Leibniz zu seinem 300. Geburtstag: Lfg. 6 Leibniz als Historiker [Reprint 2019 ed.] 9783111506234, 9783111139302

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German Pages 85 [92] Year 1951

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LEIBNIZ ALS HISTORIKER
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Leibniz zu seinem 300. Geburtstag: Lfg. 6 Leibniz als Historiker [Reprint 2019 ed.]
 9783111506234, 9783111139302

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LEIBNIZ ALS HISTORIKER VON

WERNER CONZE Denique auslm dicere, nihil tale ad Historiam mediam hactenus prodiisse, in quo tarn multi sunt sublati errores in Imperil rebus per Germaniam, Italiamque, et res in clariore iuce positae. (Aus einer Notiz Leibniz' über seine Annales Imperii, veröffentlicht von Eckhart in Acta Eruditorum 1717.) Historia Divinae providentiae spéculum est Deumque nobis moralitate quadam vestitum exhibet, quatenus non tantum principium rerum ut in Metaphysicis et Mathematicis inventoremque admirabilium machinorum ut in physicis, sed et Mentium Regem in hac Universali Republica sese ostendit.. . Historia naturae sapientiam ejus in condendo universo, Historia vero civilis qua sacram comprehendo voluntatem exuberantissimam ostendere videantur. (Gerhardt, Philosophische Schriften VII, S. 139.)

Die bekannte Äußerung Leibnizens, daß ihn der nicht wirklich kenne, der ihn nur in seinen veröffentlichten Schriften gelesen habe, traf für den Historiker Leibniz lange Zeit in einem besonders hohen Maße zu. Erst nachdem Georg Heinrich Pertz in den Jahren 1843—1846 das historische Hauptwerk, die Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses zum ersten Male gedruckt der Öffentlichkeit bekanntgegeben hatte, konnte die bedeutende Stellung, die Leibniz in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft eingenommen hat, voll gewürdigt werden. Wohl hatte Leibniz wichtige, in seiner Zeit beachtete und anerkannte historische Arbeiten, Quellensammlungen und kleinere Abhandlungen, schon zu seinen Lebzeiten erscheinen lassen: auch war nach seinem Tode im 18. Jahrhundert manches aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden, das von seiner gesciiichtswissenschaftlichen Leistung Zeugnis ablegte 1 . Aber die Annales, denen Leibniz drei Jahrzehnte seines Lebens mühevoll langwierige Arbeit gewidmet hatte und mit denen mittelbar oder unmittelbar fast alles 1 Aufzählung der Titel bei Louis Davillé, Leibniz Historien. Essai sur l'activité et la méthode historiques de Leibniz. Paris 1909, S. VII.

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andere, was er historisch gearbeitet hatte, verbunden gewesen war, waren bis 1843 unbekannt geblieben. Nachdem Pertz den Anstoß gegeben hatte, wurde unsere Kenntnis durch eine Reihe weiterer wichtiger Veröffentlichungen und Neuausgaben im Laufe des 19. Jahrhunderts wesentlich bereichert 2 . Eine Übersicht dessen, was noch darüber hinaus im Nachlaß an Handschriften und Briefen gesichtet und geordnet worden war, wurde durch die Arbeiten Bodemanns allgemein bekannt 3 . Dagegen fehlte lange Zeit eine ausführliche Darstellung und Würdigung des Historikers Leibniz. Franz X. von Wegele ordnete ihn zwar in den Zusammenhang der deutschen Historiographie ein, indem er die genannten Publikationen erstmalig verwertete, ohne aber damit das Problem auch nur annähernd zu erschöpfen 4 . Die erste und einzige große Darstellung gab erst der Franzose Louis Daville in einer über 700 Seiten starken Doktorarbeit 5 . Diese außerordentlich fleißige und materialreiche, freilich nicht überall zuverlässige und in den Zitaten mehrfach fehlerhafte Schrift, die sich auch ausgiebig auf Handschriften und Briefe des Nachlasses in Hannover stützt, hat vor allem im ersten, biographischen Teil das Tatsächliche weitgehend geklärt, so daß darin über Daville im großen und ganzen nicht hinausgegangen zu werden braucht und für alle Einzelheiten auf ihn verwiesen werden kann, soweit nicht Berichtigungen notwendig sind. Wertvoll ist auch der zweite Teil der Arbeit, in dem Daville mit den Begriffen der Historik seiner Zeit und in emsig lückenlos aneinanderreihender Weise Inhalt, Methode und Philosophie der Geschichte bei Leibniz auszubreiten und zu würdigen sucht. Wert und Grenzen der Untersuchung Davilles sind damit angedeutet. Friedrich Meinecke fällt das Urteil, daß Daville Leibnizens geschichtswissenschaftliche Leistung überschätzt habe. In der Tat dürfte es zutreffen, daß er der Gefahr erlegen ist, Leibniz zu einseitig als den großen Historiker zu sehen und ihn als solchen zu überhöhen — eine Gefahr, die nicht nur Kennzeichen einer Anfängerarbeit ist, sondern auch sich immer da leicht einstellen wird, wo eine umfassende Persönlichkeit wie Leibniz nicht aus dem Ganzen, sondern nur in einem Ausschnitt seiner geistigen Leistung betrachtet wird. Sowohl die angedeutete Eigenart des französischen Werks wie die Tatsache, daß es bisher in der deutschen Wissenschaft an einer Darstellung des 2 v o r allem: Die Werke von Leibniz, hrsg. von Onno Klopp. Erste Reihe, Historisch-politische und staatswissenschaftliche Schriften. 11 Bände. Hannover 1864 ff. und die Editionen von Doebner und Bodemann in der Zeitschr. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen 1881, 1882, 1884, 1885, 1888, 1890. 3 Eduard Bodemann, Der Briefwechsel des Gottfr. Wilh. Leibniz, Hannover 1889. Die LeibnizHandschriften, Hannover u. Leipzig 1895. 4 Franz X . von Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. München u. Leipzig 1885, S. 603 ff. 5 Davill6 a. a. O.

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Problems fehlt 6 , wie auch die Kritik Meineckes an Daville dürften es rechtfertigen, daß zu dieser Frage noch einmal das Wort ergriffen wird, wobei die Darstellung durch die nach wie vor grundlegende Arbeit Davilles weitgehend entlastet sein darf. Leibniz kann nicht allein seiner bedeutenden geschichtswissenschaftlichen Arbeit wegen als Historiker bezeichnet werden; er war dies vielmehr seit 1685 in seiner beruflichen Stellung, auf die seine materielle Existenz gegründet war, da er, wenn auch ohne den offiziellen Titel eines Hofhistoriographen, als Hofrat in Hannover mit der Abfassung der Geschichte des Weifenhauses beauftragt war. Wie weit Leibniz selbst die Tätigkeit eines höfischen Historikers als die für ihn in Betracht kommende Grundlage seiner Geltung und Lebenssicherung auffaßte, beweist die Tatsache, daß er in dem wiederholten Bemühen, dem hannoverschen Hof den Rücken zu kehren, mehrfach eine Hofhistoriographenstellung an andern Orten, vor allem Berlin und Wien, gesucht hat. Wenn wir die Frage aus der Enge seiner höfischen Stellung und seines fürstlichen Auftrages herausführen, dann erkennen wir, daß zwar die geschichtlichen Studien im allgemeinen hinter seinen vorwiegenden philosophischen und mathematischen Antrieben zurückstanden, daß aber doch ein elementarer historischer Sinn und eine Freude am Geschichtlichen von früher Jugend an in Leibniz geweckt wurde, lebendig blieb und ihn sein Leben hindurch nicht verlassen hat. So begann der „Historiker" Leibniz nicht erst mit dem Plan der Weifengeschichte, sondern entwickelte sich in bedeutsamen Vorstufen späterer Vollendung bereits in Leipzig, Jena, Mainz und Paris. In der Schulzeit schon drang der junge Leibniz, indem er durch die lateinische Sprache „eine gewisse Färbung nicht nur des Ausdrucks, sondern auch der Gedanken von dien Alten angenommen hatte" 7 , zu den antiken Historikern vor. Die ersten, offenbar nachhaltigsten Eindrücke des Geschichtlichen prägten sidi ihm durch Livius und die Chronologie des Sethus Calvisius (1605) ein. Es folgten fast alle antiken Historiker, die nach dem Katechismus und Arnos Comenius als das erste und — da es selbständig gegen den Widerstand der hemmenden Schule angeeignet worden war — zunächst entscheidende Bildungselement des Schülers angesehen werden müssen. Dieser so früh und intensiv geweckte Sinn für die Geschichte blieb im jungen Leibniz in der folgenden Zeit der ausgehenden Schuljahre und des 0 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2. Aufl. München 1946, S. 27 ff. versucht in einem knappen Kapitel Leibniz als einen der „Vorbereiter" des Historismus zu würdigen. Hingewiesen sei auch auf die kleine Schrift (Vortrag) von Max Ettlinger, Leibniz als Geschichtsphilosoph, München 1921. » G. E. Guhrauer, Gottfr. Wilh. Frh. v. Leibnitz. Eine Biographie. Berlin 1846, I, S. 14.

