, ergänzt durch etliche, von Kaizl und den Jungtschechen geforderte Flußregulierungen 41 . Angesichts der aktuellen Bemühungen um eine Integration des wiedererstehenden Mitteleuropa in einen einheitlichen Wirtschafts- und Verkehrsraum vermag ein solches Projekt auch heute zu faszinieren. Die österreichische Wasserstraßenvorlage von 1901 nimmt in der Literatur einen nicht unbedeutenden Platz ein. Als „Koerber-Plan" erscheint sie gemeinsam mit der Eisenbahnvorlage als einer der Marksteine der Ministerpräsidentschaft Koerbers. Je nach wissenschaftlicher Zielsetzung des Autors liegt das Gewicht entweder mehr auf der politischen oder auf der wirtschaftlichen Zielsetzung des Vorhabens. Im ersten Fall erscheint der Plan als ein Teil einer Strategie, mittels wirtschaftlicher und sozialpolitischer Vorlagen übergreifende Probleme zu thematisieren und damit vom Nationalitätenstreit abzulenken. Die primär ökonomische Interpretation bewertet die Vorlage als Versuch, die strukturellen Nachteile der österreichischen Wirtschaft mittels eines kühnen Infrastrukturprogramms zu beseitigen. Ihre Ausdehnung auf Galizien als eines der schwächsten Glieder des cisleithanischen Staatsverbandes wird - ζ. B. von Herbert Matis positiv - als Zeichen einer „zielbewußten Strukturpolitik zum Ausgleich des regionalen Wirtschaftsgefälles" oder - negativ - als Hinweis auf eine mangelnde industriewachstumspolitische Orientierung gewertet 42 . Alexander Gerschenkron, der sich in seinem Buch „An Economic Spurt that Failed" bisher am ausführlichsten mit dem Thema befaßt hat, interpretiert das Vorhaben im Rahmen seines Konzepts der „ökonomischen Rückständigkeit" als ein Beispiel staatlicher Modernisierungspolitik in Europa, die unabhängig vom politischen Effekt der ökonomischen Maßnahmen - ihre 41

42

J. KAIZL, Ζ mého zivota [Aus meinem Leben], hg. von Z. TOBOLKA, Bd. 3, Prag 1911. Es handelte sich nicht nur um die bloße Forderung der Jungtschechen, vielmehr spielte die problematische Interessenlage der Landwirtschaft wesentlich mit hinein. H. MATIS, Die Habsburgermonarchie (Cisleithanien) 1848-1918, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. von W. FISCHER, Stuttgart 1985, Bd. 5. - Dageg e n K . BACHINGER, D a s V e r k e h r s w e s e n , i n : D i e H a b s b u r g e r m o n a r c h i e (Anm. 4 ) , 3 2 1 .

1848-1918, Bd. 1

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Eigenbedeutung besaß 43 . Demgegenüber spricht Harald Binder in einem 1992 in der „Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften" erschienenen Aufsatz Koerber und seiner Regierung jegliche staatliche Planung, Integrations- und Strukturpolitik ab : Die Durchsetzung der Vorlage ist Binders Meinung nach allein der Stärke des österreichischen Abgeordnetenhauses zuzusprechen und zeigt die Schwäche, ja Abhängigkeit der Regierung vom Willen des Parlaments 44 . Wie dem auch sei - immerhin ist eine Grundidee der Koerberschen Politik, nämlich das Erzielen von nationalem Konsens durch Thematisierung von Wirtschaftsfragen, dafür verantwortlich zu machen, daß Kanalfrage und Eisenbahnvorlage in den Strudel der parlamentarischen Geschehnisse miteinbezogen wurden. Am Plan, den Ausbau der Verkehrswege zu vollenden, waren alle interessiert; er stellte einen Erfolg in Aussicht, den nach Koerber wohl kein österreichischer Ministerpräsident mehr ganz erreichen konnte 45 . Die Führung einer zweiten Eisenbahnlinie ans Meer, die Tauernbahn, der Ausbau des Hafens von Triest, die Ausgestaltung des bosnischen Eisenbahnnetzes, die Ergänzung der Waggonbestände, die Verbindung der Donau mit der Elbe und der Oder, der Oder mit der Weichsel, stellten allen Kronländern neuen Aufschwung und neue wirtschaftliche Möglichkeiten in Aussicht. In Konsequenz verließ die Mehrheit der Tschechen und Südslawen den Weg der Obstruktion, und das Abgeordnetenhaus erteilte nicht nur diesen Vorlagen, sondern auch der Bewilligung des Budgets, der Steuern und der Rekruten seine Zustimmung, nachdem etwa vier Jahre weitgehend mit Hilfe des Notverordnungsparagraphen 14 regiert worden war. Mehr noch: Am 31. Dezember 1902 kam ein Abkommen zwischen der cis- und transleithanischen Reichshälfte über den Fortbestand des gemeinsamen und einheitlichen Wirtschaftsgebietes zustande. Dies bedeutete nicht nur ein besseres Verhältnis zu Ungarn, eine Sicherung des Ausgleichs für die nächsten zehn Jahre, sondern auch einen Erfolg des Gesamtstaatsgedankens, der vor allem den persönlichen Verhandlungen zwischen Koerber und dem ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Széll zuzuschreiben ist. Bekanntlich wurde - außer einigen Flußregulierungen - nichts von dem großartigen Wasserstraßenvorhaben verwirklicht, und es bleibt die 43

G E R S C H E N K R O N ( A n m . 1), 5 6 .

44

H. BINDER, Die Wasserstraßenvorlage und die wirtschaftlich-politische Lage Österreichs im Jahre 1901, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÔZG) (1922), 4362, hier 59. Selbst Baron Beck nicht, der zwar auch wirtschaftliche, soziale und administrative Reformen in den Vordergrund seines Regierungsprogramms rückte, um erst einmal das „richtige Milieu" zu schaffen, ohne das seiner Meinung nach eine Lösung der nationalen Frage nicht zustande zu bringen war. J . Ch. A L L M A Y E R - B E C K , Ministerpräsident Baron Beck. Ein Staatsmann des alten Österreich, München 1956; R. J . H O F F M A N N , T . G. Masaryk und die tschechische Frage. I. Nationale Ideologie und politische Tätigkeit bis zum Scheitern des deutsch-tschechischen Ausgleichsversuchs vom Februar 1909, München 1988, 334.

45

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Frage, ob dies an der Hintertreibungspolitik des Finanzministers BöhmBawerk, an der völligen Überforderung des mit der Durchführung betrauten Beirates oder an den veranschlagten Kosten von 1 Milliarde Kronen lag. Das Scheitern Koerbers läßt einige der Haupthindernisse für eine erfolgreiche österreichische Wirtschaftspolitik erkennen: die tragende Rolle der Bürokratie in der Wirtschaftspolitik, deren Einstellung sehr stark durch fiskalische Interessen bestimmt war. Staatliche Wirtschaftspolitik wurde häufig mit Finanzpolitik gleichgesetzt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß bis auf wenige Ausnahmen die Finanzminister den größten Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschaftspolitik ausübten. In der Finanzpolitik dominierte während des gesamten Zeitabschnittes der Fiskalismus, das Prinzip, der Staat müsse in erster Linie auf die Füllung der Staatskasse bedacht sein. Dieser Gesichtspunkt war auch bestimmend für die Verkehrsprojekte Koerbers. Es entsteht der Eindruck, als wollten die verantwortlichen Kreise die weitere Ausbreitung der Industrie verhindern. Das ungarische Steuer- und Tarifsystem stand dazu in diametralem Gegensatz. Wenn im März 1903 die tschechische Obstruktion erneut - etwa für ein Jahr - aufgegeben wurde, so hatte dies abermals seinen Grund in einem Wirtschaftsprojekt Koerbers, nämlich der Zuckerkonvention, die die Produktion und den Zuckerexport Böhmens und Mährens zu fördern versprach 46 . So denkwürdig Koerbers in die Zukunft weisende Wirtschaftspläne gewesen sein mögen, der Nationalitätenstreit hatte sich im Herbst 1904 durch die Errichtung polnischer Parallelklassen in Troppau und Tetschen sowie durch die italienische Rechtsfakultät in Innsbruck erneut zugespitzt. Hinzu kam die Gegnerschaft der Christlichsozialen und Alldeutschen, der konservativen Großgrundbesitzer, der deutschen Volkspartei, der Sozialdemokraten, der Südslawen, der Ruthenen, Italiener, vor allem aber des Jungtschechischen Klubs: Kramár machte das Ende der tschechischen Obstruktion von der Demission Koerbers abhängig 47 , der daraufhin am 31. Dezember seinen Abschied nahm. Obwohl seine verschiedenartigen Versuche zur Beruhigung der Nationalitäten insgesamt gescheitert waren, übernahm er noch einmal im Februar 1915 das gemeinsame Finanzministerium (mit der Aufgabe der Verwaltung Bosniens) und im Oktober 1916 abermals für zwei Monate die Ministerpräsidentschaft. Der Tod Kaiser Franz Josephs bedeutete für Koerber das Ende seiner politischen und amtlichen Laufbahn, denn mit Kaiser Karl verstand er sich - ähnlich wie Wekerle - nur schlecht. Nach 46

NOVOTNY ( A n m . 3 9 ) , 4 9 2 f .

47

Kaiser Wilhelm II. hat die Demission Koerbers sehr bedauert. Z. TOBOLKA, Politické dèjiny èeskoslovenského národa od r. 1848 az do dnesní doby. [Politische Geschichte des òsi. Volkes vom Jahr 1848 bis heute] Teil III, Prag 1936, 355; KRAMÁR (Anm. 40), 57f.

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M o n i k a Glettler

seiner endgültigen Demission am 20. Dezember 1916 gehörte Koerber in den letzten beiden Kriegsjahren zu den unerbittlichen Kritikern der neuen sog. „Experimentalpolitik".

Resümee Anders als viele ihrer Vorgänger verfolgten Ernest von Koerber und Sándor Wekerle eine Gesamtplanung zur Neugestaltung der österreichischungarischen Monarchie und deren innerer Politik. Ihre Bemühungen, das Nationalitätenproblem durch großzügige Wirtschafts- und staatliche Investitionspolitik zu entschärfen, brachten tatsächlich zeitweilig Erfolge. Es fragt sich jedoch, wie es um die Aussichten einer Konzeption von der Art stand, wie Koerber und Wekerle sie vertraten, ob sie eine im Verhältnis zu den nationalen Strömungen konkurrenzfähige Integrationskraft besaßen. Der abnehmende Rang der Sprachenfrage zugunsten sozialer Themen innerhalb des Nationalitätenproblems, je weiter die Entwicklung von der bürgerlichen zur vollentwickelten Industriegesellschaft fortschritt, ist für diese zwar nicht allzu auffällige, aber tiefgreifende Veränderung im Wesen der nationalen Frage symptomatisch gewesen. Gerade auf diese für die Nationalismen heikle Stelle zielten aber Koerbers und Wekerles Politik, trotz der Amputation, die der Fehlschlag der Wirtschaftspläne im ganzen für die Beruhigung im multinationalen Staat bedeutete. Eine zielbewußte, energische Regierung scheint jedoch in Konkurrenz mit den politischen und nationalen Parteien um die Integration politisch noch nicht mobilisierter Schichten gerade in Österreich nach den Badeni-Stürmen, aber auch in Ungarn noch nicht absolut chancenlos gewesen zu sein, namentlich dann nicht, wenn ihre Bestrebungen mit konjunkturellem Aufschwung breit gestreuter wirtschaftlicher Besserstellung einhergingen. Koerbers wie Wekerles Selbstverständnis, wo es um die Grundbedingungen der politisch-sozialen Lage ging, vertraute auf die der ökonomischen Entwicklung immanente Macht zur Verwandlung der aktuellen politischen Szene. Dergestalt stellten Koerbers Wirtschaftspläne (wie auch der Verfassungsentwurf) wohl die letzte, nicht so sehr multinationale als vielmehr im strengen Sinn übernationale Konzeption österreichischer Innenpolitik vor 1918 dar 48 . Ähnliches gilt für Wekerle, der die kirchenpolitischen Reformen durchgesetzt hatte und ein mehr europäisch als national denkender Finanz- und Wirtschaftsfachmann war. 4

* An Reformkonzepten für die Bejahung der politischen Einheit, sei es aus dem katholischen, dem nationalliberalen und dem sozialistischen Lager, hat es nicht gefehlt; ich erwähne hier nur Rudolf Herrmann von Herrnritts, Oscar Jászis und Karl Renners Systeme, die auf streng rechtlichen, verwaltungsmäßigen Unterscheidungen zwischen den einzelnen Gruppen der Reformpläne beruhten. Dargestellt bei R. KANN, Das Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie, 2. Bd.: Ideen und Pläne zur Reichsreform, Graz-Köln 1964.

Ökonomie und Nationalismus

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Providentieller Initiator einer politischen „Genesung" konnten für beide nur der Monarch und der hergebrachte Staatsapparat sein. Gleichwohl treten die Schwächen in der politischen Strategie beider ziemlich offen auch da zutage, wo es nicht nur um Konkurrenz zu den Nationalbewegungen ging. Das Verhältnis Koerbers und Wekerles zu den Nationalitäten weist schon insofern einen Mangel in der Konzeption auf, als beide, ökonomisch-rationalistische Elemente hervorkehrend, die emotionalen Motive für die Loyalität der Bevölkerung - sei es dem Staat, sei es den anderen Nationalitäten gegenüber - praktisch außer acht ließen. Eine Infragestellung der grundsätzlichen Strukturen des österreichischungarischen Dualismus und seiner Verankerung in der internationalen Politik kann zwar eine gewisse labile Grundstruktur des politischen Systems diagnostizieren, sollte allerdings nicht die Diskussion der Möglichkeiten einer innerhalb des Systems praktizierten Politik überlagern. Besonders gilt dies für die Beurteilung Koerbers und Wekerles, die einer Generation angehörten, die mit dieser Staatsstruktur aufwuchs, sie aber nicht mitkreiert hatten. Daß wirtschaftliche Integration - ohne Vollzug der politischen Integration - zur wechselseitigen Schädigung beider Konzeptionen führen kann, ist auch heute ein aktuelles Problem, und die Frage des Zusammenhangs von Wirtschaft und Politik - nach Abgang des dogmatischen Marxismus scheint der Historiographie einen weiten Horizont zu eröffnen.

Jürgen Hannig Im Schatten von Spichern M i l i t a r i s m u s u n d N a t i o n a l i s m u s im Saarrevier v o r d e m E r s t e n Weltkrieg Jeder, der sich in der Schule mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges befaßt hat, erinnert sich an Schulbuchfotografien, die die allgemeine Begeisterung der Bevölkerung bei der Mobilmachung im Deutschen Reich dokumentieren. Menschen jubeln vorbeimarschierenden Truppen zu. Blumengeschmückte junge Männer drängen sich vor den Freiwilligenmeldestellen. Am häufigsten wiedergegeben sind Bilder, die Eisenbahnwagen und Güterwaggons zeigen, vollgestopft mit Soldaten. Die Männer lachen, Frauen verabschieden sie im Festtagsstaat, Kinder tragen Blumen. Auf den Waggons steht mit Kreide geschrieben: „Ausflug nach Paris", „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard" oder „Zur Treibjagd nach Paris". Der Weltkrieg erschien als fröhlicher Wochenendausflug, als Genuß und Abenteuer versprechende klassenübergreifende Jagdpartie. Das Erlebnis der überall sichtbaren Organisation der militärischen Maschinerie, die das ganze wehrfähige Volk zu ergreifen schien, hatte zu einer nationalen Kriegsbegeisterung geführt, die heute kaum noch nachvollziehbar ist. Man fühlte sich als kampfbereite Nation, die geschlossen agiert, wenn sie sich angegriffen glaubt. Das gilt für das Bürgertum, aber auch für die Arbeiterschaft. Obwohl die sozialistischen Parteien bis zuletzt vor dem Krieg gewarnt hatten, fühlten sie sich „in der Stunde der Gefahr" ihren Nationen - nicht nur im Deutschen Reich - verpflichtet. „Mit Gott für Kaiser und Reich". Diese Parole war die zentrale Losung in den Tagen der Mobilmachung im Sommer 1914 auch in den Städten und Dörfern des Saarindustriereviers. Auch die Arbeiter und Bürger an der Saar sind freiwillig und patriotisch in den Krieg gezogen, bereit zu töten und getötet zu werden. In den preußischen Saarkreisen hatte sich im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sogar die größte Zahl an Freiwilligen zu den Musterungskommissionen gemeldet. Dies war nach dem Desaster des Ersten Weltkrieges im Saarabstimmungskampf 1934/35 ein zentrales Argument, wenn es galt, die unverbrüchliche Treue der Saarbevölkerung zum Deutschen Vaterland zu beweisen. Der „militärfreundliche Patriotismus", der den Bergleuten, der größten sozialen Teilgruppe der Bevölkerung, attestiert wurde, war gewiß nicht nur das Wunschbild königlich preußischer Bergbeamter. Er beruhte auf einem ganzen Netzwerk von na-

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tionalistischen und militaristischen Wertvorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die die Arbeiterschaft mit dem Bürgertum teilte, an der Saar wie auch im übrigen Deutschland 1 . Nationalismus und Militarismus waren die zentralen Integrationsideologien des deutschen Kaiserreiches nach den Einigungskriegen. Beiden kam eine politische und soziale Doppelrolle zu. Sie dienten dazu, die Herrschaft der privilegierten Klassen von grundbesitzendem Adel und Großbürgertum in den sozialen Konflikten mit den Massen des Vierten Standes zu stabilisieren. Denn diese hatten begonnen, sich auch durch politische und gewerkschaftliche Organisationen von ihrer untergeordneten sozialen Position und dem Status politischer Machtlosigkeit zu emanzipieren. Es sind eine Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen, die üblicherweise unter dem Begriff des „Militarismus" der preußisch-deutschen Kaiserzeit verstanden werden. Das hohe Sozialprestige des Militärs, die Idealisierung kriegerisch-kämpferischer Tugenden, die Glorifizierung soldatischer Traditionen und die Übertragung einer Kriegsmentalität auf den zivilen Bereich, die hohe Akzeptanz von kompromißloser Machtausübung und die Bereitschaft, Gewalt bei der Durchsetzung nationaler politischer Ziele zu befürworten, nicht zuletzt auch die Hochrüstung unter Anspannung aller nationalen Kräfte und die Autonomiebestrebungen der Militärs. Sicher zu Recht sieht man heute ihre soziale Funktion vor allem darin, daß sie geeignet waren, das undemokratische und unsoziale autoritäre Ordnungsgefüge des wilhelminischen Deutschland ideologisch abzusichern und zu festigen. Das militaristische Denken schuf sich mit den Vorstellungen eines revanchelüsternen „Erbfeindes" Frankreich und eines den angestrebten „Platz an der Sonne" neidenden England perpetuierte Feindbilder, auf die sozial bedingte Aggressionen abgeleitet werden konnten. Eine ähnlich legitimatorische und integrierende soziale Funktion kam vor dem Ersten Weltkrieg der „Staatsideologie" des preußisch-(klein-) deutschen Nationalismus zu. Der Nationalgedanke war nach dem gescheiterten Einigungsversuch der bürgerlichen Revolution von 1848/49 seiner emanzipatorischen und antifeudalen, ja geradezu revolutionären Impulse, die er als Erbteil der Französischen Revolution mitgebracht hatte, gründlich entkleidet worden. In der Folgezeit konnte er als Vehikel dienen, die „Reichsgründung von oben" zu legitimieren und das Bürgertum mit der Prädominanz der autoritären und undemokratischen Monarchie Preußens im neuen Deutschen Reich zu versöhnen. Das Argument der nationalen Größe und Ehre des kaiserlichen Deutschland rechtfertigte vor den Massen die konservativ-autoritäre Innenpolitik und machte letztlich auch die aggressive und risikoreiche imperialistische Außenpolitik des Kaiserrei1

H. STEFFENS, Autorität u n d Revolte. Alltagsleben u n d Streikverhalten d e r Bergarbeiter an d e r S a a r im 19. J a h r h u n d e r t , Weingarten 1987.

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ches vor dem Ersten Weltkrieg akzeptabel, ließ sie vielen sogar als eine historische Notwendigkeit erscheinen. Nationalismus und militaristischer Habitus waren nicht nur auf die gesellschaftlichen Eliten beschränkt. Auch die „Nationalisierung der Massen" und der Militarismus der „kleinen Leute" sind zentrale Motive in dem ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Vorfeld des Ersten Weltkrieges in Europa 2 . Aber nationalistisches Denken und militaristisches Gehabe sind nicht nur eine Frage der Manipulation und Indoktrination, der Meinungsmache und Erziehung. Jede erfolgreiche Popularisierung von Ideologien setzt Bedürfnisse und Dispositionen voraus, Defizite und unerfüllte Wünsche, auf die sie Antwort und Befriedigung verspricht. Denn die Glorifizierung des Krieges, die Aufwertung militärischer Kampfaktionen zu traditionswürdigen Heldentaten, die Identifikation mit soldatischen Leitbildern und Tugenden und das kultförmig artikulierte patriotische Bekenntnis zu Preußen, zum Deutschen Reich und zur alles überstrahlenden Integrationsfigur des Kaisers sind keineswegs selbstverständlich - gerade für die Bevölkerung im südlichsten Winkel der preußischen Rheinprovinz. Weder dem Ackerbürgertum der Kleinstädte noch der regionalen Unternehmerelite, die sich in der ersten Phase der Industrialisierung formierte, noch der Arbeiterschicht oder den kleinen Bauern des Umlandes hatten Militär, Heeresdienst oder kriegerische Heldentaten attraktive Rollen, Betätigungsfelder oder gar Lebensziele geboten. Im Gegenteil. Auch die Befreiungskriege gegen Napoleon hatten an der traditionellen Einstellung der Bevölkerung Militär und Krieg gegenüber wenig geändert. Bis weit über die Jahrhundertmitte stieß das Militär in weiten Teilen des Bürgertums auf Mißtrauen, ja auf Ablehnung. Die Armee galt für das Bürgertum als eine ungeistige Einrichtung und als Exponent widerständiger Barbarei. Das Heer befand sich innerhalb der Gesellschaft in einem Zustand geistiger Isolierung1. Dieses allgemeine Phänomen sei mit einigen regionalen Beispielen für die bürgerliche Führungsschicht, die kleinen Städte im Hinterland und die Arbeiter des Industriereviers schlaglichtartig illustriert. Der seit 1842 immer wieder neu aufflammende Streit um die Form der Mitgliedschaft und Beteiligung von Offizieren der Saarbrücker Garnison in der dortigen „Casinogesellschaft" spiegelt - wie auch in anderen Orten - die prinzipiellen sozialen und mentalitätsmäßigen Schranken wider, die zwischen den einem strengen Ehrenkodex und Corpsgeist verpflichteten 2

3

G. L. MOSSE, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt-Berlin 1976; Th. ROHKRÄMER, Der Militarismus der „kleinen Leute". Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914 (Beiträge zur Militärgeschichte 29), München 1990. R. HÖHN, Die Armee als Erziehungsschule der Nation. Das Ende einer Idee, Bad Harzburg 1963, 43; H. U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815-1845/49, München 1987, 380-394.

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preußischen Offizieren und den bürgerlichen Lokaleliten bestanden 4 . Äußerer Streitpunkt war die Frage, ob sich die Offiziere auch dem bürgerlichen Aufnahmeverfahren, der „Ballotage", unterwerfen sollten. Diese beruhte auf dem Kooptationsprinzip und ließ auch die Möglichkeit der Ablehnung eines Bewerbers zu. Zugrunde liegt diesem Streit um Formalien, der zuweilen in offenem Streit bis hin zur Duellforderung aufbrach, eine bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts kaum überwindliche Unvereinbarkeit von bürgerlichen Normen und Werten und den Gruppennormen der Militärs. Die Abneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Das Bild, das ein in Saarbrücken stationierter Offizier in einem Berliner Blatt über seine Zeit in der Saarmetropole entwirft, mag in der Gehässigkeit ein Einzelfall sein. Die Arroganz und Überheblichkeit, mit der der Offizier auf die Formen bürgerlicher Geselligkeit blickt, sind aber durchaus typisch. Die Garnison bestand aus dem Stab und zwei Eskadrons. Saarbrükken war ein freundliches Städtchen, sonst aber nichts. Ein Photograph, primitivster Sorte hielt eine Leihbibliothek erbärmlicher Schmöker. Theater? I Wo! Ab und an erscheint mal eine Schmiere, deren lächerliche Leistungen wir durch allerhand Ulk verspotteten. Die musikalischen Genüsse beschränkten sich auf die bescheidenen Leistungen Richard Wagners - so hieß nämlich der Stabstrompeter -. Wir tranken recht oft und recht guten Saarwein sowohl bei Tisch im Casino der Kaserne wie auch abends im Zivilcasino. ... Die gesellschaftlichen Vergnügungen bestanden in einigen Subscriptionsbällen zweifelhaften Genres im Zivilcasino und einigen in demselben Lokal von den Spitzen der Eisen- und Kohlenleute gegebenen Bällen, diese waren die Lichtpunkte unseres Daseins5. Kleindeutsch-preußischer Nationalismus und Militarismus war auch der Bevölkerung in den Städten und Dörfern in der Peripherie des Industriereviers nicht eingeboren. Im Gegenteil, die „Borussifizierung" war ein langer und widerständiger Prozeß. Vor allem die Rolle des preußischen Militärs als Unterdrückungs- und Einschüchterungsinstrument gegenüber der frühliberalen Bewegung und während der Revolutionstage von 1848/49 war nachhaltig in Erinnerung geblieben. Hecker, Struwe, Zitz und Blum, / kommt und bringt die Preußen um. So soll in St. Wendel noch Jahre nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49 ein Kindervers gesungen worden sein 6 . Die Einquartierung von Soldaten in den Städten war ein probates Repressionsmittel in der Hand der staatlichen Autorität. Die Bürgerschaft fürchtete dies weniger wegen möglicher Gewaltanwendung, sondern weil 4

5 4

B. KRAUSE, Geschichte d e r Saarbrücken Casinogesellschaft, S a a r b r ü c k e n 1969, 27 ff unter weitgehender V e r w e n d u n g d e r älteren Darstellung v o n F. KROHN, Saarbriicker CasinoC h r o n i k , S a a r b r ü c k e n 1896. KRAUSE ( A n m . 4 ) , 31 nach einer Mitteilung von F. KLOEVEKORN. M. MÜLLER, Geschichte d e r Stadt St. W e n d e l , St. Wendel 1927, 246.

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die Beherbergung von Soldaten für die Bürger und den Stadtsäckel immer sehr kostspielig war. Erst lange nach den Reformen der 60er Jahre erschien das Militär in der Gesamtbilanz der Städte als ein wirtschaftlicher Positivfaktor. Kein Wunder, daß in den 50er und 60er Jahren eine kleine Ackerbürgerstadt wie St. Wendel wiederholt und energisch ablehnte, preußischen Truppenteilen als Garnisonsstadt zu dienen, nachdem 1832 mit dem Wechsel der Herrschaft die coburgischen Soldaten abgezogen waren. Auch die Einführung der allgemeinen dreijährigen Wehrpflicht in der von Kriegsminister Albrecht von Roon und König Wilhelm 1859 initiierten Heeresreform stieß nicht nur bei der liberalen Mehrheit des Parlaments, sondern vor allem bei den Betroffenen, den Familien der Bauern, Handwerker und Arbeiter in den 60er Jahren auf heftigsten Widerstand. Er muß zu den Preußen, hieß es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wenn die Wehrpflichtigen aus den Saarkreisen in die Kasernen einrückten, und das war durchaus nicht unbedingt positiv besetzt. Gewiß wurden von vielen jungen Arbeitern Musterung und Militärdienstzeit als Befreiung und Erlösung aus der quälenden Enge der Lebensverhältnisse und der permanenten Überanstrengung in der Arbeitswelt ersehnt. Aber wenn sich die Kasernentore nach der Musterung hinter dem Rekruten geschlossen hatten, kam ein böses Erwachen. Die körperlichen und seelischen Zumutungen der überaus harten (Grund-)Ausbildung, die ungewohnte Tortur des militärischen Drills, die Entmündigung, Erniedrigung, häufig sogar Mißhandlung der Rekruten waren wenig dazu geeignet, die Militärzeit beliebt zu machen. Die innere Struktur der preußischen Armee als streng hierarchische „totale Institution", deren wichtigstes Ausbildungsziel die Einübung eines unbedingten Gehorsams und die Formierung von reibungslos und maschinenartig funktionierenden Truppenkörpern war, ließ den Wehrpflichtigen oft nicht einmal Raum für eine nachträgliche Verklärung der Militärzeit. In den 70er Jahren war die Militärzeit für die Arbeiter aus dem Saarrevier durch eine besondere Variante der üblichen Schikanierungen und Diskriminierungen beschwert. Der Holzer Bergmann Johann Meiser (1855-1918), der seiner Wehrpflicht Anfang der 70er Jahre in Trier nachkommen mußte, schildert in seinen Lebenserinnerungen, wie er und seine Glaubensgenossen als Katholiken dem psychischen Terror der protestantischen Offiziere und Unteroffiziere ausgesetzt waren, eine Art „Kulturkampf in der Kaserne" 7 . Die Einigungskriege, die militärischen Erfolge der preußisch-deutschen Truppen und schließlich die Reichsgründung 1871 änderten die Einstellung zum Militär nachhaltig. Zunächst war es die bürgerliche Öffentlichkeit der Saarstädte, die Ende der 60er Jahre begann, sich mit der bestehenden preußischen Herrschaftsordnung und auch mit dem Militär nicht nur 7

K. L. JÜNGST, „ A u c h d a f ü r d a n k e ich d e m lieben G o t t " . Lebenserinnerungen des Holzer B e r g m a n n s J o h a n n Meiser, in: Richtig d a h e i m w a r e n wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarr e v i e r , h g . v o n K . - M . MALLMANN, G . PAUL U. a . , B e r l i n - B o n n

1987, 4 3 - 4 8 , hier 44.

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zu arrangieren, sondern diese zu bejahen. Der in militärischem Siegesgefühl entstandene kleindeutsche Nationalstaat wurde in schroffem Gegensatz zu den bürgerlich-republikanischen Tendenzen in Frankreich gesehen und als die historisch überlegene Lösung gefeiert. Die Identifikation mit dem Wertesystem des preußisch-deutschen Machtstaates bis hin zum unreflektierten antifranzösischen Hurrapatriotismus hat mehrere Gründe, die ζ. T. regionalspezifischer, eigenständiger Natur waren. Der preußische Machtstaat galt seit Beginn der 60er Jahre im gehobenen, meist protestantischen Bürgertum als Schutz vor den Forderungen Frankreichs. Als Napoleon III. nach den italienischen Kriegen 1859/60 eine günstige Gelegenheit sah, Teile der preußischen Rheinprovinz durch Tausch oder Kauf an sich zu ziehen, und als auf dem Höhepunkt der preußisch-österreichischen Auseinandersetzungen an der Saar Gerüchte umliefen, die preußische Regierung wollte sich die Mittel zum Krieg gegen Österreich durch den Verkauf von Eisenbahnen, Industrieaktien und den fiskalischen Kohlengruben an Frankreich verschaffen, wurde in der Publizistik des Saarreviers die unwandelbare Treue der Bevölkerung zu Preußen und die Anhänglichkeit an das preußische Herrscherhaus beschworen. Die hautnah miterlebten Kriegstage des Sommers 1870 hatten vor allem der Bevölkerung im Umkreis von Saarbrücken und an den zum Truppentransport dienenden Eisenbahnlinien zur Nahe und zum Rhein ein neues Bild der preußisch-deutschen Truppen vermittelt: Sie kamen als Befreier. Für die Saarbrücker Bevölkerung beendete ihr Erscheinen eine wenn auch kurzfristige so doch angstvoll erlebte französische Besetzung. In den anderen Orten befreiten sie zumindest von der Angst und Furcht vor einem weiteren Vorrücken des in der Anfangsphase des Krieges an Stärke und Ausrüstung überlegenen Feindes. Die emotionale Hinwendung zum preußischen Macht- und Militärstaat hatte hier einen ganz realen Erfahrungshintergrund. Der preußisch-deutsche Hurrapatriotismus des Bürgertums entsprang aber nicht nur dem Erlebnis des deutsch-französischen Krieges. Er war gleichzeitig auch das entscheidende ideologische Element der Stabilisierung der eigenen politischen und wirtschaftlichen Macht gegenüber den bedrohlich anwachsenden Arbeitermassen. Die zunehmende Furcht des vorwiegend protestantischen Unternehmer- und Beamtenbürgertums vor dem ständigen Anwachsen des katholisch-proletarischen Elements in der Arbeiterbevölkerung führte dieses zu einem engeren Schulterschluß mit den Garanten der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung im protestantisch regierten Preußen. Der Prozeß der Industrialisierung hatte Traditionsbrüche im Bürgertum gefordert, verlangte die Integration immer neuer Personengruppen des Beamten- und Militärapparates aus dem Reich. Die mangelnde politische und soziale Identität des Bürgertums der Saarstädte konnte vor allem mit einem geborgten, kaiserlich-preußischdeutschen Identifikationsrahmen kompensiert werden.

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Sein wichtigstes dauerhaftes Argument hatte der bürgerliche Patriotismus in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Industriereviers unter der „Obhut" des preußischen Bergfiskus und der mit ihm eng kooperierenden Stahlbarone Röchling und Stumm. Für einen dauerhaften Erfolg unternehmerischer Expansion und für die Zugehörigkeit zu den regionalen Führungseliten war im Saarrevier insbesondere die Verbindung zum preußischen Staat und der gute Kontakt zu den administrativen Entscheidungsträgern von Bedeutung. Wurde doch die seit 1909 vereinigte Großstadt Saarbrücken zu einer der bedeutendsten administrativen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bastionen Preußens an der Westgrenze des Reiches. Im saarländisch-lothringischen Grenzraum sollte schon im deutschfranzösischen Krieg 1870 nach dem Plan Moltkes die entscheidende militärische Konfrontation stattfinden. Der übereilte und verlustreiche Angriff der preußischen Truppen auf die Spicherer Höhen machte diese ursprüngliche Konzeption letztlich zunichte und erzwang die folgenden verheerenden aber unentschiedenen Kämpfe in Lothringen (Colombey und Nouilly am 14., Vionville und Mars-La Tour am 16. August), bis den deutschen Truppen am 18. August bei Gravelotte und St. Privat westlich von Metz der entscheidende Durchbruch gelang. Auch nach der Annexion Elsaß-Lothringens und der Verlagerung der künftigen Aufmarschzonen war der Saarraum ein wichtiges Element in den strategischen Konzeptionen. Das Saarindustrierevier war von zentraler Bedeutung für die Rüstungsproduktion, und seine aufstrebende Metropole Saarbrücken war die entscheidende Verkehrsdrehscheibe für die Wege vom Mittelrhein nach Frankreich. Die Festungen Metz, Diedenhofen und Straßburg sollten den Raum im Vorfeld decken. Saarbrücken war, wie die ehemalige französische Festung und Garnisonstadt Saarlouis seit 1814/15, mit einem preußischen Kavallerieregiment belegt. 1887 kam eine Infanteriebrigade dazu, weitere Kavallerieeinheiten folgten 1896 und 1898. Gegen Ende des Jahrhunderts waren allein in Saarbrücken insgesamt etwa 2750 Mann stationiert. Auf dem Gipfel des mitteleuropäischen Wettrüstens, zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wurde Saarbrücken Sitz des Generalkommandos für das neu aufgestellte XXI. preußische Armeekorps. 1887 war bereits der Dauerkonflikt in der Saarbrücker Casinogesellschaft mit der Aufstellung neuer Statuten beigelegt. Das gesamte Offizierskorps der Garnison trat der Casinogesellschaft bei, dem wichtigsten informellen Forum der lokalen bürgerlichen Kultur-, Verwaltungs- und Wirtschaftselite, und wurde mit einem Festessen begrüßt. Im gleichen Jahr bewarb sich die Stadt St. Wendel in einer Immediateingabe darum, bei der geplanten Heeresverstärkung, bei der der Standort Saarbrücken mit einer Infanteriebrigade bedacht wurde, eine Garnison zu erhalten. Zum großen Bedauern der Stadt lehnte das Kriegsministerium ab.

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Die Präsenz des Militärs im Stadtbild von Saarbrücken und Saarlouis fand ihre Entsprechung in der Verbindung der saarländischen Schwerindustriellen zur militärischen Führung. So waren etwa Mitglieder der Sulzbacher Glashüttendynastie Vopelius Schwiegersöhne des Kommandeurs des prominenten 7. Dragonerregiments in Saarbrücken. Auch in der Familie des Stahlindustriellen Röchling bestanden verwandtschaftliche Bande mit den Familien hoher Offiziere aus Saarbrücken. Diese Verbindungen von Unternehmer- oder angesehenen Beamtenfamilien mit dem Offizierskorps lassen sich auch für die anderen Saarstädte, vor allem für Saarlouis, aufzeigen. Neben allen Nützlichkeitserwägungen zielten diese Familienbande darauf, die wirtschaftliche Macht mit der Aura und dem Glanz der Militäraristokratie zu überhöhen. Auf der anderen Seite ging es darum, dem unersättlichen Finanzbedarf einer zur demonstrativen Verschwendung erzogenen Militärkaste neue Geldquellen zu erschließen. Personifiziert erscheint diese Verbindung von Industriellenfamilie und Militär in der Gestalt des einflußreichsten Vertreters der Rüstungsindustrie im Saarrevier, Herrmann Röchling (1872-1955). Die Epoche seiner Wirkung im Saarrevier reicht zwar weit über den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit hinaus und erreicht ihren Höhepunkt letztlich in der Rüstungsorganisation des nationalsozialistischen Regimes. Seine lebensprägenden Überzeugungen aber, was Militär, Krieg und Nation angeht, hatte er im Kaiserreich erfahren. Er hatte wie seine Brüder seine einjährige Dienstzeit bei einer Kavallerieeinheit (7. Dragoner-Regiment) in Saarbrücken absolviert, war Reserveoffizier im Rang eines Rittmeisters und zeitweilig im Ersten Weltkrieg Chef der Saarbrücker Ersatz-Eskadron. Der Aufstieg seines Unternehmens wie überhaupt der Montanindustrie an der Saar war ja eng gekoppelt an den militärischen Sieg über Frankreich und die Annexion Lothringens. Denn diese ermöglichten die Forcierung der Verflechtung der Montanindustrien an der Saar und in Lothringen. Die Verhüttung von lothringischer Minette mit der Saarkohle zu hochwertigem Stahl sollte von außerordentlicher Bedeutung für die deutsche Schwerindustrie werden. Die Montanmagnaten von der Saar, aus der Dynastie der Röchling und Stumm, zählten bekanntlich im Ersten Weltkrieg zu den Befürwortern einer auf Expansion drängenden Kriegszielpolitik, die für den Gewinn der Erzgebiete in Nordostfrankreich noch 1918 eine sehr viel längere Kriegsdauer in Kauf genommen hätten. Der Prozeß der „Verpreußung" der Arbeiterschicht bis hin zur patriotischen Identifikation mit dem neu-deutschen militaristischen Machtstaat verlief anders und hatte anders gelagerte Motive. Diese waren eher im Bereich unmittelbarer sozioökonomischer Abhängigkeit angesiedelt. Die wichtigste Gruppe, die Bergarbeiterfamilien, waren in zentralen Lebensbereichen unmittelbar vom preußischen Fiskus und seiner beamteten Administration abhängig. Der preußische Staat war Arbeitgeber, Schulbehörde der Kinder, war in der Regel in der Form des Prämienhaussystems

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Kreditgeber und damit auch Miteigentümer des Wohnhauses. Er war verantwortlich für die patriarchalische Organisation der staatlichen Bergbaubetriebe, von ihm leiteten sich die Instrumente der militärischen Arbeitszucht und die Etablierung einer hierarchischen Arbeitsordnung ab. Vom Bergfiskus wurden Wohlfahrtseinrichtungen unterhalten, mit ihm waren die verschiedenen Formen der sozialen Absicherung verbunden. Kurz, der preußische Staat und seine Beamten umstellten das Leben der Bergarbeiterfamilien von der Wiege bis zur Bahre. Wer aus diesem System der „fürsorglichen Belagerung" ausbrechen wollte und andere Meinungen und Interessen zur Verbesserung seiner sozialen Lage zu vertreten suchte, tat dies an der Saar nur unter dem Risiko des Existenzverlustes. Das war eine der entscheidenden Erfahrungen der großen Streiks der Saarbergleute um kürzere Arbeitszeiten und ihres Kampfes um eigene Rechtsschutzvereine in den Jahren 1889 bis 1892. Die spezifische soziale und ökonomische Abhängigkeit der Bergarbeiterfamilien an der Saar führte zu einem ambivalenten Verhältnis zum preußischen Staat. Die Umstellung der Betriebe auf einen industriekapitalistisch betriebenen, arbeitsintensiven Bergbau führte häufig zu sozialen und innerbetrieblichen Konflikten. Die Grubenarbeiter machten dann ihre sozialen Gegenspieler allein in einer unmittelbaren, sozusagen sinnlich wahrnehmbaren Umgebung aus: Die hartherzigen Beamten der lokalen Grubenverwaltung, die stockschwingenden Gendarmen, die untätigen Bürgermeister waren schuld an der Misere ihrer Arbeits- und Lebensumstände. Die fernen Spitzenbeamten der preußischen Bergadministration, der Ministerien und vor allem den Monarchen selbst aber umgab der Nimbus der Gerechtigkeit, Großzügigkeit und treuer väterlicher Fürsorge. Sie waren Gegenstand grenzenlosen Vertrauens, überschwenglicher Verehrung und einer geradezu euphorischen Autoritätsgläubigkeit. Diese widersprüchliche Staatswahrnehmung bot zweierlei Vorzüge: Man hatte in der unteren und mittleren Beamtenebene der Bergadministration ein konkretes Feindbild, an dem die Enttäuschungen und Aggressionen abgearbeitet werden konnten, und man konnte gleichzeitig das Gefühl genießen, unter dem patriarchalischen Schutz und Schirm eines mächtigen Landesvaters zu stehen, der sich um das Wohl aller sorgte und sie vor Unheil zu bewahren suchte. Diese patriarchalische Herrscherideologie war nicht auf die Bergarbeiterfamilien beschränkt. In den ärmlichen dörflichen Verhältnissen einer kleinen katholischen Ortschaft im Kreis Merzig war die Vorstellung von der gütigen Allmacht des lieben Landesherrn für einen aufgeweckten, lernund wißbegierigen Jungen so realistisch, daß er heimlich ein Gesuch an Seine Majestät, den Deutschen Kaiser Wilhelm II., in Berlin schickte und ihn um eine ganze Kiste mit Büchern anging. Die heiß ersehnte Lektüre kam freilich nicht. Dafür erreichten seinen Vater aber die entrüsteten Verweise aus den verschiedenen Ebenen der bürokratischen Hierarchie. Der

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in seinem Schulbuchglauben an den kinderlieben Monarchen so bitter enttäuschte kleine Junge war der 1884 geborene spätere Philosoph Peter Wust aus Rissenthal 8 . Die grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem preußisch-deutschen Staat und seiner monarchischen Führung beeinflußte auch die Bindung der Arbeiterfamilien an die katholische Kirche und ihren Klerus letztlich wenig. Diese hatte vor allem während des Kulturkampfes ihrem prinzipiellen Gegensatz zur kleindeutschen Reichsgründung und zur preußisch-protestantischen Obrigkeit Ausdruck gegeben. Der Loyalitätskonflikt: Papst oder Kaiser, Kirche oder Staat, der in den 1870er Jahren Parteinahmen erzwungen und vielerorts, wie etwa in Marpingen, Wallfahrten zu Gegenständen politischer Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt gemacht hatte, war mit dem Ende des Kulturkampfes entschärft worden. Solange Arbeiter und Kaiser zusammenhalten, wäre nichts zu förchten hieß es programmatisch zu Beginn der Rechtsschutzbewegung 9 . Die Logik der alle ideologischen Gegensätze überwölbenden autoritären Denkmuster ließ es ohne weiteres zu, daß Papst, Kaiser und der Führer der Rechtsschutzbewegung, Nikolaus Warken, gleichermaßen und nebeneinander als Autoritäten verehrt wurden, ohne daß die Widersprüchlichkeit des Weltbildes bewußt geworden wäre. Die autoritätsgläubige Doppelbindung der Arbeiterschaft im Saarrevier an die (katholische) Kirche und die preußisch-deutsche Monarchie erfuhr eine besondere Akzentuierung durch die vereinten Anstrengungen von regionalen Unternehmern, staatlicher Bergadministration und katholischem Klerus, als es galt, sozialistische Ideen abzuwehren und die Etablierung sozialdemokratischer oder gewerkschaftlicher Organisationen zu bekämpfen. Die antisozialistische Koalition in dem Komitee der Arbeitgeber zur Bekämpfung der Sozialdemokratie von 1877 bildete zusammen mit Polizei, Justiz, Klerus, Kirche und der Zentrumspartei im Saarrevier eine geschlossene Front gegen die sozialdemokratische Agitation. Alle Autoritäten, von denen die zentralen Lebensbereiche der Arbeiterbevölkerung dominiert waren, standen in dieser entscheidenden Frage hinter dem deutschen Kaiser. Wer verdächtigt wurde, Socialdemokrat zu sein, geriet notwendig in den Geruch der Reichsfeindschaft, nationaler Unzuverlässigkeit und der Kirchen- und Gottesferne. Wir Bergleute haben Gott vor Augen, ich schon von meiner Jugend auf, dennoch bin ich als Social-Demokrat von der Geistlichkeit und den Beamten dazu gestempelt res. dafür angesehen. Ich bin keiner, ich habe meinem König treu gedient und des Königs Rock als Soldat gerne getragen, halte zu Kaiser und Reich, bezahle meine Steuern, halte meine Religion hoch, aber man scheint hier Socialdemokraten

' P. WUST, Gestalten und Gedanken, Rückblick auf mein Leben, München M950. ' STEFFENS ( A n m . 1), 3 0 6 .

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zu suchen, ist dies nicht ärgerlich,0. Diese bewegte Klage eines denunzierten Bergmanns aus dem Beginn der 90er Jahre spiegelt wider, daß für einen Arbeiter eine glaubhafte Distanzierung von dem „Schreckgespenst" der Sozialdemokratie nur über die Betonung von Kirchentreue und preußisch-deutschem Patriotismus möglich war. Das augenfälligste Argument gegen den Verdacht, Sozialist und damit Internationalist zu sein, war der treu abgeleistete Wehrdienst, des Königs Rock. Erst der Erste Weltkrieg hatte dieser Koalition aus Kirche, Staat und Unternehmerschaft im Rahmen des preußischen Obrigkeitsstaates an der Saar den Boden entzogen. Ende des 19. Jahrhunderts spielten preußischer Staat und soldatischer Habitus auch für die Arbeiterschaft des Saarreviers eine geänderte Rolle. Die Arbeiter öffneten sich für patriotische Gefühle, der Militärdienst wurde zur Ehrensache, des Königs Rock, den jeder Bergmann getragen haben mußte, wurde zum Symbol für die vertrauensvolle Verbundenheit von Königtum und Staatsvolk. Ein sinnfälliger Ausdruck für die Übernahme von militärischen Verhaltensmustern in den Bereich des beruflichen Selbstbildes war die Wandlung des Charakters der Bergmusikkapellen gegen Ende des Jahrhunderts. Wie im öffentlichen Musikleben der Garnisonstädte Saarlouis und Saarbrücken dominierte in den Bergmusikkapellen die militärische Komponente in Uniformierung, Auftreten und Repertoire. 1885 bekamen z.B. die St. Ingberter Bergmusiker einen neuen Kapellmeister. Er war zuvor, wie fast alle seine Kollegen, Militärmusiker, danach Gendarm, und veränderte offenbar rasch Repertoire, Spielweise und Auftreten der Bergkapelle. Er brachte Schneid in das ... etwas gemächlich gewordene Musizieren und wurde bald durch seine schmissige Marschmusik bekannt". Eine zentrale Vermittlungsinstanz für nationale und militaristische Haltungen waren auch an der Saar die zahlreichen örtlichen Veteranen- und Reservistenverbände, die Kriegervereine. Ihnen kam im außerordentlich reichen Spektrum des regionalen Vereinswesens eine besondere Rolle zu. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Schützenvereinen der Jahrhundertmitte wiesen sie eine prinzipiell klassenübergreifende Kommunikations- und Geselligkeitsstruktur auf. Diese basierte auf der Ideologie des Kameradschaftsgefühls. Die gemeinsamen öffentlichen Rituale des Vereinslebens, die Selbstdarstellung der Vereine in Festen und Feiern beschworen die Vorstellung einer homogenen Gemeinschaft von Kameraden. Von besonderer Bedeutung war auch die Tatsache, daß jedem Mitglied ein ehrenvolles und mit militärischem Pomp vollzogenes Begräbnis verheißen war. Die Gleichheit der Kameraden ergab sich aus der gemeinsamen Erfahrung des Krieges und der Militärzeit. Sie sollte die faktischen Unterschiede in der sozialen Herkunft, im Stand und im militärischen Rang bedeutungslos 10

16. 8. 1891 in Püttlingen, L H A K o b l e n z 442/4221, zitiert n a c h STEFFENS (Anm. 1), 315. " R. HAHN, Die saarländische Bergmusik - die Bergkapellen, S a a r b r ü c k e n 1969, 43.

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machen. Diese klassenübergreifende Gleichheit war eine Illusion, die aber bei der gleichzeitigen Unterwerfung unter die autoritären und hierarchischen Machtstrukturen nicht aufgedeckt werden durfte. Auch die paramilitärischen Aktivitäten, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Vereinsleben hinzukamen, waren unter dieser Kameradschaftsideologie subsumiert. Die faktische Autoritätshierarchie zwischen den Vereinsvorständen und der Masse der Mitglieder ließen die Kriegervereine auch zu einem politischen Faktor werden. Gewiß standen die Unterschichten gerade unter den besonderen Bedingungen des Saarindustriereviers mehrheitlich den gesellschaftspolitischen Vorstellungen ihrer Kapläne, der Zentrumspartei oder der Sozialdemokratie näher als denen der städtischen Lokaleliten oder der Beamten, in deren Händen die Vorstände der Kriegervereine auf lokaler, besonders aber auf Kreisebene waren. Der Gruppenkonsens der Kriegervereine war auf die Verbundenheit mit Kaiser, Reich und Nation ausgerichtet. Die geborgte Identität in dem Bestreben, als nationaler und kriegerischer Mann zu gelten, konnte nur innerhalb und mit den Vereinskameraden gelebt werden. Dies zwang die Masse der Mitglieder, die Arbeiter, aber in Konfliktsituationen auf die Seite der bürgerlich-nationalen Vereinsvorstände. Solange sich die gemeinsamen Überzeugungen in patriotischen Kundgebungen und nationalen Gedenkfeiern dokumentierten, war die Illusion kameradschaftlicher Gleichheit gewissermaßen unproblematisch. In sozialen Konfliktfällen, wie etwa bei der Bergarbeiterrevolte des Winters 1892/93, erzwangen die Gruppennorm und die Bereitschaft zur Akzeptanz der autoritären Entscheidungen der Vereinsführungen die Masse der Mitglieder zu Parteinahmen gegen ihre eigenen Interessen. Die entscheidende Organisationsform der Bergarbeiterstreiks von 1892/93 war der Rechtsschutzverein, der auf dem Höhepunkt der Bewegung fast 20000 Mitglieder zählte. Die Niederlage der Streikbewegung war zwar im wesentlichen ein Ergebnis ökonomischer Repression und der angekündigten Massenentlassungen, aber der Unvereinbarkeitsbeschluß des deutschen Kriegerbundes (Bezirk Saar-Nahe-Blies) vom 12. Februar 1893 verstärkte die schon im Gang befindliche Austrittsbewegung erheblich. Die Kriegervereinsmitglieder sind sämtliche aus dem Rechtsschutzverein ausgetreten, hieß es im März 1893 aus dem Bergarbeiterdorf Friedrichsthal. Ähnlich verlautete es aus anderen Ortschaften' 2 . Die Gruppensolidarität verhinderte einerseits die Wahrnehmung eigener Interessen, bot aber andererseits Schutz und Hilfe. Die Kriegervereine unterstützten nach dem Scheitern der Rechtsschutzbewegung ihre reumütigen Mitglieder bei ihren Versuchen, wieder von der Bergbehörde eingestellt zu werden. 12

StA Friedrichsthal, Akte Rechtsschutzbewegung 2, 568, 584 und 588, zitiert nach STEFFENS (Anm. 1), 206; zur Rolle der Vereine auch K.-M. MALLMANN, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar (1848-1904) (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung. 12), Saarbrücken 1982, 299f.

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Die Glorifizierung des Krieges und die f ü r den modernen Militarismus des Kaiserreiches kennzeichnende Ausrichtung aller gesellschaftlichen Kräfte auf den Kriegsfall läßt sich nicht allein in einer rein funktionalen historischen Analyse erklären. Der blinde Enthusiasmus, mit dem die imperialistische Hochrüstungs- u n d Risikopolitik Wilhelms II. von weiten Teilen des Bürgertums mitgetragen wurde, die Begeisterung, mit der die militärischen Gewaltaktivitäten des Reiches in Afrika, in China und schließlich beim Ausbruch des Krieges in Europa begrüßt und gerechtfertigt wurden, haben auch eine subjektive Seite von psychologisch prägenden Hintergrundserfahrungen und Überzeugungen. Diese verweisen immer wieder auf die spezifische Form, mit der die Erfahrungen der Einigungskriege, des preußisch-dänischen Krieges von 1864, des Krieges mit Österreich 1866 und schließlich des deutsch-französischen Krieges 1870/71 von der Kriegsgeneration verarbeitet und an die nachfolgende Generation weitergegeben worden sind. Die Saarregion vermittelt dabei ein besonderes Beispiel. Die Einigungskriege Preußens gegen Dänemark und Österreich sind im allgemeinen weder mit Begeisterung begonnen noch geführt worden. Anders der deutsch-französische Krieg, der von großen Teilen vor allem der bürgerlichen Bevölkerung, den Berufssoldaten und vor allem den Schülern und Studenten begrüßt und bejubelt wurde. Bei ihnen hatte vor allem das politisch lancierte Legitimationsmuster, es gelte in einem gerechten Krieg den Aggressor Frankreich und vor allem seinen Kaiser Napoleon III. in die Schranken zu weisen, verfangen. Die aus den Feldzügen mit dem Nimbus der Sieger zurückkehrenden Truppen brachten eine ambivalente Erfahrung mit, die auf besondere Weise - vor allem in den Veteranen- und Kriegervereinen - verarbeitet und weitergegeben wurde. Die Einigungskriege werden als die ersten „ m o d e r n e n " Kriege angesehen. Die Mobilisierung der Bevölkerung durch die allgemeine Wehrpflicht, die Eigendynamik der Ideologisierung durch nationale Feindbilder (Erbfeind) und die moderne Transport- u n d Waffentechnik hatten eine neue „Qualität" der militärischen Auseinandersetzung erzeugt. Die Truppen wurden mit den Eisenbahnen in den Einsatzraum gebracht, die verbesserten Infanteriewaffen erlaubten eine unerhörte Steigerung der Reichweite und eine mörderische Schußgeschwindigkeit, und dem massierten Einsatz der Artillerie kam eine oft schlachtentscheidende Bedeutung zu. Wer bei den Einigungskriegen, insbesondere im deutsch-französischen Krieg mitgekämpft hatte, brachte historisch völlig neue Erfahrungen im Erleben u n d Erleiden eines Kriegszuges mit. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß viele der Kriegsteilnehmer sich gedrängt fühlten, ihre Erlebnisse auf den Kriegszügen niederzuschreiben. Sie wollten sich der Unerhörtheit ihrer Erlebnisse distanzierend vergewissern. Natürlich wollten sie auch ihren „Anteil" an dem militärischen Sieg über Frankreich und damit an dem

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nationalen Einigungswerk festhalten - als ein Vermächtnis an die kommende Generation 13 . Die Masse der Autobiographien über die Einigungskriege von Offizieren wie von Mannschaften zeigen eine besondere Ambivalenz in der Erfahrung des ersten modernen Massenkrieges. Einerseits wird die Realität des Krieges als eines mörderischen und lebensgefährlichen Unternehmens beschrieben, das das zentrale Ziel hat, den Gegner physisch und moralisch zu vernichten. Die Schrecken und das Grauenvolle der militärischen Gewaltausübung durch die modernen Waffen (Mitrailleuse, Artillerie) werden z.T. detailliert beschrieben. Sie sind ständig präsent als entsetzliche Schreckensbilder. Nur mühsam konnten sie offenbar von der erschöpfenden Hektik des Vormarsches, der kalten Routine der Etappe oder dem Siegesjubel bei der Rückkehr verdrängt oder überspielt werden. Andererseits wird die Rolle der Soldaten und der soldatisch-kriegerischen Leistungen und Erfolge verherrlicht. Der Krieg erscheint als einzigartige männliche Bewährungsprobe, als Spiel um Ruhm und Ehre. Kaum einer der Veteranen verherrlicht aber den Krieg, so daß er wiederholen möchte, was er dort erlebt hat: Tod, grauenvolle Verletzungen und Verstümmelungen, das Elend der Verwundeten, Erschöpfung und Erniedrigung, kollektiven Haß, Sadismus und Mordlust. Die Schrecken des Krieges werden gewissermaßen in der Erinnerung kompensiert durch die Glorifizierung der Rolle des Soldaten im allgemeinen und der Idee seiner geschichtsnotwendigen Funktion innerhalb des nationalen Einigungswerks im besonderen. Dank der ideologischen Überhöhung und Legitimation durch das nationale Ziel können die Erinnerungen der Veteranen unterscheiden zwischen den Schrecken ihrer real erlebten Rolle, die sie - wenn auch für kurze Zeit - als Soldaten gespielt haben, und der Ideologie dieser Rolle, dem sozialen Prestige, das diesen „Kriegern auf Zeit" zukam. Die Bewunderung, die dem exzessiven Lebensabschnitt als Krieger gezollt wurde, bezog ihre Begründung aus dem höheren Zweck, nämlich der nationalen Einigung des Deutschen Reiches und der gerechten Bestrafung des übermütigen Gegners Frankreich. Sie umgab die Veteranen mit der Aura von Aufopferung, Todesverachtung, Entbehrung, blutigem Männerkampf und heldenhafter Bewährung 14 . Diese Ambivalenz ist konstitutiv für den Umgang mit den Kriegserfahrungen und Kriegserlebnissen der Veteranengeneration, die als junge Wehrpflichtige oder Offiziere nach Frankreich gezogen sind. Es waren, demographisch gesehen, die Söhne und Enkel dieser Veteranen, die begeistert in den Ersten Weltkrieg aufbrachen und auf den Schlachtfeldern 11

14

Hierzu mit lokalen Beispielen E. HAAS, Saarbrücker Kriegserinnerungen aus der Vorpostenzeit bei Saarbrücken bis zur Schlacht von Spichern, Saarbrücken o. J. (1913) und W. GLABBACH, Vaterlandsliebe Saarbrücker Gymnasiasten in den Kriegen mit den Franzosen, Saarbrücken 1910. Allgemein: R O H K R Ä M E R (Anm. 2), 83ff. Vgl. hierzu die Schilderung der Schlacht bei Spichern bei A. R U P P E R S B E R G , Saarbrücker Kriegschronik (1895, N D St. Ingbert 1978) 170ff.

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Nordostfrankreichs und Flanderns verbluteten. Ihnen war der Krieg nur als eine Kette siegreicher Schlachten vermittelt worden, als Schlußstein im nationalen Einigungswerk unter Preußens Führung. Ihre einzige Möglichkeit, sich mit der prestigereichen Rolle des Kriegers zu identifizieren, gewissermaßen aus dem Schatten der Väter, die bei Spichern, Metz und Sedan gekämpft hatten, herauszutreten, bestand in der Hoffnung auf einen zukünftigen Krieg. Ihre Bewährungsprobe stand noch aus. Allerdings brauchten sie dazu den fremden Aggressor. In der einseitig nationalen Perspektive mußte das vor allem wieder das zum Erbfeind stilisierte Frankreich sein bzw. der neu hinzugekommene wirtschaftliche und militärische Machtkonkurrent England. Die gesellschaftliche Verarbeitung der Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges in zwei Generationen schuf so einen zukunftsorientierten, aggressiven Militarismus, in dem Gewalttätigkeit und kriegerische Bewährung als entscheidende und letztlich auch notwendige Grundlagen der nationalen und individuellen Existenz akzeptiert und ersehnt wurden. Nun wäre die Frage nach der Art der Vermittlung dieser ambivalenten Erfahrung zu stellen. Denn die Weitergabe von Erfahrungen über Generationen erfolgt in nicht traditionalen Gesellschaften nicht mehr nur im Rahmen von Familienverbänden, sondern auch über die Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen, die Schulen, die Medien und Vereine. Innerhalb dieser sozialen Vermittlungsinstanzen, die die Kriegsgeneration von 1914 beeinflußt haben, finden wir aber vor allem jene Männer in den Schlüsselpositionen, die 1870 noch zu jung waren, um aktiv am Kriegsgeschehen teilzunehmen, aber ζ. T. schon alt genug, um die Resonanz des Feldzuges und die Siegesfeiern von 1870/71 bewußt mitzuerleben. Die Generationenfolge läßt sich anhand der wohl verbreitetsten Darstellung zum Krieg 1870/71 aus der Saargegend erläutern. Es ist die Chronik der Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer Berge 1870 von Albert Ruppersberg aus dem Jahr 1895. Was hier an preußisch-kleindeutscher nationaler Hochstimmung aufleuchtet, an militärischem Siegesgefühl mit scharf antifranzösischem Akzent, entspricht dem politischen Bewußtsein des mittelständischen, meist protestantischen Bildungsbürgertums, aus dem sich der Leserkreis zusammensetzte. Der Verfasser war 1854 in Marburg geboren und hatte mit 25 Jahren, also fast ein Jahrzehnt nach der Schlacht von Spichern, seine erste Anstellung als wissenschaftlicher Hilfslehrer am Ludwigsgymnasium in Saarbrücken gefunden. Nach einem Abstecher nach Duisburg wurde er 1886 mit einer festen Stelle nach Saarbrücken versetzt. 1891 wurde er Oberlehrer, 1899 Gymnasialprofessor. Die von ihm 1895 publizierte Chronik war gewissermaßen das Billet, mit dem er Eingang in die gehobenen Kreise des Saarbriicker Bürgertums und auch der Militärs fand. Ab 1901 wohnte er in einem Trakt des Saarbrücker Schlosses Tür an Tür mit dem ehemali-

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gen Regimentskommandeur der 7. Dragoner, Carl Seederer. 1905 wurde er Mitglied der Saarbrücker Casinogesellschaft. Gut zwei Jahrzehnte nach dem deutsch-französischen Krieg hatte er begonnen, neben den offiziellen Darstellungen der Militärgeschichtsschreibung vor allem die mündliche und ζ. T. auch schriftliche Erinnerung der Saarbrücker Bürger und der Militärs der Saarbrücker Garnison an die Juli- und Augusttage des Jahres 1870 zusammenzutragen. Diese Erinnerungen hatten sich bereits zu Bildern, Anekdoten, Histörchen und Legenden verdichtet, die sich um die z.T. recht abenteuerlichen und, gemessen an den Schrecken einer Schlacht, eher „harmlosen" Begebenheiten des kleinen Krieges in der Zeit zwischen der Kriegserklärung (15. Juli) und der Schlacht bei Spichern (6. August) rankten 15 . Vor allem die Jugendlichen und Schüler hatten diese Zeit der „Vorgeplänkel" intensiv und begeistert miterlebt. Der Illustrator der Ruppersberg'schen Chronik war der gleichaltrige Berliner Professor Karl Röchling. Dieser stammte aus einer saarländischen Familie und hatte die Ereignisse des Kriegsbeginns 1870 und der Schlacht bei Spichern als 16jähriger Schüler des Ludwigsgymnasiums in Saarbrücken miterlebt. Seine Erinnerungen sprechen davon, wie er und seine Mitschüler von den bunte Abenteuer und unerhörte Gefahren versprechenden „Spielen" der erwachsenen Männer fasziniert waren. Sie versuchten ihnen und dem Geschehen so nah wie möglich zu kommen. Ziel war es, die Kugeln der Chassepotgewehre selbst pfeifen zu hören. Größter Stolz der Saarbrücker Gymnasiasten war die bald kolportierte Legende, daß eine Gruppe von ihnen, die sich weit vorgewagt hatte, von den Franzosen für ein Trupp preußischer Soldaten gehalten worden sein soll. Dieser dramatisierende und verklärende Charakter von Jugenderinnerungen realisiert sich auch in den Illustrationen Karl Röchlings, die im wesentlichen von dem erwachsenen Künstler gefertigt worden sind. Mit ihnen gab er dem kollektiven Erinnerungsschatz seiner ehemaligen Saarbrücker Schul- und Altersgenossen, die 1895, zum Jubiläumsjahr, die lokalen Adressaten und potentiellen Leser waren, visuellen Ausdruck 16 . Die Schüler und Jugendlichen hatten den Kriegsausbruch als eine Kette von erregenden Ereignissen erlebt, deren volle Bedeutung sie nicht erfassen, aber aus dem Verhalten der Erwachsenen erahnen konnten. Sie hatten erlebt, wie die Soldaten unter dem Jubel der Bürger nach Frankreich gezogen waren, sie hatten sie selbst an den Bahnhöfen bewundert und sie mit Proviant versorgt, hatten die Begeisterung über alle Siegesnachrichten geteilt und erfahren, wie die Heimkehrenden von der Nation als Helden gefeiert wurden. Der Krieg, den die männliche Jugend im Spiel auf der H . K L E I N , Das stellvertretende Generalkommando des Saarbrücker X X I . / X V I . Armeekorps als Organ der Militärverwaltung im Ersten Weltkrieg, in: W. HERRMANN, Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende (1871-1918), Saarbrücken 1991, 168. " C. RÖCHLING, Meine Erlebnisse in Saarbrücken 1870, in: Universum Bd. 8 (1891/92). 15

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Straße und in der Schule begeistert nachahmte, galt ihnen als Inbegriff von männlicher Kraft, Abenteuer und Heldentum, als geheimnisvolle und gefährliche Initiation in die Welt der Erwachsenen. Diese Einstellung wirkte in der Generation der „Kinder von 1870/71" ein Leben lang nach. Sie prägte ihren Gesinnungsmilitarismus als Erwachsene. Sie kam in ihren nationalen Feierritualen zum Ausdruck, bei deren Gestaltung die alten „Veteranen" ja bereits weit vor der Jahrhundertwende nicht mehr selbst eingreifen konnten, sondern bloße Staffage wurden. Sie prägte die Kriegsliteratur und die bildlichen Kriegsdarstellungen. Sie formte den Unterricht und die Schulbücher mit den bekannten Beispielen der nationalistisch-heroisierenden Erziehung zum Krieg. Die Popularisierung der kriegerischen Ideale griff dabei historisch weit über die Einigungskriege hinaus und bezog insbesondere die preußische Militärgeschichte und die Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon mit ein. Die Vermittlung von Geschichtsbewußtsein reduzierte sich im Bereich der Volksbildung vorwiegend darauf, Exempla von heldischer Bewährung, von Todesverachtung und Opferbereitschaft in historisch drapierten Kriegsidyllen vorzuführen. Diese Erziehung hatte Erfolg vor allem bei der männlichen Jugend. Sie erprobte die Attitüde der Gewalt und den Ruhm kriegerischer Heldentaten in paramilitärischen Kriegsspielen, die ihre Handlungsmuster nicht nur aus der Geschichte, sondern auch von den fernen Kriegsschauplätzen der Gegenwart bezogen. So ist z.B. überliefert, daß die Saarbrücker Jungen begeistert die Kämpfe des Burenkrieges nachahmten. Buur'sches und Engläner'sches nannte man das Stadtteilspiel, an dem unter dem Beifall der Erwachsenen oft weit über 100 Jungen teilnahmen, uniformiert, mit Kanonen, Gewehren, Säbeln, Trommel und Fahnen, Truppenführern und regelrechten Schlachtplänen' 7 . Was die Erwachsenen in den Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen des Kaiserreiches an die Generation, die auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges geschickt wurde, weitergegeben hatten, war ihre Sehnsucht nach der Partizipation an dem Krieg, den sie selbst als Jugendliche 1870/71 (noch) nicht hatten kämpfen dürfen. Eine ideelle Partizipation am kriegerischen Ruhm der Nation, zu dem man selbst, da noch zu jung oder sonstwie verhindert, nicht hatte beitragen dürfen, war vielfach auch das Motiv für den ausgedehnten Schlachtfeldtourismus, der in den Nachkriegsjahren den Bauern und Wirten in der Nähe der lothringischen Schlachtfelder eine zusätzliche Einnahmequelle verschaffte. Die beliebten Reiseführer zu den Schlachtfeldern der Einigungskriege spiegeln in ihrer Konzeption dieses Bedürfnis wider. Vielfach sind sie entstanden als Beiträge für militärische Fachzeitschriften zur Ausbildung junger Offiziere. In verallgemeinerter Form fanden sie aber bald auch außerhalb professio-

" F. KLOEVEKORN, S a a r b r ü c k e n s Vergangenheit im Bilde, N a c h d r u c k d e r Ausgabe von 1934, F r a n k f u r t 1976, 297, Bild 358.

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neiler Fachkreise ein breites Publikum 18 . Saarbrücken war gewöhnlich die erste Station einer solchen Reise. Fester Bestandteil jedes Besuchsprogramms war die Besichtigung des Rathausfestsaales (Kaisersaales), der zur 10jährigen Wiederkehr des Sieges von Spichern mit den Kolossalgemälden Anton von Werners dekoriert war. Sie stellten den Sturm auf den Roten Berg bei Spichern dar, die allegorische Apotheose der Einigung Nordund Süddeutschlands und einen Empfang Kaiser Wilhelms /. an der alten Brücke. Das ikonographische Programm des Kaisersaales verdichtete so die Glorifizierung der militärischen Erfolge, (klein)deutsches Nationalbewußtsein und die Ideologie der patriarchalischen Monarchie zu eindrucksvollen Bildern, mit denen sich die Bürger der Stadt und die Besucher bewundernd identifizieren konnten. Die ideelle Teilhabe am nationalen Triumph der Väter mußte auf Dauer gestellt und materialisiert werden. So läßt sich das Bemühen der Saarbrükker Bürgerschaft zu Ende der 90er Jahre verstehen, die gesammelten Kriegsandenken aus der Zeit der französischen Besetzung und der Schlacht bei Spichern in einem geplanten Museum für die Saargegend zur Schau zu stellen. Finanzielle Probleme verhinderten letztlich die Verwirklichung der Pläne zu einem Kriegsmuseum. Aber die Initiatoren konnten, nachdem das Reichsmarine-Amt erfolgreich eingeschaltet worden war, 1902 der Öffentlichkeit eine respektable Waffensammlung vorstellen, die neben einer Mitrailleuse und den gefürchteten Chassepotgewehren im wesentlichen Infanterie- und Marinewaffen zeigte. Die am meisten bewunderten Schaustücke waren zwei chinesische Bronzegeschütze, die das deutsche Expeditionskorps bei der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes erbeutet hatte. Bis sie für den Rüstungsbedarf des Ersten Weltkriegs eingeschmolzen wurden, waren sie an prominenter Stelle, rechts und links des Bismarck-Denkmals auf dem Schloßplatz aufgestellt 19 . Auch die zahlreichen Denkmäler, die für die nationalen Heroen der Einigungskriege in den Städten und Dörfern aufgestellt waren, zeugen von dem Partizipationsstreben der Nachgeborenen. Die Erinnerung an die Tage von Spichern hatte vor allem in Saarbrücken zu einem lokalen Denkmalskult geführt, mit dem die an der Verteidigung und „Befreiung" der Stadt beteiligten militärischen Führer geehrt wurden 20 . Eines der frühesten Denkmäler in der Saarregion dürfte das auf dem Winterberg in Saarbrücken gewesen sein, das bald nach seiner Einweihung als Wahrzeichen Saarbrückens galt. Finanziert wurde es auf Initiative von Mitglie18

Vgl. H. KUNZ, Wanderungen über die Schlachtfelder von Saarbrücken und von Metz. Ein Reisebericht, Berlin 1896 und DERS., Führer zum Spichern-Schlachtfelde, Saarbrücken "1892.

" W. LAUFER, Saarbrücker Museumspläne und Museen. Die Unterbringung der Sammlungen des Historischen Vereins für die Saargegend bis zur Deponierung im Heimatmuseum/Saarland-Museum, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 37 (1989), 63-93, hier 67f und 20

KLOEVEKORN ( A n m . 17), 2 5 8 u n d

RUPPERSBERG

(Anm. 14), 258ff;

278.

KLOEVEKORN

(Anm. 17), 216ff.

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dem der regionalen bürgerlichen Wirtschaftselite durch private Spenden und durch einen namhaften Betrag aus der kaiserlichen Schatulle. Bei der Einweihungsfeier wurde seine architektonische Gestaltung in einer dreifach gestuften Symbolik als Siegesmal für den militärischen Triumph der preußischen Truppen bei Spichern, als Zeichen für die Einheit der deutschen Stämme und als Symbol für die Monarchie gedeutet. Ein Reliefband mit den Namen aller am Sieg in Spichern beteiligten Truppenverbände umgab den Turm auf halber Höhe, an den exponiertesten Stellen die Namen der Truppen mit den meisten Verlusten. Deutschlands Helden 1870-71 lautete die den Spicherer Höhen zugewandte Inschrift. Die architektonische Gestaltung des Turmes, der sich mit einer Höhe von ca. 20 m auf einem Erdhügel erhob, genügte aber schon bald nicht mehr den gewachsenen Monumentalitätsansprüchen der Kaiserzeit. So bemängelte man in der Spitze der Stadtverwaltung 1913, daß das Denkmal in seinen Formen bei weitem nicht den monumentalen Eindruck machte, den es an dieser hervorragenden Stelle unbedingt verdiente21. Bereits um die Jahrhundertwende war das Winterbergdenkmal weniger ein Ort nationaler Weihestunden als vor allem ein außerordentlich populäres Ziel für Sonntagnachmittagsausflüge. Wichtiger für die kollektive Erinnerung an die Spicherer Schlacht wurde der Toten- und Heldenkult an den Grabmälern und Regimentsehrenzeichen, die in der Nähe des Schlachtortes als Ehrenthal errichtet wurden. Höhepunkt des Kultes waren alljährlich die Gedenktage zur Wiederkehr der Schlacht von Spichern am 6. August. Diese wurden von der Saarbrücker Bürgerschaft, den Schulen und Kriegervereinen zelebriert und hatten eine außerordentliche Ausstrahlung in alle Bevölkerungsschichten. Drei Tage dauerten gewöhnlich die Feiern. An Akzeptanz, Intensität und Bedeutung übertrafen sie bei weitem den Sedanstag (2. September), der ja vor allem von Teilen der katholischen Kirche während des Kulturkampfes und später von den Sozialdemokraten abgelehnt wurde, und die monarchisch-dynastischen Huldigungsfeiern des Kaisergeburtstags. Seit 1905 war den Augustfeiern das Spichererberg Turn- und Spielfest angeschlossen, das mit seiner disziplinierten Ordnung, seinen Aufmärschen und dem vormilitärischen Ambiente der Turnvereine den nationalistischen und militaristischen Tenor der Heldenfeiern im Ehrenthal fortführte 22 . Die Rituale des Gedenkens an die Schlacht auf den Spicherer Höhen vom 6. August 1870 waren die zentralen Ausdrucksformen des nationalen Hochgefühls und des „Gesinnungsmilitarismus" an der Saar. Ihre Gestaltung und Organisation lag zwar in der Hand des staatstragenden arrivier21

22

Z u r Entstehungsgeschichte u n d E i n w e i h u n g des W i n t e r b e r g d e n k m a l s : D. HEINZ, Winterb e r g d e n k m a l Saarbrücken, in: Saarheimat 9 / 1 9 (1974), 189-195. St. LEINER, Die Inszenierung des Feierns. Die Festkultur, in: Industriekultur a n der Saar. Leben u n d Arbeit in einer Industrieregion 1840-1914, hg. von R. VAN DÜLMEN, M ü n c h e n 1989, 242 f.

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ten Bürgertums, der Beamten, der Militärs aus der Garnison und der Führung der Veteranen- und Kriegervereine. Dennoch waren sie ein gesamtgesellschaftliches Ereignis. Die Gedenkfeiern, die militärisch formierten Turnspiele, die Aufmärsche und Paraden boten den als Teilnehmer und jubelnde Zuschauer aufgebotenen Bürgern, den Arbeitern wie auch dem weiblichen Teil der Bevölkerung die herausragende Gelegenheit, demonstrativ am Siegesglanz des wehrhaften Machtstaates teilzuhaben. Der Totenkult um die in der Schlacht Gefallenen zielte auf eine klassenübergreifende Integration in die mythische Gemeinschaft vergangener, gegenwärtiger und künftiger „Helden". Die nationale Heldenverehrung im Gefolge der Schlacht von Spichern bot auch den Frauen und Mädchen in der Gestalt der Schulze Kathrin aus Schwarzenholz (Katharina Weißgerber) ein idealisiertes Vorbild weiblicher Rollenerfüllung. Die Dienstmagd hatte den Verwundeten der Schlacht beherzt Hilfe geleistet. Dafür wurde sie 1874 mit dem Eisernen Kreuz und später der Kriegsgedenkmünze für Nichtkämpfer ausgezeichnet. Die Aureole einer volkstümlichen Heldin, die sie nach ihrem Tod (1886) zu einer legendenumwobenen weiblichen Idealgestalt werden ließen, integrierte nicht nur die „kleinen Leute", sondern vor allem auch die Frauen in dienender Rolle in die Männerwelt des Krieges. Ihre Grabstätte im Ehrenthal hatte eine symbolische Funktion: Die Frau aus den Unterschichten als Engel der Verwundeten erhielt ihren Ehrenplatz im Pantheon der lokalen Kriegshelden 23 . Gewiß ist es außerordentlich schwierig zu beurteilen, wieweit die Arbeiter und letztlich auch die Bürger den nationalistischen Taumel und das militaristische Gehabe der Wilhelminischen Ära von ganzem Herzen mitgemacht haben. Aber das nationalistische Weltbild und die Idealisierung militärischer Gewaltbereitschaft sind ein universelles Phänomen der wilhelminischen Ära. Dazu gehört auch die wachsende Selbstverständlichkeit, mit der Kriege nicht nur als respektabler Bestandteil des zweckrationalen politischen Kalküls akzeptiert wurden, sondern als Möglichkeit der kollektiven nationalen wie der individuellen Bewährung ersehnt oder gar nach sozialdarwinistischen Kategorien zum „Wesen" staatlicher Existenz erhoben wurden.

2J

Die Idealisierung d e r „Schulze K a t h r i n " in: RUPPERSBERG ( A n m . 14), 243 u n d KLOEVEKORN (Anm. 17), 2 2 3 .

Bernhard Grau Der Januarstreik 1918 in München Stand der Forschung 75 Jahre ist es her, daß Ende Januar 1918, verteilt über das ganze Reich, deutsche Arbeiter in den Rüstungsbetrieben ihre Arbeit niederlegten, um für eine Beendigung des immer sinnlosere Formen annehmenden Weltkrieges zu demonstrieren. Auch unabhängig von diesem Jubiläum ist es angebracht, jene Tage wieder in Erinnerung zu rufen, stellen doch die Januarereignisse in mehrfacher Hinsicht ein für die historische Forschung höchst aufschlußreiches Phänomen dar. Aus der Sicht der Streikforschung' verdient der Januarstreik in doppelter Hinsicht besonderes Interesse. Zum einen gilt er als erster politischer Massenstreik von mehr als regionaler Bedeutung in der deutschen Geschichte. Sieht man von den begrenzten Streikaktionen im Juni 1916 und April 1917 ab, die den Ereignissen im Januar 1918 den Boden bereitet hatten, so erlangte zu diesem Zeitpunkt die Massenstreikdebatte, die die deutsche Sozialdemokratie in der Vorkriegszeit jahrelang in Atem gehalten hatte, erstmals praktische Relevanz 2 . Beachtung gefunden hat ferner das stark ausgeprägte spontane Element der Aktionen 3 . Die Tatsache, daß die Gewerkschaften vom Geschehen überrascht, ja überrollt wurden, hat schon bei den Zeitgenossen dazu geführt, den Vorgängen den Charakter 1

Einen Überblick über Fragestellungen und Ergebnisse der Streikforschung bietet G. D. FELDMAN, Streiks in Deutschland 1914-1933: Probleme und Forschungsaufgaben, in: Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, hg. von K. TENFELDE und H. VOLKMANN (Arbeitsbücher: Sozialgeschichte und soziale Bewegung), München 1981, 271-286. Siehe ergänzend: F. BOLL, Changing Forms of Labor Conflict: Secular Development or Strike Waves, in: Strikes, Wars and Revolutions in an International Perspective. Strike Waves in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, h g . v o n L. H . HAIMSON u n d C h . TILLY, C a m b r i d g e 1989, 4 7 - 7 8 . S p e z i e l l z u m E r s t e n

Welt-

krieg: Κ. SCHÖNHOVEN, Kontinuität und Polarisation. Zum Konfliktverhalten der deutschen Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg (Mannheimer Berichte. Aus Forschung und Lehre an der Universität Mannheim, Heft 28), Mannheim 1985, 19-27. 2

3

Z u G e s c h i c h t e u n d D e f i n i t i o n d e s p o l i t i s c h e n S t r e i k s : H . - G . H A U P T / A . J O S T / G . LEITHÄUSER

u.a., Der politische Streik - Geschichte und Theorie, in: Politischer Streik, hg. von H.-G. HAUPT u.a. (Jahrbuch Arbeiterbewegung 1981), Frankfurt a.M. 1981, 13-53. Vgl. F. BOLL, Massenbewegungen in Niedersachsen 1906-1920. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zu den unterschiedlichen Entwicklungstypen Braunschweig und Hannover (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte), Bonn 1981, 12f; G. D. FELDMAN/E. KOLB/R. RÜRUP, Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917-1920), in: Politische Vierteljahresschrift 13 (1972), 84-105, hier 84 ff.

278

Bernhard Grau

einer Basisbewegung zuzusprechen 4 . Die in zahlreichen Untersuchungen zu Recht konstatierte Unzufriedenheit der Arbeiter mit den altgedienten Standesvertretern darf freilich nicht dazu führen, die organisatorische Komponente der Aktionen zu vernachlässigen. Auf dieses Problem haben vor allem Untersuchungen aufmerksam gemacht, die sich mit der Frühgeschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) beschäftigten und deren führende Rolle im Januarstreik hervorhoben 5 . Es ist daher zu fragen, ob man nicht anstatt von spontanen von wilden Streiks sprechen sollte, um den Eindruck zu vermeiden, der Januarstreik sei völlig unvorbereitet ausgebrochen. Einen zentralen Stellenwert erhält der Januarstreik auch dann, wenn man, wie Jürgen Kocka in seiner richtungsweisenden Studie, die Kriegszeit unter dem Gesichtspunkt sich verschärfender Klassengegensätze untersucht 6 . Aus dieser Perspektive stellt sich der Streik als die erfolgreichste Demonstration der Arbeiter gegen die Kriegs- und Eroberungspolitik der herrschenden Gesellschaftsschichten dar und bildet so einen wichtigen Indikator für das mit zunehmender Kriegsdauer wachsende Unzufriedenheitspotential. Zugleich offenbart er mit aller Deutlichkeit die innerhalb der politischen Interessenvertretung der Arbeiterschaft vorhandenen Spannungen, trug er doch entscheidend dazu bei, die Fronten zwischen Befürwortern der deutschen Kriegspolitik und deren Kontrahenten, zwischen Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) und USPD zu klären. Für die Entstehung der Novemberrevolution, das heißt für die Beseitigung des alten Herrschaftssystems und die Einführung der parlamentarischen Demokratie, stellt der Januarstreik ebenfalls einen nicht wegzudenkenden Vorgang dar, wenn auch der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen weniger stringent und unmittelbar sein dürfte, als vielfach angenommen. Die Forschung hat der Bedeutung dieser Ausstandsbewegung denn auch die gebotene Aufmerksamkeit gewidmet und in Einzeluntersuchungen wie in Überblicksdarstellungen den nötigen Stellenwert eingeräumt. Insbesondere die Geschichtsforschung in der ehemaligen DDR, die freilich zu einer ungerechtfertigten Verklärung des Gegenstandes tendierte und gerne die Bedeutung der „revolutionären Linken", das heißt des 4

5

6

Zur Rolle der Gewerkschaften u. a.: H. J. BIEBER, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, Bd. 1, Hamburg 1981, 441-455; K. SCHÖNHOVEN (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919 (Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 1), Köln 1985. D. W. MORGAN, The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party 1917-1922, Ithaca/London 1975, 87 ff; R. F. WHEELER, USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt a.M. 1975, 37; F. BOLL, Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918 (Reihe Politik und Gesellschaftsgeschichte 8), Bonn 1980, 238 ff. J. KOCKA, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 8), Göttingen 1973.

Der Januarstreik 1918 in München

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Spartakusbundes, überschätzte, hat früh begonnen, den Streik aus gesamtdeutscher wie aus notwendigerweise auf Ostdeutschland beschränkter regionaler Perspektive zu untersuchen 7 . Demgegenüber begnügte sich die Wissenschaft der BRD lange Zeit weitgehend mit einer Betrachtung der Vorgänge in der Reichshauptstadt. Erst seit Mitte der siebziger Jahre, im Gefolge des wachsenden Interesses an der deutschen Novemberrevolution, setzte auch auf Lokalebene eine regere Forschungstätigkeit ein 8 . Fast unbeachtet blieb hingegen das Geschehen in den unmittelbar vom Streik betroffenen Betrieben 9 . Dabei liegt es auf der Hand, daß die von Betriebsvertrauensleuten, Arbeiterausschüssen und Werkversammlungen ausgehenden Initiativen für die Erfolgsaussichten eines politischen Massenstreiks entscheidende Bedeutung haben mußten 10 . Von den auf lokaler, regionaler und betrieblicher Ebene noch bestehenden Forschungsdefiziten abgesehen, fehlt bis heute auch eine den Gegenstand ausgewogen behandelnde Gesamtdarstellung" - verständlich, bedenkt man den Aufwand angesichts einer disparaten und auch im lokalen Einzelfall keineswegs einfachen Quellenlage. Diese Gesamtdarstellung müßte zudem die für die Ereignisse im Deutschen Reich so wichtigen Vorgänge in Österreich-Ungarn miteinbeziehen, ein Aspekt, der zu Unrecht meist völlig vernachlässigt wird, bieten die Januarereignisse doch bei näherem Hinsehen einen weiteren Beleg für die „in ihrer Art einzigartigen Verbindungen politischer, kultureller und sozialer Natur zwischen Österreich und dem Deutschen Reich" 12 . Die folgende Untersuchung am Bei-

1

Siehe etwa: Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 3, hg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von J. PETZOLD, Berlin (DDR) 1969, 135-176; W. BARTEL, Der Januarstreik 1918 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917/1918 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften des Instituts für Geschichte, Reihe I, Bd. 6), Berlin (DDR) 1957, 141-183. Weitere Titel bei K. KLOTZBACH, Bibliographie zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1914-1945 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 2), Bonn 31981, 113-140. 8 Ein frühes Beispiel ist W. BOLDT, Der Januarstreik 1918 in Bayern mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs, in: J f f L 25 (1965), 5-42. Friedhelm Boll und Volker Ullrich haben sich in mehreren Lokalstudien mit dem Thema beschäftigt. Genannt seien hier nur: F. BOLL, Spontaneität der Basis und politische Funktion des Streiks 1914-1918. Das Beispiel Braunschweig, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), 337-366; V. ULLRICH, Der Januarstreik 1918 in Hamburg, Kiel und Bremen. Eine vergleichende Studie zur Geschichte der Streikbewegungen im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 71 (1985), 45-74. ' SCHÖNHOVEN (Anm. 1), 23. Zwei für den vorliegenden Fall allerdings wenig ergiebige Beispiele sind R. VETTERLI, Industriearbeit, Arbeiterbewußtsein und gewerkschaftliche Organisation. Dargestellt am Beispiel der Georg Fischer AG (1890-1930) (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 28), Göttingen 1980, 190-202; A. AUER/G. ENOASSER, Krauss-Maffei. Lebenslauf einer Münchner Fabrik und ihrer Belegschaft, Kösching 1988, 121-125. 10

H i e r z u : BOLL ( A n m . 3 ) , 3 1 9 .

