Kunst als Aufführungserfahrung: Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal [1. Aufl.] 9783839418383

Zahlreiche Werke in der zeitgenössischen Ausstellungskunst kennzeichnet die Bemühung, die Besucher in intersubjektive Ve

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German Pages 190 Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Einleitung
Plädoyer für die Inblicknahme der intersubjektiven Erfahrungssituation
Aufführungserfahrungen – oder vom Nutzen eines Dialogs zwischen Kunst- und Theaterwissenschaft
Material und Fragestellungen
1. An dem Ort, von wo man schaut: Felix Gonzalez-Torres’ Candy Spills
1.1 Ich sehe was, das du nicht siehst: Zum Prinzip der Deutungsflexibilität in Felix Gonzalez-Torres’ Werk
1.2 Geteilte Autorschaft: Die Funktion der Zertifikate
1.3 Tun oder Unterlassen?
1.4 Schauplatz der Begegnungen
2. Auf der Bühne: Erwin Wurms One Minute Sculptures
2.1 »Trockene bildhauerische Forschung – Erwin Wurms erweiterter Skulpturbegriff
2.2 Jeder kann Skulptur sein
2.3 Protagonisten der Szene
2.3.1 Ko-präsente Zwischenereignisse
2.3.2 Imaginierte Betrachter
2.3.3 Imaginierte Verkörperungen
2.4 Kurzlebige Skulpturen – oder die Kunst, Haltung zu bewahren
3. Im Kreis der Anderen: Tino Sehgals This objective of that object & This situation
3.1 Das unstoffliche Kunstwerk
3.2 Was ist hier so zeitgenössisch? Zum Paradigma der zweifachen Gleichzeitigkeit in Tino Sehgals Werk
3.3 Die Permanenz der Wiederholung
3.4 Sich in die Diskussion bringen
3.4.1 Beziehungsspiele: This objective of that object
3.4.2 Salon der Zitate: This situation
4. Die Politizität intersubjektiver Erfahrungssituationen
4.1 Kunst und Politik: Nicolas Bourriauds Relational Aesthetics
4.2 Eine kritische Replik: Claire Bishops Antagonism and Relational Aesthetics
4.3 Die Kunst der Anerkennung des Anderen
Literatur
Abbildungen
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Kunst als Aufführungserfahrung: Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal [1. Aufl.]
 9783839418383

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Sandra Umathum Kunst als Aufführungserfahrung

Image | Band 28

Sandra Umathum (Dr. phil.), Theaterwissenschaftlerin, lehrt an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig im Fachbereich Dramaturgie.

Sandra Umathum

Kunst als Aufführungserfahrung Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal

Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und an dieser im Sommer 2008 eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Katrin Rixen Lektorat & Satz: Sandra Umathum Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1838-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9

Plädoyer für die Inblicknahme der intersubjektiven Erfahrungssituation | 13 Aufführungserfahrungen – oder vom Nutzen eines Dialogs zwischen Kunst- und Theaterwissenschaft | 17 Material und Fragestellungen | 23 1. An dem Ort, von wo man schaut: Felix Gonzalez-Torres’ Candy Spills | 27

1.1 Ich sehe was, das du nicht siehst: Zum Prinzip der Deutungsflexibilität in Felix Gonzalez-Torres’ Werk | 32 1.2 Geteilte Autorschaft: Die Funktion der Zertifikate | 43 1.3 Tun oder Unterlassen? | 51 1.4 Schauplatz der Begegnungen | 61 2. Auf der Bühne: Erwin Wurms One Minute Sculptures | 73

2.1 »Trockene bildhauerische Forschung – Erwin Wurms erweiterter Skulpturbegriff | 76 2.2 Jeder kann Skulptur sein | 87 2.3 Protagonisten der Szene | 94 2.3.1 Ko-präsente Zwischenereignisse | 94 2.3.2 Imaginierte Betrachter | 103 2.3.3 Imaginierte Verkörperungen | 109 2.4 Kurzlebige Skulpturen – oder die Kunst, Haltung zu bewahren | 113

3. Im Kreis der Anderen: Tino Sehgals This objective of that object & This situation | 117

3.1 Das unstoffliche Kunstwerk | 119 3.2 Was ist hier so zeitgenössisch? Zum Paradigma der zweifachen Gleichzeitigkeit in Tino Sehgals Werk | 123 3.3 Die Permanenz der Wiederholung | 128 3.4 Sich in die Diskussion bringen | 134 3.4.1 Beziehungsspiele: This objective of that object | 134 3.4.2 Salon der Zitate: This situation | 147 4. Die Politizität intersubjektiver Erfahrungssituationen | 159

4.1 Kunst und Politik: Nicolas Bourriauds Relational Aesthetics | 159 4.2 Eine kritische Replik: Claire Bishops Antagonism and Relational Aesthetics | 165 4.3 Die Kunst der Anerkennung des Anderen | 172 Literatur | 175 Abbildungen | 185

Vorwort

Dieses Buch ist allererst das Ergebnis vieler Begegnungen und Beziehungen mit Menschen, die mich mit ihren Gedanken und ihrem Mitdenken begleitet haben. – Für ein Arbeiten an der Schnittstelle von Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte bot der Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste die idealen Voraussetzungen, und von großem Gewinn war hier vor allem die gute alte B-Gruppe, in der es stets einen geschützten Raum gab für den Austausch über das noch Vorläufige und Unfertige. Dafür, dass sie mir dieses Umfeld ermöglicht hat, geht mein Dank an Erika Fischer-Lichte. Unbezahlbar sind meine ersten Leserinnen, Dorothea von Hantelmann, Juliane Rebentisch und Antje Wessels, die mich mit ihrem Interesse an den Differenzen im Gemeinsamen und ihrer ständigen Bereitschaft zum Ein- und Widerspruch inspirierten. Christian Horn und Matthias Warstat verdanke ich viele inspirierende Gespräche über Theatralität. Neben vielem anderen haben sie mit mir nicht zuletzt einige der in diesem Buch beschriebenen Kunsterfahrungen geteilt. Friedericke, Henriette und Traugott Klose stellten mir über Monate am Wannsee einen ruhigen Arbeitsplatz zur Verfügung und beschenkten mich mit der großzügigsten Gastfreundschaft. Ihnen ist kaum genug zu danken. Ebenso wenig wie für all ihre Unterstützung: Robert Graf, Agnes Manier, Sabine Schouten, meiner Familie – und Resi Adatschi. Für sie ist dieses Buch.

Einleitung

1971 schrieb Siegfried J. Schmidt: »Diese Entwicklung, die den Betrachter […] zum Kooperator im Kunstprozeß erhebt, erscheint mir symptomatisch für die Kunst der Zukunft.«1 Mit dieser Prognose reagierte der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler auf die zur damaligen Zeit bereits seit längerem virulenten Tendenzen, mit verschiedenen Strategien die Verabschiedung eines tradierten Werkverständnisses sowie Rezeptionsverhaltens zu bewirken. Wie ein Blick auf die heutige Sachlage zeigt, hat Schmidt mit seiner Prognose zweifelsfrei Recht behalten. Kunst, die Prozesse gegenüber Produkten mit geschlossener Form und fixierter Gestalt privilegiert und die Rezipienten außerdem zu konstitutiven Teilhabern an diesen Prozessen macht, hat sich längst als feste Größe etabliert. Dies bestätigt nicht zuletzt die Regelmäßigkeit, mit der man ihr in Museen und Galerien begegnen kann. Ein Besuch in diesen Institutionen zeigt allerdings nicht nur, dass diese veränderten Praktiken selbst bereits Geschichte geschrieben haben. Er zeigt zugleich, in welcher Weise sich die Umbrüche, die seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts unter Stichworten wie dem Wandel von der Werk- zur Prozess- oder Ereignisästhetik ihren Platz in der Kunstgeschichte, Kunstkritik und in den philosophischen Theoriebildungen eingenommen haben, in der Gegenwart fortschreiben.2 Wirft man einen kursorischen Blick auf die jüngeren Entwicklungen in der Ausstellungskunst, so ist etwa festzustellen, dass sich unter ihnen eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Arbeiten befindet, die nicht lediglich darauf ausgerichtet sind, die Rezipienten mit einem Objekt interagieren zu lassen oder sie zu Akteuren in einer Installation zu machen.3 Dezidiert entwerfen sie diese vielmehr als Teilnehmer an

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Siegfried J. Schmidt: Ästhetische Prozesse. Beiträge zu einer Theorie der nichtmimetischen Kunst und Literatur, Köln 1971, S. 95. Zur theoretischen Fundierung des performative turn in den Künsten siehe Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004 sowie Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002. Mit der Rede vom ›aktiven‹ Rezipienten oder vom »Kooperator im Kunstprozeß« verbindet sich ein grundsätzliches Problem, sofern sie suggeriert, es gebe

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zwischenmenschlichen Begegnungen und stellen mithin die Weichen dafür, dass sie sich für die Dauer einer Ausstellung mit anderen Personen in unterschiedliche und immer wieder anders sich ausprägende Verhältnisse setzen können: mit Personen, die sich entweder aus dem Museumspersonal, aus eigens für die Hervorbringung dieser zwischenmenschlichen Begegnungen engagierten Akteuren oder aus anderen Besuchern rekrutieren. Die Beispiele, die sich hierzu anführen lassen, sind zahlreich. Zu ihnen gehört u.a. Elmgreen & Dragsets Reg(u)arding the Guards, eine Arbeit, die erstmals im Winter 2004 in der Londoner »Serpentine Gallery« präsentiert wurde. Sieben als Museumsaufseher gekleidete Menschen saßen dort auf sieben Stühlen, die mit den Rückenlehnen an drei Wänden des ansonsten leeren Ausstellungsraums aufgestellt waren, und kamen genau der Aufgabe nach, die man gemeinhin von Museumsaufsehern erwartet: Sie widmeten sich der stillen Betrachtung und Beaufsichtigung der Begegnung zwischen einem Kunstwerk und seinen Rezipienten, einem Kunstwerk allerdings, das in diesem Fall in der gemeinsam geteilten Zeit von Rezipienten und Muse-

ein Anderes, ein Gegenteil, nämlich den passiven Galerie- oder Museumsbesucher. Die begriffliche Gegenüberstellung von ›aktiven‹ und ›passiven‹ Rezipienten ist indes ein unglückliches Relikt aus den Zeiten der historischen Avantgarde und vor allem aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, als Künstler mit der Rolle des Publikums zu experimentieren begannen und sich bemühten, die Betrachter, wie es bis heute immer noch gerne heißt, zu aktivieren. Frank Popper, der 1975 mit seinem Buch Art – Action and Participation eines der ersten Überblickswerke über die damals aktuellen Partizipationspraktiken vorlegte, bemerkte darin, dass angesichts der jüngsten Entwicklungen der Begriff des »spectator« nicht mehr passend wäre und stattdessen eher auf Begriffe wie »executant, actor, user, collaborator and finally creator« (S. 10) ausgewichen werden sollte. Genau genommen ist die Gegenüberstellung von Zuschauern und Akteuren allerdings nur schwer legitimierbar. Auch Poppers Versuch, den betrachtenden vom handelnden Rezipienten dadurch zu unterscheiden, dass er letzterem ein »active, complete involvement on both physical and mental levels« (S. 75) bescheinigt, trägt nicht zur Beseitigung des Problems bei, denn jeder Betrachter ist letztlich auch auf physischer wie mentaler Ebene involviert. Und zwar nicht nur deshalb, weil bereits jede Wahrnehmungsleistung ihrerseits eine Handlung darstellt, sondern weil sie ohne begleitende Aktivitäten, wie etwa orientierende Bewegungen im Raum, nicht zu haben ist. Im Endeffekt bedeutet dies, dass im Grunde jeder Betrachter immer schon ein Akteur und umgekehrt: jeder Akteur stets ein Betrachter ist. (Vgl. hierzu u.a. Martin Seel: »Teilnahme und Beobachtung. Zu den Grundlagen der Freiheit«, in: ders.: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 2006, S. 130-156.) Aus heuristischen Gründen werde ich dennoch eine begriffliche Unterscheidung vornehmen und mich mit dem Begriff des Akteurs auf Personen beziehen, die ihre Handlungen an Objekten, an und mit anderen Akteuren und/oder am und mit dem eigenen Körper vollziehen bzw. mit dem Vollzug solcher Handlungen (vor Anderen) in Erscheinung treten.

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umsaufsichten bzw. in deren gegenseitigem Beobachten und Beobachtetwerden überhaupt erst hervorgebracht wurde. Ein anderes Beispiel ist Tobias Rehbergers Three Boys four Girls (1996), eine Gruppe modisch gekleideter Teenager, die der Künstler in Museen Dinge tun und sich in einer Weise verhalten lässt, die für den Aufenthalt in dieser Institution alles andere als gewöhnlich sind. So campierten im Frankfurter »Museum für Moderne Kunst« im Frühjahr 2003 vier junge Frauen und drei junge Männer auf einer Decke, aßen Butterbrote, telefonierten mit ihren Mobiltelefonen oder spielten Ball – und weckten damit die Aufmerksamkeit der Besucher, die sich von Zeit zu Zeit um die Gruppe versammelten, ihr aus der Ferne zuschauten oder Kontakt zu ihr aufnahmen und sich bisweilen sogar an ihrem Ballspiel beteiligten. Zu den Werken, die zwischenmenschliche Bezüglichkeiten gestalten, gehört auch diejenige von Micol Assaël, die anlässlich der Biennale in Venedig 2005 einen älteren Mann einlud, im »Arsenale« seine Zeit zu verbringen. In einem für das Publikum unzugänglichen Bereich oberhalb der eigentlichen Ausstellungsfläche richtete sie ihm einen Aufenthaltsort ein. Dort saß er an einem Tisch, las seine Zeitung oder begab sich an die Brüstung, um von oben auf das Treiben herabzublicken und seinerseits die Kunstbetrachter zu betrachten. Die Liste der Beispiele lässt sich weiter ergänzen durch die One Minute Sculptures von Erwin Wurm, bei denen Besucher mithilfe von Alltagsgegenständen auf bühnenartigen Vorrichtungen für eine Minute zu lebenden Skulpturen werden können. Oder durch die installativen Einrichtungen Rirkrit Tiravanijas, die verschiedene Handlungsangebote unterbreiten. Stellvertretend sei hier nur Untitled, 1996 (Tomorrow is Another Day…) genannt, eine Arbeit, bei der Tiravanija im »Kölnischer Kunstverein« sein New Yorker Apartment in naturgetreuem Maßstab nachbauen ließ und dem Publikum gestattete, rund um die Uhr darin zu leben und alle Einrichtungsgegenstände nach Belieben zu benutzen. Wie diese Beispiele zu erkennen geben, werden intersubjektive Begegnungen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst mit ganz verschiedenen Mitteln gestaltet. Während einige Künstler selbst gewählte Akteure einsetzen, sind wiederum bei anderen, etwa bei Tiravanija oder Wurm, keine eigens engagierten Akteure im Spiel. Gerade Werke wie diejenigen von Tiravanija und Wurm belegen jedoch nur allzu deutlich, dass der bloße Verweis auf die Überschreitbarkeit der Demarkationslinie zwischen Subjekt und Objekt heutzutage eine oft nur noch unzureichende Beschreibung liefert. Denn zwar regen diese Werke eine physische Interaktion der Rezipienten mit Objekten an. Zur selben Zeit sorgen sie auf diesem Wege aber für eine Interaktion zwischen Menschen, die sich für die künstlerischen Entwürfe als ebenso konstitutives Kriterium erweist wie für die jeweiligen Kunsterfahrungen. Zieht man in Betracht, dass die Gestaltung von intersubjektiven Bezüglichkeiten seit den 1990er Jahren in der Ausstellungskunst längst keine Ausnahmeerscheinung mehr darstellt, dann ist es umso erstaunlicher, dass sie sich als Gegenstand umfassender Untersuchungen noch kaum etabliert hat.

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Freilich gibt es bereits Bemühungen, diese veränderte Stoßrichtung künstlerischer Produktionsweisen theoretisch zu fundieren – und stellvertretend sei hier nur der noch immer prominenteste Ansatz des Kurators und Kunstkritikers Nicolas Bourriaud erwähnt, der in seinem Buch Relational Aesthetics von der holzschnittartigen These ausgeht, dass »[a]fter the area of relations between Humankind and deity, and then between Humankind and the object, artistic practice is now focused upon the sphere of inter-human relations.«4 Auffällig bei Bourriaud sowie bei den meisten anderen Autorinnen und Autoren, die sich bislang zu diesem künstlerischen Phänomen geäußert haben, ist allerdings, dass sie dieses vorzugsweise im Kontext der damit sich ebenfalls wandelnden Funktionen der Kunstinstitutionen oder der neuen Herausforderungen für das Kuratieren beleuchten. Fragt man jedoch nach den zwischenmenschlichen Bezüglichkeiten selbst oder danach, wie sich mit ihnen die Kunsterfahrungen transformiert haben, so erhält man nur selten Antworten, die hinausreichen über Beschreibungen der artistischen Strategien, mit deren Hilfe Menschen zusammengeführt werden, oder der Tätigkeiten, die sie miteinander ausführen können. Dass Künstler mit ihren Werken intersubjektive Begegnungen begünstigen und Besuchern durch Kunst die Möglichkeit eröffnet wird, sich in Museen und Galerien in einem »relational realm«5 (Nicolas Bourriaud) oder einem »sozialen Raum«6 (Nina Möntmann) aufzuhalten, erzählt über die Art der Erfahrungen, die dort gemacht werden können, indes so gut wie nichts. Weil hinsichtlich der konkreten Begegnungen und Erfahrungen noch nicht viel gewonnen ist, wenn man es bei der Feststellung belässt, dass Rezipienten längst nicht mehr nur mit Objekten oder in Installationen etwas tun können, sondern zunehmend auch in der Begegnung mit anderen Menschen aktiv werden dürfen, möchte ich in meinen Untersuchungen die intersubjektiven Relationen in den Vordergrund rücken, die von Werken in Gang gesetzt werden, welche für die wiederholte Ausstellung in Museen und Galerien konzipiert sind.7 Zu ergründen wird also sein, was es heißt, im Rah-

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Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon-Quetigny 2002, S. 28. Ebd., S. 17. Nina Möntmann: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renee Green, Köln 2002. In dieser Studie hat sich die Autorin ausführlich dem wechselseitigen Wandel von Kunstproduktion und kuratorischer Praxis bzw. den veränderten Aufgaben von Museen und Galerien gewidmet. In Konsequenz bedeutet dies, dass ich zur Ausstellungskunst nicht jene Arbeiten zähle, die in Museen und Galerien allenfalls singuläre zwischenmenschliche Ereignisse hervorbringen. Unberücksichtigt bleiben daher nicht nur die Arbeiten der Performance Art (vgl. hierzu auch Kap. 3.3), sondern auch die vielen, auf intersubjektive Begegnungen ausgerichteten Projekte, die sich jenseits von Kunstinstitutionen positionieren und, wie etwa die Public Art, an der Schnittstelle von künstlerischem, politischem und sozialem Engagement angesiedelt sind. Siehe

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men der Kunst mit anderen Menschen zu interagieren und so an der Hervorbringung eines Kunstwerks teilzuhaben. Welche Aktionen und Reaktionen können sich dabei ergeben, und wie schlägt sich beispielsweise der Umstand des Wahrgenommenwerdens auf die Selbstwahrnehmung und die Ausführung der eigenen Tätigkeiten nieder? Was bedeutet es, sich in einem Raum aufzuhalten, in dem man durch seine Handlungen und sein Verhalten Einfluss auf die Erfahrungen Anderer nehmen kann, gleichzeitig aber von deren Handlungen und Verhalten beeinflusst wird? Und was wiederum geschieht, wenn Menschen mit widerstreitenden Intentionen, Wünschen und Erwartungen aufeinandertreffen?

P LÄDOYER FÜR DIE I NBLICKNAHME DER INTERSUBJEKTIVEN E RFAHRUNGSSITUATION Das Vorhaben, Kunsterfahrungen in intersubjektiven Begegnungen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, nimmt seinen Ausgang bei der Diagnose eines Desiderats. Nicht zuletzt verbindet sich mit dessen Inangriffnahme die Bemühung, einem Grundzug dieses künstlerischen Phänomens gerecht zu werden, der noch kaum genug problematisiert worden ist. So ist bislang nicht nur vernachlässigt worden, wie die in den Werkgestalten angelegten Begegnungen und die aus diesen Begegnungen resultierenden Erfahrungen eigentlich aussehen. Durch die Vernachlässigung dessen, was vor Ort geschieht, wurde allzu häufig auch ausgeklammert, dass Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken zwar vieles beabsichtigen wollen können oder vieles durch inszenatorische Strategien in die entsprechenden Bahnen zu lenken vermögen, letztlich jedoch kaum imstande sind, das Wie der Begegnungen und der in ihnen gemachten Kunsterfahrungen konzeptuell genau zu präfigurieren. Dass der künstlerischen Erfahrungsgestaltung immer schon Grenzen gesetzt sind, ist eine in gewisser Hinsicht triviale Feststellung. Und aufgrund der Sachlage, dass Kunsterfahrungen nie allein mit dem sie induzierenden Objekt verrechenbar sind, ist sie auch keineswegs nur auf jene Werke zu

zur so genannten Public Art stellvertretend Marius Babias/Achim Könneke (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen, Dresden 1998; Grant H. Kester: Conversation Pieces. Community and Communication in Modern Art, Berkeley, Los Angeles, London 2004; Arlene Raven (Hg.): Art in the Public Interest, New York 1993; Nina Felshin (Hg.): But Is It Art? The Spirit of Art as Activism, Seattle 1995; Malcolm Miles: Art, Space and the City: Public Art and Urban Futures, New York 1997; Suzanne Lacy: Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Seattle 1994; W.J.T. Mitchell (Hg.): Art and the Public Sphere, Chicago 1992; Tom Finkelpearl (Hg.): Dialogues in Public Art, Cambridge/Mass. 2000; Erika Suderburg (Hg.): Space, Site, Intervention: Situating Installation Art, Minnesota 2000.

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beschränken, die hier im Mittelpunkt des Interesses stehen. Kunsterfahrungen sind stets das Ergebnis der Begegnung zwischen einem Subjekt mit seinen ihm eigenen Dispositionen und einem Objekt mit seinen ihm spezifischen Eigenschaften. Der individuelle Charakter, der jeder Kunsterfahrung eignet, verdankt sich somit dem Umstand, dass unterschiedliche Personen mit ein und demselben Objekt immer andere Begegnung haben werden oder dass selbst eine einzige Person bei der erneuten Begegnung mit ein und demselben Objekt nicht mehr dieselbe ist, da sie sich bereits bei der zweiten Begegnung von sich selbst durch die Erfahrungen unterscheidet, die sie beim ersten Mal gemacht hat. Darüber hinaus resultiert die Individualität von Kunsterfahrungen aus den sich ständig ändernden Kontexten, in denen Subjekte und Objekte aufeinandertreffen. Genau genommen werden deshalb Kunsterfahrungen nie nur an einem Werk, sondern immer in einer spezifischen raum-zeitlichen Situation gemacht: in einer bestimmten historischen Zeit, an einem konkreten geografischen und gegenständlichen Ort sowie in einer augenblicklich gegebenen Raum-Zeitlichkeit, in der die Dynamiken, die sich zwischen einem Erfahrungssubjekt und einem künstlerischen Arrangement entfalten, von zahlreichen Faktoren beeinflusst sein können. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die Museumsaufsichten, die uns auf Schritt und Tritt durch die Ausstellungsräume folgen, um darauf zu achten, dass wir uns angemessen verhalten. Oder an all jene Museumsbesucher, die uns darin zum Störfaktor werden, dass sie sich schon lauthals über das austauschen, was ihnen an einem Werk gefällt, was sie irritiert oder ihnen rätselhaft erscheint, noch bevor wir selbst Gelegenheit hatten, uns in Ruhe auf es einzulassen. Dass sich ein Geschehen immer schon bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle der Rezipienten und zugleich der Gestaltbarkeit der Künstler widersetzt, dass sein Werden diesen Entzug im selben Maße in sich trägt, wie es diesen Entzug mit herstellt, ist insofern keine Neuigkeit. Allerdings möchte ich behaupten, dass dieser Umstand auf die zur Diskussion stehenden Arbeiten im Besonderem zutrifft, weil sie intersubjektive Bezüge hervorbringen und sich in diesen Bezügen wesentlich konstituieren. Sie rücken, so könnte man sagen, die Abhängigkeit der Kunsterfahrungen von den Handlungen und dem Verhalten anderer Personen in den Vordergrund und inszenieren Kunst gewissermaßen als Schauplatz alternierender Begegnungen zwischen Menschen. Zur zentralen Bedingung einer Erfahrung avanciert mithin, was in der Zusammenkunft von Werken und Rezipienten in der Regel nur auf einem Nebenschauplatz vor sich geht und sich oftmals bloß als notwendig zu akzeptierende Begleiterscheinung Aufmerksamkeit verschafft. Künstler, die Begegnungen zwischen Personen initiieren, weiten den Spielraum für unvorhersehbare Ereignisse deutlich aus. Sie legen das Fundament für Ungeplantes und Unplanbares und bringen dabei – bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt – zugleich die Grenzen der Inszenierbarkeit zur Ausstellung. Diese Grenzen betreffen nicht erst am Ende das Dass

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des Zustandekommens einer intersubjektiven Begegnung selbst. Denn während ein und dasselbe künstlerische Arrangement durchaus differente Begegnungskonstellationen hervorbringen und jede dieser Begegnungskonstellationen wiederum differente Erfahrungen auslösen kann, ist es genauso gut möglich, dass es niemanden geben wird, der sich bereit erklärt, die Handlungs- oder Kommunikationsangebote in Anspruch zu nehmen und sich mit ihrer Hilfe zu Anderen in Beziehung zu setzen. Mit der Vernachlässigung dessen, was tatsächlich vor Ort geschieht, ist die Frage nach diesen vielfältigen Emergenzen bisher häufig im toten Winkel der Auseinandersetzungen verschwunden. Statt ins Auge zu fassen, was in der Museumsrealität aus dem in künstlerischen Entwürfen Angelegten resultiert und inwiefern dabei ganz Unerwartetes hervortreten kann, wird Potenzialität in der Tendenz mit Wirklichkeit gleichgesetzt und, wie u.a. bei Bourriaud,8 von den künstlerischen Einrichtungen ohne Überprüfung auf die jeweiligen Begegnungen und Erfahrungen projiziert. Eine erfahrungsästhetisch orientierte Untersuchung soll demgegenüber den Vorteil bieten, einem Phänomen adäquat Rechnung zu tragen, das die einer Erfahrungssituation immer schon eignenden Kontingenzen in signifikanter Form thematisch werden lässt. Sie soll es ermöglichen, die Art der Beziehungen und die Art der Erfahrungen unter die Lupe zu nehmen, ohne sich dabei auf die Absichtserklärungen der Künstler verlassen und sich allein mit Mutmaßungen zufrieden geben zu müssen. Dieses Vorhaben versteht sich im Grunde als Erweiterung zu einer Anregung, die Oskar Bätschmann bereits Ende der 1990er Jahre formulierte. Für »die Bereitstellung von Vorrichtungen, Einrichtungen und Objekten […], die das Publikum in Ausstellungen mit einer unerwarteten Situation überraschen oder in einen Vorgang einbeziehen und dadurch einen Prozeß der Erfahrung auslösen«, hat der Kunsthistoriker in seinem Buch Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem den Begriff der »Erfahrungsgestaltung« geprägt.9 Pointiert rekurrierte er mit diesem Begriff auf den Stellenwert, der den Kunsterfahrungen seit den 1960er Jahren und seit der Wende von der Werk- zur Prozessästhetik bereits in den Entwürfen vieler Arbeiten eingeräumt wird. Und bezeichnete als Erfahrungsgestalter demach Künstlerinnen und Künstler, die das Publikum zu Aktivitäten einladen, ohne deren Ausführungen die entsprechenden Installationen und Objekte ebenso wenig Vollständigkeit zu beanspruchen imstande sind, wie ohne die Erfahrungen, die mit diesen Ausführungen einhergehen. Worauf Bätschmann mit dem Konzept der Erfahrungsgestaltung zielt, ist somit der Umstand, dass sich die Bedeutungen der Werke, um die es ihm geht, nicht mehr als etwas ihnen Eingeschriebenes konzeptionalisieren lassen, das es im hermeneutischen Nachvollzug zu entschlüsseln gilt. Stattdes-

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Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit Nicolas Bourriaud vgl. Kap. 4. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 232.

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sen sind die Bedeutungen nicht länger von den durch sie ausgelösten Erfahrungen abzukoppeln. Sie konstituieren sich erst und nur im Verlauf der Aneignungsprozesse als die Gesamtheit der Erfahrungen, die die Besucher im Zuge ihrer Aktivitäten machen. Was er mit dem Begriff der Erfahrungsgestaltung adressiert, ist anders gesagt die Verlagerung der künstlerischen Bedeutungsstiftung von der produktionsästhetischen auf die rezeptionsästhetische Seite. Die künstlerische Bedeutungsstiftung, so lässt es sich mit dem Kunsthistoriker Michael Lüthy formulieren, »subjektiviert und performativiert sich, […] indem sie sich von ihren konkreten Umständen und Verläufen weder ablösen kann noch will«10. Die Konklusion, die Bätschmann aus diesen ästhetischen Veränderungen für das theoretische Arbeiten ableitet, führt ihn schließlich dazu, für einen Perspektivwechsel zu plädieren: Statt der Konzentration allein auf die Objekte verlangten es diese neuen Formen, den Blick fortan auf das Miteinander von Objekt und Aktivität bzw. auf die Erfahrungsprozesse zu lenken, in denen diese Objekte angeeignet werden. Betrachtet man die Werke der gegenwärtigen Ausstellungskunst, die zwischenmenschliche Begegnungen inszenieren, dann wird kaum zu bestreiten sein, dass sie sich Bätschmanns Konzept der Erfahrungsgestaltung mühelos zuordnen lassen. Auch sie offerieren Aktivitäten, deren Ausführungen für die Vollständigkeit der Werke und die Erfahrungen selbst konstitutiv sind. Die künstlerische Hinwendung zur zwischenmenschlichen Begegnung gestattet es jedoch, von einer speziellen, einer anderen Variante der Erfahrungsgestaltung auszugehen. Sprach sich Bätschmann also noch dafür aus, »die Objektästhetik zugunsten einer Prozeßästhetik aufzugeben und im Prozeß den Gegenstand der Kritik zu sehen«11, so möchte ich vor dem Hintergrund dieser jüngeren Entwicklungen vorschlagen, den Gegenstand der Kritik bzw. der analytischen Betrachtung und Beurteilung in der zwischenmenschlichen Erfahrungssituation zu suchen. Diese Erweiterung des von Bätschmann vorgenommenen Perspektivwechsels eröffnet den Weg nun zu einem zweifachen Ziel: Ausgehend von der Annahme, dass die Inblicknahme von Erfahrungen, die grundlegend an den Aufenthalt in einer konkreten intersubjektiven Situation gebunden sind, es erfordert, sich diesen Situationen analytisch zu nähern, werde ich mein Interesse zum einen auf das richten, was sich vor Ort und zu einer bestimmten Zeit ereignet (und nicht allein auf das, was dort als künstlerisches Setting – als Objekt, Installation oder Ensemble von Akteuren – gegeben ist oder sich den künstlerischen Intentionen zufolge ereignen soll). Zum anderen möchte ich in diesem Zuge zu zeigen versuchen, inwiefern es im vorliegenden Fall für die Kunst- und Theaterwissenschaft von Nutzen sein kann, einen Dialog aufzunehmen.

10 Michael Lüthy: »Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München 2006, S. 57-74, hier: S. 58. 11 O. Bätschmann: Ausstellungskünstler, S. 240.