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Studiums aufgehoben, während der es ihm um die Auseinandersetzung mit der überlieferten theoretischen Philosophie, vor allem um das System der Logik ging. Sein Streben, in den Fragen des christlichen Glaubens nicht traditionell eine scholastische Überlieferung mit der gelehrten Theologie der Augsburger Konfession zu verbinden, wie es dem Leipziger Bürgersohn gemäß gewesen wäre, sondern alle ihm verfügbaren Hauptschriften der verschiedenen Richtungen zu prüfen, ferner die in seinem Pacidius-Fragment in die Studentenzeit hineingelegte Erkenntnis, „daß es keinem Jahrhundert an großen Männern f e h l t e " 8 , woraus die Konsequenzen für Leben und Wissenschaft gezogen wurden, dürfen als bezeichnende Hinweise für den früh in ihm angelegten und entwickelten historischen Sinn gedeutet werden. So wenig auch jähe Wendungen der geistigen Entwicklung in Leibnizens Wesen lagen und so eindrücklich er durch die Tradition von Glauben und Wissen geprägt wurde, wie sie ihm auf der Schule und Universität vermittelt wurde, so ist doch damit nicht das Entscheidende für unsere Frage ausgesagt. Vielmehr stand er von vornherein offenbar sehr lebendig in der seit dem Ende des großen Krieges auch in Deutschland sich durchsetzenden Zeitströmung, die gegen die Schranken der Überlieferung in Philosophie und Theologie sich wendete, so zu einer Relativierung antiker und christlicher Autoritäten zu gelangen und mit einem neuen Selbstgefühl eigener geistiger Leistung sich zu erfüllen begann. Damit aber waren die Voraussetzungen für ein neues Geschichtsbewußtsein gegeben, das sich auf die Geschichtswissenschaft auswirken mußte, wie es dann in der Tätigkeit Leibnizens als Historiker in besonderem Maße deutlich werden sollte. Schon als Student hat Leibniz unmittelbar historisch gearbeitet. Das galt vor allem für das Studium des Römischen Rechts auf der Grundlage seiner geschichtlichen Quellen. Leibniz suchte neben der philosophischen auch eine geschichtliche Grundlage für sein juristisches Studium zu gewinnen. Vor allem scheint er in seinem Jenaer Semester bei Bose mit nachwirkendem Eindruck Geschichte studiert zu haben 9 . Eine gute Vorstellung von dem Umfang der Beschäftigung des Studenten mit der Geschichte und der Kenntnis, die er sich erworben hatte, vermittelt die Ende 1667 verfaßte, Anfang 1668 dem Kurfürsten von Mainz überreichte Schrift „Methodus nova discendae docendaeque Jurisprudentiae" 1 0 . Darin wies Leibniz der Geschichte eine zentrale Stellung als Hilfswissenschaft für das Studium der Rechtswissenschaft zu. Nach dem Beispiel der Theologie teilte er diese in die „eigentlichen" und „praktischen" Teile der pars didactica seu positiva und der pars polemica seu controversaria ebenda, S. 29. » Über Bose und seinen kaum greifbaren Einfluß aui Leibniz s. Daville S. 5 ff., ferner den Brief Leibniz an Bose vom 25. 9. (5.10.) 1669, Ak. Ausg. 1,1 S. 78, den Daville nicht kennt. 10 L. Dutens, Gothofredi Guilelmi Leibnitii . . . Opera omnia IV, 3, 163 ff. 8

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einerseits, der Forschung und Theorie der pars historica und pars exegetica andererseits. Bemerkenswerter als diese Gliederung ist die umfassende Übersicht, die Leibniz der pars historica widmete. Neben die Historia interna der Jurisprudenz, die es mit der Entwicklung des Rechts bei den verschiedenen Völkern und mit den unmittelbaren Rechtsquellen zu tun habe, stellte er die Historia externa, die eigentliche Geschichte, deren Kenntnis für den Juristen unentbehrlich sei, und wertete sie von ihrem Nutzen aus, den sie J e r Rechtswissenschaft bringe. Demgemäß stellte er vier Hauptteile der Geschichte fest: die römische Geschichte zur Kenntnis des Bürgerlichen Rechts, die Kiichengeschichte für das Kanonische Recht, die Geschichte des Mittelalters (Historia rerum Germanicarum seu medii aevi) 1 1 für das Lehensrecht und die Geschichte der Gegenwart (Historia hodierna) für das öffentliche Recht. Zu dieser Zeitgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts empfahl er als besonders wichtigen Abschnitt die Geschichte der irenischen Bewegung seit Erasmus zur Über.windung der Glaubensspaltung. Für alle vier Teile der Geschichte gab Leibniz eine dem Stande seiner Zeit gemäße Aufzählung der wesentlichsten Quellen und der Literatur, aus denen hervorgeht, daß ihm der Gesamtumfang der Geschichtswissenschaft, keineswegs nur der Rechtsgeschichte im engeren Sinne, geläufig war, wenn er auch selbst die Mehrzahl der angeführten Schriften und Quellen nicht oder nur flüchtig gelesen haben dürfte. Kann es sich bei der Spannweite dessen, was Leibniz in dieser Schrift ausbreitete, auch noch nicht um eine volle innere Aneignung gehandelt haben, so hatte er damit doch die Geschichte und die Geschichtswissenschaft in seine geistige Welt einbezogen. So ist es nicht zu verwundern, daß wir in der frühen Zeit um 1670 mehrfach brieflichen Äußerungen begegnen, die auf gute Kenntnis und Anteilnahme am Fortgang der historischen Wissenschaft und auf eigene Beschäftigung mit ihren Problemen schließen lassen 1 2 . Die Frage, wie die Geschichte für die Rechtswissenschaft fruchtbar gemacht werden könne, hat Leibniz auch nach 1667 weiter bewegt. In einem Brief an den Juristen Reinhard Blum in Heidelberg ist von dem Plan einer Geschichte des Kanonischen Rechts die Rede. Hierfür sei es unerläßlich, den geschichtlichen Hintergründen nachzuspüren, die im einzelnen zu den Satzungen des Kirchenrechts geführt hätten. Man dürfe nicht bei der Historia isagogica stehen bleiben, sondern müsse sich der Historia intima zuwenden, aus der die geschichtliche Bedingtheit der Gesetzgebung deutlich werde. Dabei ging Leibniz schon, da er 1 1 D e r B e g r i f f m e d i u m a e v u m w a r 1667 d u r c h a u s n o c h n i c h t a l l g e m e i n ü b l i c h . L e i b n i z verw e n d e t d a m i t e i n e n e u e h i s t o r i s c h e P e r i o d i s i e r u n g , die e r m ö g l i c h e r w e i s e v o n B o s e ü b e r n o m m e n h a b e n m a g , s. u n t e n S . 73. 12 I m e i n z e l n e n D a v i l l e S . 9—18. V o r a l l e m B r i e f e a n B o s e , s. o. A n m . 9 u n d 9./19. 4.1670, A . A . 1,1, S . 92 f . ; a n L ö f f l e r v o m 25.9. (5.10.) 1669, A. A. 1,1, S . 77; a n J G. G r a e v i u s v o m 6./16. 4. 1670, A. A. 1,1, S . 88 S.