" So auch V. ULLRICH, Kriegsalltag und deutsche Arbeiterschaft 1914-1918, in: Geschichte in W i s s e n s c h a f t u n d U n t e r r i c h t 4 3 ( 1 9 9 2 ) , 2 2 8 , A n m . 3 8 . V g l . SCHÖNHOVEN ( A n m . 1), 19. 12

R. A. KANN/F. PRINZ, Vorwort; in: Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsb u c h , hg. v o n R . A. KANN u n d F. PRINZ, W i e n - M ü n c h e n 1980, 9.

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spiel Münchens 13 will versuchen, für diese künftig noch zu schreibende Gesamtbetrachtung einen weiteren Baustein zu liefern.

D i e Januarstreikbewegung aus überregionaler Perspektive Klarheit herrscht mittlerweile über einige fundamentale Grundzüge des Januarstreikgeschehens. Dessen Ursache, so die einhellige Meinung, war ein Geflecht unterschiedlichster Faktoren : Zentrale Bedeutung hatte dabei zweifellos die schlechte, sich zyklisch zuspitzende Versorgungslage, der Mangel an Nahrung, Kleidung und Heizmaterial. Dazu kam, abhängig vom Geschehen an der Front, eine ebenfalls schwankende, in ihrer Tendenz aber eindeutig zunehmende Skepsis über den Ausgang des Krieges selbst. Um dieses Unruhepotential zu mobilisieren, bedurfte es freilich eines konkreten Anlasses. Es ist unumstritten, daß diesen Auslöser im Falle des Januarstreiks die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk bildeten, die zu diesem Zeitpunkt ins Stocken geraten waren, so daß deren baldiger Abschluß in Gefahr zu sein schien. Der unverhüllte Annexionismus, der in den Verhandlungen zutage trat, förderte in Verbindung mit dem Ausbleiben innenpolitischer Reformen bei der Arbeiterschaft den Eindruck, vor den Karren des Großkapitals gespannt zu werden 14 . Als erstes traten in Österreich und Ungarn die Arbeiter in den Ausstand 15 . Äußerer Anlaß war eine Kürzung der Mehlrationen, doch gewann die Bewegung schnell eine Eigendynamik, die diesen Aspekt in den Hintergrund treten ließ und zu eindeutig politischen Forderungen führte. Anders als im Deutschen Reich unterstützten in Österreich der rechte wie der linke Flügel der Sozialdemokratie die streikenden Arbeiter, und so erzielte die Bewegung eine Reihe konkreter Zusagen der Regierung, welche angesichts des Scheiterns jeglicher Unterhandlungen in Deutschland nicht " Für M ü n c h e n steht eine genauere Betrachtung noch aus. Siehe bislang: BOLDT ( A n m . 8), I 4 f f ; K.-L. AY, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern w ä h r e n d des Ersten Weltkriegs (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 1), Berlin 1968, 196 ff; F. SCHADE, Kurt Eisner u n d die bayerische Sozialdemokratie, H a n n o v e r 1961, 45 ff. 14 Siehe etwa FELDMAN/KOLB/RÜRUP (Anm. 3), 84 f. ,s In d e n tschechischen Landesteilen folgte m a n erst spät u n d mit separatistischen Untertönen d e m Vorbild der Deutsch-Österreicher u n d U n g a r n . Z u m Jännerstreik 1918 siehe vor allem: R. G . PLASCHKA/H. HASELSTEINER/A. SUPPAN, I n n e r e Front. Militärassistenz, Widerstand u n d U m s t u r z in d e r D o n a u m o n a r c h i e 1918, Bd. 1, M ü n c h e n 1974, 59-90; R. NECK, Österreich in d e r revolutionären E p o c h e von 1917 bis 1920, in: Revolutionäre Bewegungen in Österreich, hg. von E. ZÖLLNER (Schriften des Instituts f ü r Österreichkunde 38), Wien 1981, 129-140; R. NECK, Die österreichische A r b e i t e r b e w e g u n g vom J ä n n e r bis N o v e m b e r 1918, in: Die A u f l ö s u n g des Habsburgerreiches. Z u s a m m e n b r u c h u n d N e u o r i e n t i e r u n g im Don a u r a u m , hg. von R. G . PLASCHKA u n d K. MACK (Schriftenreihe des österreichischen Ost- u. Südosteuropa-Instituts 3), M ü n c h e n 1970, 72-77. H. GABOR, 1918 - D e r Jännerstreik in Ung a r n , ebd. 78-82; H. HAUTMANN, D e r N o v e m b e r 1918 - eine Revolution?, i n : Österreich N o v e m b e r 1918. Die Entstehung d e r Ersten R e p u b l i k , hg. von I. ACKERL u n d R. NECK (Symposiumsprotokoll) ( V e r ö f f e n t l i c h u n g e n / W i s s e n s c h a f t l i c h e K o m m i s s i o n zur Erfors c h u n g der Geschichte d e r Republik Österreich 9), M ü n c h e n 1986, 159-167 u. 267 f.

Der Januarstreik 1918 in München

281

hoch genug eingeschätzt werden kann. Dieser Erfolg dürfte nicht unerheblich dazu beigetragen haben, daß sich in Österreich-Ungarn der Richtungsstreit innerhalb der Sozialdemokratie fortan weit weniger bemerkbar machte als bei der deutschen Bruderpartei 16 . Trotz dieser Unterschiede besteht zwischen beiden Streikbewegungen ein enger Zusammenhang, der sich keinesfalls in der Vorläuferfunktion der österreichischen Aktionen erschöpft. Auch im Deutschen Reich fand der Streik eine überraschend große Resonanz. Anders als in Österreich-Ungarn, wo er unterschiedlichste Branchen erfaßte, waren hier fast ausschließlich die Arbeiter der großen Rüstungsbetriebe Träger des Ausstandes. Das bedeutete, daß sich das Streikgeschehen weitgehend auf die Großstädte und die industriellen Ballungszentren konzentrierte. Weitere Gemeinsamkeiten der lokalen Streikaktionen waren die bereits erwähnte ablehnende Haltung der Gewerkschaften, aber auch der mehrheitssozialdemokratischen Partei, die führende Beteiligung der USP-Ortsvereine, die in der Mehrzahl der Fälle eng mit den maßgeblich am Streik beteiligten Betrieben kooperierten, sowie der geringe Einfluß, den die Spartakisten auf das Geschehen nehmen konnten. Auch die von den Streikenden in den verschiedenen Städten erhobenen Forderungen deckten sich in hohem Maße. Am politischen Charakter der Bewegung herrschte schon unter den Zeitgenossen kein Zweifel, obwohl Lebensmittelfragen und innerbetriebliche Angelegenheiten in einem lokal freilich recht unterschiedlich ausgeprägten Umfang in die Forderungen mit einflossen. Der Ausstand dauerte nirgends länger als ein paar Tage und endete in aller Regel mit dem formellen Beschluß, wieder an die Arbeit zurückzukehren. Auch wenn die Drohungen der staatlichen Behörden dabei eine Rolle spielten, wurde das Ende des Streiks von den Beteiligten doch nicht als Kapitulation empfunden 1 7 .

16

17

Genauso bedeutsam, wenn nicht noch wichtiger, war freilich die Tatsache, daß die österreichische Sozialdemokratie, bedingt durch die Nichteinberufung des Parlaments, nicht wie ihre deutsche Bruderpartei gezwungen war, den Kriegskrediten zuzustimmen und die Parteiführung zudem eine erheblich flexiblere Haltung gegenüber der Parteilinken an den Tag legte. Siehe dazu H. MOMMSEN, Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Eine vergleichende Betrachtung, in: Deutschland und Österreich (Anm. 12), 424-449, hier 439ff; H. HAUTMANN/R. KRÖPF, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (Schriftenreihe des Ludwig-BolkmannInstituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), Wien 1974, 121 ff. Siehe hierzu u. a.: G. D. FELDMAN, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin/Bonn 1985, 359 ff; S. BAILEY, The Berlin Strike of January 1918, in: Central E u r o p e a n H i s t o r y 12 ( 1 9 8 0 ) , 1 5 8 - 1 7 4 .

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Der Januarstreik in München I. Grundkomponenten des Streiks In München waren die strukturellen Voraussetzungen für einen Streik alles andere als günstig. Sicherlich ist der Umfang der Münchner Industriearbeiterschaft lange Zeit unterschätzt worden. Doch noch zu Beginn des Krieges fehlten die für andere Streikzentren charakteristischen Großbetriebe des metallverarbeitenden Gewerbes fast völlig. Das Wirtschaftsleben der Stadt war vielmehr geprägt durch die große Zahl der Klein- und Mittelbetriebe, durch Spezialisierung einerseits und eine außerordentliche Vielseitigkeit andererseits 18 . Als Zentrum der Kriegsindustrie lassen sich die Stadt und ihr näheres Umfeld daher keinesfalls charakterisieren. Zwar waren im Laufe des Krieges, bevorzugt im Norden der Stadt, einige Rüstungskonzerne entstanden, doch verglichen mit den Städten im RheinRuhr-Gebiet oder auch mit Berlin, war dies kaum der Rede wert". Ein USP-Ortsverein hatte sich, eher halbherzig, am 16. Mai 1917, also kurz nach dem Gründungsparteitag der USPD in Gotha, konstituiert. Seine Anhängerschaft rekrutierte sich zunächst aus dem Umfeld der von dem Journalisten und ehemaligen Vorwärts-Redakteur Kurt Eisner seit Dezember 1916 regelmäßig veranstalteten Diskussionsabende, neben den Zusammenkünften der bürgerlichen Friedensbewegung das einzige nennenswerte Forum der Kriegsgegner in München. Im Januar 1918 verfügte die neue Partei im Münchner Raum freilich erst über etwa 600 Mitglieder und führte ein von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes Schattendasein 20 . Nennenswerte Streikaktionen hatte es in München bis dahin nicht gegeben. Vereinzelte Proteste und Demonstrationen drehten sich in aller Regel um die unzureichende Lebensmittelversorgung, trugen spontanen Charakter und erreichten meist nur einen sehr bescheidenen Umfang 21 . Die ausschlaggebenden Impulse für die Streikbewegung im Januar gingen dementsprechend von Berlin aus. Dort waren es vor allem die Obleute, das heißt die Betriebsvertrauensmänner, in den Rüstungsfabriken, die für die Durchführung einer Streikaktion plädierten und die zunächst noch zu-

" K..-M. HAERTLE, Münchens „verdrängte" Industrie, in: München - Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1 8 8 6 - 1 9 1 2 , hg. von F . P R I N Z und M. K R A U S S , München 1 9 8 8 , 1 6 4 ff. " Siehe etwa den Bericht des Polizeipräsidiums Berlin, Abtl. VII, Außendienst 3. Kommissariat, Berlin den 25. März 1917, der München das „Fehlen einer bedeutenden Rüstungsindustrie" bescheinigt; zitiert bei: Die Auswirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, hg. von L. STERN, Bd. 2 (Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiter-Bewegung 4/II), Berlin 1959, 394. 20 B. GRAU, Parteiopposition - Kurt Eisner und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, in : Von der Klassenbewegung zur Volkspartei. Wegmarken der bayerischen Sozialdemokratie 1892-1992, hg. von H. MEHRINGER, München 1992, 126-136, hier 129 ff. 21 Av (Anm. 13), 183 ff.

D e r Januarstreik 1918 in München

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rückhaltende Führungsspitze der USPD zur Tat drängten. Kurt Eisner, unangefochtener Kopf der Münchner Unabhängigen, hatte an den entscheidenden Beratungen der USPD-Führung Mitte Januar in Berlin persönlich teilgenommen und gehörte, eigenen Aussagen zufolge, von Beginn an zu denjenigen, die eine baldige Aktion uneingeschränkt befürworteten. Als er nach München zurückkehrte, war auf den Druck der Obleute hin der Streikbeschluß gefallen; nur ein Stichtag war noch nicht festgelegt worden. Dieser, der 28. Januar, wurde ihm ebenso wie ein von der USPD stammender Aufruf „An die Männer und Frauen des werktätigen Volkes" erst nach seiner Rückkehr von Berlin aus übermittelt 22 . Die Orientierung an den in der Reichshauptstadt getroffenen Vereinbarungen trug entscheidend dazu bei, daß, wie eingangs erwähnt, die Grundmuster der Bewegung im ganzen Deutschen Reich eine große Einheitlichkeit aufwiesen und daß die Aktionen überall von ähnlichen Forderungen getragen wurden. Wie im übrigen Reich, war auch in München das Geschehen von politischen Zielsetzungen bestimmt. An der Spitze stand dabei wie überall das Verlangen nach einem baldigen allgemeinen Friedensschluß ohne Annexionen und Kontributionen. Weiter wurden gefordert: ein vollständiges Presse- und Koalitionsrecht sowie Versammlungsfreiheit, die Aufhebung des Belagerungszustandes, die Entmilitarisierung der Betriebe, die Aufhebung des Hilfsdienstgesetzes und die Freilassung sämtlicher politischer Gefangener 23 . Worauf man offensichtlich bewußt verzichtet hatte, war die in Berlin und andernorts erhobene Forderung nach einer besseren Lebensmittelversorgung 24 . Im weiteren Verlauf des Streiks traten allerdings die lokalen Besonderheiten immer deutlicher hervor, zeigte sich mit zunehmender Dauer immer stärker der von Werner Boldt konstatierte „Widerspruch zwischen einheitlicher Zielsetzung und lokal getrennten Aktionen" 25 . Der uneinheitliche Beginn des Ausstandes deutete dies bereits an. In München setzte 22

23

24

25

Bundesarchiv/Zwischenarchiv: Dahlwitz-Hoppegarten [im folgenden: BA/Dahlwitz], O R A / R G , C 24/18, Bd. 1, Bl. 46-56, Vernehmung des Angeschuldigten Friedrich Schröder, München/Neudeck, 22.5.1918, S. 4; Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten, hg. von G. SCHMÖLZE, Düsseldorf 1969, 44 ff; Felix Fechenbach, Der Revolutionär, 1929, 21 f. Das u.a. auch im Ruhrgebiet verwendete Flugblatt ist abgedruckt bei H. SPETHMANN, Zwölf Jahre Ruhrbergbau. Aus seiner Geschichte von Kriegsanfang bis zum Franzosenabmarsch 1914-1925, Bd. 1, Berlin 1928, 354f. Siehe das von Albert Winter senior und junior erstellte Flugblatt „Arbeiter und Arbeiterinnen!" BA/Dahlwitz, O R A / R G , C 24/18, Bd. 3, Bl. 69. Vgl. die vom Berliner Aktionsausschuß des Arbeiterrats aufgestellten „Forderungen der Arbeiter", abgedruckt bei R. MÜLLER, Vom Kaiserreich zur Republik. Ein Beitrag zur Revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges, Berlin 1974, 204 f. In seiner Rede am 27.1.1918 in den Kolosseumsbierhallen rühmte Eisner den kurz zuvor abgelaufenen Streik in Österreich mit folgenden Worten: „Man feilschte nicht um Brot oder Fleisch, wie man oft vorgeschützt hören könne, sondern man stellte politische Forderungen (...)." Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [im folgenden: BayHStA], MInn 66283, Versammlungsbericht des Polizei-Hilfsarbeiters Lorenz Reithmeier, München 27.1.1918. BOLDT ( A n m . 8 ) , 2 8 .

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der Streik gar erst mit dreitägiger Verspätung am 31. Januar ein, zu einem Zeitpunkt, als in Nürnberg die Arbeitsniederlegungen schon wieder beendet waren 26 . Dieses Zurückbleiben hinter dem vereinbarten Streikbeginn läßt sich als deutlicher Beleg f ü r die großen Schwierigkeiten der örtlichen USP bei der Umsetzung des Streikbeschlusses bewerten. Die Schwierigkeiten resultierten daraus, daß in München, anders als in Berlin, der Impuls nicht von den Betrieben selbst ausging, sondern der Arbeiterschaft erst vermittelt werden mußte. Erschwert wurde dies dadurch, daß die USP über keinerlei feste Kontakte zu den Arbeitern der Kriegsindustrie verfügte 27 . Kurt Eisner, unbestritten der „geistige Leiter und Organisator der Ausstandsbewegung in München" 2 8 konnte zunächst nur seine engsten Vertrauten aus dem Kreise der Unabhängigen um sich scharen. Er selbst hielt in der Anfangsphase des Streiks auf nahezu allen wichtigen Versammlungen die Hauptrede. Daneben spielten vor allem Sarah Sonja Lerch, geborene Rabinowitz, Frau eines Münchner Privatdozenten und Teilnehmerin der russischen Revolution des Jahres 1905, und Albert Winter senior, Schreinermeister und Vorstand des USP-Ortsvereins eine führende Rolle 29 . Erst im weiteren Verlauf traten ihnen Angehörige der Münchner Rüstungsbetriebe zur Seite, meist Vertrauensleute der jeweiligen Arbeiterschaft, die wesentlich dazu beitrugen, den Streikaufruf bei ihren Arbeitskollegen durchzusetzen. Ein weiteres Hindernis stellte der erbitterte Widerstand von MSP und Gewerkschaften dar. Während die Repräsentanten des Mehrheitsflügels andernorts dem Geschehen zwar ebenfalls ablehnend, zunächst aber meist tatenlos gegenüberstanden, traten sie in München den Befürwortern des Streiks bis zuletzt immer wieder aktiv entgegen 30 . Das verspätete Einsetzen der Aktionen in München hatte ihnen genug Zeit gegeben, um eine Gegenposition zu den Unabhängigen zu entwickeln und das ganze Gewicht ihres Einflusses und ihrer Kontakte zur Verhinderung der Aktionen in die Waagschale zu werfen.

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Zum Sonderfall Nürnberg siehe BOLDT (Anm. 8), 7 ff; E. MÜLLER (Bearb.), Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Nürnberg, Bd. III (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 15), Nürnberg 1985, 238 ff. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR/Berlin [im folgenden: SAPM/Berlin], NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 4.2.1918; Teilabdruck bei A. LASCHITZA, Kurt Eisner - Kriegsgegner und Feind der Reaktion, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 9 (1967), 476-489. Siehe auch: BayHStA, MInn 66283, Schreiben des Ersten Staatsanwalts beim LG München I an das Justizministerium, München, 2.2.1918; Felix Fechenbach, Der Revolutionär, 1929, 23. BayHStA, MInn 66283, Schreiben des I. Staatsanwalts beim LG München I an das Justizministerium, München, 2.2.1918, S. 2. BayHStA, MInn 66283, Schreiben des I. Staatsanwalts beim LG München I an das Justizministerium, München, 2.2.1918. Siehe etwa: Münchener Post, Nr. 23, 28.1.1918; BayHStA, Abtl. IV, Stv. Gen. Kdo. I. A-K., 1372, Schreiben des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes/München an die Obleute und Vertrauenspersonen in den Betrieben, München o. Dat.

Der Januarstreik 1918 in München

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Die entscheidenden Stationen der ersten Streikphase lassen sich knapp zusammenfassen 31 . Den Auftakt machte am 27. Januar eine von etwa 250 Personen besuchte USP-Versammlung in den Kolosseumsbierhallen, auf der Kurt Eisner eine knapp zweistündige Ansprache zum Thema „Die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk und das harrende Volk" hielt 32 . Teilnehmer aus den Reihen der Krupp-Belegschaft forderten ihn im Anschluß daran auf, am nächsten Tag an ihrer Betriebsversammlung teilzunehmen. Zu einem formellen Streikbeschluß der Krupp-Arbeiter kam es allerdings auch hier nicht. Dieser fiel erst einen Tag später, am 29. Januar. In Verbindung mit dem am 31. Januar durchgeführten Demonstrationszug der Krupp-Arbeiter zu den übrigen Großbetrieben im Münchner Norden brachte er den von den Unabhängigen sehnlichst erwarteten Startschuß. Eine Versammlung jagte nun die nächste, und immer mehr Betriebe schlossen sich der Bewegung an. Als in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar Kurt Eisner und in der Folge fünf weitere Unabhängige verhaftet wurden, war die Aktion schon nicht mehr aufzuhalten. Getragen von der Euphorie der zurückliegenden Ereignisse vermerkte Eisner am 19. Februar in seinem Gefängnistagebuch: „Hätte man mir noch zwei Tage Zeit gelassen, mit geistigen Waffen vor den Massen die Wahrheit zu erkämpfen, das ganze Proletariat wäre gewonnen worden." 33 Tatsächlich gelang es aber nur in sehr begrenztem Umfang, über den Kreis der Rüstungsarbeiter hinaus auch Angehörige anderer Branchen für den Streik zu mobilisieren. Einige Angaben zur Zahl der an den Arbeitsniederlegungen beteiligten Arbeiter können das belegen. Insgesamt, so ist dem Wochenbericht des damaligen Regierungspräsidenten von Oberbayern, des Staatsrates und späteren rechtsgerichteten Ministerpräsidenten Dr. Gustav von Kahr zu entnehmen, hatten sich bis Samstag, den 2. Februar, in den Münchner Großbetrieben zusammengenommen 9230 Beschäftigte dem Streikaufruf angeschlossen. Bei Krupp traten etwa 1500 Beschäftigte in den Ausstand. Das stärkste Kontingent stellten allerdings die Bayerischen Flugzeugwerke mit rund 3000 Streikteilnehmern. Stark vertreten waren auch die Ottowerke-Maschinen und Flugzeugfabrik mit 1000, die Rapp-Motorenwerke mit 1500 und das Präzisionswerk Deckel mit 1100 Streikenden. Namentlich erwähnt werden im Wochenbericht des Regierungspräsidenten ferner einige kleinere Betriebe: die Zigarettenfabriken Austria (500) und Phillips Witwe (300), die Münchener Möbel-

11

Siehe dazu SAPM/Berlin, N L 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefângnistagebuch; Staatsarchiv München [im folgenden: StA München], StAnw München I, 2242/11, Anklageschrift des Oberreichsanwalts in Leipzig vom 7.10.1918. 32 BayHStA, MInn 66283, Versammlungsbericht des Polizei-Hilfsarbeiters Lorenz Reithmeier, München, 27.1.1918. " SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefângnistagebuch, Eintragung vom 19.2.1918.

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Werkstätten (180) sowie die Lederfabrik Hesselberger (150) 34 . D i e beiden letzteren hatten im Laufe des Krieges ebenfalls auf die Produktion von Heeresbedarf umstellen müssen 35 . Wie an anderer Stelle beteiligten sich also auch in München in erster Linie Rüstungsarbeiter aus dem Bereich des metallverarbeitenden Gewerbes am Streik. D o c h selbst unter den Rüstungsfirmen war nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von den Arbeitsniederlegungen betroffen. Dies legt die Frage nach den besonderen Eigenschaften der v o m Streik erfaßten Betriebe und ihrer Arbeiterschaft nahe.

II. Die bestreikten

Betriebe und ihre

Arbeiterschaft

Eine auffällige Gemeinsamkeit der fünf v o m Streik betroffenen Großbetriebe ist zweifellos die Tatsache, daß sie während des Krieges eine beispiellose Expansion erlebt hatten. D i e Kruppschen Geschützwerke waren sogar erst nach Kriegsbeginn errichtet worden. Zu ihrer im Juni 1916 beschlossenen Ansiedelung im Münchner N o r d e n hatten militärische, wirtschaftliche, vor allem aber politische Gründe beigetragen 36 . D a sich der Bau der umfangreichen Fabrikanlagen mehrfach verzögerte, konnte Krupp den Betrieb allerdings erst im Juli 1917 aufnehmen. Ab September 1917 wurde dann in den hauptsächlichen Teilen des Unternehmens gearbeitet 37 . Von seinen Dimensionen her handelte es sich dabei um ein für Münchner Verhältnisse ungewöhnliches Projekt 38 . Auch wenn über die Zahl der Beschäftigten widersprüchliche Angaben vorliegen, so überstieg sie d o c h spürbar die für München bis dahin üblichen Größenordnungen 3 9 . Betriebe mit mehr als 1000 Mitarbeitern waren vor Ausbruch des Krieges in München eine Seltenheit gewesen 4 0 . Im Januar 1918 hatten dagegen 14

BayHStA, MInn 66283, Wochenbericht des Regierungspräsidenten von Oberbayern, München, 4.2.1918. " Für die Möbelwerkstätten: B. BLEYER, Verlauf einer Stadtteilkarriere. München-Milbertshofen, Regensburg 1988, 51; für die Lederfabrik: BayHStA, Abtl. IV, Stv. Gen. Kdo. I A-K, 1359, Eintragung Nr. 87. " BayHStA, MH 15791, Zeitungsausschnitt aus der Pfälzischen Post Nr. 119, 20.5.1916. 37 BayHStA, MH 15791, Schreiben der Bayerischen Geschützwerke Friedrich Krupp K.G. an das Handelsministerium, Freimann bei München, 7.9.1917 sowie MH 15792, Schreiben der Bayer. Geschützwerke Friedrich Krupp K.G. an das Handelsministerium, Freimann bei München, 2.6.1919. 38 Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 536, 20.10.1916. 39 Während eine Quelle für Januar 1918 von 3328 Krupp-Arbeitern spricht, ist an anderer Stelle für denselben Zeitpunkt nur von 1969 Beschäftigten die Rede. Möglicherweise wurden im einen Fall die nach wie vor in großer Zahl bei Krupp tätigen Bauarbeiter mitgezählt, im anderen nicht. Vgl. BayHStA, Abtl. IV, MKr 17277, Stand der Arbeitskräfte der größeren kriegswichtigen Betriebe im Bereiche des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK, S.8; und MKr 14201, Bericht des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK über die Arbeitsverhältnisse bei den Bayer. Geschützwerken Friedrich Krupp K. G., München, 11.2.1918. 40 Im Jahre 1907, bei der letzten gewerblichen Betriebszählung fielen in diese Kategorie nur zwei Firmen aus dem Baugewerbe und eine aus dem Bereich des Maschinen-, Apparateund Fahrzeugbaus. Statistisches Amt der Stadt München. Die Quellen des Münchener Wirtschaftslebens. Untersuchungen über die Wirtschaftsverhältnisse der Stadt München und

Der Januarstreik 1918 in München

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allein elf der als kriegswichtig eingestuften Münchner Metall- und Maschinenfabriken über 1000 Beschäftigte. Darunter befanden sich außer Krupp auch alle übrigen vom Streik betroffenen Unternehmen aus dem Bereich der Metallverarbeitung: die Bayerischen Flugzeugwerke, die Bayerischen Motorenwerke, die Otto-Flugzeugwerke und die Firma Friedrich Deckel Präzisionsinstrumente. Mit Ausnahme von Deckel hatten sich diese Unternehmen aus kleinen bis kleinsten, beinahe handwerklich zu nennenden Anfängen entwickelt. Ihre eigentlichen Produktionsstätten waren wie die der Kruppwerke auf der grünen Wiese entstanden. Die Bayerischen Motorenwerke, die sich bis 1917 Rapp-Motorenwerke nannten, hatten im August 1914 gerade 59 Personen beschäftigt, im Januar 1918 hingegen verfügten sie über 1984 Mitarbeiter. Zur Zeit des Januarstreiks befand sich das Werk zudem mitten in einem Standortwechsel. Sowohl im neuerrichteten als auch im alten Werksteil wurde noch produziert. Eine ähnliche Expansion erfuhren die Ottowerke und die Bayerischen Flugzeugwerke, die im Januar auf 1040 beziehungsweise 2507 Mitarbeiter kamen. Einen Sonderfall stellen die Präzisionswerke Friedrich Deckel dar, bereits vor dem Krieg ein Großunternehmen. Im August 1914 umfaßte ihre Belegschaft insgesamt 404 Mann. Allerdings expandierte auch Deckel infolge der Rüstungsaufträge kräftig und zählte im Januar 1918 1178 Mitarbeiter 41 . Vergleicht man Deckel mit den übrigen vom Streik betroffenen Unternehmen, fällt eine weitere Besonderheit ins Auge: Als einziger Betrieb hatte das Werk seinen Standort in Sendling, also im Münchner Süden. Es ist jedoch ein ausgesprochenes Charakteristikum des Streiks, daß sein Zentrum eindeutig im Münchner Norden lag. Die Kruppwerke, in denen der Streik ausbrach, waren in Freimann, also noch vor den Toren der Stadt, angesiedelt. Die größte Konzentration bestreikter Betriebe findet sich aber in Milbertshofen. Hier lagen die neuen Fertigungsanlagen der Ottowerke, der Bayerischen Motorenwerke und der Bayerischen Flugzeugwerke. Damit nicht genug, auch die Münchner Möbelwerkstätten, die Austria-Tabakwerke und die Tabakfabrik Philipps Witwe hatten ihre Produktionsstätten in diesem Stadtteil. Ebenfalls im Norden, nämlich am Biederstein, lag die Lederfabrik der Gebrüder Hesselberger 42 . Die relativ dichte Lage der genannten Betriebe hatte eine erhebliche BeFortsetzung Fußnote von Seite 286

41

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ihre Beziehungen zur allgemeinen Volkswirtschaft, München 1930, 107; vgl. HAERTLE (Anm. 18), 166 und 174. BayHStA, Abtl. IV, MKr 17277, Stand der Arbeitskräfte der größeren kriegswichtigen Betriebe im Bereiche des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK, S.7, 10, 16, 70; zur Entwicklungsgeschichte dieser Unternehmen siehe BLEYER (Anm. 35), 47 ff; Th. DOMBART, Milbertshofen. Entwicklungsgeschichte eines Münchener Stadtteils, München 1956, 153ff; F. L. NEHER, 50 Jahre Friedrich Deckel, München 1953, 60, 142. Adreßbuch der Stadt München, Ausgaben von 1918 und 1919; vgl. NEHER (Anm. 41); BLEYER ( A n m . 3 5 ) , 4 7 f f ; DOMBART ( A n m . 4 1 ) , 1 5 3 f f .

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deutung für die Erfolgsaussichten des Januarstreiks. Das wird nicht zuletzt aus dem am 31. Januar durchgeführten Demonstrationszug deutlich. An dem Umzug beteiligten sich geschätzte 2000 Personen, die zuvor an einer Betriebsversammlung der Kruppwerke teilgenommen hatten. Der Zug führte zielstrebig nach Milbertshofen, vorbei an den Bayerischen Motorenwerken, an den Bayerischen Flugzeugwerken und den Artilleriewerkstätten. Mit ihrem Marsch nach Milbertshofen versuchten die Krupparbeiter, die sich bereits seit dem Morgen im Ausstand befanden, ganz bewußt die dort zusammengeballten Rüstungsarbeiter für eine Beteiligung am Streik zu gewinnen; wie der weitere Verlauf der Arbeitsniederlegungen zeigt, mit einigem Erfolg 43 . Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen, daß in erster Linie diejenigen Firmen von der Streikbewegung erfaßt wurden, die zu dem aus Kriegsgründen im Münchner Norden entstandenen Industriekomplex gehörten. Damit ist allerdings noch wenig über die Charakteristika der dort beschäftigten Arbeiterschaft ausgesagt. Über deren Zusammensetzung ist kaum etwas bekannt. Ein vom Stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armeekorps angelegtes Verzeichnis über den „Stand der Arbeitskräfte der größeren kriegswichtigen Betriebe" gibt immerhin einige Hinweise 44 . Vergleicht man die fünf vom Streik erfaßten Rüstungsbetriebe im Münchner Norden mit den 30 anderen, nicht bestreikten Münchner Firmen, die wie diese für den Heeresbedarf produzierten und zum metallverarbeitenden Gewerbe zu rechnen sind, lassen sich einige interessante Besonderheiten feststellen. So fällt auf, daß in den von Arbeitsniederlegungen betroffenen Großunternehmen ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz der männlichen Arbeitskräfte aus kriegswirtschaftlichen Gründen vom Heeresdienst zurückgestellt war. Dabei handelte es sich in der Regel um Arbeiter, meist Fachkräfte, die der jeweilige Betrieb für die Produktion reklamiert hatte und die daher als unabkömmlich galten. Bei Krupp waren 75,6 Prozent der Männer vom Heeresdienst zurückgestellt, bei den Bayerischen Motorenwerken sogar 79,8 Prozent. Im Durchschnitt trugen bei den bestreikten Unternehmen 70 Prozent der Arbeiter den Reklamiertenstatus. Etwas aus dem Rahmen fällt auch hier die Firma Deckel, mit nur 52,7 Prozent an reklamierten Arbeitern. Noch niedriger lag allerdings deren Anteil bei den Firmen, die vom Ausstand verschont blieben. Für sie errechnet sich ein

4J

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Münchner Neueste Nachrichten Nr. 57, 1.2.1918; SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 6.2.1918; vgl. BayHStA, MInn66285, Zeitungsausschnitt aus der Münchener Zeitung Nr. 31, 1.2.1918; und MInn66285, Zeitungsausschnitt aus dem Münchener Tagblatt Nr. 32, 1.2.1918. BayHStA, Abtl. IV, MKr 17277, Stand der Arbeitskräfte der größeren kriegswichtigen Betriebe im Bereiche des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK; dazu auch: B. GRAU, Die Entstehung der Linken. Die Münchner USP zwischen 1917 und 1920, (Magisterarbeit, masch.) München 1989, 49 ff.

Der Januarstreik 1918 in München

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durchschnittlicher Anteil zurückgestellter Arbeiter in Höhe von 48,1 Prozent 45 . Auch hinsichtlich der Zahl der beschäftigten Arbeiterinnen herrschten in den bestreikten Unternehmen besondere Verhältnisse. Für sie war eine vergleichsweise niedrige Frauenquote charakteristisch 46 , die mit einer geringen Bereitschaft zur Anstellung weiblicher Arbeitskräfte einherging 47 . Nimmt man die fünf großen Rüstungsbetriebe, die zusammen 2030 Arbeiterinnen beschäftigten, so ergibt sich ein durchschnittlicher Frauenanteil von 20,6 Prozent, bei den übrigen 30 Unternehmen lag er hingegen bei 30,3 Prozent. Sehr niedrig war der Frauenanteil dort, wo der Streik ausbrach, bei den Kruppwerken, deren Arbeiterschaft nur zu 13,9 Prozent aus Frauen bestand 48 . Noch weniger Frauen arbeiteten bei den Ottowerken mit 13 und den Bayerischen Motorenwerken mit einem Frauenanteil von 8,5 Prozent. Bei den Bayerischen Flugzeugwerken lag er bei 20,8 Prozent. Die Ausnahme von der Regel stellten erneut die Präzisionswerke Friedrich Deckel dar, wo zu 65 Prozent Frauen beschäftigt waren. Der hohe Prozentsatz an reklamierten Arbeitskräften einerseits und ein niedriger Anteil von Frauen andererseits sind wiederum Indikatoren dafür, daß in den bestreikten Unternehmen der Anteil an Facharbeitern besonders hoch gewesen sein dürfte. Die im Krieg sowohl relativ als auch absolut sprunghaft wachsende Zahl von Industriearbeiterinnen beruhte ja nicht zuletzt auf der Tatsache, daß männliche Arbeitskräfte wo immer möglich durch Frauen ersetzt wurden, um die Männer für den Frontdienst freistellen zu können. Am einfachsten war dies zweifellos im Bereich der ungelernten Tätigkeiten möglich 49 . Für die Kruppwerke läßt sich der Facharbeiteranteil zumindest annäherungsweise bestimmen. Demnach

" Bei den vorstehenden Angaben blieben die Artilleriewerkstätten unberücksichtigt, da sie insofern eine Sonderrolle spielen, als 70,9 Prozent ihrer männlichen Arbeiter Betriebssoldaten waren. 46 Für Nürnberg sind Klaus-Dieter Schwarz und Anneliese Seidel zu völlig konträren Resultaten gekommen: K..-D. SCHWARZ, Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Kieler Historische Studien 13), Stuttgart 1971, 240 ff; vgl. A. SEIDEL, Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg als Problem der Staatlichen Sozialpolitik. Dargestellt am Beispiel Bayerns, Frankfurt a. M. 1979, 224 ff. BayHStA, Abtl. IV, MKr 17300, Niederschrift über den Ortstermin bei der Bayer. Geschützwerke Friedrich Krupp K.G., München, 17.10.1917 und MKrl4385, Bericht der Kriegsamtstelle München über das Ergebnis einer Arbeitskräftebedarfsumfrage bei 25 Betrieben im Bereich des I. bayerischen Armeekorps, München, 2.10.1917. 48 Für die Kruppwerke ist einschränkend auf die große Zahl der dort beschäftigten Bauarbeiter hinzuweisen. Anderen Quellen zufolge lag der Frauenanteil unter den reinen Fabrikarbeitern bei etwa 23 Prozent, damit aber immer noch deutlich unter dem Durchschnitt; siehe BayHStA, Abtl. IV, MKr 14201, Bericht des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK über die Arbeitsverhältnisse bei den Bayer. Geschützwerken Friedrich Krupp K.G., Freimann bei München, 11.2.1918; MKr 17461, Antrag der Bayer. Geschützwerke Friedrich Krupp K.G. auf Zuweisung weiterer Arbeitskräfte, Freimann bei München, 14.3.1918. 49 Dazu BayHStA, Abtl. IV, MKr 14200. Die diesbezüglichen Bemühungen staatlicher Stellen faßt ein „Entwurf allgemeiner Richtlinien für den Facharbeiter-Ersatz" zusammen, den die Kriegsamtstelle Nürnberg am 28.7.1917 verschickte.

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waren am 1. Februar von 1345 männlichen Kruppangehörigen 681 beziehungsweise 50,6 Prozent Facharbeiter, während die restlichen 664 Personen als angelernte oder ungelernte Arbeitskräfte einzustufen sind 50 . Ein hoher Anteil von reklamierten Arbeitskräften bedeutete darüber hinaus auch einen verhältnismäßig stabilen Personalstamm. Bestätigt wird dies durch eher spärlich überlieferte Quellen zur internen Situation der Betriebe. Im Januar 1918 hatten bei Krupp insgesamt 291 und im Februar 271 Arbeitskräfte ihre Beschäftigung quittiert. Reklamierte Arbeiter tauchen in dieser Übersicht allerdings kaum auf. Von 169 Männern, die im Januar 1918 die Geschützwerke verließen, waren nur drei zurückgestellt gewesen. Im Februar bot sich exakt dasselbe Bild51. Da die reklamierten Arbeiter einen sehr hohen Anteil der Gesamtbelegschaft stellten, ist die Fluktuation bei der „freien" Belegschaft um so höher einzuschätzen. Für die Erfolgschancen des Streiks war ein fester Personalstamm von sicherlich kaum zu unterschätzender Bedeutung. Zu den gängigsten Erklärungsmustern des Münchner Streiks und der Revolution gehört der Hinweis auf die große Zahl „landfremder Elemente" in den Großbetrieben, speziell bei Krupp 52 . Auch wenn genaue Zahlenangaben fehlen, ist nicht von der Hand zu weisen, daß in den Geschützwerken tatsächlich eine große Zahl von Arbeitern beschäftigt war, die früher im Stammbetrieb in Essen gearbeitet hatte 53 . Dazu paßt auch die Beobachtung, daß alle vier, von der Polizei als Streikführer benannten Krupparbeiter nicht aus Altbayern stammten. Der Vorsitzende des Arbeiterausschusses, Hans Reck, war gebürtiger Franke, Gottfried Popall kam aus dem Raum Danziger-Niederung, Rudolf Götz aus Elberfeld und Theodor Körvers aus Aachen 54 . Daß die Beteiligung von auswärts kommender Arbeitskräfte allerdings nur einen Faktor unter vielen darstellte, dürfte nach den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein.

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Facharbeiter: 199 Dreher, 402 Schlosser, 80 Schmiede; ungelernte Arbeiter: 232 Maschinenarbeiter, 432 Hilfsarbeiter; BayHStA, Abtl. IV, MKr 14201, Bericht des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK über die Arbeitsverhältnisse bei den Bayer. Geschützwerken Friedrich K r u p p K.G., München, 11.2.1918. " BayHStA, Abtl. IV, MKr 14201, Berichte des Stv. Generalkommandos I. bayer. AK über die Arbeitsverhältnisse bei den Bayer. Geschützwerken Friedrich Krupp K.G., München, 11.2.1918 und 6.3.1918. 52 Siehe etwa BayHStA, MInn 66285, Zeitungsausschnitt aus dem Münchener Tagblatt Nr. 32, 1.2.1918 sowie ebd. Zeitungsausschnitt aus der Münchener Zeitung Nr. 31, 1.2.1918. 53 Siehe hierzu BayHStA, Abtl. IV, MKr 17300, Niederschrift über den Ortstermin bei den Bayerischen Geschützwerken Friedrich Krupp K. G. Freimann, München 17.10.1917, wo von der Möglichkeit die Rede ist, „noch einige hundert weitere Arbeiter von den Werken in Essen zu erhalten". Siehe auch: F. J. BAUER, Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 1. Reihe, Bd. 10), Düsseldorf 1987, 240, Anm. 3. 54 BayHStA, Abtl. IV, Stv. Gen. Kdo. I. AK., 1371, Bericht der Zentralpolizeistelle Bayern vom 3.4.1918.

D e r Januarstreik 1918 in München

III. Der Streikverlauf auf

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Betriebsebene

Die Streikbereitschaft hing allerdings nicht nur von den strukturellen Gegebenheiten in den jeweiligen Unternehmen ab. Von noch größerer Bedeutung war offensichtlich die Machtkonstellation in den Betrieben, sprich der unterschiedlich starke Einfluß, den MSP und Gewerkschaften auf die Arbeiter auszuüben vermochten. Dies wird deutlich, wenn man sich die Vorgänge in den bestreikten Unternehmen etwas näher betrachtet. Einen zentralen Stellenwert erlangte dabei die von MSP und Gewerkschaften für den 28. Januar anberaumte Betriebsversammlung der Krupparbeiter. Vertrauensleute des Betriebes hatten Kurt Eisner und einige seiner engsten Vertrauten zur Teilnahme aufgefordert und so den Unabhängigen den dringend benötigten unmittelbaren Zugang zur Rüstungsarbeiterschaft eröffnet. Die Versammlung fand, unter Beteiligung von 800-900 Personen, in der Schwabinger Brauerei statt und nahm einen turbulenten Verlauf. Gegen den Widerstand des Veranstaltungsleiters und Gewerkschaftsführers Joseph Kurth gelang es den Sympathisanten der USP in einer „heftigen Geschäftsordnungsdebatte", das Thema „Die politische Lage" auf die Tagesordnung zu setzen und Eisner das Rederecht zu erstreiten. In einem mitreißenden Auftritt brachte er, allen Appellen der Mehrheitsrepräsentanten zum Trotz, die Krupp-Arbeiter auf seine Seite. Im Gefängnistagebuch notierte er später: „So oft ich vom Streik sprach, jubelte alles; die Versammlung war von Anfang an so gestimmt, d a ß sie mehr mich als ich sie aufreizte; ich lieh ihrem dunklen Fühlen nur das Wort." 5 5 Zwar lösten die Vertreter von MSP u n d Gewerkschaften die Versammlung wegen des Überschreitens der Polizeistunde auf, ehe über die Teilnahme am Ausstand abgestimmt werden konnte, doch faßten die Betriebsvertrauensleute tags darauf den Beschluß, am Donnerstag, den 31. Januar, die Arbeit niederzulegen 56 . Verglichen mit den Kruppwerken herrschte in den übrigen Rüstungskonzernen im Münchner Norden eine uneinheitliche Stimmung. Dies zeigte sich am 30. Januar auf der Betriebsversammlung der Bayerischen Motorenwerke, zu der Kurt Eisner ebenfalls eingeladen worden war und die er wie folgt schilderte: „Auch hier ergab sich sofort, daß die weitaus überwiegende Zahl der Anwesenden den Streik wollte. Aber sie hatten den Arbeiterausschuß gegen sich, dessen führende Männer zugleich Vertrauensposten der Mehrheitspartei einnahmen." 5 7 Die Motorenwerke bestanden zu diesem Zeitpunkt aus einer alten u n d einer neuen Fabrik. Und " SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 4.2.1918. i6 Zum Ablauf der Versammlung siehe Süddeutsche Monatshefte, 21. Jg., Heft 7, April 1924, 29; SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 4.2.1918; BayHStA, MInn 66285, Zeitungsausschnitt aus dem Bayerischen Kurier Nr. 29, 29.1.1918; F. FECHENBACH, Der Revolutionär Kurt Eisner, Berlin 1929, 23. " SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 4.2.1918; vgl. Süddeutsche Monatshefte, 21.Jg., Heft 7, April 1924, 30f.

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allem Anschein nach war es bereits im Vorfeld des Streiks zwischen den Arbeitern des neuen Werkes und dem sich im wesentlichen aus Arbeitern des alten Werkes zusammensetzenden Arbeiterausschuß zu Spannungen gekommen. Wortführer der Streikanhänger war, übereinstimmenden Berichten zufolge, der im neuen Werksteil beschäftigte Mechaniker Lorenz Winkler. Er hatte ursprünglich bei Krupp gearbeitet und gehörte zu jenen Arbeitern, die vom Stammhaus in Essen nach München geschickt worden waren. Nach wenigen Monaten hatte er die Geschützwerke verlassen und bei den Motorenwerken Anstellung gefunden. Nach Darstellung der Unternehmensführung hatte er sich von Anfang an agitatorisch betätigt und nach und nach einen Kreis von 15 Personen um sich geschart, „mit deren Hilfe er die Belegschaft des alten und neuen Werkes in aller Heimlichkeit zu bearbeiten verstand." So erkläre sich auch die „für den sonstigen Geist unserer Belegschaft einigermaßen überraschende Mitbeteiligung an der Ausstandsbewegung" 58 . Die Betriebsversammlung vom 30. Januar hatte er ohne Absprache mit dem Arbeiterausschuß einberufen, der deshalb den Streikbeschluß nicht anerkannte. So folgte zunächst nur die Belegschaft im neuen Werk dem Aufruf. Erst am Folgetag entschied man sich, mit Billigung der Werksleitung, auch im alten Betrieb für eine gemeinsame Kundgebung 5 9 . Wie bei den Motorenwerken war auch bei den Bayerischen Flugzeugwerken der Arbeiterausschuß fest in der Hand von Gewerkschaften und Mehrheitspartei und damit gegen die Arbeitsniederlegung. Eisner hatte in deren Versammlung zunächst nicht das Wort ergriffen, da sie vom Vorsitzenden zur geschlossenen Betriebsversammlung erklärt worden war. Selbst als Erhard Auer das Wort erteilt wurde und Zurufe Eisner aufforderten, ebenfalls zu sprechen, griff er nicht ein. So gelang es den Mehrheitssozialdemokraten, den Beschluß durchzusetzen, die Arbeit solle erst dann niedergelegt werden, wenn die Parteileitung in Berlin gesprochen habe. Nach der Beendigung der Veranstaltung war es Felix Fechenbach, der, noch ehe der Saal geräumt werden konnte, eine neue Volksversammlung ankündigte und Kurt Eisner das Wort erteilte. Dessen Rede brachte die Wende. Die jetzt noch anwesenden Arbeiter der Flugzeugwerke stimmten nunmehr für den Streik 60 . Einen interessanten Sonderfall unter den bestreikten Unternehmen bil-

S!

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BA/Dahlwitz, O R A / R G , C 24/18, Bd. 11, Bl. 219f. Schreiben der Bayerischen Motorenwerke an die Polizeidirektion München, München, 16.3.1918. Zu den Vorgängen bei den Bayerischen Motorenwerken siehe auch: StA München, St Anw München I, 2242/11, Anklageschrift des Oberreichsanwalts in Leipzig vom 7.10.1918, 26 ff; Münchner Neueste Nachrichten Nr. 57, 1.2.1918, 2. BayHStA, MInn 66285, Zeitungsausschnitt aus der Münchener Zeitung Nr. 31, 1.2.1918; SAPM/Berlin, NL 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefängnistagebuch, Eintragung vom 6. u. 8 . 2 . 1 9 1 8 ; FECHENBACH ( A n m . 56), 26.

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deten zweifellos die Präzisionswerke Friedrich Deckel 61 . Sie gehörten, wie erwähnt, nicht zu dem im Münchner Norden neu entstandenen Industriekonglomerat, stellten schon vor dem Ersten Weltkrieg ein großes Unternehmen dar und beschäftigten eine vergleichsweise große Zahl von Frauen. Internen Darstellungen zufolge hielt sich die Streikbereitschaft bei Deckel denn auch spürbar in Grenzen. Daß sich die Betriebsangehörigen überhaupt am Ausstand beteiligten, war in erster Linie dem persönlichen Einsatz des Eisendrehers Franz Xaver Müller zu verdanken. Bereits am 31. Januar hatte er sich, wenn auch vergeblich, auf einer Vertrauensmännerversammlung für den Streik stark gemacht. Am Vormittag des 1. Februar inszenierte Müller dann einen Demonstrationszug von einigen hundert Streikenden vor das Betriebsgelände, der vor allem unter den Arbeiterinnen große Unruhe auslöste. 80-100 Beschäftigte legten daraufhin sofort ihre Arbeit nieder. Ein formaler Streikbeschluß fiel freilich erst in der abendlichen Betriebsversammlung. Allerdings wurde nur ein eintägiger „Sympathiestreik" gutgeheißen und darüber hinaus der Mehrheitspartei ausdrücklich die Gefolgschaft versichert 62 . Wie die Anklageschrift des Oberreichsanwaltes betont, sei „die Beschränkung des Streiks auf einen Tag nur dem besonnenen Eingreifen des Abgeordneten Auer zu danken" gewesen 63 . Zumindest bei Deckel war es der MSP damit gelungen, ihren Einfluß auf die Arbeiterschaft zu bewahren. Gänzlich daneben ging der Versuch, auch die Buchdrucker zum Streik zu bewegen und so die Zeitungsbetriebe lahmzulegen. Als „Streikführer" profilierte sich in dieser Branche der in der „Süddeutschen Verlags-Drukkerei" beschäftigte Schriftsetzer Theobald Michler, der am 30. Januar aus eigener Initiative eine Versammlung der Buchdrucker einberufen hatte, damit diese zum Streik Stellung nehme. Eisner, den er zu dieser Kundgebung eingeladen hatte, wurde freilich schon bei seinem Eintreffen mitgeteilt, „ d a ß keine gute Stimmung herrsche", was ihn nach eigenen Angaben nicht überrascht habe, da die reichsdeutschen Buchdrucker seit jeher „politisch indifferent" gewesen seien 64 . Die Versammlung war ebensowenig vom Erfolg gekrönt wie die Entsendung von Streikdeputationen in die dezentral gelegenen Druckereien. Dies zeigte nicht zuletzt eine weitere Buchdruckerversammlung am 1. Februar, zu der nur mehr 20 Teilnehmer erschienen 65 . " Zu den Vorgängen bei Deckel siehe B A / D a h l w i t z , O R A / R G , C 2 4 / 1 8 , Bd. 5, insbesondere Bl. 17-20, V o r f ü h r u n g s n o t e des Metallarbeiters Karl Mettler, Polizeidirektion M ü n c h e n , 15.3.1918; Bl. 21-24, V o r f ü h r u n g s n o t e d e r Fabrikarbeiterin A n n a N i e d e r m e i e r , Polizeidirektion M ü n c h e n , 16.3.1918; Bl. 69, Z e u g e n v e r n e h m u n g der Rundschleiferin M a r i e Heilmayer, M ü n c h e n , 4.4.1918. 62 M ü n c h n e r Neueste N a c h r i c h t e n N r . 60, 2.2.1918. 63 StA M ü n c h e n , StAnw M ü n c h e n I, 2242/11, Anklageschrift des Oberreichsanwalts in Leipzig vom 7.10.1918, 35f. 64 S A P M / B e r l i n , N L 6 0 / 2 3 , Bd. 1, Kurt Eisner, G e f ä n g n i s t a g e b u c h , E i n t r a g u n g vom 4.2.1918. " Zu den beiden V e r s a m m l u n g e n siehe StA M ü n c h e n , StAnw M ü n c h e n I, 2242/11, Anklage-

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Die Beteiligung der einzelnen Betriebe und Branchen hing mithin von mehreren Faktoren ab. Vor allem kam es darauf an, welchen Einfluß MSP und Gewerkschaften vermittels der Arbeiterausschüsse auf die Werksangehörigen auszuüben vermochten. In den neuerrichteten Fabrikkomplexen mit zumindest teilweise von auswärts stammender Belegschaft waren die Loyalitäten zu den alteingesessenen Arbeiterführern offensichtlich deutlich geringer ausgeprägt als in den traditionsreichen Münchner Unternehmen. Insbesondere bei Krupp und im neuen Werk der Bayerischen Motorenwerke scheint es Gewerkschaften und MSP nicht gelungen zu sein, die Arbeiterschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Versuche, auch zu den Kruppwerken engere Kontakte herzustellen, kamen zu spät. Die von MSP und Gewerkschaften für den 28. Januar einberufene Betriebsversammlung fiel ausgerechnet in die entscheidende Phase vor Ausbruch des Streiks. Wie Kurt Eisner sicher nicht ganz zu Unrecht vermutete, sollte die Versammlung ursprünglich dazu dienen, „für die politische und gewerkschaftliche Organisation Mitglieder zu fangen" 6 6 . Stattdessen brachte sie den entscheidenden Durchbruch für die Streikpläne der Unabhängigen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte daneben das individuelle Moment. Da den Unabhängigen Kontakte zu den Betrieben ganz offensichtlich fehlten, waren sie in jedem Einzelfall auf die Unterstützung von Werksangehörigen angewiesen, die im Betrieb für den Streik Stimmung machten, Betriebsversammlungen anberaumten und so die notwendigen Verbindungen herstellten. Auch Kurt Eisner, bis dahin öffentlich wenig in Erscheinung getreten, spielte bis zu seiner Verhaftung eine für den Streik ausschlaggebende Rolle. Nur seinem Auftreten, seiner Überzeugungskraft und rednerischen Brillanz war es zu verdanken, wenn bei dem direkten Aufeinandertreffen mit den Vertretern von MSP und Gewerkschaften in den Betriebsversammlungen die Stimmung wiederholt zugunsten des Streiks gekippt werden konnte. Dazu kam die dichtgedrängte Lage der Rüstungsbetriebe im Münchner Norden, die ebenfalls als Grundvoraussetzung angesprochen werden kann. Sie erleichterte die Kommunikation der Streikenden erheblich. Es ist kaum anzunehmen, daß der letztendlich ausschlaggebende Demonstrationszug der Krupparbeiter vom 31. Januar bei ungünstigerer Lage der Betriebe eine ähnliche Resonanz gefunden hätte. Die unmittelbare Konfrontation mit den Ausständlern dürfte maßgeblich dafür verantwortlich gewesen sein, daß sich auch Betriebe dem Streik anschlossen, in denen die Voraussetzungen für eine Beteiligung alles andere als günstig waren.

Forlsetzung

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Fußnote von Seite 293

schrift des Oberreichsanwaltes in Leipzig vom 7.10.1918, 2 7 f ; Münchner Neueste Nachrichten Nr. 57, 1.2.1918, 2. S A P M / B e r l i n , N L 60/23, Bd. 1, Kurt Eisner, Gefángnistagebuch, Eintragung vom 4.2.1918.

Der Januarstreik 1918 in München

IV. Die Beendigung

des

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Streiks

Die in der Nacht vom 31. Januar auf 1. Februar einsetzenden Verhaftungen läuteten die zweite Phase des Januarstreiks ein. Sie war zum einen davon gekennzeichnet, daß die MSP langsam etwas mehr Einfluß auf das Geschehen gewann, zum anderen dadurch, daß bislang im Hintergrund agierende Unabhängige, Männer wie Friedrich Schröder, Ernst Toller und Richard Kämpfer versuchten, in Kooperation mit den Obleuten der Kruppwerke den Streik weiterzutreiben. Dabei änderte sich insofern die Zielsetzung, als nun die Befreiung der Inhaftierten einen die übrigen Motive in den Hintergrund drängenden Stellenwert erhielt 67 . Anders als oft behauptet, war die Bewegung damit nicht führer- und konzeptionslos geworden, und obwohl schwer zu sagen ist, wie sich das Geschehen ohne die Verhaftungen entwickelt hätte, drängt sich doch der Eindruck auf, als hätte das Einschreiten der Behörden den Aktionen sogar neue Impulse vermittelt. Friedrich Schröder scheint in der Folgezeit eine zentrale Rolle zugefallen zu sein68. Zusammen mit dem Obmann der Kruppwerke Johann Reck trat er am 1. Februar für eine Fortsetzung der Aktionen und die Befreiung der Gefangenen ein. Als die Streikenden daraufhin zur Polizeidirektion zogen, gehörte Schröder zur Deputation, die mit den Verantwortlichen verhandelte. Als am selben Tag ein Aktionsausschuß ins Leben gerufen wurde, waren er und Toller für die USP daran beteiligt. Die weitere Zusammensetzung ist nicht ganz klar zu eruieren. Doch dürfte sich der Kreis auf Unabhängige und Angehörige der bestreikten Betriebe beschränkt haben. Vertreter der MSP, die nach wie vor für eine schnelle Beendigung der Aktionen eintraten, wurden, den Aussagen Friedrich Schröders zufolge, erst bei den Sitzungen am 2. Februar zugezogen. Der Ausschuß war laut gemeinsamem Beschluß fortan das oberste Leitungsgremium, ein Teil seiner Mitglieder sollte ständig in der Schwabinger Brauerei anwesend sein. Am 2. Februar fand eine neuerliche Vorsprache in der Polizeidirektion statt, ehe in den Abendstunden in Absprache mit der Mehrheitspartei der Entschluß gefaßt wurde, die Aktionen fürs erste abzubrechen und am darauffolgenden Montag die Arbeit wieder aufzunehmen. Friedrich Schröder und Richard Kämpfer, die ihre Aufgabe als erfüllt ansahen, verließen daraufhin die Stadt, um der drohenden Verhaftung zu entgehen 69 . 67

StA München, StAnw München I, 2242/11, Anklageschrift des Oberreichsanwalts in Leipzig vom 7.10.1918, lOf. " Schröder selbst sagte aus, er habe nach der Verhaftung Eisners „die hauptsächlichste Leitung dieser politischen Bewegung in die Hand" genommen. BA/Dahlwitz, O R A / R G , C 24/18, Bd. 1, Bl. 4-6, Vernehmung des Beschuldigten Friedrich Schröder, Düsseldorf, 16.4.1918. " Zum Streikverlauf in den ersten Februartagen u.a.: BA/Dahlwitz, O R A / R G , C 24/18, Bd. 1, Bl. 46-56, Vernehmung des Angeschuldigten Friedrich Schröder, München/Neudeck, 22.5.1918 sowie Bd. 2, Bl. 18-26, Stv. Generalkommando I. bayer. AK, Niederschrift über die Vernehmung des Unteroffiziers Ernst Toller, München 4.2.1918.

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Mit ihrer Verweigerungshaltung hatte sich die Mehrheitssozialdemokratie um jeglichen Einfluß auf das Geschehen gebracht. Zugleich scheint sie damit aber auch ein weiteres Um-Sich-Greifen der Aktionen verhindert zu haben. In aller Deutlichkeit zeigte sich dies am Vormittag des 1. Februar, des zweiten Streiktages. Selbst in den wenigen Betrieben, die sich schon tags zuvor dem Ausstand angeschlossen hatten, gab es keine einheitliche Streikfront. Nicht gearbeitet wurde bei den Ottowerken und im Neubau der Bayerischen Motorenwerke. Im alten Werksteil nahm dagegen die Mehrzahl der Beschäftigten die Arbeit wieder auf. Bei Krupp fehlten zwei Drittel der Belegschaft, während 500 Mann zur Arbeit erschienen waren. In den Bayerischen Flugzeugwerken verhielt es sich ähnlich wie bei den Motorenwerken. Auch hier hatte die Betriebsleitung tags zuvor die Beteiligung an den Kundgebungen gestattet. Am darauffolgenden Tag war die Arbeiterschaft dagegen vollzählig anwesend, offensichtlich wegen des Zahltags, wie die Münchener Zeitung erläuternd anmerkte. Insgesamt befanden sich nur etwa 4000 Arbeiter im Ausstand 70 . Vergleicht man damit die 42000 Arbeiter, die am 29. Januar in Nürnberg auf die Straße gegangen waren 71 , zeigt sich, daß der Erfolg der Münchner Ausstandsbewegung nur ein relativer war. Erst mit Ende des Streiks gewann die MSP die Oberhand zurück. In der folgenden Woche gelang es ihr sogar, die zurückliegende Aktion mit ihren für die Mehrheitsführer im Grunde recht bitteren Erfahrungen noch in einen Sieg zu verwandeln und sich zur Sprecherin der Streikenden aufzuwerfen. Der nach dem Verlust ihrer Anführer desolate Zustand der USPMünchen kam ihr dabei zu Hilfe. Den deutlichsten Beleg für die Trendwende bot dabei eine Versammlung von 36 Arbeiterausschüssen der Münchner Rüstungsfirmen, die am 8. Februar im Mathäser zusammentrat. Die Beteiligung auch jener Firmen, die nicht vom Streik erfaßt worden waren, garantierte der MSP dabei in jedem Fall ein Übergewicht. So konnte sie es durchsetzen, daß an der Kommission, die mit Vertretern der Regierung Kontakt aufnehmen sollte, um die Forderungen der Streikenden zu erläutern, zwei Mehrheitssozialdemokraten beteiligt wurden, während elf Vertreter aus den Reihen der Versammelten zu wählen waren. Die Kommission sollte der Regierung eine Resolution zur Kenntnis bringen, die gleichfalls von den Versammlungsteilnehmern verabschiedet wurde 72 . Von Anfeindungen gegen MSP-Führer, wie es sie in fast allen Streikversammlungen gegeben hatte, war auf dieser Veranstaltung nichts mehr zu spüren. Glaubt man dem Bericht der Münchener Post, so hatten die Mehrheitssozialdemokraten die Arbeiterausschüsse und damit die gesamte Veranstaltung fest im Griff. Nichts kennzeichnet dies besser als der nach Dar-

70

BayHStA, M I n n 66285, Zeitungsausschnitt aus der M ü n c h e n e r Z e i t u n g Nr. 31, 1.2.1918.

"

SCHWARZ ( A n m . 4 6 ) , 2 5 0 .

72

M ü n c h e n e r Post N r . 34, 9.2.1918; vgl. Fränkische Tagespost N r . 35, 11.2.1918, Beilage.

D e r Januarstreik 1918 in München

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Stellung des Blattes einstimmig angenommene Antrag. Darin billigten die Versammlungsteilnehmer Haltung und Auftreten der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, dankten dem Abgeordneten Auer für sein entschlossenes Eingreifen beim Streik und verpflichteten sich, für den Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu wirken und jedem Versuch, die Arbeiterorganisationen zu zersplittern, entgegenzutreten: „Die Arbeiterausschüsse haben mit dem Vorstand des Sozialdemokratischen Vereins in Fühlung zu bleiben und alle Vorkommnisse dort zu melden. Parolen oder Forderungen von anderer Seite müssen unbeachtet bleiben; d a f ü r zu wirken ist Ehrenpflicht jedes Arbeiters." 7 3 So ging das Kalkül der Mehrheitspartei letztlich doch noch auf. Gestützt auf die Arbeiterausschüsse der Betriebe wurde sie zum eigentlichen Nutznießer der Januarstreikbewegung. Die USP, ihrer führenden K ö p f e beraubt und von der Obrigkeit schärfer überwacht denn je, verschwand dagegen wieder in der Bedeutungslosigkeit. Nennenswerte Aktionen gingen in der Folgezeit nicht mehr von ihr aus, die Diskussionsabende hörten ganz auf, und die Mitgliederzahl sank um ein Drittel auf ca. 400. Der Kontakt zu den Betrieben ging ebenfalls wieder verloren. Mitte Oktober 1918, bei der Entlassung Kurt Eisners aus der Untersuchungshaft, stand die Partei schlechter da als zu Beginn des Jahres.

Fazit Versucht man ein Resümee zu ziehen, so ist nochmals daraufhinzuweisen, d a ß die Vorgänge in München weitgehend ähnlichen Strukturen folgten wie die Aktionen in den übrigen Streikzentren. Wie dort beteiligten sich in erster Linie die Arbeiter aus den Rüstungsbetrieben, also fast durchwegs Metallarbeiter. Auch die Tatsache, daß der Streik bevorzugt diejenigen Betriebe erfaßte, die in den zurückliegenden Jahren eine besonders starke Z u n a h m e ihrer Belegschaft zu verzeichnen hatten, in hohem M a ß e auf Facharbeitskräfte angewiesen waren und einen großen Anteil auswärtiger Arbeitnehmer beschäftigten, scheint keineswegs eine Münchner Besonderheit gewesen zu sein 74 . Folge dieser innerbetrieblichen Umschichtungen war wie auch an anderer Stelle ein Rückgang des gewerkschaftlichen Einflusses auf die Arbeiterschaft. Davon profitierte die USPD, die beinahe überall eine tragende Rolle spielte u n d die Stoßrichtung der Aktionen bestimmte. M S P D und Gewerkschaften standen dem Streik hingegen distanziert gegenüber, versuchten ihn einzudämmen, wenn möglich gar zu einem schnellen Ende zu bringen. In München traten sie der Ausstandsbewegung freilich mit besonderer Vehemenz entgegen, und es spricht vieles " Münchener Post Nr. 34, 9.2.1918. 74 Folgt man der Darstellung von ULLRICH (Anm. 8), 46 ff, so galten für die Hafenstädte Hamburg, Kiel und Bremen ganz ähnliche Voraussetzungen.

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dafür, daß dadurch ein noch weiteres Um-Sich-Greifen der Bewegung verhindert wurde. Freilich waren auch die allgemeinen Rahmenbedingungen in München besonders ungünstig. Die Beteiligung am Streik erfolgte trotz einer vergleichsweise schwach ausgeprägten Rüstungsindustrie, trotz des Mangels an radikalen Traditionen in der örtlichen Arbeiterbewegung und einer auffallend geringen Etablierung der örtlichen USP. Auch stellte sich die Versorgungslage nicht so kraß dar wie in manchem der großen Industriezentren. An der besonders schwierigen Ausgangsposition lag es vor allem, wenn der Streik erst drei Tage nach dem Beginn der Berliner Aktionen einsetzte, obwohl die Unabhängigen in München über die Planungen bestens instruiert waren. Aus Münchner Sicht ist daher Volker Ullrich entschieden zu widersprechen, wenn er unter Berufung auf den lokal recht unterschiedlichen Streikbeginn eine zentrale Koordination des Geschehens bestreitet 7S . Daß der Ausstand trotz ungünstiger Voraussetzungen auch in München Resonanz fand, lag vor allem daran, daß die USP über Führer verfügte, die wie Kurt Eisner alles auf eine Karte setzten und sich von dem schleppenden Auftakt nicht verunsichern ließen; sie hatten Erfolg, weil die Zusammenballung der wenigen großen Industriebetriebe im Münchner Norden günstige Kommunikationsbedingungen geschaffen hatte, und weil die Arbeiterschaft bei Krupp sich kompromißlos auf die Seite der Unabhängigen stellte und so dem Geschehen eine nach Lage der Dinge nicht zu erwartende Wendung gab 76 . Überhaupt fiel den Vorgängen auf Betriebsebene und hier vor allem den zahlreichen Betriebsversammlungen eine Schlüsselrolle zu. Gingen bei Krupp die Aktionen vom Arbeiterausschuß selber aus, so standen in nahezu allen übrigen Betrieben die Ausschüsse unter der Kontrolle von Gewerkschaften und MSP. Erst auf den Werksversammlungen, in der direkten Konfrontation zwischen Streikbefürwortern und deren Widersachern, wurde das Geschehen zugunsten einer Streikbeteiligung gekippt. Wie die Vorgänge bei Deckel und den Buchdruckern zeigten, stieß der Ausstand allerdings schnell an seine Grenzen. Abgesehen davon, daß sich der Streik im ganzen Reich längst seinem Ende entgegenneigte oder be" ULLRICH (Anm. 8), 67. Selbst das bayerische Kriegsministerium wußte frühzeitig von den bevorstehenden Aktionen. Siehe bei W. DEIST (Bearb.), Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, Bd. 2 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 2. Reihe, Bd. l/II), Düsseldorf 1970, 426f. 76 Wie sehr MSP und Gewerkschaften von der Zuverlässigkeit und Disziplin der Münchner Arbeiterschaft überzeugt waren, zeigt eine Unterredung Erhard Auers mit dem Polizeipräsidenten Rudolf von Beckh am 24. Januar 1918. Darin äußerte er die Überzeugung, „daß die Unabhängigen in Bayern, besonders in München, nicht viel Boden hätten und daß augenblicklich keine Gefahr bei der organisierten Arbeiterschaft bestehe. Schwieriger sei schon die Sache bei den vielfach noch nicht organisierten weiblichen Arbeiterinnen." BayHStA, MInn 66283, Bericht des Polizeipräsidenten Beckh an das Innenministerium, München, 24.1.1918.

Der Januarstreik 1918 in München

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reits abgebrochen war, dürfen die persönlichen Erfolge Kurt Eisners und seiner Mitstreiter und ihre euphorische Erwartungshaltung nicht darüber hinwegtäuschen, daß zumindest in München die Mehrheitspartei den größeren Rückhalt in der Arbeiterbevölkerung besaß und daß die vor dem Krieg aufgebauten Loyalitätsverhältnisse im Grunde ungebrochen waren. So blieb denn auch die Zahl der Beteiligten in München weit hinter der anderer Städte - man nehme etwa Berlin, Hamburg oder Nürnberg - zurück. Eine besondere Note erhielt der Münchner Ausstand ferner durch das, verglichen mit Preußen, recht moderate Vorgehen der staatlichen Behörden 77 . So erklärt es sich, daß gewaltsame Konfrontationen ausblieben, der Streik insgesamt einen ruhigen Verlauf nahm und die Koordination des Geschehens auch dann noch funktionierte, als Kurt Eisner und einige seiner engsten Mitstreiter verhaftet worden waren. Zu diesem Bild paßt es auch, daß im Gegensatz zu Preußen die bayerischen Behörden bereit waren, eine Deputation der Münchner Rüstungsbetriebe zu empfangen, um deren Forderungen entgegenzunehmen. Denkt man daran, daß der Januarstreik allgemein als eine besonders markante Etappe auf dem Weg zur Novemberrevolution gilt, und hält man sich den Ausspruch Eisners vor Augen, der nach dem erfolgreichen Umsturz rückblickend geäußert hatte: „Aber, Parteigenossen, die revolutionärste Revolution, das war doch die vom 31. Januar" 7 8 , so stellt sich abschließend die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Ereignisse. Vieles deutet darauf hin, daß eine direkte Verbindungslinie nicht zu ziehen ist. Nicht nur war die Ausgangsposition eine ganz andere - man denke nur an den Regierungswechsel in Berlin, das Waffenstillstandsangebot und die in Gang befindlichen Verhandlungen um eine Verfassungsänderung - , auch die Zielsetzung hatte sich geändert. War es im Januar um die Beendigung des Krieges gegangen, so stand im November der Sturz der Monarchie und die Übernahme der staatlichen Gewalt auf dem Programm. Noch wichtiger erscheint es freilich festzuhalten, daß, zumindest in München, die Trägerschichten der Novemberrevolution nicht mehr die des Januarstreiks waren. Waren damals die Arbeiter der Rüstungsbetriebe auf die Straße gegangen, so folgten im November 1918 in erster Linie die Soldaten der Münchner Garnisonen den Aufrufen der USP 79 . Sieht man davon ab, daß die Unabhängigen wiederum die Führung übernahmen, läßt sich mithin nur ein indirekter Zusammenhang konstatieren. Die Januar-Aktion war von ihren Urhebern - zu Recht oder zu Unrecht, dies mag dahingestellt bleiben - als großer Erfolg empfunden 77

Siehe dazu die vom bayerischen Kriegsministerium an die kommandierenden Generale ausgegebenen Verhaltensrichtlinien: DEIST (Anm. 75), 1137ff. " Wahlrede Eisners vom 12.12.1918, zitiert nach: T. DORST, Die Münchner Räterepublik. Zeugnisse und Kommentar, Frankfurt a. M. 1966, 23. 79 Siehe dazu GRAU (Anm. 44), 81 ff. 7

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worden, den man so nicht unbedingt erwartet hatte. Dies dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, daß Eisner und seine Anhänger die neue Gelegenheit, die sich Anfang November auftat, ohne zu zögern wahrnahmen und dabei ein Selbstbewußtsein an den Tag legten, das bei nüchterner Abwägung der eigenen Stärke kaum gerechtfertigt war.

Clemens Vollnhals „In Deutschland zu Hause" Der jüdische Beitrag zur Kultur der Weimarer Republik* I. Welche Bedeutung besaßen die Juden für das Kulturleben der Weimarer Republik? Waren sie jüdische Deutsche oder deutsche Juden? Hat es überhaupt so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben, wie dies behauptet, aber auch heftig bestritten worden ist? Betrachten wir zunächst das Zeitalter der Judenemanzipation. Am Anfang steht das Toleranzedikt Josephs II. von 1781/82 in den Habsburger Landen und das Edikt Hardenbergs von 1812 in Preußen. Dieser Prozeß, der aufs engste mit der Ausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, gipfelte 1848 in der Verkündung der Grundrechte des deutschen Volkes durch das Frankfurter Parlament. Auch nach dem Fehlschlag der Bürgerlichen Revolution garantierten die meisten Landesverfassungen gleiches Recht für alle - zumindest dem Gesetz nach. Die endgültige und im juristischen Sinne vollständige Emanzipation brachte das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869, welches nach der Reichsgründung auch in all jenen Gründerstaaten Gültigkeit erlangte, die nicht schon vorher die Juden als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt hatten. Deutschlands Juden konnten aus ihren Erfahrungen im 19. Jahrhundert eine Reihe von Schlüssen ziehen: Der erste war, daß es Parallelen zwischen gesetzlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Emanzipation gab, wenn auch keine direkte Übereinstimmung. Denn weder das Edikt von 1812 noch die Grundrechte von 1848 noch das Gesetz von 1869 garantierten ein Ende der Diskrimierung durch Einzelpersonen, private Vereinigungen oder öffentliche Institutionen. Andererseits - und dies war das Entscheidende - konnten die Juden kollektiv die bewußtseinsprägende Erfahrung machen, daß ihnen als gesellschaftliche Minderheit der wirtschaftliche Erfolg und soziale Aufstieg nicht verwehrt waren. Die zweite grundlegende Erfahrung war, daß der (ursprünglich wesentlich aus dem christlichen Antijudaismus gespeiste) Antisemitismus durch gesetzgeberi-

* Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 12. März 1992 anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Der gelbe Stern" in der Münchner St. Lukaskirche gehalten hat.

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sehe Maßnahmen zwar nicht beseitigt werden konnte - für verbohrte Antisemiten waren sie vielmehr Ansporn zur Verdoppelung ihrer Bemühungen - , daß er sich aber doch auf eine Größenordnung reduzieren ließ, mit der man leben konnte. Das Fortdauern gesellschaftlicher Diskriminierung blieb eine Tatsache: im Geschäfts- und Berufsleben, in der Armee, in Teilen der sogenannten guten Gesellschaft und nicht zuletzt in den Universitäten. In der sozial wie kulturell gespaltenen Gesellschaft des Kaiserreichs entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Antisemitismus geradezu zum Inbegriff der übergreifenden Weltanschauung einer sich neu formierenden Rechten, zum symbolischen Erkennungszeichen innerhalb der politischen Kultur. An ihm schieden sich die Geister: Wer sich nicht zum Antisemitismus bekannte, wurde mit dem Lager der Demokratisierung, mit Parlamentarismus, oft auch mit der kulturellen und wirtschaftlichen Moderne identifiziert 1 . Dennoch konnten die Juden, die etwa um 1910 im Deutschen Kaiserreich lebten, voller Optimismus auf ein erfolgreiches Jahrhundert zurückblicken. Es gab keine Ghettos mehr, die Juden waren zu Bürgern im doppelten Sinne des Wortes geworden: gleichberechtigte Staatsbürger und Teil des deutschen Bürgertums. Zählten gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund 80 Prozent der in Deutschland ansässigen Juden zu der untersten, „von der Hand in den M u n d " lebenden Schicht, so gelang ihnen innerhalb weniger Generationen ein beispielloser Aufstieg. Assimilation lautete die Parole, die den doppelten Prozeß sozialer Integration auf der einen und kultureller Anpassung auf der anderen Seite bezeichnet. Der Preis für die bürgerliche Gleichstellung, für die Eingliederung in die deutsche Nation war die weitgehende Aufgabe überlieferter Lebensformen mit Ausnahme des religiösen Bekenntnisses. Im Jahre 1910 lebten in Deutschland rund 615.000 Juden (0,95 %). Die meisten von ihnen verstanden sich nicht nur, sondern fühlten sich auch als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", wie sich die mitgliederstärkste jüdische Vereinigung - der 1893 gegründete „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" - nannte. Die „unbeirrte Pflege deutscher Gesinnung", wie es die Satzung des Centraivereins forderte, führte zur entschiedenen Ablehnung des aufkommenden Zionismus. So kann man im Protokoll der Tagung des Centraivereins vom 30. März 1913 lesen: „Auf dem Boden des deutschen Vaterlands wollen wir als Deutsche an deutscher Kultur mitarbeiten und unserer Religion und unserer geheiligten Gemeinschaft treu bleiben. Soweit der deutsche Zionist danach strebt, den entrechteten Juden des Ostens eine gesicherte Heimatstätte zu schaffen oder den Stolz des Juden auf seine Geschichte und Religion zu heben, ist er uns als Mitglied willkommen. Von dem Zionisten aber, der ein deutsches Nationalgefühl leugnet, sich als

' Vgl. S. VOLKOV, Jüdisches Leben u n d Antisemitismus im 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t , M ü n c h e n 1990, 13-36.

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Gast im fremden Wirtsvolk und national nur als Jude fühlt, von dem müssen wir uns trennen." 2 Das Bekenntnis zur deutschen Nation entsprang tiefempfundener Überzeugung. Schließlich definierten liberale wie religiös-orthodoxe Juden ihr Judentum ausschließlich als Religionsgemeinschaft; in diesem Sinne verstanden sie sich als Deutsche jüdischen Glaubens, nicht aber als Angehörige eines durch gemeinsame Abstammung, Geschichte und Sprache verbundenen jüdischen Volkes. Dem von den Zionisten propagierten nationaljüdischen Selbstverständnis setzten deshalb Rabbiner wie Gemeindevorstände erbitterten Widerstand entgegen. Aber auch die Zionisten wollten sich, als es 1914 zum Schwur kam, in ihrem Patriotismus von niemandem übertreffen lassen. Am 7. August 1914 erschien in ihrem Zentralorgan, der „Jüdischen Rundschau", der Aufruf: „Deutsche Juden! In dieser Stunde gilt es für uns aufs neue zu zeigen, daß wir stammesstolze Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören. Der Adel unserer viertausendjährigen Geschichte verpflichtet. Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt. Deutsche Juden! Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen Euch dem Dienste des Vaterlandes hinzugeben." Im Ersten Weltkrieg kämpften über 100.000 Juden, davon 10.000 Freiwillige3. Jüdische Persönlichkeiten wie der Chemiker und spätere (1919) Nobelpreisträger Fritz Haber, der Staatsrechtler Paul Laband und der Maler Max Liebermann unterzeichneten 1914 das nationalistische Manifest der 93 Vertreter der Intelligenz. Ernst Lissauer schrieb das beliebte „Haßlied gegen England", während Walther Rathenau die deutsche Kriegswirtschaft organisierte und Haber das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie bedenkenlos in den Dienst der chemischen Kriegsführung stellte. Zu nennen wären weiterhin der Nationalökonom Franz Oppenheimer, der ein Komitee zur Befreiung des Ostens ins Leben rief, und Paul Nikolaus Cossmann, dessen „Süddeutsche Monatshefte" unermüdlich alldeutsche Kriegsziele propagierten. Die Mehrheit des deutschen Judentums neigte aber wohl eher Theodor Wolffs Plädoyer für einen Kompromißfrieden zu. Radikale Pazifisten wie Albert Einstein oder sozialistische Revolutionäre wie Rosa Luxemburg waren und blieben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Außenseiter, die nur für ganz kleine Gruppen sprechen konnten. Als jedoch die Monarchie in der Revolution von 1918/19 untergegangen war, trauerte man ihr im jüdischen Bürgertum kaum nach. Erschien doch der liberale Gleichheitsanspruch der Weimarer Republik mit ihrer 2

3

Zit. n a c h Y. ELONI, Z i o n i s m u s in D e u t s c h l a n d von den A n f ä n g e n bis 1914, Gerlingen 1987, 287. Vgl. J. SEGALL, Die deutschen J u d e n als Soldaten im Kriege 1914-18. Eine statistische Studie, Berlin 1922.

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von Hugo Preuß, einem Juden, entworfenen Verfassung als die Verwirklichung eines langgehegten politischen Traums. Erstmals konnten Juden in größerem Umfang als Minister, Bürgermeister und Beamte in gehobenen Positionen am öffentlichen Leben teilhaben. Dies trug der Weimarer Republik sofort den von den nationalen Rechtsparteien heftig erhobenen Vorwurf ein, eine „Judenrepublik", eine „Judenkultur" zu sein. Diese Anschuldigungen stellten im Grunde eine Verlängerung der sog. „Ideen von 1914" dar. Sie verurteilten die Demokratie als eine mit den deutschen Traditionen unvereinbare (Fehl-) Entwicklung, als Ausgeburt eines fremden Volkstums, das zudem auch noch für die unverstandene Kriegsniederlage verantwortlich gemacht wurde. Will man den perhorresziert wahrgenommenen jüdischen Einfluß nüchtern bilanzieren, so bedarf es zunächst der Klärung, welcher Judenbegriff den weiteren Ausführungen zugrundeliegt: Nach dem traditionellen jüdischen Selbstverständnis ist nur derjenige Jude, der sich zur jüdischen Glaubensgemeinschaft bekennt. Gerade unter den im öffentlichen Leben tätigen Personen befanden sich jedoch verhältnismäßig viele, die sich nicht mehr zur jüdischen Glaubensgemeinschaft bekannten oder die nur teilweise jüdischer Abstammung waren. Wenn sie dennoch im folgenden mitberücksichtigt sind, so deshalb, weil sie später alle - ausnahms- und schonungslos - Objekt und Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung werden sollten. Bereits gegen Ende der Weimarer Republik gab es im Reich und in Preußen keinen einzigen jüdischen Minister mehr. Im Dezember 1929 war mit dem Finanzminister und sozialdemokratischen Theoretiker Rudolf Hilferding der letzte einer Reichsregierung der Weimarer Zeit angehörende Minister jüdischer Herkunft nach anderthalbjähriger Amtszeit ausgeschieden. Während der insgesamt 14 Jahre der Republik hatte es unter mehr als 200 Reichsministern nur fünf jüdischer Herkunft gegeben. Außer Hilferding amtierten: Hugo Preuß (DDP) als Innenminister 1919, Otto Landsberg (SPD) als Justizminister 1919, Georg Gradnauer (SPD) als Innenminister 1921 sowie Walther Rathenau (DDP), zuerst als Wiederaufbauminister im 1. Kabinett Wirth 1921, dann als Außenminister im 2. Kabinett Wirth bis zu seiner Ermordung im Juni 1922. Auch in den Parlamenten kann von einem dominierenden jüdischen Einfluß keine Rede sein. Dem im September 1930 neu gewählten Reichstag gehörten 577 Abgeordnete an, unter denen sich nur zwei Glaubensjuden befanden, die Sozialdemokraten Hugo Heimann und Julius Moses. Weitere 15 waren jüdischer Herkunft, bezeichneten sich aber als religionslos, „dissidentisch", in einem Fall auch als „frei-religiös". Alle 17 jüdischen Abgeordneten gehörten - mit einer Ausnahme (Gustav Stolper, Deutsche Staatspartei) - den Linksparteien SPD, K P D und der Sozialistischen Arbeiterpartei an. In dem im Juli 1932 gewählten, jedoch im September wieder aufgelösten Reichstag befand sich nur mehr ein Abgeord-

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neter (Heimann), der sich vorbehaltslos zum Judentum bekannte. Von allen 608 Reichstagsmitgliedern waren insgesamt nur mehr 14 jüdischer Herkunft (2,3 %). Für die Weimarer Nationalversammlung betrug der prozentuale Anteil Abgeordneter jüdischer Herkunft nach Angaben des Centraivereins 2,8 Prozent 4 . Bei Berücksichtigung all derjenigen, die als „Judenstämmlinge" bezeichnet werden konnten, war die jüdische Beteiligung am parlamentarischen Leben der Weimarer Republik - vor allem in der SPD-Fraktion - gewiß nicht unbeachtlich; die permanente Diffamierung des Parlaments als „Judenbude" seitens der Rechtsparteien und der Rechtspresse speiste sich jedoch aus anderen Motiven. Ähnliches gilt für die Verwaltung. Die Zahl der Juden in hohen, politisch einflußreichen Stellungen in Reich, Ländern und Kommunen blieb stets verhältnismäßig klein. So befanden sich unter den Oberpräsidenten der 12 preußischen Provinzen, den Regierungspräsidenten der 35 preußischen Regierungsbezirke und den Landräten der über 400 preußischen Kreise ebensowenig Juden wie in den entsprechenden Positionen und Bereichen anderer deutscher Länder. Nach der Volks- und Berufszählung von 1925 waren von insgesamt 1,67 Millionen preußischen Beamten gerade 5446 (0,3 %) Juden. Im höheren Dienst lag der Anteil mit 1,3 Prozent merklich höher, was im wesentlichen auf leitende Stellungen in Krankenhäusern, im Bildungs- und Erziehungsbereich sowie in der Justiz zurückzuführen ist5. Selbst auf dem Felde der Kultur sah es nicht wesentlich anders aus. Hier stellten die Juden, wie die Berufszählung von 1933 ausweist, 2,5 Prozent aller künstlerischen und kulturellen Berufe. In der Berufssparte der Redakteure und Schriftsteller betrug ihr Anteil allerdings 5,1 Prozent, ebenso waren 5,6 Prozent aller Regisseure und Spielleiter Juden 6 . Die harten Fakten der Statistik sprechen also eine andere Sprache. Was nationalistische und völkische Kreise besonders erregte, war allerdings die unbestreitbare Tatsache, daß die republikanische Staatsform eine weitere gesellschaftliche und kulturelle Öffnung bewirkte, daß der liberale und demokratische Geist der Weimarer Republik der gesetzlich verbürgten Gleichberechtigung tatsächlich ein soziales Fundament zu schaffen schien.