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AUFFÜHRUNGSERFAHRUNGEN – ODER VOM N UTZEN EINES D IALOGS ZWISCHEN K UNST - UND T HEATERWISSENSCHAFT Zu disparat ist das zu untersuchende Feld, um es weitläufig zu durchmessen. Seine Eingrenzung ist daher von der Beobachtung motiviert, dass wir dank einer sich erneut vollziehenden Veränderung der Idee und Konzeption von Kunstwerken heutzutage auch in Museen und Galerien immer öfter Erfahrungen in Situationen machen können, die sich als Aufführungssituationen bezeichnen lassen. Es sind Aufführungssituationen insofern in ihnen die einen vor Anderen oder für Andere Handlungen ausführen, sich vor Anderen oder für Andere in besonderer Weise inszenieren und exponieren oder in denen sich die einen zu den Anderen durch einen bestimmten Rezeptionsmodus in ein spektatorisches Verhältnis setzen. Die Aufführung ist demnach eine Kategorie, die ein spezifisches Verhältnis benennt, ein Verhältnis zwischen denen, die schauen, und denen, die angeschaut werden. Gleichsam ist die Aufführung eine Kategorie, die zunächst noch nichts aussagt über die Rolle, in der die Angeschauten auftreten, über die Art des Miteinanders zwischen Zuschauern und Akteuren und mithin einen konkreten Aufführungstypus. Mit der Rede von einer Aufführung ist weder per se festgelegt, dass der Akteur ein Darsteller ist, der vor Anderen eine fiktive Rollenfigur verkörpert. Noch ist mit ihr angesprochen, dass die Zuschauer zwangsläufig ins Dunkel eines Auditoriums verbannt und als Adressaten eines auf Illudierung zielenden Spiels entworfen sind. Die Reichweite des Aufführungsbegriffs ist wesentlich größer. Sie umfasst keineswegs nur das dramatische oder postdramatische Kunsttheater, sondern erstreckt sich auf zahlreiche kulturelle Ereignisse, zu denen auch Konzerte, Autorenlesungen, Rituale, Sportwettkämpfe oder politische Veranstaltungen gehören.12 Während es für Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftler zum Alltagsgeschäft gehört, sich mit Aufführungen im Theater – und von hier aus weitergehend: mit allen möglichen Formen von kulturellen Aufführungen – auseinanderzusetzen,13 spielt die Analyse und Beurteilung von auf-

12 Vgl. hierzu Milton Singer, der für jene kulturellen Praktiken, die sich durch einen Handlungs- und Aufführungscharakter auszeichnen und das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellen, reflektieren oder in Frage stellen, den Begriff der cultural performance geprägt hat. Milton Singer: Traditional India: Structure and Change, Philadelphia 1959. 13 Für die Theaterwissenschaft resultierte aus der Hinwendung zur Aufführung als ihrem eigentlichen Gegenstand in den letzten zehn bis 15 Jahren eine deutliche Ausweitung ihres Untersuchungsfeldes und Fragehorizontes. Ausgehend von der Prämisse, das Aufführungen nicht nur im Theater, sondern in allen kulturellen Bereichen stattfinden, begreift sie sich nicht mehr allein als Kunstwissenschaft.

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führungshaften Situationen in der Kunstgeschichte allenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn man so will, war es die Kunst selbst, die ihr diese Aufgabe lange Zeit ersparte. Hat ihr jedoch schon die Wende zur Prozessästhetik sowie das Aufkommen von Happening, Fluxus und Performance Art die »traditionellen werkästhetischen Analyseinstrumente aus der Hand«14 geschlagen, so mag dieses Fehlen geeigneter Analyseinstrumente ebenfalls dafür verantwortlich sein, dass die erfahrungsästhetischen Dimensionen in den von der zeitgenössischen Ausstellungskunst inszenierten Begegnungen zwischen Menschen noch kaum in den Fokus kunstwissenschaftlicher Betrachtung gerückt sind. Mit der Diagnose, dass auch Kunstwerke in Museen und Galerien zunehmend Erfahrungen in Aufführungssituationen ermöglichen, verbindet sich indes keineswegs die Behauptung, jedes Werk, das die Hervorbringung intersubjektiver Begegnungen begünstigt, konstituiere unweigerlich aufführungshafte Situationen. Häufig konzipieren Künstlerinnen und Künstler ihre Werke durchaus so, dass sich Bezüglichkeiten zwischen Personen ergeben können, die zumindest nicht notwendigerweise als aufführungshaft erfahren werden müssen. Als Beispiel lässt sich erneut Rirkrit Tiravanija anführen, in dessen Installationen es den Anwesenden erlaubt ist, sich aufzuhalten und gemeinsam etwas zu tun. Sicherlich kann es auch hier vorkommen, dass jemand in einer dieser Installationen etwas tut und dabei von einer anderen Person so wahrgenommen wird, als seien er, seine Handlungen und sein Verhalten von irgendwem in Szene gesetzt worden. Genauso gut kann es jedoch sein, dass sich mehrere Menschen einfinden, um miteinander zu kochen, miteinander zu essen oder sich zu unterhalten, ohne dass ihre Handlungen und ihr Verhalten einen spektatorischen Rezeptionsmodus evozieren. Erinnert man sich an das Performance-Konzept Marvin Carlsons, demzufolge es immer jemanden geben muss, der ein Geschehen als Aufführung anerkennt, – »some audience that recognizes and validates it as performance«15 – dann ist es keineswegs gerechtfertigt, jedes interagierende Miteinander so ohne Weiteres als Aufführung zu begreifen.

Mit der Inblicknahme sämtlicher kultureller Aufführungen hat sie vielmehr angefangen, sich zugleich dezidiert als Kulturwissenschaft zu begreifen. 14 Michael Lüthy: »Dass sich in der Kunst ein Wandel vom Werk zum Prozess ergeben hat […], gehört mittlerweile zum Grundwissen der Kunstgeschichte […]. Allerdings belässt es die Kunstgeschichte gewöhnlich beim Konstatieren bzw. Nachzeichnen dieses Wandels, obschon (oder: weil) er ihr die traditionellen werkästhetischen Analyseinstrumente aus der Hand schlägt.« Zit. nach »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«, Antrag auf Finanzierung der 2. Förderperiode des Sonderforschungsbereichs 626, Berlin 2006, S. 176. 15 Marvin Carlson: Performance Art: A critical introduction, London 1996, S. 6.

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Mit dem Vorhaben, jenen Erfahrungssituationen nachzugehen, die als aufführungshaft erfahren werden können, geht es mir daher nicht um den Nachweis der Behauptung, alle Werke, die um die Herstellung zwischenmenschlicher Begegnungen bemüht sind, bringen stets Aufführungen hervor. Vielmehr möchte ich zu zeigen versuchen, wann und inwiefern der theaterwissenschaftliche Aufführungsbegriff auf das zur Diskussion stehende Phänomen Anwendung finden kann. Wie kann er dabei behilflich sein, ganz bestimmten intersubjektiven Bezüglichkeiten in der zeitgenössischen Ausstellungskunst auf den Grund zu gehen und sie adäquat zu beschreiben oder zu beurteilen? Und wie lassen sich mit theaterwissenschaftlichen Herangehensweisen Dimensionen von Kunsterfahrungen eruieren, denen mit der Konzentration allein auf die Ebene der Objekte, Installationen oder Akteure nicht beizukommen ist? Nicht zuletzt versteht sich dieses Unternehmen als Anregung für die Theaterwissenschaft, ihre Beschäftigungen mit der bildenden Kunst nicht bei Happening, Fluxus oder Performance Art enden zu lassen, nicht also dort, wo die Hinwendung zur Aufführung einen Ausweg aus dem Dispositiv der bildenden Kunst zu weisen versprach. Wie die Arbeit an intersubjektiven Begegnungen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst zeigt, können für die Theaterwissenschaft auch Werke zu einem interessanten Bezugspunkt werden, die sich explizit am Dispositiv der bildenden Kunst orientieren. Da Ausstellungskünstler Aufführungssituationen anders in Gang setzen als Theaterregisseure und da die Realisation von Begegnungen zwischen Menschen in Museen und Galerien anderen Bedingungen unterliegt als im Theater, lassen sich hier Aufführungserfahrungen entdecken, die so weder im Theater noch in anderen kulturellen Bereichen zu machen sind. Was aber bezeichnet der theaterwissenschaftliche Aufführungsbegriff überhaupt genau? Und was lässt sich unter einer theaterwissenschaftlichen Herangehensweise verstehen? In einem Artikel zur Phänomenologie von Theatererfahrungen schreibt Jens Roselt: »Wie sehr das Erleben einer Aufführung vom Publikum abhängig ist, mag ermessen, wer den ersten Teil eines Theaterabends in der letzten Reihe des dritten Rangs inmitten einer Schulklasse erleben ›musste‹ und dann in der Pause auf einen freien Platz in der ersten Reihe zwischen zwei Millionärswitwen wechseln ›durfte‹.«16

Mit diesen Worten gibt der Theaterwissenschaftler einen Eindruck von der Art und Weise, in der neben dem Bühnengeschehen auch die Wahrnehmungen, Handlungen und das Verhalten anderer Rezipienten für das eigene Er-

16 Jens Roselt: »Kreatives Zuschauen. Zur Phänomenologie von Erfahrungen im Theater«, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung (2/2004), S. 46-56, hier: S. 48.

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leben einer Aufführung relevant werden können. Diese Feststellung mag zunächst trivial erscheinen. Nimmt man sie ernst, so hat sie für das wissenschaftliche Arbeiten jedoch beträchtliche Folgen. Sie erfordert eine zwangsläufige Fokuserweiterung und methodologische Neuorientierung und bedeutet mithin Herausforderung, der sich die Theaterwissenschaft seit mehreren Jahren zu stellen versucht. Mit der geisteswissenschaftlichen Instantiierung des performative turn17 sowie der vom postdramatischen Theater forcierten Verhandlung der Durchlässigkeit der Vierten Wand oder der Situationsabhängigkeit von Erfahrungen18 hat die Theaterwissenschaft begonnen, ihr bis dahin abgestecktes Untersuchungsfeld zu erweitern.19 In der Überzeugung, dass Aufführungen nur unzureichend zu erfassen sind, wenn man sich bei der Analyse lediglich auf das Bühnengeschehen, die Ermittlung von Bedeutungen, Interpretationen oder die Absichten der Regisseure konzentriert, widmet sie sich seither all jenen Kontingenzen, die immer schon auftreten können, wenn sich Menschen für eine gewisse Zeit am selben Ort begegnen. Ein zentraler Gegenstand der theaterwissenschaftlichen Forschung sind entsprechend die komplexen Austauschprozesse, die sich zwischen allen Beteiligten – zwischen den Akteuren auf der Bühne, zwischen Bühne und Zuschauerraum, aber auch zwischen den Zuschauern selbst – im Hier und Jetzt einer Aufführung ereignen. Im Zuge dieser Fokusverschiebungen ist allerdings nicht nur etwa die Frage bedeutsam geworden, wie die Wahrnehmungen, Handlungen und das Verhalten anderer Rezipienten das eigene Erleben einer Aufführung beeinflussen können. Es hat ebenfalls eine Enthierarchisierung zwischen kognitiven und leiblich-sinnlichen Wahrnehmungsprozessen eingesetzt, der es zu verdanken ist, dass nun auch Aspekte Berücksichtigung finden, die sich einem hermeneutischen Zugriff entziehen und früher allenfalls als in Kauf zu nehmende Nebenwirkungen abgetan wurden: individuelle Affizierungen oder Stimmungen, Empfindungen und Gefühle, Erinnerungen, Assoziationen, Imaginationen oder Erwartungen.20 Sofern sich eine Aufführung nach

17 Zum performative turn in den Geisteswissenschaften und zu den unter dem Blickwinkel des Performativen veränderten Forschungsperspektiven siehe: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10, Berlin 2001. 18 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. 19 Vor der geisteswissenschaftlichen Instantiierung des performative turn orientierte sich die Theaterwissenschaft in ihren Forschungen zumeist an Theateraufführungen im engeren Sinne und ergründete, wie Regisseure Dramen oder Schauspieler Rollenfiguren interpretieren. Sie betrachtete Theateraufführungen als zu dechiffrierende Texte und widmete sich der Ermittlung der theatralen Zeichen, aus denen eine Aufführung jeweils zusammengesetzt ist. 20 Siehe hierzu stellvertretend Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007; Benjamin Wihstutz: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers,

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theaterwissenschaftlichem Verständnis nicht allein auf der Bühne abspielt, sondern die Gesamtheit der Ereignisse, Emergenzen, Dynamiken und Phänomene umfasst, die während der gemeinsamen Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern in Erscheinung treten und heterogene oder gar widersprüchliche Erfahrungen auslösen können,21 heißt dies in letzter Konsequenz, dass, so Roselt, »auch die Walkmans und Gameboys, die im dritten Rang das Desinteresse am Bühnengeschehen ausdrücken«, oder »das entsetzte Kopfschütteln der Damen in der ersten Reihe, das einsetzt, wenn Hamlet auf der Bühne ›Scheiße‹ sagt«22, Teil der Aufführung sind und Berücksichtigung finden müssen, wenn sie auf unsere Wahrnehmungshaltung einwirken. Mit der Entwicklung des Aufführungsbegriffs als einer heuristischen Kategorie und der damit einhergehenden Priorisierung phänomenologisch perspektivierter Analysen hat die Theaterwissenschaft einen Weg eingeschlagen, auf dem sie auf den Umstand reagiert, dass alle Theatererfahrungen stets situationsabhängige Erfahrungen sind.23 Wie bei den Arbeiten, die Bätschmann mit dem Konzept der Erfahrungsgestaltung beschreibt, gilt auch für jede Aufführung, dass sie nicht jenseits der gemachten Erfahrungen anzusiedeln ist: »[…] das Wesentliche einer Aufführung […] ist gerade in der besonderen und spezifischen Erfahrung durch Zuschauer zu finden.«24 In dem Maß, wie eine Aufführung nicht von den subjektiven Erfahrungen abzulösen ist, die in ihrem Verlauf von den einzelnen Teilnehmern gemacht werden, sind die Erfahrungen umgekehrt notwendig an die konkrete Aufführungssituation – und nicht an die Inszenierung – geknüpft.25 Im Gegensatz

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Berlin 2007; Fischer-Lichte, Erika et.al. (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006. Zur Heterogenität von Kunsterfahrungen siehe E. Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München 2006. J. Roselt: »Kreatives Zuschauen«, S. 48. Zur Definition des Aufführungsbegriffs sowie zur Einführung des Aufführungsbegriffs als heuristische Kategorie hat Erika Fischer-Lichte in den vergangenen Jahren zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Stellvertretend seien hier genannt: »Aufführung«, in: dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 16-26; E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, hierin insb. S. 42-57 sowie S. 281-313. Zum Unterschied zwischen semiotischer und phänomenologischer Aufführungsanalyse siehe des Weiteren Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen, Basel 2001, hierin insb. S. 233-265. Zur Erläuterung der Charakteristika einer phänomenologischen Aufführungsanalyse siehe außerdem Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, München 2008. J. Roselt »Kreatives Zuschauen«, S. 48. Wenn ich schreibe, dass Theatererfahrungen an die Aufführungssituation geknüpft sind, so meine ich damit nicht, dass filmische oder fotografische Dokumentationen einer Aufführung nicht in der Lage wären, Erfahrungen auszulösen.

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zu einer Aufführung ist die Inszenierung »der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll«26. Sie liefert »wichtige, ja entscheidende Vorgaben für die Aufführung«27, vermag diese bzw. das, was in ihr geschieht, jedoch keineswegs genau festzulegen. Die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen einer Inszenierung (als Vorbereitung und Konzeption einer Aufführung) und einer Aufführung (als die an die gemeinsame Anwesenheit von Zuschauern und Akteuren gebundene Umsetzung einer Inszenierung) ist für das theaterwissenschaftliche Arbeiten von so grundlegender Bedeutung wie für das vorliegende Vorhaben. In beiden Fällen, im Theater und in den intersubjektiven Begegnungen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst, werden durch inszenatorische Strategien Situationen vorbereitet, die sich trotz aller konzeptuellen Planungen der vollständigen Planbarkeit dennoch zwangsläufig entziehen. Was die zu diskutierenden Künstler mit den Regisseuren im Theater verbindet, ist daher der Umstand, dass sich auch ihre Werke insofern als eine Arbeit an potenziellen Situationen begreifen lassen, als sie zum einen etwas vorbereiten, das die Möglichkeit besitzt, sich in der Zukunft zu realisieren. Zum anderen haben sie dabei stets mit einzukalkulieren, dass jederzeit nicht Intendiertes und nicht Inszeniertes eintreten kann. Ganz gleich, ob man das ungeplant Emergierende, das mitunter sogar in Widerstreit zum Intendierten geraten kann, als Qualität oder Defizit begreift – etwas zu inszenieren, bedeutet, die Eigendynamiken akzeptieren zu müssen, die sich in den Realisationen dieser Inszenierungen entwickeln werden. Aus den verschiedenartigen Eigenheiten und Bedingungen von Inszenierungen und Aufführungen ergeben sich für deren jeweilige Untersuchungen daher differente Fragestellungen. Fragt die Analyse einer Inszenierung nach den verwendeten Elementen, nach Texten oder dem Einsatz von Licht, Kostümen, Bühnenbildern, so konzentriert sich die phänomenologische Analyse einer Aufführung auf die Hervorbringungen, Wahrnehmungen und Wirkungen von Räumlichkeit, auf die Körperlichkeit und Lautlichkeit, den Vollzug von Handlungen, die Art und Weise ihrer Durchführungen und nicht zuletzt auf die Bedeutungen, die erst durch diese im Verlauf der Aufführung entstehen. Für die Analysierenden heißt dies, dass sie allein von ihrer eigenen Wahrnehmung und Erfahrung ausgehen und zudem nur von den Aufführungen sprechen können, die sie selbst besucht haben. Eine Begegnung mit anderen Teilnehmern wird eine andere Aufführung hervorbringen, selbst wenn die Inszenierung, die den unterschiedlichen Aufführungen zugrunde liegt,

Ich möchte diese Erfahrungen jedoch nicht als Theatererfahrungen bezeichnen, sofern sie eine andere, eine eigene Qualität besitzen. Den Begriff der Theatererfahrung reserviere ich entsprechend nur für Erfahrungen, die ausschließlich in der gemeinsamen Anwesenheit von Zuschauern und Akteuren gemacht werden. 26 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 327f. 27 Ebd.

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dieselbe bleibt. Intersubjektive Erfahrungssituationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst aus theaterwissenschaftlicher Perspektive in den Blick zu nehmen, setzt somit voraus, als Analysierende selbst anwesend sein und sich überdies genauso zum Gegenstand der Analyse machen zu müssen wie die Rolle, die man in der jeweiligen Erfahrungssituation eingenommen hat. Dass der Analysierbarkeit damit Grenzen gesetzt sind, versteht sich von selbst. Denn zurückgreifen kann ich nur auf meine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, und sprechen kann ich nur von denjenigen Situationen, in die ich selbst involviert war. Exemplarisch sind die Erfahrungen, von denen in den nachfolgenden Kapiteln die Rede sein wird, deshalb in einem doppelten Sinn: Es sind Erfahrungen, die andere Teilnehmer derselben Situation unter Umständen nicht gemacht haben; und es sind Erfahrungen, die ich in einer anderen Situation, an der ich nicht beteiligt war, vielleicht nicht hätte machen können. Dass ein solcher Ansatz Abstand nimmt von der ohnehin nur konstruierten Objektivität von Kunsterfahrungen, liegt auf der Hand. Stattdessen verhandelt er deren Subjektivität, ohne dabei jedoch der reinen Introspektion oder Beliebigkeit den Weg bahnen zu wollen. Alle Kunsterfahrungen sind subjektiv. Trotzdem sind es keine »Vorgänge im solipsistischen Kraftwerk«28 eines Rezipienten. Sie müssen stets vermittel- und kommunizierbar bleiben, was mit anderen Worten heißt, dass mit ihnen gleichsam in den Blick zu nehmen und zu reflektieren ist, wie sie durch ein künstlerisches Vorgehen vorbereitet worden sind und was sie überhaupt erst ausgelöst hat. Betrachtet man diese Grenzen der Analysierbarkeit nicht als Manko, sondern fragt nach ihrer Qualität, dann liegt diese gerade darin, der Subjektivierung künstlerischer Bedeutungsstiftung Raum zu geben, die in den Arbeiten thematisch wird, welche Bätschmann mit dem Konzept der Erfahrungsgestaltung beschrieben hat und welche auch im Zentrum meiner Untersuchungen stehen werden.

M ATERIAL

UND

F RAGESTELLUNGEN

Um ein Spektrum verschiedener Aufführungserfahrungen präsentieren zu können, werde ich in den ersten drei Kapiteln Bezug nehmen auf Kunstwerke von Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal. Wie zu zeigen sein wird, inszenieren diese Künstler zwischenmenschliche Beziehungen mit unterschiedlichen Mitteln, aber auch aus sehr verschiedenen Gründen. Entsprechend sollen sich die Untersuchungen in den einzelnen Kapiteln auf mehrere Ebenen erstrecken. Neben der Analyse von konkreten Erfahrungssituationen und ihren künstlerischen Gestaltungen wird der Frage nachzugehen sein, weshalb sich diese Künstler überhaupt der Hervorbrin-

28 J. Roselt: »Kreatives Zuschauen«, S. 48.

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gung zwischenmenschlicher Begegnungen widmen. Wie sich feststellen lässt, sind derzeit nicht wenige Kunstwerke darum bemüht, Erfahrungen in einem »relational realm« oder einem »sozialen Raum« zu ermöglichen. Dass die Wahl auf Gonzalez-Torres, Wurm und Sehgal fiel, mag daher zunächst willkürlich erscheinen. Tatsächlich gründet sie aber in der Beobachtung, dass diese Künstler nicht bloß auf eine Modeerscheinung reagieren und nicht bloß versuchen, den Erfolgskurs einer künstlerischen Praxis für sich zu nutzen. Anders als bei einigen ihrer Kolleginnen und Kollegen ergibt sich ihre Hinwendung zur Arbeit an intersubjektiven Erfahrungssituationen aus der Logik ihrer Werkkonzepte selbst. Doch wie sehen diese Werkkonzepte aus? Und welchen Stellenwert nimmt die Arbeit an intersubjektiven Erfahrungssituationen in ihnen ein? Diese Fragen werden ebenso zu klären sein, wie die Art und Weise, in der sich diese drei Künstler mit ihren Werken in den institutionellen Rahmen des Museums »hineinkomponieren«29 und die Geschichte der Ausstellungskunst weiterschreiben. Inwiefern sind ihre Inszenierungen aufführungshafter Situationen also auch Mittel und Zweck zur Auseinandersetzung mit historischen Vorläufern, mit Fluxus, mit der Minimal Art, der Konzeptkunst oder der Performance Art? Und wie gewinnen ihre veränderten künstlerischen Ausrichtungen und Interessen gerade in der Inszenierung von zwischenmenschlichen Erfahrungssituationen Evidenz? Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Candy Spills von Felix GonzalezTorres (1957–1996), jenen Installationen aus ein- oder mehrfarbigen Süßigkeiten. Diese Werkgruppe an den Anfang zu stellen, bietet sich insbesondere deshalb an, weil sie in Hinblick auf das Phänomen der Gestaltung von aufführungshaften Erfahrungen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst einen ersten Weg weisenden Beitrag geleistet hat. Bereits Anfang der 1990er Jahre schuf Gonzalez-Torres mit seinen Candy-Installationen Werke, die sich so auf ihre Umgebungen hin zu öffnen vermögen, dass sich diese Umgebungen gleichsam in einen Schauplatz transformieren, in einen Ort, an dem man sich als Zuschauerin von Akteuren oder umgekehrt: als Akteurin vor Zuschauern erfahren kann. Neben der Frage, wie Gonzalez-Torres diese Transformation der Werkumgebungen in Schauplätze in die Wege leitet, soll in diesem Kapitel außerdem die Bedeutsamkeit interessieren, die seine Inszenierung von Aufmerksamkeit für die Handlungen und das Verhalten anderer Besucher vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit zur Diskussion stehenden Erfahrungen erlangt.

29 Daniel Buren bestimmt das Museum als einen Ort mit einer dreifachen Rolle: einer ästhetischen, ökonomischen und einer mystischen. Die ästhetische Rolle definiert er folgendermaßen: »[Das Museum] ist der Rahmen, in den das Werk sich einschreibt – sich hineinkomponiert.« Zit nach ders.: »Funktion des Museums« (1970), in: Gerti Fietzek/Gudrun Imboden (Hg.): Achtung! Texte 19671991, Dresden, Basel 1995, S. 143-151, hier: S. 144.

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Im Fokus des zweiten Kapitel stehen die One Minute Sculptures von Erwin Wurm (*1954), die der österreichische Künstler seit 1997 in zahlreichen Versionen entwirft. Mithilfe eines Settings aus bühnenhaften Podesten, Handlungsanweisungen und Gegenständen setzt Wurm alle Parameter, um den Besuchern einen Auftritt als kurzlebige Skulpturen zu ermöglichen und die Theatralisierung des Ausstellungsraums zu begünstigen. Im Kontext seiner Arbeit an einem erweiterten Skulpturbegriff sorgt er so dafür, dass die lebenden Skulpturen und ihre Betrachter zu Teilnehmern an Situationen werden, in denen sich ihre Handlungen und Wahrnehmungen wechselseitig aufeinander beziehen. Anhand dieser Werkgruppe lässt sich nicht nur exemplarisch vorführen, was es heißt, sich als Akteurin vor Anderen zu exponieren. Zu diskutieren ist auch, inwiefern das Akteursein dadurch zusätzliche Brisanz zu gewinnt, dass man sich als lebende Skulptur in ungewohnter und ungewöhnlicher Pose vor Anderen zur Ausstellung bringt. Das dritte Kapitel nähert sich danach den Arbeiten This objective of that object und This situation von Tino Sehgal (*1976). Sehgals Werke zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie – anders als diejenigen von Gonzalez-Torres oder Wurm – gänzlich ohne materielle Objekte und Gegenstände auskommen und die Involvierung der Besucher in intersubjektive Situationen allein durch den Einsatz eigens engagierter Akteure bewerkstelligen. Betritt man den Ausstellungsraum, in dem This objective of that object (2004) oder This situation (2007) präsentiert werden, dann wird man unweigerlich zur Teilnehmerin an einer Zusammenkunft, in der alles, was man sagt oder tut, aber ebenso der Beschluss zu schweigen, unmittelbar wirksam werden kann. Darüber hinaus, und auch hierin liegt eine Besonderheit von Sehgals Arbeit, folgen die von ihm entworfenen Situationen einer Dramaturgie, die er im Vorfeld, in einem Probenprozess, mit seinen Akteuren festlegt. Es existieren somit gewisse Direktiven, die ihnen vorgeben, was sie in Korrespondenz zu den Aktionen und Reaktionen der Besucher tun sollen oder tun können. Und für die Besucher wiederum heißt dies, dass sie bei This objective of that object oder bei This situation nicht nur Beteiligte an einer Situation sind, auf deren Verlauf sie selbst Einfluss nehmen dürfen, sondern dass sie die der Situation zugrunde liegende Dramaturgie allein durch ihr Vorgehen überhaupt erst hervortreten lassen können. Die Untersuchungen unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen sollen mir schließlich als Grundlage für die Auseinandersetzung mit einigen der Grundthesen von Nicolas Bourriaud und Claire Bishop dienen. Mit seinem Buch Relational Aesthetics hat Bourriaud Ende der 1990er Jahre die erste theoretische Annäherung an das Phänomen der Gestaltung intersubjektiver Begegnungen in der zeitgenössischen Kunst unternommen, und wenige Jahre später, 2004, hat Bishop in ihrem Artikel Antagonism and Relational Aesthetics eine Kritik an Bourriaud vorgelegt, die längst so prominent und

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diskursprägend ist wie die Überlegungen, an denen sie sich entzündet.30 Einer Arbeit, die Aufführungserfahrungen und mithin einen speziellen Typus von intersubjektiven Kunsterfahrungen zu ergründen sucht, wird es kaum möglich sein, diese beiden Schriften zu übergehen. Im vierten Kapitel werde ich daher einige der in ihnen formulierten Kerngedanken zur Politizität der so genannten relationalen Kunst diskutieren, um auf diesem Weg nicht zuletzt meine eigene Position gegenüber Bourriaud wie auch gegenüber Bishop zu formulieren.

30 Claire Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October (2004), S. 51-79.

1. An dem Ort, von wo man schaut: Felix Gonzalez-Torres’ Candy Spills

Abbildung 1: »Untitled« (Welcome back heroes), 1991

Red-, blue-, and white-coloured-paper-wrapped Bazooka bubble gum, ideal weight 200 kilograms; dimensions vary with installation

Ein erster, vielleicht noch unkundiger Blick auf die Candy-Installationen des Künstlers Felix Gonzalez-Torres mag nicht unmittelbar enthüllen, was sie im vorliegenden zu einem wichtigen Referenzpunkt macht. Betrachtet man Fotografien von ihnen, dann sieht man in der Regel nicht viel mehr als unterschiedlich große Ansammlungen von Süßigkeiten, von Bonbons, Kaugummis, Schokokugeln oder Keksen, die in farbige Verpackungen gehüllt sind und in Museen oder Galerien meist als aufgeschüttete Haufen in einer Raumecke oder als flache rechteckige Felder auf dem Fußboden präsentiert werden. Im Dialog mit den architektonischen Begebenheiten begegnen sie dort als bunte kleine Hügel oder als große Teppiche, die, in der Mitte eines Ausstellungsraumes ausgelegt, von allen Seiten zugänglich sind, oder, in Nischen eingepasst, die umliegenden Wände mit ihren Rändern berühren.

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Abbildung 2: »Untitled« (Public Opinion), 1991

Cellophane-wrapped black-licorice candies, ideal weight 700 pounds; dimensions vary with installation

Abbildung 3: »Untitled« (Placebo), 1991

Silver-cellophane-wrapped candies, ideal weight 1.000-1.200 pounds; dimensions vary with installation

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Abbildung 4: »Untitled« (Loverboys), 1991

Cellophane-wrapped blue-and-white candies, ideal weight 355 pounds; dimensions vary with installation

Abbildung 5: »Untitled« (Loverboys), 1991 (Ausschnitt)

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Bei einem Museumsbesuch kann sich jedoch ein noch ganz anderes Bild ergeben. Die aus unzähligen Einzelteilen bestehenden Installationen glitzern dann bisweilen nicht nur in roter, blauer, grüner, silberner, goldener oder mehrfarbiger Pracht. Nicht selten lässt sich auch beobachten, wie sich Besucher bücken, um zaghaft nach einem Bonbon zu fischen, wie sie beherzt zugreifen und sich die Taschen füllen oder sich die Bonbons noch vor Ort in den Mund stecken. Die Spuren, die sie dabei hinterlassen, machen sich in den ausgefransten Rändern, den Ausbuchtungen und Löchern oder den zurückgelassenen Zellophanpapieren bemerkbar, die im Laufe einer Ausstellung in eben dem Maß zunehmen können, wie sich die Anzahl der süßen Fragmente verringert.1 Von Zeit zu Zeit lässt sich außerdem beobachten, wie ihnen andere Besucher dabei zusehen und ihnen entweder nacheifern oder ihr Vorgehen mit einem Kopfschütteln quittieren. In solchen Momenten wird augenscheinlich, dass die bunten Installationen verschiedene Aktionen auszulösen vermögen und zugleich imstande sind, Szenarien emergieren zu lassen, in denen die Besucher zu Akteuren vor Betrachtern oder zu Betrachtern von Akteuren werden. Für all diese Installationen wurde der Grundstein in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren, zwischen 1990 und 1993, gelegt. Es sind die materialisierten Realisationen – die Manifestationen, wie Gonzalez-Torres sie selbst nannte – von Bestimmungen, die er in Zertifikaten niedergeschrieben hat. In ihnen notierte er ihr jeweiliges Idealgewicht, gab Auskunft über die Sorten, Farben sowie die originalen Bezugsquellen der zu verwendenden Süßigkeiten und informierte so über die wesentlichen Parameter für die Ausführungen der Installationen.2 Über das Werk des amerikanischen Künstlers kubanischer Abstammung ist in den vergangenen zehn bis 15 Jahren viel geschrieben worden. GonzalezTorres gehört sicherlich zu den anerkanntesten und meist besprochensten Künstlern seiner Generation, und in der umfangreichen Rezeptionsgeschichte seines Werks sind seine zentralen Motive und Themen bereits ebenso häufig erörtert worden wie seine Weiterentwicklung der minimalistischen und konzeptuellen Kunststrategien der 1960er Jahre. Was im Zusammenhang meiner Untersuchungen interessieren soll, ist allerdings eine in den

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Im Rückgriff auf die Metapher des Meeres beschreibt die Kunsthistorikerin Deborah Cherry die wechselhaften Formationen der Bonbon-Installationen mit den folgenden Worten: »[…] their edges ebbing and flowing like the water’s edge, their surfaces rippling and glinting like the gentle waves of the sea.« Deborah Cherry: »Sweet memories: encountering the candy spills of Felix GonzalezTorres«, in: Mieke Bal (Hg.): Encuentro II. Migratory Politics, Reader zum gleichnamigen Symposium in Enkhuizen und Amsterdam (19.-21.09.2007), http://ebookbrowse.com/kelly-niamh-ann-kelly-paper-reader-opmaak-pdf-d1265 27898, S. 174-197, hier: S. 194. Zu den Zertifikaten von Felix Gonzalez-Torres siehe ausführlich Kap. 1.2.