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offensichtlich vom Reiz dieser „intimen", hintergründigen Geschichte gepackt ist, über das bloß Nützliche für die Jurisprudenz hinaus und sprach von der Lust (voluptas), „in Procopio et A g a t h i a . . . intueri, quam frivolae saepe causae Justinianum ad novandum impulerint" 1 3 . Sehen wir hier also die Geschichte bei Leibniz zunächst vorwiegend in ihrer Beziehung zur Rechtswissenschaft, so trat in den folgenden Jahren der Gemeinschaft mit Johann Christian v. Boineburg die Geschichte in den Dienst der Politik. Diese Mainzer Zeit (1668—1672) brachte für Leibniz die endgültige Befreiung aus der Enge seiner Vaterstadt und der gelehrten Schultradition, damit aber den entscheidenden geschichtlichen Anschauungsunterricht in der unmittelbaren Berührung mit der großen Politik unter der Leitung des erfahrenen älteren Freundes. Die Anregungen, die er hier erfuhr, führten zu einer Steigerung zeitgeschichtlicher und mittelalterlicher Studien um der zweckbestimmten Anwendung im Sinne der Pläne Boineburgs willen. Das gilt vor allem für seine Arbeiten zur Schrift über die polnische Königswahl 1 4 , zum „Bedenken" über die Sekurität des Reichs 1 5 , für die Schriften zum „Ägyptischen P l a n " 1 6 und kleinere Abhandlungen aus dieser Zeit 1 7 . Entsprechend den weit über die bloße Staatenpolitik hinausgehenden, den großen Zusammenhang der politischen, geistigen und religiösen Verfassung der Zeit in ihrer Fragwürdigkeit umfassenden Absichten Boineburgs und Leibniz' blieb es nicht bei den historisch-politischen Studien dieser Art. Leibniz suchte darüber hinaus den Nutzen der Geschichte in seinen frühen Akademieplänen und in seinen theologischen Rechtfertigungsversuchen gegen den Atheismus. In seinem „Bedencken von aufrichtung einer Academie oder Societät in Teutschland" gab er als Grundlage und zur Nutzanwendung für die Deutschen eine vergleichende Übersicht zur Wissenschaftsgeschichte der europäischen Völker 1 8 . Daneben standen Pläne zur Historia litteraria 1 9 , zur Kirchengeschichte und die Forderung nach historisch fundierter Bibelkritik, um dem christlichen Glauben von da aus eine sichere Stütze gegen seine Feinde zu geben 2 0 . Neben all solcher 1 3 A.A. 1,1, S. 82 f. Dort auch: „Porro esset haec historia Canonum rationalis seu Historia rationum, cur illud J u s Ecclesiasticum introductum Sit." 1 4 Specimen demonstrationum Politicarum pro eligendo rege Polonorum, novo scribendi genere ad claram certitudinem exactum, auctore Georgio Vlicovio Lithuano. Vilnae 1659 (Druckfehler statt 1669). A. A. IV, 1, S. 1 ff. is Bedencken welchergestalt Securitas Publica interna et externa und Status praesens im Reich jetzigen Umbständen nach auf festen Fuß zu stellen. 1670. A. A. IV, S. 133 ff. 1 6 A. A. IV, 1, S. 215 ff. Abschließend zur Klärung der Frage des Ägyptischen Plans Paul Ritter, Leibniz' Ägyptischer Plan. Darmstadt 1930.

" Davillg S. 11. « A. A. IV, 1, S. 543 ff. 1 8 s. unten S. 40. 2» s. unten S. 40.

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„Zweckgerichtetheit des jungen Leibniz" 2 1 stand jedoch auch schon eine zweckfreie Anteilnahme an geschichtswissenschaftlichen Fragen, besonders der Mediävistik 2 2 . In den Pariser Jahren (1672—1676) stand die Geschichte weit hinter seinen philosophisch-mathematischen Arbeiten zurück. Und doch wurde Leibniz auch als Historiker in der französischen Hauptstadt nachhaltig angeregt und gefördert 2 3 . Dem Reiz der Bibliotheken und historisch-politischer Dokumente hat er sich ausgiebig hingegeben. Daß ihn dies gerade in der großen europäischen Metropole mit all ihrer Vielfalt der Anregungen und mitten in seinen philosophischen Bemühungen nicht losließ und daß er ohne äußeren Anlaß oder unmittelbare Nutzanwendung die Geschichte durch Quellen auf sich wirken ließ, das weist besonders eindringlich auf seine ursprüngliche histor rische Neigung hin, der er von seinen knabenhaften Liviusstudien bis zum Tode immer wieder verfallen ist. In Paris war es zunächst nichts weiter als die Freude am Aufsuchen historischer Quellen, der Drang, die Schätze kennenzulernen, die sich ihm in der Bibliothek Henri Justels, des königlichen Rats und Sekretärs, des Sammlers und Diplomatikers, vor allem aber in der königlichen Bibliothek selbst erschlossen. Leibniz fertigte sich dort ausfühiliche Abschriften an, wobei das Interesse ihn unmittelbar zur Geschichte seiner Zeit führte. So hat er in Paris wohl einen ähnlich fruchtbaren Einblick in die wirkliche große Geschichte getan, der ihm in der persönlichen Berührung mit Beteiligten und der Einsicht in die Staatsakten der jüngsten Vergangenheit zuteil wurde, wie anderthalb Jahrhunderte später der junge Ranke durch seine nahe Beziehung zu Friedrich Gentz. Das war eine politisch-historische Schule von europäischer Weite, die über die Erfahrung der Mainzer Jahre und das historische Reichsrecht weit hinausführen mußte. Die Durchsicht der Memoiren, Instruktionen und Relationen der Zeit von Franz I. bis zu Ludwig XIII. weckte in ihm den Gedanken historischer Gestaltung: „were eine gute materie, eine wahrhaffte historie zu schreiben" 2 4 . Hat er zwar auch in dieser Richtung nicht ernsthaft begonnen und ließ er es bei seinen Exzerpten bewenden, da ihm vordringlichere Absichten die Zeit zur Historie nicht ließen, so müssen doch die Eindrücke der Pariser Jahre für die Entfaltung seines politisch-historischen Weltbildes und seiner geschichtlichen Kenntnis als bedeutsam gewertet werden 2 5 . 2 1 Erich Hochstetter, Zu Leibniz' Gedächtnis. Einleitung zu unserm Sammelwerk. Berlin 1948, S. 4.

Davill6 S. 15 ff. M Einzelangaben bei Daville S. 18 ff. 24 Brief an den Kurfürsten Johann Philipp von Mainz vom 20.12. 1672. A. A. 1,1, S. 298. 25 Uber nicht ausgeführte historiographische Pläne zur Geschichte seiner Zeit s. DavillS S. 25.

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Nicht Neigung, sondern Sorge um seinen Lebensunterhalt trieb Leibniz endgültig im Jahre 1676 an den Hof von Hannover, wo er alsbald als Hauptauftrag die Darstellung der Weifengeschichte übernehmen und damit offiziell zum Historiker werden sollte. Daß er in soldiem Beruf des höfischen Historiographen, wie er jener Epoche fürstlicher Werterhöhung entsprach, eine mögliche Lebensstellung sah, die ihm materielle Sicherheit, Befiiedigung des Geltungsbedürfnisses und trotz daraus entspringender Gebundenheit das „cum dignitate otium" 2 6 bringen konnte, zeigen seine Bemühungen um die Stelle des Hof historiographen am kaiserlichen Hof 2 7 , die der hannoverschen Notlösung vorausgingen. In der kurzen Zeit bis zum Tode Johann Friedrichs (1679) stand die Geschichtswissenschaft für Leibniz weder auftragsgemäß noch aus eigenem Antrieb inj Vordergrund. E r bemühte sich freilich um das ihn stets anziehende Archivwesen, dessen Bedeutung für die Staatspolitik er betonte und dessen Leitung für den Gesamtstaat er zu übernehmen wünschte. Die bedeutendste politisch-historische Schrift dieser Zeit ist der „Caesarinus Furstenerius" 2 8 , die aber ebensowenig wie die früheren Abhandlungen als das Werk eines eigentlichen Historikers, sondern als politische Tendenzschrift gemeint war, so daß darin die rechtsgeschichtlichen Deduktionen zwar eine ausgebreitete Kenntnis des bereits gut erfahrenen Hofrats verraten, aber durchaus in die politische Absicht hineingepreßt erscheinen. Neben den mit dieser Arbeit verbundenen historischen, im besonderen auch genealogischen Studien 2 9 weisen auch die erhaltenen Briefe dieser Jahre, vor allem an Conring, Huet und Eisenhart 3 0 , in denen historisch-kritische Fragen der „fides histórica" behandelt werden, darauf hin, daß Leibniz der Geschichtswissenschaft zugewandt blieb. Die entscheidende Wendung in der Tätigkeit Leibniz' als Historiker erfolgte aber erst nach dem Regierungsantritt Ernst Augusts, als der Plan der Weifengeschichte auftauchte. Den mit diesem Thema verbundenen Fragen hatte Leibniz schon vorher nicht ganz fern gestanden. Vor dem Thronwechsel war er freilich mit einer solchen Absicht noch nicht hervorgetreten, und es liegen keine Anzeichen dafür vor, daß er sich zu einer solchen umfangreichen, zeitraubenden Arbeit besonders hingezogen gefühlt hätte. Aber einer Kernfrage der Weifengeschichte war er doch schon aus eigenem Antrieb nachgegangen: Hochstetter, Einleitung, S. 15 und 32. « Davillé S. 26. 2 8 Caesarini Furstenerii tractatus de Jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae. Klopp, Werke IV, S. 1 ff. '» Davillé S. 47 ff. 30 Davillé S. 35 f. M