II. Das Sozialprofil der deutschen Juden weist verschiedene Besonderheiten auf. Betrug der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung um 1820 noch 1,9 Prozent (270.000), so sank er bis 1933 auf nur mehr 0,76 Prozent 4

E. G. LOWENTHAL, Die J u d e n im öffentlichen Leben, in: Entscheidungsjahr 1932. Z u r Jud e n f r a g e in der E n d p h a s e d e r Weimarer Republik, hg. von W. E. MOSSE, T ü b i n g e n 1965, 58.

5 6

Ebd., 56 f. E. BENNATHAN, Die d e m o g r a p h i s c h e u n d wirtschaftliche Struktur der J u d e n , ebd., 112.

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(500.000). Die Ursachen sind in der erheblich stärkeren Angleichung an bürgerliche Lebensweisen zu sehen: höheres Heiratsalter und Einschränkung der Kinderzahl. Hinzu kommt im Zuge der Assimilation und Integration der Anstieg der Mischehen von 8 Prozent um die Jahrhundertwende auf etwa 20 Prozent im Jahre 19307, da die Kinder aus diesen Ehen zumeist nicht mehr der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten. Bereits 1911 prognostizierte daher Felix Theilhaber aus demographischen Gründen den „Untergang der deutschen Juden" 8 , so der Titel seiner damals aufsehenerregenden Schrift. Es läßt sich daher fragen, warum bei einem so niedrigen Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung das „Judenproblem" überhaupt eine solche Virulenz entfalten konnte. Die Gründe dürften - die jahrhundertelange Tradition des christlichen Antijudaismus einmal außer acht gelassen - wohl in der einzigartigen Sozial- und Berufsstruktur zu sehen sein. 1925 lebten 82,8 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Städten über 10.000 Einwohner, dagegen nur 46,1 Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung des Reiches. Insbesondere machte sich der Zuzug in die Großstädte geltend. In Berlin, Frankfurt a. M., Breslau, Hamburg, Köln, Leipzig und München lebten mehr als die Hälfte aller Juden. Allein in der Reichshauptstadt siedelte ein Drittel aller Juden (4,3 % aller Berliner), darunter etwa die Hälfte aller Ostjuden. Über 60 Prozent der jüdischen Erwerbstätigen waren in Handel und Verkehr tätig. Der Anteil der Selbständigen lag mit 46 Prozent ebenfalls deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung (16 %). Die Konzentration der Juden auf bestimmte Branchen, da ihnen Karrieren in Verwaltung und Justiz, in Armee und Schule bis 1918 weitgehend versperrt geblieben waren, beflügelte seit jeher die antisemitische Propaganda, da sie die kleine jüdische Bevölkerungsgruppe als übermächtig erscheinen ließ. So stellten die Juden rund 11 Prozent aller praktizierenden Ärzte und 16 Prozent aller selbständigen Rechtsanwälte. Eine Domaine jüdischer Geschäftsleute waren vor allem der Viehhandel, einzelne Zweige des Metallhandels, die umsatzstarken Warenhauskonzerne und die Bekleidungsbranche, in der etwa 60 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes in jüdischen Geschäften getätigt wurde 9 . Neben einer kleinen sehr vermögenden Oberschicht gab es einen breiten wohlverdienenden Mittelstand. Lediglich ein Viertel der deutschen Juden gehörte als Dienstboten oder Fabrikarbeiter der sozialen Unterschicht an. Das Streben nach beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung schlug sich nicht zuletzt in einem hohen Bildungsgrad nieder. Assimilation durch Bildung war kein leeres Schlagwort, sondern prägte als Leitmotiv des sozialen Aufstiegs die Lebensweise des jüdischen Mittelstandes. Das klassische Bildungsideal - „Goethezitate gab es beim tägli7

Statistik des D e u t s c h e n Reiches, Bd. 451, H e f t 5, Berlin 1936, 8. Berlin 1911. ' Alle A n g a b e n nach BENNATHAN (Anm. 6), 87-131. 8

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chen Mittagessen" 10 - beförderte zugleich eine Identitätsfindung jenseits von Religion und Nationalismus. Um 1900 lag der Anteil jüdischer Schüler an den preußischen Oberschulen bei fast 10 Prozent, und auf Bevölkerungsanteile gerechnet, studierten in Preußen rund sechsmal so viele Juden wie Protestanten und achtmal so viele wie Katholiken. In der Weimarer Republik waren 4 Prozent der Studenten jüdischer Herkunft, bei den Studentinnen gar 7 Prozent. Die jüdische Familie wies nicht nur hinsichtlich des Grades der Verstädterung, ihrer Mittelschichtsstellung, ihrer niedrigen ehelichen Fruchtbarkeit oder der besonderen Beschäftigung ihres Haupternährers, sondern auch hinsichtlich der Stellung der Ehefrau und Mutter deutliche Unterschiede auf. Die jüdische Hausfrau zog weniger Kinder auf, ging seltener als andere Frauen einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nach und hatte eine bessere und umfassendere Bildung genossen. In vieler Hinsicht ging damit die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft der deutschen Gesellschaft voraus. Dies verstärkte andererseits bereits im Kaiserreich die Kluft, da die Einzigartigkeit des jüdischen Sozialmilieus von Freund und Feind gleichermaßen wahrgenommen wurde". Walther Rathenau formulierte das nationale Selbstverständnis der weitaus überwiegenden Mehrheit, als er 1916 die deutschen Juden als einen Stamm des deutschen Volkes definierte: „Mein Volk sind die Deutschen, niemand sonst. Die Juden sind für mich ein deutscher Stamm, wie Sachsen, Bayern oder Wenden." 12 In diesem Verständnis stellten die Juden eine Landsmannschaft besonderen Typs dar, deren spezifische Eigenart sich nicht aus einem angestammten Siedlungsgebiet, sondern aus der gemeinsamen Religionszugehörigkeit definierte. In der konkreten Lebenspraxis besaß der verbindende Glaube für die breite Schicht assimilierter Juden jedoch nur noch eine geringe Bedeutung. „Ihr Jude-Sein war", um eine Formulierung Walter Grabs aufzugreifen, „nur noch schwach ausgeprägt und kam zumeist nur dann in Erinnerung, wenn es darum ging, die hohen jüdischen Feiertage zu begehen, oder wenn es von außen, aus völkischen Kreisen und von Antisemiten, an sie herangetragen wurde" 13 . Ein typischer Vertreter des assimilierten Judentums war beispielsweise Alfred Döblin, Verfasser des eindrucksvollen Großstadtromans „Berlin Alexanderplatz". Seine Eltern waren von Polen nach Stettin ausgewandert. Sein Vater konnte noch Jiddisch sprechen, seine Hauptsprache war jedoch Deutsch. Döblins Mutter sprach auch Deutsch, obwohl in dem Haushalt ihrer Eltern Jiddisch die Familiensprache gewesen war. Döblins jüdisches Bewußtsein war nur schwach ausgeprägt, wie er selbst schreibt: „Ich hörte zu Hause, meine Eltern wären jüdischer Abkunft und wir bilde10

G. L. MOSSE, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion u n d Nationalism u s , F r a n k f u r t a. M. 1992, 37.

"

V g l . VOLKOV ( A n m . 1), 1 3 1 - 1 4 5 .

12

Briefe, Dresden 4 1927, Bd. 1, 220. J u d e n in der Weimarer Republik, hg. von W. GRAB u n d J. H. SCHOEPS, Stuttgart 1986, 7 (Vorwort).

13

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ten eine jüdische Familie. Viel mehr merkte ich innerhalb der Familie vom Judentum nicht (...) Zwei große Feste hielten die Eltern, das Neujahr- und das Versöhnungsfest. Da zogen sie gut gekleidet in die Tempel, meist abends und vormittags und arbeiteten nicht (...) In den Religionsstunden lernte ich auch etwas Hebräisch, kam aber über die Anfangsgründe nicht hinaus. Welches Interesse sollte ich auch daran haben, außer Latein, Griechisch, Französisch noch Hebräisch zu lernen, wo mich die Beschäftigung mit den leeren Sprachgehäusen schon immer abstieß? Ich hatte zwischen Ilias und Odyssee, zwischen Edda, Nibelungen und Gudrunlied wenig Sinn für die Frühgeschichte des Volkes Israel, das später zerstreut und aufgelöst wurde. Und die Lehre, das eigentlich Religiöse, - ich las sie und hörte sie. Es war und blieb eine oberflächliche Lektüre. Keinerlei Gefühl kam dabei auf, keine Bindung stellte sich ein." An anderer Stelle berichtet Döblin in seinen autobiographischen Aufzeichnungen: „Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren." 14 Die offizielle Interessenvertretung der assimilierten Juden war der bereits erwähnte „Centrai-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Er besaß 1914 40.000, 1932 ca. 60.000-70.000 Mitglieder und repräsentierte das deutsch-jüdische Bürgertum zu etwa zwei Dritteln. Ideologisch wandelte er sich von einer kaisertreuen zu einer strikt republikanischen Organisation, die sich gegen Ende der Weimarer Republik an die Sozialdemokratie anlehnte. Seine Hauptaufgabe sah er in der Abwehr des Antisemitismus mit juristischen und propagandistischen Mitteln. Zugleich verstand er sich als Gesinnungsgemeinschaft und erstrebte eine Symbiose „deutsch-jüdischer Durchdringung". Beide Ziele brachte die Vereinssatzung in der Formulierung zum Ausdruck: „Der Centrai-Verein bezweckt, die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrbaren Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken." 15 Als zweitgrößte jüdische Organisation ist der 1919 gegründete „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" zu nennen. Er zählte 1930 etwa 35.000 Mitglieder und wuchs nach 1933 auf rund 50.000 Mitglieder. Zentrales Anliegen des Reichsbunds war die Verteidigung der jüdischen Ehre im Rahmen des deutschen Vaterlandes. Nach der Ermordung Rathenaus (1922) organisierte er eine Selbstwehr, die zum Schutz der Synagogen und jüdischer Persönlichkeiten eingesetzt wurde. Später beteiligte sich der Reichsbund 14 15

A u t o b i o g r a p h i s c h e Schriften und letzte A u f z e i c h n u n g e n , Ölten 1980, 206 f, 211. Zit. nach J ü d i s c h e s Lexikon, K ö n i g s t e i n / T s . 1982, Bd. 1, 1289 f. Z u m Centraiverein vgl. A. PAUCKER, D e r j ü d i s c h e A b w e h r k a m p f gegen Antisemitismus u n d Nationalsozialismus in den letzten J a h r e n d e r Weimarer Republik, H a m b u r g 1968.

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am 1924 gegründeten „Reichsbanner Schwarz Rot Gold" zur Verteidigung der Republik; nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gab er schließlich die Parole aus: „Jeder bleibt auf seinem Posten" 16 . Noch patriotischer trat der „Verband nationaldeutscher Juden" auf, der sich 1920 vom Centraiverein abgespalten hatte. Er unterstützte politisch die DVP, später sogar die antisemitische DNVP, und versuchte ab 1930 die jüdischen Deutschen als weiteren „deutschen Stamm" in die völkische Bewegung einzugliedern 17 . Noch chauvinistischer gebärdete sich ein kleiner Kreis mit dem Namen „Deutscher Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden". Doch nicht nur der Vortrupp, sondern auch andere „staatstreue" Juden, welche die gleichen antikommunistischen Ängste und Befürchtungen wie ihre nichtjüdischen Bürger hegten, hofften damals auf eine Integration der Juden in den NS-Staat. So schrieb etwa der Ansbacher Rabbiner Elie Münk 1933 in seinem Buch „Judentum und Umwelt": „Ich lehne die Lehre des Marxismus vom jüdischen Standpunkt aus ab und bekenne mich zum Nationalsozialismus ohne seine antisemitische Komponente." 1 8 Eine ganz andere Richtung vertraten jene Künstler und Intellektuellen, die sich zum Sozialismus bekannten, da erst die klassenlose Gesellschaft die vollständige Emanzipation der Menschheit und damit auch der Juden bringen werde. Sie nahmen als Juden und Sozialisten eine doppelte Außenseiterrolle ein und dienten den Antisemiten stets dazu, Marxismus und Kommunismus, Anarchismus und Sozialdemokratie als „jüdisch" zu diskreditieren. Zu ihnen zählten u.a.: Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Otto Heller, Anna Seghers, Alfred Kantorowicz und Arthur Holitscher. Kennzeichnend für das kosmopolitische Selbstverständnis der jüdischen Sozialisten und Kommunisten ist der Ausspruch Ernst Tollers: „Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa hat mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die ,Welt' mein Vaterland." 19 Kann man die bisher genannten Gruppierungen - bei allen politischen Unterschieden - unter dem Oberbegriff der Assimilation zusammenfassen, so gab es innerhalb des deutschen Judentums zwei Strömungen, die der deutschen Gesellschaft und Kultur mit wesentlich größerer Reserviertheit gegenüberstanden. Als erste Gruppe sind die religiös-orthodoxen Juden, zumeist osteuropäischer Herkunft, zu nennen. Sie schlossen sich 1920 im „Bund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands" zusammen, nahmen aber an den Debatten über das jüdische Selbstverständnis kaum Anteil. Wesentlich mehr von sich reden machten die Zionisten mit ihrer Aufforderung, endlich die Gebundenheit an die deutsche Kultur zu über" Vgl. U. DUNKER, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines Abwehrvereins, Düsseldorf 1977. " Vgl. C. J. RHEINS, The Verband nationaldeutscher Juden 1921-1933, in: Year Book des Leo Baeck Institute 25 (1980), 243-268. 18 Frankfurt a. M. 1933, 34f. " Eine Jugend in Deutschland, Hamburg 1963, 161.

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winden und wieder „bewußte Juden" zu werden. Richtungsweisend war die unter dem Eindruck der französischen Dreyfus-Affaire verfaßte Programmschrift Theodor Herzls „Der Judenstaat" von 1896. Von Herzl stammt der bekannte Leitsatz: „Zionismus ist die Rückkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland." Dieses Programm fand im deutschen Judentum nur geringe Unterstützung, da es dem angestrebten Ziel vollständiger Emanzipation und Assimilation diametral entgegenstand. Die kurz vor der Jahrhundertwende gegründete „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) zählte bis zum Ersten Weltkrieg knapp 9.000 Mitglieder. Auch die zionistische Auswanderungspropaganda blieb weitgehend erfolglos. In den zwanziger Jahren wanderten maximal 2.000 Juden aus Deutschland nach Palästina aus, von denen fast die Hälfte wieder zurückkehrte. 1930 gehörten der Zionistischen Vereinigung 17.500 Mitglieder an 20 , von denen sich die meisten - nicht anders als liberale Assimilanten, nationaldeutsche Juden und Sozialisten - auf ihre eigene Weise in Deutschland zu Hause fühlten. Der Einfluß der Zionisten auf die Debatten über „Juden und deutsche Kultur" ist in der Weimarer Republik nicht zu unterschätzen. Vor allem die geradezu schwärmerische Verehrung, ja Romantisierung der „ostjüdischen Welt" blieb nicht ohne Widerhall. Die Wiederentdeckung des Ostjudentums findet man nicht nur bei führenden Zionisten wie Martin Buber oder Nahum Goldmann, sondern auch bei dem Anarchisten Gustav Landauer oder bei Schriftstellern wie Arnold Zweig und Hermann Struck 21 . Allgemein läßt sich feststellen, daß die zionistische Bewegung in dem Maße wuchs, wie sich der antisemitische Haß von rechts verschärfte. „Ich glaube", schrieb Albert Einstein 1921 in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift „Wie ich Zionist wurde", „daß das deutsche Judentum dem Antisemitismus seinen Fortbestand verdankt. Ich habe das an mir selbst beobachtet." 22 Die jüdische Gemeinschaft besaß, wie dieser knappe Überblick zeigt, in der Weimarer Republik keine festumrissene Gruppenidentität mehr, so daß es nur bedingt möglich ist, von den Juden als Juden zu sprechen. Die Differenzierung des deutschen Judentums in unterschiedliche Strömungen und politische Lager schlug sich auch im Wahlverhalten nieder. Bis zur Reichstagswahl 1928 stimmten nach fundierten Schätzungen etwa zwei Drittel der jüdischen Wähler für die DDP, ein Drittel für die SPD. Nach 1930, nach dem Zerfall des politischen Liberalismus, dürfte die SPD zwei Drittel der Stimmen erzielt haben, während das restliche Drittel an die

20

Vgl. neben der grundlegenden Studie ELONIS (Anm. 2) insbes. S. M. POPPEL, Zionism in Germany 1897-1933. The Shaping of a Jewish Identity, Philadelphia 1977; Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, hg. von J. REINHARZ, Tübingen 1981.

21

V g l . T . MAURER, O s t j u d e n i n D e u t s c h l a n d 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , H a m b u r g 1 9 8 6 , 7 1 7 - 7 5 9 .

22

Jüdische Rundschau vom 21.6.1921.

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katholische Zentrumspartei ging 23 . Damit stützte das jüdische Bürgertum, im Gegensatz zum nichtjüdischen, nahezu geschlossen die Weimarer Republik.

III. Die Verteidigung von Demokratie, Liberalität und Humanität bestätigte zugleich der antidemokratischen Rechten ihr eifrig gepflegtes Feindbild von der Weimarer Republik als einer Judenrepublik. Zum feststehenden Feindbild konservativ-völkischer Kreise gehörte weiterhin die stereotyp vorgetragene Behauptung von der jüdischen Vorherrschaft im deutschen Kulturleben. Der berühmt gewordene Satz, von den Juden als den unerwünschten „Verwaltern des geistigen Besitzes" des deutschen Volkes, war kurz vor dem Ersten Weltkrieg von dem zionistischen Publizisten Moritz Goldstein in einem provokativen Beitrag in der konservativen Kulturzeitschrift „Der Kunstwart" geprägt worden 24 . Goldsteins Behauptung von der jüdischen Vorherrschaft im deutschen Kulturleben, zu der die Juden weder berechtigt noch befähigt seien, wurde zu einem der wirkungsvollsten Themen antisemitischer Agitation. Die liberale Presse des Kaisertums und der Weimarer Republik - von den Nazis pauschal als „Judenpresse" gebrandmarkt - war tatsächlich eng an jüdische Verlagshäuser gebunden: Die „Frankfurter Zeitung", die bedeutendste Tageszeitung, befand sich seit 1856 im Besitz jüdischer Eigentümer. Im Ullstein-Verlag erschienen die auflagenstarken Zeitungen „Berliner Morgenpost" (1930: 607.000), die Boulevardzeitung „BZ am Mittag" (150.000), „Das Tempo" (112.000), „Montagspost" (185.000) und „Grüne Post" (1.042.000), die „Berliner Illustrierte Zeitung" (1.603.000) sowie die für die Berliner Intelligenz bestimmte „Vossische Zeitung" (57.000). Der Mosse-Verlag gab u. a. das „Berliner Tageblatt" (150.000), die „Berliner Volks-Zeitung" (85.000) und das „8-Uhr-Abendblatt" (91.000) heraus. Die Bevölkerung der Klein- und Mittelstädte Deutschlands orientierte sich jedoch fast ausschließlich an regionalen Zeitungen, die meist konservativen Zuschnitts waren und antisemitischen Tendenzen offenstanden. Jüdische Journalisten und Redakteure konzentrierten sich daher nicht zufällig auf Berlin. Eine geringere Bedeutung als die Tageszeitungen für die politische Meinungs- und Willensbildung besaßen die Kulturzeitschriften. Einige von ihnen spielten allerdings eine besondere Rolle, nicht nur weil sie von nationalsozialistischer Seite äußerst scharf angegriffen und in vielen Polemiken als typische Beispiele des „zersetzenden jüdischen Geistes" herhalten 23

24

Vgl. E. H A M B U R G E R / P . P U L Z E R , Jews as Voters in the Weimar Republic, in: Year Book des Leo Baeck Institute 30 (1985), 3-66. Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart, 1. März-Heft 1912, 283ff.

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mußten. An erster Stelle ist hier die „Weltbühne" zu nennen. Ursprünglich von Siegfried Jacobsohn als ein Zentralorgan für Theaterpolitik unter dem Namen „Schaubühne" gegründet, hatte sie in der Weimarer Republik eine stark politische Färbung angenommen. Ihre Haltung war antibürgerlich, anti-nationalistisch, teilweise sozialistisch und ausgesprochen pazifistisch. Hauptmitarbeiter der „Weltbühne" war Kurt Tucholsky, weiterhin engagierten sich u.a.: Alfred Polgar, Egon Friedell, Erich Dombrowski und Otto Flake. Nach Jacobsohns Tod übernahm 1927 ein Nichtjude die Chefredaktion: Carl von Ossietzky, der 1936 als todkranker KZHäftling den Friedensnobelpreis erhielt. Neben der „Weltbühne" erlangte auch die von Stefan Großmann gegründete, später von Leopold Schwarzschild redigierte Zeitschrift „Das Tagebuch" an Bedeutung. Sie war mehr auf wirtschaftspolitische Fragen abgestellt, aber gleichfalls pazifistisch orientiert. Die wichtigste Literaturzeitschrift der Weimarer Republik war schließlich die im Fischer-Verlag publizierte „Neue Rundschau". Unvergessen ist auch die „Fackel", die Karl Kraus als Ein-Mann-Betrieb produzierte. Die größten jüdischen Verlage waren Ullstein und Mosse in Berlin. Zum bedeutendsten Verlag für schöngeistige Literatur entwickelte sich allerdings der 1886 von Samuel Fischer gegründete Fischer-Verlag. Fischer war besonders dem Naturalismus und der zeitgenössischen Weltliteratur zugetan. Er verlegte u.a.: Hauptmann, Schnitzler, Ibsen, Shaw, Dostojewski, Tolstoi, Zola und Thomas Mann. Die junge expressionistische Bewegung und gesellschaftskritische Avantgarde wurde nachhaltig von Kurt Wolff gefördert. Bei ihm veröffentlichten u.a.: Heinrich Mann, Carl Sternheim und Karl Kraus. Die moderne Literatur fand ihre Heimat bevorzugt bei freisinnigen jüdischen Verlegern, denen althergebrachte Tabus wie deutschtümelnde Kleingeisterei fremd waren. Als eine berüchtigte Domäne jüdischer Selbstdarstellung galt auch das Theater, insbesondere das Berliner Theater, das allgemein als ein Vorposten der Moderne galt. Wie keine andere Bühne zogen Max Reinhardts „Deutsches Theater" und die anderen ihm unterstehenden Häuser „Großes Schauspielhaus", „Kammerspiele", „Komödie" - Schauspieler aus allen Teilen Deutschlands und anderen deutschsprachigen Ländern nach Berlin. Darunter befanden sich auch jüdische Talente: Elisabeth Bergner, Ernst Deutsch, Alexander Granach, Fritz Kortner, Max Palenberg und Maria Fein, um nur einige herauszugreifen. Weitere bedeutende jüdische Regisseure waren Leopold Jessner, Generalintendant der beiden Staatlichen Schauspielhäuser in Berlin, und Viktor Barnowsky, der am „Theater an der Königgrätzer Straße" und im „Komödienhaus" arbeitete. Im Bereich des Musikwesens stachen unter den Juden damals vor allem Dirigenten wie Otto Klemperer, Bruno Walter, Jascha Horenstein und Leo Blech hervor. Unter den Solisten: Fritz Kreisler, Artur Schnabel und Emanuel Feuerstein. Von den Vertretern der leichten Muse sind zu nen-

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nen: Leo Fall, Oskar Strauß, Paul Abraham und Rudolf Nelson sowie seriöse Komponisten wie Arnold Schönberg und Kurt Weill. Die meiste Aufmerksamkeit zogen jedoch die jüdischen Schriftsteller auf sich. Zu meistgelesenen Autoren ihrer Zeit gehörten die Romanciers Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Georg Hermann und Franz Werfel, die Biographen Emil Ludwig und Stefan Zweig, die Feuilletonisten Kurt Tucholsky und Alfred Polgar sowie der „rasende Reporter" Egon Erwin Kisch. Jakob Wassermanns 1919 erschienener Bildungsroman „Christian Wahnschaffe" ging 1933 in die 107. Auflage. Die Gesamtauflage der biographischen Darstellungen Emil Ludwigs betrug 1930 zwei Millionen Exemplare, davon 800.000 in Deutschland. Lion Feuchtwangers „Erfolg", ein satirischer Roman, der auf die zum Hitler-Putsch von 1923 führenden Vorgänge Bezug nimmt, zählte 1930 eine Auflage von fast 300.000 Exemplaren. Alfred Döblins 1929 erschienener Roman „Berlin Alexanderplatz" erreichte bereits zwei Jahre später die 45. Auflage. In der reinen Unterhaltungsliteratur schließlich gelang Vicki Baum schon früh der Sprung über die nationalsprachliche Grenze. Wer die enorme Spannweite des jüdischen Beitrags im einzelnen ermessen will, sei auf das noch 1933/34 von Siegmund Kaznelson, dem Direktor des Jüdischen Verlags in Berlin, konzipierte Handbuch „Juden im deutschen Kulturbereich" 25 verwiesen. Es zieht auf über tausend Seiten die wohl umfassendste Bilanz und nennt, aufgeschlüsselt nach annähernd 40 Sparten, die Namen jüdischer Kulturträger, berühmter wie heute vergessener. Wenngleich der Erfolg jüdischer Schriftsteller und Künstler nicht überschätzt werden sollte und an den Auflageziffern völkisch-nationalistischer Autoren relativiert werden müßte, so stellt er doch einen wichtigen Indikator für die unbestreitbare Integration in das bildungsbürgerliche wie avantgardistische Kulturleben der Weimarer Republik dar. Die entschiedene Bejahung der Moderne war aufs engste mit der Verteidigung von Vernunft und Aufklärung als Bollwerk gegen den aufkommenden Irrationalismus verbunden, was aus antisemitischer Sicht jedoch - ebenso wie der sehr hohe Anteil von Juden unter den Theater- und Literaturkritikern - als Beleg für den zersetzenden Einfluß eines ominösen „Weltjudentums" interpretiert wurde. Die Wiedergabe der modernen Großstadt-Zivilisation führe, so der stereotype Vorwurf, zur sog. „Asphaltliteratur"; die psychologische Ausleuchtung des Individuums zum Zerfall von Sitte und Moral, zur Glorifizierung des „entwurzelten, emanzipierten, geistig selbständigen Großstadtmenschen". Was nicht allein eingeschriebene Natio2S

Berlin 31962. Zahlreiche Einzelaspekte behandeln u.a. die folgenden Sammelbände: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, hg. von G. E. GRIMM und H.-P. BAYERDÖRFER, Königstein/Ts. 1985; Juden in der Weimarer Republik (Anm. 13); Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, hg. von J. H. SCHOEPS, S t u t t g a r t 1989.

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nalsozialisten in Rage versetzte, war vor allem die Propagierung liberaler, sozialistischer oder pazifistischer Überzeugungen, da sie als der bewußte Versuch des „Weltjudentums" begriffen wurden, die nationale Ehre und den Wehrwillen des besiegten Deutschland zu zersetzen. Der Verächtlichmachung des Bodenständigen und Heimattreuen - eben der dann im „Dritten Reich" so gepflegten Blut-und-Boden-Romantik - galt es, ein Ende zu setzen 26 . Solche Bewertungen gehörten, weit über das völkische Lager hinausreichend, zum festen Bestand deutschnationaler Gesinnung. Sie waren auch in christlichen Kreisen weit verbreitet. So schrieb beispielsweise wenige Tage nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 Generalsuperintendent Otto Dibelius an die Pfarrer der Kurmark: „Für die letzten Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorgegangen ist, werden wir alle nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemit gewußt. Man kann nicht verkennen, daß bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt." 27 Betrachtet man die gegen die sog. „jüdische Literatur" vorgebrachten Einwände, so handelt es sich in aller Regel nicht um Argumente einer qualifizierten Literaturkritik. Das eigentliche Motiv bildete vielmehr der emotional mit äußerster Schärfe ausgetragene Kampf um die kulturelle Hegemonie. Die politische Polarisierung der deutschen Gesellschaft spiegelte sich in einem nur notdürftig mit künstlerischen Argumenten getarnten ideologischen Richtungsstreit wider; weshalb die Nationalsozialisten ohne weiteres auch Werke politisch mißliebiger nichtjüdischer Autoren als „typisch jüdisches Machwerk" abzuqualifizieren vermochten. Eine genuin jüdische Literatur hat es weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik gegeben, vielmehr zeigt gerade die Spannweite des literarischen Schaffens jüdischer Autoren, daß sich unterschiedliche Ausdrucksformen und Stilrichtungen nicht bestimmten rassischen Faktoren zuordnen lassen. Auch sollte man sich der Fragwürdigkeit aller Rubrizierungsversuche nach jüdischer und nichtjüdischer Herkunft bewußt sein; schließlich unterscheiden wir auch nicht zwischen Schriftstellern aus protestantischem oder katholischem Elternhaus. Als Resümee läßt sich festhalten: In der Politik - in Regierung, Parlament und Verwaltung - war die Zahl und der Einfluß der Juden vergleichsweise gering. Eine Ausnahme bildete die unmittelbare Revolutionszeit, insbesondere, was die führende Stellung einiger jüdischer Intellektu-

24

27

Vgl. z.B. aus NS-Sicht: Die Juden in Deutschland, hg. vom Institut zum Studium der Judenfrage, München 81939. Zit. nach W. GBRLACH, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987, 42.

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eller in der kurzlebigen Münchner Räterepublik anbetrifft 28 . Eine überaus starke Beteiligung gab es dagegen auf allen intellektuellen und künstlerischen Gebieten sowie in einigen Zweigen der Wissenschaft - namentlich der Psychologie (Sigmund Freud, Alfred Adler, Wilhelm Reich) und der Physik (Albert Einstein, Max Born, James Franck, Lise Meitner). Hier kann man nicht allein von statistisch-quantitativen Gesichtspunkten ausgehen, sondern muß auch die herausragende Qualität dieses Beitrags berücksichtigen. Dies gilt nicht minder für die fortschrittliche Presse, die Literatur, das Berliner Theater und andere Sphären des kulturellen Lebens. Hier waren Juden oft tonangebend und richtungsweisend. Aus heutiger Sicht haben sich freilich vielfach die Gewichte verschoben. Zahlreiche jüdische Künstler und Intellektuelle der Weimarer Republik wie etwa die Autoren Emil Ludwig oder Jakob Wassermann sind in Vergessenheit geraten; andere, die damals zu den eher Unbekannten zählten, gelten heute als die wichtigsten Vertreter ihrer Epoche. So beispielsweise: Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Magnus Hirschfeld, Wilhelm Reich, Georg Lukács, Ernst Bloch, Hanns Eisler, John Heartfield oder Anna Seghers. In welcher Weise das unauflösliche Spannungsverhältnis von Assimilation und Antisemitismus den jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur beeinflußte, läßt sich exemplarisch am Beispiel jüdischer Naturwissenschaftler aufzeigen, die in den ersten vierzig Jahren dieses Jahrhunderts fast ein Drittel aller deutschen Nobelpreisträger stellten. Sie entstammten zumeist dem wohlhabenden assimilierten Bürgertum und waren häufig mit nichtjüdischen Frauen verheiratet. Das Streben nach außergewöhnlicher Leistung in einer assimilationsbetonten Umgebung förderte den individuellen wissenschaftlichen Ehrgeiz, der an den deutschen Universitäten auf eine Struktur traf, die paradoxerweise Diskriminierung in Vorteil verwandelte. So ergibt die Analyse der Karrieremuster der 40 jüdischen Nobelpreisträger, daß sie längere Zeit in untergeordneten akademischen Positionen verbrachten, da ihnen eine antisemitisch infizierte Umwelt den Aufstieg zum Ordinarius erschwerte. Wurde vom Ordinarius an den großen, renommierten Universitäten jedoch in erster Linie ein weiter Überblick über sein Fach erwartet, so konnten sich die jüdischen Naturwissenschaftler darauf konzentrieren, ausgesprochene Spezialisten zu werden, die ihre berufliche Position vorwiegend an kleineren Universitäten und an den neu gegründeten Technischen Hochschulen fanden. Als Gruppe wurden sie nicht aus dem Wissenschaftsbetrieb hinausgedrängt, sondern in jene Randgebiete hinein, welche sich oft als die Brennpunkte des wissenschaftlichen Fortschritts erweisen

28

Vgl. W. T. ANGRESS, Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, in : Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, hg. von W. E. MOSSE, Tübingen 1971, 137-316.

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sollten. Die außergewöhnlichen Leistungen kamen also nicht nur trotz, sondern auch wegen des Vorurteils zustande 29 .

IV. Das Verhältnis von Deutschen (genauer: Nichtjuden) und Juden, der umstrittene Problemkreis der deutsch-jüdischen Symbiose, fand bereits in der Weimarer Republik die unterschiedlichsten Bewertungen. Jakob Wassermann, der sich rückhaltlos zur deutschen Kultur bekannte, stellte schon Anfang der zwanziger Jahre - angesichts des erstarkenden Antisemitismus und zahlreicher Fememorde rechtsradikaler Organisationen - in seiner Bekenntnisschrift „Mein Weg als Deutscher und Jude" betroffen fest: „Leider steht es so, daß der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes." 30 Zu einem ganz anderen Urteil gelangte dagegen 1922 Gustav Krojanker, der dem Zionismus zuneigte. Er schrieb im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band „Juden in der deutschen Literatur" : Die Abneigung gegen das Judentum stehe, „wenn auch nicht ganz überwunden, heute doch im Begriffe (...) überwunden zu werden". Die Grundlage für ein verständnisvolles Miteinander sei jetzt gelegt, „wo der Jude seiner unlösbaren Zugehörigkeit zur deutschen Kultur so sehr als einer selbstverständlichen Tatsache sich bewußt ist, daß vom Trennenden getrost die Rede sein kann, und wo der Deutsche im Juden den Mitbürger gerade auch wegen seiner Andersartigkeit schätzt." 31 Das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden war vor 1933 eine Realität - reich an Spannungen und Konflikten, aber keineswegs nur von Diskriminierung und Haß geprägt. Erst nach 1933 wurde, wie zahlreiche Memoiren und Selbstzeugnisse den Bruch eindringlich schildern, die deutsche Heimat zur unheimlichen, wenig später zur mörderischen Feindwelt. Die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Juden fühlte sich während der Weimarer Republik in Deutschland zu Hause. So schrieb etwa der Zionist Hermann (später Menachem) Gerson 1935 in seinem Buch „Werkleute. Ein Weg jüdischer Jugend": „Wir waren deutsche Wandervögel, Wyneken- und George-Schüler, Liebhaber der deutschen Kunst, wir hatten unsere innere Befreiung in diesen deutschen Wäldern gefunden, die wir deshalb tief liebten." Für ihn, den Zionisten, war die deutsche Kultur unübertrefflich und unersetzlich: „Es wird nie etwas geben, was mir die Bach-Messen und die George-Gedichte unnötig machte; ich will

29

So VOLKOV (Anm. 1), 146-165. Vgl. auch: Juden in der deutschen Wissenschaft, hg. von W. GRAB, T e l A v i v 1986.

J

° Berlin 1922, 117. Untertitel: Essays über zeitgenössische Schriftsteller, Berlin 1922, 12.

31

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es gar nicht finden (...) Wir fühlten uns wirklich zu Hause." 32 Daß das Verhältnis von weit mehr kultureller und mentaler Übereinstimmung als von trennender Distanz geprägt war, kommt auch treffend in jener Antwort zum Ausdruck, die ein Berliner Jude in einem Interview gab, als er gefragt wurde, ob zwischen ihm und seinen nichtjüdischen Mitschülern irgendwelche Unterschiede bestanden hätten. Er dachte einen kleinen Moment nach und sagte dann: „Ja. Sie gingen nicht in die Kirche, und ich ging nicht in die Synagoge." 33 Dieser Perspektivenwechsel mag im Wissen um Auschwitz vielleicht als anstößig erscheinen. Tatsächlich stellt er jedoch für den Historiker keine billige Apologetik dar, sondern unterstreicht vielmehr den Zivilisationsbruch, den die deutsche Gesellschaft nach 1933 nahezu ungerührt hinnahm und - sei es aktiv oder in passiver Duldung - mittrug. Die ganz überwiegende Mehrheit der Juden fühlte sich bis zur Machtübernahme Hitlers in Deutschland zu Hause. Darauf nochmals nachdrücklich hinzuweisen, scheint mir besonders wichtig: damit nicht die deutschen Juden in der öffentlichen Erinnerung gleichsam ein zweites Mal „ausgebürgert" werden. Die Nationalsozialisten verfolgten nicht Fremde, störend und provozierend in ihrem Anderssein, keine „fremdartige Rasse", wie es im Nazi-Jargon hieß, sondern Deutsche eines anderen Glaubensbekenntnisses.

" Berlin 1935, 19. " Zit. nach P. GAY, In Deutschland zu Hause. Die Juden der Weimarer Republik, in: Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. The Jews in Nazi Germany 1933-1943, hg. von A. PAUCKER, Tübingen 1986, 35. Vgl. weiterhin: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945, hg. von M. RICHARZ, Stuttgart 1982; Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, hg. von W. BENZ, München 1988.

Marita

Krauss

Das „Emigrantensyndrom" Emigranten aus Hitlerdeutschland und ihre mühsame Annäherung an die ehemalige Heimat Das Verlassen der ehemaligen Heimat bedeutete für die meisten Vertriebenen des nationalsozialistischen Deutschland viel mehr als einen Ortswechsel : Sie waren zu Bürgern zweiter Klasse erklärt worden, verfolgt, gedemütigt, verstoßen. Sie durften sich nicht mehr als Deutsche fühlen, gehörten aber vorerst auch keiner anderen Nation an: In ihnen entstand das „Emigrantensyndrom", wie es der deutsch-jüdische Emigrant Georg Stefan Troller nannte 1 . Zwischen 300000 und 400000 deutschsprachige Menschen, von denen weit über 90 Prozent dem jüdischen Bevölkerungsteil angehörten, waren seit 1933 von den Nationalsozialisten ins Exil und in die Emigration getrieben worden 2 . Viele hatten so Schreckliches erlebt, daß ein späteres Zurück auch in ein nicht mehr nationalsozialistisches Deutschland für sie undenkbar war. Andere hofften, am Aufbau eines freien und demokratischen Deutschland mitwirken zu können 3 . Der Krieg gegen Hitlerdeutschland einte Kräfte der unterschiedlichsten Weltanschauungen. So dienten auch etliche deutsche Emigranten oder ihre Kinder, nachdem sie sich in der neuen Heimat hatten naturalisieren lassen, in den alliierten Armeen oder erstellten politische Analysen für

1 2

G. S. TROLLER, Selbstbeschreibung, Hamburg 1988, 189. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München und von der Research Foundation for Jewish Immigration Inc. New York unter der Leitung von W. RÖDER und H. A. STRAUSS, München-New York-London-Paris 1980, Einleitung VIII-LVIII. Dort sind diese Zahlen auch umfangreich und ausführlich aufgeschlüsselt. Es ist hier nicht der Ort, einen Gesamtüberblick über die in den letzten Jahren erfreulich anwachsende Exilforschung zu geben. Verwiesen sei jedoch auf die inzwischen in zehn Bänden vorliegende Reihe: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, München 1983 ff, auf die Zeitschrift „Exil" sowie auf den Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung. Vgl. außerdem: Die Erfahrung der Fremde. Ein Forschungsbericht, hg. von M. BRIEGEL u n d W . F R Ü H W A L D , W e i n h e i m

J

1988.

Die Fragen der Remigration wurden bisher noch wenig bearbeitet; erste Ansätze dazu bei J. FOITZIK, Die Rückkehr aus dem Exil und das politisch-kulturelle Umfeld der Reintegration sozialdemokratischer Emigranten in Westdeutschland, in: Die Erfahrung der Fremde (Anm. 2), 255-270, sowie Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remig r a t i o n , h g . v o n C . - D . K R O H N / E . R O T E R M U N D / L . W I N C K L E R / W . KOEPKE, M ü n c h e n

1991.

320

Marita Krauss

den amerikanischen Geheimdienst 4 . „Folgend den Bomberschwärmen", wie der exilierte Bert Brecht schrieb 5 , in der Uniform des von der NS-Propaganda hysterisch diffamierten Feindes, im Bewußtsein der eigenen moralischen Integrität, - so betraten viele der ehemals Ausgestoßenen 1945 deutschen Boden. Heimatboden? Die Gefühle schwankten zwischen Ablehnung alles Deutschen und Sehnsucht nach der Zeit vor der Emigration, zwischen Abscheu und Liebe, zwischen Haß und Heimweh 6 . Die Frage einer möglichen Rückkehr löste in Exilkreisen stets heftige Emotionen aus, bedeutete sie doch auch die Verarbeitung dessen, was zur Emigration geführt hatte. Persönlichkeit und Schicksal des jeweils Betroffenen entschieden darüber, wie er sich zu Deutschland und den Deutschen stellte. Angst und Mißtrauen waren tief verankert; die Schrecken der Bedrohung, der Verfolgung, der Einsamkeit des Exils verließen viele ihr Leben lang nicht mehr 7 . Die einen forderten wie Erika Mann eine grundlegende politische Umerziehung des deutschen Volkes 8 , andere erwarteten das individuelle Schuldbekenntnis, die Reue und die Bestrafung derjenigen, die Unrecht getan oder geduldet hatten. Wieder andere lehnten jede Beschäftigung mit Deutschland und jeden Kontakt mit nicht-emigrierten Deutschen ganz ab9. Selbst ein langer Deutschlandaufenthalt und ein großes Wirkungsumfeld änderten an dieser Einstellung meist wenig. Wer sich einmal innerlich von Deutschland abgewandt und eine fremde Staatsangehörigkeit ange-

4

So dienten beispielsweise Klaus Mann, Stefan Heym, Hans Habe in der amerikanischen, Alfred Döblin in der französischen oder Peter de Mendelssohn in der englischen Armee; zur Tätigkeit einiger Emigranten, besonders aus dem Kreis der „New School for Social Research" im amerikanischen Geheimdienst OSS: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, hg. von A. SÖLLNER, Bd. 1: 1943-1945, Frankfurt a.M. 1982; Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, hg. von U. BORSD O R F / L . NIETHAMMER, W u p p e r t a l

!

6

1976.

B. BRECHT, Gesammelte Werkein 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1967, Bd. 10, 858: Das Gedicht „Rückkehr". Das zeigen beispielsweise die Erinnerungen von K. MANN, Der Wendepunkt, Frankfurt a. M. 1952, von S. HEYM, Nachruf, München 1988, von J. DUNNER, ZU Protokoll gegeben. Mein Leben als Deutscher und Jude, München 1971, von G. S. TROLLER (Anm. 1) sowie von L. MARCUSE, Mein 20. Jahrhundert, München 1960. Anschaulich auch die Zeitungsartikel von Klaus Mann aus „stars and stripes", einige veröffentlicht in K. MANN, Mit dem Blick nach Deutschland. Der Schriftsteller und das politische Engagement, München 1985 sowie Klaus Manns Briefwechsel, einiges veröffentlicht in K. MANN, Briefe und Antworten, hg. von M. GREGORDELLIN, B d . I I ( 1 9 3 7 - 1 9 4 9 ) , M ü n c h e n

1975.

1

Dazu die Selbstaussagen in den biographischen Materialien des Instituts für Zeitgeschichte München, die zu dem Emigrationsprojekt erstellt wurden, z.B. in MA 1500 oder F 213/1-4, Fragebögen. Außerdem dazu die Selbstaussagen emigrierter und nicht zurückgekehrter Schriftsteller in: H. KESTEN, Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, München 1964. ' Zu Erika Manns Vorstellungen vom Nachkriegsdeutschland u.a. S. FRISCH, „Alien Homeland": Erika Mann and the Adenauer Era, in: German Review, Vol. LXIII, Nr.4 (1988), 172182. 9

Einen guten Überblick über dieses Spektrum der Reaktionen bietet P. MERTZ, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985.

Das „Emigrantensyndrom"

321

nommen hatte, blieb dieser Haltung oft das ganze Leben lang treu; zu tief saßen Schrecken und Abneigung. So nannte ein ehemaliger Offizier der Psychologischen Kriegführung 1972 als Grund für sein Verbleiben in Amerika: „Abscheu (nicht Feindseligkeit)" 10 . Es ist kein Zufall, daß diese Haltung vor allem bei jüdischen Emigranten festzustellen ist, die ihre Verfolgung notgedrungen viel stärker als eine „kollektive" empfinden mußten und die daher dem deutschen Volk als Gesamtheit viel schwerer vergeben konnten. Doch es gab nicht nur diese Seite. Auch die im Lande Gebliebenen, ob Nationalsozialisten oder nicht, empfanden sich als Opfer des nationalsozialistischen Systems, sie verwiesen auf die Überwachung und Bespitzelung, auf die Leiden des Bombenkrieges, auf den Verlust von Heimat und Habe". Sie seien die eigentlichen Verlierer, die Emigration wäre der bequemere Weg gewesen. Voller Ressentiment, Angst und Unsicherheit sahen sie dem Kriegsende, der Besetzung Deutschlands durch die alliierten Sieger und der möglichen Rückkehr der Vertriebenen entgegen 12 . Von Ideologie hatten die Mitläufer und kleinen Nutznießer des Systems erst einmal genug; ihre Bedürfnisse und Wünsche waren auf die Bewältigung des Alltags gerichtet - der Kampf gegen den Hunger lag ihnen weitaus näher als der Kampf gegen den Nationalsozialismus 13 . Das Gefühl einer persönlichen Schuld und das Bedürfnis nach einer moralischen und geistigen Neuorientierung hatten außer langjährigen Regimegegnern und einigen kritischen Intellektuellen nur wenige 14 . Viele der Herumgeworfenen der Nachkriegszeit sahen neidvoll auf die Emigranten, die in fernen Ländern gut zu essen hatten - auf die „Hitlerfrischler", wie sich Oskar Maria Graf ironisch ausdrückte 15 . 10

Institut f ü r Zeitgeschichte, F 213/3. " Diese These vertritt z.B. Α. A. NEHRING in seinem T h e s e n p a p i e r „ T h e Reeducation of Germ a n y " , i n : Institut f ü r Zeitgeschichte, N a c h l a ß Dieter Sattler, E D 145/15: Dem heiklen Kapitel der Bestrafung der deutschen Schuld könne in den Augen der Jugend die Bitterkeit genommen werden, wenn man die Not, die es für alle als Folge des Hitlerkrieges durchzustehen gilt, als eine notwendige Sühneleistung hinstellt, deren geduldige Hinnahme und Überwindung das Unrecht der Vergangenheit zum Teil wiedergutmache. 12 Dazu a u c h S. PAPCKE, Exil u n d Remigration als öffentliches Ärgernis. Z u r Soziologie eines T a b u s , i n : Exil u n d Remigration (Anm. 3), 9 - 2 4 , hier lOf; Papcke n e n n t f ü r die A b l e h n u n g des Exils das Schuld- u n d Schambewußtsein, die Suche n a c h einem P r ü g e l k n a b e n , die Angst vor K o n k u r r e n z , die E i g e n a u f w e r t u n g d u r c h Fremdstigmatisierung. In einem öffentlichen R a h m e n zeigten sich diese Vorbehalte d a m a l s bei d e r Diskussion u m die R ü c k k e h r von T h o m a s M a n n , vgl. J. F. G . GROSSER, Die g r o ß e Kontroverse. Ein Briefwechsel u m D e u t s c h l a n d , H a m b u r g 1963. Zu dieser Frage a u c h : Biographisches H a n d b u c h (Anm. 2), Einleitung, X L I X . ,J Z u r Nachkriegssituation beispielsweise in M ü n c h e n vgl. die Artikel in: Trümmerzeit in M ü n c h e n . Kultur u n d Gesellschaft einer deutschen G r o ß s t a d t im A u f b r u c h 1945-1948/49, hg. von 14

ls

F . PRINZ, R e d . M . KRAUSS, M ü n c h e n

1984.

Mit Staunen u n d Betroffenheit n a h m e n fast alle mit den Alliierten 1945 in Deutschland einr ü c k e n d e n Emigranten zur K e n n t n i s , d a ß sich die im L a n d e Gebliebenen selbst nicht verantwortlich f ü h l t e n ; vgl. dazu TROLLER ( A n m . 1), 194f; MANN, W e n d e p u n k t (Anm. 6), 509. Institut f ü r Zeitgeschichte, N a c h l a ß Hoegner, E D 120/43, Brief O s k a r M a r i a G r a f s an Wilhelm H o e g n e r vom 2.5.46.

322

Marita Krauss

Keine gute Ausgangsbasis für eine Verständigung zwischen drinnen und draußen also. In der Tat begann man auch bald, gründlich aneinander vorbeizureden, ob öffentlich, wie in der „Großen Kontroverse" zwischen Thomas Mann und Frank Thieß 16 , oder im privaten Gespräch. Man hatte die gemeinsame Basis verloren. Es überrascht daher nicht, daß vor allem diejenigen in Deutschland wieder Fuß fassen konnten, die jede Kollektivschuld der Daheimgebliebenen ablehnten und die keine grundlegenden Schuldeingeständnisse erwarteten. Wer bereit war, den bestehenden Zustand zu akzeptieren, war willkommen. Carl Zuckmayers Theaterstück „Des Teufels General" wurde mit großer Zustimmung aufgenommen, konnte man es doch als Schilderung der eigenen Situation annehmen 1 7 : Ohne Schuldzuweisung zeigte es menschliche Verstrickung in einem menschenverachtenden System. Dies hatte jeder erlebt. Den weitergehenden moralischen Ansprüchen anderer Emigranten oder Verfolgter wollte sich kaum jemand aussetzen 18 . Die politische Entwicklung trug nur wenig zur Änderung solcher Überzeugungen bei: Die Ost-West-Konfrontation mit Kaltem Krieg und der Entstehung zweier deutscher Staaten überlagerte bald alte Feindbilder. Ein gründliches Entnazifizierungs- und Reeducation-Programm erwies sich als kaum durchführbar. Die Notwendigkeit zur Bewältigung des Nachkriegsalltags machte auch ehemalige Nationalsozialisten bald wieder gesellschaftsfähig: Für den wirtschaftlichen Wiederaufbau wollte man auf die Fachkräfte, ob nun belastet oder nicht, nicht verzichten, und so wurden sie - meist mit voller Unterstützung der für die Organisation des deutschen Alltags zuständigen US-Offiziere - schnell auf ihre alten Posten zurückgeholt. Der immer deutlicher zutage tretende Gegensatz zwischen den USA und der Sowjetunion sowie in der Folge die geänderte US-Deutschlandpolitik ließen diese Fragen dann immer weiter zurücktreten. Von den Emigranten, die im fernen Amerika lebten, erhoffte man sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem Hilfe und materielle Unterstützung: „Alle gieren nach Paketen und heucheln", notierte Thomas Mann im Juli 1946 in sein Tagebuch 19 . In vielen Fällen half der wohlsituierte Thomas Mann durch Care-Pakete, durch Empfehlungen, durch Briefe. Er war 1933 nach einer Auslandsreise nicht nach Deutschland zu-

"

GROSSER ( A n m . 12).

17

Dazu z.B. Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Dieter Sattler, ED 145/149, Stellungnahme Staatssekretär Sattlers zur Akademie der Schönen Künste von 1948: „Die politischen Ereignisse der vergangenen 15 Jahre haben im deutschen Geistesleben Spannungen hinterlassen, die heute noch nicht als überwunden gelten können. Auch kann heute noch nicht übersehen werden, ob und inwieweit die deutsche Emigration der vergangenen Jahrzehnte bei einer solchen Zusammenfassung mitzuwirken bereit und in der Lage ist. (Wie wichtig diese Emigration ist, beweist der einzigartige Erfolg von Zuckmayers ,Des Teufels General')."

" "

MERTZ ( A n m . 9), 145 f f . T h . MANN, T a g e b ü c h e r 1 9 4 6 - 1 9 4 8 , h g . v o n I. JENS, F r a n k f u r t a . M . 1989, E i n t r a g u n g 3 0 . 7 . 1 9 4 6 , 25.

vom

Das „Emigrantensyndrom"

323

rückgekehrt 20 ; der NS-Staat hatte seine Besitztümer beschlagnahmt, man bürgerte ihn und seine Familie aus, die Universität Bonn erkannte ihm die Ehrendoktorwürde ab, er wurde in Deutschland öffentlich diffamiert und beschimpft. Jetzt erwartete man von ihm, daß er „wie ein guter Arzt" - so Walter von Molo in seinem berühmt gewordenen offenen Brief an Mann - zurückkehre und die Wunden des geschlagenen Deutschland heilen helfen solle21. Seine durchaus etwas belehrend vorgebrachten Wünsche an das deutsche Volk wollte jedoch kaum jemand erfüllen. Doch Thomas Mann und viele andere verlangten von den Deutschen, die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen, den Krieg begonnen, nicht ihn verloren zu haben. Thomas Mann verweigerte unter dem Einfluß seiner Kinder Erika und Klaus eine Rückkehr nach Deutschland, und seine Ablehnung enthielt gerade genug Schärfe, daß man sie ihm dort heftig übelnahm. Man griff ihn an, da es ihm im fernen Kalifornien gut ging, während im „Vaterland" Not und Elend herrschten. Aus dieser Position sei es leicht, so hieß es, moralische Forderungen zu formulieren; doch für die ausgebombten, hungernden und verarmten Deutschen gäbe es jetzt andere Probleme - die Diskussion um die Pflichten und Rechte der emigrierten Brüder und Schwestern hatte begonnen. Nur wenige der nichtemigrierten Deutschen dachten zu diesem Zeitpunkt mehr darüber nach, was die Emigration für die Betroffenen bedeutete. Mit der Emigration hatten die meisten Auswanderer ihre berufliche Existenz, ihr Heim, ihre bekannte Umgebung verloren, die Freunde und oft auch die Angehörigen. Gab es im Bereich der politischen Flüchtlinge auch viele Einzelemigranten, so war die jüdische Emigration bereits in ihrer Struktur eine Familienauswanderung. Wer schon 1933 die Zeichen der Zeit richtig deutete, konnte meist noch einen Teil seiner Habe retten. Später ging es oft nur noch um das nackte Leben. Große jüdische Häuser wurden beschlagnahmt oder ihren Besitzern abgepreßt, die in jahrzehntelanger liebevoller Sorgfalt zusammengetragenen Kunstgegenstände und Möbelsammlungen in alle Winde verstreut. Nur Bruchteile konnten nach dem Krieg wiedergefunden werden. Jedes der vielen Emigrantenschicksale enthielt seine eigenen Schrecken, seine Verbitterung, seine Isolation und Vereinsamung. Auch der Familienverband schützte nicht davor. Außerdem riß bereits die Flucht aus Deutschland die Familien auseinander: man wanderte auf getrennten Wegen und landete in verschiedenen Ländern oder Erdteilen. Dort lebten viele dann, wie sich der emigrierte Sozialdemokrat Otto Wels ausdrückte,

20

Die Literatur zur Familie M a n n füllt Bibliotheken. Zu T h o m a s M a n n s eigenen Stellungnahmen vgl. seine Briefe u n d T a g e b ü c h e r ; zu Klaus M a n n : MANN, W e n d e p u n k t sowie DERS., Briefe u n d Antworten (beide A n m . 6).

21

D a z u MERTZ ( A n m . 9), 1 2 3 ff.

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„mit dem Blick nach Deutschland" 22 . Sie fühlten sich immer noch als Deutsche, waren aber zu stolz, sich dies einzugestehen. Die Deutschen hatten sie ausgebürgert; aber dadurch hatte sich nicht gleichzeitig ihre innere Befindlichkeit geändert. Klaus Mann schrieb 1937 über seine Familie: „Aus einer Familie, die zunächst an den kulturellen Angelegenheiten sehr viel mehr interessiert war als an den politischen, ist beinahe etwas wie eine politische Gruppe geworden. Wir hassen das Hitler-Regime. Wir lieben Deutschland. So dankbar wir auch der Tschechoslowakei oder den U.S.A. verbunden sein mögen, wir werden niemals aufhören, Deutsche zu sein. Zu einer bestimmten Nation zu gehören, ist ein Schicksal - und der deutschen anzugehören, ist ein Schicksal von besonders komplizierter, nicht immer heiterer Art. Ein solches Schicksal wird nicht dadurch von einem genommen, daß ein ,autoritärer Staat' einen ausbürgert' " 23 . Aus der „typisch deutschen" Familie Mann wurden „deutsche Weltbürger" 24 . Durch den Krieg veränderte sich bei der Familie Mann erneut die Stellung zu Deutschland. Als die Söhne zur Armee einrückten, wurde der Briefwechsel in englischer Sprache geführt: Das verlangte der Zensor 25 . Deutsch war nun die Sprache des Feindes. Die innere Haltung des einzelnen Emigranten und seine Position gegenüber Deutschland läßt sich auch an den unterschiedlichen Reaktionen auf die Bombardements während des Krieges ablesen: Der jüdische Rechtsanwalt Sigbert Feuchtwanger weinte in seinem Exil in Israel, als er von der Bombardierung Münchens erfuhr 26 . Thomas Mann notierte in Pacific Palisades am 20. September 1942 in sein Tagebuch: „Der alberne Platz hat es geschichtlich verdient" 27 . Intensiv verfolgte auch der nach England emigrierte sozialdemokratische Rechtsanwalt und ehemalige preußische Landtagsabgeordnete Siegfried Rosenfeld 28 die Nachrichten über den Kriegsverlauf. Wie viele andere jüdische Emigranten hatte er im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite an der Front gestanden. Doch je länger der Krieg dauerte, desto weniger konnte er Mitleid empfinden: „Sonntag, 22 2Î 24 25

26

27 28

A u ß e r d e m ist dies der Titel eines Buches von Klaus M a n n . D e u t s c h l a n d u n d die Welt (1937), i n : MANN, Mit d e m Blick (Anm. 6), 104. MANN, Mit dem Blick ( A n m . 6), 103. K. MANN, Antworten auf Fragen n a c h D e u t s c h l a n d (1948), i n : DERS., Mit dem Blick ( A n m . 6), 137. So berichtete dessen Sohn Walter Feuchtwanger in einem G e s p r ä c h mit mir am 24.5.1990; zu Sigbert Feuchtwanger a u c h : The Feuchtwanger Family. The D e s c e n d a n t s of Seligmann Feuchtwanger, Tel Aviv 1952, 27. Ein umfängliches Interview befindet sich auch im H a u s der Bayerischen Geschichte: Interview mit Walter F e u c h t w a n g e r vom 2.9.1987, aufgezeichnet im R a h m e n des Projektes: Zeitzeugen zur Geschichte u n d Kultur d e r J u d e n in Bayern, Manuskriptabschrift. MANN, Tagebücher (Anm. 19). Biographisches H a n d b u c h (Anm. 2), Bd.I, 614 u n d Bd. I I / I I , 986. A u ß e r d e m E. BEHRENDROSENFELD, Ich stand nicht allein. Leben einer J ü d i n in D e u t s c h l a n d 1933-1945, mit einem N a c h w o r t v o n M. KRAUSS, M ü n c h e n 1987 sowie E. KASBERGER u n d die Klasse l l d des Michaeli-Gymnasiums, „ H e i m a n l a g e f ü r J u d e n Berg a m L a i m " , i n : Verdunkeltes M ü n c h e n . Geschichtswettbewerb 1985/86, hg. von der L a n d e s h a u p t s t a d t M ü n c h e n , M ü n c h e n 1987, 21-50.

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25.Juli 1943 ... Es ist elf Uhr, es donnert von Flugzeugen in der Luft, sie fliegen nach dem Festland; gestern war Hamburg das Ziel, auch heute bringen sie Tod und Verderben nach Deutschland, und dennoch bleibe ich kalt, fast fühllos gegen das Leiden dieses entsetzlichen Deutschland, sein Regime" 29 . Für viele Juden bot Palästina den Ausweg aus dem aufgezwungenen Nationalitätskonflikt 30 . Doch nicht für alle stellte dies eine lebbare Alternative dar. So sah Siegfried Rosenfeld im Zionismus keinen Ausweg: „Der Zionismus, der jüdische Staat, kommt zu spät, bietet keine äußere Sicherheit und befriedigt auch nicht mein Gefühl, entspricht ihm überhaupt nicht. So sehr bin ich nicht Nur-Jude. Das jüdische Problem wird auch nach dem Kriege lebendig sein, in England, in Deutschland, in ganz Europa, auch in USA. Auch die nächste Generation wird ihm begegnen. Wie? Durch untertauchen in einer neuen Volksgemeinschaft, durch hineinleben in sie, durch eine Mischehe mit Nicht-Juden? Gewiß entstehen auch da noch Probleme, aber sie werden an Bedeutung allmählich, zumindestens in der zweiten Generation, verlieren. - Das Motiv dafür ist, eine neue Heimat für sich, für seine spätere Familie zu finden, da die verlorene Heimat nicht mehr zu gewinnen ist. Meine Generation wird gewiß für den Rest des Lebens heimatlos bleiben. Aber es ist eine Forderung des Verstandes, den Weg zur und für eine dauernde Heimat vorzubereiten. Unseren Kindern ist die englische Sprache kein Hindernis, wie es mir und Else wohl sein wird." 31 Doch auch über ein Deutschland nach dem Krieg machte sich Rosenfeld keine Illusionen. Für sich selbst erwartete er von dort nichts mehr: „Niemals will ich Deutschland Wiedersehen. Es wäre nahezu Selbstmord und gefährlich. Wer während des Krieges im Ausland, besonders hier, lebte, wird immer als Kriegshetzer und Deutschlands Feind angesehen werden, zumindestens bei dem größeren und urteilsunfähigeren Teil der Bevölkerung", notiert Rosenfeld an Silvester 194332. Nach Kriegsende erwog er dann doch, eventuell im englischen Dienst bestimmte Aufgaben für Deutschland zu übernehmen: „Ich würde es gegebenenfalls noch immer von Zeit, Ort und Umständen abhängig machen, wenn ein Ruf etwa wirklich käme." 33 Rosenfeld starb jedoch 1947 im englischen Exil. Siegfried Rosenfelds Schicksal zeigt paradigmatisch, wie unauflöslich Umstände und Erfahrungen der Emigration mit den Fragen der Rückkehr 29

Unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen von Siegfried Rosenfeld 1942-1944 (masch. Manuskript), 7. J0 Ausführlich zu diesen Fragen: Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, hg. von W. BENZ, München 21989. Außerdem zum Leben jüdischer Emigranten in verschiedenen Exilländern: Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration, hg. von W. BENZ, München 1991. 31 Tagebuchaufzeichnungen von Siegfried Rosenfeld, Eintragung vom 16.9.1943, 10. 11 Tagebuchaufzeichnungen von Siegfried Rosenfeld, 13. " Tagebuchaufzeichnungen von Siegfried Rosenfeld, Eintragung vom 10.5.1945, 20.

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verknüpft waren, wie schwer die Emigranten der älteren Generation im Exil Fuß faßten, wie schmerzhaft sie es empfanden, Deutschland als ihren Hauptfeind kennenzulernen. Während des Krieges, etwa im Sommer 1943, vollzog Rosenfeld seine innere Wende gegen Deutschland. Die Gründe dafür lagen in den Erkenntnissen über die „ E n d l ö s u n g " und in der als sinnlos empfundenen Totalisierung des Krieges; gegen beides gab es keinen ausreichenden Widerstand in Deutschland selbst. So konnte sich Rosenfeld auch eine mögliche Tätigkeit nach dem Krieg nur noch in englischen, nicht mehr in deutschen Diensten vorstellen. Wie er vorausgesehen hatte, blieben auch seine Kinder und Enkel in den Emigrationsländern. Sie hatten sich dort integriert und sahen keinen Grund, anders als zu Besuch nach Deutschland zu kommen 3 4 . Ähnliches bestätigen die weiteren Wege der jüdischen Familien Feuchtwanger, Wallach oder Lepman 3 5 : Für eine Rückkehr nach Deutschland mußte man gute Gründe haben, nicht jedoch für das Verbleiben im Exil. Viele deutsche Emigranten identifizierten sich in den Exilländern leidenschaftlich mit dem K a m p f gegen Deutschland. Auch hofften sie, auf diesem Wege ihre persönliche oder kollektive Isolation überwinden zu k ö n n e n ; so schreibt Klaus Mann im Januar 1943: „Ich will in die Armee. Ich will Uniform tragen wie die anderen. Ich will kein Außenseiter, keine Ausnahme mehr sein. Endlich darf ich mich einmal mit der Majorität solidarisch fühlen. Jeder Amerikaner sagt heute: ,Let's lick that damned sonof-a-bitch over there, in Berlin!' Ich habe den gleichen Wunsch." 3 6 Der G l Georg Stefan Troller, jüdischer Emigrant, konstatierte bei seinen Verhören mit deutschen Kriegsgefangenen an der italienischen Front: „ M e i n e Figur und Physiognomie haben sich in der frischen Kriegsluft nahtlos dem allamerikanischen Zuschnitt angepaßt. Auch meine Mentalität strebt zur Vergröberung, zur Veräußerlichung. Hier heilt sich eine Neurose, das Emigrantensyndrom . . . oder versteckt sie sich b l o ß ? Für die Kameraden bin ich ein G l J o e mit gewissen Ausgefallenheiten, gerechtfertigt durch die Herkunft aus einem nicht näher zu präzisierenden ,Europe'. Für die Krauts ein typischer Ami oder Amerikadeutscher - alles, nur kein J u d e . " 3 7 Auch Stefan Heym, der 1945 in der Pressegruppe des Schriftstellers Hans Habe nach München kam, betont im Rückblick: „Fest steht, daß er sich damals als Amerikaner fühlte; das gab ihm ein Stück der bitter benötigten inneren Sicherheit . . . Was an ihm deutsch war, und er hoffte, es wäre nicht mehr viel, wurde verdrängt; gerade weil er es nun dauernd mit Deut-

34

35

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"

Dazu G e s p r ä c h e mit Peter Rosenfeld und seiner Schwester H a n n a C o o p e r am 8 . / 9 . 7 . 1 9 8 7 in M ü n c h e n sowie vom 3 0 . 6 . , 1. und 2 . 7 . 1 9 8 9 in Manchester. Dazu G e s p r ä c h mit Walter Feuchtwanger v o m 2 5 . 5 . 1 9 9 0 ; B r i e f von Frank W a l l a c e (ehemals W a l l a c h ) aus Birmingham an mich v o m 4 . 8 . 1 9 8 9 ; B r i e f von G u y Lepman aus Brüssel v o m 1 4 . 3 . 1 9 9 0 sowie von Annemarie M o r t a r a - L e p m a n v o m 2 6 . 3 . 1 9 9 0 . MANN, Wendepunkt ( A n m . 6), 461. Ebd., 189.

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sehen zu tun hatte und fürchtete, daß da verwandte Züge sein könnten in ihrem und seinem Wesen, strebte er nach Distanz." 38 In der gleichmachenden und alle gleichermaßen umschließenden amerikanischen Armee lösten sich also offenbar auch etliche durch Verfolgung und Emigration hervorgerufene Identitätsprobleme - oder sie waren zumindest leichter zu verbergen. Das Untertauchen in einer warmen Gemeinsamkeit für die Sache der Demokratie und der Freiheit verhalf vielen der Isolierten und Ausgestoßenen wenigstens vorübergehend zu neuem Selbstvertrauen. Nach der Besetzung Deutschlands prallten die bisher getrennt diskutierten Positionen aufeinander. Klaus Mann und andere äußerten öffentlich die Forderung 39 , die Deutschen müßten erkennen, daß sie als ein „kollektiver Körper" Schuld auf sich geladen hätten, die nun gesühnt werden müsse. Diese Vorstellung einer Kollektivschuld konnten die vielen, die im Lande unter den Nationalsozialisten gelitten hatten, nur schwer annehmen. Doch zeigen autobiographische Zeugnisse aus diesen Tagen weniger den leidenschaftlichen Protest, als vielmehr „eine Art Muffigkeit, Beleidigtsein", wie es Troller auch für die Reaktion bei der Besetzung beobachtete 40 , einen „böse verbockten Ausdruck", wie es Stefan Heym nennt 41 . Sogar ein Erich Kästner war nicht frei davon, der in seinem Tagebuch das Kriegsende und die ersten Begegnungen mit den Besatzern schilderte 42 . Als ein amerikanisches Team unter der Leitung von Dr. Joseph Dunner Kästner über seine Tätigkeit während der NS-Zeit befragte, empfand er es als „Vernehmung": „Der Wortführer stellte Fragen, als stelle er Fallen, und schrieb meine Antworten in ein Notizbuch ... Er bohrte an mir herum wie ein Dentist an einem gesunden Zahn. Er suchte eine kariöse Stelle und ärgerte sich, daß er keine fand." 4 3 Kästner wollte nicht begreifen, daß das Mißtrauen des Fragers vielleicht doch nicht ganz aus der Luft gegriffen war, bedenkt man den großen Arbeits- und Reisespielraum, den der „verfolgte Dichter" trotz allem genossen hatte. Der in Fürth geborene Dunner jedoch, von dem sich Kästner unter Druck gesetzt fühlte, identifizierte sich ganz mit dem Wiederaufbau des bayerischen Pressewesens und war ein Gegner der Kollektivschuldthese: „Ich kannte das deutsche Volk zu gut, um jene damals in aller Welt verbreitete These zu akzeptieren, die alle Deutschen zu Nazis oder zu nazistischen Mitläufern stempelte ... Ich hatte mich zeit meines Lebens mit jenen Idioten auseinandersetzen müssen Deutschen wie Nichtdeutschen - , die sofort, wenn sie mit irgendeinem Juden schlechte Erfahrungen gemacht hatten, die Schlußfolgerung zogen,

JS

HEYM ( A n m . 6), 3 6 2 .

"

MANN, M i t d e m Blick ( A n m . 6), 117.

40

HEYM ( A n m . 1), 2 2 0 .

41

HEYM ( A n m . 6), 3 6 3 .

42

E. KÄSTNER, Notabene '45, Frankfurt a.M. 1961, 114ff. Ebd., 144 ff.

4J

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daß alle Juden üble Kreaturen seien .. ," 44 . Dunner erklärte sich dezidiert mit dem nicht-nationalistischen, demokratischen Deutschland solidarisch. Obwohl Zionist, hegte er keinen Haß. Kästner hingegen sah bloß den Emigranten in amerikanischer Uniform, von dem er Schlechtes erwartete. Wenn selbst ein Mann wie Kästner den Besatzern mit solchem Mißtrauen entgegentrat, so darf man sich über die ablehnende Haltung derer, die wirklich etwas zu befürchten hatten, kaum wundern. Viel hing wohl von der Kontaktaufnahme ab, von der ersten Erfahrung miteinander und von dem Grad an Verletztheit oder Voreingenommenheit auf beiden Seiten. Hans Habe schreibt dazu in seiner Autobiographie: „Meine Beziehung zu Deutschland, heißt es also, sei von ,Ressentiments' b e s t i m m t . . . Das Lexikon definiert das Ressentiment als den ,meist feindlichen Gefühlsrückstand eines Erlebnisses', und da ich diese Definition für trefflich halte, bin ich keineswegs bereit, mich mit meinen Ressentiments zu verstecken ... Der feindliche Gefühlsrückstand' muß nicht unbedingt ungerecht sein." 45 Habe ergänzt, daß „insbesondere die Juden auf einen f e i n d lichen Gefühlsrückstand' für die nächsten paar Jahrhunderte in der Tat ein menschliches Anrecht besitzen" 46 . Es fehlte jedenfalls in diesen Jahren auf keiner Seite an „feindlichen Gefühlsrückständen", und die wenigsten Emigranten in amerikanischer Uniform empfanden ihre „Heimkehr" als befriedigend 47 . Troller beschreibt dieses Gefühl so: „Ein halbes Jahr war ich nun in München gewesen. Wohlversorgt, beschäftigt und umgeben von Freunden ... Was ging mir ab? ... Was mir fehlte, war das satte Gefühl der Heimkehr. Der Wiederkehr. Des Neuanfangs, ja der Neugeburt ... Zuviel an Sehnsüchtigem hatte sich aufgestaut in der Emigration, als daß dieses bequeme und umworbene Besatzerdasein mich noch zufriedenstellen konnte. Nicht beneidet wollte ich werden, sondern benötigt.. ." 48 . Klaus Mann, Troller, Habe und andere konstatierten überdies eine deutliche Ablehnung der Dagebliebenen gegen die Emigranten 49 . Daß es sich dabei nicht nur um Überempfindlichkeit der Rückkehrer handelte, zeigt ein 1949 gedruckter Bericht über den Münchner Wiederaufbau; mit Blick auf die Entnazifizierungsmaßnahmen des Jahres 1945 stellen die Autoren frohgemut fest: „Das alte Sprichwort, daß der Brei nicht so heiß gegessen wie gekocht wird, bewahrheitete sich auch hier, und schließlich siegte auch im Rathaus die Vernunft über die Haß- und Rachegefühle die-

44

DUNNER ( A n m . 6),

12.

45

H. HABE, Ich stelle mich, M ü n c h e n 1954, 470. 46 Ebd., 471. " MANN, Briefe u n d A n t w o r t e n (Anm. 6), Bd. II, 227; dort eine Beschreibung seiner Wiederb e g e g n u n g mit M ü n c h e n . 48

T R O L L E R ( A n m . 1), 2 3 1 .

Ebd., 230 f; H . HABE, Im J a h r e Null. Ein Beitrag z u r Geschichte der deutschen Presse, München 1966, 92 f.

Das „Emigrantensyndrom"

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ses jungen Captains, der vordem nach Amerika emigriert war." 50 Auch eine Umfrage der amerikanischen Militärregierung von 1947 „Concerning Thomas Mann and others" belegte die tiefsitzende Ablehnung der Einheimischen gegen die mögliche Rückkehr moralisch fordernder Emigranten 51 . Doch vielen Emigranten ging es erst einmal darum, Deutschland einen Besuch abzustatten, um sich selbst ein Bild zu machen oder um sich eine wirtschaftliche Grundlage in Deutschland zu schaffen. Nicht jeder konnte diese Reise risikolos unternehmen. So schrieb Oskar Maria Graf im August 1950 an Wilhelm Hoegner: „Sie wissen gewiß schon, daß mir das hiesige Naturalisierungsbüro für den geplanten Besuch, den ich bereits im Juni in der Heimat machen wollte, das sogenannte Re-Entre-Permit verweigert hat, das heißt also, daß ich nach so einem Besuch nicht mehr nach USA einreisen könnte . . . Ohne aber vorher einen Besuch in Bayern gemacht zu haben, kann ich mich nicht entschließen, ,für ganz' heimzugehen. Schließlich hat man sich (und niemand kann das wohl besser beurteilen als Sie, der alle Bitternisse und Schwierigkeiten des Exils kennen gelernt hat!) mit Mühe und Not hier in New York eine immerhin recht bescheidene Existenz aufgebaut, die man nicht so ohne weiteres aufgeben kann und will, insbesondere da ja die Zukunft, die meine Frau als Jüdin und mich als freien Schriftsteller im jetzigen Deutschland erwartet, ziemlich ungewiß sein dürfte." 5 2 Graf, immer noch staatenlos, war als Kommunist denunziert worden; deshalb konnte er nicht amerikanischer Staatsbürger werden und mit einem normalen Besuchervisum nach Deutschland einreisen. Erst 1958 erhielt er seine amerikanische Staatsbürgerschaft und reiste zur 800-Jahr-Feier der Stadt München nach Deutschland. Wer schließlich einreisen durfte, hatte jedoch im zerstörten Nachkriegsdeutschland noch lange keine Wohnung, keine Zuzugsgenehmigung und keine Arbeitserlaubnis für den gewünschten Zielort. So zog der in Italien lebende Stefan Andres schließlich aus den bürokratischen Schwierigkeiten mit der Münchner Stadtverwaltung die Konsequenzen und siedelte sich im Rheinland an: „Vielleicht hätte ich in München den reicheren menschlichen Anschluß", schrieb er an Wilhelm Hausenstein, „aber ich möchte auch nicht als .Ausländer' innerhalb der deutschen Grenzen angesehen werden." 53 Ein weiterer Berührungspunkt mit der deutschen Bürokratie war gegeben, wenn sich zurückgekehrte oder im Ausland lebende Geschädigte des NS-Regimes um Rückerstattung, Entschädigung oder Wiedergutma50 51

F. OBERMAIER/J. MAUERER, AUS T r ü m m e r n wächst das n e u e Leben, M ü n c h e n 1949, 60. Institut f ü r Zeitgeschichte, OMGUS 1 0 / 1 1 0 - 3 / 2 7 , eine U m f r a g e von E n d e J u n i / A n f a n g Juli 1947.

52

Institut f ü r Zeitgeschichte, N a c h l a ß H o e g n e r , E D 120/43, Brief G r a f s a n H o e g n e r vom 24.8.50. " Zitiert nach M. KRAUSS, Nachkriegskultur in M ü n c h e n . M ü n c h n e r städtische Kulturpolitik 1945-1954, M ü n c h e n 1985, 197.

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chung 54 bemühten. Nach den Rechtsunsicherheiten der ersten Jahre kamen diese Prozesse Anfang der fünfziger Jahre in größerem Umfang in Gang. Noch Mitte der fünfziger Jahre landeten Zahlungen - natürlich bereits zehn zu eins, in Härtefällen fünf zu eins abgewertet - vorerst auf Sperrkonten. Versorgungsbezüge durften ins Ausland nicht bezahlt werden 55 . Rückerstattung „in N a t u r " konnte relativ schnell abgewickelt werden, doch auf Entschädigungszahlungen und Rentenbescheide warteten die Betroffenen oft jahrelang. Die Auslandsanträge blieben dabei meist noch länger liegen als die Forderungen von Geschädigten aus dem Inland; so zeigt eine Statistik vom Mai 1950, zwei Monate nach dem ersten Endtermin für die Anmeldung von Haftentschädigungsansprüchen, unter knapp 120.000 beim Bayerischen Landesentschädigungsamt eingegangenen Anträgen auch nahezu ein Viertel Auslandsforderungen. Etwas über 10.000 Anträge waren in Bearbeitung genommen worden, darunter nur rund 50 Auslandsanträge 56 . Auch gut zehn Jahre später blieben immer noch viele Forderungen unerfüllt 57 . Ob das Zögern gegenüber den Auslandsanträgen noch andere Gründe hatte, ist schwer zu sagen. Jedenfalls erschien in der Süddeutschen Zeitung im März 1949, offenbar mit Billigung des Bayerischen Landesamtes für Vermögensverwaltung, ein Artikel zur Wiedergutmachung, in dem recht merkwürdige Ansichten zu diesem Thema vertreten wurden. So ist dort davon die Rede, man unternehme auf Befehl der Militärregierung den Versuch, „eine Entwicklung, die sich im Rahmen eines geschichtlichen Prozesses abgespielt habe, wieder rückgängig zu machen" - Raub und Völkermord als simple „historische Entwicklung"? Im Resümee des Artikels heißt es, die Auswirkungen einer solchen Rückerstattung auf die Volkswirtschaft seien bedenklich, da man „nach oft mehr als 15 Jahren gewisse Teile aus der Wirtschaft" löse. Ihre Vereinnahmung hatte keine solchen Bedenken bewirkt. 90 Prozent der Ansprüche, so befürchtete 54

Zur Gesamtproblematik: Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, hg. von L. H E R B S T / C . GOSCHLER, M ü n c h e n

55

1 9 8 9 ; C . GOSCHLER, W i e d e r g u t m a c h u n g .

M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n v o m 12.5.53 u n d M A N o r d r h e i n - W e s t f a l e n v o m 10.3.47. 56

57

Westdeutsch-

land und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945-1954, München 1992. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 114 247, Schreiben Justizrat Pflegers an den 114242, Schreiben des I n n e n m i n i s t e r i u m s

von

Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, ED 120/83, Statistik zum 23.5.50, Anlage zum Schreiben Auerbachs an Hoegner vom 24.5.50. Auf eine besorgte Anregung von Nahum Goldmann, dem Vorsitzenden der jüdischen „Claims Conference", legte das bayerische Finanzministerium Mitte 1961 die neuesten Zahlen zur Wiedergutmachung vor: Ende 1960 waren von knapp 340000 Anträgen rund zwei Drittel erledigt; aus dem Ausland kamen etwa 200000, von denen noch über 75000 unerledigt geblieben waren. Gesundheitsschäden, für die oft Renten zu genehmigen waren, bildeten davon die größte Gruppe, die fast 80 000 einmaligen Ausgleichszahlungen für Haftentschädigung waren weitgehend erledigt. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 114 241, Bericht des Finanzministeriums, Staatssekretär Franz Lippert, vom 31.5.61, Anlage 17. Außerdem dazu H. G. LEHMANN, Wiedereinbürgerung, Rehabilitation und Wiedergutmachung nach 1945. Zur Staatsangehörigkeit ausgebürgerter Emigranten und Remigranten, in: Exil und Remigration (Anm. 3), 90-103, bes. 100.

Das „Emigrantensyndrom"

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man in diesem Artikel, kämen aus dem Ausland, aus Amerika, Palästina, Australien und Südamerika. „Wenn dieses Gesetz konsequent durchgeführt wird, rechnet man damit, daß ein sehr hoher Prozentsatz der bayerischen Wirtschaft in ausländische Hände übergehen wird." 58 Oberregierungsrat Bachmann aus dem Innenministerium empörte sich in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten darüber, daß dieser Artikel unwidersprochen geblieben sei: „Die Tendenz dieser Veröffentlichung besagt weiter gar nichts, als daß es dem Schreiber dieses Artikels oder dessen Informanten offenbar unangenehm ist, wenn das gestohlene Eigentum wieder in die Hände derer oder deren Erben zurückkommt, die ein Recht auf dasselbe haben. Daß diese früheren Eigentümer gezwungen wurden, um ihr Leben zu erhalten ins Ausland zu flüchten, sofern ihnen das noch möglich war ... erscheint also dieser sogenannten Wiedergutmachungsbehörde als ein schwerer Fehler. Man erklärt, es wäre für die bayerische Wirtschaft besser, wenn alles so bliebe wie es i s t . . ."59. Artikel der oben zitierten Art trugen nicht dazu bei, die in- und ausländischen Besorgnisse zu beseitigen. Hier sah man wiederum einen deutlichen Beweis dafür, daß die versprochene Wiedergutmachung eben doch nur ein Diktat der Besatzungsmächte war, dem sich die Deutschen widerwillig und mit Ausflüchten beugten. In vielen Fällen setzte sich der ehemalige Emigrant und bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner selbst für eine reibungslose Abwicklung solcher Verfahren ein. Doch manchmal half auch dies nichts: Dem Rechtsanwalt Philipp Löwenfeld, dessen Rückkehr Hoegner bereits bei seinem Antritt als Ministerpräsident gewünscht hatte 60 , gelang es nicht, eine Ausgleichszahlung für den Unterwertverkauf seines Münchner Hauses zu erzielen 61 . Diese Ausgleichszahlungen gehörten offenbar zu den Schwachstellen des Entschädigungsgesetzes, das die „Rückerstattung in Natur" begünstigte. Diese funktionierte auch meist problemlos. Ein Beispiel: Constanze Hallgarten erhielt nicht nur ihr Münchner Haus in der Pienzenauerstraße 15 zurück, man verrechnete sogar die ursprüngliche Grundschuld gegen den Verlust der Möbel, da sie bei ihrem Anspruch über die „volle Unterstützung der amerikanischen Behörden" verfügte und ihr Sohn Georg Wolfgang Hallgarten als Gastprofessor in München erwartet wurde. Deshalb empfand man eine Verzögerung der Rückerstattung als „politisch unweise" 62 . Ähnlich ging das Verfahren aber auch in 58

Süddeutsche Zeitung vom 5.3.49. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 114 264, Brief vom 30.3.49. 60 H. MEHRINGER, Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München-London-New York-Paris 1989, 262. " Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, ED 120/53, Korrespondenz Hoegner-Löwenfeld. 62 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 114 264, Landesamt für Wiedergutmachung an die Staatskanzlei vom 27.12.48 und MA 114 247, Aufzeichnung vom 22.7.49. 59

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vielen weniger prominenten Fällen vor sich 63 . Das Beispiel Philipp Löwenfeld macht jedoch noch einmal exemplarisch das ganze Spektrum des „Emigrantensyndroms" sichtbar. Löwenfeld hatte sein Haus ursprünglich ebenfalls zurückfordern wollen, um es Hoegner zu schenken; dieser lehnte das aus politischen Gründen ab, woraufhin Löwenfeld eine Ausgleichszahlung anstrebte, um das Geld notleidenden deutschen Freunden zur Verfügung stellen zu können. Das Haus stand einstweilen unter Treuhandverwaltung und der damalige Käufer bemühte sich um eine Freigabe - mit der Begründung, der Verkauf des Jahres 1933 sei freiwillig und ohne Zwang erfolgt, eine Auffassung, der Löwenfeld mit einer genauen Schilderung des Entziehungsvorganges widersprach. In den Jahren 1949/50 wurde der Fall dann zum regulären Rechtsstreit: Die Verteidigung des damaligen Käufers nahm eine Anwaltskanzlei wahr, deren einer Teilhaber in enger Verbindung zu rechtsnationalen Kreisen gestanden hatte. Auf Löwenfelds diesbezüglichen Einwand hieß es im Schriftsatz der Kanzlei in bewährter Weise 64 : „Im übrigen hat der Antragsteller die Zeiten des sogenannten 3. Reichs im Inland nicht erlebt und kann sich daher auch kein zutreffendes Urteil über den während dieser Zeit gegenüber jedermann herrschenden Zwang und Terror anmaßen." Eine enthüllende Stellungnahme für die Haltung der deutschen Justiz! Anfang Mai 1950 fand die Verhandlung des Kassationsgerichts in München statt. Ohne Löwenfeld zu hören, bestätigte das Gericht dem damaligen Käufer, der noch in einem Spruchkammerverfahren der ersten Jahre ganz anders eingeschätzt worden war, er sei trotz Parteimitgliedschaft ein „ausgesprochener Gegner des NS-Systems" gewesen und habe dadurch erhebliche Nachteile gehabt. Das Anwesen sei zum „wertentsprechenden Preis" verkauft worden, und dies im Einvernehmen mit „dem jüdischen Eigentümer, der sofort nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus in die Schweiz emigriert war" 65 . Hoegner schickte Löwenfeld diesen Bescheid: „Ich verspreche mir bei dieser Einstellung, bei der man alle Hoffnung fahren lassen muß, von einem Gegengutachten nichts mehr. Immerhin werde ich es beantragen, wenn Du noch Lust haben solltest, Dich mit dieser Angelegenheit in einem renazifizierten Deutschland weiter zu ärgern." Löwenfeld antwortete: „Weit davon entfernt, mich über eine solche ,Justiz' zu ärgern, sehe ich sie als ein soziologisch völlig verständliches Symptom der absoluten Unbelehrbarkeit an, mit der ein großer Teil des deutschen Richtertums " Dazu z.B. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 114 247, Finanzministerium an den Landtag vom 30.9.57, z.B. der Fall Steinberg-Heilmann. 64 Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, ED 120/53, Schriftsatz vom 3.1.50, 2; zu den vorherigen Vorgängen ebd., z.B. Schreiben Löwenfelds an Hoegner vom 14.11.46 oder Schilderung für den Treuhänder vom 10.9.47. 65 Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, ED 120/53, Beschluß des Kassationsgerichtshofs vom 5.5.50.