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meisten Publikationen auffällig werdende Leerstelle. Diese Leerstelle betrifft bestimmte Erfahrungsdimensionen, die an und mit den Candy-Installationen gemacht werden können und die eine Inblicknahme gerade deshalb verdienen, weil sie Aufschluss über jenen Schritt geben, mit dem GonzalezTorres in erfahrungsästhetischer Hinsicht speziell über die Minimal Art hinausgegangen ist. Die Minimal Art, die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Relationen zwischen Werk und Betrachter dahingehend veränderte, dass die Rezipienten in Konfrontation mit den Bedingungen ihrer eigenen Wahrnehmung sowie denen der Ausgestelltheit und des räumlichen Umfelds der Objekte gerieten, war einer von Gonzalez-Torres’ wichtigsten Bezugspunkten. An die Minimal Art anknüpfend, baute er deren Praktiken in verschiedene Richtungen hin aus und zielte auf die Hinwendung zu einem intersubjektiven Miteinander und dessen Bedeutsamkeit für die Wirkkraft eines Kunstwerks. Zugleich machte er dabei eine Setzung, die in Bezug auf die Ausstellungskunst der 1990er Jahre und vor allem in Bezug auf jene Kunst, die die Hervorbringung zwischenmenschlicher Begegnungen begünstigt, nachhaltigen Einfluss gewann (siehe Kapitel 1.4). Die angesprochene Leerstelle umkreist somit die Fragen, wie es Gonzalez-Torres mit seinen Candy-Installationen einerseits gelang, Aufführungssituationen emergieren zu lassen, und wie diese Aufführungssituationen andererseits wiederum die Erfahrungen mit den Installationen beeinflussen. Wie zu zeigen sein wird, sind die Bezüglichkeiten, die die Candy-Installationen hervorbringen können, vielseitig. Sie sind nicht reduzierbar allein auf das Miteinander der Personen vor Ort. Hingegen sind die Candy-Installationen imstande – so werden wir in Kapitel 1.3 sehen –, ganz unterschiedliche interdependente Bezüglichkeiten hervorzubringen. Ihre Hervorbringung hängt indessen von sehr verschiedenen Faktoren ab: von dem Vorwissen, das man als Rezipientin von dem Werk des Künstlers besitzt, von den Bedeutungsebenen, die die Bonbon-Installationen im Auge der Betrachterin entfalten, und nicht zuletzt von deren Präsentationsweisen, die ihrerseits mit präfigurieren, als was uns die Bonbon-Installationen erscheinen. Wie ich in Kapitel 1.2 erläutern werde, liegen diese Präsentationsweisen allerdings weniger in der Hand des Künstlers als vielmehr in derjenigen der Besitzer oder Kuratoren. In den Brennpunkt treten die jeweiligen Kunsterfahrungen daher im Lichte der Verknüpfung zweier komplementärer Instanzen: der Verknüpfung einer künstlerischen Vorgabe mit den kuratorischen Entscheidungen, denen zu weiten Teilen überlassen ist, wie sich die in den Zertifikaten niedergeschriebenen Bestimmungen genau materialisieren werden. Um zu verdeutlichen, in welcher Weise bereits in den Präsentationen der Installationen das für Gonzalez-Torres’ Kunst so grundlegende Prinzip der Offenheit für flexible Auslegungen zur Geltung kommt und bereits in ihnen seine Auseinandersetzung mit der Minimal Art hervortritt, soll im Folgenden zunächst dieses Prinzip selbst näher beleuchtet werden.

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1.1 I CH SEHE WAS , DAS DU NICHT SIEHST : Z UM P RINZIP DER D EUTUNGSFLEXIBILITÄT IN F ELIX G ONZALEZ -T ORRES ’ W ERK In diversen Interviews, so wie in demjenigen mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist aus dem Jahr 1994, erklärte Felix Gonzalez-Torres, dass die Existenz seiner Werke notwendig der Mitarbeit, der Interaktion mit den Rezipienten bedarf: »I need a viewer, I need a public for that work to exist. Without a viewer, without a public, this work has no meaning […]. This work is about an interaction with the public, or a large collaboration.«3 Dass GonzalezTorres die Rezipienten als Kollaborateure denkt, zeigt sich bereits in der ihnen gegebenen Möglichkeit, sich an den Süßigkeiten (oder im Fall der Werkgruppe der Paper Stacks: an den bedruckten, unterschiedlich hoch gestapelten Papierpostern) zu bedienen. Sie dürfen, so sieht es das Werkkonzept vor, Bonbons, Kaugummis oder Schokokugeln aus den Formgebilden entfernen, sie mit nach Hause nehmen oder gleich vor Ort verzehren.4 Durch buchstäbliche Eingriffe ist es ihnen mithin erlaubt, das ursprüngliche Gewicht der Installationen zu verändern und auf deren jeweilige Erscheinungsformen Einfluss zu nehmen. Und darüber hinaus können sie für die Verstreuung und Verbreitung der Einzelteile sorgen. Sie können diese aus einem Gesamtgefüge und aus ihrem ursprünglichen institutionellen Präsentationsrahmen entfernen, sie aus dem Museum, aus der Galerie hinaustragen und an andere Orte bringen oder an andere Personen weitergeben. Die intendierte ›Mitarbeit‹ der Besucher lediglich auf aneignende oder distribuierende Akte zu reduzieren, bedeutete jedoch eine banalisierende Reduzierung der Candy Spills oder Paper Stacks, auch wenn beide Werkgruppen durch die ihnen zugrunde liegende Idee des giveaway auf der Ökonomie des Geschenks basieren und auf den physischen Einbezug der Rezipienten wesentlich zählen. Das Angebot zur Kollaboration erschöpft sich nicht im Einsammeln von Süßigkeiten oder Postern und ist mit der Fokussierung auf die Eingriffsmöglichkeiten in eine Installation noch kaum hinreichend beschrieben. Gonzalez-Torres adressiert die Besucher mit diesen beiden Werkgruppen noch auf einer weiteren Ebene. Denn indem er den Candy Spills und den Paper Stacks eine semantische Suggestivkraft verleiht und sie so für zahlreiche, disparate Assoziationen und Bedeutungszuweisungen öffnet, rechnet er mit den Rezipienten gleichsam in Hinblick auf die Ausdrucksqualitäten, die diese Werke durch deren Zutun entfalten können.

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Hans Ulrich Obrist: »Gespräch mit Felix Gonzalez-Torres« (1994), http://www.mip.at/de/autoren/10.html »Es ist Bestandteil des Werkkonzeptes, daß Dritte Bonbons von dem Werk nehmen dürfen.« Zit. nach Dietmar Elger (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, 2 Bd., Ostfildern-Ruit 1997, o.S.

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Diese Öffnung für Assoziationen und Bedeutungszuweisungen tritt bereits in den Werktiteln zutage. Seit 1988 gab Gonzalez-Torres fast all seinen Arbeiten den Titel »Untitled«, der in Parenthese meist durch einen zweiten Titel ergänzt ist. Entsprechend lauten die Namen der Candy Spills u.a.: »Untitled« (A Corner of Baci) – »Untitled« (L.A.) – »Untitled« (Lover Boys) – »Untitled« (Placebo) – »Untitled« (Placebo – Landscape – for Roni) – »Untitled« (Portrait of Dad) – »Untitled« (Portrait of Ross in L.A.) – »Untitled« (Public Opinion) – »Untitled« (Revenge) – »Untitled« (Ross) – »Untitled« (USA Today) – »Untitled« (Welcome Back Heroes) – »Untitled« (Fortune Cookie Corner) – »Untitled« (Para un hombre en uniforme) – »Untitled« (Silver Beach) – »Untitled« (NRA) – »Untitled« (March 5 th), #1. Seine Geschichte schreibt das unbetitelte Kunstwerk seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Es ist eine Geschichte, deren Bogen sich von den Abstrakten Expressionisten bis in die Gegenwart spannt und in deren Verlauf vor allem die Künstler der Minimal Art ein wichtiges Kapitel aufgeschlagen haben.5 Beruhten schon die absichtsvoll fehlenden Titel bei den Abstrakten Expressionisten (beispielsweise die als Nichtbetitelung gemeinten Nummerierungen von Clyfford Still oder die Metatitel Ad Reinhardts) auf einer ästhetischen, mitunter auch marktpolitisch motivierten Vermittlungsverweigerung,6 so war es schließlich die Minimal Art, die dem Titel ›Untitled‹ zu einem Auftritt verhalf, mit dem das Paradoxon des titellosen Titels im Titel selbst thematisch wurde. Durch Kursivierung erhielt ›Untitled‹ nun einerseits den Status eines vollgültigen Titels; andererseits avancierte Untitled damit zu einem Titel, dessen Anwesenheit im selben Moment auf seine Abwesenheit verwies. Dass sich die Karriere des ›Untitled‹ genannten Kunstwerks ausgerechnet mit der Minimal Art aufs Engste verknüpft, dürfte kaum erstaunen. Der Grund hierfür findet sich im künstlerischen Konzept der von der Phänomenologie beeinflussten Vertreter dieser Kunstrichtung,7 denen es – allen voran Donald Judd – um die formale Spezifik ihrer Objekte bestellt war. Da sie auf die situative Erfahrbarkeit der physischen Präsenz ihrer alle repräsentativen Funktionen negierenden Objekte zielten, sollten und mussten diese Objekte ohne die Zuhilfenahme von Titeln erfahren werden können. Titel waren nicht bloß überflüssig. Sie waren, wie Robert Morris in einem Interview erläutert, insofern problematisch, als sie den Rezipienten Interpretati-

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Vgl. Tobias Vogt: Untitled. Zur Karriere unbetitelter Kunst in der jüngsten Moderne, München 2006. Ebd., S. 234. Zu den Motivationen der Abstrakten Expressionisten siehe ausführlich Kap. III: »Zum unbetitelten Werk 1940-1970«, S. 73-178. Wegweisend für diesen Einfluss der Phänomenologie auf die Minimal Art war u.a. die Anfang der 1960er Jahre erschienene englische Übersetzung von Maurice Merleau-Pontys 1945 verfasster Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin 1976).

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onsangebote lieferten und daher der Idee der nicht-referentiellen, nicht mehr als zeichenhafte Bedeutungsträger in Szene gesetzten Objekte zuwiderzulaufen drohten: »I think that the reason I don’t title them is that I don’t think the work is about allusions. And I think titles always are. And I think the work is very much about that thing there in the space, quite literally. And titles seem to have some allusion to what the thing isn’t, and that’s why I avoid titles.«8

Die Wahlverwandtschaft, die Felix Gonzalez-Torres zur Minimal Art gesucht hat, wird evident in seinen Candy-Installationen, die, wie die Paper Stacks, die Formensprache minimalistischer Arrangements übernehmen. Erinnern die Paper Stacks bereits dem Namen nach an eine 1965 von Donald Judd begonnene Werkgruppe, so lassen die Präsentationsweisen der Candy Spills an Carl Andrés begehbare metallene Platten denken oder an dessen auf dem Prinzip der Ausschüttung basierenden Spill (Scatter Piece). Wie kaum ein anderer Künstler der 1990er Jahre machte sich Gonzalez-Torres die formalen Errungenschaften der Minimal Art zueigen, formulierte dabei zugleich aber eine ganz eigene Position. Er hat ihre Ansätze weiterentwickelt und Themenbereiche ausgebaut, die seines Erachtens noch »nicht erschöpfend verhandelt«9 worden waren. Evidenz gewinnt sein Umgang mit dem Erbe der Minimal Art sodann in den vielfarbig glitzernden Süßwaren oder bedruckten Postern, die sich nicht erst in ihrer Anmutung von den kargen, kühlen Materialien der minimalistischen Objekte unterscheiden. Verarbeitet wird in ihnen auch eine Kritik an den Minimal Künstlern, die in einem Maß auf der Bedeutungsfreiheit ihrer Objekte insistierten, dass sie übersahen oder doch immerhin übersehen wollten, dass es ästhetisch keine Ob-

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Robert Morris/David Sylvester: »A Duologue«, in: Michael Compton/David Sylvester (Hg.): Robert Morris, Ausstellungskatalog, London 1971, S. 13-20, hier: S. 13. Felix Gonzalez-Torres: »I think more than anything else I’m just an extension of certain practices, minimalism or conceptualism, that I am developing areas I think were not totally dealt with. I don’t like this idea of having to undermine your ancestors, of ridiculing them […]. I think we’re part of a historical process and I think that this attitude that you have to murder your father in order to start something new is bullshit. We are part of this culture, we don’t come from outer space, so whatever I do is already something that has entered my brain from some other sources and is then synthesized into something new. I respect my elders and I learn from them. There’s nothing wrong with accepting that. I’m secure enough to accept those influences.« Zit. nach Robert Storr: »Felix Gonzalez-Torres: être un espion (Interview)«, in: Art Press (1995), No. 198, S. 24-32, hier: S. 24.

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jekthaftigkeit an sich geben kann.10 Wie Rosalind Krauss bemerkte, sind selbst die Objekte der Minimal Art keineswegs »nackt und stumm«11, sondern durchaus in der Lage, die Betrachter zu zahlreichen Projektionen und Bedeutungsbildungen aufzufordern.12 Gonzalez-Torres war sich dieser Tatsache mehr als bewusst und sperrte sich infolgedessen nicht gegen symbolische Konnotationen.13 Statt sie, wie jene, programmatisch auszuschließen, schloss er sie thematisch ein. Die Ebene der Repräsentation, die die Minimal Art gänzlich zurücktreten ließ, integrierte er in seine Werke – und tat dies nicht zuletzt mithilfe seiner Titel. Auch in seinen Titeln taucht Untitled wieder auf, ist nun jedoch in Anführungszeichen gesetzt und mit Beifügungen, mit Subtiteln in Parenthese versehen, die die Besucher dazu anregen, die Werke im Kontext dieser persönlichen Kommentare des Künstlers zu betrachten. Gonzalez-Torres machte sozusagen schon seine Titel zum Schauplatz seiner Referenzen an die und gleichsam seiner Abgrenzung von der Minimal Art: In Anführungszeichen gesetzt, ließ er »Untitled« zum einen als ein Zitat erscheinen und rief so die ablehnende Haltung gegenüber der bedeutungsstiftenden Funktion von Titeln und Werken in Erinnerung, die seine Vorläufer mit Untitled zum Ausdruck zu bringen gedachten. Zum anderen markierte er mit dem apostrophierten »Untitled« die Ambivalenz, die jedem als »Untitled« präsentierten Titel stets inhärent ist und letztlich selbst den titellosen Titeln der Minimal Art eignet. Denn als Titel, die Interpretationshilfen verweigern und die vermeintliche Ausdruckslosigkeit der Objekte betonen sollen, sind auch sie keineswegs neutral. Vielmehr tragen sie ihrerseits dazu bei, dass die Werke »mit einer bedeutsamen Metaebene« 14 angereichert werden können. Indem er Untitled in Anführungsstriche setzte und diesen Titel weiterhin durch per-

10 Vgl. hierzu Juliane Rebentisch, die sich ausführlich mit der Verschränkung von Buchstäblichkeit und Bedeutung im Lichte der Minimalismus-Kritik Michael Frieds auseinandergesetzt hat. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M. 2003, S. 51-65. 11 Rosalind Krauss: »Allusion und Illusion bei Donald Judd« (1966), in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 228-238, hier: S. 229. 12 Zum antropomorphen Charakter der Minimal Objekte vgl. auch die Ausführungen von Georges Didi-Huberman. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. 13 Felix Gonzalez-Torres selbst sagte hierzu: »Minimalist sculptures were never really primary structures, they were structures that were imbedded with a multiplicity of meanings. Every time a viewer comes into the room these objects become something else. For me they were a coffee table, a laundry bag, a laundry box, whatever.« Zit. nach Tim Rollins: »Felix Gonzalez-Torres: Interview«, in: Julie Ault (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, New York, Göttingen 2006 (Exerpt aus einem 1993 geführten Interview), S. 68-76, hier: S. 74. 14 T. Vogt: Untitled, S. 238.

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sönliche Kommentare ergänzte, brachte Gonzalez-Torres dieses Paradoxon zum Vorschein. So wählte er mit »Untitled« zwar einen Titel, der Andrea Rosen, der Galeristin des Künstlers, zufolge dazu angetan ist, die »Flexibilität der Deutung« zumindest nicht durch »den offiziellen Titel«15 zu beeinträchtigen. Zugleich lud er mit dem parenthetischen Untertitel den Titel »Untitled« aber auf und ebnete den Weg für »an architecture of affect, a viewing situation, playing upon the ›remarkably diverse array of affective responses [to Minimalist works] when they were initially exhibited‹«16. Durch die beiden aufeinander bezogenen Titelteile erhält der titellose Titel bei Gonzalez-Torres eine ihn spezifizierende Attributierung, die den Betrachter informiert und außerdem animiert, dem jeweiligen Werk eigene Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen beizulegen. Die persönlichen Kommentare des Künstlers drängen sich jedoch nicht auf. Diskret halten sie sich im Hintergrund, in den Klammern, auf. Sie demonstrieren eine augenscheinliche Zurückhaltung und scheinen schon derart kommunizieren zu wollen, dass sie nicht als Erklärungen, sondern als Einladungen und Angebote zu ganz unterschiedlichen und stets wandelbaren Interpretationen fungieren. Etwa drei Viertel der Arbeiten von Gonzalez-Torres und darunter all seine Candy Spills sind durch Beifügungen in Parenthese versehen. Teilweise benennen die angeführten Namen und Daten Personen, Städte oder Tage, die im Leben des Künstlers von besonderer Bedeutung waren. Ross zum Beispiel ist der Vorname seines Lebensgefährten Ross Laycock, der 1991 an Aids verstarb; L.A. die Stadt, in die die beiden 1990 gezogen sind und in der sie ihr letztes gemeinsames Jahr verbrachten. Der 5. März (March 5th) wiederum ist der Geburtstag von Ross Laycock. Während einige Beifügungen autobiografische Wegmarken aus dem Leben des Künstlers aufrufen, gibt es allerdings auch solche, die sich als Anspielungen auf historische oder kulturelle Ereignisse begreifen lassen. Gonzalez-Torres gehört zu jenen Künstlern, in deren Werk die unauflösbare Verknüpfung von Privatem und Öffentlichem eine signifikante Rolle spielt. Und wie die Wahl seiner parenthetischen Titel enthüllt, hat er nie einer der beiden Sphären den Vorzug gegeben. Stets hat er sie in seiner Arbeit als gleich wichtige und gleich bedeutsame Sphären verhandelt, weil er davon ausging, dass jede Identität das Ergebnis der gegenseitigen Durchdringung dieser Sphären ist und ein Begebnis wie etwa der Fall der Berliner Mauer oder die Wahl eines Präsidenten unser Leben, unser Sein und unsere Sicht auf die Welt genauso beeinflussen wie die Liebe zu einem Menschen, der Tod eines Weggefährten oder ein Ort, mit dem wir wertvolle Erinnerun-

15 Andrea Rosen: »›Ohne Titel‹ (Das nichtendende Portrait)«, in: Dietmar Elger (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, 2 Bd., Ostfildern-Ruit 1997, S. 24-42, hier: S. 37. (Herv. i.O.) 16 D. Cherry: »Sweet memories«, S. 185f.

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gen verbinden. In der Wahl seiner Titel, die zusammengenommen ein weit verzweigtes Inventar an persönlichen, historischen und kulturellen Bezügen ergeben, brachte Gonzalez-Torres diese Überzeugung im selben Maß zum Ausdruck wie u.a. in seinen Word-Portraits, die er im Auftrag für einzelne Personen oder Paare anfertigte.17 Abbildung 6: »Untitled« (Portrait of the Wongs), 1991

Installed at the home of Lorrin and Deane Wong

Auch hier kombinierte er persönliche mit historischen Daten, ohne sie jedoch chronologisch zu ordnen oder in eine narrative Linearität zu bringen.18 Das tradierte Konzept des Portraits wurde hier gewissermaßen dadurch reformuliert, dass Gonzalez-Torres auf eine figürliche Illustration, auf die Repräsentation äußerlicher Charakteristika verzichtete und sich stattdessen von den zu Portraitierenden und künftigen Besitzern dieser Werke eine Liste mit Jahreszahlen und Schlüsselereignissen aus ihrem Leben geben ließ.19 In der

17 Einige Word-Portraits hat Gonzalez-Torres auch für Institutionen angefertigt, etwa für ein Museum oder die Fluggesellschaft »Austrian Airlines«. 18 Vgl. Andrea Rosen, die schreibt, dass sich Gonzalez-Torres einer Chronologie und Linearität verweigerte, um damit auf die Inkonsequenz und Nicht-Linearität von Erinnerungen zu verweisen. A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 34. 19 Gonzalez-Torres beschreibt seine Arbeit an den Word-Portraits so: »I start a portrait by asking a person to give me a list of important events in his or her life – intensively personal moments to which outsiders have very little knowledge of or insight to. Then I add some relevant historical events that in more ways than one have probably altered the course of and the possibility for those supposedly private and personal events.« Zit. nach Petra Reichensperger: »›A View to remember‹. Bewegungsprozesse voller Verräumlichungen und Verzeitlichungen«, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, Ausstellungskatalog, Berlin 2006, S. 29-42, hier: S. 38.

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Regel waren dies Jubiläen, Geburts- oder Todestage, die er durch Hinzufügungen komplementierte, um zu unterstreichen, dass wir auch von Dingen geprägt werden, in die wir nicht unmittelbar involviert waren und die sich entweder vor unserer Geburt oder aber an Orten zugetragen haben, an denen wir nie gewesen sind.20 Dass Privates und Öffentliches nur eine vermeintliche, nicht aufrechtzuerhaltende Dichotomie bilden, ist ein Thema, das in Gonzalez-Torres’ Werk immer wieder auftaucht und zugleich eine grundlegende Erfahrung seines eigenen Lebens widerspiegelt. In einem Interview sagte er hierzu: »Was Amerika betrifft, so haben jüngste Entwicklungen gezeigt, daß [die Trennung dieser beiden Sphären] nicht der Fall ist, besonders nicht für jene Teile der Bevölkerung, die das eigene Geschlecht lieben. Ich meine damit die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 1986, die besagt, daß schwule Männer und lesbische Frauen kein Recht auf Privatsphäre haben, denn der Staat darf regeln, wie sie Liebe füreinander auszudrücken haben und kann in ihre Schlafzimmer eindringen, um zu kontrollieren 21 und zu bestrafen.«

Mit diesen Worten benannte Gonzales-Torres die Formen, in denen der Staat per Gesetz in die intimsten Wünsche, Phantasien und Lebensumstände eingreifen und in der das Private von einer Politik der Verfolgung und Unterdrückung beherrscht und beeinträchtigt werden kann. Für ihn, der als homosexueller Mann in den 1980er und 90er Jahren im »Epizentrum der AidsKrise«22 lebte, stellte die Durchdringung beider Sphären allerdings auch des-

20 Vgl. A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 34. Siehe in diesem Zusammenhang auch das Selbst-Portrait von Gonzalez-Torres, das er 1989 begonnen und bis zu seiner letzten Fassung im Jahr 1995 ständig überarbeitet und ergänzt hat, um am Ende ein Ergebnis zu erlangen, das von den wichtigsten Erinnerungen und Ereignissen seines Lebens erzählt: Red Canoe 1987 Watercolors 1964 Paris 1985 Supreme Court 1986 Blue Lake 1986 Our Own Apartment 1976 Rosa 1977 Güaimaro 1957 New York City 1979 Pebbles and Biko 1985 Ross 1983 Civil Rights Act 1964 Mariel Boatlift 1980 White Shirt 1984 Julie 1987 An Easy Death 1991 CNN 1980 Black Monday 1987 Berlin Wall 1989 Great Society 1964 Venice 1985 Wawanaisa Lake 1987 U.N. 1945 Mother 1986 Myriam 1990 VCR 1978 Dad 1991 Bay of Pigs 1961 D-Day 1944 Interferon 1989 Jeff 1978 Silver Ocean 1990 H-Bomb 1954 The World I Knew Is Gone 1991 Bruno and Mary 1991 Madrid 1971 MTV 1981 Rafael 1992 May 1968 Andrea 1990 Twenty-fourth Street 1993 L.A. 1990 Placebo 1991 George Nelson Clocks 1993 A view to remember 1995. Dieses Selbst-Portrait wurde angefertigt für das »Centro Galego de Arte Contemporaneo« in Santiago de Compostela, abgedruckt in: ebd., S. 35. 21 Felix Gonzalez-Torres/Hans Ulrich Obrist: »Felix Gonzalez-Torres«, Interview, in: Der Standard vom 10.01.1996. 22 Simon Watney: »Im Fegefeuer: Das Werk des Felix Gonzalez-Torres«, in: Parkett (1994), No. 39, S. 48-61, hier: S. 52.

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halb eine unhintergehbare, mit der Ausbreitung dieser Krankheit zunehmend an Brisanz gewinnende Gegebenheit dar, weil der Bedrohung von Tod und Verlust im engsten Lebensumfeld die zusätzliche Bedrohung von Stigmatisierung und gesellschaftlichem Ausgegrenztseins zur Seite rückte. Obgleich sein Werk deutlich vor dem Hintergrund der Aids-Krise angesiedelt ist, obgleich »das systematische Erinnern und Vergessen, das Gedenken und Verleumden schwuler Männer, die an Aids gestorben sind«23, in seiner Arbeit einen zentralen Stellenwert besitzen und obgleich die aus seinen eigenen Erfahrungen resultierende Verzahnung von Privatem und Öffentlichem als ständige thematische Folie dient, liefert dieses Werk dennoch weder eine Darstellung der Aids-Krise noch der Identität des Künstlers. Gonzalez-Torres bringt sich sowie das, was ihn angeht und bewegt, ins Bild, rückt sich dabei aber nie in den Mittelpunkt. Seine Werke wie deren Titel ermöglichen Anknüpfungen an seine Biografie, doch lassen sich diese nur anstellen, wenn man bereits über ein bestimmtes Maß an Informationen verfügt. Je mehr man weiß, desto mehr kann man aus ihnen herauslesen, kann man Hinweise entdecken, die es selbst Eingeweihten aber nicht gestatten, den gelegten Fährten gänzlich auf die Spur zu kommen.24 »Wir kennen ihn nicht«, schreibt Simon Watney, und »das ist auch nicht ›das‹ Thema«25. Gonzalez-Torres offenbart sich nicht. Er unterlässt jede unmittelbare Expression seiner eigenen Sicht auf gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge und verweigert sich zudem jeder vordergründigen Agitatorik. Weil er eine einseitige Vereinnahmung seiner Bilder und Formen verhindert, bewahrt er sein Werk letztlich davor, lediglich als dasjenige eines ›hispanischen‹ oder ›homosexuellen Künstlers‹ klassifiziert zu werden. Die Subjektivität des Künstlers zeigt sich allererst in ihrem Entzug, in ihrer Nichtgreifbarkeit. Gerade dadurch jedoch gelingt es ihm, einen Spielraum für die Projektionen und Bedeutungsstiftungen Anderer zu eröffnen. Verdeutlichen lässt sich dies u.a. an seiner Billboard-Arbeit »Untitled«, 1991, einem großformatigen Plakat, das 1992 zur selben Zeit an 24 verschiedenen Plätzen im New Yorker Stadtraum aufgehängt wurde und auf dem in schwarz-weiß ein leeres, ungemachtes Bett zu sehen ist.26 Zwei Kissen, die den Abdruck von zwei Köpfen erkennen lassen, sowie die zurückgeschlagene Decke und das zerknitterte Laken erwecken den Eindruck, die-

23 Ebd., S. 50. 24 Siehe hierzu Andrea Rosen, die die eingeklammerten Untertitel als »kleine Geschenke« für diejenigen beschreibt, die Gonzalez-Torres persönlich kannten: »Solche Geschenke sind hochwillkommen, obwohl sie einem auch vor Augen führen, wieviel man vergißt. Weiß ich denn wirklich, was diese Worte jeweils für Felix bedeuteten?« Zit. nach A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 38. 25 S. Watney: »Im Fegefeuer«, S. 54. 26 Diese Plakatierung war Teil der Ausstellung Projects 34: Felix Gonzalez-Torres, die 1992 im »Museum of Modern Art« stattfand. Eines dieser Plakate wurde im Museum selbst präsentiert.