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der Ursprungsfrage des welfischen Hauses. Schon im „Caesarinus Furstenerius" hatte er alle fabelhaften Konstruktionen zur weifischen Genealogie abgelehnt und hatte zunächst einmal als historisch sicher in Azzo von Este den gemeinsamen Ahnherrn der beiden Häuser der Weifen und der Este erkannt 3 1 . Alsbald arbeitete Leibniz mit Wissen und im Auftrag Johann Friedrichs archivalisch an Fragen der mittelalterlichen Geschichte, die das Weifenhaus angingen. E r trat mit dem Schweizer Benediktiner Bucelin in Verbindung. Dieser hatte im Jahre 1669 Johann Friedrich eine Schrift gewidmet 32 , in der er über Azzo hinausgehend den Stammbaum der Weifen bis zu einem Verwandten Julius Caesars geführt hatte. Bucelin antwortete Leibniz auf seine Anfrage, indem er auf seine Germania topo-chrono-stemmatographica verwies, in der alles klar bewiesen sei 3 3 . Leibniz antwortete (undatiert, wohl im Juni 1681) auffallend spät 3 4 , da er durch andere Arbeiten abgehalten worden sei, daß er durch die Germania nicht überzeugt worden sei und nicht gefunden habe, was er suche. Über solche Abwehr und gewisse kritische Verknüpfungen gelangte Leibniz zunächst nicht hinaus. Auch eine Anfrage bei Justel blieb ohne Erfolg 3 5 . Gleichzeitig beschäftigte sich Leibniz ergebnisreicher mit der Genealogie der weiblichen Linien der älteren Weifen im Archiv zu Hannover 3 6 . So waren wichtige Vorarbeiten, die für die europäische Geltung und die ehrgeizige Politik des aufstrebenden Weifenhauses nicht ohne Bedeutung waren, bereits im Gange, als Leibniz in der veränderten, für ihn ungünstiger gewordenen Lage unter dem neuen Herrscher den Plan faßte, die Bearbeitung der Weifengeschichte zu benutzen, um seine Stellung zu halten und neu zu festigen. Die erste Andeutung hierzu findet sich in einem Konzept Leibnizens, dessen Inhalt anscheinend für den Minister Franz Ernst von Platen bestimmt war (Ende Januar 1680). Darin führte Leibniz eine lange Reihe nützlicher, und wie er annehmen durfte, dem neuen Herzog angenehmer Vorschläge auf. Im Punkt 11 hieß es: „So were auch nöthig abzufaßen eine kurze aber gründtliche Histori dieses fürstlichen Hauses, welche überall mit genügsamen documenten zu bestercken. Absonderlich aber weren alle Dinge so sich in diesem seculo bey dem fürstl. Hause begeben, soviel müglich genau zu untersuchen, und zu beschreiben; und absonderlich bey denen novissimis zu insistiren welche sich von Herzog Georgens der iezigen Regirenden Fürsten 3» Davill6 S. 46. 3 2 Serenissimorum Potentissimorumque Brunsvicensium atque Luneburgici Ducum Principum altissima et probatissima . . . deductio. Davill§ S. 47. 8 3 Bucelin an Leibniz vom 8. 3. 1680, A. A. I, 3, S. 359. 3« A. A. I, 3, S. 487 f. 35 A. A. I, 3, S. 372 und 409 (Briefe Justels an Leibniz vom 15. 4. und 12. 7.1680). i» Davill6 S. 50 f.

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Herrn Vaters todt an begeben; welches alles dann aus den Geheimen Rathsprotocollen, instructionen, relationen, und dergleichen zu nehmen" 3 7 . Kurz darauf wandte er sich mit dem gleichen Projekt an Ernst August unmittelbar 3 8 . Die Verdienste, die er sich durch seine genealogischen Studien und durch die „Personalia" des verstorbenen Herzogs Johann Friedrich 3 9 erworben hatte, durften ihn auf die fürstliche Geneigtheit gegenüber seinem Vorhaben hoffen lassen. P o c h blieb die Frage zunächst unentschieden 40 . Andere Aufgaben traten an die Stelle, vor allem die für Leibniz so unerfreulich endenden Versuche der Wasserregulierung in den Bergwerken des Harzes. Nach dem Scheitern dieser Unternehmung bot sich noch einmal und endgültig der rettende Plan der Weifengeschichte, mit der Leibniz durch Erlaß vom 10. 8. 1685 beauftragt wurde. Ernst August stellte ihm darin die Aufgabe, „die historiam unseres Fürstlichen Hauses, dessen uhrsprung und ankunfft biß auf jetzige Zeit auszuarbeiten und zu beschreiben, und darin seinen fleiß und beywohnende wißenschaften anzuwenden". Gleichzeitig wurde das Dienstverhältnis mit Rang und Titel eines Hofrats verlängert, Besoldung ad vitam zugesagt und die Anstellung eines Schreibers zugestanden 41 . Im gleichen Jahre 1685 war der neue Welfenhistoriograph bereits hervorgetreten durch den Neudrude der Personalien (Funeralien) des Herzogs Johann Friedrich sowie durch eine kleine Schrift „De la grandeur de la Serenissime Maison de Bronsvic-Lunebourg", die schon mit den Plänen zur Erringung der Kurwürde und den Ansprüchen auf Lauenburg in Verbindung stand 4 4 . Darin wurden die vorläufigen Ergebnisse der genealogischen Forschung bereits verwertet. Doch nicht in solchen Gelegenheitsschriften für die Glorie seines fürstlichen Hauses und auch nicht in der Darstellung dessen, „so sich in diesem seculo bey dem fürstlichen Hause begeben", wie Leibniz selbst es als Ziel aufgestellt hatte, erschöpfte sich seine Tätigkeit als Historiker. Statt eines solchen leichteren Weges begann er seit dem Ausgang des Jahres 1685 mit der bis zu seinem Lebensende nicht unterbrochenen Arbeit an dem großen Geschichtswerk, das ihm zwar oft genug als harte Plage und als Sisyphusfels erschien 4 8 , das ihm aber gleichwohl stets mehr bedeutet hat als ein lästiger Auftrag, A. A. I, 3, S. 20. A. A. I, 3, S. 31 f. 3» Klopp, Werke, IV, S. 497 ff. *> Die Angabe in der Allg. Dt. Biogr. 18, S. 184, daß Leibniz im April 1680 vom Herzog den Auftrag erhalten habe, „die Geschichte des welflschen Hauses zu schreiben und besonders die Genealogie desselben zu erforschen", wird von Davill6 übernommen, ist aber nicht zu belegen. «i Klopp V, S. XLI. 4= Klopp VI, S. X L I X und 245 ff., Daville, S. 51 f. «3 DavillS S. 45. 37