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von jeher auf das falsche Pferd gesetzt hat. Angesichts des feigen Zurückweichens dieser Richter vor Adolf in der ersten Zeit nach dem ,Umbruch' hatte ich meinen Leuten geschrieben: ,Nie wieder Deutschland'. Ich bin glücklich, daß es hierbei sein Bewenden hat und daß mich die moralische Haltung der Gegenpartei und der Behörden in dieser Angelegenheit meinen Entschluß keine Sekunde bedauern läßt. Den ,Seitenhieb' des sogenannten Kassationshofes betreffend meine ethnische Zugehörigkeit und meine Emigration betrachte ich als einen jener Dreckspritzer, die eine nicht zu wichtige Illustration des Vorstehenden darstellen. Daß es - selbstverständlich - unnötig war, einen emigrierten Juden zu hören, bevor man mißbräuchliche Feststellungen machte, liegt auf derselben Linie. Es kommt auf ein bißchen mehr oder weniger Dreck nicht an." 66 An die Wiedergutmachungskammer schrieb er daher: „Ich bin glücklich, daß mich die Staatsbürgerschaft eines freien Gemeinwesens ... der Verpflichtung enthebt, gegen eine solche Art von Rechtssprechung anzukämpfen ... Ich würde keinen Wert darauf legen, es [das Recht; M. K.] vor einer alliierten Beschwerde-Instanz zu finden, denn ich habe dieses Verfahren sozusagen aus naturwissenschaftlichen Gründen eingeleitet, um zu sehen, wie es in einer persönlichen Sache mit den deutschen Behörden und Gerichten steht. Unter den gegebenen Umständen möchte ich nicht wünschen, daß sich die Wiedergutmachungskammer noch mit der Zurückweisung meines Antrages beflecke und ziehe deshalb meinen Wiedergutmachungsantrag hiermit zurück." 67 Gerade die Emigranten, die ihrer alten Heimat gegenüber meist in keinem ungebrochenen Verhältnis standen, konnten die bürokratische und unsensible Vorgehensweise der Justiz nur schwer verkraften. Ihnen ging es darum, den Respekt vor ihrer Heimat wiederzugewinnen, wenn nicht gar eine verlorene Liebe. Dabei mußten sie wohl notwendig scheitern; doch die Erbitterung gegenüber dem Staat, der eben doch in weiten Teilen der alte geblieben war - zumindest, soweit es Verwaltung und Justiz betraf wurde von ihnen als sehr schmerzlich empfunden. Selbst Wilhelm Hoegner, ein Musterbeispiel für erfolgreiche Integration und für erneuerte politische Teilhabe, verzweifelte immer wieder an diesem Staat, den er mitvertreten mußte. So äußerte er bereits 1947 seine Skepsis gegenüber der Nachkriegsgesellschaft in einem Geburtstagsgruß für Philipp Löwenfelds und seinen eigenen 60. Geburtstag - beide feierten ihn am selben Tag: „Die W e l t . . . ist auch durch die furchtbaren Schläge von zwei Weltkriegen nicht klüger geworden. Der einzelne müht sich vergebens ab, seinen Zeitgenossen klar zu machen, daß sie nur auf dem Wege der gegenseitigen Duldung, Gerechtigkeit und Menschlichkeit weiter kommen können. " Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, E D 120/53, Schreiben Hoegners an Löwenfeld vom 29.5.50 und Löwenfelds an Hoegner vom 8.6.50. 67 Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, E D 120/53, Löwenfeld an die Wiedergutmachungskammer, 8.6.50.

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Aber das deutsche Volk war von Ausnahmen abgesehen wohl nie so dumm und bösartig wie jetzt. Das verleidet einem den Kampf, zumal man schließlich kein Gott ist, um Blitze oder Dreizack schleudern zu können." 68 Selbst eine gelungene Heimkehr und umfängliches politisches Wirken beseitigte eben nicht die Mängel einer Gesellschaft, die zwölf Jahre Nationalsozialismus geduldet hatte.

" Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Hoegner, ED 120/53, Brief vom 30.8.47.

Horst Möller Charles de Gaulle und die deutsche Frage: Bemerkungen zu Tradition und Wandlung geostrategischen Denkens Wie hätte General de Gaulle am 9. November 1989 reagiert? Hätte ihn die politische Entwicklung in der DDR, in Osteuropa überrascht, welche politische Antwort hätte er auf die sich seit dem Winter 1989/1990 abzeichnende, sich immer stärker beschleunigende Wiedervereinigung gegeben? Solche Fragen erscheinen dem Historiker spekulativ, sind es natürlich auch - jedenfalls bis zu einem gewissen Grade. Doch darf selbst der Historiker solche Fragen mit Aussicht auf eine zutreffende Antwort stellen, wenn es sich um eine Persönlichkeit wie Charles de Gaulle handelt. Warum? Wie alle Politiker war auch der General gezwungen, politische Kompromisse zu schließen, tagespolitische Erwägungen zu berücksichtigen, zu taktieren, wie bei allen bedeutenden Staatsmännern erschöpfte sich seine Politik darin aber nicht, sondern wies über den Tag hinaus, besaß historisch weitreichende Dimensionen - in der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit ebenso wie in der Perspektive der Zukunft. Besaß de Gaulle „une certaine idée de la France", so kaum minder une certaine idée de l'Europe et de l'Allemagne. War de Gaulle als Staatsmann ein in weiten historischen Bezügen denkender Programmatiker, so als Politiker ein realistischer Pragmatiker. Darüber täuscht nur die Tatsache hinweg, daß es ihm bemerkenswert oft gelang, die Wirklichkeit nach seiner Konzeption zu gestalten: So vermittelte er 1940 bis 1944 politischen Partnern und Anhängern die eigene Überzeugung, daß er das eigentliche, das freie Frankreich repräsentiere, und überzeugte 1958 die überwältigende Mehrheit der Franzosen einschließlich zahlreicher Repräsentanten der bekämpften IV. Republik davon, daß nur er Frankreich aus der schwersten politischen Krise seit dem Krieg retten könne, dies aber nur tun werde, wenn er mit allen „Vollmachten" versehen nach seinen politischen Vorstellungen verfahren könne. Andererseits scheute sich General de Gaulle nie, die Konsequenzen zu ziehen, wenn er für seine Politik keine ausreichende Basis mehr sah; so trat er 1946 und 1969 zurück. Nach seinem zweiten und endgültigen Rückzug aus der Politik hinterließ er Frankreich die stabilste Verfassungsordnung seit der Revolution von 1789. Damit erreichte er eine weitgehende

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Aussöhnung über die Grundprinzipien der politischen Ordnung, die der mehr als eineinhalb Jahrhunderte währenden - wenn auch epochal unterschiedlich akzentuierten - heftigen Auseinandersetzung zwischen der Linken und der Rechten ihre fundamentale Dimension nahm. Seit 1958 reduzierte de Gaulle sie in der praktischen Politik mehr und mehr auf das normale Gegenüber von Regierung und demokratischer Opposition. Wie in der Innenpolitik verband er auch in der Außenpolitik traditionales Denken mit einer sensiblen Reaktion auf gegenwärtige Veränderungen und dem Blick auf künftige Probleme. Dieses politische Grundmuster begegnet auch in seiner Deutschlandpolitik, die in realistischer Bewertung der jeweiligen historischen Konstellation Wandlungen unterlag, innerhalb dieser epochalen Akzentuierungen aber außerordentliche historische Konsequenz besaß: Aus diesem Grunde wäre er 1989 wohl weniger als die meisten Politiker von der mittel- und osteuropäischen Entwicklung überrascht worden. Tatsächlich lag diese Entwicklung immer in der Perspektive seiner Politik. Und vieles spricht dafür, daß er auch die Vereinigung Deutschlands in der nun sich abzeichnenden Form bejaht hätte, weil er sie nicht allein als hundertfach wiederholtes Lippenbekenntnis deutscher und westalliierter Politik seit 1949 betrachtete, sondern als historische Notwendigkeit: Ihre Realisierung knüpfte er allerdings im Interesse Frankreichs und Europas an bestimmte Bedingungen. Diesg von ihm wiederholt formulierten Bedingungen sind heute tatsächlich erfüllt. In der Pressekonferenz vom 25. März 1959 findet sich der Kern seiner deutschlandpolitischen Perspektive: „La réunification des deux fractions en une seule Allemagne qui serait entièrement libre nous paraît être le destin normal du peuple allemand, pourvu que celui-ci ne remette pas en cause ses actuelles frontières à l'ouest, à l'est, au nord et au sud, et qu'il tende à intégrer un jour dans une organisation contractuelle de toute l'Europe pour la coopération, la liberté et la paix". Bis dieser Idealzustand allerdings erreichbar sei, sollten die Deutschen in beiden Teilen ihre Beziehungen in allen praktischen Bereichen vervielfachen, um das zu erhalten, was ihnen trotz aller Unterschiede der Regime und der Lebensbedingungen letztendlich gemeinsam sei, nämlich „das Deutsche". Diese „Politik der kleinen Schritte" und der „menschlichen Erleichterungen" betrieben seit 1966 die Regierungen der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und ab 1969 Willy Brandt. Die faktische, wenngleich erst nach der Vereinigung völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der künftigen Grenzen - im wesentlichen natürlich der Oder-NeißeGrenze - sowie die zunächst einmal (west)europäische Integration auch des wiedervereinigten Deutschland war von jeher das Ziel der Bundesregierung Konrad Adenauers und seiner Nachfolger. Die allmähliche Aushöhlung der kommunistischen Diktaturen Osteuropas, auch derjenigen in der Sowjetunion, sah der General ebenfalls voraus, weil er annahm, daß die Völker Osteuropas sich nicht dauerhaft unter

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die sowjetisch-kommunistische Diktatur beugen würden. Grund dieser Einschätzung war, daß er Frieden und wirtschaftliches Wohlergehen als eigentliche Sehnsucht auch der Völker Osteuropas ansah, beides aber durch die kommunistische Herrschaft nicht zu gewährleisten sei. Vor allem aber beurteilte der General die Nationalitäten keineswegs als überwundene Größen, im Gegenteil: Insofern hätte ihn auch das Wiederaufleben jahrzehntelang unterdrückter nationaler Autonomiebestrebungen in Osteuropa nicht überrascht, weil sie in seinen Augen historisch selbstverständlich und legitimiert blieben. Indem er stärker als die meisten Staatsmänner seiner Zeit von der fortdauernden Bedeutung der Nationen überzeugt war, mußte ihm die Wiedervereinigung Deutschlands, ob wünschbar oder nicht, als die historisch unausweichliche Lösung des deutschen Problems erscheinen. Die Entwicklung nationaler Autonomiebestrebungen in Osteuropa erschien ihm nicht allein vom Ausmaß sowjetischer Unterdrückung abhängig, sondern zugleich vom Gefühl deutscher Bedrohung. Erschiene die deutsche Gefahr für die osteuropäischen Staaten gebannt, so läge darin sowohl eine Voraussetzung für die Lockerung des sowjetischen Satellitensystems als auch der Möglichkeiten der Wiedervereinigung. Seien die Grenzen und die Sicherheit gewährleistet und außerdem sichergestellt, daß die Deutschen nicht in den Besitz (und zur Fabrikation) von Atomwaffen gelangten, sah es General de Gaulle als notwendig an, daß Deutschland „fasse partie intégrante de la coopération organisée des États, à laquelle je vise pour l'ensemble de notre continent. Ainsi serait garantie la sécurité de tous entre l'Atlantique et l'Oural et crée dans la situation des choses, des esprits et des rapports un changement tel que la réunion des trois tronçons du peuple allemand y trouverait sans doute sa chance". Diese Einschätzung aus den „Mémoires d'espoir" (1970) war von keiner tagespolitischen Rücksicht de Gaulies diktiert, sondern entsprach der gesamten Perspektive seiner Politik, zu der auch diese damals kaum ernstgenommene, heute durchaus nicht mehr unrealistische Vision einer Einheit Europas vom Atlantik bis zum Ural gehörte. Denn ging Charles de Gaulle auch immer von der fortbestehenden nationalen Vielfalt aus, so doch zugleich von der historisch gewachsenen, kulturellen, religiösen und mentalen Einheit oder doch Verwandtschaft der europäischen Völker. „Pour moi j'ai, de tous temps, mais aujourd'hui plus que jamais, ressenti ce qu'ont en commun les nations qui la peuplent. Toutes étant de même race blanche, de même origine chrétienne, de même manière de vivre, liées entre elles depuis toujours par d'innombrables relations de pensée, d'art, de science, de politique, de commerce, il est conforme à leur nature qu'elles en viennent à former un tout, ayant au milieu du monde son charactère et son organisation". Dank dieser Bestimmung Europas habe es seit den römischen Kaisern, seit Karl dem Großen, Karl V. und

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Napoleon - ja in gewisser Weise sogar bei Hitler - immer wieder Versuche zur Sammlung der Europäer gegeben. Doch „l'arbitraire centralisation provoqua toujours, par choc en retour, la virulence des nationalités. Je crois donc qu'à présent, non plus qu'à d'autres époques, l'union de l'Europe ne saurait être la fusion des peuples, mais qu'elle peut et doit résulter de leur systématique rapprochement". Diese systematische Annäherung konnte auf der Basis gemeinsamer historischer Herkunft und Kultur im Sinne de Gaulles nur ein Ergebnis rationaler und kalkulierter Politik souveräner Staaten sein. Denn an der Souveränität Frankreichs ließ der General nicht rütteln, und das bedeutete zugleich, die Souveränität der anderen Staaten zu akzeptieren. Aus dieser Überzeugung Charles de Gaulles resultierte die in der klassischen frühneuzeitlichen Doktrin der Staatsräson wurzelnde unerschütterliche Überzeugung, daß Staaten wohl gemeinsame Interessen haben können, nicht aber Freunde. Und hieraus folgte zwangsläufig, daß die oberste Maxime seiner Politik das Interesse der französischen Nation war und alle anderen Bereiche diesem geheiligten Interesse Frankreichs untergeordnet werden sollten, selbstverständlich auch seine Europa- und seine Deutschlandpolitik. Diese Superiorität französischer Interessen hat de Gaulle auch nie verhehlt. So erklärte er in seiner Pressekonferenz am 15. Mai 1962, zu den wesentlichen Zielen der französischen Politik gehöre „contribuer à construire l'Europe dans les domaines de la politique, de la défense et de l'économie de telle sorte que l'expansion et l'action de cet ensemble aident à la prospérité et à la sécurité françaises et, en même temps, fassent renaître les possibilités d'un équilibre européen vis-à-vis des pays de l'Est". Die gelegentlich bemerkbare Widersprüchlichkeit seiner Politik und die Überraschungen, die sie für Anhänger wie Gegner stets barg, erklären sich aus diesem Spannungsverhältnis zwischen langfristigen Prinzipien und den epochalen Wandlungen, die situationsbedingte Entscheidungen verlangten. Doch auch die historisch durchaus angemessene Akzeptanz von Vielheit und Einheit Europas, die dezidierte Betonung der eigenen nationalstaatlichen Souveränität, nicht als Herrschaftslegitimation über andere Völker, sondern als Grundkategorie zwischenstaatlicher Beziehungen überhaupt, erlaubt zwar eine stärkere Akzentuierung nationaler Interessen, enthält jedoch notwendigerweise zugleich die Begrenzung dieser eigenen Interessen durch diejenigen anderer Staaten. Kann man mit solchen grundlegenden Prinzipien Politik machen oder sind sie viel zu abstrakt? Man kann es, und General de Gaulle hat es bewiesen, entscheidend ist die Sensibilität gegenüber Veränderungen historischer Konstellationen und die Flexibilität im politischen Alltag. Der General konnte die grandiose Leistung der Kolonialreiche, insbesondere natürlich des französischen, rühmen und zugleich aus der Einsicht in die offenbar zwangsläufige Dekolonialisierung den für Frankreich so schmerzlichen Weg gehen und - zur großen Überraschung vieler seiner

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Anhänger - Algerien in die Unabhängigkeit entlassen. Und so konnte de Gaulle am Ende des Krieges und unmittelbar danach die Zerstörung des Deutschen Reiches, das durch die nationalsozialistische Diktatur auf abscheulichste Weise pervertiert worden war, betreiben und doch seinen wirtschaftlichen Wiederaufbau wünschen, aus dem Frankreich Nutzen ziehen könne. Dieser dann in letzter Konsequenz konstruktiven Überlegung seiner wirtschaftspolitischen Ratgeber verschloß sich de Gaulle auch in den frühen 1940er Jahren nicht, als bei ihm verständlicherweise deutschfeindliche Urteile dominierten. Und so konnte schließlich seit 1958 aus Charles de Gaulle, der im Bewußtsein deutsch-französischer „Erbfeindschaft" die ersten Jahrzehnte seines Lebens verbracht hatte, mit Konrad Adenauer einer der entscheidenden Baumeister deutsch-französischer Aussöhnung werden. Auch mit dieser Entwicklung hatten nur wenige gerechnet, am allerwenigsten wohl Konrad Adenauer, der mit Zögern und Bedenken zur legendären und für die späteren engen persönlichen Beziehungen beider Staatsmänner so folgenreichen und fruchtbaren ersten Begegnung am 14. September 1958 nach Colombey-les-deux-Églises fuhr und von Charles de Gaulle in seinem Landsitz empfangen wurde: als einzigem ausländischen Staatsmann erwies der General dem deutschen Bundeskanzler diese Ehre, die kein Protokoll vorsieht. Zu den Konstanten der Deutschlandpolitik de Gaulles gehörten von jeher geostrategische Überlegungen ; sie resultierten nicht allein aus der beruflichen Perspektive des Generals, sondern aus einer in Frankreich länger als in Deutschland dominanten Denktradition, für die sich auch in der Historiographie viele Beispiele finden: Hier gehört die Erfahrung des Raumes stets zu den konstitutiven Faktoren der historischen Entwicklung. So erklärte de Gaulle am 15. Mai 1962 über die gemeinsame Bestimmung „des Gaulois et des Germains": „De cette solidarité dépend la sécurité immédiate des deux peuples, et il n'y a qu'à regarder la carte pour en être convaincu." Im Guten wie im Bösen hingen nach der Überzeugung de Gaulles die Sicherheit Frankreichs und Deutschlands in Geschichte und Gegenwart voneinander ab. So bemerkte er am 3. Juli 1962: „En vérité, l'Allemagne et la France, en cherchant à s'imposer réciproquement leur domination pour l'étendre ensuite à leurs voisins, poursuivaient chacune pour son compte, le vieux rêve de l'unité qui, depuis vingt siècles, hante les âmes de notre continent ... Mais le prodige de notre temps est que, chacune renonçant à dominer l'autre, toutes deux ont discerné ensemble quel était leur devoir commun. Tout en prenant conscience de l'inanité de leurs luttes, elles sont portées l'une vers l'autre par les conditions mondiales où elles se trouvent désormais placées." Diese historische Einschätzung war weit realistischer als das auch bei de Gaulle anzutreffende politische Selbstverständnis der französischen Elite, die Deutschen seien dreimal hintereinander - 1870/71, 1914 und 1940 - in Frankreich eingefallen und jedesmal der Aggressor gewesen. So berichtet

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Charles de Gaulle in den „Mémoires d'espoir", er habe Konrad Adenauer 1958 in Colombey vorgeschlagen, in den deutsch-französischen Beziehungen einen neuen Anfang zu machen: „La France, après les terribles épreuves dechaînées contre elle, en 1870, en 1914, en 1939, par l'ambition germanique, voit en effet en Allemagne vaincue, démantelée et réduite à une pénible condition internationale, ce qui change du tout les conditions de leurs rapports en comparaison du passé". In der Tat begründete diese historische Sicht die französische Angst vor der deutschen Gefahr, das französische Sicherheitsstreben ebenso wie seine Furcht vor der ökonomischen Überlegenheit. Und Konrad Adenauer ging von der alle deutschlandpolitischen Überlegungen Frankreichs leitenden Realität dieser Angst vor der deutschen Gefahr aus, ohne offenbar auf die von de Gaulle gezogene historische Parallele einzugehen. Adenauer selbst sprach in diesem Zusammenhang lediglich von den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur, soweit es die Darstellung im dritten Band seiner „Erinnerungen" erkennen läßt. In der Tat bildete die deutsche Besetzung Frankreichs 1940 bis 1944 und all ihre schrecklichen Folgen für die französische Bevölkerung den berechtigten Kern der französischen Befürchtungen gegenüber Deutschland. Zu diesem Geschichtsbild gehörte auch bei de Gaulle die Einschätzung, die Verständigungspolitik Aristide Briands habe offenbar auf einer Illusion beruht, der Versailler Friedensvertrag sei gegenüber Deutschland zu nachsichtig gewesen, oder doch zumindest nicht mit aller Härte konsequent genug durchgeführt worden. Die schreckliche Erfahrung nationalsozialistischer Fremdherrschaft prägte und prägt in Frankreich noch immer auch die Perzeption der beiden vorangegangenen Kriege. Diese französische Sicht scheint ihre zusätzliche Berechtigung darin zu finden, daß tatsächlich die drei letzten deutsch-französischen Kriege auf französischem Boden geführt wurden und so der Eindruck des Einfalls der Deutschen entstehen konnte. Doch tatsächlich rechtfertigt dies noch nicht, in allen drei Fällen von einem „par l'ambition germanique" verursachten Krieg zu sprechen. Der Krieg zwischen Frankreich auf der einen, Preußen und weiteren deutschen Einzelstaaten auf der anderen Seite folgte einer Kriegserklärung Frankreichs, die Bismarck zwar diplomatisch provoziert hatte, doch bildete sein diplomatischer Affront keineswegs die eigentliche Kriegsursache: Sie lag einerseits in der französischen Innenpolitik, weil der Krieg zur Stärkung des bonapartistischen Regimes instrumentalisiert werden sollte, andererseits in der französischen Außenpolitik, weil Frankreich die Entstehung eines deutschen Nationalstaats verhindern wollte. War es auch verständlich, daß Frankreich eine deutsche Großmacht als bedrohlich empfand, so lag in seiner Politik gleichwohl ein Eingriff in innerdeutsche Angelegenheiten vor, Bismarck seinerseits benutzte den Krieg zur Schaffung der nationalen Einigung: Von einem deutschen Angriff auf Frankreich kann also 1870 keine Rede sein.

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Die Ursachen des Ersten Weltkriegs sind bekanntlich viel komplizierter u n d k ö n n e n in diesem Zusammenhang nicht eingehend diskutiert werden, doch trifft auch hier das erwähnte Geschichtsbild nicht zu. Zweifellos trifft die deutsche Reichsregierung eine Mitschuld, vielleicht sogar die Hauptschuld, keineswegs aber eine Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Tatsächlich waren, wie es R a y m o n d Poidevin formuliert hat, die Regierungen der europäischen Staaten geradezu von einer Kriegspsychose ergriffen. Und nicht allein die Deutschen hatten maßlose Kriegsziele. Die wirtschaftlichen Komponenten der Kriegsziele - die aber nicht mit den Kriegsursachen gleichzusetzen sind - der am Krieg beteiligten Mächte, auch diejenigen Frankreichs, hat jüngst Georges-Henri Soutou eindrucksvoll herausgearbeitet. Unter den letzten drei deutsch-französischen Kriegen ging also tatsächlich nur der letzte, der Krieg Hitlers, auf eine deutsche Alleinschuld zurück, die stalinistische Sowjetunion hat den Krieg mit ermöglicht. Und der Zweite Weltkrieg war der grauenhafteste und mörderischste der Kriege: Er allein rechtfertigt dann auch die heftigen antideutschen Reaktionen in den 1940er Jahren. Allerdings beteiligte sich de Gaulle daran als Regierungschef bis 1946 und danach als Oppositionspolitiker in unterschiedlichem G r a d e : Ein Oppositionspolitiker ist nicht gezwungen, seinen Reden Taten folgen zu lassen, er kann sich seismographisch stärker Stimmungen in der Bevölkerung zunutze machen, ohne sogleich ihre Konsequenzen tragen zu müssen. Noch vor Kriegsende hatte General de Gaulle in einer R u n d f u n k a n sprache am 5. Februar 1945 erklärt, daß künftig jeder Angriff Deutschlands auf Frankreich unmöglich gemacht werden müsse und sich daraus die französischen Friedensbedingungen ergeben: ,,Je puis préciser, une fois de plus, que la présence définitive de la force française d'un bout à l'autre du Rhin, la séparation des territoires de la rive gauche du fleuve et du bassin de la Ruhr de ce qui sera l'État ou les États allemands, l'indépendance des nations polonaise, tchécoslovaque, autrichienne, balcanique . . . sont les conditions que la France juge essentielles". An dieser Äußerung, die natürlich durch die unmittelbare Kriegserfahrung begründet war, ist nicht allein bemerkenswert, d a ß der General die Österreicher als eine Nation betrachtete, sondern außerdem einer klassischen Doktrin französischer Außenpolitik folgend, eine Abtretung deutscher Territorien auf linksrheinischem Gebiet verlangte. Das Ruhrgebiet, von jeher Ausdruck deutscher Wirtschaftsmacht u n d schwerindustriell-militärischer Produktion, wollte er Frankreich eingliedern, dies hätte zugleich mit der wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands eine wirtschaftliche Stärkung Frankreichs gebracht. Natürlich standen solche Überlegungen auch in der Tradition der französischen Deutschlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Noch weiter ging der General, als er gegenüber der französischen Presse am 12. Oktober 1945 sagte, er wolle niemals mehr ein Deutsches Reich se-

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hen: Auf diese Weise formulierte er seine Opposition gegen gemeinsame Staatssekretariate für alle Besatzungszonen in Deutschland. Die Begründung liefert der General am 28. Juli 1946 in Bar-le-Duc: „Quelles que soient ses épreuves, l'Allemagne demeure l'Allemagne, c'est-à-dire un grand peuple, massivement installé au coeur de l'Europe, qui dans l'abîme se souvient des sommets, et que le démon de la guerre pourrait encore tenter un jour si la chance lui était donnée de retrouver sa grandeur en conjuguant son ambition avec celle de quelqu'un d'autre ... il ne suffit pas d'empêcher qu'elle ne soit directement menaçante, il faut encore faire en sorte qu'elle ne puisse être ni tentatrice, ni tentée." Einige Monate später jedoch, am 3. Oktober 1946, hielt der General in Saarbrücken eine Rede, in der er vorschlug, Franzosen und Deutsche sollten einen Strich unter ihre Vergangenheit ziehen und im Bewußtsein, daß beide Völker Europäer seien, einen neuen Anfang machen. Am Ende der 1940er Jahre schien für Charles de Gaulle klar, daß Deutschland, in welcher Form auch immer, ob in Form einzelner Länder oder einer künftigen deutschen Föderation, Teil einer künftigen Organisation Europas sein würde: Die Lösung des deutschen Problems sah er jahrzehntelang als entscheidendes Problem europäischer Politik, ja sogar der Weltpolitik an. So erklärte er am 17. November 1948, es sei „possible, non pas, bien entendu, en donnant à l'Allemagne la forme traditionelle d'une fédération d'États, lesquels entreraient, sans épouvanter personne, dans l'Union européenne dont la France ferait partie, car ne vous figurez pas que si le Reich reparaît avec sa puissance et ses ambitions, la France, quelle qu'elle soit, puisse faire alors partie sans arrière-pensée d'une Union européenne qui se constituera forcément autour de ce Reich". Zu diesem Zeitpunkt strebte de Gaulle an, die Sicherheit - und die Dominanz Frankreichs über Deutschland - durch die Stärkung der partikularen Strukturen Deutschlands zu erreichen. Bei einer „fédération d'États" dachte er nicht an einen deutschen Bundesstaat, sondern eben an einen Staatenbund. In dieser Hinsicht befand er sich damals in der Tradition französischer Deutschlandpolitik vom Westfälischen Frieden bis zu Napoleon III., die in französischen Tendenzen zur Separierung oder Autonomisierung westlicher Regionen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg wieder auflebte. Und es fällt auf, daß er am 1. Oktober 1948 in Paris, unter den deutschen Ländern, die jedes für sich oder in Form einer „fédération" der künftigen europäischen Union beitreten könnten, ausschließlich Länder der drei westlichen Besatzungszonen nannte, nicht aber die Länder, die damals zur sowjetischen Zone gehörten. Zu den eher destruktiven Elementen seiner deutschlandpolitischen Maximen gehörte am Ende der 1940er Jahre also zweifellos die angestrebte Partikularisierung Deutschlands. Seine Argumentation erklärte die deutschen Traditionen einseitig. Tatsächlich gab es in Deutschland wie in an-

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deren Ländern - zum Beispiel Italien - seit dem 19. Jahrhundert nationalstaatliche Bestrebungen; der deutsche Föderalismus - während der nationalsozialistischen Diktatur durch Gleichschaltung der deutschen Länder 1933 unterdrückt - war seit dem 19. Jahrhundert zunehmend bundesstaatlich und eben nicht staatenbundlich orientiert. De Gaulle griff also auf die deutsche Geschichte vor 1866 zurück. Während dieser Epochen wurde die staatsrechtliche Struktur der deutschen Staatenwelt zeitweilig durch Frankreich mitbestimmt: Die französische Außenpolitik stärkte die Einzelstaaten gegenüber Kaiser und Reich, zum Beispiel durch den bis ins Zeitalter der Französischen Revolution wirksamen Westfälischen Friedensvertrag von 1648; zur Zeit der napoleonischen Herrschaft über Deutschland und weite Teile Europas bewirkte sie sogar die definitive Zerstörung des alten Reiches und stärkte damit ungewollt nationalstaatliche Bestrebungen und Nationalismus in Deutschland. Die Interpretation Charles de Gaulles barg insofern einen Widerspruch, als die sonst sein Denken beherrschende nationalstaatliche Komponente in bezug auf Deutschland - und nur in bezug auf Deutschland - vollständig entfiel, während er selbst an anderen Stellen immer wieder auch vom „deutschen Volk" sprach. Aber selbst während der späten 1940er Jahre enthielten die Äußerungen des Generals dann doch oftmals konstruktive Elemente für eine künftige Deutschlandpolitik: Im Prinzip ging er auch damals von der bei allen nationalen Unterschieden prinzipiellen Einheit Europas aus und betonte immer wieder, in einer künftigen europäischen Ordnung müsse auch Deutschland seinen Platz finden. Entscheidende Impulse für eine konstruktive Wendung der deutschlandpolitischen Überzeugungen des Generals gingen tatsächlich von dieser prinzipiellen Orientierung an Einheit und nationaler Vielfalt Europas jedoch erst aus, als die Frage „Was soll aus Deutschland werden" immer stärker in den Vordergrund trat und ihre ganze europäische und weltpolitische Tragweite bewußt wurde. Und de Gaulle gehörte zu den ersten, die diese Tragweite erkannten. Dabei spielten auch wesentliche Teilprobleme eine Rolle; zu ihnen zählte vor allem das französische Ziel, sich der deutschen Wirtschaftskraft zum Wiederaufbau des durch den Krieg - also durch Deutschland - ruinierten Frankreich zu bedienen. Dieses Ziel war aber nur dann wirklich erreichbar, wenn das seinerzeit viel stärker zerstörte Deutschland selbst wieder gesunden würde und sich zugleich eine innere Bereitschaft zur gemeinsamen Aufbauleistung beider Länder, aber auch Europas insgesamt, entwickeln würde. Seit Frühjahr 1948 wurde aber die weltpolitische Teilung in zwei Blöcke unübersehbar. Die geostrategischen Überlegungen führten die drei Westalliierten auf der Londoner Konferenz zu der Einsicht, daß der westliche Teil Deutschlands ökonomisch, ideologisch und sicherheitspolitisch als Bollwerk gegenüber dem bis in die Mitte Europas expandierenden weltrevolutionär-kommunistischen Herrschaftsbereich der Sowjetunion benötigt würde.

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Die Westmächte beschlossen gegen eine damals erhebliche deutsche Opposition die Gründung eines innen- wie außenpolitisch konsequent westorientierten und zunehmend integrierten Staates aus den drei Westzonen Deutschlands. Dies bedeutete aber geostrategisch eine entscheidende Änderung, ja Revolutionierung aller Traditionen des europäischen Staatensystems, die auch für die deutschlandpolitischen Konzeptionen de Gaulles Bedeutung gewannen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Regierung war. Nach den Londoner Empfehlungen brachte der General am 9. Juni 1948 seine Befürchtungen über eine doppelte deutsche Staatsgründung zum Ausdruck: „Cela fait, une seule question dominera l'Allemagne et l'Europe: lequel des deux Reich va faire l'unité, puisqu'il est conclu et proclamé que ,l'unité est l'avenir de l'Allemagne'? ... On peut imaginer qu'un jour l'unité allemande, réalisée une fois de plus autour de la Prusse - mais cette fois d'une Prusse totalitaire liée corps et âme à la Russie soviétique ainsi qu'aux États .populaires' de l'Europe centrale et balcanique ... Mais si le Grand Reich devait reparaître de n'importe quelle façon et surtout de cette façon-là, mené par un tel régime, englobé dans de telles alliances, où seraient désormais les chances de la France?" Keine Frage, daß solche auch noch während der 1950er Jahre durch die Sowjetunion angestrebten Perspektiven Frankreich erschrecken mußten; die Frage blieb nur, wie man ihnen am wirksamsten begegnen könnte. Für Frankreich mußte dieser Wandel in der europäischen Konstellation noch fundamentaler sein als für die übrigen Mächte der Anti-Hitler-Koalition mit Stalin: Im Mächtedreieck Frankreich-Deutschland-Rußland spielte für die Deutschen allezeit die Einkreisungsangst eine Rolle, die sich bis in den verhängnisvollen Schlieffen-Plan, der einen präventiven Angriff über das neutrale Belgien im Ersten Weltkrieg vorsah, auswirkte. Auf französischer Seite spielte dagegen, ebenfalls aus strategisch-sicherheitspolitischen Erwägungen, der Einkreisungswille eine ausschlaggebende Rolle: Das wechselseitige Mißtrauen und Belauern prägte folglich die bilateralen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs: Rußland spielte darin schon seit dem 18. Jahrhundert, zweifellos aber seit Bismarcks Bündnissystemen, eine ausschlaggebende Rolle. Die gemeinsame Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur hatte dann - durch die westlichen Staatsmänner nicht beabsichtigt und vorhergesehen - die Stärkung und drohende Hegemonie der kommunistischen Sowjetunion zum Ergebnis: Ihr weltrevolutionärer Anspruch war tatsächlich viel umfassender und chancenreicher als der Hitlers. Nicht zuletzt auf diese Veränderung der europäischen und weltpolitischen Konstellation ging die unnachgiebige Haltung Staatspräsident de Gaulles gegenüber der Sowjetunion zurück, als Chruschtschow 1958 die Berlin-Krise auslöste. Zugleich lag hier die erste große Bewährungsprobe der durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle eingeleiteten Abstimmung der bundesdeutschen und der französischen Außenpolitik.

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Diese historische Dimension erwähnte Staatspräsident de Gaulle auch bei seiner Pressekonferenz in Washington am 23. April 1960: Zu keiner Zeit habe es zwischen dem französischen und dem russischen Volk einen natürlichen Gegensatz gegeben - auf Napoleons Krieg gegen R u ß l a n d ging de Gaulle in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht ein: „Aussi longtemps qu'en Europe, au centre de l'Europe, il y a eu une menace de domination de l'Europe, tout naturellement la France et la Russie se sont rapprochées et, aux moments graves, elles ont été alliées. Elles le furent dès 1914, quand l'Empire allemand de Guillaume II est passé à l'attaque, et elles l'ont été ... pas tout de suite, malheureusement ... quand la deuxième guerre mondiale a éclaté. Mais elles l'ont été par la force des choses à partir de 1941, quand la domination d'Hitler a vraiment paru devoir occuper l'ensemble de l'Europe. Actuellement, il n'y a pas de menace au centre de l'Europe. L'Allemagne, telle qu'elle est, ne menace personne." Der General ließ unerwähnt, d a ß Rußland während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich nicht Krieg führte, um Frankreich zu Hilfe zu k o m m e n : Zumindest bis zu Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 störte Stalin die deutsche Besetzung Frankreichs in keiner Weise. Die Aufteilung Osteuropas und besonders Polens hatte 1939 zur Kriegserklärung Frankreichs und Englands gegenüber dem Deutschen Reich geführt, da beide Staaten nach Hitlers Angriff auf Polen ihr Garantieversprechen einlösen mußten aber tatsächlich hatten Hitler u n d Stalin Polen gemeinsam erobert. Auf diese Weise richtete sich die sowjetische Politik mindestens 1939-1941 auch gegen die Westmächte, bis Hitlers groteske Fehlentscheidung zum Angriff auf die Sowjetunion Stalin zur U m k e h r zwang - nicht weil er wollte, sondern weil Hitler ihn an die Seite der Westmächte gezwungen hatte. Doch entscheidend ist nicht dieser Aspekt, der wieder einmal demonstriert, daß es in politischen Argumentationen nie um die ganze Geschichte geht. Vielmehr geht es um die von de Gaulle hier implizit gezogene Konsequenz, d a ß nicht mehr Deutschland die Bedrohung darstelle, sondern die Sowjetunion. Und diese Veränderung machte, zusammen mit der zunehmenden Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, der sich seit den 1950er Jahren ständig verstärkenden westeuropäischen und besonders deutsch-französischen Zusammenarbeit, schließlich der engen persönlichen Beziehung zwischen de Gaulle u n d Adenauer endgültig den Weg frei f ü r eine konstruktive Wendung in der Deutschlandpolitik Staatspräsident de Gaulles. Gegenüber der sowjetischen Bedrohung, so erklärte Charles de Gaulle am 25. April 1960 in Washington, habe Frankreich gewählt: „Elle a choisi d'être du côté des peuples libres." Diese Wahl schloß oftmals tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die Struktur der Nato, der E W G und andere Fragen der Zusammenarbeit der westlichen Staaten nicht aus, bestimmte aber doch die Grundlinien. Und das betraf insbesondere die von Adenauer und de Gaulle gleichermaßen betriebene Politik einer immer engeren und

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privilegierteren Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich als Grundlage einer europäischen Union. Der Allianzvertrag, den de Gaulle 1944 mit der Sowjetunion geschlossen hatte, gehörte zum Glück für beide Völker einer vergangenen historischen Epoche deutsch-französischer Feindschaft an. Als Konrad Adenauer 1958 nach Colombey-les-deux-Églises fuhr, hegte er eine doppelte Befürchtung, zum einen die alte deutsche Angst, de Gaulle könne an die Tradition anknüpfen und sich mit der Sowjetunion auf Kosten Deutschlands verständigen, zum anderen aus der Annahme, de Gaulle könne eine nationalistische Politik betreiben: Jeglicher Nationalismus lag Adenauer nicht allein deshalb fern, weil er als der Regierungschef eines auf die enge Kooperation mit den westlichen Verbündeten notwendig angewiesenen Staates für eine enge nationalstaatliche Politik ohnehin keinen Spielraum besessen hätte: Das Frankreich de Gaulles war in dieser Beziehung zweifellos innen- wie außenpolitisch sehr viel freier. Vielmehr war Adenauer von jeher Gegner jeglichen deutschen Nationalismus gewesen und hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, ja sogar eine Wirtschaftsunion beider Staaten gefordert. Nach den ersten mehrstündigen offenen Gesprächen mit dem General die die beiden alten Staatsmänner offenbar beglückt haben - waren beide Befürchtungen Adenauers ausgeräumt. Immer wieder betonte er seit 1958, man schätze de Gaulle völlig falsch ein; nur wer ihn in Colombey erlebt habe, könne ihn wirklich beurteilen. De Gaulle sei keineswegs ein Nationalist und beurteile die von der kommunistischen Sowjetunion ausgehende Gefahr für die freie Welt, insbesondere die europäischen Demokratien, genauso wie er selbst. In der Tat stellte ein freies, demokratisches, eng mit Frankreich verbundenes Deutschland ein notwendiges Element der französischen Sicherheit dar. Und so betonte Staatspräsident de Gaulle seit 1958 immer wieder, Deutschland sei kein Feind mehr, sondern ein Verbündeter, die Freundschaft nutze beiden Völkern. Und insofern war der Weg frei, auch die Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr als Gefahr für Frankreich anzusehen. Die Veränderung der geostrategischen Situation, die Lehren aus der Geschichte, die die überwältigende Mehrheit der Deutschen, da wo sie frei waren, seit nationalsozialistischer Diktatur und Zweitem Weltkrieg gezogen hatten, ermöglichten es auch Frankreich und Charles de Gaulle nach ersten wesentlichen Schritten zur Aussöhnung seit Ende der 1940er Jahre, einen neuen Anlauf zu machen, der vom einzigartigen Ansehen des Generals seit den Jahren seiner Führung des französischen Widerstandes gegen Hitler-Deutschland profitierte. Die in seinen historisch-geostrategischen Überlegungen und in seiner Definition des nationalen Interesses Frankreichs angelegten konstruktiven Elemente seiner Deutschland- und Europakonzeption konnten so nach 1958 voll wirksam und verstärkt werden.

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Hatte der General schon bei einer Rede in Bordeaux 1949, als dies in Frankreich noch viel weniger populär war als in den 1960er Jahren, betont „que l'unité de l'Europe doit, si possible et malgré tout, incorporer les Allemands", so ging er später erheblich weiter und verwies wiederholt darauf, in welchem Maße Deutschland und Frankreich sich kulturell, wirtschaftlich und politisch ergänzen würden. Zwar ließen die Divergenzen zwischen „Gaullisten" und „Atlantikern" unter den deutschen Außenpolitikern über die Anwendung des deutsch-französischen Freundschafts-Vertrags von 1963 bei Staatspräsident de Gaulle auch Enttäuschungen zurück. Doch stellten die „Atlantiker" den besonderen Rang der deutsch-französischen Zusammenarbeit und Freundschaft keineswegs in Frage, sie wollten sie nur nicht gegen die atlantischen und angloamerikanischen Bindungen der Bundesrepublik ausspielen lassen. Gleichwohl trug diese, von seiten Bundeskanzler Erhards nicht immer geschickt betriebene Politik dazu bei, daß für Charles de Gaulle die Beziehung zu Deutschland ein „rêve inachevé" blieb, wie es Pierre Maillard in seinem Werk „De Gaulle et l'Allemagne" so eindrucksvoll gezeigt hat. Aber auch diese Initiative blieb - wie spätere auch - Episode. Am 21. Februar 1966 erklärte der französische Staatspräsident: „Cette Union des Six peut et doit être aussi un des môles sur lesquels seraient progressivement bâtis d'abord l'équilibre, puis la coopération et puis peutêtre aussi un jour l'union de l'Europe tout entière, ce qui permettrait à notre Continent de régler pacifiquement ses propres problèmes, notamment celui de l'Allemagne, y compris sa réunification, et d'atteindre, en tant qu'il est le foyer capital de la civilisation, à un dévéloppement matériel et humain digne de ses capacités. Dès à présent d'ailleurs cette union des Six, si elle se réalisait, serait un élément actif de premier ordre en faveur du progrès, de l'entente et de la paix de tous les peuples du monde." Viele der Diagnosen des Generals haben sich als richtig erwiesen, wesentliche seiner aus weiter historischer Perspektive geschöpften Prognosen auch. Heute gilt es, in zeitgemäßer Modifikation gegen jede Engstirnigkeit an diesen Perspektiven festzuhalten; zu ihnen gehört, daß auch nach der Vereinigung Deutschlands die deutsch-französische Zusammenarbeit und Freundschaft weiter vertieft werden muß, damit zum Nutzen der Franzosen und der Deutschen „le rêve s'achève".

Volker Wehdeking Zwei deutsche Literaturen (1971-1991) unter einem Kulturdach? Kontraste, Wiederannäherung, Neubewertung An ausgewählter Erzählprosa zum deutsch-deutschen Thema seit den siebziger Jahren soll eine hier in großen Zügen skizzierte These verdeutlicht werden: In den frühen Jahren nach der Gründung beider Deutschland (1949 bis zum vorübergehenden Tauwetter der ersten HoneckerJahre nach dem 8. Parteikongreß 1971) gab es eine weitgehend unter ideologischen Vorzeichen in Ost und West verschiedene Literaturentwicklung. In der Bundesrepublik entwickelte sich eine spätmoderne, lange von der Gruppe 47 dominierte Literatur in einem Staat konservativ-liberalen Bürgertums, das an soziokulturelle Traditionen der frühen dreißiger Jahre wieder Anschluß fand, während sich in der D D R die ebenfalls 1933 um ihren Staat gebrachte kommunistische und antifaschistische Linke eine Kultur des „Sozialismus von oben", in der Literatur die Fortsetzung der Moskauer Exildebatten, in einem sozialistischen Realismus schuf. Bereits Mitte der sechziger Jahre, nach Mauerbau und harter, auch kultureller Repression, begann sich die DDR-Literatur, zunächst subversiv, wieder auf die in diesen Jahren der 1968er Bewegung politisierte, teilweise operativ und systemkritisch gemeinte Literatur der Bundesrepublik zuzubewegen. Die seit 1976 mit der Biermann-Ausbürgerung zunehmende Welle von in den Westen übersiedelnden DDR-Autoren und Theaterleuten gaben der in ,Neuer Subjektivität' befangenen, höchstens noch in der frauenspezifischen Thematik zeitkritischen, bundesdeutschen Literatur neue Impulse. Zugleich war die literarische Systemkritik innerhalb der DDR durch meist im Westen publizierte Texte und Stücke von Volker Braun, Christoph Hein, ansatzweise Heiner Müller und Monika Maron (vor ihrer Übersiedlung 1988) sowie einigen Prenzlauer-Berg-Autor(inn)en bis zum 9. November 1989 immer weniger zu überhören. Die nunmehr als Träger beider deutscher Literaturen verbleibende bürgerliche Schicht (in der späten Weimarer Republik noch den Radikalisierungen von links und rechts erlegen) tritt ein lebendiges kulturelles Erbe an und muß sich der Herausforderung stellen, die gegenseitige Wiederannäherung nicht durch einen Rückfall ins Gemütliche zu verspielen. Die Gefahr einer westlichen

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Erstarrung der Verhältnisse, wie sie Botho Strauß und Thomas Bernhard in den achtziger Jahren zum Thema machten, dürfte aufgrund der Aponen „deutscher Befindlichkeiten" im Einigungsprozeß fürs erste gebannt sein. Bei einem so weitgespannten Thema ist Einschränkung geboten: mehr als zwanzig Jahre deutsch-deutscher Literatur, und dann auch noch ein kritischer Vergleich, das ist im Rahmen dieses Festschrift-Beitrags nur in Abbreviaturen zu bewältigen, und selbst im kursorischen Überblick nur, wenn man die Kenntnis westdeutscher Literaturentwicklungen weitgehend voraussetzt. Eine Beschränkung innerhalb der Gattungen und im Thema ist ebenfalls unumgänglich. Neben einigen wenigen Gedichten geht es um deutsche Erzählprosa vor allem aus der D D R und im Spannungsfeld der deutschen Teilung. Denn immer schon gab es das Thema des Leidens von DDR-Künstlern und -Autoren an ideologischer Bevormundung, auch wenn sie den Sozialismus für ein gutes System hielten. So geraten Handlungsabläufe von Romanen und Erzählungen in den Brennpunkt, in denen die Hauptfiguren sich nach kultureller Veränderung sehnen, nach Fortgang in den Westen, nach mehr kritischer Einmischung vor Ort, im Grunde immer wieder das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und Freizügigkeit reklamierend. Heute, hier und jetzt erscheint im übrigen angesichts der gegenseitigen sozialen und politischen Vorbehalte der neuen und alten Bundesländer nach der Selbstbefreiung in der DDR am 9. November 1989 das ruhige Abwägen literarischer Formen und Tendenzen von einiger Zweitrangigkeit. Man denke nur an die Schlagzeilen rund um die neue Berliner Akademie der Künste und die anhaltenden Austritte von Autoren und Künstlern aus beiden Teilen Deutschlands wegen der von Walter Jens und Heiner Müller nach langem Gezerre beschlossenen En-Bloc-Zuwahl der Ostberliner Akademiemitglieder von einst. Die im Januar 1993 bekannt gewordenen Stasi-Kontakte von Heiner Müller und Christa Wolf geben zusätzlich zu denken. Dennoch gibt es da den roten Faden gegenseitiger kultureller Verbundenheit bei allen Reibungsflächen, und dazu möchte dieser Überblick etwas beitragen. Sieht man die Kulturbeilagen der großen Zeitungen der letzten drei Jahre durch, läßt sich darin ein ganzes Spektrum von Hinweisen finden, daß es gerade die DDR-Autoren und -Autorinnen sind, die man mit verstärktem Interesse beobachtet, und die auch zur Wiedervereinigung, teilweise nostalgisch und unbequem, Stellung beziehen, ja bereits Erzählungen vorlegen, mindestens literarische Tagebuchformen oder Gedichte und einige wenige Texte von Romanlänge. Da erregte Christa Wolf Ärgernis bei den neuen und alten Landsleuten, weil sie nun erst in der Erzählung Was bleibt (1990) auf eine Episode aus dem Sommer 1979 eingeht, als ein paar Wochen lang ein Auto mit StasiSpitzeln vor ihrem Landhaus in Mecklenburg stand. Auch die privilegierte

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Unterzeichnerin gegen die Biermann-Ausbürgerung, die nach 1976 ungehindert weiter im wichtigsten staatlichen Aufbau-Verlag publizieren konnte, mit maßgeblichen Westkontakten (StZ, 6. 7. 1990), ein spätes Opfer der Stasi? Zumindest das Mißverhältnis zu so manchem in Haft geratenen, zum Verstummen gebrachten oder nie in der D D R veröffentlichten Autor, also den wahren Opfern mutiger Systemkritik und das unpassend späte Timing solcher Hinweise mußten sie in die Schlagzeilen bringen. Die sich daran anschließende „Literaturdebatte" (bei Luchterhand dokumentiert) hat die Autorin nachdenklich gemacht. Als sie 1992 in Marbach aus den letzten, wiewohl bereits Ende der siebziger Jahre geschriebenen Erzähltexten Sommerstück und Was bleibt las, wollte sie eine aktuelle Lektüre, bei der ein innerer Dialog mit einem inneren Zensor mithörbar werde; die diffuse Bedrohung durch die Stasi-Beobachter solle den Zug zur dunklen Seite des Lebens hin in der Insel- und Floßsituation einer DDR-Autorin belegen, die hier Zuflucht und innere Abschottung suchte, und die nun die bleibende Aktualität des Themas ebenso meint wie den Verlust der eigenen poetischen Landschaft (StZ, 28. 2. 1992). In neuen Buchtiteln von DDR-Autoren taucht das Geschehen von 1989 bereits auf, teilweise mit einem sensationellen Titanic-Touch, so in Rolf Schneiders Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der DDR (Göttingen 1991), wo manche schadenfrohe Wendenotiz die veränderten Zeitgenossen in der Kulturszene aufspießt. Der siebeneinhalb Jahre in der D D R aus politischen Gründen („konterrevolutionäre Gruppenbildung") inhaftierte, 1981 in den Westen gegangene Erich Loest dokumentiert die Zensur- und Überwachungsschikanen in zwei sprechenden Titeln: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (Leipzig 1990) und Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze (Göttingen 1990). Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ging 1991, damit eine ehrwürdige Nachkriegstradition verbindend, an das DDR-Hörspiel jenes Jahres, Stille Helden singen selten, das Originaltöne der Montagsmärsche und Mauerkommentare mischt. Zu den veränderten soziokulturellen Perspektiven trägt wohl am fundiertesten Günter de Bruyns Essaysammlung Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten (Frankfurt a. Main 1991) Orientierungen aus Ost-Berliner Sicht bei, die seine These einer unzerstörbaren deutschen Kulturnation belegen. Darin wird berichtet, wie er als Bibliothekar in den fünfziger Jahren mithelfen mußte, alle pazifistische, kosmopolitische und dekadente Literatur (S. 8), also Freud, Hodann, Döblin, Gide, Kafka, Musil und Dos Passos aus den Bibliotheken zu entfernen. Von evokativer Kraft sind in dem Zusammenhang einige Gedichte von 1990 aus der Feder Heiner Müllers, des namhaftesten DDR-Dramatikers nach Brecht und Peter Hacks, und ein Atlantis-Gedicht Günter Kunerts aus dem Gedichtband mit dem sprechenden Titel Fremd daheim (1990). Müllers Altes Gedicht lautet, samt elegischem Motto, fast postmodern:

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Ich bin der ich nicht sein will und der sein wird. Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick Der dich in Frage stellt Es gibt keinen anderen mehr Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist Aus einem Buch, das du nicht geschrieben hast Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein Verblassendes Farbband Der Text schlägt durch. Läßt sich hier ahnen, wie es um die schwindenden Themen und Identitäten der DDR-Autoren und -Autorinnen bestellt sein mag, so ist in dem wiederum sprechenden Titel Ein Gespenst verläßt Europa (Köln 1990) auch herbe „Selbstkritik" enthalten: Meine Herausgeber wühlen in alten Texten Manchmal wenn ich lese überläuft es mich kalt Das habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit Die vor vierzig Jahren mein Besitz war Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend. Eine Erinnerung Müllers an die Hamletmaschine von 1977 und ein Plakat dazu lösen dieses nachdenklich machende Gedicht aus: HAMLETMASCHINE: der Hamletdarsteller ohne Gesicht, im Rücken die Mauer, sein Gesicht eine Gefängniswand. Bilder, die keine Aufführung einholen konnte. Wegmarken durch den Sumpf, der sich schon damals zu schließen begann über dem vorläufigen Grab der Utopie, die vielleicht wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das / eiserne Gesicht seiner Freiheit. Ebenso anrührend geht auf den Umbruch Günter Kunerts Atlantis ein, weil Kunert hier nicht nur in subtil indirekter Weise den Wechsel der Orts- und Straßenbenennungen seit 1989 anspricht, sondern als Sohn einer jüdischen Berliner Mutter auch den unvergessenen Holocaust, den die offizielle DDR-Kultur so lange als Problem dem Westen allein überließ. Das Gedicht von 1990 steht am Schluß des Bandes: Atlantis Als es unterging Sklaven sollen geschrien haben in dieser Nacht wie ihre Eigentümer: Homo sum.

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Aber in den Legenden herrscht Stille als wäre die Geschichte ein Konzert gewesen und die Mitwirkenden heimgegangen. Akten zur Beweisföhrung herbeigeschafft ihre blutige Schrift verblichen aber. Erneut gelang die Transsubstantiation: Alle Getöteten wurden zu annehmlichen Zahlen. Heute schon sind für morgen die Fundstücke frei von Konservierungsmitteln: Alles Rätsel für Nachgeborene. Wenn da wirklich geschrien wurde ist es ja längst verhallt. Amtlich als akustisches Phänomen eingestuft. Als Präzedenzfall für alle Zukunft wo wir geschrien haben werden. Und die Unbetroffenen es deutlich überhört. Und einige die Gelegenheit ergriffen zu einem Gedicht: Spätfolge von Untergängen die allein durch Ortsnamen der Unterscheidung sich fügen'. Hier hat Kunert das Gespenstische des Vorgangs in der Geschichte, die für alle unerwartet rasche Öffnung der Mauer ebenso festgehalten wie die untergegangene Heimat und längst abgewirtschaftete Utopie, an die sich der frühe Kunert klammerte 2 . Seine Elegie ist daher nachvollziehbar, obwohl er den Umbruch begrüßt. Hier gibt es natürlich ideologische Hintergründe, die bis in die frühe Nachkriegszeit zurückreichen. Im literarischen Bereich wurde in früher kultureller und ideologischer Abgrenzung seit Mitte 1948, frühestens also mit Währungsreform und Luftbrücke, spätestens seit der Formalismusdebatte 1951 in der D D R auf die künstlerischen Mittel der Avantgarde, des Expressionismus, der klassischen' westlichen Moderne der 20er Jahre verzichtet: in der Kulturpolitik des noch nicht geteilten Deutschland hatte man noch versucht, die bürgerlichen Schriftsteller unter den zurückkehrenden Emigranten mit dem £>¿>e-Gedanken des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands an sich zu binden. Es war das Versprechen Johannes R. Bechers, das Erbe der deutschen Klassik, Aufklärung und des bürgerlichen Realismus für ein sozialistisches Selbstverständnis zu nutzen. Nach 1951 war es aber eine offene Rückkehr zur sowjetischen Shdanow- und Gorki-Doktrin des 1 2

G. KUNERT, Fremd daheim. Gedichte, München 1990, 117. Vgl. G. KUNERT, Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen, München 1985, 53. Der Atlantis-Bezug zu Berlin wird dort deutlich: Dieses Viñeta unserer Tage, untergegangen durch Krieg, Teilung, Wiederauft>au, Sanierung, ist für mich, der dort geboren wurde, mehr und mehr versunken.

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sozialistischen Realismus von 1934, die jede Forminnovation in der D D R auf weitere zwanzig Jahre verhinderte, also im großen und ganzen bis 1971 und bis zum Wechsel Ulbricht/Honecker eine Provinzialisierung der DDR-Literatur bewirkte. Man betrieb den Ausschluß des Erbes der allzu .innerlichen' deutschen Romantiker, allen voran Kleist, dann der Surrealisten, Kafkas, Döblins, und aller Bestrebungen der Moderne zum Inneren Monolog und Bewußtseinsstrom, also zur psychologischen Innensicht und zu einem pluralistischen Gesellschaftspanorama der Multiperspektive im Gefolge von Joyce, Faulkner und Virginia Woolf.

D a s d e u t s c h - d e u t s c h e T h e m a in a u s g e w ä h l t e n R o m a n e n , E r z ä h l u n g e n u n d G e d i c h t e n der D D R - L i t e r a t u r seit 1971 Hatten die beiden Bitterfelder Konferenzen 1959 und 1964 die Aktivistenporträts und das Ankommen im sozialistischen Alltag bis hin zum schreibenden Arbeiter für die Romanprosa gefordert, waren in dieser Gattung die intellektuellen Spannungen, die der Mauerbau 1961 und der sowjetische Einmarsch in Prag 1968 mit einem DDR-Solidaritätsbeitrag auslöste, noch nicht so spürbar wie in der Lyrik seit 1965, etwa bei Günter Kunert oder Volker Braun. In seinen Frankfurter Vorlesungen von 1985 blickt der seit 1979 in Holstein lebende Kunert auf die beginnende Enttäuschung und Erstarrung zurück, die bereits Mitte der 60er Jahre einsetzte und mit der Ausbürgerung Wolfgang Biermanns 1976 kulminierte: Das Gedicht bot den kürzesten Weg. Und bewegt hat mich die zunehmende Unbeweglichkeit der Gesellschaft, die Erstarrung der sozialen Struktur. Was im ersten Jahrzehnt, vielleicht auch noch im zweiten nach Kriegsende wie eine tiefenwirksame Veränderung aussah, war wohl bloß eine Fluktuation zwischen sozialen Schichten. Es rückten in die Ämter und Posten, in die Verwaltung und in die Schaltstellen der Betriebe andere nach. Als ein bestimmter Sättigungsgrad erreicht war, versteinerte dieses Modell sofort, und diese gesellschaftliche Immobilität befiel natürlich irgendwann jede geistige Regsamkeit. (...) , Klassiker ' ist ein Gedicht über Marx, von seinen Kindern ,Mohr' genannt; eine Variation über das Thema ,Marx heute'1. Klassiker Rasiert und angestellt sitzt im Büro den Kopf in seiner Hand 3

Ebd., 46.

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entleert in lauter kleine Sprüche die gigantischen Gedanken: Er. Hört denn nie dieses Elend auf von dem Philosophie ein Abglanz ist wie Wetterleuchten und auch so nützlich. Zitate helfen nichts: Aus dem Steinbruch der Geschichte stammen stets die Quadern für neue Kerker mein lieber Mohr. Ringsum die Massen derer du unentwegt gedacht: wir wir stolpern von deinem Wort geleitet von einer in die andre Finsternis rasiert und angestellt und rettungslos4. Ähnlich läßt Kunert dies Schwinden jeglicher Hoffnung auf ein wenig verbleibende Utopie im Jahre 1965 im wichtigen Gedicht mit dem Titel Geschichte unmißverständlich, und auch als Leiden am deutsch-deutschen Zwiespalt anklingen: 6.

Sie ist über den Völkern. An einem Faden. Ein damokleischer Schatten: Deutschland Unaufhörliche Wolke zwiefach zwieträchtiger Form. Dabei wir dabei Ins Universalische zu wachsen und an einem Kabel In den Kosmos zu hängen zu schaukeln und frei Uns zu fühlen vor allem von Gravitation von Atemnot von Gedanken: einschneidenden ätzenden verletzenden Wie Die dort unten die kleine bläuliche Kugel zerfurchten

(...)

7.

Geschichte sage ich und weiter noch: Wenig bleibt. Glücklich wer am Ende mit leeren Händen dasteht Denn aufrecht und unverstümmelt dasein ist alles. Mehr ist nicht zu gewinnen5. 4 s

Ebd., 47 f. G. KUNERT, Verkündigung des Wetters. Gedichte, München 1966, 25-28.

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Auch im Roman gab es erste wichtige Signale zu einem Umschwung, der die DDR-Literatur westlichen Literaturströmungen der Zeit wieder näher brachte: in zwei Romanen der Wiederentdeckung des Individuums und seines Glücksstrebens, Günter Kunerts erst 1976 in der D D R gedrucktem, bitter-ironischem Schelmenroman von 1967 über die Trümmerzeit und das verdrängte Holocaust-Thema mit dem Titel Im Namen der Hüte sowie Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. von 1968. Christa Wolf (geb. 1929) hatte um die Entstehungszeit des Romans einen Briefwechsel mit der jüngeren Schriftstellerin Gerti Tetzner (geb. 1936), die ihr auch ein Tagebuch schickte. Christa T. trägt möglicherweise Züge der Autorin, im Titel wären dann beide schreibenden Frauen enthalten. Dasselbe gilt für den Titel von Gerti Tetzners Karen W. (1974), ebenfalls ein früher, systemkritischer Roman mit einem frauenspezifischen Thema. Christa T. wächst in einem Dorf jenseits der Oder auf, ist nach dem Krieg für kurze Zeit Lehrerin, studiert dann Germanistik, heiratet einen Tierarzt, hat mit ihm Kinder, baut mit ihm ein Haus auf dem Lande, stirbt schließlich an Leukämie. Christa Wolf geht als Ich-Erzählerin anhand von Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen der Freundin erstmals den Chancen der Selbstverwirklichung ihrer Protagonistin als Frau im sozialistischen Staat nach. Formelhaft gesprochen, treten hier erstmals .private' Fragen nach dem Glück in den Vordergrund eines DDR-Romans über eine Frühverstorbene, tritt Freud und ein neues Interesse an Natur und Romantik an die Stelle von Marx. Oer Blick, mit dem sie sich vom Auto aus nach den Kindern umsah, soll ein Abschiedsblick gewesen sein. Es wiederholt sich, was sich nicht wiederholen darf. Wiederholen, wieder zurückholen ... Die Worte haben alle einen doppelten Sinn, einen aus dieser, den anderen aus jener Welt. Sie ist stiller und fragt weniger (...) Sie liest gierig. Sie nimmt die Gewohnheit wieder auf Sätze, Zeilen zu notieren. Als letztes steht in ihrem Notizbuch ein Gedicht: Wozu so teuflisch sich zerquälen? Nie mehr gescheh, was da geschah: Das Nahsein der sich fremden Seelen, das Fremdsein derer, die sich nah ... (...) Es beginnt, was sie so schmerzhaft vermißt hatte: daß wir uns selber sehen; (.. ,)6 Begnügt sich Christa Wolf hier noch mit Anspielungen und indirekter Kritik an der DDR-Gesellschaft, etwa der Lehrerin T. gegenüber einem ehemaligen Schüler, jetzt Medizinstudent, der sich als Arzt mit,realer Existenz' und ,Anpassung' des Menschen begnügen will, obwohl er sich von 6

Ch. WOLF, N a c h d e n k e n ü b e r Christa T. [1968] (Serie L u c h t e r h a n d 31), N e u w i e d u n d Berlin 1971, 231.

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Christa T.s .phantastischer Existenz' einst faszinieren ließ, gibt sie mit Kindheitsmuster (1976) der mangelnden bisherigen Faschismusaufarbeitung in der D D R und anderen Reizthemen breiten thematischen Raum. In jenem Jahr war das Tauwetter seit Ulbrichts Wachablösung 1971 durch Honecker und der Scheinliberalität des 8. SED-Parteitags mit dem Tenor ,tabufreien Schreibens', allerdings auf der Basis eines .festen sozialistischen Standpunkts', mit einem Eklat zu Ende gegangen. Wolf Biermann hatte in einem breit übertragenen November-Konzert in Köln die Tabus durch angeblichen Antikommunismus und Verletzung der ,Treuepflicht' wieder sichtbar gemacht und wurde kurzerhand seines Visums beraubt. In den nächsten Tagen gab es eine Lawine von Solidaritätsunterschriften unter eine Petition zu seiner Rückeinbürgerung, vergebens. Jurek Becker, Volker Braun, Stephan Hermlin, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Christa Wolf und ihr Mann Gerhard, kurz darauf Plenzdorf, Havemann, de Bruyn und die Filmschauspielerin Angelica Domröse gehörten zu den bekanntesten Unterzeichnern, viele wurden aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und kaum mehr veröffentlicht, viele gingen über kurz oder lang in den Westen. Biermann hatte unter anderem in Brechts und Heines Balladenton gesungen: Und als wir ans Ufer kamen Und saßen noch lang im Kahn Da war es, daß wir den Himmel Am schönsten im Wasser sahn Und durch den Birnbaum flogen Paar Fischlein. Das Flugzeug schwamm Quer durch den See und zerschellte Sachte am Weidenstamm - am Weidenstamm Was wird bloß aus unsern Träumen In diesem zerrissenen Land Die Wunden wollen nicht zugehn Unter dem Dreckverband Und was wird mit unsern Freunden Und was noch aus dir, aus mir Ich möchte am liebsten weg sein Und bleibe am liebsten hier - am liebsten hier (LP CBS

13.11.1976)

Das heute prophetisch wirkende Gedicht einer zerrissenen, tagträumerischen Stimmung zwischen dem hochfliegenden Traum von Ufer und Ankunft und der Misere, das zerrissene Deutschland nicht hinter sich lassen zu können, keine Entlastung zu finden, darf nicht im bequem prowestlichen Sinne verstanden werden, das zeigen auch die gemischten Gefühle

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desselben Biermann angesichts der Wiedervereinigung. Er macht es sich und uns nicht leicht, darin dem Kunert der apokalyptischen Themen heute vergleichbar. Eine Reihe von Prosatiteln zum deutsch-deutschen Thema in den 70er und 80er Jahren bietet sich in der DDR-Literatur an, während im deutschen Westen eigentlich nur Uwe Johnson mit den monumentalen Jahrestagen (1983 abgeschlossen), Peter Schneider mit Der Mauerspringer (1982), Thorsten Beckers satirische Erzählung Die Bürgschaft (1985) und Martin Walser mit der Novelle Dorle und Wolf (1987) in Frage kommen. Peter Schneider zeigt in seiner Collage von Mauerabenteuern die Schizophrenie und Absurdität der deutschen Teilung, aber auch die beharrenden, schwer zu überwindenden Trennungskräfte von ideologischen Administrationen, Selbstschußanlagen an der Mauer und preußisch verständnislosen DDRGrenzbeamten sowie die Mauer im Kopf mancher Bundesdeutscher. Thorsten Becker parodiert mit dem Thema der Schiller-Ballade nicht nur den unter Normalumständen zum fatalen Ausgang führenden Tausch eines West-Berliners in der D D R gegen einen von dort nach Wien gegangenen Freund vom Theater, also die moderne Variante der Ballade, sondern auch den ,,Erbe"-Gedanken der Becher-Jahre in der frühen D D R , darin Plenzdorf spiegelnd. Indem der Ich-Erzähler die Rückkehr des Freundes mit dem sprechenden Namen Schlitzer nach einer abenteuerlichen Schlußpointe samt gewaltsamem Ausweisraub in einer ostdeutschen Autobahnraststätte und drohender Verhaftung durch die Stasi noch zum Happy End wendet, macht er - ganz anders als es später Monika Maron in einer motivverwandten Episode ihres Romans Stille Zeile Sechs (1991) mit weit ernsteren Haftkonsequenzen für den Betroffenen erzählt - die bundesdeutsche Verharmlosung der Mauerzustände als Gewöhnung an die Teilung sichtbar. Reich-Ranickis Kommentar zur Becker-Satire markiert denn auch, vier Jahre vor dem Umbruch, die Undankbarkeit jener späteren Wende von 1989: Das geteilte Deutschland - das ist für Thorsten Becker schwerlich eine nationale Katastrophe, eher schon eine Selbstverständlichkeit. (...) Es ist keine Elegie, viel eher schon eine Parodie1. Martin Walser, der auch in seinen öffentlichen Kommentaren zur Wiedervereinigung, ähnlich wie Günter Kunert, als einer der wenigen deutschen Schriftsteller die neue Entwicklung als eine historische Chance begrüßte, beschreibt mit seinem Spionagethema die historisch überholte, kulturell unhaltbare Trennungssituation und das Leiden daran. Der spionierende Perfektionist Wolf aus dem Osten erhält von einem Bundesgericht am Ende fünf Jahre Haft, die beiden aus dem Westen kommenden Partnerinnen, die zuerst ahnungslose Ehefrau Dorle und die Sekretärin Sylvia, kommen mit Bewährung davon. Im Grunde geht es um das psychologische, eher „private" Leiden an einer im Liebesdreieck gespiegelten ' Zitiert nach Th. BECKER, Die Bürgschaft. E r z ä h l u n g (KiWi 135), K ö l n 1987, 166.

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Gespaltenheit Wolfs, der seine schwäbische Frau Dorle am Ende mehr denn je liebt und ersehnt, obwohl er sie mit Sylvia für seine Ostspionage betrog. Die Menschen der Bundesrepublik erscheinen Wolf als halbiert: Wolf hatte im Westen entdeckt, wie sehr hier der Osten verlorengegangen war. Er hatte die zunehmende Kälte gegenüber allem Gemeinsamen erlebt und das grelle Unverständnis, die auftrumpfende Unempfindlichkeit und Überheblichkeit gegenüber dem, was in der DDR tatsächlich geschah. Die Teile dröhnten vor Unverständnis füreinander. (...) Und dem wollte Wolf steuern, auf einem prekären Gebiet, dem der Rüstung nämlich. (...) Alles Verneinende fand er schwach. Alles was unfähig war, sich der ganzen Geschichte zu verbinden, kam ihm leblos vor? Als Wolf seine eigene schizophrene Lage aufgeben will und aus der Spionage aussteigen, die ihm wie ein Stück Völkerverständigung erschien, ist es zu spät. Die Novelle endet mit Wolfs Unverständnis gegenüber dem bundesdeutschen Richter, der so denkt, als gäbe es kein geteiltes Land, und mit einem Stück Hoffnung, seiner Liebe zu Dorle, an die er aus dem Zuchthaus schreibt und an die er sich klammert. Einige Titel ragen aus der DDR-Erzählprosa seit 1975 heraus, weil sie ästhetisch innovativ den sozialistischen Realismus links liegen lassen und zugleich unverblümt das eigene System soziopolitisch kritisieren. Es handelt sich um Texte von Volker Braun, Christoph Hein und Monika Marón. Volker Braun gelingt in Unvollendete Geschichte (1975) eine Novelle im Kleist- und Büchnerton; die einmontierten Schlagworte und politischen Phrasen verbürgen, im Großdruck herausgehoben, authentisches Zeitrequisit im Gefolge Döblins, der lange aus den DDR-Bibliotheken verbannt blieb. Entstanden ist eine spätmoderne Collage um das Romeo-und-JuliaThema in der DDR-Provinz. In Christoph Heins bekannter Novelle Drachenblut (1982), die ästhetisch mutig mit einer Traumsequenz einsetzt, die den Leser zur Deutung zwingt, ist der Erzählstandort die Innensicht einer scheinbar gegen alle Gefühle immun gewordenen Ostberliner Ärztin. In Der Tangospieler (1989) zeichnet Hein das Porträt eines fast zwei Jahre für seine politischen Überzeugungen inhaftierten Historikers, ein noch im Jahr darauf durch die DEFA verfilmter Roman, der die Wende antizipiert. Auch Monika Marons in der D D R nicht mehr erschienener CollageRoman Die Überläuferin (1986) zeigt die Fluchtphantasien einer Historikerin, die bis nach New York führen. Die 1941 in Berlin geborene Monika Maron übersiedelte 1988 mit Mann und Sohn nach Hamburg, zunächst mit einem Drei-Jahres-Visum. Keiner ihrer Romane, am bekanntesten Flugasche (1981), konnte in der D D R erscheinen. Doch zunächst zu Volker Brauns Unvollendeter Geschichte (1975): Am 8

M . WALSER, Dorle und Wolf. Eine Novelle, Frankfurt a. M . 1987, 147-149.

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Tag vor dem Heiligabend eröffnet der Ratsvorsitzende des Kreises K., wie seine Frau zum politischen Establishment der D D R gehörend, der achtzehnjährigen Tochter Karin, sie müsse sich von ihrem Freund Frank trennen. Später stellt sich erst heraus, daß Frank, Einzelgänger, Rowdy und alles andere als ein politisch konformer Typ, im Verdacht steht, zu Verwandten im Westen zu fliehen. Karin ist Volontärin an einer Bezirkszeitung. Für sie steht zunächst zuviel auf dem Spiel, und sie gehorcht, zieht sogar fort in die nahe Bezirksstadt, ohne Frank Genaueres zu erklären. Sie glaubt zunächst noch an den Sozialismus. Frank nimmt eine Überdosis Schlaftabletten, weil er außer ihrer Liebe nichts hat. Als sie zufällig nach ihm sieht und, seinen gefährdeten Zustand unterschätzend, wieder fortgeht, dreht er das Gas auf und erleidet ein Koma, bevor er gefunden wird. Karin entdeckt nun mit ihren Schuldgefühlen ihre Liebe und stellt sich gegen das unmenschliche System. Sie ist zudem schwanger, verliert aber trotz ihrer anfänglichen Anpassungswilligkeit die Stelle in der Zeitung; der stark-schwache Vater kann in der Redaktion nichts bewirken ; der Fall soll niedergeschlagen werden, nur nicht mehr davon reden. Karin soll zur Bewährung in die Produktion und versteht die Welt nicht mehr, kann nun wegen ihrer Schwangerschaft und Treue zu Frank auch keine Stelle mehr finden, bis nach Monaten ein Bekannter verspricht, sich einzusetzen. Sie ging zum Rat der Stadt. Ein Genösse hörte sie an. Er erkundigte sich bei der Redaktion. Er sagte: ,,So gehts nicht. Sie können nicht wochenlang nach Arbeit suchen. Ich helfe Ihnen, ich werde Sie irgendwo unterbringen". Frank kann nach vier Monaten wieder das Bett verlassen: Sie wollte Frank an sich drücken, aber er taumelte, er war noch schwach. Sie hatte Angst, daß er gleich umfällt. Sie mußte ihn halten. Sie standen umschlungen auf der Straße. Die Leute, die vorüberkamen, blieben stehn (...). Die beiden hielten sich bleich aneinander fest. Sie starrten sich an. (...) Sie ließen sich nicht los. Hier begannen, während die eine nicht zuende war, andere Geschichten.9 In der bundesdeutschen Kritik wurde die lakonische und doch im Büchner·, Kleist- und Werther-Ton unauffällig moderne Novelle zwischen zwei Liebenden und ihren Familien, die für und gegen das System stehen, als eines der wichtigsten DDR-Bücher überhaupt gehandelt, das erregendste und ernsteste Stück Prosa seit Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., wie Die Zeit urteilte. In der D D R wurde das nur in kleiner Auflage in der mutigen Zeitschrift Sinn und Form erschienene Werk kaum rezipiert. Die chronologisch vorgetragene Handlung, durchbrochen von kurzen Rückblenden erhält ihr authentisches Gewicht durch den knappen, dokumentarisch-nüchternen Stil, der dennoch poetisch vibrierende Momente des Lyrikers Braun birgt. Den Leser sollen die in Großbuchstaben gedruckten Stereotypen und politischen Phrasen wachrütteln, „private", und damit der Selbstverwirklichung dienende Urteile und Gefühle erscheinen durch ' V. BRAUN, Unvollendete Geschichte [1977] ( S u h r k a m p - T a s c h e n b u c h Main 1989, 95-97.

1660), F r a n k f u r t a.

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Kursivdruck hervorgehoben. Das Ganze vermag aus der Sicht Karins, die nie die Hintergründe genau erfährt, den Leser zu motivieren, da aus einem nicht überprüften politischen Verdacht unmenschliches Handeln und dadurch menschliches Leiden entsteht. Schuld an allem soll angeblich der „Klassenfeind" sein. Entstanden ist eine der gültigsten Anklagen gegen den Stasistaat des „Sozialismus von oben", um so überzeugender, als der Autor die großen Hoffnungen des Beginns mit seiner Lyrik begleitete. Karin, die sich wandelnde Heldin, begreift ihre existentielle Ausgesetztheit, als sie schwanger wird: Sie hatte sich BENOMMEN, daß ihr die Prädikate ,brav' und .artig' zugesprochen wurden, sie war nie AUS DER REIHE GETANZT, lieber hatte sie die Reihe angeföhrt: im Gruppenrat der Klasse, im Freundschaftsrat der Schule. Siebenmal an sieben verschiedenen Schulen, während der Vater in den Funktionen stieg, und es war für sie das Beste: sie hatte sich durchbeißen müssen. Das sah sie ja! Jetzt sah sie nichts mehr. Sie wurde schwanger. In den ersten Tagen vergaß sies immer wieder, oder sie dachte an sich wie an einen andern Menschen: die kriegt ein Kind, stell dir das vor! - aber erschrak dann, daß sies selber war, und das in ihr vorging und wachsen würde, sie hatte nichts damit zu tun. Dann dachte sie, sie habe nichts dagegen. Für die Gedanken konnte man, der Körper ging keinen an. (...) Für all die Theorien war er nicht zuhaus. (...) Nur manchmal, wenn sie ganz ruhig war und zu sich kam, drehte sich alles heraus an ihr, sie war das Fleisch und die Haut, und das Haar und empfand sich mit allen Fasern, lag so da. Erinnerte sich entfernt an irgendwelche Gedanken, an denen sonst alles hing, die schwammen so weg, und lächelte weit weg von jedem Grund'0. Auch Christoph Heins Drachenblut verwendet bis auf den düsteren Eingangstraum als Inneren Monolog eher eine unauffällig moderne, chronologische Erzählweise, wenige Rückblenden im Leben einer nüchtern denkenden Ärztin im mittleren Alter, die nach dem gewaltsamen Tod des Freundes Henry durch eine Zufallsschlägerei jugendlicher Rowdys gegen alle weiteren Verletzungen gewappnet scheint. Jedoch ist ihre wachsende Entfremdung von den Menschen subtil und mit kritischer Einfühlung gezeichnet. Der Autor läßt in einer wüsten Szene auf einer Landfahrt erkennen, daß sie Henry weit mehr liebte, als sie sich selbst gesteht, und daß ihre Single-Fassade alte Wunden nur notdürftig deckt: die Erinnerung an eine frühere beste Freundin Katharina, die, christlich erzogen und mit Westverbindungen, von der Lehrerin systematisch aus der Klasse geekelt wurde, als sie nicht in den sozialistischen Jugendverband wollte. Die Ärztin und Ich-Erzählerin half dabei mit. Am Ende bricht die Fassade auf und gibt systemkritisch zu denken: 10

Ebd., 30 f.

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Es läuft alles in seiner gewohnten Ordnung, alles normal. Kein Anlaß für einen Schrei. (...) Ich habe in Drachenblut gebadet und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina11. Rettung in dieser Fassade der Gleichgültigkeit käme nur noch von neuer Verletzlichkeit, einem Lindenblatt. Während das Berufs- und Singlethema in einem lieblosen Berliner Appartement sicher in vielem ebenso gut im Westen spielen könnte, läßt Hein in seiner Novelle doch mit dem Katharina-Schulerlebnis keinen Zweifel an seiner DDR-Kritik, die er in Horns Ende (1985) verschärft. Es geht um den von fünf Menschen erinnerten Selbstmord eines unangepaßten jungen Museumsdirektors in den 50er Jahren, der Opfer einer Denunziation wird. In dem späten Stück Die Ritter der Tafelrunde (1989), kurz vor dem 9. November aufgeführt, zeigt Hein das Ende aller alten Utopien der ersten Stunde. In Christoph Heins Der Tangospieler (1989), noch vor der Maueröffnung veröffentlicht, ist es wiederum ein Historiker, Dallow, der seine erschreckend ungerechte, zweijährige Haftstrafe für das Einspringen als Tangospieler bei einem Studentenkabarett und einem Ulbricht verspottenden Lied danach zunächst durch totale Weigerung quittiert. Die im Laufe des erzählten Jahres 1968 in der Tschechoslowakei nach dem Prager Frühling erfolgte Repression mit Hilfe von Warschauer-Pakt-, darunter DDRPanzern lassen seine Bemühungen, trotz Stasi-Überwachung lieber als Kraftfahrer und Kellner zu arbeiten, als parteifromm ins Leipziger historische Institut zurückzukehren, zu einem überraschenden und ambivalenten Ende kommen: Der statt seiner im Institut aufgestiegene Dozent fällt in politische Ungnade, weil er nicht an die DDR-Teilnahme an der Prager Unterdrückung glauben wollte und sich nicht rasch genug anpassen kann. Der aller sozialistischen Illusionen beraubte Dallow übernimmt seine Position. Im Laufe des Jahres hat er entdecken müssen, daß sich viele Menschen bei der Ausübung ihres Berufs angesichts möglicher Fehler immer „mit einem Bein im Zuchthaus" fühlen; entstanden ist das Porträt eines alle umfassenden DDR-Gefängnisses. Schließlich findet die durch eine jüdische Mutter im nicht geheuren Berlin des Dritten Reiches sensibel gewordene Monika Maron - die zweite Ehe der Mutter mit dem späteren DDR-Innenminister Karl Maron schärft eher den kritischen Blick der Autorin für die Macht - mit dem Thema der Überläuferin (1986) hellseherisch die Konstellationen für Probleme der DDR-Schlußphase. Eine in die psychische Krankheit flüchtende Historikerin Rosalind sieht sich mit zwei engen Freundinnen, vor allem der frauenbewegten Martha, auf vielen Stationen phantastischer Flucht. Der langjährige Freund Bruno, zynisch und abgeklärt, kann ihr nicht helfen, das " Ch. HEIN, Drachenblut [1982] (Serie Luchterhand 616), Darmstadt und Neuwied 1985, 172.

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New York der Freundin Martha ist für sie keine Alternative. Am Ende kehrt sie wieder zu neuer Ich-Stärke zurück, nahe einem neuen Naturbewußtsein, fort vom System. Dies erscheint in einer gigantischen Collage korrupter und skurriler Funktionärsfiguren, Schriftstellerorganisatoren, geklönter Spione des Systems, faschistischer Obdachloser und stereotyper Figuren wie der „Frau mit der eigenen Meinung". Erzählbruchstücke werden szenisch, wie auf der Bühne stilisiert, wiedergegeben, die Journalistin und Theaterassistentin Maron findet hier satirische und bunte Bilder in der Nähe von Irmtraud Morgner. Die am Ende nicht mehr gelähmte Heldin findet sich im Ostberliner Zimmer wie in einem Gefängnis wieder, alles scheint enger geworden: Ein dünnfädiger Regen belegte den trüben Novembermorgen mit eisigem Glanz. Es war, es ist, es wird sein; wie Schlangen verknäulten sich die Zeiten zu diesem Augenblick, in dem Rosalind sich unversehens wiederfand. (...) Als würde sie vom falschen Ende durch ein Fernglas sehen, schrumpfte alles, was sie umgab, auf ein fernes unwirkliches Maß (...) Von draußen hörte sie das Rauschen des anschwellenden Regens, den der Wind durch die Straßen trieb (...) Den Mund weit öffnen und das Wasser in mich hineinlaufen lassen, naß werden, dachte sie, vom Regen naß werden, ja das wäre schön12. Auch hier also ein Bild der geschichtslosen Natur als Gegenbild zur wie unwirklich schrumpfenden DDR-Realität, Existenz als Wiedererlernen der einfachen Grundbedürfnisse jenseits der Politik. Dagegen steht die Weiträumigkeit phantastischer Reisen, Korrelat der ersehnten Freiheit. Eine aufschlußreiche Schlußpointe. In einem Interview 1988 beklagte die Autorin nach Verlassen der D D R die dortige Lustlosigkeit, das mürrische Anstehen nach allem, den geringen geistigen Pluralismus für Autoren: Von den großen Ideen ist viel mehr als rechthaberisches Preußentum nicht übriggeblieben - und selbst das funktioniert nicht. Ein bißchen weniger Zensur gebe es eben nicht, es ist alles zu wenig und spätn. Monika Maron sollte recht behalten. Ihr Roman Stille Zeile Sechs (1991) ist vielleicht der bislang wichtigste und moralisch eindrucksvollste Beitrag zur Abrechnung mit der politischen und soziokulturellen DDRVergangenheit, erlebt von einer immer schon systemkritischen Autorin, ein Blick zurück im kalten Zorn, der durch seinen über große Strecken eher nüchternen Realismus auch einem großen Leserkreis zugänglich zu

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,J

M. MARON, Die Überläuferin. Roman [1986] (Fischer-Taschenbuch 9197), Frankfurt a. Main 1988, 220 f. V. HAGE, Alles zu wenig, alles zu spät. Steht die Kulturpolitik der DDR vor einer Wende?, in: Die Zeit, 17.5.1988.