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ses Bett sei noch vor nicht allzu langer Zeit verlassen worden. Was sich der Betrachterin darbietet, ist nicht mehr als dieser Blick auf eine Schlafstätte. Die Assoziationen, die diese Schlafstätte wachzurufen imstande ist, dürften allerdings so zahlreich und unterschiedlich sein, wie die Personen, die diesem Plakat ihre Aufmerksamkeit schenken. Abbildung 7: »Untitled«, 1991

Location No. 11: 31 – 33 Second Avenue, East 2nd Street, Manhatten, billboard, dimensions vary

Für viele von uns ist das Schlafzimmer ein Ort der Geborgenheit, der Ruhe und Erholung, ein Ort, den wir mit einem geliebten Menschen teilen, an dem wir Sex haben oder uns unseren Träumen hingeben. Es ist ein Ort, den wir mit positiven Geschehnissen in Verbindung bringen, aber auch ein Ort, an dem wir schlaflos sind, an dem wir des Nachts Probleme wälzen und Krisen verarbeiten. Das Bett auf dem Plakat ist nicht einfach nur ein Bett. Es ist eine Metapher für so existenzielle Lebensstationen wie Geburt und Tod und für so grundlegende Ereignisse und Gefühle wie Krankheit und Genesung, Heilung und Hoffnung, Glück und Leid. Wer immer auf dieses Plakat blickt, wird etwas anderes in ihm sehen und bei seinem Anblick an etwas anderes denken. Und wer weiß, dass dieses Bett auf dem Bild das Bett von Gonzalez-Torres ist, wer weiß, dass er als homosexueller Mann von der 1986 gefällten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes selbst betroffen war, oder wer weiß, dass diese Arbeit entstand, kurz nachdem sein Lebensgefährte und wenig später sein Vater gestorben waren, wird wiederum Bedeutungen in es hineintragen, die denjenigen, die nicht im Besitz dieser Informationen sind, verborgen bleiben werden. Indem er eine Bildsprache wählt, die sich für verschiedene Lesarten offen hält, bringt Gonzalez-Torres zum Ausdruck, dass die eine gültige Wahrheit in seinen Werken nicht zu finden ist. Auch diese Billboard-Arbeit hält sich daher für viele Perspektiven anschlussfähig. Sie spricht Menschen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich an und evoziert nicht nur das Bewusstsein, dass schon die Person auf der anderen Straßenseite etwas anderes in ihr erkennen könnte, sondern verweist eben dadurch auf die Kontingenz

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von Bedeutung. Sie macht erfahrbar, dass das, was wir sehen, projizieren und assoziieren, von Zeiten, Kontexten und soziokulturellen Prägungen abhängig ist und sich ableitet aus unserer konkreten Identität und Lebenssituation. Beeinflusst insbesondere von der feministischen Theorie kehrte Gonzalez-Torres somit die Bedingtheiten unseres Sehens und unseres Vermögens zur Bedeutungsproduktion selbst hervor: »[…] we have come to realize that ›just looking‹ is not just looking but that looking is investigated with identity: gender, socioeconomic status, race, sexual orientation… Looking is invested with lots of other texts.«27 Weil er die Betrachter stets auf ihre eigene identitäre Disponiertheit zurückwirft und sie dazu herausfordert, sich ihrer eigenen subjektiven Bedeutungsproduktion gewahr zu werden, ist es letztlich nicht vonnöten, die Erinnerungen, Erlebnisse oder Emotionen von Gonzalez-Torres entschlüsseln zu können. Vielmehr geht es um uns selbst und um unsere persönlichen Erinnerungen, Erlebnisse oder Emotionen, mit denen uns auch die Installationen aus den süßen Zuckerwaren zu konfrontieren imstande sind. Sie können uns in unsere Kindertage zurückversetzen, in denen wir vielleicht von Bergen niemals sich erschöpfender Süßigkeiten geträumt haben, oder können uns an Überfluss und konsumistische Verhaltensweisen denken lassen. Um solche Assoziationen zu entwickeln, müssen wir die Werktitel nicht einmal gelesen haben. Auch ohne sie wird es uns kaum gelingen, die Bonbonfelder als neutrale Formengebilde wahrzunehmen. Durch die Untertitel in Parenthese werden uns jedoch Kommentare an die Hand gegeben, deren Lektüre es uns spätestens erschwert, diese Installationen nur in ihrem phänomenalen SoSein zu betrachten.28 Die Untertitel in Parenthese versorgen uns mit Informationen, die den Blick auf die Süßigkeiten verändern. Plötzlich können die länglichen schwarzen, in durchsichtiges Zellophanpapier gewickelten Lakritzbonbons aus »Untitled« (Public Opinion), 1991 (Abb. 2) ihre Unschuld verlieren und eine vage Ähnlichkeit mit Raketen adoptieren.29 Auf einmal mögen die weißen Bonbons aus »Untitled« (Lover Boys), 1991 (Abb. 4 und 5), in die sich eine blaue Spirale windet, wie kleine Symbole für das ineinander Verschlungensein zweier Liebender anmuten. Die silbernen Bonbons aus »Untitled« (Placebo), 1991 (Abb. 2) mögen dann nicht mehr einfach nur das Licht des Ausstellungsraums reflektieren, nicht mehr nur glitzern und strahlen, sondern entweder die Trost spendende Funktion von Süßigkeiten in den Sinn bringen oder uns in »das kulturelle Umfeld der medizinisch-klinischen Versuchsreihen mit neuen Medikamenten«30 ziehen, in das Reich

27 T. Rollins: »Felix Gonzalez-Torres«, S. 74. 28 Wie das Wissen um bestimmte Referenzebenen die Rezeption der Bonbonfelder zu präfigurieren oder zu semantisieren vermag, wird ausführlich in Kap. 1.3 verhandelt. 29 Vgl. Randy Kennedy: »With a wink, Felix Gonzalez-Torres slips into Venice«, http://www.iht.com/articles/2007/06/06/arts/venfest.php vom 06.06.2007. 30 Siehe hierzu ausführlich die Lesart von S. Watney: »Im Fegefeuer«, S. 53.

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der wirkungslosen Substanzen, verzweifelten Hoffnungen, der Risiken und Nebenwirkungen. Die viereckigen Bazooka-Kaugummis in blau, weiß und rot gestreifter Verpackung können sich in Anbetracht des Titels »Untitled« (Welcome Back Heroes), 1991 (Abb. 1) hingegen als polemisches Gedenken an die Rolle der USA im zweiten Golfkrieg ausnehmen, in den diese ein Jahr vor der Entstehung dieser Arbeit mehr als eine halbe Million Soldaten entsendeten, oder, aus heutiger Sicht, als Verweis auf das militärische Vorgehen der USA im Irak und in Afghanistan.31 Einige dieser Installationen geben sich auch als Portraits zu erkennen. Sie heißen »Untitled« (Portrait of Dad), »Untitled« (Portrait of Ross in L.A.), »Untitled« (Ross) oder »Untitled« (Lover Boys) und verraten nicht erst dem Namen nach, als wessen abstrakte Stellvertreter sie sich präsentieren. Wer sich mit diesen Arbeiten beschäftigt hat, weiß, dass ihr Gewicht mit demjenigen der portraitierten Personen korrespondieren kann: mit dem des Vaters, des Lebensgefährten oder, im Fall von »Untitled« (Lover Boys), mit dem gemeinsamen Körpergewicht von Felix Gonzalez-Torres und Ross Laycock. Vor dem Horizont der eingeklammerten Kommentare vermögen es die Süßigkeiten, ihre Formen und Farben sowie die Gestalten, die sie bilden, als Widmungen, Verneigungen oder Liebeserklärungen, als Beschwörungen, kritische Anrufungen oder ironische Anspielungen in Erscheinung zu treten. Sie halten sich bereit für das, was wir in ihnen sehen, sowie für die mannigfaltigen Bedeutungen, die wir ihnen beilegen werden. Im Sinne von Umberto Ecos Konzept des »offenen Kunstwerks« ist Offenheit bei Gonzalez-Torres ein Medium der Bedeutungserzeugung. Sie betont und thematisiert den Prozess der Bedeutungsbildung, ist jedoch keineswegs schon selbst die Bedeutung, um die es hier geht.32 Durch diese Offenheit bzw. durch das Prinzip der Deutungsflexibilität weisen sich diese Werke dezidiert als Gemein-

31 Diesen Aspekt hat Nancy Spector deutlich hervorgehoben, indem sie Felix Gonzalez-Torres als US-amerikanischen Repräsentanten für die Venedig-Biennale 2007 auswählte und folgende Arbeiten aus verschiedenen Werkgruppen zeigte: »Untitled« (Republican Years), 1992, »Untitled« (America), 1992 und »Untitled« (Public Opinion), 1991. Mit Robert Smithson ist Gonzalez-Torres somit derjenige Künstler in der modernen Geschichte der Biennale, dessen Werke im USamerikanischen Pavillon erst posthum zur Ausstellung kamen. Ihre Wahl begründete Nancy Spector mit den Worten, Gonzalez-Torres »would probably have considered his art to be even more relevant politically now than when he made it, with the war in Iraq and domestic battles raging over government eavesdropping, gay marriage and the concentration of wealth in America.« Zit. nach R. Kennedy: »With a wink«, o.S. 32 Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1977, S. 14 und 19. Obgleich ich diese Unterscheidung mit Blick auf Gonzalez-Torres’ Werk von Eco übernehme, folge ich im Weiteren weder dessen Konzeption des offenen Kunstwerks als »epistemologische Metapher« (ebd., S. 46) noch seiner Ansicht, dem offenen Kunstwerk gehe es stets um die Schließung dieser Offenheit.

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schaftsarbeiten aus. »In Gonzalez-Torres’s ideal world, people do not endure alone; they survive in pairs […]«,33 hat Nancy Spector einmal bemerkt und mit diesen Worten ein adäquates Bild für die Idee der Dialogizität und des intersubjektiven Miteinanders gefunden, auf denen sein Werk wesentlich basiert und die es gleichsam mit zur Ausstellung bringt. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich dieses auf das intersubjektive Miteinander angelegte Werkkonzept in signifikanter Weise auch in den Verhältnissen zum Ausdruck bringt, die Gonzalez-Torres kraft seiner Zertifikate mit Kuratoren und Sammlern etablierte. Wie gelang es ihm, die Kuratoren und Sammler zu Ko-Autoren seiner Installationen zu machen? Und inwiefern wurden gerade die Zertifikate zum Signum für die an sie delegierte Aufgabe und Verantwortung, die jeweiligen Erfahrungssituationen mitzugestalten?

1.2 G ETEILTE A UTORSCHAFT : D IE F UNKTION DER Z ERTIFIKATE Wie bereits erwähnt, sind die bunten Hügel und Felder aus Bonbons, Kaugummis oder Schokokugeln die materialisierten Realisationen von Bestimmungen, die Gonzalez-Torres in Zertifikaten niedergeschrieben hat. Eine Candy-Installation ausstellen zu wollen, bedeutet daher nicht, eine fertige, vorproduzierte künstlerische Einrichtung ins Museum bringen zu können. Stattdessen setzt dieses Vorhaben voraus, sie erst selbst ›herstellen‹, das heißt, die entsprechenden Zuckerwaren in der angegebenen Menge besorgen und sie anschließend arrangieren zu müssen. Mit dem Zertifikat griff Gonzalez-Torres auf ein Mittel zurück, das in den 1960er Jahren im Zuge der umfassenden Reformulierungen des tradierten Werkbegriffs und überlieferten Verständnisses von künstlerischer Arbeit zunehmend an Bedeutung gewann. Mit den Tendenzen, anstelle des fixierten Kunstwerks dessen prozessuale Transformationsmöglichkeit oder Vergänglichkeit zu betonen, oder mit den Tendenzen, Materialien und Produktionsmethoden den Vorzug zu geben, die nicht durch die Hand des Künstlers geformt und gelenkt werden, avancierte das Zertifikat zu einem Werkbestandteil, dem seither ganz unterschiedliche Funktionen zuteil werden. So kann es beispielsweise die Authentizität, die Einzigartigkeit und mithin die Identität eines Objekts belegen und es als das Werk eines Künstlers ausweisen, auch wenn dieser es nicht selbst ›gemacht‹ hat. In dieser Hinsicht ist das Zertifikat insbesondere für jene Künstler relevant, die auf Strategien des Readymade zurückgreifen oder industrialisierte Serienanfertigungen privilegieren. Zudem kann es die Originalität eines Objekts beglaubigen, von

33 Nancy Spector: Felix Gonzalez-Torres, Ausstellungskatalog, New York 1995, S. 143.

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dem mehrere Versionen existieren, jedoch bloß eine von ihnen als Original zu gelten hat. Oder es kann die dauerhafte Existenz einer Idee anzeigen, die ohne ihre (permanente) Realisation auskommt, kann dieser Idee den Eingang in den Markt sichern und ihn zugleich indizieren. In diesem letzten Fall funktionieren die Zertifikate vielfach wie Gebrauchsanweisungen und werden mitunter von instruktiven Dokumenten oder detailreichen Plänen begleitet, die erläutern, wie die entsprechende Idee auszuführen ist.34 In dem Maß, wie vor allem die Künstler der Konzeptkunst und der Minimal Art versuchten, die Parameter von Kunst einer kritischen Befragung und Redefinition zu unterziehen, übernahm das Zertifikat somit eine Rolle, die mit den komplexen Dynamisierungen adäquat korrespondierte. Durch die verschiedenen, ihm zugewiesenen Aufgaben wurde es zum prägnanten Ausdruck für die Bemühungen, die Evidenz künstlerischer Autorschaft im Objekt selbst zurückzuweisen und das Primat des materiellen Kunstobjekts als Quelle von Wert und Bedeutung zu destabilisieren. Auch Gonzalez-Torres’ Zertifikate adoptieren einige dieser Funktionen. Sie dienen als Beleg für die Autorschaft des Künstlers und geben den Besitzern das Recht, eine Arbeit zur Ausstellung zu bringen. Sie versorgen sie mit den nötigen Angaben, übertragen ihnen allerdings auch die Pflicht, die Kosten für jede Materialisierung eines Candy Spill tragen zu müssen. Ein Werk von Gonzalez-Torres zu besitzen, bedeutet daher nicht, Besitzer einer einzigartigen oder originalen Installation zu sein. Besitzer ist man nur eines Zertifikats, das über Rechte und Pflichten Auskunft gibt, sowie einer Besitzurkunde, die den Namen des Käufers anführt. Einzigartig und original sind allein diese Zertifikate. »Der Besitzer wird zum Bewahrer des Zertifikates«,35 schreibt Andrea Rosen. Er trägt Sorge für seine Umsetzungen, für die »(Re-)Inkarnationen«36 dieses einzigartigen und originalen Dokuments, die immer wieder und sogar an mehreren Orten gleichzeitig zur Ausstellung gebracht werden können.37 Für Felix Gonzalez-Torres sind die Zertifikate zum Angelpunkt seiner Bemühungen geworden, neue Konzepte von Installation, Produktion und Originalität zu erforschen.38 Die Aufgabe, die dabei den Besitzern zukommt, ist konstitutiv. Indem er mit den Zertifikaten auf ein Mittel zurückgriff, das

34 Vgl. zu den unterschiedlichen Funktionen von Zertifikaten Martha Buskirk: The Contingent Object of Contemporary Art, Cambridge/Mass. 2003, S. 52. Außerdem Miwon Kwon: »The Becoming of a Work of Art: FGT and a Possibility of Renewal, a Chance to Share, a Fragile Truce«, in: Julie Ault (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, New York, Göttingen 2006, S. 281-314, hier: S. 295ff. 35 A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 29. 36 Ebd. 37 Zur damit verbundenen Idee der sich stets wiederholenden Wiederaus- bzw. Wiederaufführung siehe Kap. 2.1 und Kap. 3.3. 38 Vgl. David Deitcher: »Widerspruch und Eingrenzung«, in: Dietmar Elger (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, 2 Bd., Ostfildern-Ruit 1997, S. 96-103, hier:, S. 98.

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in den 1960er Jahren die Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Autorschaft einerseits wesentlich repräsentierte und sie andererseits grundlegend neu perspektivierte, nahm Gonzalez-Torres auf diese Auseinandersetzungen Bezug. Auf sie aufbauend, setzte er das Konzept der Autorschaft allerdings insofern in ein anderes Licht, als er die Besitzer dezidiert als Partner der Produktion, als Ko-Autoren seiner sich ständig aufs Neue materialisierenden Werke entwarf. Wie aber genau tat er das? Und inwiefern hob er sich dabei von seinen Vorgängern ab? Als eine der bislang Wenigen hat sich Martha Buskirk ausführlich mit der Funktion der Zertifikate in der Minimal Art und der Konzeptkunst beschäftigt und anhand konkreter Beispiele erörtert, wie sich durch die Zertifikate das Konzept der Autorschaft gewandelt, vor allen Dingen aber verkompliziert hat.39 Die Sachlage, dass Künstler mit dem Verkauf ihrer Werke zugleich deren Herstellung und Präsentationsweisen aus den Händen gaben, evozierte nicht selten nämlich eine ganze Reihe von Problemen. Exemplarisch lassen sich einige dieser Probleme am Fall der Minimal Art veranschaulichen. Da die Minimal Künstler den Akzent auf die Buchstäblichkeit ihrer Objekte legten, um so die Relationen zwischen Werk, Ort und Betrachter hervortreten zu lassen und die Wirkkraft sowie situative Erfahrbarkeit ihrer Objekte zu betonen, war für sie die materielle Beschaffenheit und Qualität der Objekte so ausschlaggebend wie die Art und Weise, in der sie zur Ausstellung kamen. Ein Objekt, das schlecht gearbeitet war, bei dessen Herstellung auf ein minderwertiges Material ausgewichen wurde, oder ein Objekt, das in einem Raum ungünstig positioniert und schlecht ausgeleuchtet war, war nicht akzeptabel. Es drohte seine Wirkkraft zu verlieren oder eine nicht intendierte Wirkung zu erzielen und also das Gelingen des künstlerischen Anliegens in Gefahr zu bringen. Kaufte eine Institution oder kaufte ein Sammler ein Werk, dann wurden sie zwangsläufig zu Ko-Autoren, denen bei der Herstellung und Präsentation eines Objekts eine nicht unerhebliche Mitverantwortung zukam. Bisweilen barg dieser Umstand jedoch ein gewaltiges Konfliktpotenzial, denn nicht immer waren die Künstler mit den Entscheidungen ihrer Ko-Autoren einverstanden und nicht immer waren sie gewillt, die Kontrolle tatsächlich abzugeben. Die Streitigkeiten und gerichtlichen Prozesse zwischen Donald Judd und dem italienischen Sammler Giuseppe Panza erzählen eindrücklich von den Missverständnissen, die die Überantwortung von Rechten und Pflichten an Andere mit sich bringen kann. Judd ist des Öfteren mit seinem Sammler aneinander geraten. Schlug dieser den Austausch eines in den Zertifikaten angegebenen Materials vor, um bei der Herstellung eines Objekts Kosten zu sparen, oder ließ er sogar eigenmächtig eine Kopie anfertigen, um den teuren Transport eines Originals zu einer Ausstellung nach Übersee zu umge-

39 M. Buskirk: The Contingent Object, insb. Kap. 1: »Authorship and Authority«, S. 21-54.

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hen, war dies für den Künstler genauso Anlass eines Ärgernisses wie die Präsentation eines seiner Objekte auf dem unebenem Fußboden in der Villa des Sammlers. Judd vertrat die Ansicht, dass Panza mit solchen Vorgehensweisen seinen Autoritätsbereich bei weitem überschritt. Und Panza wiederum war der Meinung, einem Künstler stünde die Kontrolle über das, was jenseits seines Studios vor sich ging, nicht zu.40 Was in diesen beiden Positionen zutage tritt, ist ein Streit um Autorität und Autorrecht, ein Streit, in dem beide Parteien ihre Kontroll-Oberheit zu behaupten versuchen.41 Er repräsentiert das Dilemma von Ermächtigung und Entmächtigung, von Ermächtigtwerden und Entmächtigtsein und belegt zugleich, dass die Zurückweisung der Evidenz künstlerischer Autorschaft im Objekt mitnichten den »Tod des Autors« bedeutete. Roland Barthes’ gleichnamiger Text aus dem Jahr 1967 hatte zu jener Zeit maßgeblichen Einfluss auf die Kunst genommen. Doch der in diesen Jahren so häufig postulierte »Tod des Autors« war, wie sich am Fall Judd beispielhaft erkennen lässt, in Wirklichkeit eher eine Verlagerung künstlerischer Autorität. Geltung verschaffte sie sich nun an anderer Stelle und in anderer Form auf umso nachdrücklichere Weise. Judds jahrzehntelange Konflikte mit seinem Sammler liefern eine treffende Illustration der Problematiken, die sich ergeben können, wenn nicht ausreichend geklärt und nicht präzise genug definiert ist, wie viel Kontrolle ein Künstler wirklich abzugeben bereit ist. Dass Judds frühe Zertifikate zahlreiche Entscheidungs- und Handlungsspielräume anbieten, lässt darauf schließen, dass er diesen Sachverhalt anfangs kaum hinreichend bedacht haben wird. Um ähnliche Missverständnisse zu vermeiden, gingen andere Künstler bei der Formulierung ihrer Zertifikate vorsichtiger vor. Im Unterschied zu Judd nutzten sie bereits die Zertifikate, um sich eine Position zu sichern, die es ihnen trotz der Überantwortung von Rechten und Pflichten ermöglichen sollte, die Kontrolle über die Herstellung und die Präsentationsweisen ihrer Objekte weitgehend zu behalten und die Zukunft ihrer Werke noch nach deren Verkauf mitbestimmen zu können. Wendet man vor diesem Hintergrund den Blick zurück auf Felix GonzalezTorres, dann wird schnell erkennbar, inwiefern er mit seinen Zertifikaten ein anderes Verständnis von Autorschaft in Anschlag bringt. Auch er nutzte seine Zertifikate, um die Parameter für die Materialisierungen seiner Installationen festzulegen; jedoch versuchte er dabei nicht, achtsam jeden Kontrollverlust zu vermeiden und allen Interpretationsmöglichkeiten vorauseilend die Grundlage zu entziehen. Stattdessen plante er den Kontrollverlust konzeptuell mit ein und machte ihn zu einem basalen Werkbestandteil. So nannte er u.a. zwar die ursprüngliche Präsentationsform eines Werks, ließ den

40 Ebd., S. 42. 41 Ebd., S. 35ff.

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Besitzer zugleich aber wissen, dass er »das Werk nach eigenem Belieben«42 präsentieren dürfte. »I don’t necessarily know how these pieces are best displayed«, sagte Gonzalez-Torres einmal zu der Kuratorin Nancy Spector. »I don’t have all the answers – you decide how you want it done. Whatever you want to do, try it. This is not some Minimal artwork that has to be exactly two inches to the left and six inches down. Play with it, please. Have fun. Give yourself that freedom.«43

In den Zertifikaten von Gonzalez-Torres sind die Interpretationslücken keineswegs also das Ergebnis von Achtlosigkeit. Sie sind wohl kalkuliert, sind mit Absicht und Bedacht gesetzt und bezeugen seine Großzügigkeit und Kompromissbereitschaft gegenüber den Besitzern und Kuratoren, die auf diesem Weg aufgefordert werden, sich mit eigenen Ideen und Deutungen einzubringen.44 Die Zertifikate geben, wie Gregor Stemmrich schreibt, »die unaufhebbaren Voraussetzungen und damit den Spielraum« an, »unter denen eine ästhetische Erfahrung der Werke möglich ist«45. Die Autorität des Künstlers wird zur Bedingung für die Freiheit der Besitzer, sich an den Erfahrungsgestaltungen zu beteiligen. Gonzalez-Torres konnte sich und konnte ihnen diese Freiheiten erlauben. Er konnte sie zum integralen Werkbestandteil machen, weil es ihm nicht darum ging, die ästhetische Erscheinung sei-

42 Siehe D. Elger: Felix Gonzalez-Torres, o.S. Ebenso verhält es sich mit der Angabe »Idealgewicht«, die nicht exakt eingehalten werden muss. 43 N. Spector: Felix Gonzalez-Torres, S. 191. In einem Interview mit Hans Ulrich Obrist beschreibt der Künstler die Irritationen, die diese Freiheit auf Seiten der ausführenden Personen auslösen können, wie folgt: »But it is funny because, you know, when I send this stuff to museums, art handlers and historians have a hard time to decide what to do with these things. They keep faxing us back saying ›What do we do with this thing?‹; and we keep faxing them back saying ›Whatever you want!‹; and they just don’t believe it, they say ›This cannot be true!‹ […], [T]hey want the traditional conceptual instruction saying ›five inches to the left, six inches to the right and then 22 feet down‹ and I say ›No, you do whatever you want, you are responsible for the piece, you are responsible for the construction of the piece, you do with it whatever you want!‹ In the same way I ask the viewer: ›You are responsible for the final meaning of this piece of paper that is part of this stack‹.« Zit. nach H.U. Obrist: »Gespräch mit Felix GonzalezTorres«, o.S. 44 Deutlich tritt die konzeptuell angelegte Ko-Autorschaft auch bei den Word-Portraits hervor. In den zugehörigen Zertifikaten erlaubt es Gonzalez-Torres den jeweiligen Besitzern, Jahreszahlen und Ereignisse nach eigenem Belieben hinzuzufügen oder auszutauschen. Vgl. A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 34f. 45 Gregor Stemmrich: »Nichts als Stückwerk«, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst/Berlin (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, Ausstellungskatalog, Berlin 2006, S. 63-82, hier: S. 63.

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ner Installationen im Phänomenalen aufgehen zu lassen, sondern er bemüht war, seine künstlerische Praxis auf das Transzendentale hin zu öffnen. Nicht zuletzt können die Interpretationslücken als Zeichen von Gonzalez-Torres’ Weitsicht begriffen werden. Als er Anfang der 1990er Jahre an seinen Candy Spills Jahre arbeitete, wusste er bereits, dass er mit dem HIVVirus infiziert war und nicht mehr lange zu leben haben würde. In Hinblick auf die Gegenwärtigkeit seines nahenden Todes erscheint die derart initiierte Abgabe von Kontrolle zugleich als seine ganz eigene Methode, sich mit der schon bald nicht mehr von ihm zu kontrollierenden Zukunft seiner Werke auseinanderzusetzen. Dieses Vorgehen, durch die kontrollierte Abgabe von Kontrolle die künftige Kontrolllosigkeit gewissermaßen zu antizipieren und das Loslassen noch zu Lebzeiten konzeptuell mitzudenken, findet eine Entsprechung auch in der an die Besucher gerichteten Erlaubnis, einzelne Bonbons aus den Installationen entnehmen zu dürfen. In dieser Geste wird das Loslassen in nochmals veränderter Form manifest. Die Idee der Auflösung, der Instabilität und Entmaterialisierung seiner Bonbonfelder wird zu einer Metapher für die eigene Vergänglichkeit und trägt damit, wie Miwon Kwon luzid herausgestellt hat, dem Topos vom ›Tod des Autors‹ eine nochmals veränderte Bedeutung ein.46 Dass die Candy Spills auf der Geschenk-Ökonomie beruhen und es vorsehen, dass sich die Besucher an den Süßigkeiten bedienen dürfen, die Anzahl der Einzelteile verringern oder sie und mithin die ganze Installation zumindest potenziell zum Verschwinden bringen können, gibt aber auch der Frage nach der Überantwortung von Rechten und Pflichten eine interessante Wendung. Genau genommen müssen die Besitzer oder die Institutionen, die von den Besitzern zur Ausstellung autorisiert werden, nämlich nicht nur für den Kauf der Bonbons sorgen. Sie müssen hierfür zudem die Kosten übernehmen. Gonzalez-Torres übertrug ihnen eine Aufgabe, mit deren Ausführung sie selbst zu Schenkenden werden. Wie verhält es sich aber mit ihrer eigenen Großzügigkeit, wenn die Bonbons weniger werden und sich ihr Wenigerwerden in den Löchern und Ausbuchtungen der Formationen bemerkbar zu machen beginnt? In seinen Zertifikaten hat Gonzalez-Torres angegeben, dass die Besitzer und Kuratoren die Süßigkeiten immer wieder bis zur Ide-

46 »In this way, facing death, he fashioned his own dispersal, giving a whole new meaning to the concept of the ›death of the author‹.« Zit. nach M. Kwon: »The Becoming of a Work of Art«, S. 309. Siehe auch David Deitcher, der schreibt: »Keine anderen Künstler seiner Generation haben eine so phantasievolle und poetische Art ersonnen, sich mit der Frage nach dem Tod des Autors auseinanderzusetzen, und keiner hat diese Diskussion und die daraus sich ergebende, im Grunde emanzipatorische Idee von der Geburt des Lesers besser in die Struktur seines Werkes eingebunden als er.« Zit. nach D. Deitcher: »Widerspruch und Eingrenzung«.

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algröße oder bis zum Idealgewicht auffüllen können.47 Er erlaubte ihnen, die von den Besuchern hinterlassenen Spuren zu verwischen, und gab ihnen die Möglichkeit, die Installationen vor ihrer Deformation und Auflösung zu bewahren. Er gab ihnen hierzu die Möglichkeit, verpflichtete sie allerdings zu nichts. Und in Konsequenz bedeutet dies, dass beispielsweise »ein geiziger Besitzer«, wie David Deitcher nicht ohne Ironie schrieb, »das Werk immer weiter verschwinden lassen könnte, bis es eines Tages fort wäre«48. Die Entscheidung, das Werk seinem Verschwinden zu überlassen, muss jedoch nicht bloß mit dem Geiz eines Besitzers zu tun haben. Könnten die Löcher und Ausbuchtungen nicht genauso gut Zeichen der Bereitschaft sein, den Prozessen des Wandels und der Vergänglichkeit stattzugeben?49 Oder könnten sie nicht auch das ganz praktische Problem des versiegenden Vorrats spiegeln? Dass die Besucher Bonbons entfernen dürfen, stellt die Besitzer und ausstellenden Institutionen vor Herausforderungen, die nicht allein die Fragen betreffen, wie und wo die Installationen zu positionieren sind oder ob den Prozessen der sich auflösenden Veränderungen nachgegeben werden soll. Es konfrontiert sie darüber hinaus mit Fragen der Wirtschaftlichkeit und der ökonomischen Kapazitäten oder eben mit der Eventualität, dass die in den Zertifikaten erwähnten Bezugsquellen eines Tages vielleicht nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Gonzalez-Torres hat in seine Zertifikate eine Klausel eingefügt, die besagt, dass »etwas Ähnliches verwendet werden kann«, falls »dieses spezielle […] Bonbon […] nicht verfügbar sein soll-

47 »Der Besitzer hat das Recht Bonbons zu ersetzen und das Werk bis zu seinem idealen Gewicht aufzufüllen.« Zit nach D. Elger (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, o.S. 48 Vgl. D. Deitcher: »Widerspruch und Eingrenzung«, S. 98. 49 Siehe in diesem Zusammenhang einerseits eine Textstelle bei Robert Storr: »It is important to stipulate here that although the certificates of authenticity issued by Gonzalez-Torres explicitly state that the installation of his candy pieces remains variable at the discretion of the owner, who may replenish the candies whenever they wish, in speaking with the author who first presented ›Untitled‹ (Placebo) when it entered the collection of the Museum of Modern Art in 1991, he asked that no effort should be made to replenish the stock of the candies, or tidy up the shredded contours the carpet inevitably develops as the cycle of depletion ran its course. To restore what has been taken or formally correct the aleatory effects of multiple acts of removal would be to interrupt and administer a spontaneous social transaction, a process of aesthetic repossession, a minor, incremental but perpetual transfer of wealth.« Zit. nach Robert Storr: »When this you see remember me«, in: Julie Ault (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, New York, Göttingen 2006, S. 5-37, hier: S. 7. Vgl. hierzu jedoch auch die Aussage von Andrea Rosen, derzufolge Gonzalez-Torres stets sorgsam darauf achtete, »daß die Werke nicht wirklich verschwanden«: »[…] es ist stets Vorsorge getroffen, daß die Bonbons endlos nachgelegt werden können.« Zit. nach A. Rosen: »›Ohne Titel‹«, S. 24.

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te«50. Doch auch wenn er Alternativen genehmigt, ist die Tatsache, dass bestimmte Bonbonsorten eines Tages nicht mehr zu beziehen sein könnten, für manche Besitzer und ausstellenden Institutionen trotzdem Anlass, die Erscheinungen künftiger Ausführungen der Zertifikate durch prophylaktische Maßnahmen abzusichern. Martha Buskirk hat auf die grundlegenden Probleme und Unwägbarkeiten aufmerksam gemacht, die mit der Idee der künstlerischen Delegierung von Produktionsvorgängen an Andere so häufig einhergehen – und erwähnte in diesem Zusammenhang u.a. die Kunstsammlerin Elaine Dannheisser, die aus Sorge, ein Unternehmen könnte irgendwann die Produktion der entsprechenden Bonbonsorte einstellen, Unmengen an Vorräten zu erwerben begann, Vorräte, die später bei der Lagerung von Insekten und Nagetieren befallen wurden.51 Buskirk berichtete ebenfalls vom »Museum of Modern Art« in New York, das sich auf den Tag, an dem die »Peerless Candy Company« keine Süßigkeiten mehr herstellen wird, mit der Konservierung des Verpackungspapiers vorbereitete, welches dann als Vorlage für ein Äquivalent dienen soll.52 Insofern überantworten die Zertifikate von Gonzalez-Torres den Besitzern und Kuratoren Beschäftigungen mit Fragestellungen, die ökonomischer und ästhetischer, aber auch praktischer Natur sein können. Obgleich die Besitzer und ausstellenden Institutionen wesentlichen Anteil an den Erscheinungsweisen der Installationen haben, ist ihr Einfluss auf die Erfahrungssituationen interessanterweise noch kaum in den Fokus umfassender Betrachtungen gerückt.53 Dieser Einfluss macht sich geltend in der Art, in der sie die Installationen anordnen, oder in der Entscheidung, die Besucher entweder darüber zu informieren, dass sie sich an den Bonbons bedienen dürfen, oder ihnen diese Information vorzuenthalten. Es mögen sich nicht alle Besitzer und Kuratoren im selben Maße darüber bewusst sein, inwiefern die An- oder Abwesenheit dieser Information die Erfahrungen der Candy-Installationen zu steuern vermag. Wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte, können die Begegnungen mit den Installationen aber durchaus unterschiedlich ausfallen, wenn diese Information gegeben ist oder fehlt.