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dessen er sich auf gefälligere, der Eitelkeit seiner Fürsten angemessenere Weise hätte entledigen können. Ihm ging es vielmehr von vornherein um einen Dienst an der historischen Wahrheit, um eine Teilnahme am Fortschritt der europäischen Geschichtswissenschaft mit den Mitteln strenger Quellenkritik 4 4 , und er unterstellte seinem fürstlichen Auftrageber eine gleiche Einstellung 4 5 . An Stelle einer ausführlichen Wiedergabe der Entwicklung der Leibnizschen Annalen von 1685 bis 1716 sei für alle Einzelheiten ein für allemal auf Daville verwiesen, der alles Verfügbare ausführlich zusammengetragen hat 4 8 . Leibniz begann — zunächst vor allem beschäftigt mit den genealogischen Ursprungsfragen — mit einem umfangreichen Briefwechsel mit Historikern aus Deutschland, Frankreich und Italien, von denen er Aufklärung oder Hinweise erhoffte, u. a. besonders mit du Cange, Mabillon, Sagittarius, Spener, Papebroch, Meibom, Magliabechi, Gamberti. Auf diesem Wege gelangte er jedoch nicht zu weiterweisenden Ergebnissen. Daneben begann er mit der Sammlung von Quellen. Doch die Einsicht, daß er von Hannover aus nicht vorankommen könne und das Streben, „ab ovo anzufangen und selbst nach einem rechten Grund zu trachten" 4 7 , führte im Oktober 1687 zur großen Archivreise in bayrische und schwäbische Klöster, nach München, Wien und vor allem nach Italien. Zunächst stellte er in München aus der Handschrift des bayrischen Humanisten und Historikers Aventin fest, woher dieser bei der Besprechung der Herkunft des Hauses Braunschweig die Bezeichnung „Astenses" übernommen hatte, und fand dann in der Quelle Aventins, einer Handschrift der Weingartener Chronik im Kloster St. Udalrich und St. Afra in Augsburg, „Estenses" statt „Astenses". Damit besaß er den ersten schlüssigen Hinweis auf die gemeinsame Herkunft der Häuser Braunschweig und Este, an der seinem fürstlichen Auftraggeber wesentlich gelegen war. Nadi diesem ersten Erfolg ging Leibniz nach Wien, dann weiter nach Venedig und Rom, auf der Rückreise dann nach Bologna, Modena, Ferrara zum Kloster Vangadizza bei Rovigo, schließlich über Parma, Venedig, Padua im Sommer 1690 nach Hannover zurück. Im Kloster Vangadizza gelang ihm die wichtige Entdeckung von Belege bei Daville, S. 60 f. « Leibniz an Phil. Jak. Spener Anfang 1686: „Qui nudam veritatem quam plctas fabulas mavult." Bodemann, Briefwechsel S. 305. « Daville S. 54—333. Bericht über die Erfolge der Reise nach Süddeutschland und Italien für die Welflsche Geschichte, Pertz, Leibnizens Gesammelte Werke 1,4, S. 256. Uber die Reise im Einzelnen Hochstetter, Einleitung S. 44—59. M

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Azzos Vater. Die „connexion des maisons de Brunsvic et d'Este" war historisch durch die Ergebnisse seiner Reise erwiesen. Leibniz hatte entdeckt und nachgewiesen, daß der Markgraf Azzo ein Este und daß seine in Vangadizza begrabene Frau Kunigunde eine Weifin gewesen war. Ihr Sohn „Guelfus dux Bavariae autor stirpis Brunsvicensis" war auf dem Epitaph des Klostersgenannt. Ferner war Leibniz die Feststellung des Namens von Azzos Vater sowie von weiteren bisher gar nicht oder fehlerhaft bekannten Daten über die Verwandten Azzos geglückt. Leibniz begnügte sich mit diesen Feststellungen jedoch nicht, sondern hat nach 1690 in umfangreichen Briefwechseln die Frage der Vorfahren Azzos weiter zu klären gesucht, seit 1709 vor allem in Gemeinschaft mit Muratori. Nach seiner Rückkehr begann Leibniz sofort mit der Arbeit und trat alsbald mit mehreren Programmentwürfen seines beabsichtigten Werkes hervor* Im ganzen liegen aus diesen Jahren sechs Niederschriften vor, in denen e r für sich selbst oder für den Herzog Umfang und Inhalt seiner Arbeit festzulegen versuchte. Es ist lohnend, kurz bei diesen Entwürfen zu verweilen, weil aus ihnen Ansatz und Eigenart der Leibnizschen Geschichtsschreibung am deutlichsten zu erkennen sind. Zunächst waren es drei Niederschriften: 1. Ein kurzer Entwurf in lateinischer Sprache, der von Pertz mit der Überschrift „Brevis synopsis historiae Guelficae" versehen wurde, aus der zweiten Hälfte des Jahres 1690 4 8 . 2. Kurz darauf, wohl noch ins Jahr 1690 fallend, ein gleichfalls lateinisch geschriebenes Konzept 4 9 . 3. Ein deutsch geschriebenes Programm, Anfang 1691, das für den Herzog bestimmt war 5 0 . Diese drei Schriftstücke gehören eng zusammen, weil sie noch den ursprünglichen Plan wiedergeben, nach dem die Weifengeschichte bis zur Gegenwart herangeführt werden sollte. Doch während die „Synopsis" die Zeit nach 1235 noch recht ausführlich behandelt •— freilich nur mit rein dynastisch bestimmten Gesichtspunkten — , tritt diese jüngere Zeit in den beiden andern Entwürfen schon erheblich zurück 51 . Im ganzen gewinnt man schon hier den « Hann. L. H. Ms. XXIII, 173. Dazu 4 Kopien. Gedruckt bei Pertz, IV, S. 227 ff. M Hann. L. H. Ms. XXIII, 170. Unveröffentlicht. 50 Gedruckt in Zeitschr. d. hist. Vereins f. Niedersachsen, 1885, S. 9fl. 6 1 In der zweiten Handschrift ist die Zeit nach 1235 nur in zwei im Vergleich zu den vorhergehenden Kapiteln nachlässig und flüchtig geschriebenen kurzen Abschnitten hinzugefügt. In der dritten Niederschrift finden sich gleichfalls nur wenige Andeutungen, wobei Leibniz darauf hinweist, daß er hier im Gegensatz zur früheren Zeit das Meiste aus den Archiven „zusammen klauben müsse", anstatt sich auf gute Scriptores stützen zu können.

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Eindruck, daß die dynastische Territorialgeschichte seit 1235 stark hinter der älteren Zeit zurückstand. Die methodischen Schwierigkeiten, es sich aus den Archiven zu „klauben", mögen bei dieser Mißachtung mitgespielt haben. Vor allem aber fehlte für die Zeit des 13. bis 15. Jahrhunderts der Reiz universaler Zusammenhänge und der großen Reichsgeschichte, auf die es Leibniz von vornherein besonders angekommen ist. Erst vom 16. Jahrhundert an sieht er wieder einen ihn anziehenden Aufschwung, „da das Haus Braunschweig wieder mächtig worden" 5 2 , und da durch die Reformation wieder geschichtliche Fragen von Rang für ihn auftauchen, die über den Rahmen bloßer Familien- und Landesgeschichte hinausführen mußten. Im dritten Entwurf blieb Leibniz allerdings schon in dieser Zeit stehen und sprach überhaupt nicht mehr davon, das Werk bis zur Geschichte seiner Zeit zu führen. So sehr er auch damals noch den Arbeitsaufwand für das große Unternehmen unterschätzt hat, so mag er doch wohl hier schon erkannt haben, daß er zu einem zeitgeschichtlichen Abschluß nicht mehr würde gelangen können. Die einheitlichste Konzeption wird in der von Fr. Meinecke 5 3 besonders hervorgehobenen „Brevis Synopsis" sichtbar. In diesem ersten Programm steht alles ganz unkompliziert, in scharfen, knappen Umrissen vor uns, in vielfach klassisch gedrängten Formulierungen über große Bewegungen und geschichtliche Entscheidungen. Leibniz setzt mit der Zeitwende der Völkerwanderung ein, die er als umwälzende, einem Strom vergleichbare Bewegung bezeichnet, die nach ihrer Beruhigung die Grundlage für die Bildung der europäischen Nationen gelegt habe. Aus dem verwirrenden Kampf sei die bestimmende Macht der Franken siegreich hervorgegangen, deren geschichtliche Leistung darin gesehen wird, daß sie „cultum et disciplinam viribus miscuissent". In diesen weltgeschichtlichen Rahmen stellt Leibniz dann die Geschichte der Sachsen. Dabei legt er das Gewicht in gleicher Weise auf die Geschichte des Volkes und der Menschen wie auf die Geschichte ihrer Fürsten, die ihm Anlaß zu einer genealogischen Übersicht über die deutschen und italienischen Vorfahren der Weifendynastie gibt. Diese Doppelaufgabe, die Geschichte des Volkes und des Landes auf der einen, der fürstlichen Dynastie auf der andern Seite zu schreiben, hebt Leibniz ausdrücklich hervor. Als Grundlage einer solchen Landes- und Volksgeschichte werden schon hier die Naturgeschichte (Geologie) und die prähistorischen Überreste erwähnt. Sein Hauptthema aber, die politische Geschichte, wird im ständigen Zusammenhang der sächsischen Stammes- und Fürstengeschichte mit der Reichsgeschichte gesehen. Daraus ergibt sich für ihn als besonderer Höhepunkt seiner Darstellung der Übergang der Führung des Reichs an die Sachsen, „miro fatorum 62 Zeitschr. d. h. V. f. Niedersachsen 1885, S. 17. M Meinecke a. a. O. S. 41.