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bleibt. Der Roman wurde, wie Fritz Rudolf Fries in seiner Rezension berichtet, noch in der DDR begonnen. Fries, dessen ästhetisch innovativer und alles andere als systemkonformer Roman von 1966, Der Weg nach Oobliadooh, erst 1989 im Aufbau-Verlag erscheinen konnte, vermag in seiner Rezeption des Maron-Romans die aufklärenden Qualitäten dieser politischen Generalabrechnung aus der Sicht des Mitbetroffenen zu spiegeln: Das ist der Roman, den zu schreiben uns zur Aufgabe gemacht wird vom mahnenden deutschen Feuilleton. Der Roman, der mit uns abrechnet und erzählt, wie es war. f...) Die Rosalind Polkowski beider Romane verweigert sich den Leistungsnormen der Gesellschaft, der sie am historischen Institut (...) genügen soll. Sie will frei und wenn es sein muß verfemt sein wie eine Katze. Da trifft sie in einem Café, wie man es in den späten achtziger Jahren Unter den Linden finden konnte, den Rentner Beerenbaum, der genußvoll seine Apfeltorte verzehrt. Seine rechte Hand ist gelähmt, also schreibunfähig. Aber auch er möchte der Nachwelt mitteilen, warum er gelebt hat. Er gewinnt Rosa, die so tut, als sei er ein alter Mann wie viele andere, als Schreibkraft. Beerenbaum diktiert ihr sein unreflektiertes, nicht in Frage zu stellendes Leben in seiner Wohnung in Pankow, im ,,Städtchen", wo einst alle Bonzen wohnten, bevor sie sich in Wandlitz der Öffentlichkeit entzogen. (...) Zugegeben, Monika Marons Geschichte ist von gestern: ihr leises Moralisieren scheint mit dem Fall der Mauer anachronistisch geworden zu sein, im Zwiegespräch von Rosa und Herbert. Der eine, der alternde, an der Schwelle des Todes stehende Hochschulbeamte Herbert Beerenbaum, ist autoritär. Er hat auch jetzt noch immer recht, wie seine zur Zeit der Handlung noch regierende Partei. Die zweiundvierzigjährige Historikerin Rosalind Polkowski hat schlechte Erinnerungen, die mit der Unaufmerksamkeit ihres Vaters, eines Schuldirektors, beginnen. (...) Nun ist Herbert Beerenbaum kein Mörder. Der Arbeitersohn aus dem Ruhrgebiet hat als Emigrant aus der Sowjetunion, als überlebender Gast des ,Hotel Lux' eine makellose Kaderakte; mehr noch, er ist ein Mensch, ein glücklicher Heimkehrer, der seine Grete am Leben trifft und in Liebe zu ihr die neue Gesellschaft aufbaut. Schuldig geworden ist er durch zuviel Macht, die ihm durch zuviel Bürokratie in die Hände gegeben wird, oder war es umgekehrt. Für drei Jahre hat er den Studenten Baron, in Rosalinds Lieblingskneipe der Graf genannt, eines Manuskripts wegen ins Gefängnis gebracht. (...) Als einmal der Schriftsteller Victor Sensmann - den man wie Beerenbaum zu kennen glaubt, ohne ihn im wirklichen Leben benennen zu können den Alten besucht und beide Papier reden und die Mauer bejahen, kommt es zum Aufstand der fügsamen Schreiberin. Als spräche jede Generation eine andere Sprache, wobei der pädagogische Ansatz der Erwachsenen

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dem Kind Rosalind schon immer die Lüge als Wahrheit angeboten hat. Da bleibt nur ein Berührungspunkt, der Rosas Zorn neutralisiert. Was sie in der Nazizeit gewesen wäre, fragt Beerenbaum : , Vielleicht wäre ich Kommunist geworden', sagt Rosa. (...) Die Klugheit der Autorin ist allemal größer als die Verachtung und der Zorn Rosas auf Beerenbaum, diesen Inbegriff eines Chefs, der seine Rechte nicht aufgeben will. (...) Der Verstorbene hat es so gewollt, daß seine Memoiren in ihren Besitz übergehen. (...) Wie die Autorin wird zumindest diese Generation von diesen Papieren nicht loskommen. "14 Auch wenn Monika Maron die Honeckers und Hermann Kants in ihrer Unbelehrbarkeit ebenso aufdeckt wie moralisch differenzierend abwägt, ihre ätzende Präzision im Bloßstellen der Vätergeneration samt deren Anpasserei und inhumanen Sprachregelung ist gerade im neuerdings durchgehaltenen Realismus überzeugend. Rosalind wünscht sich den Tod des alten, auch ihre Frauenwürde nicht achtenden Funktionärs und führt ihn durch ihre Anklagen mit herbei. Der „Klasseninstinkt" ihres Vaters, der Kafka „dekadent" und „schädlich" nennt, das Gerede Beerenbaums vom „sozialistischen Schutzwall", „guten Genossen" und der „richtigen Perspektive" - all jene Phrasen des abgelebten Systems erscheinen im Licht der subtilen Psychogramme und inhumanen Handlungsweisen im Alltag zweier DDR-Gründerväter doppelt unaufrichtig. Die im März 1991 erschienene, lange Erzählung von Friedrich Christian Delius, Die Birnen von Ribbeck, versucht, aus Westberliner Sicht Fontanes Ballade zu einer Geschichtsrekapitulation von hundert Jahren Havelland seit Erscheinen des Gedichts zu formen. Entstanden ist eine Sympathieerklärung des Autors für die geschichtsgeprüfte Region im Bewußtseinsstrom eines Havelbauern. Die Westberliner erobern Ribbeck mit ihren teuren Schlitten und Videokameras, nehmen den Dorfbewohnern mit den „mächtigen Markstücken" die Ruhe und den Rest Identität und haben für den roten Faden der Dorfgeschichte, auch die dortige stille Liebe zu Fontane, wenig Geduld. Der originelle, streckenweise poetisch verdichtete Versuch, zentriert um eine symbolisch vielschichtig und relevant gemachte Ballade des „Erbe"-Dichters Fontane, ist nicht frei von Klischees typischer DDR-Vorbehalte gegenüber bundesbürgerlicher Naivität. Die zustimmende Gewöhnung ans westliche Konsumverhalten im allabendlichen DDR-Fernsehen lange vor der Maueröffnung läßt der einstige Wagenbach- und Rotbuch-Lektor Delius für sein verdichtetes Genrebild beharrlich außer acht. Sein Versuch steht für das Bedauern manches Westautors, daß die Maueröffnung zu schnell kam, am eigensinnigsten von Günter Grass vorgebracht in Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot, Reden und Gespräche (1990) und in Ein Schnäppchen namens DDR( 1990). 14

F. R. FRIES, Von Rosa und Herbert, in: Stuttgarter Zeitung, 29. 2. 1992.

366

Volker Wehdeking

Zwei Aspekte dieses stark auswählenden Überblicks der letzten zwanzig Jahre kultureller Wiederannäherung können der Zusammenfassung dienen: Günter de Bruyns These der nie ganz geteilten Kulturnation findet Bestätigung gerade in der auffälligen Wahl von Historiker-Protagonisten bei Hein und Maron. Die eine Geschichtsschreibung hüben wie drüben ergänzend, korrigierend, lebendig und subjektiv begleitende Reihe literarischer Texte hat dem Historismus immer die offen haltende, leserrelevante Ich-Perspektive als ein Stück Selbstfindung und Mentalitätsgeschichte entgegengesetzt. Historiker als häufige Hauptfiguren von DDR-Romanen des letzten Jahrzehnts betonen diesen Zusammenhang und die besondere Sensibilität der Helden gegenüber einer gemeinsamen, wenn auch nur latent vorhandenen Kulturnation. Als den Mauerschüssen vergleichbares Skandalon im intellektuellen Bereich muß die Zensur und Stasi-Überwachung der Autoren bis zu deren Verstummen oder Ausbürgerung gelten. Zu diesem traurigen Kapitel gibt es nun am Beispiel einzelner Autoren wie Kunert, Kunze oder Jurek Bekker erste Versuche der Aufarbeitung 15 . Im Roman jedoch konnte, nach immer noch verhüllten Hinweisen Monika Marons und Christoph Heins im Werk bis 1989, erst Stille Zeile Sechs (1991) mit einer so eklatant moralischen und anrührenden Szene aufwarten, wie die Reaktion der Historikerin Rosalind Polkowski auf das „Antifaschisten-Schutzwall"-Gerede zweier Altfunktionäre unter den Intellektuellen: Allein die Zumutung, das Wort hinzuschreiben, als wäre es ein Wort wie Blume, Hund und Mauer, empörte mich. Ich notierte: B: Zeit nach Bau des Antifaschuwa war aufregend. (...) Damals, sagte Beerenbaum, vor dem historischen August 61, habe er, wenn er morgens beim Betreten der Universität die Linden hinunterblickte, oft die Vision gehabt, Ströme des Lebenssaftes der jungen Republik, rot und pulsierend, durch das Brandenburger Tor geradewegs in den gierigen Körper des Feindes fließen zu sehen. (...) Sensmann durfte den offenen Widerspruch nicht wagen und ich sollte ihm helfen. Da haben Sie das Blut lieber selbst zum Fließen gebracht und eine Mauer gebaut, an der Sie den Leuten die nötigen Öffnungen in die Körper schießen konnten, sagte ich. Zwei oder drei Sekunden lang war es so still, als hielten wir alle drei den Atem an.'6 Als Stefan Heym 1989 sagte, „Es wird keine D D R mehr geben. Sie wird 15

Vgl. etwa M. DURZAK, Die Widerstandskraft der Literatur. Zu der Kurzgeschichte .Bericht des Zensors über die Begegnung mit einem gewissen G.' von Günter Kunert, in: Günter Kunert. Beiträge zu seinem Werk, hg. von M . D U R Z A K , H . S T E I N E C K E , München 1992, 190ff mit acht Seiten Dokumentation zu Kunert, Kunze und der Zensur. - E. LOEST, Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze, Göttingen 1990. - J. BECKER, Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt, Frankfurt a. Main 1990. " M. MARON, Stille Zeile Sechs, Frankfurt a. Main 1991, 107f.

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nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte", konnte er die von großem Leserinteresse im Westen, nicht nur in der Bundesrepublik, begleitete DDR-Literatur nicht gemeint haben. Zu einer Neubewertung ist es noch sehr früh. Die stärksten Kontraste bestanden in den Jahren 1951 bis 1971, als der sozialistische Realismus Doktrin war. Aber bereits sehr früh, schon seit 1965, vollzog sich eine neuerliche Annäherung an Themen und Formen westlicher Spätmoderne. Immer blieb dabei aber ein integraler Bestandteil die kulturelle und soziopolitische Wirklichkeit der DDR, die die Literatur dort unverwechselbar und bis zum Ende färbte. Formen der Postmoderne allerdings, wie sie bei uns Peter Handke, Botho Strauß und Hanns-Josef Ortheil seit Mitte der 70er Jahre versuchten, erscheinen auch im Rückblick in der DDR-Literatur dünn gesät. Bei der Prenzlauer BergGeneration der nach 1950 Geborenen allerdings könnte man auf Katja Lange-Müllers Collagen-Text Kaspar Mauser. Die Feigheit vorm Freund (1988) hinweisen oder auf Angela Krauß' Sprachskepsis im Prosaband Das Vergnügen (1989), wo gerade die hohlen Phrasen einer Betriebsfeier der „Brikettfabrik Rosdorf" in ironischer Anspielung auf Bitterfeld den Beteiligten im Munde steckenbleiben 17 . Die drei DDR-Autoren-Generationen haben einen langen Weg zur Spätmoderne zurückgelegt, einen auch für uns lehrreichen und unverwechselbar eigenen Weg, der die deutsche Literatur nachhaltig bereichert.

" Vgl. die Überblicksdarstellungen: U. WITTSTOCK, Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Wege der DDR-Literatur 1949-1989, München 1989. - W. EMMERICH, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. Main 1990. - V. HAGE, Schriftproben. Zur deutschen Literatur der achtziger Jahre, Reinbek 1990. - G. RÜHLE, Das zerrissene Theater. 1991: Rückblick auf die Szene des Jahrhunderts, in: Neue Rundschau 103 (1992), H. 1, 154-169.

Alfred

Heit

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs Es

herrscht

freilich

bei

vielen

unserer

Fachgenossen die M e i n u n g , solche

Aus-

e i n a n d e r s e t z u n g e n begrifflicher Art seien überflüssig, weil o h n e praktischen Zweck. Ernst

BERNHEIM,

Lehrbuch

der

histori-

schen M e t h o d e u n d der Geschichtsphilosophie

Die dem Historiker geläufige axiomatische Aussage, Geschichte vollziehe sich in Raum und Zeit, legt eine Problemsynopse zu beiden Grundbegriffen nahe. Eine Zusammenschau in gesamtwissenschaftlicher Perspektive ist jedoch bisher als nicht dringlich empfunden worden, und auch auf geschichtswissenschaftlicher Ebene bleibt sie defizitär. Der folgende Beitrag versteht sich als eine Bestandsaufnahme bisheriger wissenschaftlicher Bemühungen um den Raum. Er versucht in der Konsequenz dieser Zusammenstellung Raum als einen geschichtlichen Grundbegriff mit gesamthaften Implikationen zu bedenken, die willentlich begrenzte Sicht der Einzeldisziplinen durch eine Zusammenschau und befruchtende Gegenseitigkeit zu durchbrechen. Diesen Beitrag Friedrich Prinz zum Fünfundsechzigsten zu widmen, begründet sich mehrfach in der Sache, nicht zuletzt aber in persönlicher Dankbarkeit des Schülers gegenüber dem wegweisenden Meister. Ausgehend von seiner Lernzeit und wissenschaftlichen Tätigkeit am Bonner „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande" hat Friedrich Prinz wie wenige in konsequenter Verfolgung seiner vergleichenden Konzeption von Landesgeschichte den Raum in Forschung, Darstellung und Lehre herausgestellt. Unter seinen Schülern haben Alfred Haverkamp und auch Franz Irsigler vielgestaltige, bei ihm vorhandene Grundlagen in eigenen, räumlich dominierten Forschungsfeldern ausbauen können'. 1

J ü r g e n Nagel, Martin Schmidt u n d Volker Wienecke waren mir im S o m m e r s e m e s t e r 1992 zu dieser Thematik wichtige G e s p r ä c h s p a r t n e r in einer einschlägigen, a n d e r Universität Trier d u r c h g e f ü h r t e n Lehrveranstaltung. Ich v e r d a n k e ihnen vielfältige A n r e g u n g e n u n d Hinweise. Bedeutsame Schritte in die R i c h t u n g einer gesamtwissenschaftlichen R a u m b e t r a c h t u n g stellen zwei Sammelwerke d a r , an d e n e n sich die Schwierigkeiten des U n t e r n e h mens ablesen lassen: Sprache u n d R a u m . Psychologische u n d linguistische Aspekte d e r Aneignung u n d Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch f ü r das Lehren v o n Forschung, hg. von H. SCHWEIZER, Stuttgart 1985; R a u m b e g r i f f in dieser Zeit. Bildräume -

370

Alfred Heit

Die deutschsprachige historische Forschung, die sich insbesondere seit dem 19. Jahrhundert auf breiter Front dem „Reduktionismus" 2 , d.h. einer Forschungskonzeption der kleinen Schritte und begrenzten Fragestellungen mit striktem Quellenbezug verschrieben hat, versteht sich nur zögernd zu einem „Holismus", der in notwendig ungewohnter Weise zwar geschichtswissenschaftlich bezogene, aber relativ quellenferne ganzheitliche Überlegungen anstellt, mit übergreifenden Begriffen arbeitet und „Grundbegriffe" zu konzipieren bemüht ist. D a ß ein neueres Bedürfnis besteht, den Wissens- und Erkenntnisbestand unseres Faches in Grundbegriffen überschaubar zu machen, manifestiert sich in dem großen Nachschlagewerk „Geschichtliche Grundbegriffe", das seit 1972 erscheint und nunmehr abgeschlossen ist. Dessen Herausgebern - Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck galt „Raum" freilich nicht als geschichtlicher Grundbegriff: er fehlt. Im Fischer Lexikon Geschichte ist er auch in der neuesten Überarbeitung nicht aufgenommen - um nur diese Beispiele zu nennen. Einen kräftigen Versuch, sich dem Problem zu nähern, unternahm die „36. Versammlung deutscher Historiker in Trier"3, die sich das Motto Fortsetzung Fußnote von Seite 369 Realräume - Zeitraum - Raumbewußtsein. Vorträge aus dem Verlagskolloquium (Verlag Die Blaue Eule) 1985 in Bochum, hg. von K . B E R I N G und W. L . H O H M A N N , Essen 1986. Eine Schwierigkeit ist die Auswahl der Aspekte und die Darstellung des jeweiligen Forschungsstandes, eine weitere die interdisziplinäre Durchdringung des Gegenstandes unter Überwindung der Sprachbarrieren zwischen den Wissenschaften. Hierbei sind die einzelnen Disziplinen u n d Beiträger unterschiedlich produktiv bzw. kooperativ. Die Skala reicht von einer Haltung selbstverliebter Esoterik bis hin zu fundierten, interdisziplinärer Betrachtung offenen Arbeiten. Auch die Herausgeber, denen - will man in dieser Problematik in einen Dialog zwischen d e n Wissenschaften eintreten - eine Schlüsselrolle zukommt, wenden sich dieser Aufgabe nicht gleichermaßen aufwendig zu. S C H W E I Z E R gibt eine dankbar zu quittierende „Ein-Leitung" (vgl. dazu unten), während K . B E R I N G und W. L . H O H M A N N es bei einer k n a p p e n „Vorbemerkung" bewenden lassen. - Im einzelnen umfaßt der Band „Raumbegriff in dieser Z e i t " folgende Beiträge: K. W. RUMINSKI, Raumbewußtsein als Problem der Psychologie, 9 - 1 7 ; H. S T A D E R M A N N , Physiologische Grundlagen der Raumwahrnehmung, 19-36; K. J. BRAND, Der aus-geräumte Leib. Anmerkungen zu einer Anthropologie des Anschauungsraumes, 37-45; M. FLEISCHER, Der Modellcharakter der Raumzeit in der Lyrik und Prosa (Sarah Kirsch-Günter Kunert-Brüder Grimm), 47-86; K. KRÄMER, Der physikalische Raumbegriff/Zeitbegriff, 87-109; R. KÜSTER, Metaphorik des Raumes, 111123; R . R U S T E M E Y E R , Selbstentfernung und Verräumlichung. Das unendliche Ende der Geschichte, 125-139; H . B E R K A , Raumbewußtsein - ein Erziehungsziel?, 139-148; K . B E R I N G , Realisation von Raumvorstellungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, 149-164; R. H E I N Z , Der Platz ist verflucht. Z u r Pathognostik von T a b u - R ä u m e n , 165-195; Ausgestellte Arbeiten ( K o m m e n t a r e von C.-P. B U S C H K Ü H L E , 199-200; H . H E I N Z , Graphik-Graphik, 201-203). - Zu Friedrich Prinz vgl. „Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz", in: F. P R I N Z , Mönchtum, Kultur und Gesellschaft, Beiträge zum Mittelalter. Zum sechzigsten Geburtstag des Autors, hg. von A. H A V E R K A M P und A. H E I T , München 1989, 269-288, bes. N r n . 4 ( 1 8 Karten), 149-155 (über 20 Karten u n d Kartenkommentare). 2

3

Zu den Begriffen „Reduktionismus" und „ H o l i s m u s " s. E. P. ODDUM, Der Aufbruch der Ökologie zu einer neuen integrierten Disziplin, in: DERS., Grundlagen der Ökologie in 2 Bänden, übers, u n d bearb. von J. O V E R B E C K und E. O V E R B E C K , Bd. 1, Stuttgart-New York 1980, XIV-XXVI. Bericht über die Versammlung deutscher Historiker in Trier, 8.-12. Oktober 1986, Red. P. S C H U M A N N unter Mitarbeit von M. H A M M E R , Stuttgart 1988.

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gab: „Räume der Geschichte - Geschichte des Raums". Die Vielfalt der Artikulationen dieses Historikertags wird uns nur in den Teilen beschäftigen, die sich der Allgemeinheit des Zentralthemas wenigstens partiell annehmen und sich so mit unserem Vorhaben berühren. Dabei stellt sich das Problem in doppelter Weise: Raum als seiender Gegenstand wie auch als „Gedankending". Beide unterliegen geschichtlichen Bedingungen und Verläufen. Der Eröffnungsvortrag Christian Meiers 4 spricht die bisherige Vernachlässigung der Frage an, und er sieht einen wichtigen Grund in dem „Mißbrauch", „den die deutsche Führung nach 1933 mit der ,Geopolitik' getrieben hat". Die Explikation des Zentralthemas im Hinblick auf das Programm der Veranstaltungen benennt als dessen Komponenten die räumlichen Bedingungen von Geschichte wie auch die Raumgestaltung durch den Menschen, daneben die Geschichte des Raums als einer historischen Dimension und den geschichtlichen Wechsel der Konzeptionen und realen Qualitäten von Raum und Zeit. Hier wird eine Differenz des Ansatzes erkennbar, die es als durchaus chancenreich erscheinen läßt, über die Thematisierungen des 36. Historikertages hinauszufragen bzw. ergänzende Fragen anzuschließen. Dies führt fachextern in eine Reihe anderer wissenschaftlicher Disziplinen, fachintern in den Bereich der Instrumentarien, Strategien und Konstrukte der Erforschung und Darstellung von Geschichte und einer Analyse ihrer räumlichen Implikationen. Innerhalb der Podiumsdiskussion „Mittellage und nationale Identität" entnehmen wir dem Beitrag von R. Fritsch-Bournazel 5 die nachdrücklichen Hinweise auf die in besonderem Maße raumorientierte französische Geschichtsforschung. Genannt werden Jean-Baptiste Duroselle, Pierre Renouvin und vor allem Fernand Braudel. Kaum einer der modernen Historiker hat wie er in seinem großen Werk über das Mittelmeer und die mittelmeerische Welt die Raumverhaftung aller Geschichte aufgezeigt, zugleich aber die Differenzierung der Zeit in den drei Tempi „Histoire quasi immobile", „longue durée" und „histoire événementielle" zugeordnet. Franz Irsiglers Behandlung der „Raumkonzepte in der historischen Forschung" 6 , die die Sequenz der drei Sektionen zum Generalthema „Zwischen Gallia und Germania, Frankreich und Deutschland. Konstanz 1 5

6

Ebd., 17-27. Ebd., 38—44, 42-43. Vgl. F. BRAUDEL, La M é d i t e r r a n é e et le m o n d e m é d i t e r r a n é e n à l'époq u e de Philippe II. Extrait de la préface, in: DERS., Ecrits sur l'histoire, Paris 1969, 11-13; DERS., Histoire et sciences sociales. La longue durée, ebd., 41-83. Z u r neueren K o n t r o v e r s e u m die „Schule d e r A n n a l e s " s. H. COUTAU-BEGARIE, Le p h é n o m è n e Nouvelle histoire. G r a n d e u r et décadence d e l'école des „ A n n a l e s " , 2' édition entièrement r e f o n d u e , Paris 1989. F. IRSIGLER, R a u m k o n z e p t e in d e r historischen Forschung, i n : Zwischen Gallia u n d G e r m a nia, Frankreich u n d Deutschland. K o n s t a n z u n d W a n d e l r a u m b e s t i m m e n d e r K r ä f t e . Vorträge auf d e m 36. Deutschen Historikertag, Trier, 8.-12. O k t o b e r 1986. In V e r b i n d u n g mit G. BIRTSCH ... hg. von A. HEIT (Trierer Historische F o r s c h u n g e n 12), Trier 1987, 11-27; vgl. a u c h DERS., in: Bericht (Anm. 3), 45-47.

372

Alfred Heit

und Wandel raumbestimmender Kräfte" (Sektionen 1, 12, 20) einleitet, versteht sich als „Diskussionsangebot, als Beitrag zur Begriffsbildung und zur Entwicklung von tragfähigen Hypothesen". Die Sektion 9: „Raumbeherrschung durch Recht und Juristen" 7 ist herausgehoben durch die Tatsache, daß die Rechtsgeschichte bisher selten in dieser Entschiedenheit die Raumthematik übergreifend anging. Die Sektion 10: „Die Bewältigung räumlicher Distanzen und die Erschließung von Räumen durch die unternehmerische Wirtschaft vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart" 8 findet ihren theoretischen Rückhalt in der von Hans Pohl einleitend skizzierten Grundlagenforschung und „Begriffsklärungsdiskussion", in die er selbst bereits 1983 maßgeblich eingriff 9 . Seiner Analyse, die er auf dem Historikertag nur verweisend einbrachte, kommt ebenfalls grundlegende Bedeutung zu. In der Sektion 13: „Geographie in der Geschichte: Siedlungsräumliche Entwicklung - räumliche Systeme, Beziehungsgefüge und Prozesse" 10 stellt sich die Historische Geographie auch in ihrem theoretischen und methodischen Selbstverständnis vor. Es wird deutlich, daß sich Geographie und Geschichtswissenschaft nicht nur „aufeinander zu bewegen" (Dietrich Fliedner), sondern sich bereits jetzt wo nicht gleichen, so doch eng verwandten Fragestellungen widmen. Der Schlußvortrag Reinhard Kosellecks „Raum und Geschichte" 11 wendet sich unserem Thema in allgemeiner Form und in vielseitiger Perspektive zu. Es ist zu bedauern, daß der Vortrag bisher nicht veröffentlicht wurde, so daß eine Analyse vorläufig bleiben muß. Zeitlich spannt er sich von dunklen Vorzeiten bis in nebelhafte Zukünfte. Koselleck liefert eine Reihe grundlegender Stichpunkte: Ausgangsbefund ist die ausgewiesene bzw. stillschweigende Omnipräsenz von Raum und Zeit in allen geschichtlichen Darstellungen. „Jede Geschichte hat ihren je eigenen Zeitraum, dem immer eine spezifische Raum-Zeit korrespondiert. Diese Kategorien zu klären, gehört zur Aufgabe einer Historik." Der wissenschaftlich im 18. Jahrhundert postulierte Gegensatz von Natur und Geschichte führt zur Abtrennung der Naturgeschichte von den Geschichtswissenschaften. (Die Begründung der Abtrennung durch Johann Gustav Droysen bleibt hier nachzutragen.) Die Geographie erscheint janushaft sowohl den Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch den Naturwissenschaften zugeordnet. Es mangelt der Dialog zwischen Geschichtswissenschaften und (philosophisch-)geographischen Wissenschaften: Alexander von Humboldt (1769-1859), Christian Kapp (1798-1874), Carl Ritter (1779-1859), Friedrich Ratzel (1844-1904) werden mit ihren 7 8 9

10 11

Bericht (Anm. 3), 85. Die Beiträge sind in: Bericht (Anm. 3), 85-90, hier 86. Gewerbe- und Industrielandschaften vom H. POHL (Vierteljahrschrift für Sozial- und Bericht (Anm. 3), 124-130; Zitat FLIEDNER Ebd., 210-211.

lus commune 14 (1987) erschienen. Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. von Wirtschaftsgeschichte, Beih. 78), Stuttgart 1986. auf S. 128.

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Leistungen für die Geschichtswissenschaften nicht fruchtbar gemacht. Karl Lamprechts „Gesamtanspruch" projektiert eine Einheit, die sich auf das Spektrum der Natur- und Gesellschaftswissenschaften richtet. Wissenschaftstheoretisch charakterisiert Koselleck den Raum in seiner doppelten Eigenschaft als metahistorische Vorgabe und historisierbares Objekt, das durch den Menschen „kulturell, ökonomisch und politisch überformt" wird. Die Korrelation geschichtlicher Räume mit den ihnen korrespondierenden Zeiten erbringt fundamentale strukturelle Einsichten: Der Abfolge „Jäger- und Sammlerkulturen", „Ackerbau- und Hochkulturen" und „moderne ... Weltkulturen" entspricht eine Reduktionsbeschleunigung im Hinblick auf die zeitliche Erstreckung bzw. die Zeitabstände und die Großräumigkeit. Die Raum-Zeitrelationen blieben bis zur Industriellen Revolution (auf niederem Niveau) konstant, seitdem sind sie grundlegend gewandelt. Im Zeitalter einer Globalgeschichte werden Meeresraum und Luftraum im Weltmaßstab mit Ausbeutungsabsicht verherrschaftlicht, zugleich aber auch - in der Konsequenz moderner Entwicklungsfolgen - zunehmend universal. Die Geopolitik wird von Koselleck in ihrem „wissenschaftlichen Irrtum", „aus räumlichen Vorgaben menschlicher Handlungsmöglichkeiten ontologische Gesetze der Politik abzuleiten", negativ bewertet. Zuvor hatte sich Peter Schöller in seinem öffentlichen Vortrag „Geopolitische Versuchungen bei der Interpretation der Beziehungen zwischen Raum und Geschichte. Eine kritische Bilanz der Konzeptionen und Theorien seit Friedrich Ratzel" 12 scharf gegen eine Wiederbelebung geopolitischer Ansätze - und sei es nur auf terminologischer Ebene - gewandt. Die im folgenden skizzierte Problemsynopse geht zunächst von allgemeinsprachlich-pragmatischen Befunden aus und fragt anschließend die Begriffsauslegungen mehr oder weniger benachbarter Disziplinen ab. Wir richten den Blick auf die Philologie, die Philosophie unter Einschluß mathematisch-physikalischer Komponenten, die Theologie, die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, die Geographie, die Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte. Innerhalb der Geschichte ist man zunächst auf die Historik verwiesen, sodann sind die Teildisziplinen in ihren Raumbezügen zu analysieren und die Forschungsansätze und -gebiete vorzustellen: die Kulturraumforschung, die Zentralitätsforschung, die Erforschung von Grenzen, die Erforschung der Bewegung im Raum. Die Strukturierungsversuche des Raumvokabulars in Wörterbüchern zeigen zur Genüge die Sperrigkeit des Materials und die Schwierigkeit, es befriedigend zu ordnen. Der Duden 1 3 differenziert „ R a u m " in sechs Be12 Ebd., 151-153. " DUDEN, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden, hg. und bearb. ... unter Ltg. von G. DROSDOWSKI, Bd. 5, Mannheim-Wien-Zürich 1980, s. v. Raum, 2104-

2105.

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deutungsfeldern, die eher pragmatisch als systematisch zusammengestellt sind. Wehrle-Eggers 14 weist „ R a u m " einen systematischen Abschnitt zu, der in „Raumvorstellungen", „Abmessungen", „ F o r m " und „Bewegung" unterteilt ist und Feingliederungen wie „Raumordnung", „Raumerfüllung", „Formbegriff", „Geometrische Formen", „Oberflächengestaltung", „Begriff der Bewegung", „Arten der Fortbewegung", „Bewegungsgrad", „Verursachte Bewegung", „Richtungsbezogene Bewegung" enthält. Man befindet sich hier in einem Wort- und Begriffsgemenge, das alle verwirrenden Merkmale eines intentional nicht gerichteten Sprachbestandes hat. Wie kann man es zu unserem Problem befragen? Alsbald wird klar, daß sich nicht nur Wörter bzw. Begriffe vermischen, sondern auch die Perspektiven und Aspekte verschiedener Wissenschaften durcheinandergehen. Hier müßte zunächst einmal sortiert werden. Von der Geschichtswissenschaft her läßt sich fragen: Welche raumbezogenen Wissenschaftsbegriffe sind in diese Wortschatzsammlung eingegangen? Welche der aufgeführten raumbezogenen „Allgemeinwörter" werden vorzugsweise in der Geschichtswissenschaft verwandt? Wie lassen sich Gruppierungen zu Wort- bzw. Begriffsfeldern vornehmen? Wie sind die Übergänge, Abstufungen von einem Bereich in den anderen? Zur Beantwortung solcher Fragen wäre es unerläßlich, linguistische Untersuchungen zur geschichtswissenschaftlichen Sprachgebung vorzunehmen, aber hier fehlt es, soweit ich sehe, an allen Vorarbeiten. Gerade hier stoßen Theorie und Praxis in aufregender Weise zusammen. Im Bereich der Wissenschaftsbegriffe gibt es Beispiele für theoretisch definierte bzw. gebrauchsdefinierte Begriffe wie „Bannmeile", „Burgbann", „Mark", „Weichbild", die freilich die Einbeziehung der dazugehörigen Quellentermini notwendig machen, will man das Problem nicht verkürzen. Unter den Allgemeinwörtern gibt es einen bevorzugten Gebrauch bis hin zu Modewörtern. „Lebenswelt" droht ein solches zu werden, „Umwelt" ist es schon. „Lebensraum" ist von pejorativen historischen Konnotationen bedroht. In der Raumbestimmung der Philosophie 15 klaffen die marxistischen und nichtmarxistischen Richtungen schroff auseinander. Der Marxismus bindet Raum und Zeit zusammen und sieht in beiden „grundlegende Existenzformen" der sich bewegenden Materie. Nur in der absoluten Beziehung zur Materie haben Raum und Zeit Realität. Der geschichtliche Weg 14

15

WEHRLE-EGGERS, Deutscher Wortschatz. Ein Wegweiser z u m treffenden Ausdruck, 12. Aufl., völlig neu bearb. von H. EGGERS, Stuttgart 1961, 56-106. F ü r den marxistischen S t a n d p u n k t : Philosophisches Wörterbuch, hg. von G. KLAUS, M . BUHR, 8., berichtigte Aufl., Berlin 1972, s.v. R a u m u n d Zeit, 908-911; für den nichtmarxistischen: Philosophisches Wörterbuch, begr. v o n H. SCHMIDT, 19. Aufl., neu bearb. von G . SCHISCHKOFF ( K r ö n e r s Taschenausgabe 13), Stuttgart 1974, s. v. R a u m , R a u m w a h r n e h m u n g , 537-538; Philosophisches W ö r t e r b u c h , hg. v o n W. BRUGGER, 14. Aufl., FreiburgBasel-Wien 1976, s.v. R a u m , 315-316; Zitate d e r Referierung ebd.

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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der Raumauffassungen verläuft in marxistischer Sicht weithin im vorwissenschaftlichen Bereich, doch gilt ζ. B. Feuerbach als Vorläufer moderner marxistischer Erkenntnisse. Die klare Herausarbeitung der Begriffskonturen des Raumes im jeweiligen historischen Horizont verdient eine Referierung: Pragmatisch verortet sind die Raumerkenntnisse im alten Ägypten und Babylon im 4. Jahrtausend v. Chr. Euklids „Elemente" (4./3. Jh. v. Chr.) formulieren mathematisch-geometrisch den alltäglichen Erfahrungsraum des Menschen („Euklidischer Raum"). Demokrit (geb. um 460 v. Chr.) postuliert die objektive Existenz von Raum und Zeit. Ebenso Aristoteles, der sich die Zeit nicht ohne Bezug auf die Seele denken kann. Nach demokritischer Auffassung ist der Raum unendlich, nach aristotelischer endlich. Das christliche, geozentrische Mittelalter sieht den Raum endlich, die beginnende Neuzeit - Kopernikus, Bruno, Galilei - konzipiert ihn unendlich. Descartes setzt Raum und Materie gleich, ihre Grundeigenschaft ist die Ausdehnung (res extensa). Zeit als Denkmodus hat bei ihm keine objektive Realität. Nach Newton haben Raum und Zeit objektive Realität, jedoch absolute Struktur. Der Raum Newtons ist der dreidimensionale euklidische Raum, der unabhängig von physikalischen Gegebenheiten existiert. Seine Zeit ist gleichförmig und nicht umkehrbar und darin ähnlich der augustinischen geschichtlichen Zeit. Leibniz kritisiert den absoluten Newtonschen Raum und postuliert seinerseits einen materiellen RaumZeit-Bezug. Für ihn sind Raum und Zeit subjektive Wahrnehmungen, denen eine objektive Weltordnung entspricht. Diese „gemischte" Auffassung reduziert sich bei Kant auf die idealistische Formel, Raum und Zeit seien reine Formen der Anschauung des Subjekts. Die nichteuklidische Geometrie des 19. Jahrhunderts und die Relativitätstheorie in ihrer speziellen und allgemeinen Form fassen die Raum-Zeit-Problematik in neuen Theoremen, durch deren Aussagen die marxistische Auffassung sich bestätigt sieht. Die Annäherung der nichtmarxistischen Philosophie an den Raumbegriff ist komplexer als die der marxistischen und vermeidet die Engführung auf die Materie. Raum als Begriff ist ausgedehnte Leere, Behältnis der Körper. Der absolute/imaginäre Raum ist unendlich, endliche Räume sind Teile des unendlichen Raumes. Nach der auf die nichteuklidische Geometrie gestützten Relativitätstheorie ist Raum endlich, aber unbegrenzt. Wirklichkeit von Raum wird nachgefragt unter den Aspekten Imagination von Raum in unserer Einbildungskraft, Begriff des Raums, an sich seiender Raum. Unsere Raumvorstellung ist eingeboren und durchdringt auch unsere Wahrnehmung der Außenwelt. Insofern wird Kant bestätigt. Der Aufbau eines dreidimensionalen Weltbildes ist das Ergebnis komplexer sinnlicher und intellektuell-seelischer Vorgänge, deren Erforschung der Wahrnehmungspsychologie obliegt. Der an sich seiende Raum gewinnt Konsistenz durch die Realität der Ausdehnung von Körpern. Der

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real gegründete Raumbegriff erlaubt so objektiv gültige Aussagen über Raumverhältnisse, z. B. die Lage eines Dinges, d. h. das Verhältnis seines Ortes zu anderen Orten, oder die Distanz von Gegenständen, die sich als (relative) Ferne, Nähe und Berührung bestimmen läßt. Der innere Ort ist die Raumerfüllung eines Körpers selbst, der äußere Ort ist die Grenze der räumlichen gegenständlichen Umgebung. Bewegung ist die Ortsveränderung innerhalb eines Raumsystems, sei es aus innerem Antrieb oder durch äußere (Zwangs)einwirkung. Der euklidische Raum erstreckt sich in drei Hauptrichtungen, die aufeinander senkrecht stehen. Der mathematische Raum konstituiert sich als abstrakte Ausdehnung, der physikalische als ausgedehnte Körperrealität. Die mathematisch-physikalische Begriffssprache operiert mit mehrdimensionalen Räumen, einem sinnlich nicht nachvollziehbaren Konstrukt, das Raumverhältnisse mathematisch beschreibt. Der Historiker ist versucht, die philosophischen Raumbestimmungen weithin als redundant und „nutzlos in ihrer Tiefe" (Pascal) anzusehen. Andererseits fehlen ihm etwa bei den philosophisch bestimmten Raumverhältnissen die „Zentralität", bei der Raumpräsenz die räumliche „Verdichtung" und „Entleerung". Es ist jedoch durchaus nicht müßig, sich Raum im Möglichkeitsdenken zu erschließen. In der Dingwelt wie in der Gedankenwelt hat dies Folgen, und solche Exerzitien scheinen mir jedenfalls unverzichtbar zur Durchdringung dieses verwickelten Gegenstandes. Das Sammelwerk „Sprache und Raum" 1 6 signalisiert auch für den Bereich der Linguistik fachübergreifendes Interesse mit synoptischer Tendenz. Der Herausgeber Harro Schweizer entwirft ein Panorama von Raumerscheinungen bzw. menschlichen Raumerfahrungen, das festzuhalten lohnt". Die Begegnung mit Raum vollzieht sich in „alltäglichen Situationen", in „Denkprozessen und den entsprechenden Umsetzungen", wobei sprachlich verwendete Räumlichkeit auch unräumliche Sachverhalte darstellbar macht. Raumerfahrung in der Leiblichkeit, Raumgestaltung durch Bewegung werden fundamentale Elemente menschlicher Raumverhaftung. Materialität des Raumes wird thematisiert in aristotelischer und newtonscher Raumauffassung wie auch in der „materiellen Manifestation des Raumes", deren sich etwa „das Kleinkind als Vorform seiner räumlichen Wahrnehmung" bedient. Die Dreidimensionalität des Raumes akzentuiert sich in sinnlich erlebter Vertikalität wie Horizontalität, wobei dieser das größere Gewicht zukommt: Raum wird vom Menschen vornehmlich in horizontalen Erscheinungsformen erlebt. Die Strukturiertheit des Raumes vermittelt sich der kindlichen Raumvorstellung zunächst als „topologische Raumbegriffe wie ,Nachbarschaft', .Trennung', ,Umgebung' und .Reihenfolge'", dann erst " Wie Anm. 1. " H. SCHWEIZER, Ein-Leitung: Was bedeutet dem Menschen der Raum?, in: Sprache und Raum (Anm. 1), 1-15; Zitate der Referierung ebd.

R a u m - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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in euklidischen Figuren („Kreis, Quadrat, Gerade oder Winkel"). „Projektive und perspektivische Relationen" führen aus der Singularität der Gegenstände in die strukturierte Pluralität der „Koordinierung(en)" und „Konfigurationen". Zur Topologie des Raumes gehört auch das „Geflecht der Wege" mit allen Ausdifferenzierungen und die metrische Erfassung. Der Zeitlichkeit des Raumes ist die Geschichtlichkeit verschwistert. Damit verbunden ist die „Umwälzung menschlichen Raumwahrnehmens und Raumerlebens", etwa durch die Geschwindigkeit der Verkehrsmittel. Dem „historischen Entwicklungsstand der Gesellschaft" korrespondieren je verschiedene „ R ä u m e " im menschlichen Denken. Veränderlichkeit des Raumes an sich wie auch die Veränderlichkeit seiner Wahrnehmung gehören zur Kategorie dieser Zeitlichkeit. In Anlehnung an Wunderlich formuliert Schweizer: „Raum ist egozentrisch. Bezugspunkt der Raumorientierung ist das ,Ego\ von hier aus werden Entfernungen, Richtungen, Perspektiven, Reichweiten, Ausdehnungen bestimmt. Dieser Bezugspunkt des ,Ego' ist allerdings auf eine soziale Gruppe hin verschiebbar und kann schließlich in einer verobjektivierten Form, etwa als Landkarte, verallgemeinert werden." Das Sammelwerk umfaßt fünf thematische Blöcke, deren Kennzeichnung sich auf die Nennung der Überschriften beschränken muß: I. Raum als kognitives und sprachliches Problem, II. Syntaktische und semantische Aspekte: zum Lexikon der Raumrepräsentation, III. Die Bedeutung des sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns im Raum, IV. Das kognitive, interaktive und sprachliche Raumkonzept bei Kindern, V. Die kulturgeschichtliche Aneignung des natürlichen und sozialen Raumes. Raum hat innerhalb der Psychologie seinen systematischen Ort in der Wahrnehmungspsychologie. Es erstaunt, daß in allgemeinen psychologischen Nachschlagewerken unter dem Stichwort „Wahrnehmung" der „ R a u m " nur selten herausgestellt wird. Als eigenes Stichwort fehlt er meist gänzlich 18 . Harro Schweizer hat bereits etliches angesprochen, was hier thematisch werden kann. Der Nutzen, den der Historiker von einer psychologisch inspirierten Raumreflexion hat, bezieht sich zunächst auf ihn selbst, sodann aber auch auf seinen Gegenstand, insbesondere auf die Frage, was Raum und Raumwahrnehmung den Menschen früherer Zeiten bedeuteten. Die „raumzeitliche Gliederung der Bewußtseinserlebnisse" 19 ist ein axiomatischer Tatbestand. Die personalistische Psychologie vermittelt dazu im einzelnen beachtenswerte Erkenntnisse: „In jedem Augen" Ich stütze mich auf: Kleines Handbuch der Psychologie, hg. von D. und R. KATZ, 3., erweiterte Aufl., Basel-Stuttgart 1972, 131-173, 290-295; J. J. GIBSON, Die Wahrnehmung der visuellen Welt. Aus dem Amerikanischen übertragen von V. SCHUMANN, Weinheim-Basel 1973; L. KRUSE, Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie (Phänomenologisch-Psychologische Fors c h u n g e n 15), B e r l i n 1 9 7 4 ; M . STADLER/F. S E E G E R / A . RAEITHEL, P s y c h o l o g i e d e r W a h r n e h -

mung (Grundfragen der Psychologie), München 1975. " Kleines Handbuch der Philosophie (Anm. 18), 165.

378

Alfred Heit

blick unseres Wachseins ist uns ein urtümliches Raumerlebnis mitgegeben. Dieses Raumerlebnis ist ebensowenig von dem Ganzheitserlebnis unserer Existenz abzuspalten wie das Erlebnis der Organempfindungen, die unserem Leib entstammen" 2 0 . Die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung, beim modernen Menschen öfter verkümmert oder gestört, ist ein „Urphänomen", in dem es Naturvölker zu überragenden Leistungen bringen. Der „Orientierungsprozeß" „verläuft in einer psychophysischen Schicht, die tiefer liegt als die bewußten Verstandesprozesse" 21 . (Dem Historiker, der aus seiner gegenwärtigen Befindlichkeit heraus geschichtliche Raumphänomene beurteilt, muß man Behutsamkeit anempfehlen.) Die Bewußtseinsprozesse sind nicht alle räumlich geprägt, wohl aber zeitlich. Andererseits enthalten Zeiterlebnisse im Gegensatz zu Raumerlebnissen keine selbständigen Bewußtseinsinhalte. Die psychische Metrologie der Zeit hat an der „psychischen Präsenzzeit" eine Schranke, welche die menschliche Zeiterlebnisfähigkeit begrenzt. Zeit und Raum verbinden sich unlöslich in der Bewegung. Die Wahrnehmung der Bewegung ist an Minima und Maxima der Bewegungsgeschwindigkeit gekoppelt. Hier stößt man an eine Grenze der menschlichen Raumerlebnisfähigkeit. Die für den Menschen sichtbare Bewegung „stellt ... ein elementares, auf einfachere Elemente nicht zurückführbares Phänomen dar" 22 . In der Theologie bzw. Religionswissenschaft ist die Definition von Raum und die raumhaften bzw. raumhaltigen Elemente ihrer Termini zu betrachten. Näherhin sind dies die Begriffe „Himmel", „Welt" und „Schöpfung" 2 3 . Im Glauben der nichtjüdischen bzw. nichtchristlichen Völker ist Himmel die Wohnung der Überirdischen. Er versinnbildlicht das Transzendente, Unendliche, Mächtig-Allmächtige. Der materielle Himmel spielt dabei auch erlebnismäßig eine große Rolle. Ob die „Hochgottkonzeption" aus einer „Personifikation des materiellen Himmels" abgeleitet sei, ist wissenschaftlich umstritten. Die topologische Struktur des Himmels erhellt aus Vorstellungen wie der eines überirdisch-sublimierten Landes, in das jedoch irdische Verhältnisse hineinprojiziert werden oder der Imagination von Himmelsschichten, daneben auch von räumlichen Verbindungsgliedern zwischen Himmel und Erde (Weltenbaum, kosmischer Pfahl).

20 11 22 2J

Ebd., 169. Ebd., 170. Ebd., 172. Art. Himmel, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 2., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 5, Freiburg 1960, 352-358; F. M U S S N E R / J . B . 2 M E T Z / A . A U E R , Art. Welt, in: LThK 10 (1965), 1021-1027; J. R A T Z I N G E R , Art. Schöpfung, in: LThK 2 9 (1964), 466-476; (Zitat G. E. W R I G H T aus: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., 5 (1986), 1474); H. JUNKER, Art. Schöpfungsbericht, in: LThK 2 9 (1964), 466—470; K. R A H N E R , E . W Ö L F E L , Art. Schöpfungslehre, in: LThK 2 9 (1964), 470-476; Zitate der Referierung ebd. - Vgl. auch: M. MOSER, Art. Raum, in: LThK 2 8 (1963), 1014—

J. HAEKEL/J. SCHMID/J. RATZINGER/A. DÖRRER,

1016.

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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Die Himmelsvorstellungen der Bibel sind besonders im Alten Testament räumlich-konkret geprägt. Himmel ist ein festes Gebilde über der Erdscheibe, an dem die Gestirne ihre Bahnen haben. Himmel ist der Vorratsraum für Schnee und Hagel, Winde und Wasser. Die hebräische Bezeichnung für „Himmel" ist „Plural der räumlichen Ausdehnung". Er ist der Wohnsitz Jahwes. Zugleich mit der Erde wird er im göttlichen Gericht vernichtet, dereinst aber auch wieder von Gott neugeschaffen werden. Das Spätjudentum sieht im Himmel den Heilsort. Das Paradies - offenbar identisch mit dem himmlischen Jerusalem - wird in den 3. Himmel gelegt. Es ist der „Aufenthaltsort der verstorbenen Gerechten". Auch das Neue Testament kennt Erschaffung, Vernichtung und Erneuerung von Himmel und Erde wie auch die Erwartung des himmlischen Jerusalem. Kontinuierlich ist die Eigenschaft des Himmels als Heilsort. Im Himmelreich thront der göttliche Vater, von dort wird die Wiederkunft Christi erwartet. Die neuere Theologie konstituiert Himmel „als eine neue Dimension gegenüber den physikalischen Dimensionen", „in die er schlechterdings nicht einzuordnen ist". Der Weltbegriff entfaltet seine Raum/Zeit-Relevanz insbesondere an der Schnittlinie zwischen griechischer Antike und Christentum, die sich endgültig im Vorfeld und zu Beginn der Neuzeit ausprägt: „Im Unterschied zum griechischen Kosmos-Denken erscheint Welt in biblischchristlicher Sicht nicht primär als Natur-Welt, in deren vorgegebenen und hoheitsvoll umgreifenden Raum der Mensch wie nachträglich hineingestellt wäre, sondern als entstehende Geschichtswelt: sie wird theologisch jeweils in einem Verheißungshorizont (von der Erschaffung an) gesehen." „... lange blieb das griechische Weltverständnis ... kategorial wirksam für eine christliche Theologie der Welt. Von entscheidender Bedeutung wurde hier die üblicherweise mit dem Beginn der Neuzeit... verknüpfte .anthropologische Wende' in der Auslegung der Wirklichkeit. Welt erschien nun nicht mehr als umgreifendes,fertiges' Ganzes, sondern als verfügbare und veränderbare Umwelt menschlichen Handelns, als (je schon geschichtlich geprägtes) ,Material' des freien Selbstvollzugs des Menschen vor Gott." Der Mensch steht dabei in einer Weltverantwortung, die sich aus der Trias der Mysterien Schöpfung, Sünde, Christus begründet. Aber nicht nur „das personale Innere des Menschen, sondern auch die Bereiche der Sozialität und Materialität" sind Wirkungsräume des Bösen. Den Begriff der Schöpfung dominiert in der Bibel Gottes Hervorbringung der Welt ex nihilo. Schöpfung ist „worthaft gesetzte(s) Sein", in dem der Keim geschichtlicher Entwicklung angelegt ist. Der Schöpfungsbericht gipfelt im „Bundeszeichen" und im „Kulturauftrag an den Menschen": „... die Zeit und die königliche Berufung des Menschen in der Zeit steht im Mittelpunkt, nicht der Raum oder ein Gegenstand im R a u m " (G. E. Wright). Das Spätjudentum begreift in der Schöpfung die Schaffung einer Stätte, „an der Gottes Wille getan wird".

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Die Analyse von Raum und Raumphänomenen muß in der Soziologie unter dem Sammelbegriff „Soziale Morphologie" aufgesucht werden 24 . Dieser von Emil Durkheim 1898 geprägte Name bezeichnet eine mehrsträngige Hilfswissenschaft der Soziologie, die ihren Gegenstand als das „,materielle Substrat' der Gesellschaft" bestimmt, das deskriptiv und explikativ erfaßt werden soll. Zwei Hauptaspekte der sozialen Morphologie sind Sozialgeographie/Soziogeographie und Demographie. Die Sozialgeographie steht in Gegenposition zum geographischen Determinismus, der als ,tellurischer Determinismus' (F. Ratzel), .klimatischer Determinismus' (E. C. Semple, E. Huntington u. a.) seine Erklärungskraft für uns eingebüßt hat. Vor allem aber die räumliche Determinierung der politischen Geographie/Geopolitik markiert einen wissenschaftlichen Irrweg und politischen Mißbrauch. Demgegenüber bedeutet der „.geographische Possibilismus'" des französischen Geographen Paul Vidal de la Blache (18451918) eine neue, bis heute gültige Wegweisung. Eine Hauptfrage der Soziogeographie ist, in welcher Weise sich gesellschaftliche Wertsysteme in den Raum projizieren. In dieser Perspektive ist Kulturlandschaft ein Spiegel gesellschaftlicher Werthaltungen. Ein wichtiger Untersuchungsansatz zielt auf gesellschaftliche Wesensbestimmungen aus der Analyse von Tatbeständen räumlicher Differenzierung. Hier konstituiert sich das Problem der Abgrenzbarkeit von Raumeinheiten aufgrund gesellschaftlicher Lebensformen und Lebensinhalte. Die „funktionale und dynamische Betrachtungsweise" schließt sich an die Betrachtung der „Um weltein Wirkung auf den Menschen" sowie „der Umgestaltung der Umwelt durch den Menschen". „Zu den im Naturhaushalt begründeten Beziehungen gesellen sich solche wirtschaftlicher, technischer und kultureller Art, die entsprechend den einzelnen Sozialgruppen von politischen, religiös-ethischen und schichtbedingten Kräften überlagert werden (Hans Bobek). Maximilien Sorre (1957) stellte dazu fest, daß die Sozialgeographie die Aktivitäten der sozialen Gruppen analysiert, sofern sie sich dauernd in bestimmten landschaftlichen Gegebenheiten niederschlagen (exteriorisieren), während die Soziologie diese Gegebenheiten ,νοη innen her erleuchtet'. Da dabei vor allem die Frage des Überdauerns bestimmter Gruppen in der Zeit zur Diskussion steht, läuft die Arbeitsteilung zwischen Soziogeographie und Soziologie immer mehr auf den Gegensatz zwischen morphologischer und struktureller Betrachtung hinaus". Lucien Febvre 25 hat aus geschichtswissenschaftlicher Sicht die erkenntnisleitende Differenz zwischen sozialer Morphologie und Geographie so gefaßt, daß einerseits die Auswirkung sozialer Tatbestände auf den Raum und im Raum, andererseits die Aktion des Menschen im Raum und auf den Raum im Blickpunkt steht. 24

25

R. KÖNIG, Art. Soziale Morphologie, in: Das Fischer Lexikon, Soziologie, umgearb. und erw. Neuausg., hg. von R. KÖNIG, Frankfurt a. M. 1970, 280-290; Zitate der Referierung ebd. L. FEBVRE, La terre et l'évolution humaine, Paris 1922.

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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Die politischen, geographischen und Wirtschaftswissenschaften haben Raum in teils eigenen, teils angrenzenden oder sich überschneidenden Bezügen zu ihrem Gegenstand gemacht 26 . Räumlichkeit ist immer ein Implikat politischen Handelns, sei es expansiv nach außen oder auf ein räumlich saturiertes Staatsgebiet beschränkt. In der Raumpolitik bündeln sich Bodenpolitik, Wasserwirtschaftspolitik, Siedlungspolitik, Verkehrspolitik und zunehmend - als überwölbender Problemkomplex - Umweltpolitik. Weitere Stichwörter sind: Raumordnung und Landesplanung, Raumgestaltung und Raumerhaltung, näherhin Landeskultur/Landschaftspflege und Naturschutz. Die wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Raumes nimmt in der klassischen Nationalökonomie mit der Beachtung des Produktionsfaktors Boden ihren Anfang und reichert sich in der Explikation der Grundrente mit neuen Aspekten an. Johann Heinrich von Thünen 27 bringt den Produktionsstandort in die wirtschaftstheoretische Betrachtung ein. Die historischen Schulen der Nationalökonomie wandten sich realgeschichtlichen Standortfragen der Gewerbeproduktion zu. Alfred Weber formuliert die Dreiheit der industriellen Standortfaktoren: Rohstoffvorkommen, Arbeitspotential, Absatzraum 28 . August Lösch generalisiert diesen Ansatz, der sich in der Außenhandelstheorie fortentwickelt 29 . Geographie ist Raumwissenschaft im unmittelbarsten Sinne. In der Anthropogeographie wird die Raumfüllung durch den Menschen thematisch oder konkreter gesagt: die von der Gesellschaft geschaffenen Kulturlandschaften bzw. Kulturräume. Kulturräumliche Forschung in geographischem Sinn gliedert sich in Sozialgeographie, Wirtschaftsgeographie, Agrargeographie usw. Die Siedlungsgeographie nimmt hier einen bevorzugten Platz ein, ebenso die Zentralitätsforschung, die - von Walter Christaller angestoßen 30 - sich in der Erforschung der zentralen Funktionen der Stadt differenziert entfaltet hat 31 . Geographische Landeskunde ergreift 26

D. STORBECK, Art. Raum, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. von der Görres-Gesellschaft, 6., völlig neu bearb. und erw. Aufl., Freiburg 1961, 604-611; E. von BÖVENTER/H. JÜROENSEN/J. KLAUS, A r t . R a u m w i r t s c h a f t , i n : H a n d w ö r t e r b u c h d e r Wirt-

schaftswissenschaften (HdWW), zugl. Neuaufl. des Handwörterbuches der Sozialwissenschaften, Bd. 6, Stuttgart-New York-Tübingen-Göttingen-Zürich 1981, 406-456. 27 J. H. von THÜNEN, Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, 1842-1850, 3. Aufl., Berlin 1875. 28 A. WEBER, Über den Standort der Industrien, Tl. 1, Reine Theorie des Standorts, Tübingen 1909, 2. Aufl. 1922. 2 ' A. LÖSCH, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft, Jena 1940. 30 W. CHRISTALLER, Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Jena 1933. 31 Zentralitätsforschung, hg. von P. SCHÖLLER (WdF 301), Darmstadt 1972; Stadt-Land-Beziehungen und Zentralität als Problem der historischen Raumforschung, hg. von G. FRANZ (Historische Raumforschung 11 ; Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 88), Hannover 1974; Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, hg. von E. MEYNEN (Städteforschung A 8), KölnWien 1979.

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ihren Gegenstand vorwiegend deskriptiv, unter Hintanstellung jedweder Zwecksetzung, jedoch mit starkem Zug zu vollständiger Erfassung. In der Raumforschung laufen die skizzierten Disziplinen unter der Fragestellung und Zielsetzung zusammen, den Daseinsraum des Menschen wissenschaftlich zu durchdringen, nicht zuletzt aber auch, die gesellschaftlichen Lebensgrundlagen zu sichern. Die zunehmende Problematik demographischer und industrieller Ballung gibt hier als dringlichsten Forschungsgegenstand die Ermittlung der „Tragfähigkeit" des Raumes auf, d.h. die Bestimmung der ökologisch vertretbaren Raumnutzungsgrenze. Neben speziellen und regionalen Forschungseinrichtungen sind diese vielfältigen Aufgaben der Raumforschung in der Bundesrepublik zentralen Institutionen zugewiesen (Bundesanstalt für Landeskunde und Raumforschung in Bad Godesberg; Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover). Bevor wir uns der Geschichte zuwenden, sei noch kurz der Raumbegriff der Kunstwissenschaft bzw. Kunstgeschichte erörtert. Raum gilt in der Kunstwissenschaft neben anderen als Strukturkonstante. „Die Struktur eines Kunstwerks manifestiert sich vor allem im Zusammenhang der künstlerischen Kategorien: dem Raum (Räumlichkeit) und seinem Korrelat dem Körper, dem Licht und der Farbe sowie der Zeit. ... In die Struktur des Werks ist über die Räumlichkeit auch der Betrachter als Systemelement einbezogen; er tritt durch die Wahrnehmung verschiedenartig mit dem Kunstwerk in Beziehung" 32 . Von der Diversität der Raumbetrachtung gibt das kunstwissenschaftliche Raumbegriffsfeld Zeugnis, dessen Vielfalt uns hier nicht beschäftigen kann. Die Projektion von Körpern auf die Ebene als imaginiertem Raum geschieht in Form verschiedener Perspektiven oder als nicht-projektive Abbildung. Das Verhältnis des künstlerischen Raums zum Daseinsraum des Betrachters kann als zusammenfallend, beziehungslos oder in vielfältigen materiellen und geistig-seelischen Beziehungen aufgesucht werden. Der Vater der Historik, Johann Gustav Droysen, thematisiert in seiner Abhandlung „Natur und Geschichte" 33 nicht so sehr das Problem von Raum und Zeit in der Geschichte, als daß er Geschichte als „Zeitwissenschaft" abgrenzt gegenüber Wissenschaften, die sich dem Raum, d. h. der 32

Κ. G . KASTER, Kunstgeschichtliche Terminologie. Eine systematische Z u s a m m e n f a s s u n g d e r kunstwissenschaftlichen Begriffe u n d G r u n d a n n a h m e n mit kommentierter Bibliograp h i e exemplarischer Schriften (Schriften des K u n s t p ä d a g o g i s c h e n Z e n t r u m s im G e r m a n i schen N a t i o n a l m u s e u m N ü r n b e r g 6), N ü r n b e r g 1978, 28-33; Zitate der Referierung ebd. Vgl. auch: H. JANTZEN, Ü b e r den kunstgeschichtlichen Raumbegriff. Vorgetragen a m 5. N o v e m b e r 1938 (Sitzungsber. d e r Bayer. Akad. der Wiss., Phil.-hist. Abt., Jg. 1938, H. 5), M ü n c h e n 1938; K. BADT, R a u m p h a n t a s i e n u n d Raumillusionen. - Wesen d e r Plastik, K ö l n 1963; M. RAPHAEL, Bild - Beschreibung. Natur, R a u m u n d Geschichte in der Kunst, hg.

33

J. G . DROYSEN, N a t u r u n d Geschichte, i n : DERS., Historik. Vorlesungen ü b e r E n z y k l o p ä d i e u n d Methodologie der Geschichte, hg. von R. HÜBNER, D a r m s t a d t 1977, Beilagen, 4 0 6 - 4 1 5 ; Zitate auf S. 408-410, 413.

von

H.-J. HEINRICHS u.

a., N e w Y o r k

1987.

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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Natur zuwenden. Droysen formuliert die Ausgangslage des Problems einerseits so, daß wir ihm auch heute noch uneingeschränkt zustimmen können, andererseits artikuliert er tiefgreifende Differenzen: „Die letzten und allgemeinsten (Begriffe) nach der Seite der sinnlichen Wahrnehmbarkeiten hin sind Natur und Geschichte. Sie fassen die Erscheinungswelt zusammen unter die zwei allgemeinsten Vorstellungen ...". „Die Totalität der Erscheinungen sind wir sicher zu umfassen, wenn wir sie uns nach Raum u n d Zeit geordnet denken, wenn wir sagen Natur und Geschichte." „Freilich wissen wir sofort, daß alles, was im Raum ist, auch in der Zeit ist, und umgekehrt. Die Dinge der empirischen Welt sind nicht entweder dem Raum nach oder der Zeit nach; aber wir fassen sie so auf, je nachdem uns das eine oder das andere Moment zu überwiegen scheint, je nachdem wir das eine oder andere als das wichtigere, bezeichnendere, wesentliche hervorzuheben Anlaß sehen". Die Verbundenheit von Raum und Zeit, insbesondere in der Bewegung, stellt Droysen mit großer Eindringlichkeit dar: „Raum und Zeit unterscheiden sich wie Ruhe und Rastlosigkeit, wie Lässigkeit und Eile, wie Gebundenheit und Lossein. Es sind Gegensätze, aber immer miteinander verbundene; sie sind untrennbar, aber immer miteinander ringend. Denn alles ist in Bewegung. Das Selbstgefühl unseres Lebens, unseres geistigen und sinnlichen Seins, das, selbst so in sich polarisiert, weder bloß sinnlich oder bloß geistig, noch abwechselnd das eine oder andere, sondern das lebendige Einssein des Zwiespaltes ist, gibt uns den Begriff der Bewegung und seiner Momente Raum und Zeit. Unbewegt wäre uns die Welt der Erscheinungen unfaßbar; ohne Bewegung in uns selbst wären wir außerstande, sie zu erfassen. Daß die Welt draußen bewegt ist, wie wir in uns, läßt sie uns unter der Analogie dessen, was in uns selber vorgeht, begreifen." Um zu verstehen, daß Droysen die Geschichte dennoch als Zeitwissenschaft charakterisiert, muß man zum Kern seiner Auffassungen und Überzeugungen vorstoßen. Er besteht darin, daß „das kleine und dürftige Menschwesen" die „Kraft des Herrseins hat und übt." Sein Herrschaftsinstrument ist die Benennung, das ihm Gott bereits in der Genesis überträgt. Mit der Benennung wird zugleich die Wesenheit zugeteilt, mit ihr verbindet sich auch Bewertung - Aufwertung wie Abwertung. Es ist die verbindliche Sinnstiftung für die eigentliche Geschichte. Dabei ist ein Element implicite mitgedacht, das schärfer profiliert werden muß. Es ist die Tatsache, daß der Mensch auch Herr der Zeit ist, daß er Freiheit hat zur Gestaltung seines Daseins in der Zeit. Dem Doppelbegriff R a u m / N a t u r eignet die „Gebundenheit", der Zeit das „Lossein", die Ungebundenheit. Nur unter diesen Voraussetzungen erlangt der Droysensche Gedanke Prägnanz, daß für den Menschen das Zeitmoment primär, für alle Naturwesen aber sekundär ist. Dieses Zeitmoment ist der Maßstab der Geschichtswürdigkeit, ja Geschichtlichkeit schlechthin. Die Anthropozentrik aller Geschichte

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wird von Droysen von dem oben skizzierten naiven Standpunkt gottverliehener menschlicher Dispositionsgewalt her begründet: Das Seiende „ist uns nur Material; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen, unverständlich, gleichgültig." Wir legen etwas in die Dinge hinein, „was nicht in ihnen ist, so nicht in ihnen ist, daß sie uns nur als Ausdruck unseres Empfindens oder Denkens dienen, daß wir sie sozusagen anthropomorphisieren ...". Das Feld der Geschichte ist der „Bereich der sittlichen Welt" des Menschen. Die „Elemente", die darin „meßbar, wägbar, berechenbar" sind, stellen nicht das „hier Wesentliche" dar. Also - so muß man daraus folgern - auch der Raum nicht. Allenfalls könnte hier betrachtet werden, inwieweit Raum in die sittliche Welt hineinwirkt oder aus ihr heraus gestaltet wird, aber dies ist Droysens Thema nicht. Bei Ernst Bernheim 34 tritt ein Moment voll ins Blickfeld, das auch bei Droysen bereits da und dort anklingt, etwa mit dem Stichwort „Abwehr" 35 . Es ist der mit dem Aufschwung der nunmehr modern spezialisierten Wissenschaften im 19. Jahrhundert einhergehende „Verteilungskampf" um die wissenschaftlichen Untersuchungsobjekte. Die Euphorie, der Forschungsgegenstände rasch Herr zu werden, tat ein übriges. Erst die Erfahrung der Langwierigkeit, vielfach auch der Unerreichbarkeit von Problemlösungen, hat hier im 20. Jahrhundert zu einer Entspannung geführt und die Grenzstreitigkeiten eingedämmt. Man kann von diesem Gesichtspunkt aus die Geschichte der modernen Historiographie neu gliedern wie auch eine Bestimmungskategorie für moderne Wissenschaftlichkeit gewinnen. Ich formuliere dazu vorläufig zwei plakative Thesen: a) Der mit den Naturwissenschaften heraufkommende neue Wissenschaftsbegriff und die Verwissenschaftlichung aller Wissensbereiche versetzte auch die Geschichte in einen wissenschaftlichen Begründungszwang. Sie mußte sich ein neues, wissenschaftlich tragfähiges Fundament geben. Dies geschah verstärkt mit Beginn des 19. Jahrhunderts im Bereich der Quellen durch große kritische Editionsunternehmungen sowie durch methodisch-methodologische Reflexionen. b)Der gefährliche Expansionsdrang der mathematisierten Naturwissenschaften, die danach trachteten, „vitale Erscheinungen in die Klasse der physikalischen" 36 zu versetzen, um sie ihrem Instrumentarium zu unterwerfen, führte in der theoretischen Auseinandersetzung auf Historikerseite zu einer Abwehrstrategie, die den Untersuchungsgegenstand der Geschichte als nichtphysikalisch auswies und ihn damit der Meßbarkeit, Wägbarkeit und Berechenbarkeit entzog. Geschichte präsentiert sich damit als immaterielle Zeitwissenschaft. Droysens oben zitierte " E. BERNHEIM, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 5. und 6., neubearb. und verm. Aufl., 1908, ND New York 1970. !S

DROYSEN ( A n m . 33),

J6

J. G. DROYSEN, Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: DERS., Historik (Anm. 33), Beilagen, 386-405, 386.

414.

R a u m - Z u m Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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Äußerungen erscheinen so in einem neuen Licht. Die materiell quantifizierbaren Elemente, insbesondere die räumlichen Komponenten der Geschichte, werden von der Geschichtswissenschaft nunmehr weitgehend an selbständige bzw. verselbständigte Nachbarwissenschaften abgetreten. Wenn immer wieder die Historisierung der systematischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert betont wird, so muß dieser Feststellung das eben skizzierte Pendant gleichberechtigt zur Seite treten. Ernst Bernheim hat Methoden und Gegenstände der Geschichte militant etwa gegen Philologie, Staatslehre und Soziologie verteidigt, der Geographie aber die Raumuntersuchung völlig einverstanden überlassen. Bezeichnend ist auch seine Charakteristik der wissenschaftlichen Entwicklung seit dem 18.Jahrhundert: „Die Geographie ist diejenige von den sogenannten historischen Hilfswissenschaften, welche der früheren Abhängigkeit von der Geschichte am entschiedensten entwachsen und eine selbständige Disziplin geworden ist. Niemandem dürfte es wohl heutzutage einfallen, in einem Handbuch der Geschichtswissenschaft einen Abriß der Geographie zu geben, wie im vorigen Jahrhundert üblich war. Hauptsächlich verdankt die Geographie ihre Verselbständigung der naturwissenschaftlichen Anschauungsart; daher beherrscht letztere begreiflicherweise jetzt diese Wissenschaft" 37 . Die Historik bzw. Theorie der Geschichte hat in jüngerer Zeit das Problem des Raumes als randständig angesehen und behandelt, wiewohl Koselleck hier eine genuine Aufgabe der Historik sieht. Max Webers Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" 38 thematisiert Raum nur in weiteren Bezügen, nicht jedoch als eigenes Problem. Hans-Walter Hedinger hat in seiner Dissertation 39 das Thema knapp berührt in den Bereichen „Situationsinhalte", „Bedingtheit", „Umwelt des Menschen als biologischer Art", „naturwissenschaftliche Begriffe", „lebensweltliche Begrifflichkeit". Karl-Georg Faber ist in seiner „Theorie der Geschichtswissenschaft" 40 auf Raumproblematik nicht eingegangen. Jörn Rüsen subsumiert das Raumproblem in den dreiteiligen „Grundzügen der Historik" 41 vornehmlich in den Begriffen „ N a t u r " und „Lebenswelt", ohne daß eine spezifische historische Raumproblematik hervorträte. 37

BERNHEIM ( A n m . 3 4 ) , 8 5 f f ; 3 1 5 .

38

M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revid. Aufl., besorgt von J. W I N C K E L M A N N , Studienausg., Tübingen 1972. H.-W. HEDINGER, Subjektivität und Geschichtswissenschaft. Grundzüge einer Historik (Historische Forschungen 2), Berlin 1969. K.-G. FABER, Theorie der Geschichtswissenschaft (Beck'sche Schwarze Reihe 78), 4., erw. Aufl., München 1978. J. RÜSEN, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1489), Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1515), Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1542), Göttingen 1989.

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Theodor Schieder hat das Verdienst, in seiner Einführung „Geschichte als Wissenschaft" 42 den geschichtlichen Raum und die geschichtliche Zeit explizit und in einer sonst unüblichen Breite zu behandeln. Reizvoll und eingängig ist seine Kombination von Abstraktion und Konkretion, die ich hier nicht nachzeichnen kann. Ich greife signifikative Momente seiner Darlegungen heraus. Schieder nimmt seinen Ausgang von der philosophisch-naturwissenschaftlichen Problemstellung und skizziert die neueren, insbesondere Einstein verdankten Erkenntnisse bzw. Thesen zum Raum-Zeit-Kontinuum und zur Zeitdilatation, die seiner Auffassung nach zu einer Aufhebung unseres bisherigen Denkens und zu einer Zerstörung unseres herkömmlichen Zeit- und Raumsinnes führen. Schieder bestimmt die räumlich bezogene Grundfrage des Historikers als Verhältnis sozialer Gebilde zum Raum, wobei er die fundamentale Tatsache festhält, daß jedes politische Gebilde Verbindung zum Boden hat, daß sich dabei aber auch verschiedene Einstellungen herausbilden. Er unterscheidet das „punktuelle Raumempfinden" der Städte, den „universellen Raumanspruch" der Großreiche. Er konstatiert die Entgrenzungstendenzen moderner sozialrevolutionärer Bewegungen („Weltrevolution"), er spannt einen Bogen von mittelalterlichen Personenverbänden, bei denen Raumbindung begrifflich nicht konstitutiv ist, hin zur klassischen Staatslehre des 19. Jahrhunderts, die dem „Staat" drei begriffsnotwendige Elemente unterstellt: Territorium, Bevölkerung, politische Gewalt. Interessant ist der Ansatz Schieders, Großreiche in Flächeneinheiten zu vermessen und zu vergleichen: Altes Persisches Reich: 5600000 km 2 , Ägypten: 600000 km 2 , Assyrisches Großreich: 900000 km 2 , Reich Alexanders: 5 300000km 2 . (Die Einbeziehung vergleichend, kausal und final aufgearbeiteter Raumparameter in geschichtlichen Erörterungen bietet eine Fülle noch ungenutzter Möglichkeiten.) Nach Schieder ist „(e)in entscheidender räumlicher Tatbestand ... der Gegensatz von Land und Meer". Das Meer, eine res nullius, ist nur indirekt beherrschbar. Historisch-politisches Handeln ist spezifisch geprägt von „Landdenken" und „Meerdenken". Im Rückbezug auf Friedrich Ratzel skizziert er innerhalb eines Raumes Lage und Grenzen als die politisch-geographischen Grundgegebenheiten. Die Lage eines Landes ist die Summe seiner räumlichen Bedingungen, physikalisch konkretisiert sind es Klimazonen und Landschaftsformen, trigonometrisch Breiten- und Längengrade. Es existiert aber auch die historisch bestimmte Lage, die durch Geschichtsvorgänge verändert wird. Sie konkretisieren die Stichwörter „politische und kommerzielle Zentren", „Handelswege", „Kulturstraßen". Grenzen bestehen als natürliche (Flüsse, Gebirge) und politisch-historische. Ein Früher und Später läßt sich in der Entwicklung der Grenztypen ausmachen: ältere Grenzzonen/Grenzsäume und jüngere Grenzlinien. Schieder beschreibt Geschichtsräume neben ih41

Th. SCHIEDER, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München-Wien 1965, III. Der geschichtliche Raum und die geschichtliche Zeit, 61-88.

R a u m - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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rer Eigenschaft als Aktionsräume als „Räume, die durch Geschichte unverlierbare Züge aufgeprägt erhielten". Diese Züge lassen sich in den Überresten fassen. Es sind konkret: „Baureste, Sprachreste, Ortsnamen, Flurnamen, anthropologische Eigenheiten", die sich als Nebeneinander und Übereinander spezifischer Schichten strukturieren. Schieder schließt mit Bemerkungen über die Historische Kartographie. In ihr erstarrt die Bewegung der Geschichte in statischen Signaturen. Insofern ist sie unzulänglich, gleichwohl konkretisiert sie und ist damit ein Instrument der geschichtlichen Anschauung. In den geschichtlichen Teildisziplinen ist Raum in unterschiedlicher Weise präsent. Als äußeres Indiz raumferner bzw. raumnaher wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Geschichte können textinserierte bzw. textbezogene Karten dienen. Hier heben sich die Landesgeschichte/ Geschichtliche Landeskunde, die Siedlungsgeschichte und die Stadtgeschichte signifikant heraus. Unter den Hilfswissenschaften haben die Historische Geographie mit Einschluß der Kartographie unmittelbaren Raumbezug. Nicht zufällig ist die Verbindung zwischen den genannten historischen Teildisziplinen bzw. Hilfswissenschaften und der Geographie sehr eng. Als fest etablierte Forschungskonzepte können die Kulturraumforschung, die Zentralitätsforschung und die Stadt-Umland-Forschung gelten. Franz Irsigler hat sie in zwei zusammenfassenden Beiträgen beleuchtet 43 . Die jüngere, theoretisch weiter greifende Zusammenfassung nimmt forschungsgeschichtlich vor allem die landesgeschichtliche Kulturraumforschung und die geographische Zentralitätsforschung in den Blick, Forschungsrichtungen, die sich in ihren Ursprüngen mit Namen wie Hermann Aubin 44 einerseits und Walter Christaller 45 und August Lösch 46 andererseits unlösbar verbinden. In einer synoptischen Tabelle werden „Konzepte" und „Raumtypen" nach „dominanten Definitionskriterien" zu einer „Typologie historischer Räume" zusammengestellt, die ein vielgestaltiges Feld konzeptueller Forschungsbegrifflichkeit von beachtlicher explikativer Relevanz bilden: „Zentralräume unterschiedlicher Abstufung (polit.-herrschaftlich, wirtschaftlich, kultisch-kulturell); Kulturräume ..., Diffusionsräume; Verwaltungsräume, kirchliche Organisationsräume; Verbreitungsräume (Siedlungsräume, Sprachräume, Konfessionsräume); Naturräume, Kulturlandschaften, Subeinheiten von historischen Kulturräumen". Irsiglers Zusam41

44

45 46

F. IRSIGLER, Stadt und Umland in der historischen Forschung. Theorien und Konzepte, in: Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. Stadt-Land-Beziehungen in Deutschland und Frankreich. 14.-19. Jahrhundert, hg. von N. BULST, J. HOOCK, F. IRSIGLER, Trier 1983, 1338; DERS., Raumkonzepte (Anm. 6). H . AUBIN, Th. FRINGS, J. MÜLLER, K u l t u r s t r ö m u n g e n u n d K u l t u r p r o v i n z e n in d e n R h e i n -

landen. Geschichte-Sprache-Volkskunde, Bonn 1926; erw. N D Darmstadt 1966. Siehe Anm. 30. Siehe Anm. 29.

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menschau spiegelt jedoch auch die infolge einer überwiegend statisch bestimmten Perspektive gegebene Einseitigkeit bisheriger historischer Raumforschung wider. Die Erforschung von Grenzen muß bei der Dynamik politischer Grenzveränderungen mit ereignisgeschichtlichen Geschwindigkeiten rechnen, während Zentralitäts- und Kulturraumforschung es eher mit der „longue durée" zu tun haben. Grenzenforschung ist am augenfälligsten der politischen Geschichte und der Verfassungsgeschichte verbunden, aber auch der Rechtsgeschichte sind Grenzprobleme in fundamentaler Weise inhärent. Alexander Demandt hat die allgemeinen Aspekte der Grenze substantiell zusammengefaßt 47 . Ausgangspunkt ist für ihn die Interdependenz von Raum und Grenze, die Komplementarität beider Begriffe. Alsbald tritt im geschichtlichen Bereich menschliches Handeln hinzu: „Trennung und Teilung ist ein Machtakt". Die biblische Austreibung des Menschen aus dem Paradies etabliert den Verbotscharakter der Grenze. „Grenzen sind häufig das Ergebnis von Wanderungen, Eroberungen und Kriegen, selten das Resultat gütlicher Einigung. Sie bezeichnen Linien, an denen Bewegungen zur Ruhe gekommen sind, wo Kraft und Widerstand ihren Ausgleich gefunden haben. Dieses Gleichgewicht ist selten stabil." Die militärisch bewehrte Grenze wie auch die rechtlich sanktionierte sind alte Phänomene. Mythisch bezeugt ist Jupiters Gebot, Grenzen abzustecken und einzuhalten. Für das Goldene Zeitalter davor gilt nach Vergil und Ovid die Grenzlosigkeit. Auch in der Bibel läßt der Psalmist Gott dem Land die Grenze setzen. Friede ist geschichtlich weniger ein generelles Friedegebot als ein Bereichsfriede, oder anders ausgedrückt: Die Realisation eines generellen Friedegebots geht über den Bereichsfrieden. Auch Herrschaft und Recht sind räumlich radiziert, ebenso Kultur und Zivilisation. Hier lassen sich zahlreiche Termini mit doppelter Bezugsrichtung auflisten. Franz Irsigler liefert in seiner Einführung in die Tagung „Der Einfluß politischer Grenzen auf die Siedlungs- und Kulturlandschaftsentwicklung" (Passau, 19.-22. September 1990) ein fundiertes fachwissenschaftliches Pendant zu Demandt, wobei er zugleich einen bibliographisch dokumentierten Abriß älterer und neuerer Forschungsaktivitäten zum Thema „Grenze" gibt 48 . Die Erforschung von Grenzen ist ein Übergangsbereich hin zur Erforschung der Bewegung im Raum unter Einschluß der Kommunikation. Eine „Bewegungsforschung" bedarf neuer Impulse und weiterer wissenschaftlicher Ausformung, nicht zuletzt einer Grundlegung. Um eine Systematik der Untersuchungsaspekte zu begründen, kann man in Anlehnung 47

48

A. DEMANDT, Die G r e n z e n in der Geschichte Deutschlands, in: D e u t s c h l a n d s Grenzen in d e r Geschichte, u n t e r Mitarbeit v o n R. HANSEN ... hg. von A. DEMANDT, M ü n c h e n 1991, 9-31 ; Zitate S. 19-22. F. IRSIGLER, Der E i n f l u ß politischer Grenzen auf die Siedlungs- u n d Kulturlandschaftsentwicklung. Eine E i n f ü h r u n g in die Tagungsthematik. Mit 2 Abb., in: Siedlungsforschung. Archäologie-Geschichte-Geographie 9 (1991), 9-23.

Raum - Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs

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an das klassische Frageschema „Quis quid ..." diesen ganzen Komplex in einer Frage auftürmen: Wer bewegt sich wann, wo, wohin, mit welchen Mitteln, aus welchen Antrieben, zu welchen Zwecken? Dabei lassen sich die einzelnen Elemente erheblich ausdifferenzieren, z.B.: „Wer", das ist die Frage: Sind es einzelne, Gruppen, Massen? Welche Eigenschaften kommen ihnen zu? Der Ermittlung der faktographischen Substanz muß die Herausarbeitung metafaktischer Elemente korrespondieren: raumspezifisches Profil, Faktoren der Stimulanz und Inhibition horizontaler Bewegung, Bewegungs-/Aktionsräume, Verkehrslandschaften. Hier müssen auch quantitative Parameter errechnet werden : Wieviel Quadratkilometer mißt ein Aktionsraum, sei er nun herrschaftlich, wirtschaftlich oder kultisch-kulturell bestimmt? Wie strukturiert sich sein Straßensystem? Hierarchie und Leistungsfähigkeit der Straßen sind zu bestimmen, die Länge des Straßensystems ist anzugeben. Beziehungsquotienten sind aufzustellen, ζ. B. Straßenkilometer pro Quadratkilometer Aktionsraum. Welche Bewegungsmittel gibt es? Welche Beförderungs-, welche Wegkapazität haben sie, in bezug auf Personen, in bezug auf Waren? Welche Personen, welche Waren bewegen sich bzw. werden bewegt? Von wo nach wo, wie schnell? Unter welchen Gesichtspunkten ergeben sich räumliche Schwerpunkte? Innerhalb der Erforschung der Bewegung im Raum gibt es etablierte Teildisziplinen mit direktem Bezug, so die Verkehrsgeschichte mit der Unterabteilung Altstraßenforschung und die Itinerarforschung. Indirekten Bezug haben Zentralitätsforschung, Kulturraumforschung, Stadt-Umland-Forschung und Umweltforschung. Hier muß allenthalben weitergebaut oder auch neu angesetzt werden, vor allem im Hinblick auf Zusammenhang und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Forschungsbereichen. Analyse und Vergleich sind das gebotene Rüstzeug. Die Itinerarforschung 49 hat ihre Fragestellungen ausdifferenziert und vielfältige neue Aspekte in ihre Arbeit einbezogen, doch ist auch hier die Erarbeitung neuer Entwürfe, wie sie im folgenden angedeutet werden sollen, dringlich. Dem aus Johann Friedrich Böhmers raumzeitlich orientierter Regestenarbeit abgeleiteten kartographischen Versuch, die als höchstrangig bewerteten Bewegungsabläufe auf Königsebene in einem räumlichen Grundgerüst zu erfassen, korrespondiert zunehmend die Bemühung, die in ihrer Allgemeinheit aussagearmen, wenn nicht leeren Kategorien idiographisch und systematisch aufzufüllen, nicht zuletzt im Hinblick auf die kartographisch vernachlässigte Zeitkomponente. Die Itinerarforschung ist schon seit geraumer Zeit dabei, die traditionellen Bindungen an Diplomatik und Verfassungsgeschichte zu erweitern und sich auf größere Problemkreise einzustellen, wie sie oben für die Bewegungsforschung charakterisiert wurden. Ein prägnantes Merkmal neuerer Forschung ist es auch, daß traditionell reichsgeschichtliche Fragestellungen auf landesge45

A. HEIT, Art. Itinerar, i n : L e x M A 5 (1991), 772-775 mit weiterer Literatur.

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schichtliche Räume übertragen werden. In hohem Maße wünschenswert ist eine Diskussion über „Itinerar" in seiner umfassendsten begrifflichen Auslegung vom systematischen Standpunkt eines heutigen Betrachters aus gesehen, fundamental gewendet: die konsequente Auffassung der Geschichte als eines Prozesses horizontaler Mobilität. Eine Aufarbeitung dieser Problembewußtseinsentwicklung muß auch die Defizite der bisherigen Itinerartypologie in den Blick nehmen. Ich spreche hier den Bereich der Mediävistik an, für die Neuzeit bis hin zur neuesten Zeit müßte vieles erst grundgelegt werden. Verstärkt muß man heruntersteigen von den herrschaftlichen Hochebenen in bürgerliche, bäuerliche und unterständische Bereiche. Die beim Königsitinerar bis heute festgehaltene Fiktion des Einzelitinerars nebst diffus mitgedachtem Anhang wurde insbesondere von Hans Patze zum explizit thematisierten differenzierten Kollektivitinerar hin aufgebrochen 50 . Das Kollektivitinerar ist freilich weiterer Generalisierung und Differenzierung sowohl fähig als auch bedürftig. Neue Anwendungsbereiche müssen ihm erschlossen werden. Notwendig ist auch, die forschungsmäßig getrennten Felder der Itineraria ( = Quellen) und Itinerare ( = geschichtswissenschaftliche Konstrukte) gedanklich zusammenzuführen und unter vereinheitlichten Fragestellungen zu betrachten, ohne die Spezifik der Einzelbereiche außer acht zu lassen oder unzulässig einzuebnen. Nicht zuletzt muß die Bewegungsforschung die Kommunikationsforschung miteinbeziehen, ist doch Kommunikation Bewegung von Nachrichten (und Ideen!) im Raum, der als Nahraum, Fernraum, Raum mittlerer Distanz die Qualität der kommunikativen Welt mitbestimmt und ingeniöse Überwindungsstrategien erfordert. War das 19. Jahrhundert weithin eine Phase der Geschichte als Zeitwissenschaft, so mag es im endenden 20. Jahrhundert inmitten einer erfolgreichen raumwissenschaftlichen Rekuperationsphase der Geschichte nicht unangemessen sein, Raum als multivalente Kategorie, aber doch auch als geschichtlichen Grundbegriff darzustellen. Im Sinne einer epistemologischen Ganzheitsforderung aber, die an der platonischen Vorstellung einer Wissenschaft festhält, ist der Begriff des Raumes wie wenige geeignet, die unitas in multitudine beispielhaft vor Augen zu führen.

30

H. PATZE, Friedrich Barbarossa u n d die deutschen Fürsten. Itinerarkarten von H. REYER, in: D i e Zeit der Staufer. Geschichte-Kunst-Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 5, Suppl.: Vorträge u n d Forschungen, hg. von R. HAUSHERR u n d Ch. VÄTERLEIN, Stuttgart 1979, 35-75.