50 Zit. nach ebd., S. 30. 51 Vgl. Martha Buskirk: »Planning for Impermanence«, in: Art in America (2000), S. 113-119. 52 Ebd. 53 Zwar ist es David Deitcher und Miwon Kwon zu verdanken, dass die Relevanz der Zertifikate für die Erfahrungsweisen der Werke von Gonzalez-Torres in den Fokus gerückt ist. Die konstitutive Rolle, die damit den Kuratoren mit Blick auf die konkreten Erfahrungssituationen zukommt, haben allerdings auch sie nicht ausreichend berücksichtigt. Vgl. D. Deitcher: »Widerspruch und Eingrenzung« und M. Kwon: »The Becoming of a Work of Art«.

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1.3 T UN

ODER

U NTERLASSEN ?

Von den Textsorten, die als Vermittlungsinstanzen von Kunst fungieren und die Erfahrungen des Publikums beeinflussen können, werden die meisten schon vor oder erst nach einem Ausstellungsbesuch rezipiert. Die Lektüre von Rezensionen im Feuilleton, von diskursiven Abhandlungen in wissenschaftlichen Publikationen oder von Künstler-Interviews in Katalogen und Zeitschriften ist der Begegnung mit Kunst in der Regel voran- oder nachgestellt. Der Einfluss, den diese Texte auf die Erfahrungen mit und an der Kunst nehmen, erfolgt aus einer zeitlichen und geografischen Distanz, die bei Textsorten, welche eigens dazu verfasst sind, dem Publikum während der Begegnung mit Kunst zur Seite zu stehen, aufgehoben ist. Zu diesen letztgenannten Textsorten zählen u.a. diejenigen in Faltblättern, in denen bereits beim Gang durch eine Ausstellung gelesen werden kann und die zuweilen nicht nur Angaben über das unmittelbar Wahrzunehmende bereithalten, sondern sich auch um dessen theoretische Untermauerung bemühen. Des Weiteren gehören zu solchen Textsorten die in Museen und Galerien allgegenwärtigen, in der Nähe von Kunstwerken angebrachten Tafeltexte. Als Texte, die in direkter Verbindung zu den Werken stehen, sind sie prädestiniert und nicht selten geradezu darauf angelegt, auf die Einstellung der Besucher gegenüber einem Kunstwerk sowie auf ihre Erfahrung an und mit diesem entscheidend einzuwirken.54 Obgleich sich diese Wirkung kaum qualifizieren lässt, ist sie dennoch kaum zu bestreiten. Meist fängt es schon beim Künstlernamen, beim Entstehungsjahr oder beim Titel an. Die Irritationen, die sich ergeben, wenn zwischen Titel und Kunstwerk kein Zusammenhang herstellbar scheint, oder die Enttäuschungen, die sich einschleichen, wenn ein Werk nur mit dem Titel »Ohne Titel« bezeichnet ist, werden viele kennen. Gerade wer mit einem Künstler und Werk nicht oder nur wenig vertraut ist, wird für nähere Erläuterungen daher oft dankbar sein.55 Dass Tafeltexte neben der Auskunft über Titel, Entstehungsjahr oder verwendete

54 Inwiefern sich Unterschiede markieren lassen zwischen der Art, in der Tafeltexte auf die Einstellungen der Betrachter gegenüber einem Werk einwirken, und der Art, in der es die gesprochenen Texte in Audioführungen tun, wäre eine Untersuchung wert, die hier aber weder geleistet werden kann noch soll. 55 Exemplarisch lässt sich hierfür einer der Kritikpunkte an der documenta 12 anführen, bei der es, bis auf wenige Ausnahmen, in der Ausstellung selbst weder zu den Künstlern noch zu deren Werken Informationen gab. Teil des kuratorischen Konzepts war es, diese Informationen auf die Kataloge oder die auf Vermittlung angelegten Führungen auszulagern, um so den eigenständigen Ausdruck der Werke zu betonen. Siehe stellvertretend Kia Vahland: »Sehen ist nicht verstehen«, http://www.zeit.de/online/2007/27/documenta-kommentar vom 04.07. 2007. Oder Karoline Hille: »Von der Kopfgeburt zur Weltkunst. Ein Blick auf die Documenta 12«, in: Anke Fuchs et.al. (Hg.): Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (2007), S. 68-71.

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Materialien der ausgestellten Werke mitunter auch Informationen zu deren Genese und Geschichte sowie zu den Biografien oder Gattungszugehörigkeiten der Künstler bereitstellen, macht sie zu exponierten Aufmerksamkeitsmagneten. Immerhin implizieren sie das Versprechen, einen Zugang zu Kunstwerken zu ermöglichen und somit etwas rezipier- oder erfahrbar zu machen, das andernfalls vielleicht unzugänglich und verborgen bliebe. Die Inanspruchnahme der Tafeltexte bedeutet in diesem Sinne die (wenn auch nicht immer vorsätzlich und bewusst getroffene) Entscheidung, sich neben der künstlerischen Einrichtung noch von einer weiteren Instanz bestimmen zu lassen, von einer Instanz, die zugleich ein Autor ist, der das Medium Tafeltext zu mehreren Zwecken nutzen kann: zur Beschreibung werkimmanenter Bezüge, zu ästhetischen und kunsthistorischen Einordnungen, zur Vermittlung der Intentionen, die zur Präsentation eines bestimmten Werks im Rahmen einer Ausstellung geführt haben – oder zur Einführung in die möglichen oder gar ›richtigen‹ Rezeptionsweisen einer künstlerischen Arbeit. 1993 ließ sich Felix Gonzalez-Torres von Roni Horns Gold Field, einer 1,20m x 1,50m großen, hauchdünnen Folie aus Gold, zu einem Candy Spill mit dem Titel »Untitled« (Placebo II – Landscape – for Roni) inspirieren, dessen Ausführung 2004/05 im Rahmen der Ausstellung Die zehn Gebote im »Deutschen Hygiene-Museum« in Dresden zu sehen war.56 Auf der Texttafel in der Nähe dieses etwa 1,50m x 2,50m großen Feldes aus goldenen Bonbons war unter dem Werktitel folgende Notiz zu lesen: »Das große, goldene Bonbonfeld darf aufgegessen werden! Die ohnehin zum Mitnehmen einzelner Bonbons verführende Arbeit von Felix Gonzalez-Torres entlarvt diese ›kleinkriminelle‹ Überlegung des Besuchers durch die Großzügigkeit, dass der Besucher einzelne Bonbons mitnehmen darf. Gonzalez-Torres überschreitet damit nicht nur das ›nicht anfassen‹ [sic] des normalen Museumsverkehrs, sondern hinter57 fragt auch das geschützte, wertvolle Eigentum, das Kunst darstellt.«

Interessant ist dieser Tafeltext aus zwei Gründen. Zum einen bemüht er sich, die Ausstellungsbesucher, die Gonzalez-Torres’ Candy Spills nicht kennen, mit einigen der zentralen Aspekte des Werkkonzeptes bekannt zu machen. Er gibt ihnen gewissermaßen eine Gebrauchsanweisung an die Hand, die sie wissen lässt, dass das tradierte Diktum des Nichtberührens von Kunst hier außer Kraft gesetzt ist und sie das große, goldene Bonbonfeld »aufessen« dürfen. Zum anderen vermag der Tafeltext mit dieser Erlaubnis gleichsam einer Situation den Weg zu bahnen, die zumindest bei meinem Ausstellungsbesuch in signifikanter Weise zur Schau stellte, inwiefern die ritualisierten Verhaltenskodizes in Kunstinstitutionen über Bord geworfen werden

56 Die Ausstellung fand vom 19.06.2004-02.01.2005 statt und wurde von Klaus Biesenbach kuartiert. 57 Eigene Mitschrift des Tafeltextes.

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können, wenn dem Publikum eine Handlung gestattet ist, die den Konventionen der Kunst und des Kunstbetriebes gleich mehrfach entgegensteht. So durfte hier nämlich nicht nur mit einem Werk interagiert werden. Vor allem durfte man sich etwas aneignen und es, wie es ausdrücklich hieß, verzehren. Was sich vor dem Bonbonfeld zutrug, glich sodann am ehesten jenem Anblick, der sich der Betrachtung bietet, wenn etwas nichts kostet, wenn etwas gratis ist und man sich nehmen darf, so viel man möchte. Vor dem Bonbonfeld hatten sich an diesem Sonntagnachmittag mit anderen Worten Besucher eingefunden, die nicht einzelne Bonbons aus dem Feld entfernten. Zu sehen waren Besucher, die mehrmals zugriffen, um einen ganzen Vorrat an Bonbons aufzusammeln. Belustigt sahen sie sich dabei zu, wie sie sich die Taschen vollstopften, eiferten einander nach oder steckten sich mit ihrem Tun gegenseitig an. Als ich das Bonbonfeld erreichte, war einer meiner Begleiter gerade dabei, seine zweite Hosentasche mit Bonbons zu füllen. Auf meine Frage, ob es denn gleich so viele sein müssten, entgegnete er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Tafelschildes: »Wieso? Steht doch da, dass man das darf.« Gonzalez-Torres wollte seine Arbeit »unter die Leute bringen« und fand es »aufregend«, dass »einfach jemand kommen«, seine »Arbeit nehmen und davontragen konnte«58. Die kuratorische Entscheidung, dem Publikum diese Auskunft zu geben, hatte zu einer Situation geführt, die mit der dem Werkkonzept zugrunde liegenden Idee durchaus also korrespondierte. Nichtsdestoweniger war es eine Situation, in der das Davontragen, das möglichst rasche Aufessen der Bonbons zum einzigen Inhalt der Rezeption zu verkommen schien. Fraglich blieb deshalb, ob die »›kleinkriminelle‹ Überlegung« der Besucher, wie es auf der Texttafel hieß, durch die »Großzügigkeit« des Künstlers tatsächlich »entlarvt« wurde. Die Betriebsamkeit im Umkreis der Installation legte immerhin den Eindruck nahe, dass kleinkriminelle Überlegungen hier gar nicht erst angestellt wurden, weil bereits der Tafeltext für die Vereitelung ihres Aufkommens gesorgt hatte. Der Tafeltext hatte Dynamiken sowohl zwischen Werk und Besuchern als auch unter den Besuchern selbst in Gang gesetzt, die ohne ihn so vielleicht nicht zustande gekommen wären. Zugleich hatte er aber noch eine ganz andere Art der Erfahrung verhindert. Gonzalez-Torres gehört zu jenen Künstlern, deren Werke mit Blick auf die Aufforderung oder Einladung zum physischen Einbezug der Rezipienten uneindeutig bleiben, und insofern hat der Kunsthistoriker Lars Blunck Recht, wenn er feststellt, »dass es eine werkimmanente Eindeutigkeit von Hand-

58 Zit. nach Dietmar Elger: »Minimalismus und Metapher«, in: ders. (Hg.): Felix Gonzalez-Torres, 2 Bd., Ostfildern-Ruit 1997, S. 62-72, hier: S. 63.

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lungsangeboten so lange nicht gibt, wie diese nicht verbal oder schriftlich vermittelt werden«59. Weiter schreibt Blunck allerdings: »Da im Fall der Candy Spills eine solche Vermittlung im Ausstellungskontext nicht erfolgt (bspw. durch einen Wandtext oder eine entsprechende Beschilderung), wäre das notwendige Vorwissen auf anderen Wegen zu erwerben, um jenseits aller Werkimmanenz über die entsprechende Handlungsmöglichkeit zumindest informiert zu sein.«60

Diese Schlussfolgerung ist nicht nur falsch, da es Ausstellungskontexte gibt, in denen eine Vermittlung der Handlungsangebote in der Tat erfolgt. Sie ist auch insofern fragwürdig, als sie suggeriert, es sei »notwendig«, ein »Vorwissen« von diesen Handlungsangeboten zu besitzen. Notwendig, so ließe sich jedoch fragen, wofür? Um sich den Candy-Installationen gegenüber angemessen verhalten zu können? Um sie ›richtig‹ zu erfahren? Um auf diesem Wege wenigstens die Entscheidungsfähigkeit zur Bonbonentnahme zu haben? Hieße das umgekehrt aber, ohne Vorwissen um eine Erfahrungsqualität gebracht zu sein? Die Notwendigkeit dieses Vorwissens möchte ich in Zweifel ziehen. In Abhängigkeit dieses Vorwissens mögen sich zwar die Erfahrungen ändern, die mit den Candy-Installationen oder in ihrem Umfeld gemacht werden können. Allerdings sorgt der Besitz dieses Vorwissens letztlich ebenso wenig für eine automatisch intensivere oder ›vollständigere‹ Erfahrung, wie umgekehrt das Nichtwissen von den Handlungsangeboten eine Erfahrung defizitär erscheinen lassen oder gar verhindern muss. Noch gut erinnere ich mich an meine erste Begegnung mit einer dieser glitzernden Installationen. Damals wusste ich noch nicht, dass es mir eine Bonbonentnahme gestattet war, und nirgendwo hing ein Schild, das mich darüber unterrichtete. Die Bonbons sahen verlockend aus, und weil ich gerne eins haben wollte, aber nicht wusste, ob mir dies erlaubt war, tat ich einiges, um sicher zu stellen, dass mich niemand erwischte, wenn ich mich bückte und ein Bonbon nahm. Ich bemühte mich um unauffällige Verhaltensweisen, suchte den Ausstellungsraum nach Überwachungskameras ab, hielt nach den Museumsaufsichten Ausschau und wartete schließlich, bis alle anderen Besucher den Raum verlassen hatten. Erst als ich davon ausging, dass mein Griff in das Bonbonfeld von niemandem bemerkt werden würde, steckte ich mir ein Bonbon in die Tasche und verließ danach schnell den Tatort. Wie eine dilettantische Diebin kam ich mir vor, und indem ich den Blicken potenzieller Betrachter aus dem Weg zu gehen und mich zur heimlichen, zur ungesehenen Akteurin

59 Lars Blunck: »›Luft anhalten und an Spinoza denken‹. Zu Fragen der Publikumsbeteiligung in der zeitgenössischen Kunst«, in: ders. (Hg.): Werke im Wandel? Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung, München 2005, S. 87105, hier: S. 90. 60 Ebd.

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zu machen versuchte, verhielt ich mich auch genau so. Meine ›kleinkriminelle Überlegung‹ wurde durch die Großzügigkeit des Künstlers nicht entlarvt. Sie wurde überhaupt erst und nur dadurch hervorgebracht, dass ich von seiner Großzügigkeit nichts wusste. Es waren das Nichtwissen von sowie die Abwesenheit einer ausdrücklichen Erlaubnis, die mich in eine Situation versetzten, in der mich die verführerische Kraft der Bonbons mit den institutionellen Verhaltenskodizes des Rahmens Museum und zugleich mit meiner Ambition konfrontierte, diese unterlaufen zu wollen.61 Nun ließe sich einwenden, dass Derartiges allenfalls denjenigen passieren kann, die einer Bonboninstallation ohne Vorkenntnisse des Werkkon-

61 Die Möglichkeit, sich auch nur für einen kurzen Moment in einer derart krisenhaften Situation aufzuhalten, blieb den Besuchern, die mir während meines Aufenthaltes in der Zehn Gebote-Ausstellung begegneten, offenkundig verwehrt – und zwar nicht nur deshalb, weil schon der Tafeltext die ausdrückliche Erlaubnis erteilte, das große, goldene Bonbonfeld aufzuessen, sondern weil andere Besucher, die sich bei dem Bonbonfeld eingefunden hatten und sich die Taschen füllten, diese Erlaubnis bereits in eine Handlung übersetzten, die ihrerseits die Begegnung jeder neu hinzukommenden Person mit der Installation präfigurierte. Die kuratorische Instanz hatte hier, mit dem fokussierenden Hinweis auf den Aspekt des Davontragens und Aufessens, aber paradoxerweise nicht nur einige spezifische Erfahrbarkeiten verunmöglicht. Sie hat sich damit selbst um eine entscheidende Pointe gebracht: Entsprechend der zehn alttestamentlichen Instruktionen war die Zehn Gebote-Ausstellung in zehn Sektionen eingeteilt. Die sechste Sektion, in der das Gebot »Du sollst nicht stehlen« verhandelt wurde und in der u.a. Gonzalez-Torres’ »Untitled« (Placebo II – Landscape – for Roni), 1993 präsentiert wurde, hätte gerade mit dem kontextuellen Überbau für einen diskursiven Rahmen den Weg bereiten können, in dem die Verführungskraft der Bonbons nicht nur mit den tradierten Verhaltenskodizes in Museen konterkariert worden wäre, sondern zugleich mit einem Gebot, das über den Kunstbetrieb hinaus an moralische Verhaltensweisen appelliert. Dass dieses Kapital nicht ausgespielt wurde, spricht letztlich von einer gewisse Ignoranz gegenüber den von den Bonboninstallationen evozierten Möglichkeiten der Kunsterfahrung, die sich vermutlich noch am ehesten mit den Hierarchisierungsverschiebungen von präsentierten Kunstwerken und Ausstellungskonzepten erklären lässt, welche sich im Zuge des veränderten Selbstverständnisses und der Neubestimmung der Rollen von Kuratoren ergeben haben. Siehe hierzu stellvertretend: Niels Werber: »Kunst ohne Künstler – Künstler ohne Kunst. Paradoxien der Kunst der Moderne«, in: Martin Hellmold/Sabine Kampmann/Ralph Lindner (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 149-162.) In dem Maß, wie Ausstellungen zunehmend als Plattformen für die Verhandlungen kuratorischer Konzepte und Programmatiken fungieren, reduziert sich häufig nämlich nicht bloß der Status von Kunstwerken auf die bloße Illustration dieser Konzepte und Programmatiken. Oft geraten damit auch die Rezipienten sowie die Erfahrbarkeiten der Werke aus dem Visier.

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zepts und ebenfalls in einer Situation begegnen, in der sie nicht durch andere, diese Vorkenntnisse bereits besitzende oder sich an den Bonbons bedienende Personen ›angeleitet‹ werden. Wer weiß, dass die Entwendung eines Bonbons keine verbotene Tat darstellt, muss sich keine Gedanken machen und erst recht kein schlechtes Gewissen haben. So könnte man meinen. Dass durchaus aber das Gegenteil der Fall sein mag, zeigt ein weiteres Beispiel. Im Rahmen einer Einzelausstellung anlässlich des 50. Geburtstages von Felix Gonzalez-Torres wurden im Berliner »Hamburger Bahnhof« Arbeiten aus allen Werkgruppen gezeigt.62 Unter den Candy-Installationen befand sich an prominentem Ort, gleich in der großen Eingangshalle, auch »Untitled« (Placebo – Landscape – for Roni). Als riesiger, golden schimmernder Teppich empfing diese Arbeit die Besucher. Sein Idealgewicht beträgt 544 kg, und da die Bonbons flach auf dem Boden ausgeschüttet waren, erstreckten sie sich in ihrer quadratischen Anordnung über mehrere Meter Länge und Breite. Die Texttafel in seiner Nähe erzählte von der Möglichkeit einer Bonbonentnahme nichts. An dem Vormittag, als ich die Ausstellung besuchte, waren nur wenige Besucher anwesend. Einige von ihnen umschritten beinahe andächtig das große, goldene Feld, andere bückten sich nach einem Bonbon, wiederum andere sprachen leise miteinander. Ich beobachtete eine Frau, die sich ein Bonbon in den Mund steckte. »Werthers Echte!«, sagte sie zu ihrem Begleiter und als sie zur Kenntnis nahm, dass ich ihr dabei zusah, lachte sie verlegen – gerade so, als wäre ihr die Profanität ihrer geschmacklichen Entdeckung ein wenig peinlich. Auf einmal tauchte eine Museumsaufsicht neben mir auf. Ungefragt erklärte mir die Frau, dass ich mir gerne ein Bonbon nehmen dürfte. Das wäre im Sinne des Künstlers, und der »Hamburger Bahnhof« hätte Vorsorge getroffen. Ein- bis zweimal pro Woche käme der Lieferant und füllte die Bonbons wieder auf. Je nach Bedarf und je nach dem, wie schnell die Ränder durch die entfernten Bonbons ausfransten. Wir unterhielten uns; die Frau erzählte mir, dass sie diese Arbeit mochte und sie lieber beaufsichtigte als manch andere Werke. Man hätte Gelegenheit, sich mit den Besuchern zu unterhalten, und da immer etwas passierte, wäre es interessanter, hier zu stehen als etwa bei einer Fotografie. Kurze Zeit später traten zwei Frauen auf uns zu. Sie hatten mitbekommen, dass die Museumsaufsicht bereitwillig Auskunft gab, und fingen nun ihrerseits an, Fragen zu stellen. Wieso wollte der Künstler, dass die Besucher die Bonbons aufessen? Und wieso füllt der »Hamburger Bahnhof« die Süßwaren immer nach? Die Museumsaufsicht begann zu erklären. Wie sich bei meinem nächsten Ausstellungsbesuch zeigen sollte, waren die Gespräche mit der Museumsaufsicht keineswegs nur ihrer Langeweile oder ihrem Mitteilungsdrang geschuldet. Diese Gespräche waren das Ergeb-

62 Die Ausstellung fand statt vom 01.10.2006-09.01.2007 und wurde von Frank Wagner kuratiert.

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nis einer kuratorischen Entscheidung, denn auch dieses Mal ließ sich beobachten, wie Museumsaufsichten die Besucher ansprachen, sie aufforderten, sich ein Bonbon zu nehmen und sich mit ihnen unterhielten. Dass sie gewissermaßen als Teilnehmer der Situation entworfen wurden, in denen die Candy-Installationen von den Besuchern rezipiert und erfahren werden, ja dass sie als den Installationen und den Besuchern zur Seite stehende Akteure inszeniert wurden, lässt sich als Referenz an ein Vorgehen von GonzalezTorres deuten, der die Museumsaufsichten als einer der ersten Künstler dezidiert in ein Ausstellungskonzept integrierte. Für ihn waren sie nicht einfach nur Menschen, die auf Kunst aufpassen. »They’re going to be here eight hours with this stuff. And I never see guards as guards, I see guards as the public«,63 sagte er. Eine seiner besten Ausstellungserfahrungen war für ihn deshalb jene im »Hirshhorn Museum and Sculpture Garden« in Washington, wo es gelungen war, die Museumsaufsichten tatsächlich zu involvieren. Gonzalez-Torres hatte sie nicht im eigentlichen Sinne trainiert, ihnen weder Vorträge gehalten noch bestimmte Texte oder Verhaltensweisen an die Hand gegeben. Er hatte mit ihnen lediglich über seine Arbeit gesprochen und ihnen mitgeteilt, worum es in ihr geht.64 Was daraus resultierte, ist von Robert Storr mehrfach beschrieben worden. Von einer seiner Begegnungen mit »Untitled« (Placebo), 1991 berichtet Storr, wie er selbst gerade zu dem Bonbonfeld stieß, als zwei von ihrer Mutter begleitete Kinder euphorisch in es hineingriffen: »From beside the door through which they have come, a uniformed guard steps forward and admonishes them to behave. She does not reprimand them for taking the candy, though, but simply tells them to exercise restraint, suggesting that they take one piece each. Just as they are about to surrender their next to last treasures she winks, letting them know that this is all right to hold on to an extra few.«65

63 R. Storr: »When this you see remember me«, S. 27. 64 Ebd. In einem anderen Fall sorgte Gonzalez-Torres hingegen dezidiert für die Vermittlung seines Werkes. Siehe hierzu das Interview mit Robert Storr, in dem er sagte: »In diesem Jahr hat das ›Cincinnati Art Museum‹ ein Geschichtsportrait aus Worten und Jahreszahlen für seine Sammlung in Auftrag gegeben, und dieses Portrait ist mit der Auflage versehen, daß es dort jemanden geben muß, der den Highschool-Kids die erwähnten historischen Ereignisse erklärt. Die Daten im Portrait beziehen sich nicht nur auf die Geschichte der Stadt Cincinnati und auf das Kunstmuseum, sondern auch auf die Weltgeschichte. All das ist Gegenstand der Arbeit. Das ist wie eine Performance für Kinder, die keine Ahnung haben, was Polen 1939 bedeutet oder die nicht wissen, daß der TV Guide aus den 50ern stammt.« Zit. nach Robert Storr: »Interview mit Felix Gonzalez-Torres, Teil II – 13. Dezember 1994«, in: Ingvild Goetz (Hg.): Felix Gonzalez-Torres – Roni Horn, Ausstellungskatalog, München 1995, S. 23-29, hier: S. 24. 65 R. Storr: »When this you see remember me«, S. 5.

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Während die beiden Kinder mit den Bonbons beschäftigt waren, begann die Museumsaufsicht der Mutter von der Installation zu erzählen. Sie berichtete, wie die Bonbons in den Ausstellungsraum gelangt sind, erläuterte, dass das Gewicht der Installation demjenigen des gemeinsamen Körpergewichts von Gonzalez-Torres und dessen Lebensgefährten entspricht, nannte den Titel der Arbeit, sprach von der Aids-Epidemie und dem Fehlen angemessener staatlicher Hilfeleistungen.66 Im »Hamburger Bahnhof« wie im »Hirshhorn Museum and Sculpture Garden« traten die beiden Museumsaufsichten nicht als Beschützerinnen eines Werks vor den unangemessenen Annäherungsversuchen des Publikums auf. Sie wurden hingegen zu Vermittlerinnen eines künstlerischen Konzepts und gestatteten zugleich eine im Rahmen dieser Institutionen tradierterweise nicht gestattete Tat. Sie gaben die offizielle Erlaubnis zu einer normalerweise verbotenen Handlung und wurden so zu Katalysatorinnen, die mit ihren Einladungen zur Entnahme der Bonbons die Veränderungs- und Auflösungsprozesse der Installationen begünstigten und vorantrieben. In beiden Fällen war diese Erlaubnis aber nicht der einzige Inhalt ihrer Rede. Sie war Bestandteil einer Reihe von Hintergrundinformationen, die den genehmigten Griff in das Bonbonfeld kontextuierten und, anders als das Tafelschild im »Deutschen Hygiene-Museum«, auch dessen Konsequenzen und Bedeutungen zu Bewusstsein führten. Wer also einerseits weiß, dass er sich an den Bonbons bedienen darf, wird nicht um die Installationen herumschleichen und sich wie ein Dieb vorkommen müssen. Wer andererseits jedoch bestimmte Referenzebenen dieser Werke kennt und nicht nur die Überschreitbarkeit der Demarkationslinie zwischen Subjekt und Objekt registriert, dem wird die Entscheidung, beherzt zuzugreifen oder die Bonbons an ihrem Platz zu belassen, unter Umständen sogar schwerer fallen als so manchem Besucher an jenem Sonntagnachmittag im »Deutschen Hygiene Museum«. Angesichts der Tatsache, dass die Installationen als Widmungen oder Liebeserklärungen, als Beschwörungen oder kritische Anspielungen in Erscheinung treten, dass sie als Portraits fungieren und ihr Gewicht mit dem Körpergewicht von Personen aus Gonzalez-Torres’ privatem Umfeld korrespondiert, erhält die Frage nach Tun oder Unterlassen eine noch ganz andere Konnotation. Ist man im

66 Ebd. Wie Storr schreibt, brachte die Museumsaufsicht dabei einige Dinge durcheinander. So hat sie das Idealgewicht der Installation falsch benannt und ebenfalls verwechselt, dass nicht das Idealgewicht von »Untitled« (Placebo) dem gemeinsamen Körpergewicht von Gonzalez-Torres und Ross Laycock entspricht, sondern hingegen das Idealgewicht von zwei anderen Candy-Installationen (ebd., S. 6.). Dass sich in ihren Vortrag kleine Fehler eingeschlichen hatten, gehört zu den Unwägbarkeiten und Kontingenzen, die mit dem Auftritt der Museumsaufsichten ins Spiel kommen können. In diesem Sinne lassen sie sich als einen zusätzlichen Aspekt der kontrollierten Kontrolllosigkeit begreifen, die GonzalezTorres’ Werkkonzept durchzieht.

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Besitz dieser Kenntnisse, dann wird man nur schwerlich ausblenden können, dass man mit der Entnahme eines Bonbons nicht nur zur Veränderung einer phänomenalen Gestalt, sondern auch zur Fragmentierung von Metaphern, Bildern oder Denkmälern beiträgt, die für den Künstler mit persönlichen Bedeutungen verknüpft waren. Belässt man die Installationen also lieber in dem Zustand, in dem sie sich zeigen und bringt auf diese Weise seinen Respekt vor dem Künstler und dem abstrakten Stellvertreter zum Ausdruck? Es ist eine der besonderen Qualitäten der Candy-Installationen, dass sie keineswegs nur Handlungsräume eröffnen, in denen sich Besucher Lutschbonbons aneignen dürfen. In Abhängigkeit von der Art, in der uns die Bonbonfelder begegnen, und in Abhangigkeit von dem Wissen, das wir von ihnen haben, können die offerierten Handlungen sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Zeigen sie sich uns als Ansammlungen süßer Zuckerwaren? Als Kunstobjekte, die eine Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Vorläufern leisten? Als persönliche Statements des Künstlers? Oder als alles in einem – als Werke, deren ästhetisch signifikante Aspekte mit jeder unserer Deutungen immer wieder aufs Neue in Frage gestellt werden? Wie alle Werke von Gonzalez-Torres führen uns die Candy-Installationen vor, dass ihre Deutbarkeiten mit unseren eigenen subjektiven Disponiertheiten zu tun haben. Diese subjektiven Disponiertheiten präfigurieren allerdings nicht allein, als was uns die Candy-Installationen erscheinen. Sie präfigurieren zugleich unsere Entscheidungen zum Tun oder Unterlassen sowie die Bedeutungen dieser Entscheidungen und ihrer Konsequenzen. Greifen wir nach einem Bonbon oder nicht? Und wenn wir es tun, essen wir es dann auf? Was aber heißt es, dieses Bonbon zu essen? Bloß den Verzehr einer Zuckerware, einer Süßigkeit der Marke »Werthers Echte«? Die Einverleibung eines Symbols, vielleicht einer kleinen schwarzen Rakete, die beim Lutschen des Lakritzes einen bitteren Beigeschmack hinterlässt? Oder tragen wir das Bonbon nach Hause? Aber als was? Als Erinnerung an eine vermeintlich verbotene Tat? Als Trophäe? Als fetischisierbares Objekt? Als Andenken an den Künstler oder einen Ausstellungsbesuch? Als den Teil eines Werks? Oder doch bloß als eine profane Süßigkeit, die durch die Dekontextuierung ihrer Zugehörigkeit zu einer Installation von Gonzalez-Torres beraubt wurde und damit ebenfalls ihres ästhetischen und/oder symbolischen Werts verlustig gegangen ist?67 Oder verschenken wir es? Und wenn, an wen? Und erneut: als was?