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consilio". Das Geheimnis göttlicher Vorsehung (arcana divinae providentiae) sei dabei in besonderem Maße deutlich geworden. Nach diesem Glanz

der

ottonischen Zeit, in der die sächsische Geschichte zur Reichsgeschichte wurde, wird als zweiter Höhepunkt des Werks die wiederum das ganze Reich erfüllende Auseinandersetzung zwischen Staufern und Weifen, vor allem die Geschichte Heinrichs des Löwen hervorgehoben. Die „ B r e v i s

synopsis"

verband

wie die beiden

andern E n t w ü i f e

die

eigenen wissenschaftlichen Anliegen mit dem, was dem Herzog angenehm zu hören war. A b e r wenn auch die Weifengenealogie einen breiten Platz einnimmt und die Geschichte aus einer weifisch-niedersächsischen

Blickrichtung

betrachtet wird, j a wenn sogar eine ausgesprochen zweckbestimmte

Bemer-

kung für den Herzog eingefügt wird 5 4 , so geben solche Rücksichten, die einem hofhistoriographischen Auftrag gemäß waren, dem Ganzen doch nicht Gesicht.

Vielmehr

verband

Leibniz,

indem

er

alle

genealogischen

das oder

sonstige Schmeicheleien gegenüber seinem fürstlichen H e r r n ablehnte, bereits zu diesem

Zeitpunkt

mit dem

ursprünglich

aus äußeren Gründen

über-

nommenen W e r k durchaus eigene, rein wissenschaftliche Absichten: so die Tendenz,

einen universalhistorischen

Zusammenhang

herauszuarbeiten,

die

Neigung, zu den Ursprüngen vorzudringen und ihre Rätsel mit geschärfter Methodik zu ergründen. Dabei sah er die Geschichte der Menschen eingebettet in die natur- und erdgeschichtlichen Grundlagen und erkannte die Bedeutung der Philologie als Hilfswissenschaft zur Erforschung der ältesten Zusammenhänge der Völkerbildungen und -Wanderungen. V o r allem aber sprach

er

sdion in diesen Manuskripten recht selbstbewußt aus, daß er in der historischkritischen Methode über das bisher in Deutschland und Italien Übliche hinauszukommen „necessaria

gedächte. Es gehe ihm, so heißt azgißeia

es im zweiten

E n t w u r f , um

quam pauci hactenus in istis attulerunt, praeseitim in

Germania et I t a l i a " 5 5 . Schon hier wird deutlich, daß Leibniz sein literarisches Gewissen und die K r i t i k der europäischen Wissenschaft mehr fürchtete als Wünsche und Tadel fürstlicher Auftraggeber. „ I n m a ß e n die m a t e r i aus der maßen diffus und dabey so delicat, daß man bey diesen Zeiten, da die Histori

so

critiquement

tractiret

wird, nichts

wohl

ohne authorität

und

genaue Untersuchung avanciren d a r f . " Und er fügt hinzu, indem er wie auch 5 4 Die Entdeckung, daß die estensische Linie in Italien ihre Länder noch bis zu Heinrich dem Löwen von der weifischen Linie zu Lehen empfangen habe, veranlaßt Leibniz zur Bemerkung: „Solches nun tam respectu connexionis quam praeeminentiae et superioritatis der teutschen lini nicht allein vor glorios, sondern vor important gehalten, dieweil vielleicht dermahleins bey einer favorabeln conjunctur die sache zu Wien dadurch zu einer expectanz zu dirigiren, nach dem exempel Chur Brandenburgs, so die Mitbelehnung auff Hohenzollern propter communem originem noviter erhalten." Z. d. h. V. f. N. 1885, S. 15.

w Hann. L. H. Ms. XXIII, 170.

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sonst häufig auf das persönliche Opfer hinweist, das er mit dem Beruf des Historikers auf sich genommen habe: „dahehr ich á tout moment mit conferirung der passagen vieler alter autoren, Chroniken und documenten aufgehalten werde, also wenig continuo tractu, wie sonst in andern materien, die auff raisonnement ankommen, dahin schreiben kann" 5 6 . Dieser Zwang seiner wissenschaftlichen Verantwortung setzte sich in den folgenden drei Entwürfen des Jahres 1692 gesteigert durch. Es handelte sich dabei um 1. eine ausführliche, französisch gesdiriebene Denkschrift, die mit einem Brief vom 1. 7.1692 an Ernst August geschickt wurde 5 7 , 2. einen kürzeren französisch verfaßten Entwurf, der in einem Vorschlag für eine Medaille zur Kurwürde enthalten ist, aus der zweiten Hälfte des Jahres 1692 5 8 , 3. eine Niederschrift in deutscher Sprache, offenbar für den Herzog Anton Ulrich, der weithin genaue Übersetzungen der Denkschrift vom 1 . 7 . des Jahres gibt 5 9 . Der Hauptentwurf ist also der erste, von dem die beiden andern nur abgeleitet sind. In ihm ist der Plan der Weifengeschichte erstmalig nur bis zum Jahre 1235 geführt. Auf die Bearbeitung der folgenden Zeiten hatte Leibniz also bereits aus den oben angegebenen Gründen verzichtet. Die wesentlichen Leitideen der Entwürfe von 1690 wurden wiederholt. Besonders eindringlich wurde noch einmal die Doppelaufgabe gestellt, nicht nur dynastische Fürstengeschichte, sondern die Geschichte von „Land und Leuten" (du pays et des peuples) zu geben. Neu erscheint hier als Folgerung aus den Sprachstudien zu den Ursprüngen der Völker die „Harmonie der Sprachen" und aus solcher Annahme einer gemeinsamen Ursprache die Idee eines Urvolkes, so daß ihm die Autorität der biblischen Überlieferung durch die Sprachwissenschaft erhärtet schien 60 . Die Europäer seien aus Asien gekommen; daran schließen sich Bemerkungen und Hypothesen über Urverwandtschaft der Völker, insbesondere der Germanen und Sachsen, die hier wohl zum erstenmal so im Zusammenhang ausgesprochen und von Leibniz in den folgenden Jahren ständig weiter entwickelt wurden. M Z. d. h. V. f. N. 1885, S. 10. « Ebenda, S. 19 ff. 58 Klopp, Werke VI, S. 370ff. Z.T. wörtlich dem vorhergehenden Entwurf entnommen. 6» Pertz, Werke IV, S. 240 ff. Davillé S. 113, Anm. 2 wies richtig darauf hin, daß Pertz mit 1690 falsch datiert hat. Auch diese Schrift gehört in die zweite Hälfte des Jahres 1692. 6 0 . . . „l'harmonie des langues fait juger (sans parler de l'autorité des livres sacres), que tout le genre humain est d'une même race." Z. d. h. V. f. N. 1885, S. 29.

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Wie weit führten solche Erörterungen von dem eigentlichen Plan einer Weifengeschichte ab, wie sie Ernst August gewünscht und Leibniz selbst 1 6 8 5 versprochen hatte! So schloß denn auch Leibniz, gleichsam seine eigenen wissenschaftlichen Liebhabereien entschuldigend, diese Ausführungen über die „antiquités" mit der leichten Wendung ab, er habe sich deswegen bei diesen Fragen so lange aufgehalten, „weil sie schön und wenig bekannt seien" 6 1 . Audi die Bemerkungen zur mittelalterlichen Geschichte, dem eigentlichen Hauptthema, waren gegenüber den ersten Entwürfen erweitert worden, entsprechend dem im Begleitbrief ausgesprochenen Grundsatz, überall Dinge hineinzumischen, „qui tirent sur l'universel et qui puissent contenter un peu la curiosité générale" 6 2 . Doch die eigentliche Bedeutung der Denkschrift von 1 6 9 2 liegt in der allgemeinen Einleitung, in der Leibniz über die Geschichtswissenschaft' allgemein und ihren gegenwärtigen Stand spricht. Offenbar fühlte er sich dazu gedrängt, dem Herzog verständlich zu machen, warum das W e r k nicht in so kurzer Zeit fertiggestellt werden konnte, wie der Fürst und der Historiker selbst es zunächst gewünscht hatten. Leibniz kam es darauf an zu zeigen, daß er als Geschichtsschreiber seiner anspruchsvollen Zeit keine billigen Zugeständnisse machen könne. Sein wissenschaftliches Verantwortungsbewußtsein, sein historischer Sinn und nicht zuletzt sein Ehrgeiz, sich zu einer Spitzenleistung europäischer Geschichtswissenschaft zu erheben, trieben Leibniz zu den Quellen und Ursprüngen, um etwas zu schaffen, das ihm Ruhm in der Res publica literaria erwerben, der scharfen Zensur eines „siècle délicat" standhalten und ein bleibender Gewinn f ü r die Nachwelt sein sollte 6 3 . Diesem vielversprechenden Programm seines großen Vorwurfs folgten dann 24 Jahre der Arbeit an den Annalen, ohne daß das Ziel erreicht wurde. Die Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses, die zuerst bis 1235, dann bis 1 0 2 5 geführt werden sollten, hat der Siebzigjährige nicht mehr zu Ende bringen und zum Druck geben können. Sie brachen mitten im Zusammenhang des Jahres 1 0 0 5 ab mit den auf eine Einzelfrage bezogenen, aber gleichnishaft für das Ganze stehenden Worten: „ . . . quos ex tenebris eruendos aliorum cliligentiae relinquo". ebenda, S. 32. 62 ebenda, S. 18. 63 ebenda, S. 26. Zu den hier von Leibniz aufgeworfenen allgemeinen Fragen zur Historiographie s. unten S. 50 ff. 61