Heinz Burghart Das Ende der „Provinz" Mitten drin im langgestreckten Marktplatz und so, als möchte es dessen Dimensionen verkleinert widerspiegeln, steht das Rathaus. Schmuck sieht es aus, mit barock verspielten Giebeln und einer mächtigen Freitreppe, mit langen Fensterreihen im Erdgeschoß und im ersten Stock, Sprossenfenstern natürlich, durch Fensterläden akzentuiert. Ende der achtziger Jahre wurde es renoviert, nachdem zuvor schon die Altstadt auf eine Weise saniert worden war, die die Bundesrepublik mit einer Goldmedaille würdigte. Aichach! Giebel reiht sich an Giebel, bis hin zum Oberen und zum Unteren Tor, alle angepaßt architektonischen Vorstellungen unserer Zeit und vielfach doch Überkommenes wahrend. „Im vorigen Jahrhundert hatten wir elf Brauereien und eine Schule," sagt der Bürgermeister. „Jetzt haben wir keine einzige Brauerei mehr, aber elf Schulen." Als Dorf mehrfach ausgezeichnet ist Thanning, heute Ortsteil der Gemeinde Egling, auf halbem Weg zwischen München und Bad Tölz. Als Anfang der neunziger Jahre zu den rund vierhundert Einwohnern eine Familie neu hinzukam, hieß sie der Bürgermeister willkommen. Sie sei es, „solange Sie nichts tun, was gegen unsere Vorstellung von einem oberbayerischen Dorf verstößt". Dazu gehört nicht nur vom Frühsommer bis Herbst prächtiger Blumenschmuck an allen Häusern. Er ist für den Gemeinderat nur „das Tüpfelchen auf dem i". Thanning meidet all die neumodischen Zutaten für Haus und Garten, die die Metall- und Plastik-, auch Glasindustrie im Umland der Großstädte verbreitet. Die Türen sind aus Holz, die Fensterläden natürlich auch, und ein Jägerzaun wurde schon mal gegen einen Stakettenzaun ausgetauscht. Aichach. Thanning. Ist das die Provinz? Wenn man darunter das Land abseits der großen Städte und die Marktflecken, die kleinen Städte und die Dörfer in ihm versteht, ist das die Provinz. Viele Menschen haben zu ihr ein besonders herzliches, liebevolles Verhältnis. „Es ist jedesmal schön", bekennt etwa Godehard Schramm in einem dem mittelfränkischen Uffenheim gewidmeten Bildband, „wenn ich von Bad Windsheim herüberkomme, wenn die Linie der Frankenhöhe verschwindet, wenn ein, zwei Dörfer durchfahren sind und sodann die Weite des Gollachgrundes auftaucht, wenn schließlich die Südhänge des auslaufenden Steigerwaldes mit der Pracht ihrer Weinberge aufschimmern und dann die Turmspitzen von Uffenheim zu sehen sind." Er empfindet dieses „allererste Bild" der

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Stadt „wie eine Zusammenfassung" und hebt mit Recht hervor, daß „jede Stadt, die es zu einer sichtbaren Eigenart gebracht hat, über eine Art von Erkennungszeichen verfügt". Viele der Generation, die „auf dem Land" aufgewachsen ist, als in den Dörfern ein Bauernhof sich an den anderen reihte und nur der Pfarrer und der Lehrer ein distanzierteres Verhältnis zur Feld- und Stallarbeit haben durften, als der Heimweg vom Wirtshaus noch bei Dunkelheit über unzählige Schlaglöcher nicht asphaltierter Straßen führte und es selbst in Kleinstädten neben Kaufleuten und Handwerkern noch landwirtschaftliche Betriebe gab, sind damit so vertraut und haben „am Land" so viel Gefallen gefunden, daß sie sich weder ein anderes Leben wünschen, noch es je als Nachteil empfunden haben könnten, der Provinz zugeordnet zu werden. So sieht es denn auch zum Beispiel Norbert Kerkel, der Landrat von Miesbach, als „das unverrückbare Ziel der provinziellen Kommunalpolitiker" an, „die Provinz im besten Sinne des Wortes zu erhalten" - wobei freilich zu bedenken ist, daß gerade das Oberland schon lange ein beliebtes Urlaubsgebiet und Ausflugsziel darstellt, also keineswegs allein am Miesbacher Fleckvieh orientiert ist. Wohl mit Recht spricht die Frankfurter Soziologin Erika Haindl, das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen zusammenfassend, von einem „eigenständigen Provinzbewußtsein". Versteht man nun allerdings unter Provinz, was entlegene Landstriche ja über Jahrhunderte und insbesondere auch zu der Zeit waren, zu der das überlieferte Wort „Stadtluft macht frei" der Realität entsprach, dann ist die Provinz heute nicht mehr „Provinz". In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in den bäuerlich geprägten Gebieten eine Entwicklung ein, die deren Bild, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Struktur, aber auch die Lebensweise der Menschen völlig veränderte. Engstirnig? Zurückgeblieben? Ängstlich gegenüber Fremden? Empfindlich gegenüber Kritik? Solche Eigenschaften und Verhaltensweisen sind nicht mehr Charakteristika großstadtferner Regionen. Nur noch in der Operette und auf der Opernbühne gibt es den Zigeunerbaron, dessen „Fall" das Schreiben und das Lesen nicht gewesen sein mag, und den grobschlächtigen Landadligen, der vom „Rosenkavalier" leicht ausgetrickst werden kann. „Ich bin der Meinung, daß der Begriff,Provinz' völlig überholt ist," erklärt auf Befragen Hermann Haisch, der Landrat des Unterallgäu. Und „die Provinz ist nicht mehr provinziell", betonen öffentlich der Oberbürgermeister von Landshut, Josef Deimer, wie der Günzburger Landrat und Präsident des Bezirkstags von Schwaben, Georg Simnacher. Das Dorf aus seiner Abgeschiedenheit zu befreien, den Blick der Bauern für die Welt zu weiten, städtische Lebensformen zu übernehmen, wo sie sich mit dem Landleben vereinbaren lassen und Alltagsprobleme mindern, waren Aufgaben der späten fünfziger und der sechziger Jahre. Sie sind längst erfüllt. Heute kommt es vielmehr darauf an, das Landleben so

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zu organisieren und die Dörfer und Kleinstädte so zu gestalten, daß sie die ihnen gemäßen Merkmale, das Typische und Besondere, ihre Eigenart bewahren. Es geht nicht mehr darum, die Bindung an das Landleben so zu lockern, daß Einflüsse von außen möglich werden, sondern - im Gegenteil - darum, überhaupt noch eine Bindung an das Dorf und die Kleinstadt zu erhalten. „Unsere Gesellschaft betont und fördert die Rechte des Individuums in einem fast unerträglichen Maße," sorgt sich der Bürgermeister von Feuchtwangen, Wolf Rüdiger Eckhardt. „Die Sozialkontrolle entfällt. Was in den Zentren wohl seit langem so war, ist auch dem Lande nicht mehr fremd." Zwar schwinde die wohl oft negativ empfundene Abhängigkeit von der örtlichen Gemeinschaft, „andererseits aber auch das Gefühl der Pflichtigkeit und der Verantwortung". Eckhardt ist überzeugt: „Man kann - mit Abstrichen - , wenn man will, in der Provinz fast so anonym sein wie im Hochhaus der Hauptstadt". Gute Erfolge in dem Bemühen, das Dorf den Ansprüchen einer an neuzeitlicher Technik orientierten Gesellschaft, ihrem Verlangen nach Hygiene, medizinischer Versorgung, ja nach Wohlstand anzupassen und dennoch in seiner spezifischen Eigenart zu erhalten, hat das eigens dafür konzipierte Programm des Bayerischen Landwirtschaftsministeriums erzielt. Von Hans Eisenmann über Simon Nüssel bis zu Hans Maurer setzten sich alle dieses Haus Leitenden in der Staatsregierung und im Bayerischen Landtag dafür ein. Für andere Bundesländer mag gelten, was ein Leitartikler der „Frankfurter Allgemeinen" Anfang der achtziger Jahre festgestellt hat: „Mit einer heute unvorstellbaren Gleichgültigkeit und Roheit wurde das Dorf als Lebensraum besonderer Art zerstört." Für den Freistaat Bayern trifft das nicht zu. Initiativen des Bauernverbands wie etwa auch der Evangelischen Landvolkshochschule in Pappenheim haben schon in den sechziger Jahren die dem Dorfleben gestellten Probleme und die ihm drohenden Gefahren deutlich gemacht. Und im Bemühen, das Dorf als „Lebensraum besonderer Art" zu erhalten, wurde in Bayern nicht übersehen, daß „die Krise des Dorfes letztlich nur durch dorfeigene Kräfte bewältigt werden" kann, vielmehr bewußt darauf hingewirkt, solche Kräfte zu finden und zu stärken. Ohne Einfluß auf das Dorfleben war schon nicht geblieben, als im Zweiten Weltkrieg Kinder aufs Land „verschickt" und als dann vor allem in den Großstädten Ausgebombte dort notdürftig untergebracht wurden. Eine fremde Welt brach vollends darüber herein mit Tausenden von Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland und aus Schlesien, aus Ostpreußen und aus Pommern, ja aus Siebenbürgen. Wo einst Knechte und Mägde untergebracht waren, mußten sie, meist nur notdürftig versorgt, Monate, ja Jahre hausen. Meist hatten sie, im Unterschied zum Personal, das vor ihnen die mit staatlichem Zwang zur Verfügung gestellten Räume bewohnte, keinen Anschluß an die Familie des Bauern, selten nur eine Kochgelegenheit, indes sanitäre Probleme. Sieben Millionen Einwohner

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hatte Bayern bei Beginn des Zweiten Weltkriegs, fast 9,2 Millionen waren es 1950. Nur noch 17,4 Prozent davon konnten in den wenigen Großstädten leben, während es 1939 immerhin 22 Prozent gewesen waren. Und in Gemeinden zwischen zwei- und fünftausend Bewohnern war die Bevölkerung um die Hälfte gewachsen. In den bislang fast ausschließlich katholischen Gebieten Ober- und Niederbayerns gab es nun auch relativ viele Protestanten, und die evangelischen Gebiete Ober- und vor allem Mittelfrankens nahmen Katholiken auf. Zum Abschied von der „Provinz" in der Provinz trugen die Heimatvertriebenen wesentlich bei; verursacht aber haben sie die Entwicklung nicht, die schließlich dazu führte. Sie waren zunächst hineingepfercht in Städte und Dörfer, die ihnen fremd waren, die sie als Last empfanden und in denen ihnen vieles von dem fehlte, was sie bislang für lebensnotwendig gehalten hatten und was es für ihre Berufsausübung auch war. Beispiel Pfarrkirchen. Die niederbayerische Kleinstadt mit eindrucksvollen Sakralbauten der Spätgotik und stattlichen Bürgerhäusern der Renaissance und der Landkreis Pfarrkirchen hatten mehr als jede andere bayerische Region, nämlich genau 15710 Vertriebene, aufnehmen müssen. Die Stadt selbst, die 1939 rund 3600 Einwohner zählte, beherbergte 1946 knapp 5 800 Männer, Frauen und Kinder. In den folgenden Jahren erhöhte sich noch diese Zahl. Die Dörfer im Landkreis aber, in denen zunächst überdurchschnittlich viele Vertriebene untergebracht worden waren, gaben sie meist rasch wieder ab. Spürbar verändert haben die Dazugekommenen aus dem Sudetenland und aus Schlesien, aus Ostpreußen und Pommern, aus Siebenbürgen das überkommene Landleben nicht. Im Gegenteil. Dadurch, daß sie in den ersten Monaten und Jahren der Eingewöhnung meist in der Landwirtschaft arbeiteten, halfen sie, es zu bewahren. Der Boden für Veränderungen aber wurde auch durch sie gelockert. Motor der Entwicklung, die die Provinz so sehr veränderte, daß heute auch für entlegene Gebiete der negativ besetzte Begriff „Provinz" nicht mehr stimmt, waren Auto und Traktor. Ob das Dorf fünf oder zwanzig oder noch mehr Kilometer von der nächsten Kreisstadt entfernt ist, und ob diese an einer Bahnstrecke liegt oder nicht, verlor mit jedermanns Motorisierung immer mehr an Bedeutung. Die Landwirte waren unter den ersten, die sich in den fünfziger Jahren ein Auto kauften, denn sie hatten Haus und Grund und konnten ihren Besitz leicht beleihen. Man war nicht mehr angewiesen auf den Wirt und den Kramer am Ort oder gar auf den Händler, der von Zeit zu Zeit in das Dorf kam, um allerlei Waren anzubieten. Man konnte sich selbst in der Kreisstadt umsehen, hin und wieder sogar in die Großstadt fahren, und dort entstanden Kaufhäuser und Supermärkte. Konnte man auch selbst nicht so leicht den Hof verlassen, da man doch an die Stallarbeit gebunden war, das Milchvieh zur gewohnten Stunde gefüttert und gemolken werden mußte, so stand das Auto doch

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dem Sohn oder der Tochter zur Verfügung, und die schauten sich auch jenseits der Landesgrenzen um. Vom Beginn der fünfziger Jahre an erhöhte sich der Bestand an Kraftfahrzeugen in Bayern in jährlich fast gleichen Zuwachsraten. Schon 1952 gab es wieder so viele Lastwagen und Personenautos wie vor dem Krieg, zusammen etwa 400000, und während sich der Bestand an Lastwagen in den folgenden vier Jahrzehnten nur verdoppelte, stieg die Zahl der Personenautos auf das Fünfzigfache. Mehr als fünf Millionen solcher Fahrzeuge sind jetzt in Bayern zugelassen. Damit hat natürlich auch der Schienenverkehr an Bedeutung verloren, insbesondere auf den Nebenstrecken, die nur noch defizitär befahren werden können und teilweise ganz aufgegeben werden mußten. Der Omnibus hat die Kleinbahn verdrängt; der Omnibus, über den heute fast jedes Dorf verfügt, ja der mit dazu beigetragen hat, die einstige Enge aufzusprengen. Auf mancher Stalltür zwischen Passau und Lindau, zwischen Berchtesgaden, Aschaffenburg und Hof kleben heute Plakate, die zu Fahrten bis nach Sizilien und Petersburg, bis Warschau und Bordeaux locken. Der Mensch in der Provinz kennt diese und andere Städte längst nicht mehr nur von der Landkarte, die ihn in der Schulzeit beschäftigen mußte, oder gar von Einsätzen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie sind ihm aus unzähligen Sendungen im Fernsehen bekannt, ja vertraut, wie eben das Fernsehen überhaupt wesentlich dazu beigetragen hat, die ehedem das Leben bestimmende Distanz zwischen Stadt und Land aufzuheben. Fast jeder Haushalt in Bayern ist heute daran beteiligt, immer mehr Geräte wurden angeschlossen bis hin zur Verkabelung in den achtziger Jahren. So wird die „Tagesschau" in Großdingharting genauso gesehen wie in München, in Warmensteinach genauso wie in Bamberg und Bayreuth. Hier wie dort nimmt man teil an Begegnungen der Staatsmänner, etwa bei einem Weltwirtschaftsgipfel oder einer Nato-Konferenz, hier wie dort ist man erschüttert von einem Unglück im Bergwerk und einer Katastrophe wie der von Tschernobyl, vom Golfkrieg und vom Bürgerkrieg in Jugoslawien, freudig erregt über die Öffnung der Deutschland so lange und grausam trennenden Mauer. Vielleicht hat das Fernsehen sogar den größten Anteil daran, daß die Provinz nicht mehr „Provinz" ist. Es schafft überall das gleiche Lebensgefühl, vermittelt Stadt wie Land die ganze Breite unterschiedlicher Meinungen und Vorstellungen einer Pluralität gewährenden Gesellschaft. Wenn die „Abendschau" Bilder von Mannequins und eben bei der Münchner Modewoche vorgestellten Kleidern, Hosenanzügen und Abendroben zeigt, schaut auch die Landfrau zu. Wenn das „Heute-Journal" einen Einblick in eine große, vielleicht weltweit beachtete Ausstellung gibt, sitzen auch der Handwerksmeister einer bayerischen Kleinstadt und die Angestellte der dortigen Sparkasse vor dem Bildschirm. So wird Interesse geweckt für großstädtische Unternehmungen, von denen man früher „am

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Land" kaum wußte. Nur vor diesem Hintergrund mag der Begriff „Lebensqualität" geprägt worden, ja es möglich gewesen sein, dem Verlangen darnach von den Wahlkämpfen der sechziger Jahre an Bedeutung zu geben. Die Menschen wollten etwas, nein, immer mehr vom Leben haben, seit ihnen tagtäglich vorgeführt wurde, daß es sich nicht bei Aktivitäten zwischen Viehstall und Wirtshaus, zwischen Kirche und Tanzboden zu erschöpfen braucht. Die ersten Programme der politischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg kennen noch nicht diese Vorstellung von Lebensqualität und das in ländlichen Regionen wachsende Verlangen, ihr zu entsprechen. Im Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei vom November 1959 findet sich mit der Forderung, alle Menschen am steigenden Wohlstand zu beteiligen, der Anspruch, ihr durch eine ausgeglichene wirtschaftliche Entwicklung zu entsprechen. Zur Wahl des Bayerischen Landtags 1970 verkündet die SPD ein Programm, das zwar die Siedlungsstruktur als nicht zeitgerecht bewertet, das sich gleichwohl mit dem Verlangen nach leistungsfähigen städtischen Zentren begnügt. Erst im Grundsatz-Programm von 1976 findet die CSU zu der Feststellung: städtischer und ländlicher Raum ergänzen sich in ihren eigenständigen Aufgaben und benennt als Ziel ihrer Landesentwicklungs- und Raumordnungspolitik die Förderung von Chancengerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit und freier Entfaltung der Persönlichkeit in einer menschenwürdigen Umwelt. Der Bürger soll selbst entscheiden, ob er in der Stadt oder auf dem Land leben will. Es sollen ihm nicht gleichförmige, wohl aber gleichwertige Bedingungen zur Gestaltung seines Lebens geboten werden. Schließlich hat Bayern als erstes Bundesland 1970 ein eigenes Ministerium für Landesentwicklung eingerichtet, das sich gleichzeitig der von der Bevölkerung mit zunehmender Sensibilität wahrgenommenen Gefährdungen der Umwelt annehmen sollte. Max Streibl, der spätere Finanzminister und als Nachfolger von Franz Josef Strauß von 1988 bis 1993 Ministerpräsident Bayerns, war erster Hausherr jenes Ministeriums. Als es einmal galt, seinen Nachfolger Alfred Dick öffentlich zu loben, 1977, stellte er besonders heraus, daß Dick sich mit großem Engagement um einen Ausgleich der Interessen zwischen Stadt und Land bemüht habe. Noch vor der Gründung eines eigenen Ministeriums für Landesentwicklung und noch vor einer Darstellung entsprechender Aufgaben in einem politischen Programm hatte es in den sechziger Jahren in Bayern bereits staatliche Programme zur Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Lande gegeben. Das entsprach der Verfassung des Freistaats, in welcher der Landwirtschaft zu einer Zeit, in der eine Industrialisierung erst vage angedacht werden konnte, ein besonderes Kapitel gewidmet worden war. Die Verfassung garantiert den Bauern ein menschenwürdiges Auskommen auf der ererbten Heimatscholle, ganz konkret sogar ein angemessenes Einkommen. Es wurde immer schwerer, dieser „Gewährleistung" zu entsprechen.

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Bald, nachdem Bayern und die Bundesrepublik Deutschland wieder in den freien Weltmarkt einbezogen und schließlich auch noch in die Europäische Gemeinschaft eingebunden waren, zeigte sich, daß die hier erzeugten Agrarprodukte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr zu Preisen zu verkaufen waren, die Landwirten und ihren Familien ein dem Einkommen in verwandten Berufen gemäßes und der allgemeinen Lebenshaltung entsprechendes Dasein ermöglicht hätten. Höhere Bonität der landwirtschaftlich genützten Flächen und für das Wachstum günstigere klimatische Verhältnisse erlauben den Bauern anderer Länder, etwa den Farmern in Amerika und Kanada, weitaus billigere Nahrungsmittel anzubieten. Zunächst versuchte man, die Einkommen der bayerischen Landwirte dadurch zu sichern, daß man die Produktion steigerte, wenn schon für das einzelne Produkt nicht mehr so viel zu erlösen war. Möglich geworden war eine solche Steigerung durch den Einsatz von Maschinen, vom Heuwender bis zum Mähdrescher, durch bessere Düngung und durch die Verwendung chemischer Mittel zur Schädlingsbekämpfung. Doch die Steigerung der Produktion erhöhte das Angebot an Agrarprodukten gegenüber der Nachfrage gewaltig und immer weiter. Und da gerade das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage die Preise reguliert, sanken diese immer noch mehr. Abgesehen einmal von dieser ökonomischen und in der Folgezeit auch ökologisch immer bedenklicheren Entwicklung hätte allein schon die Mechanisierung der Landwirtschaft genügt, diese und damit die Verhältnisse in den bäuerlich strukturierten Gebieten Bayerns völlig zu verändern. Der Traktor ersetzte Pferde- und Ochsengespann. Der Traktor war Motor einer Revolution der Innenwelt einstiger „Provinz", wie das Auto deren Verhältnis zur Außenwelt neu gestaltete und damit eine vom Gefälle zwischen Stadt und Land gezeichnete Epoche relativ schnell und für viele überraschend beendete. An den Traktor konnten alle Geräte und Maschinen angekoppelt werden, die der Landwirt zur Bearbeitung der Felder und Wiesen braucht, ja die ihm diese Tätigkeit gegenüber früheren Methoden entscheidend erleichtert. Zwanzig, dreißig, fünfzig Sensen und ebenso viele hölzerne Rechen gab es noch in den dreißiger Jahren auf einem oberbayerischen Bauernhof, denn gar viele entsprechend ausgerüstete Helfer wurden gebraucht, um an heißen Tagen das Gras zu mähen, zum Trocknen auszubreiten, nach einiger Zeit zu wenden und schließlich einzufahren. Heute kann ein einziger Bauer, und oft tritt die Bäuerin an seine Stelle, ein großes Areal bewirtschaften, in dem er unterschiedliche Maschinen an den Traktor hängt und damit, bei erstaunlich hoher Geschwindigkeit, die Wiesen abfährt. Ein ganzes Heer von Knechten und Mägden hat die Mechanisierung der Landwirtschaft freigesetzt, im Zusammentreffen mit der ökonomischen Entwicklung freilich auch viele Bauern zum Aufgeben, zumindest zu einem Umsteigen von Vollerwerb auf Nebenerwerb in der Landwirtschaft ge-

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zwungen. Waren 1950 in Bayern fast 1,4 Millionen Menschen in der Landund Forstwirtschaft tätig, so waren es 1970 nicht einmal mehr 650000. Doch das waren immerhin noch gut 13 Prozent der Bevölkerung. Bis 1990 sank der Anteil der in Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten auf weniger als die Hälfte, auf 6,3 Prozent. Auch die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ging zurück, von 380000 im Jahre 1970 auf 224000 im Jahre 1990, wobei von seinerzeit noch fast 80000 Betrieben mit weniger als zwei Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche nur ein Drittel und von 70000 Betrieben mit weniger als fünf Hektar nur die Hälfte blieb. Die insgesamt in Bayern landwirtschaftlich genutzte Fläche ist gleichwohl kaum verringert worden; bei Ackerland so gut wie gar nicht, bei Grünland von 1,57 tausend Hektar im Jahre 1970 auf 1,3 tausend im Jahre 1990. Diese Entwicklung hat das Sozial- und Wirtschaftsgefüge in vielen bayerischen Landkreisen völlig verändert. „Nach dem Zweiten Weltkrieg war bei uns noch fast die Hälfte der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt," berichtet etwa Landrat Ko η rad Regler von Eichstätt. „Schon 1970 war es nur noch jeder Vierte!" Jetzt entspricht die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen im Landkreis Eichstätt fast genau dem bayerischen Durchschnitt. Im Landkreis Xmberg-Sulzbach, in dem einst sechzig Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten, ist indes noch jeder Fünfte in einem oder für einen Bauernhof tätig. Ja, wem es gelungen ist, in der Landwirtschaft zu überleben, hat heute zwar große ökonomische Sorgen, denn der durch den freien Weltmarkt und die Europäische Gemeinschaft bedingte Preisverfall ging immer weiter, aber die bäuerliche Arbeit selbst ist leichter und interessanter geworden, dank der Mechanisierung und auch dank der Flurbereinigung der letzten Jahrzehnte. Selbst ein paar Tage Urlaub im Jahr sind für den in der Landwirtschaft Beschäftigten möglich. Früher? „Wenn der Bauer, der Anfang der fünfziger Jahre mit seinem Traktor die Milch der Berufskollegen zusammenfuhr und zur Molkerei brachte, wagte zwei Tage Urlaub zu machen, empörten sich die Berufskollegen sogleich: da suchen wir einen andern." So erinnert sich Bürgermeister Eckhardt von Feuchtwangen. Wäre es nicht gelungen, die meisten der Menschen, die die Landwirtschaft freigesetzt hat, in Handwerk und Gewerbe unterzubringen, in das Angebot an Dienstleistungen einzugliedern und schließlich fast in jeder Gemeinde Industrie anzusiedeln, hätte die Veränderung der Agrarproduktion zu einer sozialen Katastrophe in allen ländlichen Gebieten Bayerns geführt. So aber gingen die Umstrukturierung der Landwirtschaft und eine gewaltige Umstellung, auch Modernisierung der Industrie Hand in Hand. Die Beschäftigten im produzierenden Gewerbe wuchsen von 1,56 Millionen nach dem Zweiten Weltkrieg auf 2,3 Millionen im Jahre 1970. Die Zahl der im Handel, für den Verkehr und für Dienstleistungen Tätigen erhöhte sich gar von 1,2 Millionen 1950 auf 2,5 Millionen 1970, verdoppelte sich also im Zeitraum von nur zwei Jahrzehnten. Bis 1990 dann

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sank die Zahl der im produzierenden Gewerbe Tätigen, während die der im Handel und Verkehr Beschäftigten geringfügig stieg und die Zahl der Dienstleistungen Erbringenden sich gar von 23,8 Prozent auf 35,2 Prozent erhöhte. Das bedeutet, daß Dienstleistungen längst nicht mehr nur in Groß- und einigen Mittelstädten abzurufen waren, daß vielmehr auch Kleinstädte und größere Gemeinden über immer mehr Ärzte und Apotheker, Rechtsanwälte und Steuerberater, Finanzfachleute und Werbeagenturen verfügten. Zwar hatten Städte wie Nürnberg, Augsburg und Hof schon um die Jahrhundertwende in ganz Deutschland hoch geachtete Produktionsstätten, München konnte auf Maffei und Krauß verweisen, die Oberpfalz auf die Maxhütte bei Sulzbach-Rosenberg. Wo aber gab es in den ländlichen Gebieten Bayerns produzierendes Gewerbe? Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und natürlich erst, nachdem die ärgsten Kriegsschäden behoben waren und eine neue Währung Leistung wieder lohnend machte, entstanden neben einer teilweisen Neubelebung alter Standorte neue Industrien. Viele Gemeinden boten Unternehmen Gewerbeflächen an, bemühten sich, aus eigener Kraft und mit staatlicher Unterstützung die Voraussetzungen für eine Ansiedlung zu verbessern. Anlaß dazu bestand insbesondere auch dort, wo die Bundesbahn Arbeitsplätze abbaute, weil regionaler Verkehr auf der Schiene kaum mehr gefragt und durch die innerdeutsche Grenze der Verkehr nach Sachsen und Thüringen und weiter nach Berlin sowie durch die tschechische Grenze der Verkehr nach Prag abgebrochen war. Plattling, als Schnittpunkt zweier Eisenbahnlinien einst ein gewaltiger Bahnhof mit elf Zuggleisen und zwölf Rangiergleisen sowie einem Betriebswerk für Dampfloks, verlor von 1 800 Arbeitsplätzen alle bis auf hundert. Bürgermeister Scholz rühmt die „frühzeitige Gewerbe- und Industrieansiedlungspolitik" seines Vorgängers Josef Kiefl. Doch zeigt ein Rückblick gerade darauf, mit welchen Risiken und Aufwendungen solche Initiativen belastet waren. 1970 stand Plattling ein hundert Hektar umfassendes Gelände zur Verfügung, das die Stadt auf einem ehemaligen Flugplatz erschlossen hatte, weil ein Chemiekonzern dort eine Tochterfirma errichten wollte. Dann ging der Konzern doch in eine andere Gemeinde, die ihm wohl noch mehr bot als Straßen- und Gleisanschluß, Wasser und Kanal. Für mehr als eine Million Mark mußten Plattling und mit ihm der die Erschließung fördernde Landkreis Deggendorf Zinsen zahlen, bis 1982 die München-Dachauer Papierfabrik nach Niederbayern ging. Weitere Betriebe folgten. So wurden schließlich mehr als 2000 Arbeitsplätze geschaffen. Wie Plattling nun schon seit Jahren eine starke Sogwirkung hat auf die ganze Region und darüber hinaus, etwa aus Deggendorf fast 800 Arbeitnehmer nach Plattling pendeln, aus Osterhofen mehr als 400 und 200 aus Niederalteich, so strahlen das Zweigwerk Dingolfing von BMW ebenfalls auf Niederbayern und die Neugründung in Regensburg vor allem auf die

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Oberpfalz aus. Standen dank der Initiativen des Freistaats, insbesondere der Wirtschaftsminister Otto Schedi und Anton Jaumann, erst einmal relativ billig Strom und Gas zur Verfügung und war damit die Benachteiligung, die Bayern durch seinen Standort im 19. Jahrhundert erfuhr, überwunden, konnte es wirtschaftlich Versäumtes rasch aufholen. Ja, nicht früher schon industrialisiert zu haben, erwies sich nun als ein Vorteil. Das Land war jungfräulich geblieben. In enger Zusammenarbeit mit Forschungszentren und Hochschulen entwickelten große Unternehmen, insbesondere auch die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bayern übersiedelten entscheidende Initiativen, um im High-tech-Bereich nicht nur den Anschluß an internationale Standards zu gewinnen, sondern sich an die Spitze des Fortschritts zu setzen. Für die mittelständische Wirtschaft waren diese Initiativen Ansporn, als Zulieferer aufzutreten, aber auch in Orientierung daran selbst innovativ zu werden. Und davon profitierten selbstverständlich auch die ländlichen Gebiete Bayerns. Mitten auf dem Land sind eigene Industriezentren dort entstanden, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Heimatvertriebene günstige Voraussetzungen fanden, im Herkunftsland erworbene Fähigkeiten in größtmöglicher Eigenständigkeit in den Wirtschaftsprozeß einzubringen. So wuchs zum Beispiel der einst Freien Reichsstadt Kaufbeuren ein neuer Stadtteil zu, Neugablonz. Um diesen Namen hatte die Neubürger, ausschließlich Vertriebene aus dem nun tschechischen Gablonz, jahrelang kämpfen müssen, denn das tschechische Gablonz fürchtete die Konkurrenz. Nicht ohne Grund! Das sprunghaft wachsende Neugablonz, das Ende 1950 bereits mehr als dreitausend Einwohner zählte, Mitte der fünfziger Jahre gar achttausend und nun 13000, errang bald Weltruf als Produktionsstätte von Schmuckwaren, auch Bijouterie- und Galanteriewaren. Nur ein Großbetrieb trug dazu bei, vor allem aber mehr als fünfhundert Klein- und Mittelbetriebe. Die besonderen handwerklichen Fähigkeiten, der in langer Tradition entwickelte und gefestigte Geschmack, die Kenntnis industrieller Fertigung waren den Vertriebenen ja geblieben, konnten nun eingebracht und an die nächste Generation weitergegeben werden. Und als zunehmend Billigschmuck aus Fernost den deutschen Markt eroberte, gelang es findigen Unternehmern in Neugablonz, sich auf ein breites Angebot anderer, Präzisionsarbeit erfordernder Produkte umzustellen, vom Spielzeug bis zu unterschiedlichen Einzelteilen für Auto-Armaturen. Noch einige andere Neugründungen von Heimatvertriebenen bereichern die einstige bayerische „Provinz": Geretsried zwischen Wolfratshausen und Bad Tölz, Traunreut bei Traunstein und Waldkraiburg bei Mühldorf. Überhaupt gibt es kaum eine bayerische Stadt, ja Gemeinde, die von den späten fünfziger Jahren an, teilweise auch später, nicht alles getan hätte, um Gewerbe anzusiedeln. Nördlingen machte dabei ähnliche Erfahrungen wie Plattling. In mühsamen Verhandlungen war es ihm Mitte der sechziger Jahre gelungen, ein mehr als hundert Hektar großes Gelände

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zu erwerben und als Gewerbefläche auszuweisen. 1967 wollte denn auch ein amerikanischer Glashersteller nach Nördlingen kommen. Alles schien genügend erörtert, erwogen und beschlossen zu sein. Da zog sich das amerikanische Unternehmen zurück: wohl weil es feststellen mußte, für seine Produkte keine Abnehmer zu finden. Glaskörper für Scheinwerfer, Glühbirnen und Halogenlampen werden in Deutschland von Firmen wie Osram selbst hergestellt. Später dann brachten die Amerikaner ein anderes Unternehmen in die Hauptstadt des Ries. Wie hier, gelang es auch in anderen Städten Bayerns, Industrie jeweils am Stadtrand oder anderweitig so anzusiedeln, daß der in Jahrhunderten gewachsene Stadtkern, in Nördlingen etwa die Georgskirche und das Ensemble um den Marktplatz, den Rüben-, den Obst- und den Weinmarkt, nicht gestört wird. Man kann in Mühldorf durch die alten Laubengänge gehen, die für die Bauweise fast aller Innstädte, insbesondere noch für Wasserburg und Rosenheim charakteristisch ist, hat nur ein paar hundert Meter zu dem neuen Gewerbe- und Industriegebiet zwischen den Bahnstrecken nach Wien und nach Regensburg-Hof und ahnt nicht einmal, wie sehr sich Oberbürgermeister Günther Knoblauch bemüht, das eine Million Quadratmeter umfassende Areal mit die Wirtschaftskraft der Kommune stärkenden Betrieben zu füllen. „Kommen Sie zu uns. Wir helfen Ihnen gerne, sich bald in Mühldorf wohlzufühlen!" Und man kann in Landsberg am Lech, das schon um die Jahrhundertwende erste Fabriken bekam, zur Papierherstellung und zur Holzbearbeitung sowie eine Pflugfabrik, vor dem um 1700 errichteten Rathaus mit der dekorativen Fassade von Dominikus Zimmermann und inmitten schöner Bürgerhäuser stehen, ohne etwas zu spüren von den Anfang der siebziger Jahre besiedelten Industrieflächen. Wer erinnert sich übrigens noch, daß in den sechziger Jahren aus Landsberg ein begehrter Modeartikel kam: nahtlose Strümpfe? Nachdem weite Teile Ober- und Unterfrankens durch die deutsche Teilung zum Grenzland geworden waren und wie hier auch entlang der Grenze zur Tschechoslowakei Wachtürme und Stacheldraht jede Kommunikation verhinderten, bestand Gefahr, daß diese Gebiete ganz und gar zur „Provinz" absanken. Abgeschnitten von den Zentren des weißblauen Freistaats, in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die Motorisierung allein und die Verbundenheit auch der Städte und Gemeinden im Grenzgebiet mit der Außenwelt durch das Fernsehen hätten nicht genügt, eine geradezu programmierte Entwicklung ins Abseits aufzuhalten. Ihr nach Kräften entgegenzuwirken, jede dazu sich bietende Möglichkeit zu nützen, auch im Grenzland Industrie anzusiedeln, war von den fünfziger Jahren an Ziel der Regierung Bayerns. Und als von den siebziger Jahren an der Landesentwicklung eindeutig vorgegeben war, gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen Landesteilen zu schaffen, Schloß diese Absichtserklärung natürlich jenes Fünftel der Bevölkerung des Freistaats mit ein, das im Grenzgebiet beheimatet war.

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Es galt, die hier traditionellen Industrien wie Textil und Bekleidung, Porzellan und Glas veränderten Verhältnissen auf dem Verbraucher- wie auf dem Arbeitsmarkt anzupassen und auch hier Voraussetzungen für moderne Produktionsstätten zu erbringen. Die Strukturschwächen waren nicht ganz auszugleichen, aber wie Max Streibl als Regierungschef wiederholt hervorhob, gelang es, die Auswirkungen „abzufedern". Streibl stellte dieses Ergebnis besonders heraus, als sich nach der so sehr erhofften und doch unerwarteten Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 neue Chancen für die nun wieder in die Mitte Deutschlands gerückten Städte und Gemeinden ergaben. Mit entsprechenden Worten begleitete er zum Beispiel eine Ausstellung, mit der Anfang 1992 der Landkreis Kronach auf Initiative von Landrat Werner Schnappauf auf Wanderschaft ging. Er signalisierte und demonstrierte damit den Aufbruch aus einer extremen Rand- und Grenzlage und warb dafür, sich in einem ländlichen Raum mitten in Deutschland und mitten in Europa wohlzufiihlen und sich zu verwirklichen. Das sei doch eigentlich ein begehrtes Privileg. Wieviel Kraft, welch hohen Einsatz hatte es gekostet, die mehr als vier Jahrzehnte in extremer Rand- und Grenzlage durchzustehen! Es gelang, weil die für die kommunale Politik und Verwaltung Verantwortlichen sich außerordentlich engagierten, und weil sie dabei eben die Unterstützung des Freistaats und auch der Bundesrepublik fanden. Allein aus Mitteln zur regionalen Wirtschaftsförderung wurden im „Zonenrandgebiet" zwischen 1954 und 1990 über 88000 neue Arbeitsplätze geschaffen und mehr als 550000 bestehende Arbeitsplätze gesichert. Als Anfang der neunziger Jahre der Erste Bürgermeister von Lichtenfels, Günther Hauptmann, verabschiedet wurde, der sein Amt Ende der Fünfziger angetreten hatte, konnte er sich zugutehalten : zu keiner anderen Zeit der fast achthundertjährigen Geschichte der oberfränkischen Stadt sei „in so kurzer Zeit so viel bewegt" worden. In den dreiunddreißig Jahren, in denen Hauptmann als Bürgermeister amtierte, hat Lichtenfels 250 Millionen Mark investiert: 67 Millionen davon hat die Stadt aus staatlichen Fördermitteln erhalten. Dafür wurde eine zentrale Kläranlage geschaffen, das Kanalnetz erweitert und auch die zentrale Wasserversorgung wesentlich ausgedehnt. Straßen wurden gebaut, immer wieder Straßen gebaut, denn neue Siedlungen entstanden und rund zwanzig ehedem selbständige Gemeinden beziehungsweise Teile davon gingen in Lichtenfels auf. So verdoppelte sich die Zahl der Einwohner auf 21 000. Fünfzig Bebauungspläne in dreiunddreißig Jahren! Lichtenfels bekam eine Stadthalle, ein erstes und dann noch ein zweites Stadion, das Gymnasium wurde erweitert, eine neue Hauptschule und schließlich ein Schul- und Sportzentrum gebaut. Industrie siedelte sich zunächst außerhalb der Stadtgrenzen an, fand dann aber, als die Stadt sich ausdehnen konnte, in der eigenen Gemarkung Platz.

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Eines vor allem haben Bürgermeister und Landräte, Kreis- und Gemeinderäte aus und bei der Ansiedlung von Industrie erst lernen müssen: daß die Anbindung an das örtliche wie an das überörtliche Verkehrsnetz von größter Bedeutung ist. Oberbürgermeister Hermann Keßler von Nördlingen hat nach seinem Reinfall mit einem amerikanischen Unternehmen offen zugegeben, vor allem das daraus gelernt zu haben. Und wenn Bürgermeister Knoblauch heute Unternehmer nach Mühldorf lockt, erläutert er gleich auf den ersten Seiten einer eigens dazu erstellten Broschüre die Anbindung an München und seinen neuen Flughafen, die Verbindung nach Landshut und Passau, nach Salzburg und über Simbach nach Wien. Just aus solchen Erwägungen hat der Freistaat Bayern schon in den fünfziger Jahren begonnen, das Autobahnnetz zu erweitern, Staatsstraßen auszubauen und neu zu errichten, ja in den sechziger Jahren bewirkte Finanzminister Rudolf Eberhard sogar, daß das Aufkommen der Kraftfahrzeugsteuer auf Jahre den Landkreisen voll für den regionalen Straßenbau überlassen wurde. Die Industrie kann sich nur dort niederlassen, wo sie, von anderen Voraussetzungen einmal abgesehen, ihre Produkte schnell auf Straßen- und Schienenwege bringen kann. Und die Art, wie das geschieht, ist wiederum entscheidend dafür, ob eine Gemeinde mit ihrer Wirtschaft leben kann. Die Bürgerproteste nähmen kein Ende, hätte Lichtenfels nach jahrelangen Auseinandersetzungen, ob eine Umfahrung der Stadt zentrumsnah oder in größerem Abstand erfolgen soll, nicht endlich, fast schon zu Hauptmanns Abschied, eine zentrumsferne Tangentialstraße von Nord nach West erhalten. Sie ermöglicht jetzt endlich auch eine Sanierung der Altstadt. Nicht die ortsansässige Industrie verleidete noch in den siebziger Jahren Einheimischen wie Fremden einen längeren Aufenthalt im spitzwinkeligen Dreieck wuchtiger Wirts- und Geschäftshäuser am Marktplatz von Landsberg, sondern der von München aus talwärts und weiter ins Allgäu rollende Verkehr. Und welche Qualen litten in den ersten Jahren und Jahrzehnten der Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg Autofahrer, die auf dem Weg von Augsburg ins Ries und weiter nach Würzburg mußten, auf der Fahrt durch Donauwörth und gar durch Harburg hindurch, bis schließlich Umgehungsstraßen gebaut worden waren. Die Bewohner beider Städte litten nicht minder, denn ein Fahrzeug folgte dem anderen, häufig Lastwagen dazwischen, und oft erhöhten noch Staus die Belästigung der Anlieger und der Passanten durch Lärm und Gestank. Der Marktplatz von Bad Tölz, dessen mähliche Steigung breitgiebelige, reich dekorierte Bürgerhäuser nach oben begleiten, als würden sie auf Treppenstufen stehen, wurde gar erst in den achtziger Jahren durch eine zusätzliche Isarbrücke vom alpenquerenden Verkehr befreit. Und noch immer warten viele Gemeinden in Bayern auf eine Umgehungsstraße. Wohl haben zunächst die rasche Motorisierung des Verkehrs und die nicht minder rasche Ausbreitung des Fernsehens die provinzielle Enge

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bäuerlich geprägter Landesteile gesprengt. Die letztlich entscheidenden Veränderungen bewirkten die Freisetzung vieler Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft und deren Eingliederung in eine ganz Bayern erfassende Industrialisierung. Aber all diese Veränderungen konnten nur von Dauer sein, weil sie den Wohlstand der Bevölkerung mehrten, die Lebensqualität vieler einzelner hoben, und weil sie umfassende Reformen im Schulwesen und in der Verwaltung nach sich zogen. Wie selten war es früher einem Bauernsohn oder gar Mädchen aus einem Dorf möglich, eine höhere Schule zu besuchen. Da mußten sich die Eltern schon die Unterbringung in einem Internat leisten können. Oder die Lokalbahn schaffte es, Kinder aus dem Umland einer Kleinstadt rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in deren Schulen und wieder zurück in den Heimatort zu bringen. Und wie oft fehlten überhaupt die Voraussetzungen zum Besuch einer höheren Schule. Ein Lehrer oder eine Lehrerin mußten in einem Raum mehrere Klassen unterrichten: eine halbe Stunde mal die Abc-Schützen, eine andere Halbwüchsige der oberen Klassen, und die Buben und Mädchen, die gerade nicht unterrichtet wurden, hatten sich still zu beschäftigen. Da waren Kinder als Zehn- oder Zwölfjährige selten so weit gebildet, daß sie den Übertritt an ein Gymnasium schaffen konnten. Ein besonders wichtiger Beitrag, die ländlichen Gebiete auf das allgemeine Bildungsniveau zu heben, war so gesehen die Schulreform der sechziger Jahre. Das ganze Staatsvolk nahm daran Anteil, brach durch Volksbegehren und Volksentscheid den Widerstand der noch immer auf Konfessionsschulen beharrenden Kirchen. Die F D P drängte besonders, einen Kompromiß zu suchen, und in Gesprächen zwischen dem CSU-Vorsitzenden Strauß und dem SPD-Vorsitzenden Gabert wurde er schließlich gefunden. Die christliche Gemeinschaftsschule ermöglichte, größere Klassen zu bilden, denn man brauchte nun die Schüler nicht mehr nach Konfessionen zu trennen, ja als auch noch der Widerstand gegen den Einsatz von Schulbussen überwunden war, konnte man die Kinder mehrerer Gemeinden zusammenfassen. Nächster Schritt: unter den Kultusministern Ludwig Huber und Hans Maier wurden mehr als fünfzig Gymnasien und mehr als sechzig Realschulen neu gegründet, die meisten davon in den siebziger Jahren. Zu dieser Zeit errichtete Bayern auch die Universitäten in Bayreuth, Augsburg und Passau, nachdem es die erste Neugründung bereits 1968 in Regensburg gewagt hatte. Viele Gemeinden mußten neue Schulhäuser bauen, und sie gaben sich Mühe, in architektonischer Gestaltung wie Funktionalität mit großstädtischen Bauten gleichzuziehen. Freimütig erklärt zum Beispiel Ingo Weiß, Landrat von Straubing-Bogen: „Meine alte Oberrealschule in Regensburg hält einem Vergleich mit unseren neuen Gymnasien in Bogen und in Mallersdorf nicht stand." Als 1986 der Erdinger Landrat Hans Zehetmair bayerischer Kultusminister wurde, war im Zuge der Bemühungen, gerade auch in der Bildungspolitik das Gefälle zwischen Stadt und Land abzubauen, vor allem noch das

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Netz an Fachhochschulen enger zu knüpfen. Neben bestehenden Einrichtungen außerhalb der Großstädte, so in Freising und Rosenheim, in Kempten, in Coburg und Schweinfurt, werden Ingolstadt und Deggendorf, Amberg und Weiden, Ansbach, Aschaffenburg und Hof durch Fachhochschulen eine Aufwertung erfahren. Und noch immer weiter verfolgt wird die Absicht, den staatlichen Museumsbesitz nicht nur in München und Nürnberg auszustellen, sondern auf Zweigmuseen im ganzen Land zu verteilen. Anfang der neunziger Jahre gibt es bereits drei Dutzend davon, großen Instituten wie dem Völkerkundemuseum, dem Bayerischen Nationalmuseum oder der Prähistorischen Staatssammlung zugeordnet. Seit ersten Initiativen Ende der siebziger Jahre hat der Staat immer mehr Geld für Zweigmuseen zur Verfügung gestellt, denn Städte und Gemeinden fanden sich in ihren eigenen Aktivitäten, etwa der Errichtung und dem Unterhalt von Heimatmuseen, nicht tangiert, vielmehr ebenfalls vom Staat unterstützt, und bei weiten Kreisen der Bevölkerung fand die Verlagerung von Kunstschätzen große Zustimmung. Hatte man vordem allenfalls in der einstigen Residenz von Landshut eine Zweiggalerie der von den Wittelsbachern mit Eifer und großem Verständnis betriebenen Sammlung kunsthistorisch bedeutender Gemälde besichtigen können, so entstand nun in Obernzell an der Donau, nahe der Grenze zu Österreich, ein Museum für Gebrauchsgraphik und in einem einstigen Römerkastell in Passau ein Museum für Grabungsfunde aus der Zeit der römischen Besatzung. Oft war es durch die Errichtung von Zweigmuseen möglich, aus der Sicht der Denkmalpflege bedeutende Bauwerke neuen Zwecken zuzuführen. Das Réduit Tilly und der Turm Triva in Ingolstadt, großartige Beispiele der Festungsbaukunst des Leo von Klenze, wurden Anfang der neunziger Jahre renoviert, als feststand, daß eine Zweigstelle des Münchner Völkerkundemuseums und eine Abteilung des schon viele Jahre früher nach Ingolstadt verlegten Armeemuseums darin untergebracht werden können. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in vielen bayerischen Gemeinden der in den zwanziger Jahren favorisierte Gedanke wieder aufgenommen, Bildung nicht nur als eine Angelegenheit der Schul- und Hochschuljahre, sondern als eine Aufgabe anzusehen, die dem Menschen sein Leben lang gestellt ist. So entstanden, erst zaghaft und mit geringer staatlicher Unterstützung Volkshochschulen und Volksbüchereien, die immer mehr Zuspruch fanden und für die viele Gemeinden, Burghausen zum Beispiel, überkommene Prachtbauten sanierten und zur Verfügung stellten. Wer erst als Erwachsener Interesse zeigt oder Zeit findet, Sprachen zu lernen, sich mit der einen oder anderen Wissenschaft zu befassen, ja Goethe und Schiller, Rainer Maria Rilke oder Romano Guardini zu lesen, braucht sich nicht mehr in die Großstadt zu bemühen. Zwar ist gerade auch in München das Angebot der Volkshochschule immer mannigfacher und das der Stadtbücherei immer breiter geworden, aber kulturell zu dar-

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ben braucht in ganz Bayern niemand mehr. Durch Gesetz hat der Freistaat 1974 auf eine von ihm selbst getragene Erwachsenenbildung verzichtet und sich verpflichtet, die anerkannten Einrichtungen der Erwachsenenbildung zu fördern, ja ihnen Freiheit zu lassen bei der Auswahl der Lehrinhalte und -methoden. Er unterhält Beratungsstellen für öffentliche Büchereien, gibt Zuschüsse für Neuanschaffungen, und die Volkshochschulen profitieren vom Erfahrungsaustausch in einem Verband, zu dem sie sich zusammengeschlossen haben. Mit einer einzigen Ausnahme wurden alle Initiativen, die die Regierung in München ergriff, um Bayern als ein Ganzes zu gestalten, das zwar regionale Unterschiede kennt, also nicht überall gleiche, aber doch gleichwertige Lebensverhältnisse bietet, in allen Landesteilen dankbar aufgenommen und unterstützt. Die Ausnahme? Mit der kommunalen Gebietsreform stießen die Regierung Alfons Goppel und insbesondere der damalige Innenminister Bruno Merk Anfang der siebziger Jahre auf erbitterten Widerstand. Er war vorausgesagt und vorausgesehen worden, denn eine solche Gebietsreform mußte für viele kleine Gemeinden in Bayern den Verlust der Selbständigkeit und für viele kleine Landkreise das Ende, ja für eine große Zahl kommunaler Mandatsträger das Aus bedeuten. Die Mehrheit der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag war stark genug, um die Reform zu wagen, die gerade dann als unabweisbar und unaufschiebbar erachtet werden mußte, wenn man auch für die Bürger der ländlichen Gebiete, der „Provinz", eine modernen Ansprüchen genügende Verwaltung haben wollte. Mancher Bürgermeister einer nur wenige hundert Einwohner zählenden Gemeinde, der sein Amt nur nebenberuflich versah, war von Ansprüchen der Bevölkerung wie von den Ansuchen zahlreicher Behörden auf „Amtshilfe" völlig überfordert und suchte Hilfe bei diesem und jenem Beamten im Landratsamt, dessen sonstige Tätigkeit dadurch beeinträchtigt wurde. Logisch wäre es eigentlich gewesen, die Gebietsreform bei den Gemeinden zu beginnen und an deren Neuordnung auch die Neuordnung der Landkreise zu orientieren. Nur, von den Gemeinden war ein noch viel stärkerer Widerstand zu erwarten und auch der Katalog der für die Neuordnung wesentlichen Kriterien ungleich schwerer zu erstellen gewesen als für die Landkreise. Auch durfte der Innenminister von Landräten, die nach einer Gebietsreform der Landkreise noch amtierten, also ihre persönliche Zukunft gesichert sahen, weit eher Unterstützung für die Gebietsreform der Gemeinden erwarten als von solchen, die von Angst erfüllt gewesen wären um ihre eigene Existenz. Wie verbreitet diese Angst seinerzeit war, wurde dem Innenminister deutlich vor Augen geführt, als er bald nach der den Beginn der Gebietsreform bei den Landkreisen ankündigenden Regierungserklärung von Ministerpräsident Goppel im Januar 1971 zu einer außerordentlichen Versammlung der Landräte nach Passau gebeten worden war. Im Namen seiner niederbayerischen Kollegen warf ihm

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Landrat Ostermeier von Eggenfelden vor, nur deshalb die Zahl der Landräte zu halbieren, damit in München leichter regiert werden kann. Mit seinen Vorstellungen würde Merk die Landkreise in ein Abenteuer stürzen, aus dem es nur ein bitteres Erwachen gäbe. In ihrer Mehrheit äußerten sich die Landräte wesentlich differenzierter und um Sachlichkeit bemüht, doch wandten sie sich entschieden dagegen, den Landkreis der Zukunft an etwa 80000 Einwohnern zu orientieren - viel zu groß! - und die Reform in „ n u r " einem Jahr durchzuziehen, ja ein Gesamtkonzept sei notwendig, das darstelle, wie künftig überhaupt in Bayern verwaltet werden soll. Innenminister Merk hatte ein solches Gesamtkonzept wiederholt vorgetragen und erläutert, nur, er war realistisch genug, um zu wissen, daß es nur in mehreren Abschnitten verwirklicht werden kann. Von Anfang an war vorgesehen, erstinstanzielle Entscheidungen auf die Landratsämter und publikumsintensive Aufgaben, soweit es irgend geht, auf dann erstarkte Gemeinden zu übertragen. Auch mußte die Gebietsreform in einem relativ kurzen Zeitraum durchgeführt werden, wenn man vermeiden wollte, daß in einer Übergangszeit später zu korrigierende, die Haushalte gleichwohl belastende Entscheidungen getroffen werden. Zum 1. Juli 1972 wurden aus 143 nun 71 Landkreise, von 48 kreisfreien Städten blieben noch 25. Die durchschnittliche Einwohnerzahl stieg von 49000 auf heute 114000, und daß einst ein Landkreis gar nur 16000 Einwohner hatte, gilt als Kuriosum. Noch gewaltiger als bei der Neuordnung der Landkreise war, wie vermutet, der Widerstand bei der Zusammenlegung von Gemeinden beziehungsweise bei deren Zusammenfassung zu durch ein eigenes Gesetz begründeten Verwaltungsgemeinschaften. Sogar die eine oder andere Nachkorrektur wurde durch Gerichte erzwungen oder nach langem Zögern doch noch politisch verfügt. Etwas mehr als zweitausend Gemeinden umfaßt heute der Freistaat, gegenüber sechstausend vor 1978, dem Abschluß der gesamten kommunalen Gebietsreform. Als Anfang der neunziger Jahre Innenminister Edmund Stoiber beim Jubiläum einer dieser Gemeinden sprach, in Dettelbach am Main, bestätigte er seinem Vorgänger Merk, bürgerfreundliche Überschaubarkeit erreicht, ja eine maßvolle politische Planung anstelle eines in anderen Bundesländern vollzogenen Kahlschlags durchgesetzt zu haben. Ohne die Gebietsreform wären Landkreise und kreisfreie Städte, aber auch die Gemeinden den angesichts eines immensen Aufgabenzuwachses gestiegenen Anforderungen heute nicht mehr gewachsen. Vielen Gemeinden wurden im Rahmen der Gebietsreform angrenzende kleinere einverleibt. Zum Beispiel wuchs die Stadt Nördlingen zwischen 1972 und 1976 um zehn neue Stadtteile, ehedem selbständige Gemeinden. Gemünden am Main, das im Zweiten Weltkrieg zu der am schwersten getroffenen Kleinstadt Bayerns geworden war, wurde zu einem der größten kommunalen Waldbesitzer. Von 7200 Hektar Gemarkungsfläche sind mehr als 4000 Hektar Wald. Das erlaubt einem großen Teil der mittler-

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weile 11000 Einwohner, vom Fremdenverkehr zu leben. Ein Urlaub im Naturpark Spessart ist reizvoll. Andere Gemeinden aber, insbesondere einige Städte, die zu ihrer weiteren Entwicklung zusätzliche Flächen dringend benötigt hätten, gingen leer aus. Nicht allein sachliche Gesichtspunkte bestimmten ja einzelne Entscheidungen zur Gebietsreform. Der Innenminister benötigte dazu eine Mehrheit im Bayerischen Landtag, und die konnte er nur in der eigenen, der CSU-Fraktion gewinnen, da sich die SPD einer Mitwirkung bei der Gebietsreform aus grundsätzlichen Erwägungen versagte. Sie wollte nicht größere Landkreise schaffen, sondern „Regionen" mit bis zu 200 und 300000 Einwohnern an ihre Stelle setzen. Manche Städte, etwa in der Oberpfalz Roding und Sulzbach-Rosenberg trauern noch heute dem Verlust des Kreissitzes nach. In Mittelfranken gingen die Landkreise Schwabach und Hilpoltstein auf im Landkreis Roth. Von der Gebietsreform wesentlich profitiert zu haben, räumt man im Landratsamt der jungen Kreisstadt bereitwillig ein. Man habe auf gewachsenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen des 20. Jahrhunderts gut aufbauen können. Gymnasium, Realschule und Berufsschule wurden hier errichtet, ein Krankenhaus für den gesamten Landkreis und natürlich ein Landratsamt. Mit der Entscheidung für Roth als Kreisstadt in einem zwei ehemalige Landkreise vereinenden Gebiet wurde im Süden des Großraums Nürnberg ein sehr interessanter Siedlungsraum und Standort für Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen geschaffen. Für Landrat Helmut Hutzelmann bildet die Bevölkerung hier ein Bindeglied zwischen den Franken im Norden und Westen, den Oberpfälzern im Osten und den Oberbayern im Süden. Auch die Attraktivität der Städteachse Nürnberg-Fürth-Erlangen-Schwabach wirkt sich auf seinen Landkreis aus. Immer mehr Menschen suchen hier f ü r sich und ihre Familien eine Bleibe, bevorzugt Grundstück mit Haus. Schon immer spielte das Umland der Großstädte auf der wirtschaftsgeographischen Landkarte eine besondere Rolle. Hier stehen die Menschen nur mit einem Bein in ihrer Gemeinde, mit dem anderen in der Großstadt, in der ihr Arbeitsplatz ist. Wohl lieben sie den Ort, in dem sie Wohnsitz genommen haben, die Landschaft rundum, die Natur, besonders den eigenen Garten. Deutlich setzen sie sich aber von allem ab, was in der eigenen Gemeinde oder gar in weiterer Entfernung von der Großstadt dörflich erscheint. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der öffentliche Nahverkehr entscheidend verbessert wurde, insbesondere durch die Partnerschaft kommunaler Verkehrsträger mit der Deutschen Bundesbahn, gewann das Umland immer noch mehr an Anziehungskraft. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre setzte München ein Beispiel. Unter Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel wurde die erste U-Bahn-Strecke und gleichzeitig von der Bundesbahn die S-Bahn gebaut, die die vordem teils am Ostbahnhof, teils

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am Hauptbahnhof endenden Vorortzüge unterirdisch miteinander verband. Mit einer Fahrkarte konnte man nun U- und S-Bahnen und zudem Omnibusse und Straßenbahnen benützen. Bald folgte Nürnberg und folgten in bescheidenerem Rahmen andere Großstädte Bayerns diesem Beispiel. Wie im mittelfränkischen Roth stiegen überall im großstädtischen Umland die Bodenpreise und die Einwohnerzahlen der Gemeinden. Olching im Münchner Westen, das vor fünfzig Jahren noch ein Bauerndorf war, und Gröbenzell, eine kleine Siedlung, die dazu gehörte, Gauting und Germering, Garching, Ottobrunn und Vaterstetten, seinerzeit Vororte von unterschiedlicher Größe und Attraktivität im Umkreis der Hauptstadt, sind heute auf zwanzig-, ja dreißigtausend Einwohner gewachsen. Mußten die Kinder dieser Gemeinden einst nach München fahren, um höhere Schulen zu besuchen, verfügen die Gemeinden mittlerweile meist selbst über Gymnasien. Sie besitzen Sport- und Freizeitzentren, Bürgerhäuser. Dabei ist der Siedlungsdruck keineswegs auf den Großraum München und den mittelfränkischen Ballungsraum beschränkt. In seinem Landkreis seien die Grundstückspreise im letzten Jahrzehnt um das Fünf- bis Achtfache gestiegen, berichtet Armin Grein, Landrat im Landkreis Main-Spessart. Er spricht von einer Flucht aus dem Rhein-Main-Gebiet und bedauert vor allem, daß nicht der Fremde sich anpaßt, sondern die Gegend soll sich dessen Ansprüchen anpassen, um den ,Lebenstraum' in adäquater Umgebung präsentieren zu können. Daraus erklärt sich, daß es Gemeinden im großstädtischen Umland besonders schwerfällt, neuen Ansiedlungen mehr als ein Allerweltsgesicht zu geben. Vier oder sechs Reihenhäuser unter einem First, jedes mit ein paar Quadratmeter Grün vor der Eingangstür und handtuchförmigen Gärten im Rücken, dazu noch ein paar Doppel- oder allein stehende Häuser, die schon im ersten Stock der Dachgiebel drückt, das findet man überall. Oberhaching, gut ein Dutzend Kilometer vom Münchner Marienplatz entfernt, hat von einem stilsicheren Architekten eine Baufibel erarbeiten lassen, die nun alle Bürger bindet. Wie mittlerweile Großstädte darauf bedacht sind, in vor Jahrzehnten eingemeindeten Dörfern noch erhaltene Kirchen, Schul- oder Wirtshäuser zu bewahren, in München etwa das Dörfliche von Sendling, Forstenried und Bogenhausen, so putzen Gemeinden in ihrem Umland ihr dörfliches oder auch herrschaftliches Erbe heraus. Durch ein solches Verständnis für ihre Geschichte können sie ja auch ihre Eigenständigkeit betonen. So baute Allersberg im Landkreis Roth, das nach schweren Kämpfen im April 1945 in Schutt und Asche lag, das Pfleghaus, also den Sitz des Landrichters, ein stattliches Gebäude mit barock geschwungenem Giebel, wieder auf und zum Rathaus um. Zwei Dutzend kleine Ortschaften hat die Gemeinde durch die Gebietsreform dazugewonnen, von 1 800 Einwohnern bei Kriegsende ist sie auf mehr als 7 000 gewachsen. Auch Veitshöchheim, das schon immer eng mit Würzburg verbunden, nicht nur einst

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Sommersitz der Fürstbischöfe, sondern bereits im vorigen Jahrhundert auch beliebter Ausflugsort von Studenten der Würzburger Universität war, hat die Zahl seiner Einwohner seit Kriegsende vervierfacht. Stolz verweist Bürgermeister Rainer Kinzkofer darauf, daß Veitshöchheim eigentlich nie zu jenen „vielen Gemeinden im ländlichen Raum" gehört habe, die „Jahrzehnte lang quasi einen Dornröschenschlaf hielten". Man begnügt sich heute auch nicht damit, Besucher auf den Hofgarten, den wohl schönsten Rokokogarten Europas zu verweisen, hat vielmehr 1981 mit den Mainfrankensälen einen „Tagungs- und Veranstaltungsort von überregionaler Bedeutung" geschaffen und erreicht, daß all die idyllischen Gäßchen zum Main mit staatlicher und kommunaler Hilfe in der Bausubstanz renoviert und saniert und schließlich mit Porphyrpflaster und nostalgischen Laternen ausgestattet wurden. Auch die Gemeinden, die sich zu anerkannten Urlaubsorten entwickelten wie ein gutes Dutzend in Oberbayern und im Allgäu, blieben nicht, was sie am Anfang des Jahrhunderts noch waren: „Provinz". Sie pflegen ihre Eigenständigkeit, die heimische Architektur, Brauchtum und Tracht, wohl wissend, daß ihnen gerade daraus Kapital erwächst, doch haben sie gelernt, diese Verbundenheit mit der Tradition fast bruchlos mit Offenheit für alles Fremde und vor allem die Fremden zu verbinden. Ist Tegernsee provinziell? Man braucht in unserer Geschichte gar nicht weit zurückzublikken, sagt Norbert Kerkel, der Landrat von Miesbach, um festzustellen, daß früher eben diese ,Provinz' das bevorzugte Ziel der Herrscherhäuser, bei uns vor allem der Wittelsbacher war. Tegernsee, das ist nicht Stadt, ist kaum noch Land, vielmehr das eigenwillige Ergebnis einer Annäherung an beide Lebensformen. Ist Berchtesgaden „Provinz"? Oder Oberammergau? Wer es ein Dorf nennt, kann dafür viele Beweisstücke finden. Die Bauweise ist ländlich, von den seit Jahrhunderten reichlich vorhandenen Materialien Holz und Stein bestimmt. Die meisten Balkone sind im Sommer prächtig mit Blumen, vor allem Geranien, geschmückt! Und doch hat diese Gemeinde für den, der die keineswegs nur auf die Darstellung der Passion Christi gerichtete künstlerische Betätigung fast der gesamten Bevölkerung erfaßt, etwas von städtischer Urbanität. Viele Urlaubsorte sind in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstanden, insbesondere im Bayerischen und im Oberpfälzer Wald. Fast ausnahmslos verfügen sie über Einrichtungen, die Urlaubern eine an Abwechslungen reiche und sinnvolle Gestaltung der Freizeit erlauben. Wir .Provinz'? Wenn eine solche Einstufung von Städtern abwertend gemeint sei, dann vertrete ich die Auffassung, erklärt stellvertretender Landrat Alfons Hellauer von Freyung-Grafenau, daß die Verhältnisse mittlerweile eher umgekehrt sind. Nun war in Bayern das Gefälle zwischen Stadt und Provinz nie so groß wie in anderen Ländern, etwa im deutschen Norden oder gar in Frankreich. Das neue, das große Bayern gibt es erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts und erst seitdem ist München wirklich Metropole. König

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Ludwig I. wollte es zu einer Stadt machen, die man gesehen haben muß, um Deutschland zu kennen. In den Jahrhunderten zuvor hat es auf dem Gebiet des weißblauen Königreichs viele kleine und einige bedeutende Herren, wie etwa den Fürstbischof von Würzburg und den Fürstabt von Kempten, mit unterschiedlich großen Territorien und daneben Freie Reichsstädte, wiederum von geringer oder von großer Bedeutung wie Nürnberg gegeben. Da dachte man doch gar nicht daran, München als bedeutender und sich selbst etwa gar als „Provinz" einzustufen, zumal ja auch die Wittelsbacher Herrschaft noch andere Residenzstädte als München kannte, etwa Landshut oder Ingolstadt oder Burghausen. Bevor Napoleon das große Bayern schuf, es zum Königreich erhob und dieses dann auch noch die Klöster beseitigte, besaß man doch selbst barocke Prachtbauten genug, reich ausgestattete Prunkräume und gewaltige Treppenhäuser. Treffend urteilt Landrat Armin Grein: Es ist ganz offensichtlich der Blick aus den ehemaligen Residenzen und heutigen Regierungssitzen, der dem geringschätzigen Begriff .Provinz' seine Definition gab. Gleichwohl war Bayern, objektiv betrachtet, bis in die siebziger Jahre mit zurückgebliebenen Landstrichen, mit „Provinz" belastet. Aber Grein hat recht: Die Provinz selbst hielt sich nie für provinziell. Dafür fehlten ihr der Maßstab und die Muße, überhaupt Vergleiche anzustellen. Es war nicht die Selbsterkenntnis Betroffener, die Provinz lokalisieren ließ, sondern das Verdikt anderer, Fremder oder fremd Gewordener. Nach deren Urteil wurde Provinz gleichgestellt mit engstirnig, rückständig und langweilig. So gesehen haben nicht allein schon Motorisierung und Industrialisierung oder das Fernsehen das Ende der „Provinz" verursacht. Sie haben vielmehr ermöglicht, überall im Land Vergleiche anzustellen und haben so jene Selbsterkenntnis Betroffener geweckt, die über Jahrhunderte einfach nicht möglich gewesen war. Aus ihr erwuchsen die Kräfte zur Veränderung, sie trieben und beschleunigten den Aufholprozeß. Er ist folglich nur zum Teil ein Ergebnis moderner Technik und der eindeutig auf Schaffung gleicher Lebensqualität im ganzen Land ausgerichteten Politik, vielmehr Ergebnis der zwar von außen geweckten, schließlich aber von den Menschen in der Provinz selbst ergriffenen Initiativen. Daraus erklären sich auch die gewaltigen Anstrengungen, die Kleinstädte und Marktflecken, ländliche Gemeinden und Dörfer fast ausnahmslos ergriffen haben, um ihr Aussehen zu verbessern. München hat damit begonnen, Fußgängerzonen anzulegen, aber es hat sie immer mehr ausgeweitet, dabei kleine Straßen, die als Zubringer fungierten, abgeschnürt. So sind solche Zonen tagsüber zu Rennstrecken und Rummelplätzen um Verkaufsstände geworden, in den Abendstunden, meist menschenleer, wirken sie verödet. In Kleinstädten und Marktflecken folgte man dem ersten Anstoß, hat aber kaum je das rechte Maß verloren, so daß die Fußgängerzonen hier wirklich Anreiz geben und ermöglichen, unge-

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fährdet zu flanieren, vor Schaufenstern zu verweilen, mit Freunden und Bekannten zu plauschen, auf Bänken sitzend sich auszuruhen, die meist mit besonderem Geschick renovierten Fassaden auf sich wirken zu lassen. Auf freien Plätzen und mitunter auch parallel zu den Häuserzeilen sind Pflanzkübel aufgestellt, je nach Jahreszeit unterschiedlich bestückt, im Sommer mit einer Blütenpracht von Astern und Tagetes, Fleißigen Lieschen, Geranien und Begonien. Man wetteifert nicht nur mit der Großstadt, ihren Grünflächen, Ruhezonen und Blumenrabatten. Man schaut auch auf die Dörfer der Umgebung, die die Dorflinde, das Wegkreuz neu entdeckt und zu schätzen gelernt haben, was ein schmucker Dorfplatz für ein wieder auf Bäuerlichkeit gestimmtes Zusammenleben bedeutet. Seit 1970 den zur Flurbereinigung bestellten Behörden aufgetragen wurde, sich auch um eine zeitgemäße Gestaltung der Dörfer zu kümmern, wächst von Ort zu Ort die Bereitschaft dazu. Deutlich kommt das Selbstbewußtsein der einstigen Provinz in einer breiten Palette von Festen und in kulturellen Aktivitäten zum Ausdruck. Die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth sind damit nicht gemeint, auch nicht die Aufführungen auf der Luisenburg bei Wunsiedel. Beide haben eine lange Tradition. Auch auf das gewaltige Anwachsen der Waldund Gartenfeste, der Stadt- und Bier- und Weinfeste, die alle dazu beitragen, die örtliche Gemeinschaft zu festigen, soll nur kurz verwiesen sein. Wirklich Ausdruck gewachsenen Selbstbewußtseins und Selbstvertrauens sind die Musik- und Kultursommer in bayerischen Kleinstädten, vom „Musiksommer zwischen Inn und Salzach" zu den „Rieser Kulturtagen". Wann und wo hat es das früher schon gegeben, daß eine Gemeinde, deren breit hingelagerte, mit Baikonen und Erkern akzentuierte, mit Malerei und Blumen geschmückte Häuser besonderen Charme begründen, die indes nur 3 600 Einwohner zählt, durch einen Chor internationalen Ruhm erwirbt? Neubeuern! Unter Enoch zu Guttenberg gastiert die Gemeinschaft, mittlerweile mehrfach ausgezeichnet, in der Münchner Philharmonie, bei den Berliner Festwochen und beim Schleswig-Holstein-Festival. Und wie in der Inntal-Gemeinde Neubeuern musizieren noch in vielen Kleinstädten, spielen noch in vielen Marktflecken Amateure mit großer Hingabe und natürlich unterschiedlicher Professionalität. Beim letzten Tageslicht ging's los, liest man über die „Weiherspiele" in Markt Schwaben. Das Interesse der vielen Zuschauer (ca. 400) war riesengroß. Der AnfangsApplaus galt den Schauspielern in ihren farbenprächtigen Kostümen und der tollen Beleuchtung der Seebühne. Nur Laien dürfen mitspielen, etwa beim „Goldrausch in Alaska" oder bei „Casanova", einem musikalischen Theaterspektakel um die Liebe. Als Ausdruck gewachsenen Selbstbewußtseins ist auch der Einsatz vieler Kleinstädte und ländlicher Gemeinden für die Denkmalpflege zu werten. In den siebziger und achtziger Jahren konnte es „auf dem Land" noch passieren, daß eine in bestem Jugendstil errichtete Fabrikantenvilla

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unter Mißachtung alter Stilelemente umgestaltet oder gar niedergerissen wurde. Doch das war damals schon die Ausnahme. Seit der Bayerische Landtag 1973 vor allen anderen Bundesländern ein beispielhaftes Gesetz zum Schutz der Denkmäler erlassen hat, wuchs auch in der einstigen „Provinz" die Bereitschaft, in seinem Sinne zu wirken. Da und dort bedauerte man ja schon, in ein altes Ensemble Lücken geschlagen zu haben, um eine Sparkasse oder ein Kaufhaus in bester Lage zu piazieren. Und das Landesamt für Denkmalpflege begann seinerzeit damit, alle unter Denkmalschutz stehenden oder noch zu stellenden Gebäude zu registrieren. Das löste gelegentlich Diskussionen aus, und wenn dabei mitunter auch noch geringes Verständnis aus den Worten sprach, wozu man denn des alte G 'raffi erhalten wolle, trugen solche Auseinandersetzungen doch dazu bei, Bewußtsein für die Denkmalpflege zu wecken. Unzählige Objekte wurden seit 1973 in Kleinstädten saniert und stilgerecht renoviert, während man gerade in diesen Kommunen in den fünfziger und sechziger Jahren noch alte Bürgerhäuser im Parterre aufgeschnitten hatte, um großflächige Schaufenster einsetzen zu können. Bezirke engagierten sich für Unternehmungen, die eine einzelne Kommune überfordert hätten, Schwaben zum Beispiel für das Kloster Irsee, Kleinstädte gingen oft an die Grenze ihrer Belastbarkeit, um alte Amtssitze in Rathäuser zu verwandeln. Um wieviel ärmer wäre etwa Tittmoning, wenn es nicht einen aus dem M.Jahrhundert stammenden, dreistöckigen und über sechs Fenster breiten Palazzo für sich hergerichtet hätte? Vor allem aber entsprach dem gewachsenen Selbstbewußtsein der einstigen Provinz das von Bund und Freistaat gemeinsam initiierte Programm zur Stadterneuerung. Seit 1970 wurden aus den dafür bereitgestellten Töpfen nahezu fünf Milliarden Mark investiert, die Eigenmittel der Kommunen einbezogen. Innenstaatssekretär Herbert Huber gab diese Zahl im August 1992 in Amberg bekannt, denn Amberg hat sich in der Stadtsanierung ganz besonders hervorgetan. In den letzten zwanzig Jahren hat es an staatlichen Finanzhilfen für diese Aufgabe fast 75 Millionen Mark erhalten und fast 38 Millionen Mark brachte es selbst dafür auf. Mit beispielhaften Sanierungen aber können viele bayerische Städte, etwa Fürth, und Kleinstädte wie Karlstadt und Aichach aufwarten. Hier wie dort begann man mit einer sorgfältigen Erfassung und gründlichen Analyse der gegebenen städtebaulichen Situation. Ziel war es jeweils, das überkommene Stadtbild und einzelne sehenswerte Gebäude zu erhalten, dem Ort aber auch als Handels- und Gewerbe-, als Dienstleistungs- und Kommunikationszentrum die Zukunft zu sichern. Dazu wurden Pläne gefertigt, die einerseits die künftige Nutzung und die innerstädtische Verkehrsführung, andererseits die städtebauliche Gestaltung festlegen sollten. Karlstadt bescheinigte Generalkonservator Michael Petzet, daß es hier gelungen sei, im Interesse des Ganzen vermeintlich gegensätzliche Anliegen der Stadtplanung und der Denkmalpflege, der Stadterneuerung und der

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Stadterhaltung gleichermaßen zu berücksichtigen, miteinander zu verbinden. Und Aichach wurde 1981 Bundessieger im Wettbewerb „Bürger, es geht um Deine Gemeinde". Bürgermeister Alfred Riepl empfing im Berliner Schloß Charlottenburg aus den Händen des Bundespräsidenten eine Goldplakette. Ob man nun in Aichach auf das Obere Tor zu- oder am Pfarrhof in Klingen vorbeigeht oder in Karlstadt, vorbei an den prächtig renovierten Fachwerkhäusern durch die Hauptstraße schlendert - überall hat man den Eindruck, in einer von Bayerns besten Stuben zu sein. Provinz? Wohl erinnert das eine oder andere Gebäude an ländliche Sitten und einstige Bedürfnisse, doch Lebensqualität ist hier mindestens so gegeben wie in angesehenen Stadtteilen von München und Nürnberg, Augsburg oder Regensburg. Was alles einmal die Provinz zur „Provinz" machte, haben die meisten Kleinstädte und ländlichen Gemeinden Bayerns abgestreift. In einem Buch, das alte Ansichten von Günzenhausen zeigt, wird vorgeführt, wie diese mittelfränkische Kleinstadt sich vor dem Zweiten Weltkrieg gab. Zu den Markttagen kamen die Bauern der Umgebung mit Ochsengespannen, die schließlich vor dem Bezirksamt oder den Wirtshäusern abgestellt wurden. Am westlichen Marktplatz gab es bereits einen Gehsteig, aber es fehlten Kanalisation und Straßenbeleuchtung. Die bescheidene Promenade an der Altmühl diente zwar zum Flanieren, ebenso aber auch zum Wäschetrocknen. Als nun Willi Hilpert, der Bürgermeister von Günzenhausen, Anfang 1992 seinen sechzigsten Geburtstag feierte und vom Präsidenten des Bayerischen Landtags bis zu den Kommunalpolitikern der ganzen Region sich alles einfand, was Rang und Namen hat, konnte Regierungspräsident Heinrich von Mosch sagen, dieses Günzenhausen sei zur Empfangsstube Mittelfrankens geworden. Industrie hat sich angesiedelt, damit die Wirtschaftskraft der Kleinstadt gesteigert; und die gesteigerte Wirtschaftskraft ermöglichte, eine Stadthalle zu bauen, weitere öffentliche Einrichtungen zu schaffen und zum Beispiel das einstige Jagdschloß des „Wilden" Markgrafen zum „Haus des Gastes" um- und auszubauen. Einen Vorteil hat Günzenhausen allen bayerischen Gemeinden voraus. Noch in den dreißiger Jahren konnten sie sich glücklich preisen, wenn sie einem Flußlauf ein Freibad abgewannen. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sie, Hallenbäder zu bauen. Auf Münchner Initiative wurde ein Verein gegründet, der im Umfeld der Hauptstadt geeignete Gewässer, zum Beispiel einen Uferstreifen am Starnberger See, doch auch durch Kiesgewinnung für den Autobahnbau entstandene „Baggerseen" als Erholungsgelände erschloß. In großem Umfang aber und immer höheren Ansprüchen genügend entstanden in der einstigen Provinz Einrichtungen für Freizeit und Erholung, als das 1970 errichtete Umweltministerium, das gleichzeitig für die Landesentwicklung zuständig war, ein eigenes Förderprogramm dafür präsentierte. Seit Ende der siebziger Jahre haben

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schließlich die alle Jahre in einer anderen bayerischen Stadt mittlerer Größe veranstalteten Gartenschauen entscheidende Anstöße zur Erweiterung oder gar zur Neuanlage von Erholungsflächen gegeben. Man habe heute außerhalb der Großstädte mehr Möglichkeiten, Freizeit mit Sport, Baden oder Radfahren zu verbringen als in Großstädten, ist von Landräten und Bürgermeistern zu hören. Günzenhausen aber hat unmittelbar vor der Stadtgrenze mit dem Brombachspeicher einen See bekommen, der, größer als der Tegernsee, geradezu ideale Möglichkeiten zum Baden, zum Segeln und zum Surfen bietet. Hauptsächlich dient er dazu, zusammen mit anderen Speicherseen und in Verbindung mit dem neuen RheinMain-Donau-Kanal Wasser aus Oberbayern dem wasserarmen Franken anzubieten. Weil er Mittelfranken nun aber auch Badespaß und Seglerfreuden verschafft, Möglichkeiten, die bislang nur Oberbayern hatte, bedeutet der Brombachspeicher für die ganze Region eine große Aufwertung. In nicht einmal vierzig Jahren hat sich die einstige Provinz in einer Weise gewandelt, von der man in Kleinstädten und Dörfern nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Nicht nur das Fernsehen, auch große Zeitungen wie der „Münchner Merkur" und die „Nürnberger Nachrichten" haben „das flache Land" weit stärker, als das früher Lokalblätter konnten, in die Vermittlung von Nachrichten und in die Meinungsbildung einbezogen. Erschien das Lokalblatt früher vielleicht zweimal wöchentlich, galt sein Hauptinteresse dem örtlichen Geschehen, so partizipiert heute, bei noch stärkerer Berücksichtigung des Lokalen, auch der Leser in der Kleinstadt oder auf dem Dorf täglich an einer Großstadtzeitung. Ja, über das Fernsehen, bislang jedenfalls das des Bayerischen Rundfunks, wird er nicht nur mit Informationen bedient. Über eine Sendung wie „Jetzt red i" hat er seit 1970 auch Möglichkeiten, seine und seiner Mitbürger Anliegen direkt an die Regierenden oder in Kirchen und Organisationen Verantwortliche heranzutragen. Daß in den achtziger Jahren Landau an der Isar sich sehr darum bemühte, ein Zweigmuseum der Prähistorischen Staatssammlung zu erhalten, teilte sich so ganz Bayern mit. Nicht minder, daß Oberviechtach dringend einen Kinderarzt benötigt und im 54sitzigen Schulbus bis zu neunzig Kinder unterkommen sollen, daß der Forggensee bei Füssen nicht erst Mitte Juni, sondern der Urlauber wegen wesentlich früher aufgestaut werden sollte und daß vom mainfränkischen Gaukönigshofen jeweils ein schlimmer Papierkrieg mit dem Landesamt für Denkmalpflege geführt werden muß, wenn es wieder einen der vielen Bildstöcke in seiner Gemarkung renovieren möchte. Daß Anliegen und Probleme ländlicher Gemeinden zu Themen einer bayernweit ausgestrahlten Fernsehsendung werden, ja daß Staatsminister und Staatssekretäre öffentlich dazu Stellung nehmen und viele Zuschauer sich das anhören, macht deutlich, daß es die Jahrhunderte bestehende Kluft zwischen Stadt und Land nicht mehr gibt. Bayern ist nicht nur ein

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Staat, der Staat ist Ausdruck einer Gemeinschaft. Seit die ärgsten Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg behoben sind, seit etwa 1950, hat er unendlich viel getan, diese Gemeinschaft auch dadurch zu festigen, daß niemand mehr vom Land neidvoll auf die Stadt zu schauen braucht. Dankbar anerkennt Landrat Otto Neukum von Bamberg, Vorsitzender des Verbands der bayerischen Landkreise, daß es dem Staat durch seine Förderung, durch den von ihm gespeisten „kommunalen Finanzausgleich" möglich war, die unterschiedlichen Einnahmemöglichkeiten der einzelnen Kommunen abzugleichen, Sonderbelastungen abzubauen und durch gezielte Zuwendungen bei der Durchföhrung von Investitionsmaßnahmen zu unterstützen. Ohne diese Leistungen wäre das flache Land nicht dort, wo es sich heute befindet. Jahr für Jahr, fast ausnahmslos, wurden die Mittel für den Finanzausgleich erhöht, von einst (1950) fünfzig Millionen Mark auf heute (1993) gut zehn Milliarden. Wohl ist der Bedarf an staatlicher Unterstützung in den Kommunen längst nicht erfüllt. Das kommunale Finanzsystem ist ja mit darauf aufgebaut und nicht etwa nur auf den Einnahmen aus der Grund- und Gewerbesteuer. Auch fühlen sich einige Landesteile besonders benachteiligt. Hans Schuierer, Landrat von Schwandorf, leugnet zwar nicht einige positive Veränderungen: So entwickelte sich die Stadt Regensburg immer mehr zu einem bedeutenden Oberzentrum, das sowohl im kulturellen, sozialen wie auch im arbeitsmarktpolitischen Bereich eine gewisse Sogwirkung ausübt. Auch die Festlegung der Standorte der Fachhochschulen in Amberg und Weiden sind deutliche Signale im Sinn einer vernünftigen Landesentwicklung. Er mahnt indes mit dem Hinweis auf noch immer zu hohe Unterschiede im Einkommen der Bevölkerung, wie sie bei der Einkommenssteuer deutlich werden - 290 Mark in der Oberpfalz, 925 Mark in Oberbayern - , ein strukturpolitisches Eingreifen der Staatsregierung an. Und der öffentliche Nahverkehr ist in den von Ballungsräumen entfernteren Gebieten so schlecht organisiert, daß Tagesreisen erforderlich werden, um Behörden aufzusuchen, und Schulkindern zugemutet wird, vor Tagesanbruch aufzustehen. Man fahre einmal von Ludwigstadt nach Kronach! Letztlich aber hat doch Otto Neukum recht, daß dem Leitbild gleichwertiger Lebensverhältnisse zum Durchbruch verhelfen worden sei. Selbst die stationäre Krankenversorgung weist heute kaum noch Lükken auf. Zug um Zug mit einem massiven Bettenabbau gelang es nicht nur, ein relativ engmaschiges Netz von Krankenhäusern der Grundversorgung zu schaffen. Die einstige Konzentration über solche Grundversorgung hinausgehender Krankenhäuser wurde überwunden. Wie in Oberbayern außerhalb Münchens in Ingolstadt, Rosenheim, Traunstein und Garmisch-Partenkirchen gibt es sie in der Oberpfalz außer in Regensburg in Amberg und Weiden, in Mittelfranken in Ansbach und Fürth und ähnlich verteilt in den anderen Regierungsbezirken. Damit ist das staatlicher Planung vorgegebene Ziel, ein bedarfsgerechtes, funktional abgestuftes

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Netz möglichst gleichmäßig über das Staatsgebiet verteilter, einander ergänzender Krankenhäuser zu schaffen, weitgehend erreicht. Dabei haben alle diese Krankenhäuser und vor allem natürlich die Großkliniken, von denen jede so ausgestattet ist, daß sie auch weniger häufig anfallende Krankheiten diagnostisch und therapeutisch bewältigen oder an bestimmte medizinisch-technische Voraussetzungen gebundene Leistungen erbringen kann, zwei- bis dreistellige Millionenbeträge gekostet. Hohe Ansprüche stellt der Patient heute sowohl an die medizinische Versorgung als auch an die Pflege und die Unterbringung außerhalb der Großstadt genauso wie in ihr. Kein Zimmer ohne Naßzelle, also ohne Waschbecken, Dusche und WC. So großartige Rathäuser wie die von Memmingen und Hof, von Mindelheim und Neustadt an der Aisch sind heute nicht mehr nur Zeugen einer Vergangenheit, auf die man stolz sein kann, sondern, prächtig herausgeputzt, Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins. Wer in Neustadt an der Aisch durch das alte Stadttor hindurch auf schmucke Fachwerkhäuser schaut, im Gasthof zum Schwan vor einem Karpfen aus dem Aischgrund sitzt und zu einem Schoppen aus dem nahen Castell oder Iphofen greift, wer in Mindelheim durch die noch immer mittelalterlich anmutende Altstadt spaziert, über sich den Stammsitz der Frundsberger, und dabei gerade auch den Stadtturm durchschreitet, der alle Jahre zur Fasnacht eingekleidet und so in den „Durahansl" verwandelt wird, ja wer hier wie dort und in vielen Kleinstädten und ländlichen Gemeinden die Möglichkeit hat, öffentliche Einrichtungen zu benützen, die fast alle hohen Erwartungen genügen, der braucht sich gegenüber großstädtischem Leben nicht benachteiligt zu fühlen, im Gegenteil, ein Leben in der einstigen Provinz ist jenem oft überlegen. Der neu entdeckten Natur ist man näher. Über das aus einer anderen Zeit verbliebene Negativ-Image der „Provinz" darf man lächeln. Daß ich nirgends lieber lebe als in der Provinz, gesteht Landrat Hans Wagner von Amberg-Sulzbach. Einer Umfrage der achtziger Jahre zufolge kommt für die meisten Bewohner ländlicher Gebiete ein Leben in der Großstadt nicht in Betracht. Buchtitel wie Die Unwirtlichkeit unserer Städte (Alexander Mitscherlich) haben Bewußtsein geprägt. Die Provinz ist nicht mehr die „Provinz", sondern ein bevorzugter Lebensraum. Wenn es sie überhaupt noch gibt, versichert der Ebersberger Landrat Hermann Beham, so wisse er, daß ich einer bin, der gerne in ihr lebt.