67 In dem Zertifikat für »Untitled« (Welcome Back Heroes), 1991 ist eine Formulierung zu finden, die in diesem Zusammenhang insofern von Interesse ist, als hier Gonzalez-Torres selbst eine Antwort auf diese Frage gibt: »Die einzelnen Kaugummis und auch die Gesamtsumme der einzeln entnommenen Kaugummis stellen kein eigenständiges Werk dar und können auch nicht als das Stück selbst angesehen werden.« Zit. nach D. Deitcher: »Widerspruch und Eingrenzung«, S. 99.

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Statt nur einfach Handlungsräume zu entwerfen, generieren GonzalezTorres’ bunte Bonboninstallationen viel eher Möglichkeitsräume, in denen neben dem Tun oder Unterlassen die Fragen nach dem Dass und dem Wie, dem Warum und dem Wozu von Tun oder Unterlassen aufs Spiel geraten. Die Rede von einem Möglichkeitsraum bezieht sich insofern auf die Hervorbringung der unterschiedlichen Bedeutungen, die das Tun oder das Unterlassen jeweils zu gewinnen vermögen, sowie auf die zahlreichen Bezüglichkeiten und Verhältnisse, die das Tun oder das Unterlassen zu konstituieren, in Szene zu setzen und erfahrbar zu machen imstande sind. In diesen Möglichkeitsräumen finden das unhinterfragte Davontragen und Aufessen der Bonbons ebenso ihren Platz wie das reflektierte Ausloten der angebotenen Rezeptionsweisen, das selbst bei einer ausdrücklichen Einladung zur Bonbonentnahme deren Verzicht zur Folge haben kann.68 Was immer wir tun oder unterlassen, erzählt von der Art, in der sich die Bonbonfelder uns zeigen und in der wir sie deuten. In unserem Tun oder Unterlassen gewinnt allerdings die Art, in der sich uns die Bonboninstallationen zeigen und in der wir sie deuten, auch eine Ansichtigkeit. Sie stellt sich vor Anderen zur Schau und kann so, indem sie ihrerseits für Andere deutbar wird, deren Deutungen, deren eigene Handlungen oder Entscheidungen zum Tun oder zum Unterlassen beeinflussen.

68 Wie Deborah Cherry berichtet, kann es darüber hinaus noch zu ganz anderen Arten des Umgangs mit den Candy-Installationen kommen, zu solchen etwa, die auf ein Re-Arrangement der präsentierten Gebilde zielen: »In a variation […] the candies are dispersed, as they are re-arranged by the audience, as at the Renaissance Society of America’s exhibition, ›When Travelling‹ in 1994. Here the work started off as a luminous blue field; a month later, as visitors walked all over the floor, the aquamarine candies were dispersed, the walkers cutting rivulets and pathways through the arrangement, sending the sweets spinning over the floor in all directions, piling them up, and parting them from each other. Many hundreds of aquamarine-wrapped candies sparkled on the floor, like a sea or a swimming pool; a month later, candies had drifted across the floor, and space and shape changed.« Zit. nach D. Cherry: »Sweet memories«, S. 181f. Siehe auch Nancy Spector, die in ähnlicher Weise über den Umgang des Publikums mit den Paper Stacks bei der 27. São Paulo Bienal schreibt: »People helped themselves to the individual sheets of papers comprising the stack on display, but instead of taking them home or out into the world (which was Gonzalez-Torres’s intent) they folded them into origami-like sculptures, made paper chains, or created a variety of cutouts. Left strewn about the gallery in casual piles and affixed to the surrounding walls, these scraps appeared like the remains of a party.« Zit. nach N. Spector: Felix Gonzalez-Torres, S. viii.

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1.4 S CHAUPLATZ

DER

B EGEGNUNGEN

Die Candy-Installationen haben das Potenzial, ein ganzes Geflecht von Begegnungen emergieren zu lassen: Begegnungen mit Süßigkeiten, Begegnungen mit glitzernden, das Licht reflektierenden Oberflächen, Begegnungen mit dem Künstler und den Orten, Menschen und Ereignissen seines Lebens, Begegnungen mit Museumsaufsichten und ihren Geschichten, Begegnungen mit anderen Besuchern sowie wiederum deren Begegnungen mit den Bonbonfeldern – und nicht zuletzt Begegnungen mit uns selbst bzw. den Bedeutungen, die wir den Installationen und unseren Entscheidungen zum Tun oder Unterlassen einer Bonbonentnahme beilegen, mit unserer Neigung oder Verweigerung, uns von dem Verhaltens anderer Besucher anstecken zu lassen, mit unseren kleinkriminellen Überlegungen, unserem schlechten Gewissen, unserer Verführbarkeit oder unserer Moral, mit unserer Beurteilung der Handlungen und Entscheidungen Anderer oder mit dem Umgang des (potenziellen) Ausgestelltseins unserer Handlungen und Entscheidungen vor Anderen. Gonzalez-Torres Candy-Installationen können in diesem Sinne als Einrichtungen beschrieben werden, die sich auf ihre Umgebungen hin öffnen und diese Umgebungen gleichsam in ein théatron transformieren: in einen ›Ort, von wo man schaut‹, das heißt, in einen Schauplatz, an dem man sich als Zuschauer von Akteuren und zwangsläufig auch als Akteur vor Zuschauern erfahren kann. Indem er die Besucher in Situationen versetzt, in denen die Aufmerksamkeit für Andere zu einem konstitutiven Aspekt der Erfahrungen der Bonbonfelder werden kann, tut Gonzalez-Torres einen Schritt, der im Kontext seines Werks sowie mit Blick auf die Gestaltung intersubjektiver Erfahrungssituationen in der Ausstellungskunst von signifikanter Bedeutung ist. In entscheidender Weise entwickelte er eine erfahrungsästhetische Setzung der Minimal Art weiter und gab damit zugleich jenem Konzept eine andere Wendung, das in Michael Frieds einflussreich vorgetragener Kritik an der Minimal Künstler eine zentrale Rolle spielt: dem Konzept der Theatralität. Was aber genau bedeutet dies? Ihren Ausgang nimmt die Kritik, die Fried in seinem 1967 erschienenen Artikel Art and Objecthood an der Minimal Art formuliert,69 bekanntermaßen bei der Objekthaftigkeit des minimalistischen Objekts – oder genauer: bei der Verweigerung der Minimal Art (der »literalistischen Kunst«, wie er sie nennt), die Objekthaftigkeit ihrer Objekte »überwinden« und »aufheben« zu wollen. Statt es sich zur Aufgabe zu machen, den Ding-Charakter zu bezwingen, habe die Minimal Art begonnen, die Objekthaftigkeit »als solche

69 Im weiteren Verlauf zitiere ich aus der deutschen Übersetzung dieses Artikels. Siehe Michael Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit« (1967), in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 92-120, Dresden, Basel 1995, S. 334-374.

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[zu] entdecken und [zu] projizieren«70. In erster Linie ist es Fried mit diesem Vorwurf um die Verteidigung der modernistischen Malerei und Skulptur bestellt, deren Verdienst er u.a. in der Bemühung erkennt, die Objekthaftigkeit ihrer Werke durch die bildnerische oder skulpturale Form bzw. die sinnstiftende Kompositorik (in Frieds Sprachgebrauch: die »Syntax«) der einzelnen Elemente zu transzendieren. Im Endeffekt geht es Fried mit seinem Vorwurf aber um wesentlich mehr, denn mit dem Eintreten für die Objekthaftigkeit, mit ihrer Privilegierung und Betonung steht für ihn nicht weniger auf dem Spiel als die Kunst und ihre Anforderungen an sich. Daher sei die Position der Minimal Art, so seine Diagnose, »ein Plädoyer für eine neue Art von Theater, und Theater ist heute die Negation von Kunst«71. An anderer Stelle wird Fried noch deutlicher. Dort spricht er sogar von einem »Krieg«, in dem sich das Theater mit der modernen Malerei und Skulptur sowie mit der Kunst im Allgemeinen befinde.72 Das Theater, daran lässt er keinen Zweifel, ist für ihn der Widersacher der Kunst, der Gegner, von dessen Überwindung der »Erfolg, ja das Überleben der Künste mehr und mehr«73 abhängt. Gelingt diese Überwindung nicht, ja nähert sich die Kunst »den Bedingungen des Theaters« weiterhin an, so läuft sie Gefahr, das ist Frieds Fazit, zu »degenerieren«74: »Die Konzepte der Qualität und des Werts – und insoweit diese für die Kunst von zentraler Wichtigkeit sind, auch das Konzept der Kunst selbst – haben eine Bedeutung, oder haben ihre volle Bedeutung nur innerhalb der Künste. Was zwischen den Künsten liegt, ist Theater.«75

Fried identifiziert die Objekthaftigkeit des minimalistischen Objekts mit dem Theater und stellt so eine Verbindung her, die auf den ersten Blick nicht nur aus theaterwissenschaftlicher Perspektive irritierend anmutet. Irritierend ist sie bereits, weil Fried merkwürdig unbestimmt lässt, wie er den Theaterbegriff genau fasst.76 Deutlich wird allenfalls, dass er mit seiner Re-

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Ebd., S. 339. Ebd., S. 342. Ebd., S. 359. Ebd. (Herv. i.O.) Ebd., S. 360. (Herv. i.O.) Ebd., S. 361. (Herv. i.O.) Dass Theater bei Fried weniger als Gattungsbegriff fungiert, leitet sich aus seiner Argumentation ab, derzufolge Theater als ein Begriff für die Auflösung von Gattungen eingeführt wird: »Was zwischen den Künsten liegt, ist Theater.« (s.o.) Ein weiterer Beleg lässt sich in Frieds Feststellung erkennen, dass die Überwindung dessen, was er Theater nennt, ein Bedürfnis auch des Theaters selbst sei (ebd., S. 359). Als Kronzeugen für diese Feststellung dienen ihm Antonin Artaud und Bertolt Brecht (ebd., siehe außerdem Fußnote 21). Wie Hans-Friedrich Bormann richtig schreibt, bleibt Fried in Hinblick auf die Frage, wie Artaud und Brecht die

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de vom Theater am ehesten noch auf die Theatralität bzw. auf einen sehr spezifischen Teilbereich des weiten Feldes der Theatralität zielt: auf die Theatralik.77 Um Frieds Identifizierung von Theater mit der Objekthaftigkeit des minimalistischen Objekts sowie die Logik seiner aus dieser Identifizierung sich ableitenden Argumentation nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, zunächst seinen Theater- bzw. Theatralitätsbegriff zu beleuchten. Wohl am ehesten ist seinem Theatralitätsverständnis und dessen pejorativer Konnotation auf die Spur zu kommen, wenn man jene Traditionslinie in den Blick nimmt, in die sich Fried in seinem Buch Absorption and Theatricality selbst stellt.78 Hier präzisiert er, was in dem Jahre zuvor erschienenen Text Art and Objecthood allenfalls subkutan aufscheint: seine Bezugnahme auf Denis Diderot, der sein eigenes Theatralitätskonzept wiederum anhand der französischen Klassik und den Darstellungsweisen des 18. Jahrhunderts entwickelte. Weder Diderots Theatralitätskonzept noch Frieds Diderot-Lektüre können hier eingehend erörtert und im Detail nachgezeichnet werden. In Kürze sei jedoch der Weg skizziert, den der Theatralitätsbegriff von Diderot zu Fried und mithin zu einer Theorie des 20. Jahrhunderts nimmt,79 die das negative Vorzeichen mitverantwortet, mit dem dieser Begriff in Kunst und Kunstwissenschaft bis heute noch häufig versehen ist. Was Diderot unter »Théâtralité« versteht, ist die »sich selbst (re)präsentierende Rhetorizität« des Theaters seiner Zeit. Es ist dessen deklamatorischer Stil oder anders gesagt »das Zeigen als eine Darstellung, die auf ihr Zeigen zeigt«80. Demgegenüber erkennt Diderot die Anti-Theatralität in einer Szene, die ihr Zeigen nicht ausstellt, sondern es verbirgt. Eine anti-the-

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Theatralik des Theaters überwunden hätten, ebenso diffus wie hinsichtlich der Art, in der Artauds und Brechts Vorgehen in Übereinstimmung zu bringen wären. Vgl. Hans-Friedrich Bormann: »Theatralität als Vorschrift. Zu Michael Frieds Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Diskurse des Theatralen, Tübingen, Basel 2005, S. 91-106, hier: S. 94f. Zum Konzept der Theatralität und seiner Reichweite jenseits des engen Feldes der Theatralik sowie zu den unterschiedlichen terminologischen Varianten von Theatralität als anthropologischer und ästhetischer Kategorie siehe Matthias Warstat: »Theatralität«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ders. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 358-364. Zur Wissenschaftsgeschichte des Theatralitätsbegriffs siehe zudem Helmar Schramm: »Theatralität«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart, Weimar 2005, S. 48-73. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley 1980. Siehe hierzu auch Gabriele Brandstetter: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2004, S. 27-42. Ebd., S. 31.

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atralische Szene ist die vor dem Zuschauer sich verschließende Szene, eine Szene, in der die Intimität oder die Versunkenheit (bei Fried: die Absorption) der dargestellten Figuren den Zuschauer ausklammert und ihn – darin liegt die Pointe – gerade dadurch zu bannen, zu bewegen und folglich mit einzuschließen vermag, dass sie seine Anerkennung als Zuschauer gerade nicht zur Schau trägt. Die anti-theatralische Szene ist bei Diderot somit jene Szene, die das Als-ob ihrer Geschlossenheit behauptet, die so tut, als sei der Zuschauer nicht anwesend oder als habe sich der Vorhang nie gehoben.81 Dieses Paradox der einschließenden Ausschließung oder der ausschließenden Einschließung, das Diderot als Prozess der Anti-Theatralität in die Darstellungstheorie des 18. Jahrhunderts eingetragen hat, bezeichnet Fried als »de-theatralisation«82, als die Bemühung, einen neuen Zuschauertypus zu konstituieren: »a new ›subject‹ – whose innermost nature would consist precisely in the conviction of his absence from the scene of representation«83. Kehrt man von hier aus zurück zu Frieds Kritik an der Objekthaftigkeit des minimalistischen Objekts, so wird deutlicher, was er meint, wenn er einerseits von Theatralik spricht und der Minimal Art andererseits vorwirft, diese nicht überwinden zu wollen. Mit der Theatralik verweist Fried in Art and Objecthood auf eine ganz spezifische Konfiguration zwischen einem Kunstwerk und seinem Publikum bzw. auf ein Kunstwerk (hier: das literalistische Objekt), das das Publikum disloziert und von sich selbst entfremdet – und zwar genau darin, dass es ihm signalisiert, »für es da«84 zu sein. Fried ist sich darüber im Klaren, dass nach diesem Verständnis streng genommen jedes Kunstwerk bis zu einem gewissen Grad theatralisch ist,85 da selbst bei den Prozessen der De-Theatralisation der Betrachter noch insofern irreduzibel bleibt, als dessen Leugnung im selben Maß erst die Voraussetzung für seine Anerkennung darstellt, wie umgekehrt dessen Anerkennung Bedingung für seine Leugnung ist. Die Theatralik ist für Fried ein nie gänzlich zu überwindender paradoxer Grundzug aller Kunst. Sich um ihre Überwindung nicht zu bemühen und nicht einmal zu versuchen, ein Kunstwerk so zu gestalten, dass es wenigstens den Anschein macht, sich in seiner Selbstgenügsamkeit vor dem Publikum zu verschließen und nicht für es da zu sein, oder schlimmer noch: die Theatralik, wie die Minimal Art, sogar ›als solche [zu] entdecken‹ und zu betonen, ist für ihn allerdings nicht nur verhängnisvoll. Nach Fried ist es das Ende der Kunst.

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M. Fried: Absorption and Theatricality, S. 96. Ebd., S. 104. Ebd. M. Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 359. (Herv. i.O.) »[…] there can be no such thing as an absolutely antitheatrical work of art – […] any composition, by being placed in certain contexts or framed in certain ways, can be made to serve theatrical ends.« Zit. nach M. Fried: Absorption and Theatricality, S. 173.

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Die verhängnisvolle Theatralik des minimalistischen Objekts erkennt Fried in dessen Rückzug auf die Buchstäblichkeit, die den Betrachter in bislang ungekannter Weise auf den Plan ruft. Weil das minimalistische Objekt selbst keine sinnstiftende Syntax besitze, weil ihm keine internen Beziehungen eignen und seine Materialien nur »sind, was sie sind, mehr nicht«86, lagere es die sinnstiftende Herstellung von Beziehungen gewissermaßen aus. Die Einheit und Nicht-Bezüglichkeit des minimalistischen Objekts sorge mit anderen Worten dafür, dass in den Fokus die »tatsächlichen Umstände«87 rücken: die Gesamtsituation, in der das Werk erfahren wird. Der Mittelpunkt dieser Gesamtsituation ist demnach nicht mehr das Objekt. Der Mittelpunkt ist nun – und in eben diesem Tatbestand liegt für Fried das grundlegende Problem – der Betrachter und das, was er wahrnimmt, sowie die Beziehungen, die er zwischen den verschiedenen Elementen der Situation herstellt: die Beziehungen zwischen sich und seinen positionsabhängigen Perspektiven auf das Objekt, die Beziehungen zwischen Objekt und Raum, Objekt und Licht, Licht und Raum usf.88 In den Fokus rückt für den Betrachter damit nicht zuletzt auch das selbstreflexive Bewusstsein für die eigene Wahrnehmung und die eigene Leistung des Herstellens von Beziehungen. »Es ist wohl bemerkenswert«, schreibt Fried, »[…] daß ›die Gesamtsituation‹ genau das meint: alles – einschließlich, wie es scheint, des Körpers des Betrachters. Nichts in seinem Gesichtsfeld – nichts, das er irgendwie bemerkt – erklärt sozusagen, daß es ohne Belang sei für die jeweilige Situation und folglich für die Erfahrung. Im Gegenteil, damit etwas überhaupt wahrgenommen werden kann, muß es als Teil der Situation wahrgenommen werden. Alles zählt – nicht als Teil des Objekts, sondern als Teil der Situation, in der dessen Objekthaftigkeit entsteht und von der diese zumindest teilweise abhängig ist.«89

86 M. Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 362. 87 Ebd., S. 342. 88 Fried beruft sich an dieser Stelle auf eine Formulierung von Robert Morris: »Die besseren neuen Arbeiten nehmen die Beziehungen aus der Arbeit heraus und machen sie zu einer Funktion von Raum, Licht und Gesichtsfeld des Betrachters. Das Objekt ist nur eines der Elemente in der neueren Ästhetik. Auf gewisse Weise ist es reflexiver, weil das Bewußtsein, sich im selben Raum wie die Arbeit zu befinden, stärker ist als bei älteren Werken mit ihren zahlreichen internen Beziehungen. Man ist sich stärker als früher bewußt, daß man selber die Beziehungen herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen erfaßt.« Robert Morris: »Anmerkungen über die Skulptur« (1966/67), in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 92-120, hier: S. 105. 89 M. Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 344f. (Herv. i.O.)

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Die problematische Theatralik des minimalistischen Objekts liegt für Fried mithin in der Weise, in der sie den Betrachter entwirft und als Zentrum einer Situation konstituiert, die ihm »gehört«. Es »ist seine Situation«90, insofern er in ihr jemand ist, mit dessen Erfahrung alles steht und fällt. Ohne in die Tiefen von Frieds Argumentationsgang eintauchen zu müssen,91 lässt sich schon vor dem Hintergrund dieser Ausführungen einer seiner zentralen Gedanken extrahieren, der uns sodann zu Felix Gonzalez-Torres zurückführen wird. Fried beschreibt den Betrachter des minimalistischen Objekts nicht nur als ein Erfahrungssubjekt, dem die jeweilige Situation ›gehört‹. Die Tatsache, dass er mit einer Situation konfrontiert ist, die er genau deshalb »als die seine erlebt«92, weil er selbst alle Beziehungen herstellen muss, bringt Fried weiterhin zu der These, dass »das Werk für ihn allein existiert«, und zwar bemerkenswerterweise selbst dann, »wenn er in dem gegebenen Moment tatsächlich nicht mit dem Werk allein sein sollte«93. Folgt man Frieds Ausführungen, so besteht die Wirkung des minimalistischen Objekts darin, dass es den Betrachter zum Beteiligten an einer Situation macht, in der er am Ende alleine bleibt, in der er ein isolierter Betrachter, ein »Ein-Mann-Publikum«94 ist. Diese Feststellung ist nicht unerstaunlich. Denn schließt die minimalistische Situation »alles« ein, was der Betrachter in seinem Gesichtsfeld »irgendwie bemerkt«, dann erscheint immerhin fraglich, warum – und zwar bei Fried wie auch in den Äußerungen der Minimal Künstler – die mögliche Bezugnahme des Erfahrungssubjekts auf andere Erfahrungssubjekte keine explizite Beachtung findet.95 Dass weder hier noch dort über die (potenzielle)

90 Ebd., S. 344. (Herv. i.O.) 91 Zu einer ausführlichen Lektüre von und kritischen Auseinandersetzung mit Frieds Argumentation siehe J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, insb. Kap. 1: »Theatralität«, S. 25-80. Die Leistung dieses Kapitels besteht nicht zuletzt darin, dass Rebentisch den Autonomiestatus der Kunst, den Fried durch die Theatralik des minimalistischen Objekts gefährdet, wenn nicht gar verabschiedet sieht, dadurch zu verteidigen sucht, dass sie ihn von der produktionsästhetischen Seite ablöst und ihn grundlegend in der Struktur der ästhetischen Erfahrung verortet. 92 M. Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 359. (Herv. i.O.) 93 Ebd., S. 359. (Herv. i.O.) 94 Ebd., S. 360. 95 In Latenz, so könnte man einräumen, ist die Möglichkeit der zwischenmenschlichen Begegnung vorhanden, etwa wenn Robert Morris schreibt: »Das Objekt selbst ist sorgfältig in diese neuen Umstände integriert, so daß es nur eines der Elemente bildet. […] Doch jetzt richtet sich das Interesse mehr auf die Kontrolle und/oder Koordinaten der Gesamtsituation. Kontrolle ist unerläßlich, wenn die Variablen Objekt, Licht, Raum, Körper richtig ins Spiel kommen sollen. Das Objekt selbst ist jetzt nicht unwichtiger geworden. Es hat nur etwas von seiner Wichtigtuerei verloren. Indem es seine Position als ein Element unter vielen bezieht, verflüchtigt sich das Objekt nicht zu einer gefälligen, neutralen, verallge-

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Aufmerksamkeit des Betrachters für andere Betrachter, für deren Anwesenheit oder Bewegungen durch den Raum kein Wort verloren wird, ist erstaunlich allerdings nur bei einer vordergründigen Betrachtung. Fried und die Minimal Künstler denken das Moment des zwischenmenschlichen Austauschs nicht mit – und im Grunde ist es genau diese Auslassung, die sich beide leisten müssen, um die Wirkkraft des minimalistischen Objekts auf den Betrachter zu plausibilisieren. Mit dem minimalistischen Objekt geht es ihnen – wenn auch in jeweils unterschiedlicher (bei Fried in negativer, bei der Minimal Art in positiver) Bewertung – allererst um eins: um ein verändertes Subjekt-Objekt-Verhältnis, um die Neukonzeption des Betrachters qua Neukonzeption des Objekts. Es geht ihnen um einen Paradigmawechsel, um die Aufwertung des Erfahrungssubjekts bzw. die Aufwertung ästhetischer Objekterfahrung, die bei Fried nicht erst mit dem Argument der Betrachter-Isolierung ihre Verurteilung findet. Isoliert heißt bei Fried, dass das Objekt den Betrachter insofern alleine lässt oder zu einem »Ein-Mann-Publikum« macht, als es ihm die Möglichkeit entzieht, zu dem Objekt und in Konsequenz zu sich selbst ein in sich ruhendes Verhältnis zu entwickeln. Weil das minimalistische Objekt keine sinnstiftende Syntax besitze, weil es den Betrachter provoziere, sinnstiftende Beziehungen, in einem performativen Prozess, selbst hervorzubringen, höre es nie auf, »ihn zu konfrontieren«, »ihn zu distanzieren«96 und ihn auf sein selbstreflexives Bewusstsein für die Unerschöpflichkeit und Unabschließbarkeit der eigenen Objekt-Erfahrung zu stoßen. Für Fried ist Theatralität somit eine Bezeichnung für einen Erfahrungsraum, in dem sich das Subjekt in einem nicht verfügenden Verhältnis zum Objekt befindet, für einen Erfahrungsraum, in dem es dem Objekt trotz seiner performativen Sinnbildungsprozesse niemals habhaft werden kann und in dem es der Unerschöpflichkeit und Unabschließbarkeit der eigenen Erfahrung gewahr wird. Zwar räumt Fried in Absorption and Theatricality ein, dass jedes Kunstwerk bis zu einem gewissen Grad theatralisch ist. Wie Juliane Rebentisch ausführlich dargelegt hat, ist der aus seinem in Art and Objecthood entfalteten Theatralitätsverständnis zu ziehende Schluss jedoch, dass jede Kunst (und auch die Werke der modernistischen Skulptur und Malerei, die Fried mit dem Begriff der Anti-Theatralik assoziiert) immer schon (und nicht nur bis in einem gewissen Grad) theatralisch ist bzw. umgekehrt: dass es genau genommen überhaupt keine nicht-theatralische Kunst geben kann.97 Ich werde diese Diskussion nicht weiter verfolgen, denn was mich eigentlich interessiert, sind die möglichen Dynamiken zwischen den einzelnen

meinerten oder sonstwie zurückhaltenden Form. […] So vieles von dem, was positiv daran mitwirkt, Formen die notwendige, doch nicht-beherrschende, nichtverdichtete Präsenz zu verleihen, ist noch nicht artikuliert.« Zit. nach R. Morris: »Anmerkungen über die Skulptur«, S. 108f. 96 M. Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 360. 97 J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 56ff. sowie S. 74ff.

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Besuchern, die in Frieds These vom isolierten Betrachter keinen Platz finden. Ignoriert werden sie, so könnte man sagen, keineswegs zufällig. Die Überlegung, dass der Betrachter in dem Moment, in dem er nicht tatsächlich mit dem minimalistischen Objekt allein ist, seine Aufmerksamkeit auf andere Besucher richten könnte, bedeutete nämlich die zwangsläufige Anerkennung noch einer weiteren Beziehungsherstellung: der Herstellung einer Beziehung zu anderen Besuchern, die – obgleich vom minimalistischen Objekt ausgelöst – ihrerseits das Potenzial besäße, die Konzentration des Betrachters auf das Objekt bzw. auf seine Beziehungsherstellungen zwischen Objekt, Licht und Raum zu stören oder sein (isoliertes) Konfrontiertsein mit dem Objekt zumindest zu irritieren. Die Tatsache, dass weder Fried noch die Minimal Künstler berücksichtigen, wie zwischenmenschliche Bezüglichkeiten auf die Erfahrungssituationen einwirken können, spiegelt pointiert, inwiefern beide Parteien, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Modernismus und Postmodernismus, dem Modernismus noch deutlich verhaftet sind. Doch selbst wenn die Relationen zwischen den Besuchern in den Texten der Minimal Art keine Rolle spielen, ist sie trotzdem sicherlich jene Kunstgattung, die mit der Öffnung ihrer Objekte hin zu den Umständen der Erfahrung immerhin eine potenzielle Sensibilisierung für das Verhalten und die Handlungen anderer Besucher oder für die Begegnung anderer Besucher mit einem Objekt instantiierte. Die Minimal Art hat das Fundament gelegt für die Transformation der Objektumgebungen in einen Schauplatz, an dem man sich – wie bei Gonzalez-Torres – (auch) als Zuschauer von Akteuren oder (auch) als Akteur vor Zuschauern erfahren kann. Weiterhin ließe sich sogar sagen, dass sie das Fundament für die Transformation der Objektumgebungen in einen Schauplatz gelegt hat, an dem und durch den sich Theatralität noch einmal ganz anders als in Frieds Definition zur Geltung bringt. Abbildung 8: Robert Morris, Untitled, 1977

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Diese auf Prozesse der zwischenmenschlichen Beziehungsherstellung bezogene Theatralität lässt sich mit Frieds Begriff der Theatralik indes so wenig gleichsetzen wie mit demjenigen der Anti-Theatralik. Das Verständnis von Theatralität, das sich mit den Prozessen der zwischenmenschlichen Beziehungsherstellung in Anschlag bringt, verlässt die Theatralik einerseits als jenen eng gesteckten Teilbereich der Theatralität, andererseits als ein Verfasstheitsmerkmal von Kunstwerken. Es zielt stattdessen auf ein intersubjektives Verhältnis, auf eine szenische Konfiguration, die eine weder positiv noch negativ zu bewertende »Bezeugungssituation«98 hervorruft. In dieser Perspektive ist Theatralität eine mit der Aufführung assoziierte Kategorie, eine Kategorie also, die die gemeinsame Anwesenheit von Zuschauern und Akteuren zur selben Zeit an einem Ort als jenseits aller historisch begrenzten Theatermodelle stets Bestand habende Grundbedingung des Theaters anerkennt. Jede Aufführungssituation konstituiert eine oder konstituiert sich in einer Bezeugungssituation, ganz gleich, ob die Akteure einen deklamatorischen Darstellungsstil zur Schau tragen, ob sie so tun, als sei das Publikum nicht anwesend, oder ob sie vielleicht sogar gar keine fiktive Rollenfigur verkörpern und sich auf Michael Kirbys Skala zwischen »acting« und »notacting« im Bereich der »Nullmatrix-Darstellung«99 ansiedeln. Theatralität ist nach diesem Verständnis ein Begriff, der noch nichts aussagt über die Art, in der eine Bezeugungssituation organisiert ist. Vielmehr fokussiert er das Dass einer Bezeugungssituation selbst: die Sachlage, dass jemand die Aufmerksamkeit anderer Personen auf sich, seine Handlungen und sein Verhalten lenkt oder dass jemand eine andere Person durch einen bestimmten Rezeptionsmodus in ein spektatorisches Verhältnis zu sich rückt. Wenn ich daher meine, Juliane Rebentisch behält Recht mit der Einschätzung, dass ein theatralitätskritisches Vokabular nach Friedschem Zuschnitt für die Einschätzung von Kunst prinzipiell unangemessen ist,100 da es nach diesen Verständnis gar keine nicht-theatralische Kunst geben kann, dann markiert diese Ansicht keinen Widerspruch zu meiner Absicht, den Theatralitätsbegriff dennoch fruchtbar machen zu wollen. Im Gegenteil. Denn diese Absicht gründet in dem Anliegen, einem Verständnis von Theatralität den Vorzug zu geben, das die Erfahrungsdimensionen in einer intersubjektiven Bezeugungssituation benennt, jene Erfahrungsdimensionen, die Fried mit seinem Theatralitätsbegriff erst gar nicht ins Auge fasst. »Wenn für einige Installationskunst tatsächlich deren Nähe zum Theater von Bedeutung ist«, konstatiert Rebentisch,

98

99 100

Siehe zu dieser Bestimmung von Theatralität auch Gabriele Brandstetter: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2004, S. 27-42. Vgl. Michael Kirby: A formalist theatre, Philadelphia 1987. J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 76.