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Die Gründe für das langsame Fortschreiten des unvollendet und über ein Jahrhundert verborgen gebliebenen Werkes sind mannigfaltig. Zunächst wurde der Schwung der Arbeit immer wieder gehemmt durch menschliche Mißhelligkeiten, durch die Unzufriedenheit Ernst Augusts und mehr noch seines Nachfolgers mit dem gelehrten, aber nicht erfolgreich glänzenden Historiographen ihres Hauses, durch den Ärger, den Leibniz über schlechte Behandlung und Bezahlung empfand, wodurch er in der Anstellung von Hilfskräften stark gehemmt war, schließlich durch unangenehme Affären mit den mehrfach wechselnden Sekretären, unter denen der Helmstädter Professor der Geschichte, Johann Georg Eckhart, der bedeutendste war. Stärker noch fällt die Tatsache ins Gewicht, daß für Leibniz in diesen Jahren nicht minder als in der ersten Lebenshälfte die Geschichtswissenschaft nicht im Vordergrund seiner geistigen Arbeit stand. So wurde die Tätigkeit am Annalenwerk immer wieder unterbrochen und hingezögert. Außerdem aber führten die Studien für die Annales zum Teil unmittelbar zu gesonderten historischen Schriften und Dissertationen, durch die das Hauptwerk entlastet wurde, oder zu Quelleneditionen, die sich aus der Arbeit ergaben; oder Leibniz ließ sich durch anderweitige geschichtliche Fragen wie auch durch politisdie Anlässe zur Bearbeitung historischer Gegenstände verleiten, die seine große Arbeit unterbrachen. Der Umfang dieser geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit außerhalb der Annales, wozu auch noch die Erörterungen in zahlreichen Briefwechseln zu rechnen sind, war erheblidi. Nicht zuletzt aber war die Langsamkeit des Arbeitens durch Leibniz' Arbeitsweise bedingt, die durch höchstmögliche Vollständigkeit quellenmäßiger Grundlagen, eine in seiner Zeit noch keineswegs allgemein übliche peinliche Gewissenhaftigkeit historischer Kritik und eine hartnäckige Beharrlichkeit im Aufspüren genealogischer Daten bezeichnet werden kann. Die annalistische Bearbeitung durch Exzerpte und Chronologisierung hatte sich in den Jahren 1696 bis 1699 bei seinem Sekretär Joachim Friedrich Feller auf die Zeit von 1002 bis 1198 erstreckt. Eckhart, der Nachfolger Fellers, wurde dann für das 10. Jahrhundert angesetzt. Zuletzt wurde die annalistische Materialsammlung und -Ordnung soweit zurückgeführt, daß der Text der Annalen mit dem Regierungsantritt Karls des Großen beginnen konnte. Ein schwieriges Sonderkapitel, durch das der Fortgang der Arbeit immer wieder erheblich verzögert wurde, blieb stets die Frage der älteren Weifenabstammung, die Leibniz schließlich nodi weit über die Ergebnisse seiner großen Archivreise hinaus hat klären können. In diesem Zusammenhang steht die enge Beziehung zu Muratori, mit dem Leibniz fast ausschließlich in den Fragen der Este- und Weifengenealogie Leibniz (Conze)

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einen ausführlichen Briefwechsel unterhalten hat 6 4 . Die Aussprache der beiden Männer ging kaum um „letzte kirchliche und religiöse Grundfragen", in denen sich der Vertreter des italienischen Reformkatholizismus und der protestantische Ireniker berühren mochten 6 5 , sondern allein um die gelehrten Aufgaben der genealogischen Antiquitates, die beide gemeinsam beschäftigten. Schon die Berufung Muratoris im Jahre 1700 an das Archiv in Modena durch Herzog Rinaldo war eine Folge der Belebung des historischen Interesses in Modena gewesen, das Leibniz durch seine historischen Arbeiten zur Beziehung der Weifen und der Este angeregt hatte. Erst im Jahre 1709 kam es aus einem politischen Anlaß zur unmittelbaren brieflichen Anknüpfung, aus der sich der lebhafte Briefwechsel der folgenden Jahre entwickelte. Auf diplomatischem Wege war Leibniz gebeten worden, eine Erwiderung auf eine Schrift des kurialen Historikers Fontanini zu schreiben, in der der päpstliche Anspruch auf Comachio historisch bewiesen worden war. Leibniz rezensierte darauf Fontanini kritisch in den Acta Eruditorum des Jahres 1709 6 8 . Die gemeinsame Stellung gegen die kuriale Politik war eine gute Grundlage für die Beziehung zwischen Leibniz und Muratori. Jener nahm die Angelegenheit zum Anlaß, um mit diesem nicht nur in ausführlichen Austausch über seine alten genealogischen Fragen zu treten, sondern ihn auch zu weiterführender Forschung in italienischen Archiven anzuregen. Hierbei ging die Meinung der beiden Gelehrten jedoch von Anfang an auseinander. Muratori beabsichtigte, das durch Leibniz und ihn schon Geklärte zu publizieren. Leibniz dagegen wandte sich immer wieder warnend gegen jede verfrühte Veröffentlichung, da es untunlich sei, sich durch Bekanntmachen unfertiger Forschungsergebnisse der Kritik auszusetzen. Grundsatz müsse sein, „de ne rien precipiter ny negliger" 6 7 . Aus dieser Differenz entwickelte sich ein immer schärfer werdender Konflikt. Leibniz hatte die Priorität für sich und wußte, daß Muratori nicht mehr vorzubringen hatte, als was er selbst auch schon zusammengestellt hatte. E r wußte aber auch, daß er noch nicht am Ende der Forschung war. Mit dem sachlichen Argument, daß eine voreilige Publikation vom Übel sei, da sie dem wissenschaftlichen Gewissen widerspreche, mischte sich persönliche Empfindlichkeit. Leibniz wollte sich nicht zuvorkommen lassen. So griff er, als Muratori nicht zu überzeugen war, zu einem letzten Mittel. E r führte mit M Briefwechsel Leibniz—Muratori, Hannover Ms., z. T. gedruckt bei L. Dutens, Gothofredi Guilelmi Leibnitii . . . Opera Omnia, IV, 2, S. 89 ff. Dutens benutzte die im Muratori-Nachlaß erhaltenen Originalbriefe Leibniz'. — Zur Übersicht: Bodemann, Briefwechsel, S. 195 ff. Vgl. auch Alfred v. Reumont, Beiträge zur italienischen Geschichte, III, S. 215 ff. — Cipolla, Leibniz e Muratori, Modena 1893, war mir nicht zugänglich.

65 So unzutreffend Eduard Winter, Der Josefinismus und seine Geschichte, 1943, S. 18. Fontanini, Dominium temporale Sedis Apostolicae in Civitatem Comachi per 1000 annos. Acta Eruditorum 1709, S. 195 ff. 60

•7 Leibniz an Muratori, Winter 1709/10, undatiert, Hann. L. Br. Muratori.