Walter Flemmer Stationen eines Märchenkönigs Orte und Landschaften König Ludwigs II. Hohenschwangau Alles hat in Hohenschwangau begonnen. In dem Bergschloß, das Ludwigs Vater 1832 gekauft hatte und restaurieren ließ. Hier wuchs Ludwig auf. Die Prinzen Ludwig und Otto bekamen Zimmer im dritten Obergeschoß und wurden in den Räumen, die der Vater hatte ausgestalten lassen, eingeführt in die altdeutsche Sagenwelt, die Moritz von Schwind in den Wandgemälden dargestellt hatte. Ein wiedererdachtes, wieder-geholtes Mittelalter begegnet ihm hier auch zum erstenmal in der Figur des Schwanenritters Lohengrin. Hier auch hat Wagner Ludwig seine Kompositionen vorgespielt. Hohenschwangau wurde die Sommerresidenz der Familie. Hier erlebte Ludwig die Nähe zu den Bergen, hier konnte er wandern, hier haben seine Wünsche, sich vom lauten Hofleben zu entfernen, ihren Ursprung. Hier konnte er nach dem Tod des Vaters träumen, sich, wie er sagte, „der wohltuenden Weltabgeschiedenheit und Ruhe" hingeben, sich der „höchsten, wahrsten Poesie" widmen. Geschichte wird ihm auch in der Musik Wagners - Wiederkehr und Wieder-Holung des Mythos, einer kosmischen Ordnung, die er später in seinen Bauten gestalten wird.

Am Königssee Der See inmitten der Berge. Eine Gegend, in die die Wittelsbacher gerne gekommen sind, seit die Fürstpropstei Berchtesgaden 1807 an Bayern gefallen war. Jagden fanden statt, Maximilian II. ließ in Berchtesgaden eine königliche Villa bauen. Hier verbrachte Ludwig II. zwischen 1853 und 1863 immer wieder die Sommerferien. Er hat die Bergwelt geliebt und sicher in seinen Jugendjahren auch im Rupertiwinkel bleibende Erinnerungen empfangen. Am 25. August 1862 - seinem 17. Geburtstag - wurde ihm im Beisein der königlichen Familie in Sankt Bartholomä der Hausritterorden des hei-

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ligen Hubertus verliehen. Ein Jahr später legte er in Berchtesgaden den Eid auf die Bayerische Verfassung ab. Später hat Ludwig den Rupertiwinkel geradezu gemieden. Vielleicht waren Strafen, die er wegen eines Jugendstreichs dort erdulden mußte, der Grund. Einmal allerdings spricht er von den „herrlichen Tagen von Berchtesgaden", als er sich der Zeit erinnerte, als ihm die Idee gekommen war, eine Schale mit dem Bildnis Lohengrins und Szenen aus der Sage anfertigen zu lassen und er selbst alle Einzelheiten festlegte. Im Berchtesgadener Land also begann 1863 mit dem „Sinnen" über die Lohengrin-Tannhäuser-Fliegender-Holländer-Schale Ludwigs eigene künstlerische Leistung. Wie später beim Ersinnen, beim Bau der Schlösser, hat er schon damals seine Ideen, Konzepte den ausführenden Künstlern vorgegeben.

Schloß Herrenchiemsee Herrenchiemsee: Die monumentalste Schöpfung Ludwigs II. Einzigartiges Denkmal des Königtums. Schon die Wahl des Ortes, die Ausrichtung der Architektur, war ein genialer Gedanke des Herrschers. Dabei war Ludwig XIV. von Frankreich sein großes Vorbild, das er als „entflammend" erlebte, als „Lebensstoff", aus dem er seine Ideen schöpfte. Über Herrenchiemsee sagte er: „Es soll gewissermaßen ein Tempel des Ruhmes werden, worin ich das Andenken König Ludwigs XIV. feiern will." Tempel: Das heißt sakraler Bau, Feiern: Das meint Nachvollzug eines zeitlosen Mythos. Kabinetts-Chef von Ziegler sagte: „Die Schlösser ... wurden von Seiner Majestät als geweihte Stätten betrachtet und behandelt." Ludwig feiert zwar im Nachbilden des Vorbilds Versailles das Andenken des Sonnenkönigs, schafft jedoch in Schloß und Park von Herrenchiemsee Eigenes, das bis in Einzelheiten sichtbar wird und insgesamt von ausdrucksvoller stilistischer Geschlossenheit ist. Vor der mächtigen Westfassade der Brunnen. Geweiht der griechischen Göttin Latona. Sie hat Bauern, die sie verspotteten, in Frösche verwandelt. Auch im Garten hat Ludwig nicht einfach das Versailles des 19. Jahrhunderts kopiert, sondern Wert darauf gelegt, die Idealform wiederherzustellen. Sein Schloß und die ganze Anlage des Parks: Architektur gewordenes Bild. Symbol des Königtums.

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Im Schloß Herrenchiemsee Wie das Schloß selbst, so hat Ludwig II. auch die Einrichtung der Innenräume von Herrenchiemsee als Huldigung für den damals seit mehr als 150 Jahren toten Sonnenkönig Ludwig XIV. verstanden, gewollt. Beinahe wie ein Besessener hat er alle erreichbaren Veröffentlichungen über die Kultur und Kunst des 18. Jahrhunderts, über die französischen Könige studiert und Versailles selbst zweimal besucht. Auch das Arbeitszimmer war nicht gedacht, König Ludwig II. zu dienen, sondern ein Ort der Feier des Königtums, Denkmal von Herrlichkeit und Souveränität. Der Sonnenkönig wurde glorifiziert und mit ihm die Idee des uneingeschränkten Herrschens, die Ludwig II. selbst nicht mehr verwirklichen konnte. In Herrenchiemsee wiederholt Ludwig etwas Gewesenes. Er versucht, eine Idee, die unverlierbar bleiben soll, in Architektur umzusetzen. In den Symbolen der Herrschaft, im Feiern des herrscherlichen Glaubens, im Abglanz eines großen, in den Mythos gehobenen Vorbildes, wird die kosmologische Grundstimmung von Ludwigs Historismus spürbar. Putten, Genien, Intarsien, Reliefs, mythologische Anspielungen: Das Spiel hat noch einmal begonnen, der herrscherliche Traum hat Gestalt gewonnen.

Die Spiegelgalerie von Herrenchiemsee Wie alle anderen Schlösser Ludwigs II. ist auch Herrenchiemsee kein Schloß für ihn, kein Schloß zum Bewohnen, sondern ein Bauwerk, das das Königtum feiert, ein Versuch, die Idee des absoluten Königtums wieder zu holen. Die Spiegelgalerie: prunkvoller Mittelpunkt des Schlosses, das Ludwig zu Ehren des Sonnenkönigs errichten ließ. Das Schloß, und vor allem dieser Saal, sie sollten den alles überbietenden Glanz der königlichen Herrschaft sinnfällig machen. Im März 1867 schrieb Ludwig in sein Tagebuch: „Über Ludwig XIV. gelesen, Herrschergewalt, Zeit der Blüte, des Glanzes des Königtums. Allmacht, Glorie der Majestät, königliche Gottheit." In einer Zeit der konstitutionellen Monarchie, einer Zeit, die französisches Vormachtstreben ablehnte und den Ausspruch des Sonnenkönigs: l'état c'est moi : der Staat bin ich, - nicht mehr verstand, in dieser Zeit war die Feier des Königtums in der Architektur von Herrenchiemsee eine Herausforderung. In den Spiegeln von Herrenchiemsee: Der Glanz eines Königtums, das nach Ludwigs Vorstellung „von Gottes Gnaden" war und „die Seele des Staates" sein sollte. Im Glanz der über 1800 Kerzen vertiefte sich der

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König in das Spiel des Lichts, blickte auf die Leuchter, die die Verehrung gleichsam übereinandertürmen. Und in den Spiegeln: die Spiegelbilder eines Königtums, das sich als Welt-Mittelpunkt versteht.

In Schloß Linderhof In allen Schlössern Ludwigs II. haben die Schlafzimmer eine besondere Bedeutung. Die Schlafzimmer in Herrenchiemsee und in Linderhof sollen nicht genutzt werden, sondern haben eine sakrale Bedeutung. Neueste kunsthistorische Forschungen weisen auf die Verbindung des Schlafzimmerkultes mit dem altägyptischen Totenkult hin. Die Ägypter haben Schlafhäuser des Todes eingerichtet, als sollten es Häuser, Räume für die Lebenden sein. Das Bett, der Sarkophag, wird zur geistigen Mitte des Raumes. Im Schlafzimmer findet eine Aufbahrung statt. Leben, Tod, Wiedergeburt werden verschmolzen. So ist es nicht verwunderlich, daß Ludwig II. im Schlafzimmer von Linderhof den Tristan-Mythos zitiert. Er selbst legt fest, daß alles, „was auf Liebe Bezug hat", ins Schlafzimmer kommen soll. Liebe und Tod gehen ineinander über. Die Architektur, die Einrichtung des Schlosses wird zum Denkmal eines Mythos.

Die Grotte von Linderhof Der Ort im Berg, das Unterirdische, Geheimnisvolle, das in den Sagenwelten ausgedrückt war und Ludwig II. so liebte, hier sollte es zum höchsten Effekt inszeniert werden. Die Grotte in Linderhof ist die perfekte Theaterkulisse, ist Opernort, Dekoration in vorgetäuschter Natur. Raum für nächtliche Spiele und Träume, Inszenierungen, in die nicht ein Funke Tageslicht mehr hineinscheinen sollte. In der Tiefe des Berges, der künstlichen Tropfsteinhöhle, sollte die Unterwelt ihre Magie entfalten. Mit Gondel und Boot konnte man in sie hineinfahren, Teil der unergründlichen Tiefe werden. Der König selbst taucht ein in die Unterwelt, inszeniert seinen Eintritt in die Traumwelt Wagners. Er fährt auf dem unterirdischen See und erlebt in der technisch arrangierten Verzauberung die Verwandlung. Er selbst wird Tannhäuser in der Venusgrotte, in der eine Wellenmaschine das Wasser bewegt, in der Schwäne den Zug des Muschelkahns, in dem sich der König rudern ließ, begleiten. In farblich wechselnden Illuminationen: der König als Weltmittelpunkt. Die Zeit steht still. Der König ist.

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Der Maurische Kiosk in Linderhof Im Park von Schloß Linderhof der Maurische Kiosk, den Ludwig II. 1876 gekauft hatte und zum Teil neu ausstatten ließ. Er hatte den Kiosk 1867 auf der Pariser Weltausstellung gesehen und sich in diese Kopie eines islamischen Bauwerks verliebt. Der Eisenbahnkönig Strousberg hatte den Kiosk erworben und nach Böhmen verpflanzt. Als er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, griff der bayerische König zu. Der Pfauenthron ist die Mitte des Bauwerks. Ihn ließ Ludwig in Paris anfertigen. Der Pfau: ein mythologisches Wesen, ein Lieblingstier des Königs, Symbol der Seligkeit und Unsterblichkeit, Symbol aus der Welt des Orients, die ungeheuer anziehend für den König war, weil er auch aus ihr sich ein mythologisches Königtum wiederholen konnte. Farbige Glasfenster tauchen das Innere in ein geheimnisvolles Dämmerlicht, in dem eine der Traumzeiten des Königs beginnen konnte, in die die lauten Geräusche der Gegenwart nicht drangen, Augenblicke, in denen der König seine Träume inszeniert. Dieser König sagte einmal: „Offenbar hat die Natur nur Platz für eine ganz bestimmte Sorte von Mensch. Wer sich behaupten will, muß rauh, rücksichtslos und unempfindlich sein. Fehlt es ihm an einer dieser Eigenschaften, so werden ihn Freunde wie Feinde fallen lassen. Wenn nicht alles, was ich gelesen und selbst beobachtet habe, mich täuscht, dann ist ein Gutteil dessen, was man für .Verrücktheit' erklärt, in Wirklichkeit Überempfindlichkeit." In Neuschwanstein In der Gralsburg Neuschwanstein. Die Bilder der Lohengrin-Sage sind Teil des Traums von mittelalterlichem Rittertum, in dem Ludwig eine große, ins Mythische hineinreichende Epoche erneuern wollte. Die Architektur von Neuschwanstein, die Ausstattung der Räume ist Selbstdarstellung, ist mythisiertes Theater. Nicht zum Bewohnen und eigentlich auch nicht zum Besichtigen sind diese Räume geschaffen. Sie sind wie ägyptische Grabkammern zu verstehen. In diesen Räumen soll das Magische sich ereignen. Sie sind vollgestellt mit Kostbarkeiten, sie enthalten alles, was der Herrscher als Zeichen der Herrschaft für die Ewigkeit aufbewahrt haben wollte. Ludwig inszenierte auch in den Wohnräumen von Neuschwanstein Vergangenheit; im Sinne Wagners wird eine Welt vergangener heldenhafter und poetischer Epochen vorgeführt. Neuschwanstein: ein „Tempel Wagners", mit eigenen Ideen des Königs ausstaffiert, ein Kunstwerk, das nicht eine Kopie einer mittelalterlichen Burg ist, sondern Denkmal einer königlichen Vision, auf den Felsen gestellt für einen Zuschauer, den König selbst.

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In ihm konzentriert Ludwig II. selbständig seine Idee des historischen, mythischen Denkmals, indem er Vergangenes noch einmal konkretisiert, in der äußeren Gestalt der Burg, in den Innenräumen. Der Thronsaal : Ein gewaltiger Repräsentationsraum im byzantinischen Stil. Manifestation der religiösen, sakralen Würde des Königtums, verstanden als Kirche. Deshalb zeigen die Bilder Christus, Apostel, Heilige, deshalb religiöse Symbolik als Überhöhung. Der Sängersaal im vierten Obergeschoß des Haupttraktes hat ein anderes Konzept als der Thronsaal. Er ist der Wartburg-Saal, der Saal aus Wagners Tannhäuser. Im Lauf des Baus aber wurde das Bildprogramm geändert, und so zeigen die Wandbilder Szenen aus dem Parzival des Wolfram von Eschenbach. Alles ist Bühnenbild, ist Wiedererschaffung eines mythischen Augenblicks, der Versuch, im Theater zu erneuern, was die Gegenwart in Wirklichkeit nicht mehr zuläßt.

D a s K ö n i g s h a u s auf d e m S c h a c h e n Im Wettersteingebirge, in der Abgeschiedenheit der Berge: Eines der seltsamsten Refugien von König Ludwig II. Das Jagdhaus auf dem Schachen. Von 1871 an sonderte sich der König immer mehr ab, wurde menschenscheu und suchte die Einsamkeit. Die Berge gaben ihm die Ruhe, den Schutz, die er suchte. Neben den großen, bekannten Schlössern ließ sich Ludwig viele kleine Residenzen errichten. Aufenthaltsorte in der Verborgenheit. Auf dem 1861 Meter hohen Schachen war es die von 1869 bis 1872 errichtete Holzhütte, in der er dann jedes Jahr seinen Geburtstag feierte. Die Wohnräume und das Äußere sind eher schlicht gehalten im Vergleich zum Prunkraum im Obergeschoß, dem „Türkischen Zimmer". Nur dämmrig fällt das Licht durch die bunten, abschirmenden Glasfenster. Teppiche, schwere Vorhänge dämpfen jeden Laut. Der Prunkraum der totalen Abgeschiedenheit. Dieser Raum könnte irgendwo stehen, nichts erinnert an die Umgebung. Hier ist nur noch die Traumwelt eines herbeigezauberten Orients lebendig. Hier konnten noch einmal die Märchen aus Tausendundeiner Nacht geträumt werden, wenn der König sich von seiner als Moslems verkleideten Dienerschaft mit Pfauenfächern den von den Räucherpfannen aufsteigenden Duft zufächern ließ.

Stationen eines Märchenkönigs

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Am Falkenstein Das Gebiet um den Hopfensee und den Forggensee in der Nähe von Füssen war eine der Lieblingslandschaften von König Ludwig II. Seit seiner Kindheit in Hohenschwangau hat er die Seen, Berge und Wiesen dieser Gegend geliebt. In sie ist er immer wieder zurückgekehrt. Nachdem er in Neuschwanstein sich ein Traumschloß hatte errichten lassen, kam ihm die Idee, anstelle der Burgruine Falkenstein in 1277 Meter Höhe eine noch fantastischere Ritterburg errichten zu lassen. Der Theatermaler Christian Jank zeichnete einen grandiosen Entwurf, ein Superneuschwanstein, die Vision einer Ritterburg. Aber es blieb bei der Ruine. Nur die Fahrstraße konnte noch genehmigt, der Bau der Wasserleitung begonnen werden. Als die Burgpläne fertig waren, starb der König im Jahre 1886. Burg Falkenstein: Der letzte Bau, den der König in Auftrag geben wollte. Es wäre einer der unzugänglichsten Aufenthaltsorte geworden, aber doch nahe beim Heimatort Hohenschwangau gelegen. Für Falkenstein ließ Ludwig II. das Schlafzimmer als den wichtigsten Raum entwerfen. Es sollte Zentrum, Heiligtum sein, weit über die Bedeutung des Schlafzimmers in Neuschwanstein oder Linderhof und Herrenchiemsee hinaus. Es sollte als Kuppelkirche ausgeführt werden. Das Bett als „geistige Mitte", wie der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers gesagt hat, das Falkensteiner Bett als Sarkophag verbindet die Majestät mit dem Tod. Falkenstein, der nicht mehr gebaute Todestraum. Am 31. August 1867 schrieb Ludwig in sein Tagebuch : „Vielleicht träumt man auch im Grabe noch fort, ein langer, ewiger, unendlicher Traum."

Berg Im April 1864, sein Vater war vor fünf Wochen gestorben, kam Ludwig II. zum erstenmal als König und Schloßherr nach Berg. Von da an kam er immer im Frühjahr mit dem ganzen Hofstaat auf das Schloß am Starnberger See. Und er legte großen Wert darauf, daß der Umzug immer am 11. Mai stattfand. Von diesem Datum ließ er sich durch kein noch so dramatisches politisches Ereignis abbringen, so daß man wegen der Verbindung mit den Ministerien einen Telegraph zwischen Berg und München einrichten mußte. Im Schloß und im Park von Berg endet das Leben des Märchenkönigs. Am 12. Juni 1886 war er, von Neuschwanstein kommend, nach Berg gebracht worden. Am nächsten Tag machte er am Vormittag mit dem Arzt Doktor Gudden einen Spaziergang. Am Spätnachmittag, nach dem Mittagessen, ein zweiter Spaziergang.

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Nachts wurden die Leichen des Königs und die des Arztes im Wasser, wenig vom Ufer entfernt, gefunden.

In der Gnadenkapelle von Altötting Die Wallfahrt des Lebens ist zu Ende. Viele Lebens- und Leidenswege haben nach Altötting geführt, zur Gnadenkapelle. Altötting ist ein Herz-Ort Bayerns, eine religiöse Mitte, ein Ort, an dem unzählige Menschen Trost gesucht und gefunden haben. In der kerzendämmrigen Stille ist das unhörbare und unaufhörliche Beten zusammengeführt, hier sind die schweren Kreuze abgelegt. Hierher, zur schwarzen Madonna, sind seit Jahrhunderten die Menschen gepilgert, auch die bayerischen Herrscher. Und im 16. Jahrhundert begründete Herzog Albrecht die Tradition der Wittelsbacher Familienwallfahrt zum Gnadenort. Vom späten 18. Jahrhundert an wurde es Brauch, die Herzen verstorbener Wittelsbacher Herrscher in besonderen Herz-Urnen nahe dem Gnadenaltar beizusetzen. So führen die Lebenswege der Wittelsbacher auch zurück zur Gottesmutter. Auch das Herz Ludwigs II. wurde nach Altötting gebracht und feierlich am 16. August 1886 in einer Urne aus vergoldetem Silber beigesetzt. Das goldene bayerische Wappen, eine Krone und Alpenrosen und Edelweißsträußchen aus Metall schmücken das Gefäß.

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Über die Kunst, Menschen zu erziehen Gedanken über Schule und Bildung Bildungskatastrophe, Studentenschwemme, Lehrermangel, Schulraumnot, Chancengleichheit, akademisches Proletariat - diesem Wechselbad der Schlagworte wurde in den vergangenen Jahren, und zwar jeweils mit Vehemenz und von publizistischen Paukenschlägen begleitet, die Öffentlichkeit ausgesetzt. Das Thema, das sie markieren, ist nicht neu. Es steht zur Debatte, seit es die Einrichtung gibt, die „Schule" heißt. Allerdings variieren, von Zeitalter zu Zeitalter, von Generation zu Generation, die Fragen, die durch diese Debatte aufgeworfen werden. Sie alle betreffen das ernste Problem menschlicher Bildung als Voraussetzung dessen, was jeder Sonntagsredner leichtfertig beschwört, was im Grunde sich jedoch jeglicher Phraseologie entziehen sollte: Die Humanität. Die Erziehung und Heranbildung von jungen Menschen, und das heißt: deren Vorbereitung auf die eigenständige Bewältigung von Lebensproblemen in und mit der Gemeinschaft - diese Aufgabe gehört zu den entscheidenden Faktoren menschlicher Selbstverwirklichung. Sich ihrer immer wieder zu vergewissern (und die praktische Auseinandersetzung mit ihr zu überprüfen), muß daher mehr sein als eine Pflichtübung. Schon Nietzsche hat Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die immerwährende Notwendigkeit der Bildungs-Diskussion hingewiesen und den Wert der Überlieferung für die Erkenntnis von Gegenwart und Zukunft hingewiesen. Mehr als ein Jahrhundert nach diesem Appell des jungen Nietzsche sind auch die Zeitgenossen des ausgehenden 20. Jahrhunderts in die Pflicht genommen, sich zu erinnern, wenn sie den Blick nach vorn in die Zukunft unserer Bildungsanstalten anno 2000 zu werfen wünschen. Denn die geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Abläufe ereignen sich weiträumiger und in größeren Zügen, aber auch oft langsamer als die Gegenwart dies in ihrem ungestümen Vorwärts-Erkenntnisdrang wahrhaben möchte oder wahrnehmen kann. Werfen wir deshalb einen Blick zurück in die Epoche des Barock - in jenes Zeitalter, in dem sich, nach Renaissance und Reformation, der große Bildungsaufbruch auch in Deutschland anzukündigen begann. Zunächst der Widerschein des Dreißigjährigen Krieges. Die Barbarei der Geschichte enthüllt ihr brutales Gesicht. Die Roheit der menschlichen

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Natur verbreitet Entsetzen und Leid, aber in Antwerpen schwelgt ein Mann namens Rubens in üppigen Farben und Formen. Selbst Höllenstürze geraten ihm noch zu sinnlichen Symphonien des Lebens. In Amsterdam hingegen entfremdet sich ein anderer Zeitgenosse, ebenfalls Maler, bereits der Wirklichkeit seiner Zeit und versucht in seinem eigenen Gesicht die Rätsel des Lebens zu erkunden : Rembrandt. Während er sich in die Einsamkeit hineinmalt, betreten Pascal, Molière und Leibniz die Lebensbühne Europas. In Spanien malt Velazquez den Adel, überschattet von der Ahnung zukünftigen Untergangs, indes zwei sehr gegensätzliche Charaktere und Temperamente, Lope de Vega und Calderón, dem spanischen Theater Weltgeltung verschaffen. Cromwell regiert England, Richelieu Frankreich; Wallensteins Stern steigt und sinkt, und Gustav Adolf fällt in Deutschland für eine Sache, von der er nie so recht wußte, ob es die seine war. Indes schuf Heinrich Schütz fromme Oratorien und komponierte weltliche Opern. Die Dichter schreiben Klagen auf die Vergänglichkeit der Welt und Oden wider die Schrecken des Krieges. Das evangelische Kirchenlied erlebt seine Blüte; die Zeitgenossen werden aber auch beglückt mit reimgeschmiedeten Tändeleien und amourösen Anzüglichkeiten mannigfacher Art. Die Dichter schreiben, wie bei Günter Grass („Das Treffen in Telgte") nachzulesen, über Versfüße und Reim-Probleme, indes sich die Flüsse rot färben vom Blut der Erschlagenen. Aber damit nicht genug: auch der Hexenwahn flammt wieder auf und führt, angefacht durch politisierten Glaubensfanatismus, zu den irrwitzigsten Exzessen. Über allem schließlich jener stolze Satz eines Philosophen aus Frankreich, der zum Erkenntnis-Fanal eines neuen geistigen Aufbruchs wird: Cogito ergo sum. Dies alles, der Satz des Descartes, daß, wer erkenne, auch sei, oder der nur sei, wer denkend die Welt erkenne, dies alles: der alternde Rembrandt und die teils frommen, teils vertändelten Dichter aus Deutschland; Wallensteins und Gustav Adolfs plündernde und mordende Heerscharen; Cromwells Diktatur und das politische Genie Richelieus; die Musik von Schütz und die Disharmonie der Weltgeschichte; die Brutalität des Tages und der Hymnus des Ewigen; die Lust am Fleisch und der Gesang von der Nichtigkeit der Welt - dies alles finden wir mit- und nebeneinander teils scheinbar beziehungsvoll, teils scheinbar beziehungslos in jenen Jahrzehnten des Barock, in denen in Deutschland so manche heute „altehrwürdige" Schule gegründet wurde. Die bunte, schillernde und verwirrende Vielfalt, ja Paradoxie dessen, was wir Geschichte nennen, liegt vor dem Blick - verzwickt, verknäuelt und mit sich selbst in Zwist. Freilich: Einen widersprüchlichen Anblick wie diesen bietet aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft jede Epoche, die sogenannten „klassischen" nicht ausgenommen. Der gemeinsame Nenner für ein Zeitalter wird in der Regel erst dann erkennbar, wenn sich dieses seinem Ende zuneigt oder gar abgeschlossen ist. Von den Schlacken des Tages befreit und

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dem Zeitgeist entrückt, erscheint die Epoche, auf ihre Grundzüge beschränkt, dem historischen Betrachter als Einheit. Das scheinbar Widersinnige schließt sich zum Sinnvollen zusammen, die Geschichte legitimiert sich sozusagen vor sich selbst. Von einer Schule oder gar von einem Schulsystem schlechthin, das sich in der Zeit und in geistiger Zwiesprache mit der Zeit entwickelt, und das in einer Zeit für diese Zeit wirkt - von einer solchen Schule zu erwarten, daß sie die Grundzüge der jeweils gegenwärtigen Epoche hellsichtig vorweg erkenne und durch diese Erkenntnis ihre Schüler erleuchte, wäre absurd. Dem Genie vermag die Schule nicht den Weg in die Zukunft zu weisen, denn sie selbst ist nicht genial, sie kann es ihrer Eigenart nach nicht sein. Wie sollte sie auch, was die Gegenwart und die Zukunft angeht, klüger sein als die Zeitgenossen, die im Widerstreit der Meinungen und Vorstellungen, der Utopien und Realien, der Kontemplationen und Aktionen, der Wünsche und Verzichte die Schicksalsfäden des Zeitalters spinnen? Insofern wird die Schule, obwohl zeitgebunden und in die Zeit verflochten, immer ein wenig rückständig erscheinen müssen, weil sie diese Fäden nur aufzunehmen, nicht aber selbst zu fertigen in der Lage ist. Versucht sie dies dennoch, gerät sie, wie viele Beispiele zeigen, in die Sackgasse der Zeitlichkeit. Sie wird zum Spielball der Parteien und Meinungen und verläßt den festen Boden, auf dem allein sie zu gedeihen vermag, nämlich den Boden der Tradition. Der Begriff Tradition hat allerdings, wie jedermann weiß, derzeit keinen guten Klang. Er gilt fast schon als Synonym für Rückständigkeit, für konservatives Beharren und für Gegenwartsflucht angesichts einer Entwicklung, die auf eine grundstürzende Zäsur der Welt- und Menschheitsgeschichte abzielt und dementsprechend die radikale Progressivität auf ihr Panier schreibt. Viele Anzeichen sprechen für diese Zäsur - allerdings nicht nur freundliche. Sie wird wahrscheinlich anders ausfallen als die Progressisten sich das heute vorstellen, nämlich nicht minder brutal, zermalmend und gnadenlos als die weltgeschichtlichen Katastrophen zuvor. Wie die Historie lehrt, braucht die Weltgeschichte sodann wieder Jahrhunderte, um sich einen Sinn und ein Ziel zu geben, - bis sie schließlich erneut in Barbarei zurücksinkt, um neues Leben aus den Ruinen des ermatteten geschichtlichen Daseins erblühen zu lassen. Man muß nicht Oswald Spengler heißen, um bei ruhiger, unvoreingenommener Betrachtung dieses schreckliche Ein- und Ausatmen des Weltgeists zu vernehmen und vor ihm zu erschauern. Angesichts solcher Panoramen wirkt das zeitgeistige Vorurteil gegen den Begriff „Tradition" ziemlich fatal, und es wirkt nicht nur so, es ist es auch. Wovon sonst sollte die Schule denn ausgehen als von der Tradition, um junge Menschen a u f die Verstrickung der Spezies in die eigene Unzulänglichkeit aufmerksam zu machen und Orientierungspunkte aufzurichten gegen die Hoffnungslosigkeit, in die unweigerlich jeder

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verfallen muß, der unvorbereitet der Unberechenbarkeit menschlichen Daseins begegnet? Das mag unzeitgemäß anmuten, und zwar nicht zuletzt auch angesichts der sachlichen Notwendigkeiten, sprich: Sachzwänge, denen sich im Zeitalter der totalen Information und des technisch-wissenschaftlichen Fakten-Bedürfnisses heute die Schule ausgesetzt sieht - angesichts von Sachzwängen also, die vorrangig .auf Stoff-Vermittlung drängen, die geistige Beherrschung dieser Stoffe jedoch lediglich durch ein paar ideologische Verstrebungen glaubten ersetzen zu können. Wie wenig diese ideologischen Verstrebungen jedoch aushalten, das zeigt die zunehmende Verwirrung unserer Jugend gegenüber einer Welt, deren Wirkgefüge immer undurch- und unüberschaubarer scheint. Der Spielraum des einzelnen wird enger, die Abhängigkeiten werden drückender, und das inmitten eines materiellen Wohlstandes und eines technischen Fortschrittes, der doch eigentlich das Paradies auf Erden längst hätte stiften müssen. Wenn der Widerspruch, der hier sich auftürmt und der den Begriff Freiheit zu einer Schimäre erniedrigt, ein hervorstechendes Merkmal unserer Jahrhundert-Endzeit ist, dann kann und darf eigentlich auch die Frage nach dem Grund dieses Widerspruchs nicht ganz so unzeitgemäß sein, wie man zunächst vermuten mag - für die Gesellschaft nicht, in der wir leben, aber auch nicht für die Schule, die von dieser Gesellschaft getragen wird und für die sie tätig wird. Tagespragmatismus verhilft hier allerdings kaum zu schlüssigen Antworten, es sei denn zu solchen, die sich vornehmlich an den Besitzverhältnissen materieller Güter orientieren. Daß diese Orientierung jedoch nicht allzu viel weiterhilft, wenn es um menschliches Selbst- und Weltverständnis geht, wußte bereits Heraklit, als er erklärte: „Bestünde das Glück in leiblichen Genüssen, so müßten wir das Vieh glücklich preisen, wenn es Erbsen zu fressen findet." Das heißt: wenn der Mensch überhaupt Erfüllung finden kann, dann gewiß nicht vornehmlich dort, wo Erbsen genügen, um Behagen am Dasein hervorzurufen. Gewiß: die Aufgabe, die hier der Schule angetragen wird, stellt zugleich ihre mißliche Lage zwischen Zeitgeist und Tradition, zwischen den Forderungen des Tages und dem weit über den Tag hinausreichenden Bildungsanspruch bloß. Denn schließlich ist und kann die Schule keine platonische Akademie mehr sein; vielmehr muß sie sich zu handfester Wissens-Vermittlung verpflichten, um unserer technisch geprägten und nur durch Technik zu erhaltenden Gesellschaft den Nachwuchs vorzubilden, den diese Gesellschaft zur Existenz-Sicherung benötigt. Man mag zu dem Informations-Aufwand, den die Industrieländer treiben, um sich am Leben zu erhalten, stehen, wie man will, - um die sachliche Einsicht, daß er unabdingbar geworden sei, kommt niemand herum. Eine Schule, die sich angesichts dieser Lage in ein Wolkenkuckucksheim inmitten von Bildungsidyllen verkröche, widerspräche sich selbst. Sie widerspräche sich aller-

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dings auch selbst, wenn sie über diesen Gegenwartsnotwendigkeiten ganz und gar ihren Bildungsauftrag vergäße und den Anschein erweckte, faktisches Wissen sei bereits Bildung, und dementsprechend genüge die Anhäufung faktischer Informationen, um einen hohen Pegelstand der Bildung zu erreichen. Wäre dem so, dann müßten wir uns derzeit auf einer nie erlebten Bildungshöhe bewegen. Daß dem aber nicht so ist, pfeifen nicht nur die Kulturkritiker von den Dächern der öffentlichen Meinung, sondern diese öffentliche Meinung selbst bekräftigt durch die zunehmende Äußerung ihres Unbehagens gegenüber der technischen Kultur die Zweifel am Wert unseres an- und aufgehäuften Wissens. Auch dem einfachsten Menschen dämmert inzwischen die Erkenntnis, daß Wissen allein nicht genüge, um das Leben lebenswert zu erhalten. Das Anwachsen der psychischen Erkrankungen, des Drogenmißbrauchs und der Alkoholsucht zum Beispiel sprechen hier eine ebenso bezeichnende Sprache wie die Hinwendung zum Radikalismus jeglicher Art: Alles Ausbruchsversuche aus einer Gesellschaft, die zwar die soziale Fürsorge als Leitspruch im Wappen trägt, diese Fürsorge aber leider nur zu oft bei der Bereitstellung materieller Regel-Mechanismen bewenden läßt. Eine Gesellschaft jedoch braucht mehr, um nicht an sich selbst zu zweifeln und zu verzweifeln. Sie braucht das, was man in unserer heutigen, meist schon in der Begriffswahl verräterischen Fachsprache den „Überbau" nennt. Für diesen „Überbau" liefert das Wissen die Materialien, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger. Die Bildung hingegen formt aus ihm ein bewohnbares Gehäuse. Bildung ohne Wissen ist undenkbar: Wissen ohne Bildung aber entbehrt des inneren Zusammenhangs; es ist ungestaltet und läuft Gefahr, zur Sinnlosigkeit auszuwuchern, weil es den materiellen Expansionsdrang begünstigt und geistiger Anarchie Vorschub leistet. Erst Wissen und Bildung zusammengenommen ergeben die Gleichung der Humanität, denn in der Beherrschung, nicht aber in der Häufung des Stoffes beweist der Mensch, daß er ein Mensch ist. Was aber ist Bildung? Und worin besteht die Kunst, sie als entscheidendes Element der Humanität zu vermitteln? Indem wir so fragen, müssen wir zugleich auch die Frage nach dem Sinn und Zweck menschlicher Erziehung überhaupt in unsere Überlegungen einbeziehen. Und indem wir dies tun, stellt sich schließlich die Frage von selbst, ob und wie die Schule sich in dem Zwiespalt behaupten kann, Wissen zu vermitteln und Bildung zu schaffen - kurzum: wie sie die Kunst, Menschen zu erziehen, auszuüben vermag. Um dies vorauszuschicken: Erziehung ist keineswegs eine Erfindung der Herrschenden, um sich gefügsame Untertanen zu schaffen, mag sie auch zu solchem Zweck mißbraucht worden sein. Vielmehr gehört die menschliche Erziehung zu den anthropologischen Grundfaktoren, die unser Dasein erst ermöglichen.

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Denn der Mensch braucht den Menschen nicht nur, um Mensch zu sein; er braucht ihn auch, um Mensch zu werden. Was Gott dem Menschen vorgibt bei der Geburt, ist ein genetischer Entwurf. Die Ausführung übernimmt das Leben. Aber was ist das: Leben? Im tierischen Dasein regeln die ererbten Eigenschaften als biologische Primär-Mechanismen weitgehend das natürliche Schicksal des Individuums. Der Mensch hingegen, hochspezialisiert und mit bewußtmachender Intelligenz ausgestattet, ist zwar auch dem natürlichen Schicksal unterworfen, aber er kann mehr aus sich machen als das Tier. Seine erlernbaren und erlernten Eigenschaften und Fähigkeiten überwiegen bei weitem die ererbten, wie Konrad Lorenz und Arnold Gehlen einleuchtend bewiesen. Insofern ist der Mensch auf den Menschen als hauptsächlichen Lehrmeister angewiesen; hörte er nur auf die Natur, dann müßte er unweigerlich zum Kaspar Hauser verkümmern, sofern er überhaupt überlebte. Das heißt: Nur die zu einem Lebensprogramm verdichtete Lebenserfahrung seiner Mitmenschen macht den heranwachsenden „Homo sapiens" lebensfähig. Es muß erst etwas aus ihm gemacht werden, damit er selbst etwas aus sich machen kann. Den Weg, auf dem dies geschieht, hat die klassische Erziehungslehre in drei Abschnitte eingeteilt, nämlich in die kindliche Erziehung, die den Eltern obliegt, die schulische Erziehung und schließlich die Selbsterziehung des zur eigenen Verantwortung aus der Erziehungsobhut ins Leben entlassenen jungen Menschen. Welche Gefahren bereits im Bereich frühkindlicher und kindlicher Erziehung auf das heranwachsende Menschenindividuum lauern, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Die gesamte technische Zivilisation mit ihren zumeist fragwürdigen Signalen, Informationen und Reizen bestürmt nämlich täglich und stündlich die kindliche Phantasie und nimmt sie in einem Entwicklungsstadium gefangen, in dem der kindliche Erlebnis-Spielraum noch vergleichsweise gering, die Vorstellungskraft infolge des angeborenen und stark ausgeprägten Neugierverhaltens jedoch ungeheuer groß ist - jedenfalls weitaus größer und damit auch ungeheuerlicher als bei einem Erwachsenen. Das Kind lernt im Spiel die menschliche Lebenswirklichkeit kennen und erkennen. Indem es seine Umwelt und die Dinge darin wahrnimmt, und das heißt: als wahr hinnimmt, beginnt es sich mit ihnen auch auseinanderzusetzen. Es ergreift sie, um sie zu begreifen, und seine Phantasie erfüllt sie mit Leben. Auf diese Weise wird ihm Lebenserfahrung sozusagen und in des Bildes unmittelbarster Bedeutung „aus erster H a n d " zuteil. Vor allem aber: das Kind braucht positive Lebensmodelle, um sich an ihnen orientieren und durch sie motivieren zu können. Ein Lebensmodell in diesem Sinne kann ebenso ein Märchen wie eine griechische Sage, ein Satz Bausteine ebenso wie die Kommunikation mit der Groß-Familie, ein Erlebnis auf dem Spielplatz ebenso wie die Begegnung mit einem Tier sein. Aus diesen und aus Hunderten von anderen Modellen erbaut sich das Kind seine Welt.

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Wird es zu früh aus ihr herausgenommen und mit den Kalamitäten des menschlichen Daseins behelligt und in Zweifel an sich selbst sowie an der Wirklichkeit verwickelt, verliert es seinen eingeborenen Lebens-Optimismus. Denn das werdende Individuum hat j a überhaupt keine Chance, sich kritisch vor den bedrängenden Eindrücken, Einflüssen und Einsichten der Erwachsenen zu behaupten. Es gerät in Verwirrung und sucht, oft auch von den Eltern allein gelassen, verstört nach Merkpunkten aus zweiter Hand, wie sie die Massen-Medien jeglicher Provenienz und Couleur in Überfülle bereitstellen. Diese Produkte bieten vornehmlich LebensKitsch, den sauren ebenso wie den süßen, anstelle von Lebensmodellen an; dieser Lebens-Kitsch, zumal reizstark angerichtet, fesselt zwar die kindliche Phantasie, aber er macht sie nicht frei. Angesichts dieser eigenartigen Vorschule des Lebens im Stadium der frühkindlichen Erziehungsphase hat es die Schule schwer, aus dem Erziehungs-Spiel dann Erziehungs-Ernst zu machen. Zeigt sich doch bereits in zunehmendem M a ß e , daß die Lernbereitschaft derart vorgeschulter Kinder manches zu wünschen übrig läßt, weil die jungen Gehirne mit einem Ballast von zum größten Teil unnützen Bildinformationen angefüllt sind, der dem vergleichsweise abstrakten schulischen Lernvorgang ziemlichen Widerstand entgegensetzt. Die vielbeklagte Konzentrations-Schwäche vieler Schüler findet nicht zuletzt hier ihren Grund. So bleibt der Schule oft nichts anderes übrig angesichts der sie ohnehin bedrückenden Stoff-Fülle, die unser technisch-wissenschaftliches Zeitalter erzeugt, als ihr Heil in einem Wissens-Drill zu suchen und Leistungsdruck zu erzeugen, um ihre A u f g a b e wenigstens quantitativ zu erfüllen. Die Gefahr einer Computerisierung des menschlichen Gehirns liegt hier folgerichtig sehr nahe; daß es jedoch nicht A u f g a b e der Schule sein kann und darf, diese zu fördern, muß kaum eigens betont werden. Aber was vermag die Schule überhaupt - sie, die von soviel Unwägbarkeiten, von soviel Einflüssen, Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen abhängig ist? Hat sie überhaupt eine Chance, aus dem Teufelskreis, den ihr der Zeitgeist vorzeichnet, auszubrechen? Oder ist sie sozusagen zu ihrem eigenen, immer wieder neu aufbrechenden Erziehungs- und damit auch Selbstverständnis-Dilemma verdammt, weil die Zeiten nun einmal so sind, wie sie sind? Nun, die Schule vermag, wenn sie sich auf sich selbst und auf ihren Auftrag besinnt, dennoch viel - auch heute. G e w i ß : die absolute, die perfekte Schule hat es nie gegeben und wird es nie geben; denn alles, was Menschen tun, gerät unvollkommen, sobald die Realität ins Spiel kommt. Niemand kann sagen, er verdanke allein der Schule das, was er geworden sei. Mancher ist sogar trotz der Schule etwas geworden, andere schlugen trotz überragender Lehrer aus der menschlichen Art. Seneca zum Beispiel, einer der größten lateinischen Philosophen, lehrte den späteren Kaiser Nero gewiß nicht Mord und Totschlag, als er ihm Unterricht gab; auch

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Aristoteles mag erschrocken sein über die Früchte, die seine philosophischen Unterweisungen bei seinem Zögling Alexander zeitigten. Denn die Schule, mag sie auch über die besten Lehrer verfügen, vermag die Menschen nicht endgültig zu formen, - und sie soll es auch gar nicht versuchen. Sie soll lediglich das Feld bereiten, auf dem sich junge Menschen ausrüsten mit den Lebens-Einsichten, den Lebens-Erfahrungen und dem Sachwissen, die als Voraussetzung für den dann einsetzenden Akt der Selbsterziehung innerhalb der Gemeinschaft notwendig erscheinen. Der Idealtypus des vollkommenen Menschen - das jedenfalls wäre das absurdeste Ziel, das sich eine Schule als Erziehungsmaxime setzen könnte. Aber wenn nicht den Idealtypus, was dann? Kommen wir, indem wir dieses Fragezeichen aufzulösen versuchen, zurück zum Thema Bildung, das wir bereits anschlugen. Von Comenius stammt der Satz: „Die Schulen sind Werkstätten der Humanität, indem sie ohne Zweifel bewirken, daß die Menschen wirklich Menschen werden". Wie wäre diesem Ziel auf anderem Wege als auf dem der Bildung näherzukommen? Denn Bildung bedeutet ja nicht ein gesellschaftliches Rangabzeichen, das Privilegien schafft und Klassengegensätze markiert, sondern Bildung beginnt, nach Nietzsche, „erst in einer Luftschicht, die hoch über der Welt des Existenzkampfes lagert". Das heißt: in einer Luftschicht, in der man die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten und sich über sie Gedanken zu machen vermag. Felix qui potuti rerum cognoscere causas, schreibt Vergil. Glücklich, wer die Ursachen der Dinge erkennen kann. Schlagen wir den Bogen von dieser Verszeile aus den „Geórgica", geschrieben im Augusteischen Zeitalter, zu dem Satz des Descartes, wonach: wer erkenne, auch sei, so werden wir trotz der ungeheuren geschichtlichen Veränderungen, Katastrophen und Vergewaltigungen, die das Abendland seither erdulden mußte, eines geistigen Zusammenhangs gewahr, der weit mehr darstellt als die Summe jener Fakten, die Gelehrtenfleiß aus den Trümmerfeldern der Historie aufklaubt. Der erkennende Mensch erscheint vor dem Blick, der vor der Erscheinungen Flucht nicht die Waffen streckt, sondern sich geistig auflehnt, indem er den Dingen auf den Grund zu gehen versucht. Greifen wir noch weiter zurück in die Vergangenheit, so gewahren wir den unermüdlichen Frager Sokrates, der nichts auf sich beruhen läßt, sondern die Realien, auch die metaphysischen, des menschlichen Daseins abklopft auf hohle Stellen - und der schließlich bekennt, er wisse, daß er nichts wisse. Mehr als zweieinhalb Jahrtausende später läßt Goethe die von ihm genial erkannte und dichterisch beschworene Schlüsselfigur neuzeitlichen Erkenntnisdranges, nämlich den Doktor Faust klagen, es wolle ihm schier das Herz verbrennen, zu wissen, „daß wir nichts wissen können". Die Tragödie des abendländischen Denkens, hier wird sie nicht minder anschauliches Ereignis als in den Mythen der Griechen von Prometheus, von Sisyphos oder vom Labyrinth - alles Gleichnisse, Symbole für die

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heroische Anstrengung des abendländischen Menschen, zum Grund der Dinge vorzustoßen, um von dorther eine tragfähige Verfassung des eigenen Daseins entwerfen zu können. Angesichts dieser Sachlage notierte um die Mitte unseres Jahrhunderts Gottfried Benn: „Ich habe immer das Leben gleich angesehen: als tragisch, aber mit der Aufgabe, es zu leben". Das Bewußtsein menschlicher Tragik ist zweifellos ebenso eine Quintessenz wahrer Bildung wie der Entschluß, vor dieser Tragik nicht zu kapitulieren, sondern unermüdlich neue Entwürfe menschlicher Daseinsbewältigung zu wagen. Die „schlimme Sache des Menschseins", von der Fontane einmal sprach, ist unseres Fleisches Erbteil. Wir können dieses Erbe nicht von uns weisen, wir können auch nicht so tun, als sei es nicht vorhanden; wir sind gezwungen, uns ihm zu stellen. Menschliche Größe kann abgelesen werden an der Bereitschaft, dem Schicksal entgegenzutreten und es herauszufordern, sei es bewußt oder unbewußt. Die griechische Tragödie hat diese abendländische Auffassung von Größe erstmals zur Anschauung gebracht; seither ist sie in vielfältigen Varianten wiederholt, nivelliert, j a parodiert worden, - aber liquidiert wurde sie bis auf den heutigen Tag nicht. Selbst bei Beckett oder Brecht, bei Frisch oder Arthur Miller, bei Thomas Bernhard oder Botho Strauss meldet sie sich, und sei es auch zuweilen nur in negativer Umkehrung, unüberhörbar zu Wort: „Ungeheuer ist viel", heißt es bei Sophokles, „doch nichts ist ungeheurer als der M e n s c h " . Vielleicht mag man darüber streiten, ob das griechische Adjektiv δεινός als „ungeheuer" oder als „gewaltig" zu übersetzen sei. Aber der Dichter läßt kaum einen Zweifel über das zu, was er vom Menschen hält und warum er ihn für ungeheuer, j a : schrecklich hält. Denn später heißt es im gleichen Chorlied der „ A n t i g o n e " : „ M i t klugem Geschick für Künste begabt, wendet er sich heute Schlimmem, morgen dem Edlen zu". Mit dieser bisher weder durch Erkenntnis noch durch Religionsstiftung unaufhebbaren Ambivalenz menschlichen Verhaltens müssen wir wohl auch weiterhin leben. Und auf sie aufmerksam zu machen, auf sie vorzubereiten, ist letztlich die vornehmste Aufgabe der Schule. Indem sie Wissen vermittelt und in Bildung verwandelt, verschafft sie - oder sollte sie doch verschaffen - Grundeinsichten in den Gang des Lebens. „Erziehung ist", noch einmal sei Nietzsche zitiert, „Erziehung ist erst Lehre vom Notwendigen, dann vom Wachsenden und Veränderlichen". Wenn der Schule dies gelingt, nämlich das Notwendige mitzuteilen und einzuprägen, zugleich aber auch das Wissen vom „Wachsenden und Veränderlichen" im menschlichen Dasein zu lehren, ist ihr das Entscheidende gelungen. D a ß dem nicht immer so ist und nach Lage der Dinge und jeweiligen Verhältnisse wohl auch gar nicht sein kann, weiß jeder aus eigener Schulzeit· Erfahrung. Und, wie bekannt, beschwerte sich bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert Seneca darüber, daß die Kinder mehr für die Schule als für das Leben lernten. Nicht zu vergessen Lichtenberg, einer der klügsten K ö p f e der deutschen Aufklärung. Er meinte ebenso sarka-

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stisch wie lapidar, wir zögen „unsere Köpfe in Treibhäusern". Der gleiche Lichtenberg notierte allerdings auch einen anderen Gedanken zum Thema Erziehung, der fast machiavellisch die schulische Lebenswirklichkeit umreißt, nämlich: „Es ist in der Tat verkehrt, wenn man unseren Kindern alles mit Liebe beibringen will, da in dem höheren Leben, wenn wir älter werden, uns das wenigste zu Gefallen geht, und wir uns immer unter einen Plan demütigen müssen, den wir nicht übersehen. Also je eher, je lieber zu einem zukünftigen Leben gewöhnet!" Das klingt robuster als es gemeint ist. Denn in der Tat erfahren diejenigen, die während ihrer Schulzeit unter der Last unregelmäßiger Verben stöhnten und diese für den bittersten Ernst des Lebens hielten, späterhin nur allzu bald, daß dies die harmlosesten Unregelmäßigkeiten waren, die das Leben beschert. Alles in allem: Man darf nicht nachlassen, Maßstäbe zu entwerfen, an denen die schulische Erziehung des heranwachsenden Menschen gemessen werden soll, obwohl die Schule selbst zweifellos nur in Annäherungswerten diesen Maßstäben gerecht zu werden vermag. Aber es genügt ja bereits, wenn sie einen Begriff davon vermittelt, daß Schulweisheit, die sein muß, nicht zugleich auch der Wahrheit letzter Schluß sei. Sie tut das Ihre, wenn sie Perspektiven eröffnet und Fakten bereitstellt, die dem mündig gewordenen Menschen helfen, nicht nur, wie Nietzsche trefflich formulierte, ein „geldverdienendes", sondern auch ein „erkennendes" Wesen zu werden. Denn nur erkennende Wesen vermögen, trotz der Tragik, die aller Erkenntnis anhaftet, dem, was sie tun, auch einen Sinn zu geben. Indem sie dies tun, schaffen sie einen geistigen Consensus der Gesellschaft, der sich auf die Dauer als tragfähiger erweist als politische Systeme. Das mag, gemessen an der Realität, die uns allenthalben belästigt und bedrängt, idealistisch klingen. Aber wie sagt der alte Fontane? „Freilich ist es jetzt Mode geworden, bei dem bloßen Worte ,Idealität' zu lachen. Aber was kommt dabei heraus? Überhandnahme jeder äußeren und inneren Verwilderung. Entchristlicht ist die Welt bereits; entgöttert man sie auch noch von dem, was die Griechen hinterließen, so werden wundervolle Tage anbrechen. Ich mag sie nicht mehr sehen. Zu keiner Zeit - ich bin alt genug, um das zu wissen - ist die Welt mit Lavendel- und Rosenwasser gemacht worden; immer hat das äußerlich Grobe den Tag bestimmt; aber das innerlich Feine bestimmte die Zeit."

Walter Kolbenhoff ( f ) Das Haus in der Schellingstraße Ich könnte nicht sagen, wie oft ich im Laufe der Jahre an diesem Haus in der Schellingstraße vorbeigegangen bin. Auf der anderen Straßenseite natürlich, weil man es von da aus besser überblicken kann. Im vierten Stock gibt es zwei Wohnungen mit schrägen Wänden. In einer habe ich einmal gewohnt. Es ist schon über vierzig Jahre her. Lange habe ich den Wunsch gehabt, einmal hinaufzugehen, einfach zu klingeln und dann den Mann oder die Frau zu fragen, ob ich einmal hineinkommen dürfte. Warum? Nur so, weil ich hier mal gewohnt habe. Aber bisher hatte ich den Mut nicht aufgebracht. Sie haben hier einmal gewohnt? Das kann ja jeder sagen. Einfach so reinkommen und schnüffeln, was wir für Möbel und Teppiche haben, wie? Vielleicht auch noch in die Kochtöpfe glotzen? Hauen Sie lieber ab, Mann! Und dann knallt die Tür vor deiner Nase zu, und du gehst gesenkten Hauptes wieder die Treppen hinunter. Ist ja auch ein blöder Wunsch, einfach so die Vergangenheit für ein paar Minuten aufleben zu lassen. Was soll das nützen? Gibt nur Unannehmlichkeiten. Peinlich für alle. Zugegeben. Aber gestern konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich überquerte die Straße und trat durchs Tor. Oben angekommen, öffnete mir, nachdem ich geklingelt hatte, freundlich lächelnd eine junge Frau, und ich sagte zögernd, was ich wollte. Sie warf mir nicht die Tür vor der Nase zu, sie sagte: „Aber so kommen Sie doch herein!", und ich betrat die Wohnung. Mein Herz klopfte ein wenig schneller, ich gebe es zu, und als wir im Wohnzimmer waren, erblickte ich als erstes das große Giebelfenster und sagte: „Von hier aus konnte man damals an Föhntagen die Zugspitze sehen. Drüben, die glatte Hauswand stand noch nicht. Die Bomben hatten sie weggeputzt." Sie wollte es zuerst nicht glauben (bestimmt war sie damals noch gar nicht auf der Welt und kannte den Krieg nur vom Hörensagen). Etwas verlegen sagte sie: „Gucken Sie sich nur um, wenn es Ihnen Spaß macht." Na ja, und dann blickte ich mich um. „Die Möbel hat mein Mann selber gemacht", sagte sie stolz, und ich guckte mir die Möbel an. Die Wohnung war in der Tat sehr schön eingerichtet. Eine Idylle, wie man so sagt. Aber eben deshalb kam sie mir so fremd vor, daß ich sie nur schwer wiedererkannte. Da, wo jetzt eine blitzende Stereoanlage war, stand früher unser gußeiserner Ofen, dessen halb verrostetes Rohr bis an die Decke reichte und

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Walter Kolbenhoff

der uns viel zu schaffen machte. Auf der anderen Seite des Zimmers stand damals ein ramponierter Diwan, auf dem Günter Eich zu schlafen pflegte, wenn er nach München kam. Oft blieb er Wochen. In der Fensternische diskutierten Gunter Groll und Fritz Kortner über Film und Theater. Und die Faschingsparties in diesen Räumen ! Der junge Bächler riet dem älteren Kästner, endlich positiv zu werden. Zwanzig Freunde und Bekannte waren eingeladen, in der Regel kamen doppelt so viel. Wie war das nur möglich, wir hatten doch kaum etwas zu essen und zu heizen? Der Zeichner Meyer-Brockmann erklärte dem Schriftsteller Horst Lange, was wahre Poesie sei. Alfred Andersch und Hans Werner Richter besprachen die nächste Nummer des „ R u f . Wolf-Dietrich Schnurre las uns seine neuesten Geschichten vor. Ein paar bekannte Künstlerehepaare, die heute längst Großeltern sind, haben sich hier kennengelernt. Wo hielten sich die vielen Menschen nur in diesen drei Räumen auf? Der Mann, der unter mir wohnte, zog während des Faschings in eine Pension. Warum ließ sich mein kleiner Hund das alles gefallen? Er lag in irgendeiner Ecke und überschnarchte den ganzen Fasching. „Ein Bad haben wir auch einbauen lassen", sagte die junge Frau, und ich besichtigte es. Auch die blitzende Küche besichtigte ich und das Schlafzimmer und noch einen Raum, und dann sagte ich, daß ich gehen müsse, und als ich die Treppe herunterging (sauber gemalt und hell), war mir gar nicht gut zumute. Eine ganze Reihe von Freunden, die mich damals hier besuchten, liegt schon unter der Erde, und die anderen? Aber was wollte ich? Ich war ja von selbst in meine damalige Wohnung gégangen, niemand hatte mich dazu gezwungen. War es das, was sie heute mit dem Wort Nostalgie bezeichnen? Ein gefährlicher Begriff, ich wußte es und war ihm doch auf den Leim gegangen. Auf jeden Fall wußte ich jetzt, daß ich diese Wohnung zum letzten Mal gesehen hatte.

Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz Zusätzliches Siglenverzeichnis Bohemia ZfO ZKG

Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum, München bzw. München-Wien Zeitschrift für Ostforschung. Länder u n d Völker im östlichen Mitteleuropa, M a r b u r g / L a h n Zeitschrift für Kirchengeschichte, Gotha-Stuttgart 1876 ff.

I.

Monographien

Werther u n d Wahlverwandtschaften. Eine morphologische Studie (Phil. Diss. Bonn 1954) Hans Kudlich (1823-1917). Versuch einer historisch-politischen Biographie (mit englischer Zusammenfassung) (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 11), München 1962. Frühes M ö n c h t u m im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden u n d Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4.-8. Jh.), mit einem Kartenanhang, München-Wien 1965; 2., durchgesehene und um einen Nachtrag ergänzte Auflage, Darmstadt 1988 (einschl. eingeh. Kartenanhang). Prag und Wien 1848. Probleme der nationalen und sozialen Revolution im Spiegel der Wiener Ministerratsprotokolle (Veröffentlichungen des Collegium Carolin u m 21), München 1968. Klerus u n d Krieg im früheren Mittelalter. Untersuchungen zur Rolle der Kirche beim A u f b a u der Königsherrschaft ( M G M 2), Stuttgart 1971. Benes, Jaksch und die Sudetendeutschen, Stuttgart 1975. Askese u n d Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum an der Wiege Europas, München 1980; Ital. Ausgabe: Ascesi e cultura. Il monachesimo benedettino nel medioevo, Bari 1983. Böhmen im mittelalterlichen Europa. Frühzeit, Hochmittelalter, Kolonisationsepoche, München 1984. Grundlagen und Anfänge. Deutschland bis 1056 (Neue Deutsche Geschichte 1), München 1985. Geschichte Böhmens 1848-1948, München 1988. Ein Mythos zerbricht: Benes (Schriftenreihe der Sudetendeutschen Stiftung 8), München 1991. Ludwig II. Ein königliches Doppelleben (CORSO bei Siedler), Berlin 1993.

II. Beiträge in

Handbüchern

Bayern vom Zeitalter der Karolinger bis zum Ende der Weifenherrschaft (7881180). Die innere Entwicklung: Staat, Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft, in: H a n d b u c h der bayerischen Geschichte, hg. von M. SPINDLER, Bd. I, München 1967, 268-426; 2., überarbeitete Auflage, München 1981, 350-518. Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in: H a n d b u c h der Geschichte d e r böhmischen Länder, hg. von K. BOSL, Bd. 3, Stuttgart 1968, 1-235.

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Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

Das kulturelle Leben (1867-1939) vom österreichisch-ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: H a n d b u c h der Geschichte der böhmischen Länder, hg. von K. BOSL, Bd. 4, Stuttgart 1970,151-299. Das Frühmittelalter u n d die Entstehung d e r mittelalterlichen Staatenwelt. Das Frankenreich (482-911), in: Der G r o ß e Ploetz. Auszug aus der Geschichte, begründet von K. J. PLOETZ, 29., von 65 Fachwissenschaftlern völlig neu bearbeitete Auflage, hg. vom Verlag Ploetz, Freiburg-Würzburg 1980, 334-353. Grundlagen in Spätantike und frühem Mittelalter (Gebhardt H a n d b u c h der deutschen Geschichte, Neuauflage, Abschnitt III) (im Druck).

III. Beiträge in Zeitschriften

und

Sammelwerken

Aufgaben und Bedeutung der rheinischen Geschichtsvereine für die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der geschichtlichen Landeskunde, in: Rheinisches Jahrbuch. Berichte aus der landschaftlichen Kulturpflege I, Bergisch Gladb a c h 1956, 132-139.

Die Ausbreitung der fränkischen Reichskultur. Erläuterungen zur Karte, i n : Studien zu den Anfangen des europäischen Städtewesens. Reichenau-Vorträge 1955-1956 (VuF 4), Lindau-Konstanz 1958, 191-194; 4., unveränderte Auflage, Sigmaringen 1975. Studien zur Gestalt Hans Kudlichs, in: Z f O 8 (1959), 260-292, 415-445. Führende Sudetendeutsche im Jahre 1848, in: Bohemia 1 (1960), 153-206. Die Anfänge der Benediktinerabtei Metten, in: ZBLG 25 (1962), 20-32. Herzog und Adel im agilulfingischen Bayern. Herzogsgut und Konsensschenkungen vor 788, i n : ZBLG 25 (1962), 283-311 (mit Karte, s. dazu unten Abschnitt VI: Karten) Die Entwicklung des altgallischen und merowingischen Mönchtums, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr. Textband 1, Redaktion V. H. ELBERN, hg. im Auftrage des Arbeitsausschusses der Ausstellung „Werdendes Abendland an Rhein u n d R u h r " von K. BÖHNER, V . H . EELBERN u . a . D ü s s e l d o r f 1 9 6 2 , 2 2 3 - 2 5 5 .

Zur geistigen Kultur des Mönchtums im spätantiken Gallien u n d im Merowingerreich, i n : Z B L G 26 (1963), 29-102.

Die Sudetendeutschen im Frankfurter Parlament, i n : Zwischen Frankfurt und Prag. Vorträge der wissenschaftlichen Tagung des Collegium Carolinum in Frankfurt a. M. am 7. u n d 8. Juni 1962, hg. vom Collegium Carolinum, München 1963, 103-132.

Frantisek Palacky als Historiograph der böhmischen Stände, in: Probleme der böhmischen Geschichte. Vorträge der wissenschaftlichen Tagung des Collegium Carolinum in Stuttgart vom 29. bis 31. Mai 1963 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 16), München 1964, 84-94. Die Stellung Böhmens im mittelalterlichen Deutschen Reich, in: ZBLG 28 (1965), 99-113.

Abriß der kirchlichen und monastischen Entwicklung des Frankenreiches bis zu Karl dem Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Unter Mitw i r k u n g v o n H . BEUMANN, B. BISCHOFF u . a . h g . v o n W . BRAUNFELS; B d . 2 , D a s

geistige Leben, hg. von B. BISCHOFF, Düsseldorf 1965, 290-299. Probleme der böhmischen Geschichte zwischen 1848 u n d 1914, in: Bohemia 6 (1965), 332-357.

Zur Herrschaftsstruktur Bayerns und Alemanniens im 8. Jahrhundert, in : B D L G 102 (1966), 1 1 - 2 7 .

Arbeo von Freising u n d die Agilulfinger, in: ZBLG 29 (1966), 580-590. Die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt und der Reichstag in Kremsier,

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in: Beiträge zum deutsch-tschechischen Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert. Vorträge der wissenschaftlichen Tagungen des Collegium Carolinum in Nürnberg vom 14. bis 15. Mai 1964 und in Salzburg vom 6. bis 8. November 1964 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 19), München 1967, 19-30. Benes und die Sudetendeutschen, in: Beiträge zum deutsch-tschechischen Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert. Vorträge der wissenschaftlichen Tagungen des Collegium Carolinum in Nürnberg vom 14. bis 15. Mai und in Salzburg vom 6. bis 8. November 1964 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 19), München 1967, 93-109. Pfaffenhofen bei Telfs in Tirol, Polling bei Weilheim, Uttenkofen bei Metten. Zur historischen Geographie dieser Orte im 8. Jahrhundert, in: F. S T E I N , Adelsgräber des achten Jahrhunderts in Deutschland. Mit einem Beitrag von F. P R I N Z . Text(bd.) (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit, Serie A, Bd. 9), Berlin 1967, 399-404. Heiligenkult und Adelsherrschaft im Spiegel merowingischer Hagiographie, in: HZ 204 (1967), 529-544. Adel und Christentum im „Schmelztiegel" des Merowingerreiches, in: BDLG 103 (1967), 1-8. Bayerns Adel im Hochmittelalter, in: ZBLG 30 (1967), 53-117. Stadtrömisch-italische Märtyrerreliquien und fränkischer Reichsadel im MaasMoselraum, in: HJb 87 (1967), 1-25. Ideologische Aspekte der Vertreibung, in: Bohemia 8 (1967), 281-291. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 als historiographisches Problem. Ein Kongreßbericht, in: Bohemia 9 (1968), 340-351. Landesgeschichte und Mediävistik. Ein Forschungsbericht über Arbeiten von Karl Bosl, Heinrich Büttner und Walter Schlesinger, in: HJb 88 (1968), 87-101. Die soziale Frage in Wien und die Anfänge der österreichischen Arbeitergesetzgebung im Jahre 1848, in: Saeculum 20/1 (1969), 110-120. Das Schulwesen der böhmischen Länder von 1848 bis 1939. Ein Überblick, in: Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik. Unter Mitarbeit von P . B U R I A N , B . C E R N Í , F. P R I N Z u.a. hg. von K . B O S L , MünchenWien 1969, 49-66. Fränkischer Adel im 7. und 8. Jahrhundert. Bemerkungen zu Frauke Stein: Adelsgräber des 8. Jahrhunderts in Deutschland. Berlin 1967, 2 Bde., in: HJb 89 (1969), 171-175. Zur Vita Severini, in: DA 25 (1969), 531-536. Die USA und die Gründung der C§R, in: Versailles-St. Germain-Trianon. Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren (Bad Wiesseer Tagungen). Unter Mitarbeit von W. B A U M G A R T , F . P R I N Z u.a. hg. von K . B O S L , München-Wien 1 9 7 1 , 9 3 - 1 1 0 . Salzburg zwischen Antike und Mittelalter, in: FM St 5 (1971), 10-36 (mit Karte; s. dazu unten Abschnitt VI: Karten) Die Kirchen in den böhmischen Ländern zwischen Staat, Nation und Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ein Leben - Drei Epochen. Festschrift für Hans Schütz zum 70. Geburtstag, hg. und eingeleitet von H. G L A S S L und O. PUSTEJOVSKY, München 1971, 144-165. Nützt die Entspannung der europäischen Integration?, in: Entspannung für Europa (Vorträge, gehalten auf einer Tagung des Cercle de Strasbourg in Bonn am 2 5 . und 2 6 . November 1 9 7 0 ) , hg. von A . D O M E S (Dokumente und Kommentare zu Ost-Europa-Fragen II), Bonn-Brüssel-New York 1 9 7 1 , 5 9 - 6 5 . Bayerische Klosterkultur des 8. Jahrhunderts, in: Der Schiern 45 (1971), 437-445. The Autogenous Force of European Unity, in: Central Europe Journal 20,5 (1972), 41-46.

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Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

The USA and the Foundation of the Czechoslovakia, in: Central Europe Journal 20,5 (1972), 171-185. Die gesellschaftliche Bedeutung des frühmittelalterlichen Mönchtums für Süddeutschland und Böhmen, in: Beiträge zur Tausendjahrfeier des Bistums Prag, hg. von der Ackermann-Gemeinde, Redaktion H . S C H M I D - E G G E R und A. K U N Z MANN, Bd. 2, M ü n c h e n 1972, 9 - 1 9 .

Bayerische Klosterkultur des 8. Jahrhunderts, in : Festschrift Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte, hg. von E . E N N E N und G . W I E G E L M A N N , Schriftleitung G . G R O B E R - G L Ü C K und F. I R S I G L E R , Bd. 2 , Bonn 1972,

1047-1056.

Wozu heute noch Geschichtsunterricht?, in: ZBLG 35 (1972), 1032-1037. Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: HZ 217 (1973), 1-35. Kirche und soziale Frage im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Böhmen, in: Beiträge zur Tausendjahrfeier des Bistums Prag, hg. von der Ackermann-Gemeinde, Redaktion H . S C H M I D - E G G E R und A. K U N Z M A N N , Bd. 3 , München 1 9 7 3 , 45-63.

Die „Burg". Ihre Entstehung und Struktur als Forschungsaufgabe, in: Die „Burg". Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk u. Benes. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 23. bis 26. November 1972, Bd. 1, Unter Mitarbeit von K . BACHSTEIN, K . B O S L , F. P R I N Z , F. SEIBT u.a. hg. von K . B O S L , München-Wien 1973, 11-26. Nation und Gesellschaft in den Böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in der Gesellschaft. Festschrift für Karl Bosl zum 65. Geburtstag. 1 1 . X I . 1 9 7 3 , hg. von F. P R I N Z , F . - J . S C H M A L E , F. SEIBT, Stuttgart 1 9 7 4 , 3 3 3 - 3 4 9 . Die Tschechoslowakei als Brennspiegel gesamteuropäischer Entwicklungen, in: Bohemia 14, Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Karl Bosl, hg. von F. P R I N Z , F. SEIBT, H . S T U R M , München-Wien 1 9 7 3 , 1 1 - 1 9 . Gesellschaftsgeschichtliche Aspekte frühmittelalterlicher Hagiographie, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2 (1973), H. 11 : Soziologie mittelalterlicher Literatur, 17-36. Hans Kudlich, in: Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 1. Im Auftrag des Collegium Carolinum hg. von K. BOSL, München-Wien 1974, 139— 162. Reichenau. Festvortrag zum 1250. Jubiläum der Klostergründung, in: Badische Heimat. Mein Heimatland 54,2 (1974), 249-263. Frühes Mönchtum in Südwestdeutschland und die Anfänge der Reichenau. Entwicklungslinien und Forschungsprobleme, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. von A. B O R S T ( V U F 2 0 ) , Sigmaringen 1974, 37-76. Jaksch und Benes im Londoner Exil und die Frage der Aussiedlung der Sudetendeutschen in: Bohemia 15 (1974), 256-284. Bemerkung zu einem bemerkenswerten Büchlein: Nase zivá i motvá mimulost, in: Bohemia 15 (1974), 446-452. Topos und Realität in hagiographischen Quellen. (Eine Erwiderung auf D. von der N A H M E R , Die Klostergründung „in solitudine" - ein unbrauchbarer hagiographischer Topos?, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 22 [1972], 90-111), in: ZBLG 37 (1974), 162-166. Zur französischen Nationswerdung (mit französischer Zusammenfassung), in: Bohemia 16, Festschrift zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Ernst Schwarz, München-Wien 1975, 51-68. Aristocracy and Christianity in Merovingian Gaul. An Essay, in: Gesellschaft, Kultur, Literatur. Rezeption und Originalität im Wachsen einer europäischen Litera-

Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

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tur und Geistigkeit. Beiträge Luitpold Wallach gewidmet, hg. von K . B O S L ( M G M 11), Stuttgart 1975, 153-165. Bayern, Salzburg und die Frage der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: Salzburg im 8. Jahrhundert (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 115 [1975 (1976)], Tl. 1), 19-50. Mediävistische Probleme im deutsch-tschechischen Dialog. Aspekte und Forschungsfortschritte der letzten 30 Jahre. Zum 100. Todestag von Frantisek Palacky (26. Mai 1976) (mit englischer Zusammenfassung), in: ZfO 25 (1976), 248275. Benes und kein Ende. Eine Antikritik und Bestandsaufnahme, in: ZfO 25 (1976), 486-4-94. Marsilius von Padua, in: ZBLG 39 (1976), 39-77. Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von F. PETRI (Städteforschung; Reihe A, Darstellungen, Bd. 1), Köln-Wien 1976, 1-26.

Die Kehrseite der Medaille. Sozialgeschichtliche Aspekte der Kriege Max Emanuele, in: Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700, Bd. 1, Zur Geschichte und Kunstgeschichte der Max-Emanuel-Zeit, hg. von H. G L A S E R , München o. J. (1976), 330-339. Zur geistigen Kultur des Mönchtums im spätantiken Gallien und im Merowingerreich, in: Mönchtum und Gesellschaft im Frühmittelalter, hg. von F. P R I N Z ( W d F 312), Darmstadt 1976, 265-353. Nochmals zur „Zweiteilung des Herzogtums der Agilolfinger". Eine Replik (betr.: A. KRAUS, Zweiteilung des Herzogtums der Agilolfinger? Die Probe aufs Exempel, in: BDLG 112 [1976], 16-29), in: BDLG 113 (1977), 19-32. Tavola Rotonda. Storia delle Istituzioni laiche ed ecclesiastiche, in: Fonti medioevali e problematica storiografica, II, Tavole Rotonde (Atti del Congresso Internazionale tenuto in occasione del 90° anniversario della fondazione dell'Istituto Storico Italiano [1883-1973], Roma 22-27 ottobre 1973), Roma 1977, Intervento (1), 18-21; Intervento (2), 4 2 ^ 5 . Augsburg im Frankenreich, in: Die Ausgrabungen in St. Ulrich und Afra in Augsburg, hg. von J. W E R N E R (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 2 3 ) , M ü n c h e n 1977, 3 7 5 - 3 9 8 .

Frantisek Palacky und das deutsch-tschechische Verhältnis aus der Sicht der tschechischen Geschichtswissenschaft unseres Jahrhunderts, in: Bohemia 18 (1977), 129-143. Die kulturellen und politischen Leistungen der Sudetendeutschen für die Vereinigten Staaten von Amerika, in: Bohemia 18 (1977), 144-154. Fragen der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter am Beispiel Bayerns, in: ZBLG 37 (1974), 699-727. Hans Kudlichs Bedeutung für die österreichische Geschichte und sein historisches Verdienst, in: Das Jahr 1848 in Oberösterreich und Hans Kudlich. Bd. 2: Reflexionen und Berichte zum 130-Jahr-Gedenken an Revolution und Bauernbefreiung, hg. vom Amt der Oberösterreichischen Landesregierung. Abteilung Kultur, Linz 1978, 103-107. Peregrinatio, Mönchtum und Mission, in: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, hg. von H. F R O H N E S , H.-W. G E N S I C H E N und G . K R E T S C H M A R , Bd. 2,1: Die Kirche des früheren Mittelalters, hg. von K. S C H Ä F E R D I E K , München 1978, 445—465. Geschichte und Regionalismus. Karl Bosl zum 70. Geburtstag, in: Bohemia 19 (1978), 247-254.

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Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

Max III. - Ein glanzloser bayerischer Kurfürst? Nachruf auf ein modestes Jubiläum, in: ZBLG 41/2,3 (1978), Karl Bosl zum 70. Geburtstag, 595-606. A Model of a Multinational Society as Developed in Austria-Hungary before 1918, in: Intergroup Accomodation in Plural Societies. A Selection of Conference Papers with Special Reference to the Republic of South Africa, hg. von N. RHOODIE, W. C. EWING, London-Basingstoke 1978, 44-52. Eine genealogische Anmerkung zu Bischof Sintpert von Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 (1978), 15-21. Bayerns agilolfingische Kloster- und Adelsgeschichte und die Gründung Kremsmünsters, in: Die Anfänge des Klosters Kremsmünster, Symposion 15.-18. Mai 1977, red. von S. HAIDER (Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, Ergänzungsbd. 2), Linz 1978, 25-50. Monastische Zentren im Frankenreich, in: Studi Medievali 19,2 (1978), 571-590. King, Clergy and War at the Time of the Carolingians, in: Saints, Scholars and Heroes. Studies in Medieval Culture in Honour of Charles W. Jones, hg. von M. H. KING, W. M. STEVENS, Vol. 2, Carolingian Studies, Collegeville/Minnesota 1979, 3 0 1 - 3 2 9 .

Münchens geistiges Leben in den Zwanziger Jahren, in: Die Zwanziger Jahre in München, Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, Mai bis September 1979, hg. von Ch. STÖLZL (Schriften des Münchner Stadtmuseums 8), München 1979, 19-27. Die bayerischen Dynastengeschlechter des Hochmittelalters, in: Wittelsbach und Bayern. Bd. 1,1 : Die Zeit der frühen Herzöge. Von Otto I. zu Ludwig dem Bayern. Beiträge zur bayerischen Geschichte und Kunst 1180-1350, hg. von H. GLASER, München-Zürich 1980, 253-267. Il monachesimo occidentale, in: Passaggio dal mondo antico al medioevo da Teodosio a San Gregorio Magno, Convegno Internazionale (Roma, 25-28 maggio 1977) (Atti dei Convegni Lincei 45), Roma 1980, 4 1 5 ^ 3 4 . Aspekte frühmittelalterlicher Hagiographie, in: Agiografia nell'Occidente cristiano. Secoli XIII-XV, Convegno Internazionale, Roma, 1-2 marzo 1979 (Atti dei Convegni Lincei 48), Roma 1980, 9-30. Frankenreich-Römisches Reich-Österreich. Die Vorgeschichte einer Nachbarschaft, in: Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, hg. von R. A. KANN u n d F . PRINZ, W i e n - M ü n c h e n 1 9 8 0 ,

17^3.

Europäische Aspekte der Geschichte Böhmens (mit englischer Zusammenfassung), in: ZfO 30 (1981), 1-18. Das Karl IV.-Jubiläum, in: ZfO 30 (1981), 390-396. Regionalgeschichte-Landesgeschichte, in: Aspekte der historischen Forschung in Frankreich und Deutschland. Schwerpunkte und Methoden/Aspects de la recherche historique en France et en Allemagne. Tendances et méthodes, DeutschFranzösisches Historikertreffen/ Colloque franco-allemand, Göttingen 3-6 X 1 9 7 9 , h g . v o n G . A . RITTER u n d R . VIERHAUS, R e d a k t i o n E . FRANÇOIS u n d

R.

KIRCHHOF (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 69), G ö t t i n g e n 1981, 2 0 2 - 2 1 5 .

Nationale und soziale Aspekte der Revolution von 1848, in: Ostmitteleuropa. Ber i c h t e u n d F o r s c h u n g e n , h g . v o n U . HAUSTEIN, G . W . STROBEL u n d G . WAGNER,

Gotthold Rhode zum 28. Januar 1981, Stuttgart 1981, 192-216. Der fränkische Episkopat zwischen Merowinger- und Karolingerzeit, in: Nascita dell'Europa ed Europa Carolingia: Un'equazione da verificare, 19-25 aprile 1979, T. 1 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 27), Spoleto 1981, 101-133, Discussione 135-146. Die heilige Afra, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 46 (1981), 211-215.

Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

445

Columbanus, the Frankish Nobility and the Territories East of the Rhine, in: Columbanus and Merovingian Monasticism, hg. von H . B. C L A R K E und M. B R E N NAN (BAR International Series 113), Oxford 1981, 73-87. Die Rolle der Iren beim Aufbau der merowingischen Klosterkultur, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, hg. von H. LÖWE, Teilbd. 1 (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen, Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1982, 202-218. Italien, Gallien und das frühe Merowingerreich. Ein Strukturvergleich zweier monastischer Kulturlandschaften, in: San Benedetto nel suo Tempo (Atti del 7° Congresso Internazionale di Studi sull'Alto Medioevo, T. 1), Spoleto 1982, 1 Π Ι 36. Fortissimus Abba. Karolingischer Klerus und Krieg, in: Consuetudines Monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlaß seines 70. Geburtstages, hg. von J. F. A N G E R E R und J. L E N Z E N W E G E R (Studia Anselmiana 85), Rom 1982, 6 1 95.

Vorbenediktinisches Mönchtum, irofränkische Mission und die Regula S. Benedicti im Salzburger Land, in: Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. St. Peter in Salzburg. 3. Landesausstellung 15. Mai-26. Oktober 1982. Schätze europäischer Kunst und Kultur, hg. von der Salzburger Landesregierung, Kulturabteilung, Salzburg 1982, 14-19. Anmerkungen zur Prinzregentenzeit, in : Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag, hg. von P. F R I E D und W . Z I E G L E R (Münchner Historische Studien, Abteilung Bayerische Geschichte 10), Kallmünz 1982, 411-422. Die deutsche Siedlung im Osten. Nationalistischer Zankapfel oder gemeinsames Erbe?, in: Deutsche unterwegs. Von der mittelalterlichen Ostsiedlung bis zur Vertreibung im 20. Jahrhundert, hg. von H.-U. E N G E L (Geschichte und Staat 268), München-Wien 1983, 74-96. Hans Kudlich, in: Hans Kudlich und die Bauernbefreiung in Niederösterreich. Katalog der Sonderausstellung im Niederösterreichischen Landhaus, 17. M a i 22. Juni 1983, hg. vom Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abt. I I I / 2 - Kulturabteilung (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. Nr. 134), Wien 1983, 41-56. Zur Frühgeschichte des benediktinischen Mönchtums. Papst Gregor der Große und Columban der Jüngere, in: Frühes Mönchtum in Salzburg, hg. von E. Z W I N C K (Schriftenreihe des Landespressebüros, Serie Salzburg, Diskussionen 4), Salzburg 1983, 37-44. Das geschichtliche Panorama, in: Blutenburg. Beiträge zur Geschichte von Schloß und Hofmark Menzing, hg. von J . E R I C H S E N (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 1/83), München 1983, 14-25. Sudetendeutsches Selbstverständnis?, in: Sudetendeutsche Traditionen in der Theologie, Ethik und Pädagogik. Redaktion W. E I C H L E R im Auftrag der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste (Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 4), München 1983, 203-214. Der Anteil der Sudetendeutschen an der modernen deutschen Kultur, in: Sudetenland. Böhmen, Mähren, Schlesien. Vierteljahresschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und Volkstum 25 (1983), 89-99. Der Testfall Tschechoslowakei. Die politischen Pläne des sudetendeutschen Exils in London angesichts der britischen Politik und öffentlichen Meinung, in: Machtbewußtsein in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, hg. von F. K N I P P I N G und K . - J . M Ü L L E R (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 1984, 375-382. Papst Gregor d. Große und Columban der Jüngere, in : Irland und Europa/Ireland and Europe. Die Kirche im Frühmittelalter/The Early Church, hg. von P. NI

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und M. R I C H T E R (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen, Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1984, 328-337. Wallenstein, das Reich und Europa, in: Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte, Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag. Im Auftrag der Kommission für Bayerische Landesgeschichte hg. von A. K R A U S , Bd. 2 : Frühe Neuzeit (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, Bd. 79), München 1984, 81-90. Zum fränkischen und irischen Anteil an der Bekehrung der Angelsachsen, in: Z K G 96 (1984), 315-336. Einleitung zu: Integration und Neubeginn. Dokumentation über die Leistungen des Freistaates Bayern und des Bundes zur Eingliederung der Wirtschaftsbetriebe der Vertriebenen und Flüchtlinge und deren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, hg. von F. P R I N Z im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Gesamtredaktion M . K R A U S S , Bd. 1, Texte und Anmerkungen, München 1984, 12-32. Münchner Kultur - Kultur in München 1945/49. Nature morte oder Musica Viva?, in: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, hg. von F. P R I N Z , Gesamtredaktion M. K R A U S S , München 1984, 9-19. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Friedensverträge von 1919 in der GSR (mit englischer Zusammenfassung), in: ZfO 33 (1984), 57-67. Die sudetendeutschen Belange und das Selbstbestimmungsrecht am Ende des Ersten Weltkrieges, in: Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Probleme der Volksabstimmungen im Osten (1918-1922). In Verbindung mit H . N E U B A C H und H.-W. R A U T E N B E R G , hg. von R . B R E Y E R , Bonn 1985, 40-55. Einleitung für einen Rückblick ohne Zorn und Nostalgie, in: Trümmerleben. Texte, Dokumente und Bilder aus den Münchner Nachkriegsjahren, hg. von F . P R I N Z und M . K R A U S S , München 1 9 8 5 , 7 - 1 9 . Die ideologischen und ethnischen Grundlagen des nationalen Erwachens der Tschechen im frühen 19. Jahrhundert, in: Entstehung von Sprachen und Völkern. Giotto- und ethnogenetische Aspekte europäischer Sprachen. Akten des 6. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1984, hg. von P. S. U R E L A N D (Linguistische Arbeiten 1 6 2 ) , Tübingen 1 9 8 5 , 2 1 9 - 2 3 3 . König Ludwig II. - Entstehung einer Kultfigur, in: Ludwig II. Die Tragik des „Märchenkönigs", hg. von M . G R E G O R - D E L L I N , F . H E R R E , K. M Ö C K L , M . P E T Z E T , F . P R I N Z , G . S C H W A I G E R , Regensburg 1986, 128-158. Von der Bekehrung der Angelsachsen bis zu ihrer Missionstätigkeit im Frankenreich, in: Angli e Sassoni al di qua e al di là del mare, 26 aprile - 1 maggio 1984, T. 2 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 32), Spoleto 1986, 701-734, Discussione 735-745. Karl der Große, Paderborn und die Kirche, in: Westfälische Zeitschrift 136 (1986), 235-247. Das westliche Mönchtum zur Zeit Gregors des Großen, in: Grégoire le Grand. Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique, Chantilly, Centre culturel Les Fontaines 15-19 septembre 1982. Actes publiés par J. F O N T A I N E , R. G I L L E T , S. PELLISTRANDI, Paris 1986, 123-134. Bayern und die wirtschaftliche Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge, in: AWR-Bulletin. Vierteljahresschrift für Flüchtlingsfragen 25 [34] (1987), 75-85. Bayern und die bayerische Intelligenz in den Zwanziger Jahren, in: Jahrmarkt der Gerechtigkeit. Studien zu Lion Feuchtwangers zeitgeschichtlichem Werk, hg. von W. M Ü L L E R - F U N K , Tübingen 1987, 35-60. CHATHAIN

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Les conséquences économiques et politiques des traités de paix de 1919 en Tchéc o s l o v a q u i e , in: Les Conséquences des Traités de Paix 1919-1920 en Europe Central et Sud-Oriental, Colloque de Strasbourg, 24-26 mai 1984, hg. von P. AYCOBERRY, S t r a s b o u r g 1 9 8 7 , 2 0 1 - 2 0 8 .

Der heilige Bischof Corbinian (t um 725), in: Christenleben im Wandel der Zeit, Bd. 1, Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Freising, hg. von G. SCHWAIGER, München 1987, 13-20. Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen. Sach- und Methodenprobleme im Forschungsfeld: Das Beispiel Bayern, in: Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiv e n f ü r d i e k ü n f t i g e F o r s c h u n g s a r b e i t , h g . v o n R . SCHULZE, D . v o n d e r BRELIE-

LEWIEN, H. GREBING (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945, Bd. 4), Hildesheim 1987, 252-263. Kaiser Ludwig der Bayer (1314-1347), in: Christenleben im Wandel der Zeit, Bd. 1, Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Freising, hg. von G. SCHWAIGER, München 1987, 80-91. Kurfürst Maximilian III. Joseph (1745-1777), in: Christenleben im Wandel der Zeit, Bd. 1, Lebensbilder aus der Geschichte des Bistums Freising, hg. von G. SCHWAIGER, M ü n c h e n 1 9 8 7 , 2 9 7 - 3 0 9 .