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»[…] so mag die Untersuchung dieser Nähe unter Umständen ein ›Re-entry‹ theatralen Vokabulars in den kunstkritischen und -theoretischen Diskurs nötig machen. Dieser Diskurs sollte dann allerdings nicht mehr von der Leitdifferenz ›theatral/antitheatral‹ im Sinne der […] theatralitätskritischen Tradition geprägt sein.« 101

Die Nähe zum Theater, um die es mir geht, behauptet als das notwendige »Re-entry« theatralen Vokabulars entsprechend jenen Begriff, der das Wesen des Theaters beschreibt: den Begriff der Aufführung. Betrachtet man die Emergenz von Aufführungssituationen, die GonzalezTorres mit seinen Candy-Installationen inszenierte, so wird deutlich, inwiefern er mit dieser Werkgruppe an die Vorgehensweisen seiner Vorläufer anknüpfte und dabei ihren Einfluss auf seine eigene künstlerische Praxis hervorkehrte. Deutlich wird jedoch auch, inwiefern er ein Licht auf den in der Minimal Art und in ihrer Rezeptionsgeschichte noch vernachlässigten Aspekt des zwischenmenschlichen Miteinanders warf. Anders als die Minimal Art plante Gonzalez-Torres die Herstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen konzeptuell mit ein. Er erkannte sie als bedeutsamen Parameter für die Wirkkraft eines Kunstwerks an und machte sie zu einem signifikanten Moment der Erfahrung mit und an den Candy-Installationen. Ausgerechnet zu jener Zeit, als weite Teile der Kunst mit der Rückkehr zur Malerei ihre Indifferenz gegenüber den künstlerischen Errungenschaften der 1960er Jahre zu demonstrieren versuchten, erhob Gonzalez-Torres zum eigentlichen Gegenstand also, was bis dahin noch kaum in den Fokus der Auseinandersetzung von Ausstellungskünstlern geraten war: die Gestaltung eines Kunstwerks als Auslöser für aufführungshafte Beziehungen. Indem er soziale, in der Minimal Art noch ausgeschlossene Faktoren der Raumerfahrung berücksichtigte, (re-)initiierte Gonzalez-Torres eine weiterführende Beschäftigung mit den Bedingungen von Kunsterfahrungen und wurde damit zu einem der wichtigsten Protagonisten in jener Kunst, die Bourriaud wenige Jahre später unter der Kategorie der Relational Aesthetics zusammengefasst hat.102 Über die Rolle, die er beim Entwerfen der Candy-Installationen einnahm, war sich Gonzalez-Torres mehr als bewusst, und nicht zufällig dürfte es erscheinen, dass er diese einmal mit derjenigen eines Theaterregisseurs verglichen hat: »[…] I see myself almost like a theater director directing a

101 102

Ebd., S. 77. Neben Nicolas Bourriaud hat auch Nancy Spector den Einfluss von GonzalezTorres auf jene Künstlerinnen und Künstler benannt, die sich in den 1990er Jahren um andere als die tradierten Verhältnisse nicht nur zwischen Subjekt und Objekt, sondern auch zwischen Erfahrungssubjekten bemühen. Vgl. N. Bourriaud 2002: Relational Aesthetics, insb. das Kap. »Joint presence and availability: The theoretical legacy of Felix Gonzalez-Torres«, S. 49-64. Außerdem N. Spector: Felix Gonzalez-Torres, S. viii.

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very spontaneous performance.«103 Sein Regie-Stil ist derweil so einfach und doch so effektvoll wie alle Mittel, die Gonzalez-Torres nutzte, um in die Konventionen der Kunst und des Kunstbetriebs, aber auch in die Geschichte der Ausstellungskunst seit den 1960er Jahren eine wesentliche Wendung einzutragen: Im Unterschied zur Minimal Art öffnete er seine Installationen dezidiert für zahlreiche Bedeutungszuweisungen und überdies für Handlungen, durch die die Rezipienten mit den Installationen buchstäblich in Berührung kommen und deren Gestalt verändern können. Mit Blick auf Frieds Theatralitätsverständnis gewinnen diese inszenatorischen Strategien indes eine nicht unironische Pointe. Die Kritik, die Fried an der Minimal Art übt, war deren Intention, die Theatralik ihrer Objekte nicht zu überwinden, sondern sie so zu betonen, dass sie ihre Angewiesenheit auf den Betrachter und seine Erfahrungen selbst mit ausstellen. Wenn man so will, setzte Gonzalez-Torres auf die Praxis der Minimal Art sozusagen noch eins drauf und lieferte seine Candy-Installationen geradewegs an die Rezipienten aus. Er versetzt die Besucher in Situationen, in denen sie einerseits entweder verführt oder eingeladen werden, in die Installationen hineinzugreifen, Einzelteile aus ihnen zu entfernen und aufzuessen, und in denen sie andererseits angeregt werden, den CandyInstallationen sowie ihrem eigenen Tun oder Unterlassen endlos viele Bedeutungen beizulegen. Die derart erzielte Selbstungenügsamkeit der CandyInstallationen, die sich im Werben um und Zählen auf diese spezifischen Formen der Mitarbeit der Rezipienten zum Ausdruck bringt, ist sodann auch jene Strategie, mit der die Emergenz von aufführungshaften Erfahrungssituationen begünstigt wird. Die Überbetonung der Theatralik wird gewissermaßen zum Wegbereiter für eine intersubjektive Bezeugungssituation. Man könnte auch – mit Frieds Terminologie – sagen: Gonzalez-Torres sorgte dafür, dass seine Installationen ihre Betrachter nicht isolieren. Sie entlassen sie hingegen in eine Hinwendung zum Anderen: zu einem Anderen, der nicht bloß – wie Fried das minimalistische Objekt auch beschrieben hat – anthropomorph anmutet und nicht als »Quasi-Subjekt«104 begegnet, sondern uns ein Gegenüber ist, in dem wir jemanden sehen, der, so lässt es sich in Anlehnung an einen Buchtitel von Georges Didi-Huberman formulieren, uns tatsächlich anzublicken vermag. Gemäß der Idee der Dialogizität, die sich wie ein roter Faden durch Gonzalez-Torres’ Werk zieht, gemäß der Idee, dass die Menschen in seiner Welt nicht allein existieren – »people do not endure alone« – provozieren die Candy-Installationen ihre Betrachter, Beziehungen zu anderen Personen herzustellen. Sie provozieren sie, ihre Aufmerksamkeit auf Andere zu lenken, auf deren Anwesenheit, deren Begegnungen mit einer Installation oder

103 104

H.U. Obrist: »Gespräch mit Felix Gonzalez-Torres«, o.S. Zum Quasi-Subjekt-Status der Minimal Objekte siehe ausführlich Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.

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deren Beobachtungen des eigenen Tuns. Was dabei bewusst wird, ist die Sachlage, dass Akteur zu sein neben einer aktiven Dimension (die auf ein Objekt bezogenen Aktionen) ebenfalls eine pathische Dimension besitzen kann (das Wahrgenommenwerden in diesen Aktionen durch Andere). Und was evoziert wird, ist eine Selbst-Betrachtung oder aber Betrachtung des Werks mit den Augen Anderer. Insofern ist der Einsatzpunkt von GonzalezTorres sowie derjenige meiner Untersuchungen genau dort, wo nach Frieds modernistischem Verständnis die Kunst längst an ihrem Ende angekommen ist.

2. Auf der Bühne: Erwin Wurms One Minute Sculptures

Wer im Frühjahr 2003 die Ausstellung Das Lebendige Museum im Frankfurter »Museum für Moderne Kunst« (MMK) besuchte,1 konnte dort Zeugin durchaus merkwürdiger Darbietungen werden: Im ersten Obergeschoss waren in einem der Ausstellungsräume mehrere niedrige Podeste aufgebaut, auf denen verschiedene Personen skurrile Aktionen durchführten oder in absurden Posen erstarrt waren. Inmitten der Bilder und Objekte von Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Robert Morris stand beispielsweise auf einem der Podeste ein Junge, über dessen Kopf ein schwarzer Eimer gestülpt war, während seine Füße in einem weißen Eimer steckten. Zur selben Zeit bemühte sich auf einem weiteren Podest eine Frau, leere Plastikflaschen zwischen ihre Arme und ihren Oberkörper und zugleich zwischen ihre Beine zu klemmen. Weil die Flaschen immer wieder herunterzufallen drohten, kam ihr irgendwann eine Museumsaufsicht zu Hilfe, mit deren Unterstützung es ihr gelang, die Flaschen zu positionieren. Das Prozedere hatte bald eine Reihe Schaulustiger angelockt. Einige von ihnen betrachteten die ungelenken Verrenkungen der Frau amüsiert aus der Distanz, andere riefen ihr mehr oder weniger nützliche Ratschläge zu und applaudierten, als es ihr schließlich gelungen war, die Flaschen unter Kontrolle zu bringen. Mit der Andeutung einer Verbeugung bedankte sie sich bei den Applaudierenden; einer der Zuschauer zog seinen Fotoapparat aus der Tasche und machte ein schnelles Foto. Unterdessen drückte auf einem dritten Podest eine Frau mit ihrer Stirn einen Filzstift an die Wand. Sie wirkte konzentriert, und die umliegenden Ereignisse schienen sie ebenso wenig zu beeindrucken wie die Besucher, die darauf warteten, dass sie ihren Auftritt beendete und ihnen das Podest überließ. Betrat man den Ausstellungsraum zu diesem Zeitpunkt, so konnte man dort Zeugin ungewöhnlicher Darbietungen werden. Aber nicht nur das. Man wurde auch Teilnehmerin an Aufführungssituationen, an Aufführungssitua-

1

Die Ausstellung fand vom 16.05.-29.06.2003 im »Museum für Moderne Kunst« in Frankfurt a.M. statt und wurde von Udo Kittelmann kuratiert.

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tionen, die sich allerdings ganz anders gestalteten als diejenigen bei Felix Gonzalez-Torres: Auf bühnenartigen Vorrichtungen vollzogen Besucher mit den ausgelegten Requisiten Handlungen vor Zuschauern oder stellten sich ihnen in verschiedenen Posen zur Schau. Die Frage, wie es aber überhaupt zu dieser Situation hatte kommen können, beantwortete sich erst, wenn man an die Podeste herantrat und auf ihnen die kleinen Zeichnungen und schriftlichen Notationen entdeckte, die ihre Adressaten aufforderten: »Gehen Sie bitte auf das Podest – folgen Sie den Anweisungen + realisieren Sie die Skulpturen.« Im Falle der Eimer-Skulptur sah diese Anweisung so aus: Abbildung 9

Seit 1997 hat der österreichische Künstler Erwin Wurm eine Vielzahl dieser so genannten One Minute Sculptures angefertigt.2 In der Regel sind es kleine, teils durch wenige Worte ergänzte Zeichnungen, die den Rezipienten für die Dauer einer Minute eine spezielle Benutzung alltäglicher Gegenstände oder bestimmte Körperhaltungen nahelegen. Meist werden sie in Büchern und Katalogen publiziert oder, wie im Rahmen der Ausstellung Das Lebendige Museum, in institutionellen Kunstkontexten präsentiert. Was bei mei-

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Die Aufforderung »Realisieren Sie die Skulpturen« provoziert die Frage, was eigentlich genau die Skulpturen sind. Die Anweisungen selbst? Die Ausführungen? Oder auch die Fotos und Videos, die die Ausführungen dokumentieren? In der Tat kann bei Wurm alles Skulptur sein: die Verkörperung einer Instruktion, die Instruktion, die auf einem Foto oder in einem Video gezeigte Verkörperung einer Instruktion, die Fotografien und Videofilme. Vgl. hierzu Kap. 2.4. Mit der kursivierten Schreibweise, One Minute Sculptures, beziehe ich mich jedoch auf die von Wurm arrangierten Settings, die neben den Instruktionen die Podeste und Gegenstände umfassen. Spreche ich hingegen von den Verkörperungen einer Instruktion, dann verwende ich hierfür den Begriff der lebenden Skulptur.

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nem Besuch im MMK vor sich ging, waren somit die Realisierungen von Handlungsanweisungen, die zugleich Aufführungssituationen entstehen ließen, in denen die Geschehnisse vor den Podesten so wenig von dem Tun der Personen auf den Podesten zu trennen waren wie die Erlebnisse der lebenden Skulpturen von den sie betrachtenden, kommentierenden oder fotografierenden Besuchern. Seit dem Ende der 1980er Jahre, seit jenem Zeitpunkt, den Erwin Wurm als den eigentlichen Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit bezeichnet,3 kreisen seine Werke um die Fragen, was eine Skulptur ist und inwiefern sich das traditionelle Konzept der Skulptur als statische Größe erweitern lässt. Seine Arbeiten, so hat es Edelbert Köb, der Kurator einer Werkschau Wurms, beschrieben, sind »Teile eines großen und durchgehenden Forschungsprojekts zum Skulpturenbegriff, eines Frage- und Antwortspiels«4 – eines Frage- und Antwortspiels, so lässt sich ergänzen, das seine Unabgeschlossenheit stets insofern mitdenkt, als es jede Antwort bloß als vorläufig begreift und sie gleichsam als Vorlage zur Formulierung der nächsten Frage benutzt. Wurm vollzieht sozusagen eine enzyklopädische Suchbewegung5 und fügt jede einzelne seiner Werkgruppen als konstitutives Element in einen kohärenten Gesamtzusammenhang ein. Die One Minute Sculptures, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt des Interesses stehen werden, nehmen in diesem Gesamtzusammenhang eine exponierte Stellung ein. Sie bilden die größte und eine seit vielen Jahren sich beständig erweiternde Werkgruppe. Darüber hinaus steht diese Werkgruppe in der Arbeit des Künstlers aber auch für eine Wendung hin zur Hervorbringung von intersubjektiven Begegnungen im Hier und Jetzt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wird mit den One Minute Sculptures das Aufführungsereignis zu einem wichtigen Aspekt von Wurms Beschäftigungen mit dem erweiterten Skulpturbegriff und avanciert in diesem Kontext zu einer signifikanten erfahrungsästhetischen Bedingung.

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4

5

Erwin Wurm/Rainer Metzger: »Erwin Wurm: Du bringst zwei Dinge zusammen, und es ergibt sich etwas Neues. Ein Gespräch mit Rainer Metzger«, in: Kunstforum International (2002), S. 198-213, hier: S. 202. Edelbert Köb: »Erwin Wurm. Der Künstler, der die Welt verschluckte…«, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Addendum zur gleichnamigen Publikation und Ausstellung, Ostfildern 2006, S. 7-10, hier: S. 7. Den Begriff des Enzyklopädischen für Erwin Wurms Ausloten skulpturaler Möglichkeiten brachte der Kurator Hans Ulrich Obrist ins Spiel. Siehe hierzu: Erwin Wurm/Hans-Ulrich Obrist: »Gespräch mit Hans Ulrich Obrist, März 1996«, in: Erwin Wurm, Ausstellungskatalog, Wien 1996, S. 3-12, hier: S. 3.

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2.1 »T ROCKENE BILDHAUERISCHE F ORSCHUNG « – E RWIN W URMS ERWEITERTER S KULPTURBEGRIFF Den Auftakt der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit Wurms markieren seine zwischen 1988 und Mitte der 90er Jahre entstandenen »Staubskulpturen«. Einige von ihnen zeigte er 1994 als sich schon nach wenigen Minuten wieder verflüchtigende Arrangements auf öffentlichen Plätzen in Köln, Wien oder New York; andere stellt er seither in Museen und Galerien in Vitrinen, auf Podesten, Sockeln und Möbelstücken aus.6 In exakten geometrischen Formen, in Kreisen, Ovalen und Quadraten, präsentiert er den Staub genau wie jene Ablagerungen, die sich nach einiger Zeit an den Rändern von Gegenständen ansammeln. Die Gegenstände selbst sind allerdings nicht zugegen. Sie sind abwesend, und der Staub bringt sich als die Umgebung einer ins Zentrum gesetzten Leerstelle in Erscheinung. Was sich den Rezipienten zur Betrachtung darbietet, ist somit eine in Szene gesetzte Relation von Anwesenheit und Abwesenheit, die nicht zuletzt die Frage aufwirft, ob der Staub wirklich von einem ehemals anwesenden Gegenstand kündet, oder ob es diesen Gegenstand vielleicht nie gegeben hat. Der Staub wird zum Verweis auf eine Skulptur, die das vakante Feld entweder verlassen oder nie besetzt hat, und nimmt dabei seinerseits skulpturale Züge an. Abbildung 10: Untitled, 1994

Dust sculpture, installation, New York

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Inwiefern die Akkumulation von Staub ein Index für das Vergehen von Zeit ist, hat schon Marcel Duchamp im Zuge seiner Arbeit am Großen Glas verhandelt. Siehe hierzu seine von Man Ray fotografierte Elévage de poussiere (Staubzucht). Indem Wurm ebenfalls den Prozess des Verschwindens von Staub inszeniert, setzt er eine weitere Dimension des Verhältnisses von Staub und Zeitlichkeit in Szene.

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Abbildung 11: Untitled, 12.01.-26.01.1990

Dieses Spiel mit dem Ineinander von Anwesenheit und Abwesenheit, von Materialisierung und Entmaterialisierung, von Komposition und Dekomposition, das sich bei den Staubskulpturen in der Wahrnehmung der Betrachter in Gang zu setzen vermag, lässt sich in Wurms Werkgruppen der Folgejahre in unterschiedlichen Variationen wiederfinden. Innerhalb der Chronologie seiner Werkgruppen beginnt sich fortan gleichzeitig aber eine Entwicklung abzuzeichnen, die sich retrospektiv als Wegbereitung für intersubjektive Erfahrungssituationen beschreiben lässt. Sukzessive integriert Wurm nun nämlich den menschlichen Körper in seine Arbeiten und verleiht ihm im Rahmen seiner Auseinandersetzungen mit dem erweiterten Skulpturbegriff eine in zunehmendem Maße bedeutsame Rolle. »Es ist nicht vorsätzlich passiert. Der menschliche Körper kam sozusagen durch die Hintertür«,7 sagt Wurm. Die Hintertür, das waren die Kleidungsstücke, mit denen er Anfang der 1990er Jahre zu experimentieren anfing und für die er sich einerseits entschied, weil es Gegenstände aus seinem unmittelbaren Umfeld waren. Sie waren leicht verfügbar, einfach zu handhaben und erfüllten mithin die Bedingung einer »gewisse[n] Ökonomie«8, die Wurm schon in den 1980er Jahren als Grundsatz seiner Arbeit definiert hatte.9 Andererseits waren die Kleidungsstücke aufgrund ihrer Elastizität für

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8 9

Abraham Orden/Erwin Wurm: »Twist and Shout. Ein Gespräch zwischen Erwin Wurm und Abraham Orden«, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Addendum zur gleichnamigen Publikation und Ausstellung, Ostfildern-Ruit, 2006, S. 23-29, hier: S. 23. E. Wurm/R. Metzger: »Erwin Wurm«, S. 205. »Einmal hatte ich ein Atelier oberhalb einer Tischlerei, und so kam es, daß ich Holzabfälle benutzte. Das ging dann so weiter, von Atelier zu Atelier. Ich habe also ein Interesse an jenen Dingen entwickelt, die aus meinem unmittelbaren Umfeld stammten, die leicht erreichbar und leicht handhabbar waren. Außerdem

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seine »trockene bildhauerische Forschung«10, für seine Beschäftigungen mit den basalen Prinzipien der Bildhauerei, der Überführung vom Zweidimensionalen ins Dreidimensionale, in besonderer Weise geeignet. Als Gegenstände, die sich in immer andere Formen und Positionen bringen lassen, dienten ihm Jacken, Pullover, Hemden, Mäntel oder Hosen in allen erdenklichen Farben und Texturen zur Infragestellung der traditionellen Idee von Form als definitive, fixierte Größe.11 Mit ihrer Hilfe deklinierte er Formwerdungen und Formauflösungen in zahlreichen Abwandlungen und Anordnungen durch. Er faltete, verdrehte oder dehnte die Kleidungsstücke, kehrte ihre Innenseiten nach außen und präsentierte sie derart in Schaukästen oder Pappkartons, drapierte sie auf Fußböden, hängte sie an Wände oder setzte sie als Verkleidungen von Podesten, Sockeln und Metallröhren ein. Er defunktionalisierte sie, während er gleichzeitig ihren »Charakter der Anziehbarkeit«12 aufrechterhielt. Abbildung 12: Untitled, 1989

konnte ich so meine Ideen billig und ökonomisch realisieren. Schließlich bin ich auf die Kleidungsstücke gestoßen, die uns ja tagtäglich, zunächst einmal rein physisch, sehr nahe sind.« Erwin Wurm zit. nach ebd. 10 A. Orden/E. Wurm: »Twist and Shout«, S. 24. 11 Siehe hierzu auch Roland Wäspe: »Der Flipperspieler. Zu Erwin Wurms Skulpturbegriff«, in: Parkett (47/1996), S. 6-11, hier: S. 8. 12 E. Wurm/H.U. Obrist: »Gespräch mit Hans Ulrich Obrist«, S. 4.

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Abbildung 13: Untitled, 1988

In Wurms Schaffensprozess markieren die Kleiderskulpturen und unter ihnen insbesondere die Pulloverskulpturen einen entscheidenden Wendepunkt. Erstmals expliziert sich mit ihnen die Erweiterung der Skulptur um die Dimension der Handlung. Als Signum dieser Erweiterung bzw. als Signum der Fokusverschiebung von der Skulptur als fertiges Produkt hin zur Betonung des hervorbringenden Akts einer Skulptur13 tritt nicht zufällig auch zum ersten Mal die Handlungsanweisung als ausgestelltes Werkelement in Erscheinung. Bereits bei vielen von Wurms vorangegangenen Arbeiten spielte die Handlungsanweisung eine prominente Rolle. Schon für die Staubskulpturen hatte er Instruktionen in Form von Zertifikaten verfasst, die als Erlaubnis für die Installatierung einer Staubskulptur fungierten und zudem darüber Auskunft gaben, wie eine Staubskulptur genau zu arrangieren ist.14 Genau wie

13 Vgl. hierzu Peter Weibel: »[…] die singuläre Leistung Wurms besteht darin, die Ansprüche und Traditionslinien der Avantgarde und Neo-Avantgarde des 20. Jahrhunderts in einem neuen Skulpturenbegriff zu bündeln. Die Skulptur als Handlungsform löst die abstrakte Skulptur und die Skulptur als Objekt als Innovationen des 20. Jahrhunderts ab.« Zit. nach Peter Weibel: »Erwin Wurm: Handlungsformen der Skulptur«, in: ders. (Hg.): Fat Survival. Handlungsformen der Skulptur, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2002, S. 3-10, hier: S. 10. 14 Erwin Wurm legte beispielsweise genau fest, wie der Staub auf einem Podest zu drapieren ist, wie dick er aufgetragen werden soll, wie breit die Staubschicht zu sein hat (»Make better less than too much«), woher der Staub zu beziehen ist (»take the dust of a vacuum cleaner«), wie er wirken soll (»The dust should look like the amount of dust which is falling naturally in aprox. 2 weeks!«) und wie zu verfahren ist, wenn die Staubschicht etwa durch Fingerabdrücke von Museumsbesuchern verändert wird (»do it again«). Siehe: Certificate (1990, Instructions to install the dust piece, felt-tip pen on paper), abgedruckt in: Museum Moderner

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die Instruktionen für seine Kleiderskulpturen richteten sie sich jedoch allein an die Sammler15 oder Kuratoren16. Sie ermöglichten es ihnen, die Skulpturen im Sinne Wurms, vor allen Dingen aber: anstelle Wurms anzufertigen.17 Für die Betrachter blieb die Handlungsanweisung somit ein zunächst noch verborgenes Element, ein Element, das auf ihre Rezeption und Erfahrung bloß indirekten Einfluss nahm. Seinen unmittelbaren Auftritt vor Publikum erhielt die Handlungsanweisung erst, als sich Wurm vor das Problem gestellt sah, dass seine in Museen und Galerien präsentierten Pulloverskulpturen lediglich als »nette, schöne Objekte«18 wahrgenommen wurden und die Tätigkeit des Aufhängens und Verkleidens von den fertigen Skulpturen überlagert zu werden drohte. Infolgedessen wurde die Instruktion selbst mit zur Ausstellung gebracht. Sie gelangte zur Präsentation, um die Vorgänge der Hervorbringung transparent zu machen, die einem Produkt bedingend vorausgehen: »Daher habe ich angefangen, ›Gebrauchsanweisungen‹ anzufertigen. Ich habe den Weg aufgezeichnet, um diesen nachvollziehen zu können.«19 Seit dem Beginn der 1990er Jahre werden Wurms Skulpturen nicht mehr von ihm selbst, sondern auf der Basis seiner Anweisungen von anderen Personen realisiert. Dieses Prinzip des Delegierens, dem wir bereits bei Felix Gonzalez-Torres begegnet sind, besaß in Wurms Werk zwar also längst eine wichtige Funktion, fand bislang jedoch allein bei Sammlern oder Kuratoren Anwendung. Im Zuge der Pulloverskulpturen machte der Künstler dieses Prinzip erstmals in Bezug auf das Publikum geltend und wechselte bzw. multiplizierte damit die Adressaten seiner Instruktionen. Dezidiert richteten sich diese nun auch an die Rezipienten und luden sie ein, Beteiligte an der

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Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, S. 15. »Anfangs waren [die Handlungsanweisungen] nur für die Sammler, die ein Pulloverobjekt, das in einer Kiste zu Hause ankommt, bestimmt, damit sie es selbst an die Wand hängen konnten.« Zit. nach E. Wurm/H.U. Obrist: »Gespräch mit Hans Ulrich Obrist«, S. 4. »I always asked the curator to buy sweaters and I allowed him or her to hang them according to my instructions so that the formal quality of this work becomes the curator’s choice. I am always surprised by the way the cultural tradition of each curator influences his choices. There are clear differences between an American, a Japanese and a German curator.« Zit. nach Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, S. 24. Zur Geschichte der Zertifikate, zu ihren Funktionen, insb. auch in Hinblick auf erfahrungsästhetische Dimensionen, vgl. ausführlich Kap. 1.2. E. Wurm/H.U. Obrist: »Gespräch mit Hans Ulrich Obrist«, S. 4. Ebd.

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Genese der Skulpturen zu werden. In diesem Sinne nimmt der Pullover in Wurms Werk den Status eines »Übergangsobjekts« ein: »[…] er brachte zum ersten Mal Menschen in meine Arbeit, und zwar einen Schritt pointierter, als diese in absentia darzustellen. […] Die Leute waren aufgefordert, das Kunstwerk aus Teilen selbst zusammenzusetzen. Es gab also als vorgegebene Form die Installation, aber auch die Handlung des Aufhängens, durch die der Betrachter zum ersten Mal in eines meiner Kunstwerke aktiv einbezogen wurde.«20

Abbildung 14: Instruction drawing, 1990

Abbildung 15: Untitled 1992

20 A. Orden/E. Wurm: »Twist and Shout«, S. 24.

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Mit diesem Prinzip, dass nicht der Künstler selbst, sondern die Rezipienten die von ihm festgelegten Handlungen ausführen, begibt sich Wurm in die Tradition der Praxis des do-it-yourself und bedient sich mit der Instruktion eines Mittels, das im Verbund mit dieser Praxis Hochkonjunktur vor allem in den 1950er und 60er Jahren hatte,21 als sich eine deutliche Akzentverschiebung von der Produkt- zur Prozessästhetik abzuzeichnen begann. Im Kontext dieser Dynamisierungen, die in der Hinwendung zur Aktion bzw. zu dem aus einer Aktion resultierenden Geschehen oder Produkt ihren signifikanten Ausdruck fanden, avancierte die Anweisung zum Tun zu einem zentralen artistischen Paradigma. Da die Funktion der Aufforderung darin liegt, wie es Bernhard Waldenfels im Rekurs auf Richard M. Hare formulierte, »jemandem mitzuteilen‚ daß etwas dazu gebracht werden soll, der Fall zu sein«22, stellte sie ein probates Mittel dar, um Handlungsvollzüge mehr oder weniger exakt festzulegen und deren Ausführungen qua imperativischem Charakter dieser Festlegungen anzuregen. Der Einsatz von Handlungsanweisungen als ausgestelltes Werkelement steht im Werk von Erwin Wurm allerdings nicht bloß für die Hinwendung zu Handlungsvollzügen, zur Prozessualität und Präsentation verschiedener skulpturaler Formwerdungen oder zum physischen Einbezug der Sammler, Kuratoren und des Publikums. Er steht gleichsam für die Idee der Wiederausführung und Reinterpretation, die sich schon in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit der Instruktion verband. Aufgrund ihres Vermögens, stets variierende Realisationen hervorzubringen und Kategorien wie Original und Kopie obsolet werden zu lassen, hat Christian Boltanski den Stellenwert der Handlungsanweisungen in der bildenden Kunst einmal analog zu demjenigen der Partituren in der Musik bestimmt: Wie eine Oper oder Symphonie erlebten sie ebenfalls zahlreiche Aus- und Aufführungen »as they are carried out and interpreted by others«23. Boltanskis Funktionsbestimmung trifft sich sodann nicht zufällig auch mit den Intentionen Wurms, der über seine Pulloverskulpturen sagt, dass sie »einmal aufgehängt, immer wieder abgenommen und neu aufgehängt werden«24 können. Wie die Staubskulpturen können sie erneut und sogar an mehreren Orten gleichzeitig ausgeführt und zur Ausstellung gebracht werden. Jede einzelne von Wurms Skulpturen

21 Zum Phänomen der Handlungsanweisung in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts siehe Hans Ulrich Obrist (Hg.): do it, Vol. I, New York, Frankfurt a.M. 2004. Hierzu ist bereits 1997 eine Art Vorläufer erschienen, der begleitende Band einer in New York stattgefundenen do it-Ausstellung: Independent Curators Incorporated (ICI) (Hg.): do it, New York 1997. Zur Geschichte der Handlungsanweisung in der bildenden Kunst siehe ebenfalls Bruce Altshuler: »Art by Instruction and the Pre-History of do it«, in: ebd., S. 21-32. 22 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M. 2002, S. 103f. 23 Zit. nach Hans Ulrich Obrist: »Introduction«, in: Independent Curators Incorporated (ICI) (Hg.): do it, New York 1997, S. 13-19, hier: S. 13. 24 E. Wurm/H.U. Obrist: »Gespräch mit Hans Ulrich Obrist«, S. 5.

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stellt insofern nur eine von vielen möglichen Realisationen dar und verweist zugleich auf die Differenz, die sich zwischen ihr und den anderen (schon oder noch nicht) realisierten Skulpturen auftut.25 Seine Gegenstände, das hat er selbst immer wieder betont, sind »wegwerfbare Alltagsgegenstände, die auch nie als Kunstobjekt kaufbar sind […]. Nach den Ausstellungen werden sie einfach entsorgt«26. Wurm beharrt auf dem reinen Gebrauchscharakter seiner Gegenstände. Indem er ihre Fetischisierung als Kunstobjekte zu verhindern sucht,27 bemüht er sich ebenfalls, sie vor einem Schicksal zu bewahren, das in der Vergangenheit bereits mehrere publikumsaktivierende Kunstwerke ereilte. Denn obgleich einst dazu entworfen, die Besucher zum Vollzug von Handlungen einzuladen, wird ihnen aus Gründen des Schutzes heute vielfach ein Status zugewiesen, der, wie u.a. Oskar Bätschmann bemerkte, ihr ursprünglich handlungsauslösendes Potenzial außer Kraft setzt: »Durch die ungelösten Verbindungen mit dem Urheberrecht und den Reproduktionsgebühren wie durch den Versicherungswert und die Bewahrungspflicht beanspruchen auch die vorgeblich unvollständigen Erfahrungsgestaltungen wieder den traditionellen Status von allseitig geschützten und urheberrechtlich verwertbaren Kunstwerken.«28

Von Absperrungen oder Bitte-nicht-berühren-Schildern vor Besuchern in Sicherheit gebracht, die ihnen zu nahe treten könnten, sind diese Werke zu Repräsentanten künstlerischer Entwürfe geworden, die einst darauf zielten, das Verhältnis von Produktion, Präsentation und Rezeption neu zu bestimmen. Was in der Einfriedung ihrer Aktivierungsstrategien aber allererst zutage tritt, ist das Gescheitertsein dieses Vorhabens selbst.29 So gesehen trifft Wurm Vorsorge und begünstigt die langfristige Sicherstellung des handlungsauslösenden Potenzials seiner Gegenstände insofern, als er ihnen weder Einzigartigkeit oder Originalität noch eine eigenständige, von den Mate-

25 Siehe vergleichend hierzu auch die bereits im Werkkonzept angelegte Idee der Wiederausführung bei Felix Gonzalez-Torres (Kap. 1.2) und bei Tino Sehgal (Kap. 3.3). 26 E. Wurm/R. Metzger: »Erwin Wurm«, S. 209. 27 Vgl. ebd., S. 210. Hier erklärt Wurm, dass er schon bei den Pulloverskulpturen versuchte, die Fetischisierung der Objekte zu unterlaufen, indem er den Sammlern und Museen vorschlug, »nach 20 Jahren die alten Pullis durch neue der jeweiligen Mode und dem Zeitgeschmack entsprechende zu ersetzen«. 28 O. Bätschmann: Ausstellungskünstler, S. 240. 29 Vgl. Peter Bürger, der das Scheitern der Avantgarden u.a. daran bemisst, dass sie nach ihrem Angriff auf die Kunstinstitutionen selbst in diesen angekommen und somit historisch geworden sind. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M., 1974; insb. Kap. III.1: »Zur Problematik der Werkkategorie«, S. 76-80. Siehe außerdem Kap. 3.3 in dieser Arbeit.