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Rücksicht auf die Spannung mit der Kurie politische Gründe an und schaltete den Weg der Diplomatie über die Höfe ein. Am 10. März 1711 berichtete Leibniz an den Minister Bernstorff, daß Muratori ihm zwei B r i e f e zur Veröffentlichung zugesandt habe, von denen der eine die Vorfahren, der andere die Nachkommen Azzos betraf. Den Druck des zweiten billigte Leibniz und druckte ihn daher wunschgemäß im 3. Band seiner Scriptores rerum Brunsvicensium ab 6 8 . Dagegen warnte er vor dem Druck der ersten Arbeit Muratoris, wobei ihm der Satz „car il me dit là des choses que j e savois la plus p a r t " aus der F e d e r floß, den er dann im Konzept durchstrich. Es sei unklug, schon jetzt zu publizieren, weil man damit seine Absichten aufdecke und bei dem politischen Mißtrauen in Rom und anderwärts gegen das Haus Este Gefahr

laufe,

Schwierigkeiten

für

eine

weitere

Benutzung

italienischer

Archive zu bekommen 6 9 . Muratori habe erklärt, daß er, falls Leibniz die Annahme zum Druck verweigern würde, selbst in Modena drucken lassen würde. Um dies zu verhindern, veranlaßte Leibniz durch diesen B r i e f an Bernstorff das diplomatische Eingreifen. Erst unter diesem Druck zog Muratori zurück und erklärte Leibniz in seinem B r i e f vom 16. 4. 1711, daß er sich dem Gewicht der von Leibniz vorgebrachten Gründe füge. 1714 bis 1716 unternahm Muratori die von Leibniz angeregte Archivreise, über deren Ergebnisse er mit Leibniz in lebhaftem Austausch blieb. Im J a h r e 1715 schickten beide sich gegenseitig ihre Manuskripte mit den Forschungsergebnissen zur älteren Genealogie ihrer Fürstenhäuser zu. Leibniz hatte seine Forschungen in den Annales zum J a h r e 9 6 0 niedergelegt.

An diesen Austausch schloß sich ein neuer, noch

schärferer Konflikt zwischen den beiden Forschern an. In einer Nachschrift seines Briefes vom 28. 11. 1715 übte Leibniz eine zwar nur vorläufige — da er das Manuskript angeblich bisher nur flüchtig gelesen hätte — aber doch redit scharfe Kritik an Muratoris Aufstellung 7 0 . Noch ehe diese bei Muratori 8 8 Epistola Ludov. Antonil Muratorii ad. G. G. L. de Posteris Azonis Marchionis, praesertim Italis. Scriptores Rerum Brunsvicensium III, Hannover 1711, S. 33 ff. 6 0 ,,Car je pouvois aussi publier ces choses, il y a longtemps, mais comme il reste plusieurs doutes et plusieurs éclaircissements, qu'on devroit chercher en plusieurs endroits de l'Italie, je considéré, que si l'on publie ces choses avant que d'avoir fait ces recherches, on se ferme la porte en bien des endroits, parce que les gens verront clairement, de quoy nous avons encor besoyn, et l'on est un peu envieux à Rome, en Toscane, é Parme et ailleurs des avantages de la Maison d'Esté." Hann. L. Br. Muratori. 10. 3.1711. 7 0 PS des Briefes von Leibniz an Muratori vom 28.11 1715 (bei Dutens mit 18.11. datiert) Et j'y remarque entre autres choses que vous avés eu vos raisons de vous abstenir de tout ce que j'ay fourni, et que vous ne pouviés avoir d'ailleurs. . . . J e trouve aussi que si nous publierons les choses comme nous les avons conçues, nous paroitrons fort contraires l'un à l'autre sur des points capitaux." Bemerkenswert Ist in diesem P S. die Kontroverse um die Nationszugehörigkeit der Vorfahren Azzos, die Muratori entsprechend einem späteren Zustand als lombardisch annimmt, während Leibniz die bairische Herkunft als erwiesen ansieht und den Vorgang der Umvolkung in Rechnung stellt. „Après un temps immémorial de plus de deux siècles, et par sept générations, quand on ne savoit plus rien de la premiere origine, 11 etoit naturel qu'on passât pour être de la nation où l'on est établi, surtout dans les temps où l'Histoire étoit si peu cultivée." Die Nachschrift des Briefes ist bei Dutens nicht mit veröffentlicht. Muratori gab Leibniz in seinem Brief vom 8.1.1716 in der Nationsfrage nach.

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eintraf, hatte dieser um schnelle Rüdesendung gebeten. Beide verließen nun in einem Zustand gesteigerter Gereiztheit den bisherigen Weg freimütiger Zusammenarbeit. Muratori suchte so schnell wie möglich, vor Leibniz zur Veröffentlichung zu gelangen 7 1 . Auf der andern Seite verzögerte Leibniz offenbar absichtlich die Rüdesendung unter dem nicht recht überzeugenden Vorwand, daß er wegen seiner vielen andern Aufgaben nidit so rasch zur genauen Prüfung habe kommen können. Er beklagte sich bitter, daß Muratori so plötzlich dränge. Eine ausführliche, sachlich eindringende Stellungnahme erfordere Zeit. Mit Nachdruck wies Leibniz — besonders im Brief vom 25. 4. 1716 — auf seine Priorität in der Genealogie des Herzogs Azzo hin. Der Stieit steigerte sich bis zu dem Vorwurf, den der Gesandte von Modena in London vorbrachte, daß Leibniz ein Plagiator sei, wurde dann aber durch die Rücksendung des Manuskripts und eine Entschuldigung Muratoris wegen des angeblichen Plagiats wenigstens äußerlich beigelegt. So waren die Beziehungen zwar nicht abgebrochen, aber die Mißstimmung nicht beseitigt, als Leibniz starb. Durch Leibniz' Tod war das Annalenwerk kurz vor seiner Vollendung (dem Jahr 1025) abgebrochen worden. Leibniz hatte nach seiner Rückkehr aus Wien vom Ende des Jahres 1714 bis Anfang 1716 aufopferungsvoll daran gearbeitet, auch jetzt nicht allein des Druckes wegen, der von Georg I. und Bernstorff auf ihn ausgeübt wurde 7 2 . Er war so schnell vorangekommen, daß er im Laufe des Jahres 1716 hätte zu Ende gelangen können, wenn er nicht im Sommer 1716 die Arbeit wieder hätte liegen lassen, da seine K r ä f t e durch Kontroversen und Briefwechsel, vor allem die Auseinandersetzung mit Clarke, verbraucht wurden. Über das tragische Ausbleiben der Wirkung nach dem Tode hat Pertz in seiner Annalenedition berichtet. Noch 1717 hatte Eckhart gehofft, die Annales Imperii mit einigen Änderungen, die Bernstorff verlangt hatte oder die er selbst für gut hielt, schnell herausbringen zu können, und hatte sie mit einem kurzen Text, der sich in Leibniz' Nachlaß gefunden hatte, in den Acta Eruditorum angezeigt 7 3 . Dieser gipfelte in den selbstbewußten Worten, die wir als Motto unserer Untersuchung vorangestellt haben. Doch andere Arbeiten und die plötzliche Entfernung Edkharts aus Hannover vereitelten die Editionsabsicht, die in der folgenden Zeit immer wieder aufgeschoben und schließlich vergessen wurde, nachdem immerhin die Ergebnisse der genealogischen Forschungen in der Bearbeitung von Eckhart in den Jahren 7 1 Sie erfolgte in „Delle Antichità Estensi ed Italiane." Modena 1717, wo Leibniz zwar im Vorwort anerkannt und erwähnt, sonst aber kaum zitiert wird. 7 2 Zum Verhältnis Leibnizens zum Hof in seiner letzten Lebenszeit vor allem die Veröffentlichung von R. Doebner, Leibnizens Briefwechsel mit dem Minister von Bernstorff. Z. d- h. V. f. N. 1881. 7® Pertz, I, S. X X i n ff.

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1750—53 in vier Foliobänden unter dem Titel „Origines Guelficae" von Scheidt herausgegeben worden waren. Es muß als ein empfindlicher Verlust für die Entwicklung der deutschen Historiographie angesehen werden, daß das zwar unvollendet gebliebene, aber doch von der Zeit Karls des Großen bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts voll ausgeführte Werk der Annalen erst zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden ist, in dem es eine unmittelbare Wirkung auf die Forsdiung nicht mehr auszuüben vermochte. In Form und Inhalt war in diesen Annalen zweifellos ein Gipfel damaliger Möglichkeiten erreicht worden. Die annalistische Darstellung, die auch von Muratori noch angewandt worden ist, ist offenbar für Leibniz nicht fragwürdig gewesen. Sie war nicht nur herkömmlich, sondern mußte au