La presenza del monachesimo nella vita economica e sociale, in : Dall'eremo al cenobio. La civiltà monastica in Italia dalle origini all'età di Dante, hg. von Credito Italiano, Vorwort von G. P. CARRATELLI, Mailand 1987, 239-276. Kaiser Heinrich III. Seine widersprüchliche Beurteilung und deren Gründe, in: HZ 246 (1988), 529-548. Herrschaftsformen der Kirche vom Ausgang der Spätantike bis zum Ende der Karolingerzeit. Zur Einführung ins Thema, in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsform e n , h g . v o n F. PRINZ ( M G M 3 3 ) , S t u t t g a r t 1988, 1 - 2 1 .

Annäherung an München. Postmoderne Rückblicke auf die Geburt einer Großstadt, in: München - Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1886— 1912, h g . v o n F . P R I N Z / M . KRAUSS, M ü n c h e n 1 9 8 8 , 9 - 2 5 .

Im Schatten des Unsäglichen: Dachau - die Geschichte einer wittelsbachischen und bayerischen Stadt, in: Lernort Dachau. Protokoll einer Fachtagung im Institut für Jugendarbeit des Bayerischen Jugendrings (Schriftenreihe 19), München 1988, 9-19. 70 Jahre Tschechoslowakei. Zum Staatsgründungstag 28. Oktober 1918, in: Zeitschrift für Politik 35 (1988), 341-352. Franz von Lenbach in seiner Zeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), 377393. Der Heilige und seine Lebenswelt. Überlegungen zum gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Aussagewert von Viten und Wundererzählungen, in: Santi e demoni nell'alto medioevo occidentale (Secoli V-XI), Spoleto, 7-13 aprile 1988 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 36), Spoleto 1989, 285-311, Discussione 313-318. Johann Turmair, genannt Aventinus - bayerischer Humanist und Historiker, in: Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag, hg. von K. MÖSENEDER und A. PRATER, Hildesheim-Zürich-New York 1991, 128-136.

Die Grenzen des Reiches in frühsalischer Zeit: ein Strukturproblem der Königsherrschaft, in: Die Salier und das Reich, Bd. I: Salier, Adel und Reichsverfass u n g , h g . v o n St. WEINFURTER, S i g m a r i n g e n 1 9 9 1 , 1 5 9 - 1 7 3 .

Papa Gregorio Magno, il monachesimo siciliano e dell'Italia meridionale e gli inizi della vita monastica presso gli anglosassoni, in: Sicilia e Italia suburbicaria tra

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IV e Vili secolo. Atti del Convegno di Studi (Catania, 24-27 ottobre 1989), hg. v o n S. PRICOCO, F. R i z z o NERVO, T . SARDELLA, M i l a n o 1991, 7 - 2 0 .

Grundzüge der Entfaltung des abendländischen Mönchtums bis zu Karl dem Großen, in: StMBO 102 (1991), 209-230. Präludium oder erste Niederlage des Nazismus? Münchens kulturelles Milieu in den zwanziger Jahren, in: Irrlicht im leuchtenden München? Der Nationalsozialismus in der Hauptstadt der Bewegung, hg. von F. P R I N Z U. B. M E N S I N G , Regensburg 1991, 27-48. Cassiodor und das Problem christlicher Aufgeklärtheit in der Spätantike, in: HZ 254 (1992), 561-580. Hagiographie als Kultpropaganda: Die Rolle der Auftraggeber und Autoren hagiographischer Texte des Frühmittelalters, in: Z K G 103 (1992), 174-194. Leistungen der Sudetendeutschen in Politik, Wirtschaft und Sozialwesen, in: F. P. HABEL, Die Sudetendeutschen (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat 1), München 1992, 206-223. Primi stadi della ,militia Christi' altomedioevale nella tarda antichità e nel sistema ecclesiastico imperiale del periodo carolingio e degli Ottoni, in:,Militia Christi' nei secoli XI-XIII. Atti della undecima Settimana internazionale di Studi Mendola, 28 agosto-1 settembre 1989 (Miscellanea del Centro di studi medioevali 13), Milano 1992, 49-66. Kirchen und Klöster als literarische Auftraggeber, in: Committenti e produzione artistico-letteraria nell'alto medioevo occidentale, 4-10 aprile 1991 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo 39), Spoleto 1992, 759788; Discussione 789-790. Benesuv mytus se rozpadá, in: Stredni Evropa. Revue pro stredievropskou kulturu a politiku. Idea Spolkové republiky Cechy, Morava a Slezsko. Roònik 8, Cislo 24, 1992, Institut pro Stredo Evropkou Kulturu a Politiku, Prag 1992, 41-54. Le Terme nella Mitteleuropa: Divertimento, Cultura e Alta Politica, in: Il Termalismo nell'Immaginario Culturale dai Pirenei al Caucaso, hg. von G. TABORELLI, Milano 1992, 49-92. Geschichte, Kultur und Gesellschaft in der frühen Neuzeit, in: Böhmen und Mähren (Deutsche Geschichte im Osten Europas 2), Berlin 1993, 180-302. Auf dem Weg in die Moderne, in: Böhmen und Mähren (Deutsche Geschichte im Osten Europas 2), Berlin 1993, 304-481.

IV.

Aufsatzsammlungen

Gestalten und Wege bayerischer Geschichte, München 1982. Bayerische Miniaturen. Ludwig der Bayer, Max III. Joseph, Ludwig II., Franz von Lenbach und andere, München 1988. Mönchtum, Kultur und Gesellschaft. Beiträge zum Mittelalter zum sechzigsten Geburtstag des Autors, hg. von A. HAVERKAMP und A. H E I T , München 1989.

V.

Herausgeber/Mitherausgeber

a) Reihen und Zeitschriften Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1970ff (Mitherausgeber); ab 1993 Herausgeber. Zeitschrift für Ostforschung. Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa, Marburg/Lahn: Johann Gottfried Herder-Institut, Jg. 25, 1976 ff.

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b) Sammelwerke Bohemia 14, Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Karl Bosl, hg. im Auftrag des Collegium Carolinum von F. P R I N Z , F. SEIBT, H . S T U R M , München-Wien 1973. Bayerische Geschichte als Tradition und Modell. Festschrift für Karl Bosl zum 65. Geburtstag, hg. von F. P R I N Z , F.-J. SCHMALE, F. SEIBT (ZBLG 36,2), München 1973. Geschichte in der Gesellschaft. Festschrift für Karl Bosl zum 65. Geburtstag. 11. XI. 1973, hg. von F. P R I N Z , F.-J. S C H M A L E , F. SEIBT, Stuttgart 1974. Mönchtum und Gesellschaft im Frühmittelalter, hg. von F. P R I N Z (WdF 312), Darmstadt 1976. Die Tschechoslowakei 1 9 4 5 - 1 9 7 0 , hg. von N . L O B K O W I C Z und F . P R I N Z , MünchenWien 1978. Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, hg. von R . A . K A N N und F. E. P R I N Z , Wien-München 1980. Schicksalsjahre der Tschechoslowakei, hg. von N . L O B K O W I C Z und F . P R I N Z , München-Wien 1981. Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, hg. von F. P R I N Z , Gesamtredaktion M. K R A U S S , München 1984. Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, hg. von F. P R I N Z (MGM 33), Stuttgart 1988. München - Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1 8 8 6 - 1 9 1 2 , hg. von F. P R I N Z und M . K R A U S S , München 1 9 8 8 . Irrlicht im leuchtenden München? Der Nationalsozialismus in der Hauptstadt der Bewegung, hg. von B. M E N S I N G , F. P R I N Z , Regensburg 1990. Böhmen und Mähren (Deutsche Geschichte im Osten Europas 2), Berlin 1993. c) Quellen Wenzel Jaksch - Edvard Benes. Briefe und Dokumente aus dem Londoner Exil 1939-1943, hg. von F. P R I N Z (Schriften der Studiengesellschaft für mittel- und osteuropäische Partnerschaft, Wiesbaden), Köln 1973. Integration und Neubeginn. Dokumentation über die Leistung des Freistaates Bayern und des Bundes zur Eingliederung der Wirtschaftsbetriebe der Vertriebenen und Flüchtlinge und deren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, hg. von F. P R I N Z im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Gesamtredaktion M . K R A U S S , Bd. 1 : Texte und Anmerkungen, Bd. 2: Dokumente, München 1984. Trümmerleben. Texte, Dokumente, Bilder aus den Münchner Nachkriegsjahren, hg. von F. P R I N Z und M. K R A U S S , München 1985. Der Weisheit eine Gasse. Klassische Aphorismen gesammelt von F. P R I N Z , München 1989.

VI. Karten „Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr". Katalog der gleichnamigen Ausstellung in Essen, Villa Hügel, 18. 5.-15. 9. 1956, hg. von V. H. E L B E R N , Essen 1956. Mitautor als wiss. Kartograph - 13 Karten mit Kommentaren, davon im Katalog 8: S. 20, 77, 79, 86, 147, 153, 211, 214. Die Ausbreitung der fränkischen Reichskultur. Erläuterungen zur Karte, in: Studien zu den Anfängen des europäischen Städtewesens. Reichenau-Vorträge

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1955-56 (VuF 4), Lindau-Konstanz 1958, 191-194; 4., unveränderte Auflage, Sigmaringen 1975. Das Reich Karls des Großen, in: Karl der Große. Werk u n d Wirkung (Ausstellung, veranstaltet durch die Stadt Aachen im Rathaus zu Aachen u n d im Kreuzgang des Domes vom 26. Juni bis zum 19. September 1965), Aachen 1965, 13-14, Karte: Das Reich Karls des Großen. Politische - Kirchliche - Kulturelle Zentren 814, nach S. 16. Schenkungen und Privilegien Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk u n d Nachleben, hg. von W. BRAUNFELS, Bd. 1, Persönlichkeit und Geschichte, hg. von H. BEUMANN, Düsseldorf 1965, S. 488; auch in: Karl der Große. Werk u n d Wirkung (Ausstellung, veranstaltet durch die Stadt Aachen im Rathaus zu Aachen u n d im Kreuzgang des Domes vom 26. Juni bis zum 19. September 1965), Aachen 1965, S. 181, Karte: Schenkungen und Privilegien Karls des Großen (768-814), nach S. 192. Herzog und Adel im agilolfingischen Bayern, in: Bayerischer Geschichtsatlas, hg. von M. SPINDLER, Redaktion: G. DIEPOLDER, München 1969, Karte 14b. (zuerst in: ZBLG 25 [1962], Kartenbeilage). Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte u n d Gegenwart, hg. von H. J E D I N , K. SCOTT LATOURETTE, J. M A R T I N , Freiburg i. Br. 1970, Karten: 14 A, B, C ; 25 A, B, C ; 35 A, 37 und K o m m e n t a r zu Karte 35 A: Schenkungen u n d Privilegien Karls des Großen (768-814), 28*. Die Ausbreitung der fränkischen Reichskultur bis 768 (Bistümer und Klöster), in: G r o ß e r Historischer Weltatlas, 2. Tl. Mittelalter, hg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag, Redaktion J. ENGEL, München 1970, Karte 65a; dazu: Großer Historischer Weltatlas, 2. Tl. Mittelalter, Erläuterungen, hg. von E. W. ZEEDEN, München 1983, Text 9a, 50-52. Die Ortsnamen der ältesten Salzburger Güterverzeichnisse (Indiculus Arnonis und Breves Notitiae, um 790), in: Salzburg zwischen Antike u n d Mittelalter, in: FMSt 5 (1971), 10-36, nach S. 16. Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen hat der Jubilar eine Fülle von Beiträgen (ca. 130) für Presse, R u n d f u n k und Fernsehen verfaßt; er darf daher als einflußreicher Vermittler von Wissenschaft auch im außeruniversitären Bereich gelten.

Betreute wissenschaftliche Arbeiten Dissertationen:

F. IRSIGLER, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels (Rheinisches Archiv 70), Bonn 1969; 2. um einen Nachtrag erweiterte Auflage Bonn 1981 (Phil. Diss. Saarbrücken 1968). Ch. STÖLZL, Die Ära Bach in Böhmen. Sozialgeschichtliche Studien zum Neoabsolutismus 1849-1859 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 26), München-Wien 1971 (Phil. Diss. Saarbrücken 1970). M. GLETTLER, Sokol u n d Arbeiterturnvereine (D.T.J.) der Wiener Tschechen bis 1914. Zur Entwicklung der nationalen Bewegung in beiden Organisationen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 23), München-Wien 1970 (Druck eines aus der Dissertation ausgeschiedenen Sonderthemas). M. GLETTLER, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 28) München-Wien 1972 (Phil. Diss. Saarbrücken 1971).

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Th. R A A C H (t), Kloster Mettlach/Saar und sein Grundbesitz. Untersuchungen zur Frühgeschichte und zur Grundherrschaft der ehemaligen Benediktinerabtei im Mittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 19), Mainz 1974 (Phil. Diss. Saarbrücken 1971). A. HAHN, Die Rezeption des tridentinischen Pfarrerideals im westtrierischen Pfarrklerus des 16. und 17. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte der katholischen Reform im Erzbistum Trier (Publications de la Section Historique de l'Inst. G. D. de Luxembourg 90), Luxembourg 1974 (Phil. Diss. Saarbrücken 1972). Α. HEIT, Elsässische Publizistik im Jahre 1848 (Europäische Hochschulschriften 111,39), Bern-Frankfurt a. M. 1975 (Phil. Diss. Saarbrücken 1972). M. WOLF, Ignaz von Plener. Vom Schicksal eines Ministers unter Kaiser Franz Joseph (Wissenschaftliche Materialien und Beiträge zur Geschichte und Landeskunde der Böhmischen Länder 20), München 1975 (Phil. Diss. Saarbrücken 1972). G. J E N A L , Erzbischof Anno II. von Köln (1056-1075) und sein politisches Wirken. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichs- und Territorialpolitik im 11. Jahrhundert (MGM 8,1 und II), Stuttgart 1974/75 (Phil. Diss. Saarbrücken 1972/73). H . B R Ü C K N E R , Die deutschen Abgeordneten aus den böhmischen Ländern im österreichischen Reichsrat der Vorkriegszeit (1907-1914), Saarbrücken 1975 (Phil. Diss. Saarbrücken 1975). K . Z E S S N E R , Josef Seliger und die nationale Frage in Böhmen. Eine Untersuchung über die nationale Politik der deutschböhmischen Sozialdemokratie 1899-1920, Stuttgart 1976 (Phil. Diss. Saarbrücken 1976). F . J. F E L T E N , Äbte und Laienäbte im Frankenreich. Studie zum Verhältnis von Staat und Kirche im frühen Mittelalter (MGM 20), Stuttgart 1980 (Phil. Diss. Saarbrücken 1976). R. F R A N K E ( T ) , London und Prag. Materialien zum Problem eines multinationalen Nationalstaates 1919-1938 (Wissenschaftliche Materialien und Beiträge zur Geschichte und Landeskunde der Böhmischen Länder, Heft 26) München 1981 (Phil. Diss. München 1976/77). J . H A N N I G , Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (MGM 27), Stuttgart 1982 (Phil. Diss. Saarbrücken 1977). H. A M M E R I C H , Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 11), Saarbrükken 1981 (Phil. Diss. München 1979). E . T R Ü T Z S C H L E R von F A L K E N S T E I N , Der Kampf der Tschechen um die historischen Rechte der böhmischen Krone im Spiegel der Presse 1861-1879 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München, Reihe Geschichte, Bd. 50), Wiesbaden 1982 (Phil. Diss. München 1980). B . L E I E R S E D E R , Das Weib nach den Ansichten der Natur. Studien zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenleitbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, München 1981 (Phil. Diss. München 1981). P. B E C H E R , Der Untergang Kakaniens. Darstellungsweisen eines historischen Phänomens (Europäische Hochschulschriften 1,520), Frankfurt a. M.-Bern 1982 (Phil. Diss. München 1981). E. P L Ö S S L , Weibliche Arbeit in Familie und Betrieb. Bayerische Arbeiterfrauen 1870-1914 (Miscellanea Bavarica Monacensia 119), München 1983 (Phil. Diss. München 1982). W. M Ü L L E R , „Zur Wohlfahrt des gemeinen Wesens". Ein Beitrag zur Bevölkerungs-

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Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz

und Sozialpolitik Max III. Joseph (1745-1777) (Miscellanea Bavarica Monacensia 133), München 1984 (Phil. Diss. München 1983). M. KRAUSS, Nachkriegskultur in München. Münchener städtische Kulturpolitik 1945-1954, München-Wien 1985 (Phil. Diss. München 1983). St. KELLNER, Die Hofmarken Jettenbach und Aschau in der frühen Neuzeit. Studien zur Beziehung zwischen Herrschaft und Untertanen in Altbayern am Beispiel eines adeligen Herrschaftsbereiches (Studien zur bayerischen Verfassungsund Sozialgeschichte 10), Kallmünz 1986 (Phil. Diss. München 1983). Ch. RÄDLINGER-PRÖMPER, Sankt Emmeram in Regensburg. Struktur- und Funktionswandel eines bayerischen Klosters im früheren Mittelalter (Thum und Taxis-Studien 16), Kallmünz 1987 (Phil. Diss. München 1985). J. WETZEL, Jüdisches Leben in München 1945-1951. Durchgangsstation oder Wiederaufbau? (Miscellanea Bavarica Monacensia 135), München 1987 (Phil. Diss. München 1986). C. VOLLNHALS, Evangelische Kirche und Entnazifizierung. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit (Studien zur Zeitgeschichte 36), München 1989 (Phil. Diss. München 1987). L. K. KINZINGER, Schweden und Pfalz-Zweibrücken. Problem einer gegenseitigen Integration. Das Fürstentum Pfalz-Zweibrücken unter schwedischer Fremdherrschaft (1681-1719) (Phil. Diss. Saarbrücken 1988). St. BREIT, „Leichtfertigkeit" und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 23), München 1991 (Phil. Diss. München 1988/89). R. ENGELMANN, Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921-1924 (Studien zur Zeitgeschichte 40), München 1992 (Phil. Diss. München 1989). M. APPEL, Werner Sombart. Historiker und Theoretiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992 (Phil. Diss. München 1990). Ch. HENZLER, Fritz Schäffer ( 1 9 4 5 - 1 9 6 7 ) . Eine biographische Studie zum ersten bayerischen Nachkriegs-Ministerpräsidenten und ersten Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland (Phil. Diss. München 1 9 9 0 ) . M. EGGERS, Das „Großmährische Reich" - Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der historischen und archäologischen Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jh. (Phil. Diss. München 1990). Η . F . G R O S S , Hanns Seidel 1 9 0 1 - 1 9 6 1 . Eine politische Biographie, München 1 9 9 1 (Phil. Diss. München 1 9 9 1 ) . R. HUBER-SPERL, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Memmingens im 18. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung der Problematik gewerblicher Modernisierung in einer Reichsstadt (Phil. Diss. München 1 9 9 1 ) . I. PERMOSER, Der Luftkrieg im Raum München 1942-1945 (Phil. Diss. München 1991). E. RAIM, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg a. Lech 1992 (Phil. Diss. München 1991). B. BECK, Mathilde Großherzogin von Hessen und bei Rhein, geb. Prinzessin von Bayern (1813-1862) (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, Neue Folge Bd. 7), Darmstadt 1993 (Phil. Diss. München 1992). G. NEUMEIER, München um 1900. Wohnen und Arbeiten in einer deutschen Großstadt vor dem Ersten Weltkrieg (Phil. Diss. München 1 9 9 2 ) , H. SCHEFERS, Studie zu Einhards Heiligen- und Reliquienverehrung (Phil. Diss. München 1992). H. P. SCHWENK, Brun von Köln (925-965). Sein Leben, sein Werk und seine Bedeutung (Phil. Diss. München 1993).

Verzeichnis der Schriften von Friedrich Prinz Habilitationsschriften A.

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H A V E R K A M P , Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien (MGM 1,1 und II), Stuttgart 1970/71 (Habilitationsschrift Saarbrücken 1969). M. G L E T T L E R , Pittsburgh-Wien-Budapest. Programm und Praxis der Nationalitätenpolitik bei der Auswanderung der ungarischen Slowaken nach Amerika um 1900 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 19), Wien 1980 (Habilitationsschrift München 1978). G. J E N A L , Italia ascetica ac monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250-604) (im Druck) (Habilitationsschrift München 1988/89).

Register Abraham, Paul, Operetten- und Filmkomponist (1892-1960) 313 Adenauer, Konrad (1876-1967), Politiker, Bundeskanzler (1949-1963) 336, 339, 340, 344, 345, 346 Adler, Alfred, österr. Arzt und Tiefenpsychologe (1870-1937) 315 Adorno, Theodor W., Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist (1903-1969) 315 Aehrental, Alois Lexa Freiherr von (1854-1912), österr. Politiker, österr. Außenminister (1906-1912) 221/A. 16 Alba, Fernando Alvarez de Toledo Herzog von (1507-1582), span. Feldherr und Staatsmann 20 Albrecht Alkibiades, Markgraf von Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth (1522-1557) 29 Albrecht VII., Erzherzog von Österreich, jüngster Sohn Kaiser Maximilians II. (1559-1621) 63, 68 Albrecht III. der Fromme (1401-1460), Herzog von Bayern (1438-1460) 66 Albrecht V. (1528-1579), Herzog von Bayern (1550-1579) 22, 23 Albrecht Sigmund von Bayern, Bischof von Freising (1639-1685) und Regensburg (1668-1685), Vetter Ferdinand Marias 104 Alexander der Große (336-323 v. Chr.), König 434 Alexander III. (Orlando Bandinelli), Papst (1159-1181) 78, 86/A. 94 Alexander Farnese, Herzog von Parma, Statthalter der Niederlande (15451592) 23 Andersch, Alfred (1914-1980), Schriftsteller 438 Andrássy, Gyula (1823-1890), Graf, österr.-ungar. Staatsmann 240/A. 2 Andreae, Johann Valentin (1586-1654), evangelischer Theologe, Reorganisator der württembergischen Kirche, Vertreter des Pietismus 3, 4 Andres, Stefan (1906-1970), Schriftsteller 329 Apponyi, Albert Georg Graf (1846— 1933), Führer der gemäßigten ungar.

nationalen Oppositionspartei, Kultusminister (1906-1910) 240/A. 2 Aristoteles (384-322 v. Chr.), griech. Philosoph 375, 434 Arnulf „der Böse", Herzog von Bayern (907-937) 76, 88 Auer, Lambert, Rektor des Mainzer Jesuitenkollegs unter -> Daniel Brendel von Homburg 42, 43 Auer, Erhard (1874-1945), bay. Politiker, Mitglied des Bayerischen Landtags, SPD (1907-1933), 292, 293, 298/A. 76 Augustinus, Aurelius (354-430), lat. Kirchenvater 375 Augustus, C. Octavianus (63 v. Chr.-14 n. Chr.), erster röm. Kaiser 81 Aventinus (Johannes Turmair) (14771534), bay. Geschichtsschreiber, Humanist 77, 79, 79/A. 33, 80, 89

Babo, Joseph Marius von (1756-1822), Dramatiker und Intendant 166, 166/A. 35, 174, 175 Bach, Johann Sebastian (1685-1750), Komponist 316 Bachmayer, Anton von, Bürger in München, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 176/A. 72 Bacon, Francis (1561-1626), engl. Philosoph und Staatsmann 3 Bacquehem, Olivier Marquis de (18471917), österr. Handelsminister in Cisleithanien (1886-1893), 242 Badeni, Kasimir Felix Graf von (1846— 1909), österr.-ungar. Politiker 254 Bächler, Wolfgang (*1925), Schriftsteller 438 Barnowsky, Viktor (1875-1952), Theaterleiter 312 Baschi, François, Comte de Sainte-Hélène (1701-1777), frz. Gesandter in Kurbayern (1748-1750), 144 Basselet de la Rosée, Graf Johann Aloys Caspar (1710-1795), Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08), 164, 166, 166/A. 32

Register Bassevi von Treuenburg, Jakob (1570— 1634), Vorsteher der Prager Judengemeinde, Finanzmann unter Rudolf II., Matthias und Ferdinand II., Günstling Wallensteins 29 Basta, Georg Graf (1550-1612), österr. Feldherr 24 Bauer, Otto (1882-1938), österr. Politiker, Staatssekretär des Auswärtigen (1918-1919) 226 Baum, Vicki (1888-1960), Schriftstellerin 313 Becher, Johann Joachim (1635-1682 oder 1685), Mediziner, Chemiker und Nationalökonom 95 Becher, Johannes Robert (1891-1958), Schriftsteller 353, 358 Beck, Max Wladimir Freiherr von (1854-1943), österr. Politiker, Lehrer und polit. Berater des Erzherzogs Franz Ferdinand 252/A. 45 Becker, Jurek (*1937), Schriftsteller 357, 366, 366/A. 15 Becker, Thorsten (* 1958), Schriftsteller 358, 358/A. 7 Beckett, Samuel (1906-1989), irischer Erzähler und Dramatiker 435 Beckh, Rudolf von, Polizeipräsident in München während des Januarstreiks 1918 298/A. 76 Behrend-Rosenfeld, Else (1891-1970), Schriftstellerin 324/A. 28, 325 Bemelberg, Conrad von, bay. Hofratspräsident (1604-1606), Pfleger in Wemding (1606-1616) 17 Benedikt XIV. (Prospero Lambertini), Papst (1740-1758) 146 Benes, Edvard (1884-1948), tschechoslowak. Staatsmann 227, 228, 230, 232, 235 Benjamin, Walter (1892-1940), philosoph. Essayist, Literatur- und Zeitkritiker 315 Benn, Gottfried (1886-1956), Arzt und Dichter 435 Berchem, Maximilian Franz Freiherr von (1702-1777), Berater -+Max III. Joseph 151 Bergner, Elisabeth (1897-1986), Bühn e n - u n d Filmschauspielerin 312 Berlichingen, Götz (Gottfried) von (1480-1562), Reichsritter aus schwäb. Adel 12, 13

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Bernhard, Thomas (1931-1989), Schriftsteller 350, 435 Bernheim, Ernst (1850-1942), Historiker 369, 384, 385 Berthold (von Scheyern), Herzog von Bayern (938-947), Nachfolger seines Bruders -»Arnulf „des Bösen" 79 Bethlen Gabor (Behtlen von Iktár, Gabriel) (1580-1629), Fürst von Siebenbürgen 29, 60, 62, 67, 68/A. 49, 70, 71 Biermann, W o l f g a n g ) (*1936), Schriftsteller und Sänger 349, 351, 354, 357, 358 Birzele, Ulrich, Regierungsrat und -archivar zu Amberg (* ca. 1728) 1779/81 Student der Rechte in Ingolstadt, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 167, 167/A. 36, 174, 176 Bismarck, Otto von, Fürst (1815-1898), Abgeordneter, Diplomat, preuß. Ministerpräsident, Reichskanzler 200, 213, 340, 344 Blauhut, Johann Jakob, Herrschaftspfleger und -kanzler, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 164,169, 176 Blech, Leo (1871-1958), Dirigent und Komponist 312 Bloch, Ernst (1885-1977), Philosoph 315 Böhm von Bawerk, Eugen Ritter (18511914), österr. Politiker, Finanzminister (1897/98, 1900-1904) 253 Böhmer, Johann Friedrich (1795-1863), Historiker 389 Bonnard, Pierre (1867-1947), frz. Maler 189 Born, Max (1882-1970), Physiker, Nobelpreisträger 315 Borromeo, Hortensia, Gemahlin des Grafen -»Jakob Hannibal I. von Hohenems 28 Braitlohn (auch : Praidtlohn), Franz Xaver Andreas Freiherr von (16891757), Geheimer Ratsvizekanzler unter-> Max III. Joseph 138 Brandisser, Anton, Tiroler Musterkommissär (um 1526) 27 Brandt, Willy (1913-1992), Politiker 336

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Register

Braun, Volker (*1939), Schriftsteller 349, 354, 357, 359, 360, 360/A. 9 Brecht, Bertolt (1898-1956), Schriftsteller und Regisseur 320, 351, 357, 435 Brendel von Homburg, Daniel, Erzbischof von Mainz (1555-1582) 42, 42/A. 78 Briand, Aristide (1862-1932), frz. Staatsmann 340 Brunner, Andreas S.J. (1589-1650), Historiker 77, 78, 79 Bruno, Giordano (eigtl. Filippo) (15481600), italien. Philosoph 375 de Bruyn, Günter (*1926), Schriftsteller 351, 357, 366 Buber, Martin (1878-1965), jüd. Sozialphilosoph 310 Bucher, Anton von (1746-1817), bay. Schriftsteller und Akademiker, Pfarrer zu Engelbrechtsmünster bei Geisenfeld 174/A. 62, 176, 176/A. 74 u. 75 Bucquoy, Karl Graf (1571-1621), Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen in Böhmen 55, 60, 64, 71, 72 Büchner, Georg (1813-1837), Arzt und Schriftsteller 360 Burckardt, Dionysius, Stiftsdekan von St. Guido, 1596 Weihbischof von Speyer 39, 39/A. 63 Caesar, C. Julius (100-^4 v. Chr.), Feldherr und Staatsmann Roms 87 Calderón de la Barca, Pedro (1600— 1681), span. Dramatiker 428 Camerarius, Ludwig (1573-1651), pfälz.-schwed. Staatsmann 61/A. 26 Campanella, Tommaso (1568-1639), italien. Philosoph 3, 4 Canisius, Petrus (eigtl. Pieter Kanijs) S.J. (1521-1597), Provinzial der oberdt. Jesuitenprovinz (1556-1569) 43 Cato, Marcus Porcius Minor/Uticensis (95—46 v. Chr.), röm. Staatsmann 87 Cavour, Camillo Graf Benso di (18101861), italien. Staatsmann 206 Cazin, Marie Anne (1767-1811), erste Gemahlin -»Anton von Cettos 185/A. 19 Cetto, Anton Freiherr von (1756-1847), pfalz.-bay. Staatsmann 181 ff, bes. 181/Α. 1

Chamasse, Anne, Tänzerin, Geliebte -» Christians IV. von Pfalz-Zweibrükken 185/A. 19 Christian I. von Anhalt (1568-1630), Fürst, Diplomat und Feldherr, Hauptratgeber des pfälz. Kurfürsten 62, 73 Christian IV. (1722-1775), Herzog von Pfalz-Zweibrücken 185/A. 19 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch (1894-1971), sowjet. Politiker 344 Clary, Manfred Graf (1852-1928), österr. Politiker, Ministerpräsident (1899) 242 Colleoni/Coleone, Bartolomeo (14001475), italien. Condottiere in neapolitan., venezian. und mailänd. Diensten 14 Comenius (tschech. Komensky), Jan Amos (1592-1670), Geistlicher und Volkserzieher 434 Cooper, Hanna, Schwester von -• Peter Rosenfeld 326/A. 34 Cossmann, Paul Nikolaus (1869-1942), Publizist, Herausgeber der „Süddeutschen Monatshefte" 303 Cromwell, Oliver (1599-1658), engl. Staatsmann 428 Czech, Ludwig (1870-1942), sudetendt. Politiker 237, 238 Czernin, Ottokar Graf C. von und zu Chudenitz (1872-1932), österr. Staatsmann, Außenminister (1916-1918) 230 Dante Alighieri (1265-1321), größter Dichter Italiens 4 Defoe, Daniel (eigtl. Foe) (1660-1731), engl. Schriftsteller 2 Delfino, Zaccaria (1527-1584), Kardinal seit 1565, Nuntius am Kaiserhof (1554-56 und 1560-65) 44 Dellinger, Josef, Stadtpfarrer in München, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789— 1807/08) 174/A. 62 Delius, Friedrich Christian (*1943), Schriftsteller 365 Demokrit von Abdera (* um 460 v. Chr.), griech. Philosoph 375 Descartes, René (Renatus Cartesius) (1596-1650), frz. Philosoph und Mathematiker 375, 428

Register

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Deutsch, Ernst (1890-1969), Schauspieler 312 Dibelius, Friedrich Karl Otto (18801967), evang. Theologe, Generalsuperintendent der Kurmark, Vors. d. Rates der Evang. Kirche in Deutschland (1949-1961) 314 Dienheim, Eberhard von, Bischof von Speyer (1581-1610) 40, 40/A. 66, 41, 47 Diller, Michael, Augustinerprior, 1540 lutherischer Prediger in Speyer 32, 33 Diodor, griech. Geschichtsschreiber des 1. Jh. v. Chr. 5, 6, 7, 8 Döblin, Alfred (1878-1957), Schriftsteller 307, 308, 313, 320/A. 4, 351, 354, 359 Dombrowski, Erich (1882-1972), Publizist 312 Dominicus a Jesu Maria O F M C a p (Familienname: Krusolo) (1559-1630), Ordensgeneral und Diplomat 64, 72 Domröse, Angelica (*1941), Bühnenund Filmschauspielerin 357 Dorner, Josef von, Maler in München, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 176/A. 72 Dos Passos, John Roderigo (18961970), amerikan. Schriftsteller 351 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (1821-1881), niss. Dichter 312 Dreyfus, Alfred (1859-1935), frz. Artilleriehauptmann 310 Droysen, Johann Gustav (1808-1884), Geschichtsforscher 372, 382ff Dünstadt, Gabriel OFMCap, Domprediger in Speyer(1686-1689) 48 Dumesnil, Elisabeth Friderica, geb. von Zweybrücken, Gräfin von Forbach (* 1766) 185, 185/A. 19, 186, 187 Dünner, Joseph (1908-1978), Professor der Politischen Wissenschaften, Chief Press Control Sect, of O M G U S in Bayern 320/A. 6, 327, 328, 328/A. 44 Dupanloup, Félix Antoine Philibert (1802-1878), Bischof von Orléans, Führer der liberalen Katholiken 206 Dürkheim, Emile (1858-1917), frz. Soziologe 380

Eberhardt, Anton, Karmeliterprior, seit 1532 lutherischer Prediger an der Ägidienkirche in Speyer 32, 32/A. 8, 33 Eberstein, Obrist unter -»Georg II. von Frundsberg 27, 28 Eckstein, Nikolaus von (1790-1861), dän. Konvertit, früher Vertreter eines „liberalen Katholizismus" 204 Einstein, Albert (1879-1955), Physiker 303, 310, 315 Eisenreich auf Beuerpach, Christoph Benno Freiherr von (tl671), Kämmerer, Hofrat und Pfleger von Kranzberg (1647-1653 zusammen mit seinem Bruder Georg Wilhelm, 16531671 allein) 96/A. 21 Eisler, Hanns (1898-1962), Komponist 315 Eisner, Kurt (1867-1919), Publizist, bay. Ministerpräsident 230, 282, 283/A. 24, 284, 285, 291, 292, 294, 297, 298, 299, 300, 309 Ems, Merk Sittich (oder Marx Sittich) I. Ritter von (1466-1533), Heerführer 13, 17 Ems, Wolf Dietrich, Sohn -> Marx Sittichs I. (1505-1536), Heerführer 17 Erasmus von Rotterdam (1466 bzw. 1469-1536), bedeutendster Humanist 19 Erhard, Ludwig (1897-1977), Politiker, Wirtschaftsminister, Bundeskanzler 347 Ernst, Sohn Herzog -> Albrechts V. von Bayern (1554-1612), Bischof von Freising seit 1566, von Hildesheim seit 1573, von Lüttich seit 1581, von Münster seit 1585, Erzbischof und Kurfürst von Köln seit 1583 39 Ernst Günther (1883-1921), Herzog zu Schleswig Holstein 245, 246/A. 24 Euhemeros von Messene (ca. 340-ca. 260 v. Chr.), griech. Philosoph 5, 6, 7 Euklid von Megara (ca. 450-ca. 380 v. Chr.), griech. Philosoph 375 D'Evouvray, Ludwig, Münchener Residenzgärtner, Mitglied der ToerringSeefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 155/A. 2

Eberhard, Herzog von Bayern (935937) 81

Faber, Elias OFMCap, Domprediger in Speyer (t 1674) 48

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Register

Faber, Petrus (eigtl. Favre, auch Lefèvre) S.J. (1506-1546), erster Gefährte des -> Ignatius von Loyola 31, 36, 37 Falckenstein, Johann Heinrich von (1682—1760), Hofrat in Eichstätt, bay. Historiker 75, 75/A. 1, 76, 77, 81, 84, 87, 89 Fall, Leo (1873-1925), Komponist 313 Faulkner, William (1897-1962), amerikan. Erzähler 354 Fechenbach, Felix (1894-1933), Schriftsteller, Redakteur, Sekretär -• Kurt Eisners 292 Fein, Maria (1894-1965), Schauspielerin 312 Ferdinand, Sohn des bay. Herzogs -»Wilhelm V. (1577-1650), Erzbischof und Kurfürst von Köln, Bischof von Hildesheim, Lüttich und Münster (1612-1650), von Paderborn (1618-1650) 39 Ferdinand I. (1503-1564), Erzherzog, röm. König seit 1531, Kaiser seit 1556 29 Ferdinand II. (1578-1637), Kaiser seit 1619 48, 55, 56 (Erzherzog) 57, 58, 59, 60, 61, 62, 66, 68/A. 49, A. 52, 73 Ferdinand Maria (1636-1679), Kurfürst von Bayern seit 1651 79/A. 30, 9 I f f Feuchtwanger, Lion (1884-1958), Schriftsteller 313 Feuchtwanger, Sigbert (1886-1956), Rechtsanwalt 324, 324/A. 26 Feuchtwanger, Walter (*1916), Sohn -> Sigbert Feuchtwangers, Bankier 324/A. 26, 326/A. 35 Feuerbach, Ludwig (1804-1872), Philosoph 375 Filelfo, Francesco (1398-1481), italien. Humanist 5 Fischer, Samuel (1859-1934), Verleger 312 Flake, Otto (1880-1963), Schriftsteller 312 Flersheim, Philipp von, Bischof von Speyer (1529-1552) und Gefürsteter Propst von Weißenburg (1546-1552) 36, 36/A. 42 Fontane, Theodor (1819-1898), Schriftsteller 365, 435, 436 Forbach, Wilhelm Graf von, Freiherr von Zweibrücken (1754-1807),

Schwiegervater -»Anton von Cettos 185/A. 19 Franck, James (1882-1964), dt.-amerikan. Physiker 315 Franck, Sebastian (1499-1542(7)), reformater. Schriftsteller, Humanist, Buchdrucker 19 Franz I. Stephan (1708-1765), Kaiser seit 1745 138 Franz Joseph I. (1830-1916), Kaiser von Österreich, Kg. von Ungarn seit 1848 239, 253 Franz Xaver (eigtl. Francisco de Jassu y Javier) S.J. (1506-1552), Apostel Indiens und Japans 52 Freud, Sigmund (1856-1939), Nervenarzt, Begründer der Psychoanalyse 315, 351 Friedeil, Egon (1878-1938), Schriftsteller 312 Friedrich Barbarossa (ca. 1125-1190), Kg. seit 1152, Kaiser seit 1155 77, 78, 78/A. 29, 82, 83, 85, 86, 86/A. 88, 87 Friedrich I., Herzog von Schwaben (1079-1105), Sohn Graf Friedrichs von Büren 79 Friedrich II. (1482-1556), Pfalzgraf, Kfst seit 1544, Bruder -»Kfst Ludwigs V. von der Pfalz 32 Friedrich II. (1712-1786), Kg. von Preußen seit 1740 144 Friedrich III., der Fromme (15151576), Pfalzgraf (1557-1559), Kfst von der Pfalz seit 1559 44, 45 Friedrich V. (1596-1632), Kfst von der Pfalz (1610-1623), der „Winterkönig" (König von Böhmen) (16191621) 55, 57, 60, 66 Frisch, Max (1911-1991), Schriftsteller 435 Frundsberg, Georg I. von (1473-1528), kaiserl. Feldhauptmann 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 20, 25, 26, 27, 28, 30 Frundsberg, Georg II. von (fl586), Enkel -»Georgs I. von Frundsberg 22, 23, 27, 29 Fugger, Johann Jakob (1516-1575) 28 Fugger, Jakob II. (1459-1525), „der Reiche" 11 Fugger, Markus (1529-1597) 28 Gaeschuff, Konrad, „früher" Söldnerunternehmer (vor der FrundsbergZeit) 15

Register Galilei, Galileo (1564-1642), italien. Mathematiker und Philosoph 375 Gallinger, Johann Michael, bay. Hofkammer- und Rechnungskommissar, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 165 Gatterbauer, Michael, bay. Hofmeister und Weltgeistlicher zu Seefeld, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 176/A. 72 Gaulle, Charles de (1890-1970), frz. General und Staatsmann 335 ff Gautsch von Frankenthurn, Paul Freiherr (1851-1918), österr. Staatsmann, Ministerpräsident (1905/06, 1911) in Cisleithanien 242 George, Stefan (1868-1933), Dichter 316 Gertrud, Tochter Kaiser Lothars III. (+1143), Gemahlin -»Heinrichs des Stolzen seit 1127 76, 82, 85 Gide, André (1869-1951), frz. Schriftsteller 351 Goethe, Johann Wolfgang von (17491832), Dichter 13, 434 Götz, Rudolf, Streikführer beim Januarstreik 1918 in München 290 Goldmann, Nahum (1894-1982), Politiker und Schriftsteller 310, 330/A. 57 Goldstein, Moritz (1880-1977), Publizist und Schriftsteller 311 Gohichowski, Agenor Graf (18491921), poln.- österr. Staatsmann, Außenminister von Österreich-Ungarn (1895-1906) 250 Goppel, Alfons (1905-1991), bay. Politiker, Ministerpräsident 406 Gorki, Maxim (1868-1936), russ. Schriftsteller 353 Gournay, Vincent de (1712-1759), frz. Handelsintendant, Vorläufer und Anreger der Physiokraten 200 Gradnauer, Georg (1866-1946), Innenminister der Weimarer Republik im Kabinett Wirth I (MSPD) (1921) 304 Graf, Oskar Maria (1894-1967), Schriftsteller 321, 321/A. 15, 329 Granach, Jessaja Alexander (18901949), Schauspieler 312 Grass, Günter (*1927), Schriftsteller 365, 428

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Gregor XVI. (Bartolomeo Alberto Cappellari), Papst (1831-1846) 204,205 Groll, Gunter (auch: Sebastian Grill) (1914-1982), Film- und Theaterkritiker, Lektor 438 Großmann, Stefan (1875-1935), Dramatiker, Novellen- und Romanautor, Publizist 312 Grotius, Hugo (eigtl. Huigh De Groot) (1583-1645), Jurist, Staatsmann und Historiker 200 Gudden, Bernhard Aloys (1824-1886), Psychiater 425 Gustav II. Adolf (1594-1632), Kg. von Schweden 428 Habe, Hans (eigtl. Hans Békessy) (1911-1977), Publizist und Schriftsteller 320/A. 4, 326, 328, 328/A. 45 u. 49 Haber, Fritz (1868-1934), Nobelpreisträger, Chemiker 303 Hacks, Peter (* 1928), Schriftsteller 351 Hänle, Johann Baptist, Communrichter und Oberbeamter, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 164 Häring, Johann, Magister in Speyer, Domprediger um 1560 38, 42 Hallgarten, Georg Wolfgang (19011975), Schriftsteller, Historiker 331 Handke, Peter (*1942), Schriftsteller 367 Georg Johann I. von Veldenz (15431592), Pfalzgraf von Veldenz, Lauterecken und Lützelstein 38 Hartwig II. von Ortenburg, Bischof von Regensburg (1155-1164) 78 Hauptmann, Gerhart (1862-1946), Dichter 312 Hausenstein, Wilhelm (1882-1957), Kunsthistoriker und Publizist 329 Hauser, Kaspar (ca. 1812-1833), Erbprinz von Baden, Findelkind 432 Hauser, Mathias, bay. Landgerichtssekretär, Verfasser der „Zufälligen Gedanken über das Landeskulturwesen in Baiern" (1787), Oberlandes-Regierungssekretär in Wasserburg (1788) 157, 158, 159 Havemann, Robert (1910-1982), Physikochemiker 357 Hayl, Johann, bay. Hof- und Kammerrat (t 1686) 96/A. 21, 125/A. 120

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Register

Hattstein, Eberhard von, Domherr von Speyer (vor 1560) 38 Hattstein, Marquard von, Bischof von Speyer (1560-1581) 3 4 , 3 5 , 4 2 , 4 4 , 5 3 Heartfield, John (eigtl. Helmut Herzfeld) (1891-1968), Graphiker und Bildpublizist 315 Heimann, Hugo (1859-1951), Verleger, Politiker 304 Hein, Christoph (*1944), Schriftsteller 349, 359, 361, 362, 362/A. 11, 366 Heine, Heinrich (urspr. Harry) (17971856), Dichter 357 Heinrich I., Herzog von Sachsen, Kg. (919-936) 88 Heinrich Jasomirgott ( t l 177), Markgraf seit 1141, Herzog von Bayern seit 1143, Herzog von Österreich seit 1156, Babenberger 76, 82, 85 Heinrich der Löwe (1129-1195), Herzog von Sachsen (1142-1180) und Bayern (1155-1180) 76, 77, 78, 80, 82, 83, 85, 85/A. 87, 86, 86/A. 88, 87, 88 Heinrich X. der Stolze (ca. 1100-1139), Herzog von Bayern (1126-1138) 76, 78, 79, 82, 85 Heinrich III. (1017-1056), röm. Kg. seit 1026, Kaiser seit 1046 75 Heinrich IV. (ca. 1050-1106), röm. Kg. seit 1056, Kaiser seit 1084 76, 80, 85 Heinrich IV., Kg. von Frankreich (1589-1610) 69 Heinrich V. (ca. 1081/1086-1125), röm. Kg. seit 1106, Kaiser seit 1111 79 Heinrich VIII. (1491-1547), Kg. von England seit 1509 28 Helfenstein, Schweikhart Graf von (tl599), Landsberger Pfleger (15741599) 22, 23 Heller, Otto (1897-1945), Schriftsteller, Parteifunktionär 309 Henlein, Konrad (1898-1945), sudetendt. Politiker 237 Heraklit (ca. 550-^80 v. Chr.), Philosoph aus Ephesos 430 Herberstorff, Adam Graf, bay. Statthalter in Oberösterreich (1585-1629) 65/A. 40 Hermann, Georg (Deckname des Schriftstellers Georg Borchardt) (1871-1943), Romancier 313 Hermlin, Stephan (eigtl. Rudolf Leder) (*1915), Schriftsteller

Herzl, Theodor (1860-1904), jüd. Schriftsteller, Begründer des polit. Zionismus 310 Karl Emanuel I. (1562-1630), Herzog von Savoyen seit 1580 62, 70 Heygl, Georg, bay. Hofkammerrat in der Zeit -»Kfst Ferdinand Marias 96/A. 21, 125/A. 120, 126/A. 123 Heym, Stefan (eigtl. Hellmuth Flieg) (*1913) 320/A. 4, 326, 327, 366 Hierneiß, Josef, Ökonomie-Verwalter zu Seefeld und Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 176/A. 72 Hilferding, Rudolf (1877-1941), Politiker 304 Hinntz, Tiroler Kaufmann um 1526 27 Hirscher, Johann Baptist von (17881865) 203, 203/A. 11 Hirschfeld, Magnus (1868-1935), Nervenarzt und Sexualforscher 315 Hitler, Adolf (1889-1945) 234, 236, 237, 317, 338, 344, 345, 346 Hobbes, Thomas (1588-1679), engl. Philosoph 193 Hodann, Max (1894-1946), Sexualreformer 351 Hoegner, Wilhelm (1887-1980), bay. Politiker, Ministerpräsident 321/A. 15, 329, 329/A. 52, 330/A. 56, 331, 331/A. 61, 332, 332/A. 64 u. 65, 333, 333/A. 66 u. 67, 334/A. 68 Hofbauer, Josef (1886-1948), deutschböhmischer Journalist und Romanschriftsteller 237 Hofenfels, Johann Christian Freiherr von (1744-1787), bay. Staatsmann 181

Hohenems, Jakob Hannibal I von (1530-1587), Heerführer 20, 21, 27, 28 Holitscher, Arthur (1869-1941), österr. Schriftsteller 309 Hompesch, Franz Karl Freiherr von (1741-1800), bay. Geheimer Konferenzminister 182 Honecker, Erich (*1912), Politiker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR (1976-1989) 349, 354, 357, 365 Horkheimer, Max (1895-1973), Philosoph und Soziologe 315 Huber, P. Candidus OSB (1747-1813),

Register bay. Naturwissenschaftler, Mönch in Niederaltaich 173, 173/A. 58 u. 59 Humboldt, Alexander Freiherr von (1769-1859), Naturforscher und Geograph 372 Humpis von Ratzenried, Jos, oberschwäbischer Hauptmann und Söldnerführer um 1510 25, 26 Huntington, Ellsworth (1876-1947), amerikan. Geograph 380 Ibsen, Henrik (1828-1906), norweg. Schriftsteller 312 Ickstatt, Johann Adam Freiherr von (1702-1776), bay. Staatsmann und Jurist 136, 137, 137/A. 24, 139, 148 Ignatius von Loyola (1491-1556), Gründer der Gesellschaft Jesu (Jesuiten) 31, 52 Jacobsohn, Siegfried (1881-1926), Journalist, Gründer der „Schaubühne" 312 Jakob I. (1566-1625), Kg. von England seit 1603, als Jakob VI. Kg. von Schottland seit 1567 70 Jens, Walter (*1923), Literaturwissenschaftler, Kritiker und Schriftsteller 350 Jessner, Leopold (1878-1945), Generalintendant des Berliner Staatstheaters, Regisseur 312 Johann Wilhelm (1658-1716), Pfalzgraf von Néuburg, zeitweiliger Kfst von der Pfalz (1708-1714), Herzog von Jülich und Berg (1690-1716) 49 Johnson, Uwe (1934-1984), Schriftsteller 358 Joseph II. (1741-1790), Kaiser seit 1765, Kg. von Ungarn und Böhmen seit 1780 301 Joyce, James (1882-1941), irischer Schriftsteller 354 Juan d' Austria (1547-1578), span. Feldherr und Statthalter 23 Kästner, Erich (1899-1974), Schriftsteller 327, 327/A. 42, 328, 438 Kahr, Gustav Ritter von (1862-1934), Regierungspräsident von Oberbayern (1917-1924), 1923 „Generalstaatskommissar" 285 Kafka, Franz (1883-1924), österr. Schriftsteller 351, 354, 365

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Kaizl, Josef (1854-1901), Nationalökonom und Politiker 216, 251 Kant, Hermann (*1926), Schriftsteller 365 Kant, Immanuel (1724-1804), Philosoph 199, 199/A. 7, 375 Kantorowicz, Alfred (1899-1979), Publizist, Literarhistoriker und Schriftsteller 309 Kapp, Christian (1798-1874), Geograph 372 Kappler, Friedrich, „früher" Söldnerunternehmer (vor der FrundsbergZeit) 15 Karl der Große (ca. 747-814), Kg. der Franken seit 768, Kg. der Langobarden seit 774, Kaiser seit 800 88, 337 Karl Borromäus ( = Borromeo, Carlo Graf) (1538-1584), Kardinal, Erzbischof von Mailand 52 Karl V. (1500-1558), Kg. (1519-1556), als Karl I. Kg. von Spanien (15161556), Kaiser (1530-1556) 34, 337 Karl Albrecht (1697-1745), Kfst von Bayern seit 1726, Kaiser seit 1742 ( = Karl VII.) 132, 134, 135/Α. 17, 141, 142, 151 Karl I. Ludwig (1617-1680), Kfst von der Pfalz seit 1648 49 Karl Theodor (1724-1799), Kfst von der Pfalz seit 1742, von Bayern seit 1777 152, 153, 156, 158, 161, 163, 168 Karl II. August von Zweibrücken (1775-1795), Bruder ^ K f s t Max IV. Joseph 181 Kautsky, Karl (1854-1938), Sozialist. Theoretiker und Politiker 237, 238 Kautz, Gyula (1829-1909), ungar. Nationalökonom 242 Ketteier, Wilhelm Emmanuel Freiherr von (1811-1877), Erzbischof von Mainz seit 1850, 206 Khuen, Jacob, Tiroler Musterkommissär um 1526 27 Kerkápoly, Károly (1824-1891), ungar. Politiker 242, 243 Kesten, Hermann (*1900), Schriftsteller 320/A. 7 Kiesinger, Kurt Georg (1904-1988), Politiker, Bundeskanzler 336 Kircher, Athanasius S.J. (1602-1680), Universalgelehrter, Professor für Ma-

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Register

thematik, Philosophie und oriental. Sprachen in Würzburg 46 Kirchmayr, Albert C. R., Chorherr von Weyarn, Lyzealprofessor, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 165 Kirsch, Sarah (eigtl. Ingrid Bernstein) (* 1935), Schriftstellerin 357 Kisch, Egon Erwin (1885-1948), tschech. Journalist und Schriftsteller 313 Kisch, Paul, Redakteur der Neuen Freien Presse um 1922 234, 235 Kleist, Heinrich von (1777-1811), Schriftsteller 354, 360 Klemperer, Otto (1885-1973), Dirigent 312 Klenze, Franz Karl Leo von (1784— 1864), Baumeister, Maler und Zeichner 405 Klesl (Khlesl), Melchior (1552-1630), Bischof von Wien, Kardinal seit 1615 und Direktor des kaiserlichen Geheimen Rates 57, 58, 59 Koerber, Ernest von (1850-1919), österr. Politiker, Ministerpräsident (1900-1904) 239 ff Körvers, Theodor, Streikführer beim Januarstreik 1918 in München 290 Konrad von Scheyern (Wittelsbach), Erzbischof von Mainz (1161-1165) 82 Konrad III. (1093-1152), Kg. seit 1138 82, 83, 85 Kopernikus, Nikolaus (eigtl. Koppernigk, Kopernik) (1473-1543), Astronom und Mathematiker 375 Kortner, Fritz (1892-1970), österr. Schauspieler und Regisseur 312, 438 Kramár, Karel (1860-1937), tschech. Politiker 216, 228, 250, 253 Kraus, Karl (1874-1936), Schriftsteller 312 Kreisler, Fritz (1875-1962), österr. Violinist und Komponist 312 Kreittmayr, Wiguläus Xaver Aloysius Freiherr von (1705-1790), bay. Staatsmann, Wirklicher Geheimer Rat, Mitglied der Bay. Akademie der Wissenschaften 139, 139/A. 30 Kreutt (Khreit), Johann Baptista, bay. Hofrat in der Zeit -> Kfst Ferdinand

Marias 96/A. 21, 102/A. 34, 125/A. 120, 126/A. 123 Krojanker, Gustav (1891-1945), Journalist, Kaufmann 316 Krumbach, Jörglin von, Söldnerführer um 1520 15 Küner, Wiener Bankier in der Zeit -»Kfst Max III. Joseph 141, 146, 147/A. 54 Kunert, Günter (*1929), Schriftsteller 351, 352, 353, 353/A. 1 u. 2, 354, 355, 355/A. 5, 356, 357, 358, 366 Kunze, Reiner (*1933), Schriftsteller 366 Kurth, Joseph, Gewerkschaftsführer z. Zt. des Januarstreiks 1918 in München 291 Laband, Paul (1838-1918), Staatsrechtler 303 Lambruschini, Raffaele (1788-1873), rei. Denker und Pädagoge 203, 204 Lamennais, Hugues Félicité Robert de (1782-1854), frz. kath. Theologe und Schriftsteller 204, 205, 206 Lamprecht, Karl (1856-1915), Historiker 373 Landauer, Gustav (1870-1919), Schriftsteller und Politiker 310 Landenberg, Christoph I. von (1504— 1546), kaiserl. Hauptmann in den Niederlanden (1543-1546) 28, 29 Landsberg, Otto (1869-1942), Justizminister der Weimarer Republik im Kabinett Scheidemann 1919 304 Láng von Csanakfalva, Ludwig Freiherr (1849-1918), ungar. Politiker, Handelsminister (1902/03) 215 Lange, Horst Wilhelm Ernst Max (1904-1971), Schriftsteller 438 Langenmantel, Andreas Nepomuk von, Patrizier aus Augsburg, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät(1789-1807/08) 167 Leibniz, Gottfried Wilhelm (16461716), Mathematiker und Philosoph 375, 428 Leidl, Joan Baptist, bay. Hofkammerrat z. Zt. -»Kfst Ferdinand Marias 96/A. 21, 104, 107/A. 54, 108/A. 55, 118/A. 92, 125/A. 120, 126/A. 123 Leiningen, Graf Emich IX. von (tl541) 14, 14/A. 12

Register Leo XIII. (Vincenzo Gioacchino Pecci), Papst (1878-1903) 206,207 Leopold IV. (1108-1141), Markgraf seit 1136, Herzog von Bayern seit 1139, Babenberger 82, 85 Leopold V., Erzherzog von Österreich (1586-1632), Bischof von Passau seit 1605, Straßburg 1607, Landesherr von Tirol seit 1625 48 Leopold I. (1640-1705), Kg. von Ungarn seit 1655, Böhmen seit 1656, Kaiser seit 1658 134/A. 11 Lerch, Sonja, geb. Rabinowitz, Teilnehmerin der russischen Revolution (1905) und am Januarstreik 1918 in München 284 Lerchenfeld, Georg K o n r a d Freiherr von (+1689), Kämmerer, Rat und Pfleger zu Stadtamhof seit 1656, Truchseß, Hofrat, Hofoberrichter in München 9 6 / A . 21, 102/A. 34, 108/A. 55 Lichtenberg, Georg Christoph (17421799), Physiker und Schriftsteller 436 Liebermann, Max (1847-1935), Maler u n d Graphiker 303 Lipowsky, Felix Joseph (1764-1844), bay. Jurist u n d Historiker 166, 166/A. 35, 174, 175 Locke, John (1632-1704), engl. Philosoph 193 Lodg(e)man von Auen, Rudolf (1877— 1962), sudetendt. Politiker 228 Loest, Erich (*1926), Schriftsteller 351, 366/A. 15 Löwenfeld, Philipp, Rechtsanwalt 331, 332, 333, 333/A. 67 Lope de Vega ( = Vega Carpio Lope Felix de) (1562-1635), span. Dichter 428 Lorenz, K o n r a d (1903-1989), österr. Verhaltensforscher 432 Lori, Johann Georg (1723-1786), bay. Hofrat, G r ü n d e r der Bay. Akademie der Wissenschaften 81, 82, 83, 84, 84/A. 76, 85 Ludwig IV. der Bayer (ca. 1281/821347), röm. König seit 1314, Kaiser seit 1328 134 Ludwig I. (III.) (1554-1593), Herzog von Württemberg seit 1568 22, 23, 24 Ludwig II. (1502-1532), Pfalzgraf von Zweibrücken (1514-1532) 31

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Ludwig II. (1845-1886), Kg. von Bayern seit 1864 419 ff Ludwig V. der Friedfertige (1478-1544), Kfst von der Pfalz seit 1508 31, 32 Ludwig VI. (1539-1583), Kfst von der Pfalz seit 1576 45 Ludwig XIII. (1601-1643), Kg. von Frankreich seit 1610 69 Ludwig XIV. (1638-1715), Kg. von Frankreich seit 1643 9 1 / A . 3, 420, 421 Ludwig X. (1495-1545), Herzog von Bayern seit 1516 80/A. 50 Ludwig, Emil (urspr. Emil Cohn) (1881-1948), Schweiz. Schriftsteller dt. Herkunft 313, 315 Lukács, Georg (György) (1885-1971), ungar. Literarhistoriker und Philosoph 315 Luxemburg, Rosa (1870-1919), Politikerin 303, 309 Machar, Josef Svatopluk (1864-1942), tschech. Schriftsteller 228 Mändl, Johann Freiherr von (15881666), bay. Hofkammerpräsident, Geheimer Rat, Archivar 95 Mändl, Maximilian Freiherr von, Pflegamtsverweser aus Landsberg am Lech, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 167 Malthus, Thomas Robert (1766-1834), engl. Nationalökonom und Sozialphilosoph 201 M a n n , Erika (1905-1969), Schriftstellerin 320, 323 M a n n , Heinrich (1871-1950), Schriftsteller 312 M a n n , Klaus Heinrich Thomas (19061949), Schriftsteller 320/A. 4 u. 6, 323, 323/A. 20, 324, 324/A. 22 u. 25, 326, 327, 328, 328/A. 47 M a n n , Thomas (1875-1955), Schriftsteller 237, 312, 321/A. 12, 322, 322/A. 19, 323, 323/A. 20, 324, 329 Mansfeld, Graf Ernst II. (1580-1626), Söldnerführer 59, 63, 70 Marcuse, Ludwig (1894-1971), Literaturkritiker, Philosoph und Journalist 320/A. 6 Marek, Ferdinand (1881-[1945] verschollen), österr. Diplomat 226, 227

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Register

Maria von Medici (1573-1642), Königin von Frankreich, Regentin für -.Ludwig XIII. seit 1610 69 Maria Theresia (1717-1780), Erzherzogin, Königin von Böhmen und Ungarn seit 1740 139/A. 30, 144, 241 Maron, Karl (*1903), Innenminister der D D R in den Kabinetten Grotewohl I und II(1955-1958/1958-1963) 362 Maron, Monika (*1941), Schriftstellerin 349, 358, 359, 362, 363, 363/A. 12, 364, 366 Martinitz, Jaroslav Bofita von (tl649), böhm. Staatsmann, Oberstlandhofmeister (1658-1677) 58 Masaryk, Tomââ Garrigue (1850-1937), tschech. Philosoph, Soziologe und Politiker 209, 213, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 230, 231, 232, 234, 235, 236, 238 Matlékovits, Sándor (1842-1925), Ungar. Nationalökonom 242 Matthias (1557-1619), Kaiser seit 1612, zunächst Statthalter in den Niederlanden (1578-1581) 57, 58, 66, 67 Maximilian I. (1573-1651), Herzog seit 1597, Kfst seit 1623 von Bayern 19/A. 31, 50, 55 ff, 77, 93, 94, 96, 98, 100, 101, 102, 114, 114/A. 76 u. 79, 115, 133, 134/A. 11, 142, 146, 146/A. 51, 151 Maximilian I. (1459-1519), röm. König seit 1486, Kaiser seit 1508, Sohn Ks. Friedrichs III. 29, 133/A. 10 Maximilian II. (1527-1576), Kaiser seit 1564, Sohn -»Ks. Ferdinands I. 34, 44 Maximilian II. Joseph (1811-1864), Kg. von Bayern seit 1848 419 Max, Prinz von Baden (eigtl. Maximilian Alexander Friedrich Wilhelm) (1867-1929), Reichskanzler (1918) 229 Maximilian II.) Emanuel (1662-1726), Kfst von Bayern seit 1679 121, 132, 134, 135/A. 17, 141, 151 Max(imilian) III. Joseph (1727-1777), Kfst von Bayern seit 1745 91, 131 ff Max(imilian) IV. Joseph (1756-1825), Kfst (1799-1806), Kg. seit 1806 ( = Max I. Joseph) von Bayern 175 f, 181, 183, 183/A. 10, 184/A. 15, 185/A. 17 u. 19, 190

Medici, Giovanni II. de' (1498-1526), genannt „dalle Bande Nere", Heerführer 14 Meiser, Johann (1855-1918), saarländ. Bergmann 261 Mehner, Lise (1878-1968), österr.schwed. Physikerin 315 de Mendelssohn, Peter (1908-1982), Journalist und Schriftsteller 320/A. 4 Metternich, Adolf Wolf von, Domdekan von Speyer seit 1603 39, 39/A. 57, 50 Metternich, Lothar Friedrich von, Bischof von Speyer (1652-1675), Erzbischof von Mainz (1673-1675), Worms (1673-1675) 49 Metternich, Wilhelm von, Bruder -> Adolf Wolfs von Metternich 39, 39/A. 62 Michler, Theobald, Schriftsetzer, Streikführer im Januarstreik von 1918 in München 293 Mill, James (1773-1836), brit. Philosoph, Historiker und Nationalökonom 201 Miller, Arthur (*1915), amerikan. Dramatiker 435 Minucci, Franz und Ferdinand, Grafen, Mitglieder der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 164, 175/A. 71 Mirabeau, Honoré Gabriel du Riqueti, Graf von (1749-1791), frz. Politiker und Publizist 200 Molière (eigtl. Jean-Baptiste Poquelin) (1622-1673), frz. Dichter, Schauspieler und Theaterleiter 428 Molo, Walter Ritter von (1880-1958), Schriftsteller 323 Moltke, Helmuth (seit 1870) Graf von (1800-1891), preuß. Generalfeldmarschall 263 Montalembert, Charles Forbes, Graf von (1810-1870), frz. Publizist und Politiker 206 Montgelas, Maximilian Freiherr von, (seit 1809) Graf von (1759-1838), bay. Staatsmann 176, 178, 181, 182/A. 7, 185/A. 17, 189, 189/A. 22, 191 Moralt, Josef, Konzertmeister in München, Mitglied der Toerring-See-

Register feld'schen Feldbausozietät (1789— 1807/08) 176/A. 72 Morgner, Irmtraud (1933-1990), Schriftstellerin 363 Morone, Giovanni (1509-1580), Bischof von M o d e n a seit 1529, Nuntius in Deutschland ab 1536, 1542 Kardinal 36/A. 43 Morus, Thomas (eigtl. More) (14781535), engl. Staatsmann und Humanist 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9 Moses, Beatus, Generalvikar in Speyer (1571-1602) 39, 39/A. 64 Müller, Franz Xaver, Eisendreher, Streikführer im Januarstreik von 1918 in München 293 Müller, Heiner (*1929), Schriftsteller 349, 350, 351, 352 Münk, Elie (*1900), Rabbiner in Ansbach (1927-1937) 309 Musil, Robert Edler von (1880-1942), österr. Schriftsteller 351 Napoleon I. (1769-1821), Kaiser der Franzosen (1804-14/15) 182, 183, 259, 338, 345 Napoleon III. (1808-1873), Kaiser der Franzosen (1852-1870) 262 Newton, Sir Isaac (1643-1727), engl. Mathematiker, Physiker und Astronom 375 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844— 1900), Altphilologe u n d Philosoph 427, 434, 435, 436 Nikolaus I., russ. Nikolaj I. Pawlowitsch (1796-1855), Zar seit 1825 205 Oberstein, Andreas von, D o m d e k a n von Speyer ( t l 6 0 3 ) 38, 38/A. 55, 39, 42 Oppenheimer, Franz (1864-1943), Soziologe und Nationalökonom 303 Orsbeck, Johann Hugo von, Bischof von Speyer (1675-1711) 35, 3 9 / A . 63, 42, 49, 53, 53/A. 154 Ortheil, Hanns-Josef (*1951), Schriftsteller 367 Ossietzky, Carl von (1889-1938), Publizist 312 Osterwald, Peter von (1718-1778), weltlicher Direktor des Kurfürstlichen Geistlichen Rats unter ->Kfst Max III. Joseph 148

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Otto (1112-1158), Bischof von Freising seit 1138, mittellat. Geschichtsschreiber 83 Otto von Northeim (tl083), Herzog von Bayern (1061-1070) 75 Otto I. der G r o ß e (912-973), röm. König seit 936, Kaiser seit 962 7 9 / A . 30 Otto I. von Wittelsbach (ca. 1120-1183), Herzog von Bayern seit 1180 75, 75/A. 3, 77, 78, 78/A. 23, 79, 79/A. 30 u. 31, 80, 80/A. 40, 83, 88, 89, 89/A. 110 Otto (1848-1916), König von Bayern (1886-1913), Bruder ->Kg. Ludwigs II. von Bayern 419 Palacky, Frantisek (1798-1876), tschech. Historiker u n d Politiker 209, 210, 211, 212, 212/A. 4, 213, 216, 217, 220, 222, 225, 238 Pallenberg, Max (1877-1934), österr. Schauspieler 312 Pascal, Blaise (1623-1662), frz. Religionsphilosoph, Mathematiker u n d Physiker 428 Peffenhauser, Antoni, Augsburger Plattner um 1570 20, 21, 28 Pföderl, Sebastian, Pfarrer zu Treßling und Meilling, Mitglied der ToerringSeefeld'schen Feldbausozietät (1789— 1807/08) 176/A. 72 Philipp Wilhelm (1576-1598), Bischof von Regensburg (1580-1598), Kardinal seit 1597, Sohn des bay. Herzogs -»Wilhelm V. 39 Philipp II. (1559-1588), Markgraf von Baden-Baden seit 1571 41 Philipp II. (1527-1598), Kg. von Spanien seit 1556, Portugal seit 1580 22 Philipp III. (1578-1621), Kg. von Spanien seit 1598 70 Pius IV. (Giovanni Angelo Medici), Papst (1559-1565) 37 Pius IX. (Giovanni Maria Mastai-Ferretti), Papst (1846-1878) 204, 206 Piaton (427-348/347 v. Chr.), griech. Philosoph 2, 3, 8 Plener, Ernst Freiherr von (1841-1923), österr. Politiker 245/46 Plenzdorf, Ulrich (*1934), Schriftsteller 357, 358 Plinius d. J., ( = Gaius Plinius Caecilius Secundus) (61/62-113), röm. Redner u n d Schriftsteller 4

466

Register

Pliimecke, Johann Christoph, Autor der Briefe auf einer Reise durch Deutschland im Jahr 1791 173/A. 59 Podstatzky-Liechtenstein, Alois Ernst Graf von, österr. Gesandter in Bayern zur Zeit ->Kfst Max III. Joseph (1757) 143/Anm. 44, 144 Polgar, Alfred (urspr. Alfred Polak) (1873-1955), österr. Schriftsteller und Kritiker 312,313 Popall, Gottfried, Streikführer im Januarstreik von 1918 in München 290 Portia, Bartolomeo Graf von (tl578), bedeutendster Reformnuntius in Deutschland unter Gregor XIII. 38, 44/A. 88 Portia, Maximilian Graf von (tl679), Rentmeister von Burghausen, Pfleger von Neuötting seit 1631 125 Präntl, Franz Adam (tl699), bay. Hofrat, Landrichter zu Hirschberg seit 1679, 126/A. 123 Preuß, Hugo (1860-1925), Staats- und Verwaltungsrechtslehrer 304 Quesnay, François (1694-1774), frz. Nationalökonom und Naturrechtsphilosoph, Leibarzt Ludwigs XV. 200, 201 Rahewin von Freising ( t vor 1177), Fortsetzer -»Ottos von Freising, mitteilet. Geschichtsschreiber 83 Rainald von Dassel (ca. 1120-1167), Erzbischof von Köln seit 1159, Reichskanzler unter Kaiser -» Friedrich I. Barbarossa (1156-1159) 83, 83/A. 71 Rathenau, Walther (1867-1922), Industrieller und Politiker 303, 304, 307, 308 Ratzel, Friedrich (1844-1904), Geograph 372, 380, 386 Reck, Johann, Vorsitzender des Arbeiterausschusses, Streikführer im Januarstreik von 1918 in München 290, 295 Reger, Caspar von Ulm, Söldnerführer um 1520 15 Reich, Wilhelm (1897-1957), amerikan. Psychoanalytiker österr.-ungar. Herkunft 315 Reich-Ranicki, Marcel (* 1920), Literaturkritiker polnischer Herkunft 358

Reichenbach, Georg Friedrich von (1771-1826), Mechaniker und Ingenieur 184, 184/A. 16, 186 Reif(f)enstuel, Quirinus (t 1666), Regimentsrat in Straubing (1651), Ratskanzler zu Straubing (1664) 96/A. 21, 118/A. 92 Reinhardt, Max (eigtl. Max Goldmann) (1873-1943), Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter 312 Reisach, Andreas Nepomuk (auch Johann Nepomuk Anton) von (tl793), Hofrat, hzgl. Neuburgische Regierung, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 167 Reißner, Adam (1500-ca. 1572), Dichter geistlicher Lieder, Geschichtsschreiber 14, 30, 30/A. 50 Rembrandt Harmensz van Rijn (1606— 1669), niederländ. Maler 428 Renner, Karl (1870-1950), österr. Politiker 226, 254/A. 48 Ricardo, David (1772-1823), engl. Nationalökonom 201 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Herzog von (1585-1642), frz. Staatsmann, Kardinal seit 1622 428 Richter, Hans Werner (1908-1993), Schriftsteller 438 Riest, Georg, Bräumeister zu Seefeld, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 176/A. 72 Ritter, Carl (1779-1859), Geograph 372 Röchling, Hermann (1872-1955), Industrieller 263, 264 Röchling, Karl (1858-1920), Jurist, Professor in Berlin 272 Roger II. (1095-1154), Kg. von Sizilien seit 1130 80 Rollingen, Heinrich Hartard von, Bischof von Speyer (1711-1719) 42,48, 54 Roon, Albrecht Graf von (1803-1879), preuß. Generalfeldmarschall und Politiker 261 Rosenfeld, Siegfried (1874-1947), Ministerialbeamter, Politiker 324, 325, 325/A. 29 u. 31-33, 326 Rosmini-Serbati, Antonio Graf von (1797-1855), Philosoph, Theologe und polit. Denker 204

Register Rottmanner, Simon (1740-1813), bay. Naturwissenschaftler 161, 161/A. 17, 168 Rousseau, Jean Jacques (1712-1778), frz.-schweiz. Philosoph und Schriftsteller 209 Rudolf II. (1552-1612), Kaiser seit 1576 45, 57 Rumford, Graf (seit 1791) = Sir (seit 1784) Benjamin Thompson (17531814), brit.-amerikan. Physiker, bay. Sozialreformer und Staatsmann 166/A. 33 Ruppersberg, Albert (* 1854), Chronist der Ereignisse von Spichern 271 f Sallust ( = Gaius Sallustius Crispus) (86-34 v. Chr.), röm. Historiker 87 Sattler, Dieter (*1906), Architekt 322/A. 17 Sauter, Gordian, Kemptener Bürgermeister um 1520 27 Scharfseder, Franz Felix, bay. Rentmeister im Oberland unter Kfst Ferdinand Maria 126/A. 123 Schieder, Theodor (1908-1984), Historiker 386 Schlieffen, Alfred Graf von (18331913), preuß. Generalfeldmarschall seit 1911, 344 Schmerling, Anton Ritter von (18051893), österr. Politiker 242 Schmid, Caspar von, Ratsvizekanzler unter ->Kfst Ferdinand Maria von Bayern (1622-1693) 95, 96, 99, 108, 108/A. 55, 115, 127, 128 Schmidt, Michael Ignaz (1736-1794), bay. Historiker, Aufklärer 83, 86, 87 Schmitt, Gerhard, OFMCap, Domprediger in Speyer(1674-1676) 48 Schmitt, Richard, OFMCap, Domprediger in Speyer(1683-1685) 48 Schnabel, Artur (1882-1951), österr. Pianist und Komponist 312 Schneider, Peter (*1939), österr. Dirigent 358 Schneider, Rolf (*1932), Schriftsteller 351 Schnitzler, Arthur (1862-1931), österr. Schriftsteller 312 Schnurre, Wolfdietrich (1920-1989), Schriftsteller 438 Schönberg, Arnold (1874-1951), österr. Komponist 313

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Schönborn, Damian Hugo von, Bischof von Speyer (1719-1743), Konstanz (1722-1743), Kardinal (1713) 49, 51/A. 139, 54 Schönerer, Georg Ritter von (18421921), österr. Politiker 214 Schollenberg und Reutha, Johann Theodor Freiherr: Pseudonym für -»Rottmanner, Simon Schrank, Franz von Paula S.J. (1747— 1835), bay. Naturwissenschaftler, Erzähler 157, 157/A. 6, 168, 174, 174/A. 64 Schroffenberg, Johann (auch: Josef) Conrad IV. von (1743-1803), Fürstbischof von Freising und Regensburg seit 1790, seit 1780 Fürstpropst von Berchtesgaden 164, 164/A. 25, 168, 168/A. 39 Schütz, Heinrich (1585-1672), Komponist 428 Schwarz, Martin, „früher" Söldnerunternehmer (vor der Frundsberg-Zeit) 15 Schwind, Moritz von (1804-1871), Maler und Zeichner 419 Sedlmayr, Johann Friedrich (tl700), bay. Hofkammerrat und Geistlicher Rat seit 1662, Rentmeister von Straubing (1681-1698) 96/A. 21, 102/A. 34, 108/A. 55, 125/A. 120 Seeau, Joseph Anton Graf (1713-1799), Hofintendant 164, 166, 166/A. 32 Seederer, Carl, Saarbrücker Regimentskommandeur des 7. Dragonerregiments 272 Seghers, Anna (eigtl. Netty Reiling) (1900-1983), Schriftstellerin 309, 315 Seinsheim, Joseph Franz Maria Ignaz Graf von (1707-1787), bay. Kämmerer, Geheimer Konferenzminister, Kriegsminister 139 Seipel, Ignaz (1876-1932), österr. Politiker 235 Seliger, Josef (1870-1920), sudetendt. Politiker 226, 232 Seligmann, Aaron (1747-1824), bay. Hofbankier 185, 185/Α. 18, 186 Seneca ( = Lucius Annaeus Seneca d. J.) (4 v. Chr.-65 n. Chr.), röm. Dichter und philosoph. Schriftsteller 433, 435 Sickingen, Franz von (1481-1523), Reichsritter 13, 29

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Register

Shaw, George Bernard (1856-1950), irischer Schriftsteller 312 Schdanow, Andrej Aleksandrowitsch (1896-1948), Sowjet. Politiker 353 Sigismund III. Wasa (1566-1632), Kg. von Polen seit 1587 und Schweden (1592-1600) 70 Smith, Adam (1723-1790), brit. Moralphilosoph und Nationalökonom 200, 201 Sötern, Philipp Christoph von, Bischof von Speyer (1609-1652) 41, 47, 48, 49, 52 Sokrates (470-399 v. Chr.), griech. Philosoph 8, 434 Sophokles (497/496-^06/405 v. Chr.), griech. Tragiker 435 Spee von Langenfeld, Friedrich S.J. (1591-1635), Kirchenlieddichter, Verfasser der „Cautio Criminalis" (1631) gegen den Hexenwahn 46 Spengler, Oswald (1880-1936), Geschichtsphilosoph 429 Stalin, Josef (eigtl. Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili) (1879-1953), Sowjet. Revolutionär und Politiker georg. Herkunft 345 Stehel, Heinrich, Dominikanerprior in Speyer um 1540 34 Stengel, Stephan von (1750-1822), Geheimer Kabinettssekretär, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Promotor der Landeskultur, Leiter der Donaumoosgesellschaft 163, 166/A. 34, 168 Sternheim, Carl (1878-1942), Dramatiker und Erzähler 312 Strauß, Botho (*1944), Schriftsteller 350, 367, 435 Strauß, Franz Josef (1915-1988), Politiker 396 Strelin, Bernhard OPraem, Abt von Windberg (1735-1777) 139 Ströber, Joseph Alois (*ca. 1763), Pflegamtskommissar von Wiesensteig seit 1790, Landrichter/Kastner in Kranzberg (1800-1803), Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 167, 167/A. 38 Stubenrauch, Franz Xaver von (17181793), Wirklicher Geheimer Rat unter - K f s t Max III. Joseph 148, 151

Stumm-Halberg, Karl Ferdinand, Freiherr von (1836-1901), Unternehmer und Politiker 263, 264 Svehla, Antonin (1873-1933), tschechosl. Staatsmann 228 Széll von Duka und Szentgyörgyvölgy, Kálmán (1845-1915), ungar. Politiker 252 Szép, Antonia, Mutter -»Sandor Wekerles 241 Szterényi, Jószef Freiherr von (18611941), ungar. Politiker 244 Taaffe, Eduard Graf (1833-1895), österr. Politiker 213, 214, 215 Talleyrand, Charles Maurice de (17541838), frz. Staatsmann 181, 182, 186/A. 20, 190 Tassilo III. (741-794), Herzog von Bayern (748/49-788) 75,77 Tetzner, Gerti (*1936) 356 Thegan (t nach 947), Chorbischof von Trier, Biograph Ludwigs des Frommen 76, 78 Thieß, Frank (1890-1977), Schriftsteller 322 Thoman, Nicolaus, Pfarrer, Stadtschreiber, Verfasser der Weißenhorner Historie um 1520 15, 19 Thukydides (ca. 460/455-ca. 400 v. Chr.), griech. Geschichtsschreiber 196 Thun-Hohenstein, Franz Graf von (1847-1916), österr. Ministerpräsident (1898/99) 215 Thum, Heinrich Matthias Graf von (1567-1640), Heerführer 60, 73 Tilly, Johan Tsaerclaes, Graf von (1559-1632), Generalissimus des Kaisers und der Liga 25, 72 Tisza, István Graf (1861-1918), ungar. Politiker, Ministerpräsident (19031907 und 1913-1917) 240, 246 Tisza, Kálmán (1830-1902), ungar. Politiker, Ministerpräsident (1875-1890) 240, 240/A. 2, 243 Toerring-Seefeld, Anton Clemens Graf von (1725-1812), bay. Hofkammerpräsident, Oberhofmeister und Vizepräs. der Bay. Akademie der Wissenschaften 155 ff Toerring-Seefeld, Clemens Anton Maria Graf von (1758-1837) 178, 178/A. 81

Register Toller, Ernst (1883-1939), Dramatiker 295, 295/A. 69, 309 Tolstoi, Leo Nikolajewitsch Graf (1828-1910), russ. Dichter 312 Toussaint de la Sarre, Johann Baptist (t ca. 1792), ab 1763 Mitglied der Bay. Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 165 f, 169, 169/A. 44, 172, 175, 175/A. 69 Troller, Georg Stefan (*1921), Journalist 319, 320/A. 6, 326, 327, 328, 328/A. 48 Tucholsky, Kurt (1890-1935), Journalist und Schriftsteller 312, 313 Turgot, Anne Robert Jacques (17271781), frz. Staatsmann und Wirtschaftstheoretiker 200, 201 Turmair, Johannes -> Aventinus

Ulbricht, Walter (1893-1973), Politiker, 1. Sekretär der SED (1953-1971), Vorsitzender des Staatsrats der D D R (1960-1973), Vorsitzender des Nat. Verteidigungsrates (1960-1971) 354, 357, 362 Utzschneider, Joseph von (1763-1840), Bürgermeister von München 168, 183, 184, 189

Vergil ( = Publius Vergilius Maro) (70-19 v. Chr.), röm. Dichter 4 Verrocchio, Andrea del (1435-1488), italien. Bildhauer und Maler 14 Vervaux, Johannes S.J. (1586-1661), Beichtvater Maximilians I., Historiograph 77, 78, 79, 81, 87 Vespucci, Amerigo (1451/1454(?)1512), italien. Seefahrer und Entdekker 2 Vidal de la Blache, Paul (1845-1918), frz. Geograph 380 Vitruv, röm. Baumeister und Architekturtheoretiker des 1. Jh. v. Chr. 6

Wagner, Richard (1813-1883), Komponist 419, 422, 423 Walderdorf, Wilderich von, Dompropst von Speyer, Bischof von Wien ( 1669— 1680) 42

469

Wallenstein, Albrecht von (1583-1634), Herzog zu Friedland, Feldherr und Staatsmann 11, 17, 18, 19, 20, 24, 25, 28, 29, 30, 69, 428 Walser, Martin (*1927), Schriftsteller 358, 359/A. 8 Walter, Bruno (1876-1962), amerikan. Dirigent dt. Herkunft 312 Warken, Nikolaus, Führer der Rechtsschutzbewegung im Jahre 1918 in München 266 Wassermann, Jakob (1873-1934), Schriftsteller 313, 315, 316 Weber, Max (1864-1920), Sozialökonom, Wirtschaftshistoriker und Soziologe 385 Wedel, Botho Graf (1862-1943), Botschafter in Wien (1916-1919) 246 Weichs, Joseph Maria Freiherr von (1756-1819), bay. Landesdirektionsrat, ab 1798 Vizepräsident, ab 1801 Präsident der Oberlandesregierung, Mitglied der Bay. Akademie der Wissenschaften (seit 1795) 168, 168/A. 40, 170/A. 47 Weill, Kurt (1900-1950), Komponist 313 Weißgerber, Katharina ( = Schulze Kathrin, Heldin von Spichern) 276 Wekerle, Sandor (1848-1921), ungar. Politiker 239 ff Weif I. ( = IV.) (1030/40-1101), Herzog von Bayern seit 1070 75, 75/A. 4, 76, 77, 79, 81, 85 Weif II. ( = V.) (ca. 1072/73-1120), Herzog von Bayern seit 1101 79, 81, 82, 85 Weif VI. (1115-1191), Herzog von Spoleto seit 1152, Markgraf von Tuszien 83, 86/A. 93 Wels, Otto (1873-1939), Politiker 323 Werfel, Franz (1890-1945), österr. Schriftsteller 313 Werner, Anton von (1843-1915), Maler und Illustrator 274 Westenrieder, Lorenz Ritter von (17481829), Historiker, bay. Aufklärer 81, 84, 84/A. 76, 85, 86, 87, 88, 89, 131/A. 2, 157, 165/A. 30, 168 Wiedemann, Joseph, Arzt, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 165, 171/A. 50

470

Register

Wiese, Leopold von (1876-1969), Nationalökonom und Soziologe 196, 198 Wilhelm IV. (1493-1550), Herzog von Bayern-München 1503 133/A. 10, 80/A. 50 Wilhelm V. (1548-1626), Herzog von Bayern (1579-1597) 39 Wilhelm I. (1797-1888), Kaiser (18711888) 261, 274 Wilhelm II. (1859-1941), Kaiser (18881918) 253/A. 47, 265, 269, 345 Windberg -»Strelin, Bernhard Winkler, Lorenz, Mechaniker, Wortführer der Streikanhänger bei Krupp in München 1918 292 Winter, Albert, Schreinermeister und Vorstand des USP-Ortsvereins in München 283/A. 23, 284 Winter, Andreas Friedrich von, Landgeometer im Rentamt Landshut, Mitglied der Toerring-Seefeld'schen Feldbausozietät (1789-1807/08) 167 Wirth, Josef Karl (1879-1956), Politiker, Reichskanzler der Weimarer Republik (1921) 304 Witte, Hans de (1583/85-1630), Kaufmann, Finanzier Wallensteins 29 Wolf, Christa (*1929), Schriftstellerin 350, 356, 356/A. 6, 357, 360 Wolff, Christian (1679-1754), Philosoph, Professor der Mathematik und Naturlehre in Halle 137/A. 24 Wolff, Kurt August Paul (1887-1963), Verleger 312 Wolf, Theodor (1868-1943), Verleger, Publizist 303 Wolfganer, Anton, Dekan und Pfarrer

zu Frieding, Mitglied der ToerringSeefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 176/A. 72 Wolfram von Eschenbach (ca. 1170/80ca. 1220), mittelhochdt. Dichter 424 Woolf, Virginia (1882-1941), engl. Schriftstellerin 354 Wust, Peter (1884-1940), Philosoph 266 Wyneken, Gustav (1875-1964), Pädagoge, Schriftsteller 316 Zeilhofen, Wolf Ehrenreich von, bay. Hofoberrichter um 1670 unter -»Kfst Ferdinand Maria 96/A. 21, 126/A. 123 Zeller, Josef, Kaplan bei der Pfarrei Oberalting, Mitglied der ToerringSeefeld'schen Feldbausozietät (17891807/08) 176 Zeller, Tiroler Kaufmann (um 1526) 27 Ziegler, Johann, Vikar in Speyer um 1570 33 Ziegler, Friedrich von (1839-1897), Kabinettssekretär unter -»Kg. Ludwig II. 420 Zimmermann, Dominikus (1685-1766), Baumeister 401 Zola, Emile (1840-1902), frz. Schriftsteller 312 Zuckmayer, Carl (1896-1977), Schriftsteller 322, 322/A. 17 Zweibrücken, Marie Anna Freiin von ( = Ariane de Deuxponts) (17851857) 185/A. 19 Zweig, Arnold (1887-1968), Schriftsteller 310 Zweig, Stefan (1881-1942), österr. Schriftsteller 313