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rialisierungen seiner Skulpturen unabhängige Wertigkeit zuerkennt. Nicht zuletzt trägt er auf diese Weise der Idee der Wiederausführung Rechnung und stellt die Weichen dafür, dass sich das um die Handlung erweiterte Konzept seiner Skulpturen in immer wieder neuen Realisationen selbst in noch unbestimmter Zukunft aktualisieren lässt. Mit den Pulloverskulpturen – oder genauer gesagt: mit der Verknüpfung von Pullovern und Instruktionen – rückt Wurm Aspekte in den Vordergrund, die desgleichen für seine späteren instruction pieces und vor allem die One Minute Sculptures kennzeichnend sind: Er führt Handlung und Zeit als skulpturale Kriterien ein und konterkariert damit die traditionelle Verpflichtung der Skulptur auf Dauer und Unvergänglichkeit mit den Prozessen der Hervorbringung und Vergänglichkeit von Form. Darüber hinaus lenkt er die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Möglichkeiten, die sich bei unterschiedlicher Verwendung eines Gegenstandes oder bei verschiedenen Ausführungen einer einzigen Handlungsanweisung ergeben können. Bleibt bei den Pulloverskulpturen, bei denen die Rezipienten durch Instruktionen aufgefordert werden, die Pullover aufzuhängen, die Tätigkeit des Aufhängens im aufgehängten Pullover lediglich als Spur enthalten, so verändert Wurm mit seinen folgenden Werkgruppen jedoch den Fokus. Sein Interesse, so lässt sich sagen, orientiert sich nicht mehr nur am Prozess der Herstellung. Vielmehr beginnt er, die Ausführenden der Instruktionen, die Agenten der Prozesse, sichtbar zu machen. Abbildung 16: 59 positions, 1992 (Ausschnitt)

Er thematisiert sie nun mit und setzt sie buchstäblich ins Bild – wie etwa in 59 positions, einem 60-minütigen Video aus dem Jahr 1992, das er aus 59 Polaroid-Fotos collagierte, die als Dokumente der Umsetzungen seiner Pul-

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loverskulpturen entstanden sind.30 In diesem Video sieht man in Abfolge 59 Resultate des sich stets anders ausprägenden Zusammenspiels von Körper und Kleidungsstück: 59 Mal haben sich Menschen einen Pullover so übergezogen, dass durch die unübliche Weise, in der sich beide, der Pullover und der Akteur, verbinden, 59 skurrile Skulpturen Form gewinnen. Wie die Gegenstände, die in seine Werke Eingang finden, gehören auch einige der Menschen, die Wurm als Akteure engagiert, seinem unmittelbaren privaten Umfeld an. Andere hingegen rekrutiert er aus den Personen, die an den Institutionen angestellt sind, in denen er eine Ausstellung vorbereitet,31 oder die an den Orten leben und arbeiten, die er als Kontextuierungen seiner Skulpturen nutzt.32 Wiederum andere werden per Zeitungsannonce gesucht. In dem Maß, wie Wurm fortan die Ausführenden der Instruktionen ins Bild holt, eröffnen sich ihm hinsichtlich seiner Beschäftigung mit bildhauerischen Vorgängen weiterführende Möglichkeiten der Reflexion und Erprobung. So thematisiert er beispielsweise in 13 pullovers (1991), Me / Me fat (1993), in Shopping (1995/96) oder Fabio getting dressed (entire wardrobe) (1992/2001) die Arbeit am Volumen anhand der anwachsenden Körpermasse, die bei den abgebildeten Personen durch das Übereinanderschichten mehrerer Kleidungsstücke Ausdruck findet. Dass es Wurm durch die Kollaboration mit den Akteuren gelingt, in produktionsästhetischer Hinsicht neue Wege zu beschreiten und seine Auseinandersetzungen mit dem erweiterten Skulpturbegriff voranzutreiben, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Mit den Akteuren kommen jetzt nämlich auch die Erfahrungen ins Spiel, die diese bei den Aufnahmen der Fotografien machen: »Anfangs dachte ich, ich würde sie einfach als Modelle verwenden, auf bestimmte Weise als Platzhalter. Ich sagte ihnen, was zu tun sei, und nahm ein Bild auf. […] Man sollte wohl festhalten, dass die meisten Leute, wenn sie für die Fotos Modell stehen, nicht alleine sind. Die Akteure auf meinen Arbeiten wissen ganz genau, wer sie beobachtet. Das ist sogar die hauptsächliche Erinnerung, die die meisten behalten.«33

30 Neben diversen Zeichnungen und verschiedenen Pullovern präsentierte Wurm folgenden Text: »Folgen Sie den Anweisungen und bleiben Sie solange in der richtigen Position, bis der (die) Aufseher(in) ein Polaroidbild von Ihnen gemacht hat. Sie können das Foto an die Wand hängen oder mitnehmen.« Zit nach Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, S. 31. 31 So zum Beispiel bei der Serie Curator/Imperator, in der er als Akteure die Kuratoren ins Bild setzte, mit denen er jeweils arbeitete (Peter Weibel (2001), Laura Heon (2002), Jérôme Sans (2002)). 32 So etwa bei der Serie Untitled 2002 (brothers and sisters), bei der er Patres, Nonnen und Mönche als Modelle seiner Bilder wählte. 33 A. Orden/E. Wurm: »Twist and Shout«, S. 25.

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Kehrt man von hier aus zurück zu dem eingangs skizzierten Szenen im MMK und vergleicht Wurms Beobachtungen während der Fotoaufnahmen mit den Situationen, die sich dort aus den arrangierten Settings ergaben, dann wird deutlich, dass es in beiden Fällen um Erfahrungen geht, die nicht allein aus dem Vollzug von Handlungen resultieren, sondern die grundlegend an das Exponiertsein vor Betrachtern geknüpft sind. Während die Relationen zwischen denen, die eine Skulptur verkörpern, und denen, die ihnen dabei zusehen, in den Foto- und Videoaufnahmen nicht sichtbar werden, sorgt Wurm im MMK dafür, dass sich die in den Fotos und Filmen festgehaltenen Aktionen hier zu einer Situation erweitern, in der die Wechselwirkungen zwischen Aktionen und Reaktionen, zwischen Zuschauern und Akteuren selbst hervortreten. Anders als Gonzalez-Torres verweist Wurm dabei bereits mit seinen Einrichtungen, mit seinen Podesten, Instruktionen und zu benutzenden Gegenständen, explizit auf die potenzielle Theatralisierung des Ausstellungsraums.34 Pointiert setzt er alle Parameter, die eine klassische Aufführungssituation auszeichnen, und ebnet den Weg dafür, dass jene Dimensionen in den Fokus rücken, die von der allein auf die lebenden Skulpturen sich konzentrierenden Kamera noch ausgeblendet bleiben. Mit den One Minute Sculptures werden die konkreten Umstände thematisch, in und unter denen die lebenden Skulpturen realisiert werden. In Wurms Werk stellt dieses Interesse an den Umständen indes kein Novum dar. Es begleitet den Künstler schon von Beginn an.35 Seine Arbeiten drehen sich konstant um die Verbindung von Subjekten mit Objekten wie auch um die Verbindung von Subjekt-Objekt-Konstellierungen mit ihren jeweiligen Kontexten. Diese Kontexte können, wie die vielen Fotografien von verkörperten Skulpturen zeigen, Landschaften, einsame Hotelzimmer oder gut besuchte Restaurants, viel befahrene Straßen oder enge, verlassene Gassen in europäischen und fernöstlichen Städten, können Institutionen wie Kirchen, Klöster oder Theater sein.36 Wenn Wurm seine Skulpturen in Kunstausstellungen von den Besuchern ausführen lässt, werden aber nicht bloß die Umstände in veränderter Form thematisch. Thematisch werden zugleich die permanenten Veränderungen der Umstände selbst. Mit der Anordnung der Podeste, Instruktionen und Gegenstände legt Wurm das Fundament für eine Szene, die im Sinne der Bedeutung der scaena die zu bespielende Bühne ebenso einbe-

34 Zu meinem Theatralitätsverständnis, insb. in Abgrenzung zu demjenigen von Michael Fried, siehe Kap. 1.4. 35 Vgl. E. Wurm/R. Metzger: »Erwin Wurm«, S. 209. Siehe auch E. Wurm/A. Orden: »Twist and Shout«, wo Wurm sagt: »Viele Leute missverstehen meine Arbeit und glauben, mir geht es um den Körper oder diesen und jenen Gegenstand, aber nein: Es geht mir in erster Linie um die Umstände.« S. 27. 36 Siehe exemplarisch die Werkgruppen der Indoor Sculptures, Outdoor Sculptures oder der Instructions on how to be politically incorrect.

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greift wie den Zuschauerraum.37 Er begünstigt mithin die sich ständig wechselnden Interaktionen zwischen jenen Besuchern, die als lebende Skulpturen oder als deren Betrachter in Erscheinung treten. Durch die Kontextuierung der One Minute Sculptures in Museen und Galerien entzieht sich das Zustandekommen der gemeinsamen Anwesenheit von Akteuren und Betrachtern alledings auch jedweder Planbarkeit. Zwar besitzen die Anordnungen das Potenzial, mit den Akteuren ebenfalls deren Publikum ins Bild zu bringen. Ob aber tatsächlich jemand auf eines der Podeste steigen wird, ist kaum vorhersehbar. Die Umstände, in und unter denen die Skulpturen in Kunstinstitutionen verkörpert, betrachtet und erfahren werden, sind fragil und instabil. Sie unterliegen dem ständigen Wandel, der sich aus der zufälligen Anoder Abwesenheit, dem Kommen und Gehen der Besucher ergibt.

2.2 J EDER

KANN

S KULPTUR

SEIN

Ein wichtiger Aspekt der One Minute Scupltures bliebe unterschlagen, beließe man es bei der Feststellung, dass Wurm die Besucher in Museen und Galerien nur zur Verkörperung lebender Skulpturen einlädt. Wurm lädt keineswegs nur zur Verkörperung von Skulpturen ein. Vielmehr fordert er die Besucher zu Verkörperungen von Skulpturen auf, die sie in skurrilen Posen dastehen, daliegen oder dasitzen lassen. Anders als etwa Piero Manzoni, der mit seinem Base Magica (1961) dazu anwies, sich auf einen Sockel zu begeben, den Adressaten ansonsten aber keine weiteren Handlungs- und Verhaltensvorgaben machte, bittet Wurm nicht bloß auf Podeste. Er hat sich auch allerhand ausgedacht, das von den Besuchern dort zu tun ist. Sie sollen sich Plastikblumen in den Hosenschlitz stopfen, sich auf Tennisbälle legen, sollen sich zu zweit einen Pullover überziehen oder ihren Kopf in das ausgesägte Loch einer Tischplatte stecken.38 Eine von Wurms Instruktionen heißt Make your own Franz Erhard Walther. Sie bittet die Besucher, sich hinter einen an der Wand befestigten Lie-

37 Zur Begriffsgeschichte der Szene siehe Christopher Balme: »Szene«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 320-322. 38 »Diese Zeichnungen erinnern an die Illustrationen der Handbücher der Pfadfinder, mit ihren Anleitungen für Knoten, für improvisierte Unterstände, für das Entfachen von Feuer, für den Bau von Fallen etc. In Wurms Version: Wie stopfe ich ein Objekt vorne und hinten in meine Unterhosen? Wie ziehe ich mir die Hose über den Kopf? Wie liege ich am besten auf Tennisbällen, ohne den Boden zu berühren?« Zit. nach Michael Newman: »Fotografie und Video als Skulptur im Werk von Erwin Wurm«, in: Peter Weibel (Hg.): Erwin Wurm. Fat Survival. Handlungsformen der Skulptur, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2002, S. 11-17, hier: S. 12.

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gestuhl zu stellen. Wer dies tut, verschwindet mit seinem Oberkörper hinter der farbigen, gefalteten Liege und verliert dabei die Geschehnisse um sich herum aus dem Blick. Bereits mit dem Titel dieser Instruktion rekurriert Wurm auf jenen Künstler, mit dem er häufig in Verbindung gebracht wird. Schon in den 1960er Jahren hatte Franz Erhard Walther eine Reihe von meist aus Stoff gefertigten Objekten entworfen, in die man sich allein oder zu zweit einrollen, die man sich um seinen Körper wickeln oder in denen man partiell, mitunter sogar ganz verschwinden kann. Ihre Namen lauten Objekt für die Stirn, Objekte für zwei, Objekt um Brutalität zu verstehen, Objekt für Ruhe oder Objekt zum hineinlegen.39 Was Wurm von Walther bei aller Ähnlichkeit dennoch unterscheidet, beschreibt er selbst mit den folgenden Worten: »I always wanted to draw the public away from the artworld, out of this kind of secret field. For this reason I was looking for other positions that were in a way more unusual than other similar art pieces. Franz Erhard Walther chose positions that remained very artistic. I was very interested in breaking through this, in finding something else.«40

Die eher ›ungewöhnlichen Positionen‹, nach denen Wurm sucht, haben seine Skulpturen schließlich so skurril und in ihrer Skurrilität so unverwechselbar werden lassen, dass sie nicht nur zum prägnantesten Markenzeichen des Künstlers geworden sind. Längst haben sie – wie durch das Video zu dem Lied Can’t stop der Red Hot Chili Peppers – über den engeren Kunstkontext hinaus Bekanntheit erlangt.41 Wenn Wurm sagt, er wolle mit seinen Arbeiten ›das Publikum aus dem geheimnisvollen Feld der Kunstwelt weglocken‹, dann bringt er damit eine Ambition zum Ausdruck, die keineswegs neu ist. Wurm geht es, so lässt es sich anders sagen, um die Produktion von Werken, welche sich nicht allein denjenigen zu erschließen sollen, die über ein fundiertes Wissen von der Geschichte und Theorie der Kunst bereits verfügen. Dieses Anliegen ebenso wie die Handlungsanweisung, die in diesem Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle spielt, erinnern an den Anspruch und die Praktiken von Fluxus, deren Vertreter in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu den ambitioniertesten Verfassern von Instruktionen gehörten. Sie entwarfen unzählige Instruktionen für die Hervorbringung von Geräuschen, Texten, Gesten oder Handlungen und veröffentlichten diese entweder in geschriebener Form oder als Skizzen auf kleinen Kärtchen und in Zeitschriften, führten sie

39 Vgl. Franz Erhard Walther: OBJEKTE, benutzen, Köln, New York 1968. 40 Zit. nach Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, S. 142. 41 Dieses Video, das ebenfalls im Rahmen der Ausstellung Das Lebendige Museum präsentiert wurde, zeigt vor allem den Sänger in einer Abfolge von Verkörperungen diverser Skulpturen Wurms.

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bei ihren Festivals vor Publikum aus oder schickten sie ihren Freunden und Kollegen zur Realisierung im privaten Kreis.42 Diese so genannten Ereignispartituren (»event scores«) dienten jedoch nicht nur den Fluxus-Künstlern selbst als auszuführende Kompositionen. In der Trennung von Komponisten und Interpreten entdeckten die Fluxus-Künstler zugleich eine Möglichkeit für den Einbezug des Publikums und also den Einbezug von unerfahrenen Akteuren. Die Tätigkeiten, zu denen ihre Instruktionen auffordern, sind, wie diejenigen von Wurm, vorwiegend simpel. Sie orientieren sich an der Einfachheit alltäglicher Handlungen und Vorkommnisse und erfordern, ganz im Sinne des Fluxus-Chefideologen George Maciunas, kaum bis keinerlei »Geschicklichkeit oder zahllose Proben«43. Um sie realisieren zu können, muss man kein professioneller Performer sein, und letztlich macht es, wie der FluxusKünstler Tomas Schmit schreibt, »keinen unterschied […], ob ein erfahrener f.-akteur oder einer aus dem publikum oder der freund der tochter des hausmeisters sie ausführte.«44 In diesem Punkt sind sich die mit den Instruktionen in Verbindung stehenden Ziele und Zwecke von Wurm und den FluxusVertretern nicht unähnlich. Sie teilen sich beide den Verweis auf die Idee einer »Kunst für alle«45 sowie den damit verknüpften Grundgedanken, jeder könne, auch ohne Talent und vorbereitende Übung, ein Akteur – bzw. bei Wurm: eine lebende Skulptur – sein. Bei Wurm hat dieser Verweis indes nichts mehr mit dem neoavantgardistischen Impetus zu tun, durch die Priorisierung von Erfahrungen in alltäglichen Aktivitäten den vom Alltag entfremdeten – und bezüglich einer gesellschaftsverändernden Kraft: wertlosen – Kunsterfahrungen entgegenwirken zu wollen. Die Aktivitäten, zu denen Wurm auffordert, sind alles andere als alltäglich. Sie verkehren das Alltägliche und stellen es auf den Kopf. Anders als die Fluxus-Künstler inszeniert Wurm Situationen, in denen wir nicht schon auf vertraute Muster zurückgreifen können. Viel eher sind

42 Siehe hierzu auch Jill Johnston, die auf den familiären Netzwerk-Charakter bei Fluxus verwiesen hat, der sich ihrer Ansicht nach vor allem durch das Schreiben von Partituren für bzw. das Ausführen dieser Partituren durch Kollegen und Freunde herstellte. Johnston Jill: »20th Century AD«, in: Art in America (2004), www.findarticles.com/p/articles/ mim1248/is_n6_v82/ai_15490862 43 George Maciunas in: René Block (Hg.): 1962 Wiesbaden Fluxus 1982, eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen, Wiesbaden – Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin 1983, S. 79. 44 Tomas Schmit: »über f.«, in: René Block (Hg.): 1962 Wiesbaden Fluxus 1982, eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen, Wiesbaden – Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin 1983, S. 96-100, hier: S. 99. (Kleinschreibung i.O.) 45 Die Idee der »art for all« wurde insbesondere von Henry Flynt und George Maciunas regelmäßig propagiert. Vgl. Henry Flynt: »From Culture to Veramusement«, in: ders.: Down with Art, New York 1968, S. 1-13, hier: S. 1.

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seine Situationen darauf ausgerichtet, die Geschichte unserer persönlichen Kunsterfahrungen anzureichern und fortzuschreiben. Deutlich wird diese Differenz zwischen Wurm und Fluxus insbesondere in der Art, in denen sie ihre Objekte und Gegenstände jeweils zum Einsatz bringen. In Bezug auf die Konzeption der Fluxus-Objekte hat Benjamin Buchloh einmal sinnfällig vom »object theatre of Fluxus«46 gesprochen. Was er mit dieser Wendung adressiert, ist die Vorgehensweise, mit der die FluxusKünstler die in ihren Augen problematische Funktionslosigkeit der Kunstobjekte in Angriff zu nehmen versuchten. Mit dem Ziel, sie zu (re-)funktionalisieren, nahmen sie deren Ereignisstruktur, deren »event structure« in den Blick und betonten das Vermögen von Objekten, Aktionen auszulösen ebenfalls zu präfigurieren.47 Der auf George Brecht und Robert Watts zurückgehende Begriff der »event structure«, dem Buchloh seinerseits den der »animate objects«48, der belebten oder beseelten Objekte an die Seite stellte, korrespondiert nicht zuletzt mit dem, was Vilém Flusser als den Aufforderungscharakter der Dinge bezeichnete.49 Um zu verdeutlichen, worauf sich seine Rede von dem Aufforderungscharakter der Dinge bezieht, wählte Flusser das Beispiel der Flasche und beschrieb sie als einen Gegenstand, der nicht allein mit einer sichtbaren Aufschrift versehen ist, die verrät, welcher Inhalt sich in ihr befindet. Wie Flusser erläuterte, ist die Flasche ein Gegenstand, der gleichzeitig mit einer unsichtbaren Aufschrift ausgestattet ist, die »in Befehlsform«50 anzeigt, wie eine Flasche gehandhabt werden soll. Präzisierend müsste man wohl sagen, dass deren Handhabe durchaus unterschiedlich ausfallen kann und die Flasche in vollem, halbleerem oder entleertem Zustand zu einem jeweils anderen Tun anweist: zu Beginn zum Entkorken und am Ende zum Wegwerfen oder zum souvenirhaften Aufbewahren. In Abhängigkeit von den Prämissen kann sich daher der Aufforderungscharakter der Dinge wandeln, sodass ihnen genau genommen immer wieder andere Aufforderungscharaktere eig-

46 Benjamin Buchloh: »Robert Watts: Animate Objects, Inanimate Subjects«, in: ders.: Neo-Avantgarde and Culture Industry. Essays on European and American Art from 1955 to 1975, Cambridge, London 2000, S. 531-553, hier: S. 551. 47 Mit diesem Vorhaben ist das hier nicht weiter zu diskutierende Bestreben von Fluxus angesprochen, den Status des Kunstobjekts als »disfunctional commodity whose only purpose is to be sold and to support the artist« aufzuheben (so George Maciunas 1964 in einem Brief an Tomas Schmit, zit. nach ebd., S. 533) und eine Neubestimmung von Kunst vorzunehmen. 48 Zum Konzept der »event structure« bei George Brecht und Robert Watts siehe ebd., S. 538. Zum Begriff der »animate objects« bei Benjamin Buchloh siehe Titel und Argumentationsführung des gesamten Aufsatzes, ebd. 49 Vilém Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München, Wien 1993. 50 Ebd., S. 17.

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nen. Eine Flasche ist demzufolge zwar imstande, bestimmte Tätigkeiten hervorzurufen. Nicht zuletzt sind die Evokationen dieser Tätigkeiten aber auch an den Kontext gebunden, in dem sie erscheint: Eine Flasche im Supermarkt richtet an ihr Gegenüber einen anderen Appell als eine Flasche im eigenen Kühlschrank, und diese wiederum besitzt einen anderen Aufforderungscharakter als eine Flasche, die als Objekt Eingang in ein Museum gefunden hat. Dass sich mit der Ausstellung eines Alltagsgegenstandes in einer Kunstinstitution dessen Status und Wert ebenso verändert wie der Modus seiner Rezeption, lässt sich an Marcel Duchamps Fountain exemplarisch nachvollziehen. Ein Urinoir, das im Museum ausgestellt wird, dient nicht (mehr) dem Gebrauch; es dient der Betrachtung.51 Der Kontext hat seinen Aufforderungscharakter verändert. Seiner eigentlichen Funktion enthoben und seines ursprünglichen Aufforderungscharakters beraubt, adoptiert es eine neue Aufforderungsqualität, die sich als der Anspruch beschreiben lässt, als Ausgestelltes allererst für die Anschauung da zu sein. 1965 antwortete George Brecht auf die Frage nach dem Unterschied zwischen einem Objekt von Duchamp und sich selbst: »Der Unterschied zwischen einem Stuhl von Duchamp und einem meiner Stühle könnte sein, daß Duchamps Stuhl auf einem Podest steht und meiner noch benutzt werden kann. […] Bei mir ist es möglich, sich hinzusetzen.« 52

Mit dieser Erlaubnis sich hinzusetzen – oder allgemeiner formuliert: ein Exponat benutzen zu dürfen statt es nur betrachten zu sollen –, verwies Brecht auf den Gebrauchswert der Objekte und unterstrich sein Anliegen, deren Benutzbarkeiten ins Zentrum des Interesses rücken zu wollen.53 Dieses Anlie-

51 Genau genommen ist der veränderte Aufforderungscharakter nicht nur dem Kontext geschuldet, sondern auch und bereits der spezifischen Präsentationsform des Pissoirs. Statt es, wie üblich, mit der Rückseite an die Wand zu hängen, wurde es von Duchamp auf die Rückseite, die nun als Unterseite fungierte, gestellt, wodurch es formale Referenzen zur Gestalt eines Buddha oder einer Madonna ermöglichte. Vgl. hierzu z.B. William Camfield: »Marcel Duchamp’s Fountain: Aesthetic Object, Icon, or Anti-Art?«, in: Thierry de Duve (Hg.): The Definitively Unfinished Marcel Duchamp, Massachusetts 1991, S. 133-178, insb. S. 141144. 52 Ben Vautier/Marcel Alocco: »Ein Gespräch über Etwas Anderes, ein Interview mit George Brecht von Ben Vautier und Marcel Alocco« (1965), zit. nach George Brecht: »George Brecht à propos Marcel Duchamp«, in: Dieter Daniels (Hg.): Übrigens sterben immer die anderen, Köln 1988, S. 179-182, hier: S. 179. 53 In dieser Hinsicht lässt sich ebenfalls ein Unterschied zwischen dem Bezug auf Gebrauchsgegenstände bei Fluxus und beispielsweise bei der Pop-Art markieren, auf den hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Siehe lediglich die Aussage von Larry Miller: »Verschiedene Künstler waren an gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen interessiert […], aber ich glaube, daß George Brechts In-

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gen teilte Brecht mit vielen anderen Fluxus-Künstlern, die ebenfalls darum bemüht waren, die Objekte der Interaktion mit den Rezipienten zugänglich zu machen und durch deren Gebrauch alltägliche Handlungen und Ereignisse zu privilegieren. So gesehen ist die Transformation des spektatorischen in ein partizipatorisches Subjekt-Objekt-Verhältnis bei Fluxus ein Projekt, dessen eigentliche Bedeutung sich erst vor dem Hintergrund des Vorhabens entfaltet, den institutionell gesetzten Aufforderungscharakter der Objekte (Betrachtung statt Benutzung) aufzuheben und die jeweiligen Objekte – qua Erlaubnis ihrer Benutzbarkeit – zu refunktionalisieren.54 Das Objekt, wie

teresse an Gegenständen und mein Interesse an Gegenständen und dasjenige Alison Knowles’ sich doch von Andy Warhol und dem Kasten mit Gegenständen in Oldenburgs Laden unterschieden. Und vielleicht auch von Lichtenstein, doch bei Roy bin ich mir nicht sicher. Vielleicht war die Sensibilität Gegenständen gegenüber bei den verschiedenen Leuten unterschiedlich. Könnte man sagen, daß Oldenburg und Lichtenstein und Warhol versuchten, Gebrauchsgegenstände zu hoher Kunst zu erheben und dadurch vielleicht sogar bestimmte Aspekte der hohen Kunst hinsichtlich Inhalt und Thema neu zu definieren? Ich glaube hingegen nicht, daß Alison, George und ich das taten. Und es war bestimmt nicht etwas, was Fluxus in Zukunft tat oder bereit war zu tun oder bereits getan hatte. Es herrschte eine andere Sensibilität den Gegenständen gegenüber. […] Ich glaube, meine Briefmarken würden sich von Warhols Briefmarken unterscheiden, so wie mein Dollarschein sich von Warhols Dollarschein unterscheidet. Meine Briefmarken konnte man benutzen, und sie wurden benutzt […].« Zit. nach Larry Miller: »Robert Watts: wissenschaftlicher Mönch (aus Gesprächen 1981-85)«, in: Kunstforum (Fluxus – ein Nachruf zu Lebzeiten) (115/1991), hrsg. von Dieter Daniels, S. 144-155, hier: S. 153f. 54 Vgl. hierzu Peter Weibel, der konstatiert, dass Fluxus auf diese Weise ein Problem gelöst hat, welches von Duchamp nicht in Angriff genommen bzw. nicht einmal aufgeworfen worden war. Denn Duchamp brachte zwar, so Weibel, Gebrauchsgegenstände ins Museum, entfernte sie so aber nicht bloß aus ihrer ursprünglichen Umgebung, sondern sorgte durch das Ausbleiben einer Erlaubnis zur Benutzung ebenfalls dafür, dass sie ihre eigentliche Funktion verloren. Weibels Einschätzung basiert jedoch (ebenso wie die einiger Fluxus-Künstler) insofern auf einer falschen Prämisse, als es Duchamp, mit Ausnahme des Fountain, weder um den Transfer von Gebrauchsgegenständen ins Museum noch um den nominalistischen Akt der Erklärung von Gebrauchsgegenständen zu Kunst ging. Deshalb musste es ihn, wie Herbert Molderings herausgestellt hat, in Konsequenz auch nicht interessieren, ob und inwiefern diese von anderen als ihm selbst zu benutzen oder nicht zu benutzen wären. Peter Weibel: »Grundlagen des Attaismus«, in: Carl Hegemann (Hg.): Ausbruch der Kunst. Politik und Verbrechen II, Berlin 2003, S. 95-124, hier: S. 99f. Siehe zu diesem Sachverhalt insb. Herbert Molderings, der sich um die Richtigstellung dieser auf einem historischen Missverständnis beruhenden Fehleinschätzung bemühte. Herbert Molderings: »Ästhetik des Möglichen. Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel

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Buchloh schreibt, situiert »between the allegory of the work’s industrial derivation and the redefinition of the distribution form on the one hand and the actual performance of seemingly senseless, anti-instrumentalized tasks and activities on the other«55, implizierte für Fluxus also zumindest das Versprechen, die symbolische Organisation der Objektverhältnisse umgestalten zu können. Wurm hingegen setzt an einem anderen Punkt an. Seine Gegenstände kommen ohne die kritischen Implikationen der Fluxus-Objekte aus. Zwar können und sollen auch sie benutzt werden, doch die Refunktionalisierung des disfunktional gewordenen Ausstellungsobjekts steht dabei so wenig in Frage wie irgendeine andere Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit Idee und Status des Kunstobjekts. Wurms Interesse bleibt dem Konzept der Skulptur verpflichtet, und die Gegenstände, die er wählt, sind diesem Interesse untergeordnet. Was bei den One Minute Sculptures zum Einsatz kommt, sind nurmehr schlichte, alltägliche Requisiten, welche für die Generierung von Handlungen und Erfahrungen vorgesehen sind, die selbst allerdings alles andere als alltäglich sind. Im Unterschied zu den FluxusKünstlern durchkreuzt und überschreibt Wurm mithilfe seiner Instruktionen den impliziten Aufforderungscharakter der Gegenstände und lädt auf diese Weise zu Aktivitäten ein, die in ihrer Skurrilität eine Diskrepanz zu den zielorientierten Aktivitäten aufweisen, zu denen uns dieselben Gegenstände im Alltag dienen und zu denen wir sie bei der Bewältigung unserer alltäglichen Bedürfnisse und Belange benötigen. Dass ein Stuhl bei Wurm nur zum Sitzen da sein könnte, scheint insofern kaum vorstellbar. Und wie einige seiner Zeichnungen zeigen, hat er sich für dieses Sitzmöbel in der Tat bereits ganz andere Formen der Benutzung ausgedacht: Abbildung 17

Duchamps«, in: Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004, S. 103-135. 55 B. Buchloh: »Robert Watts«, S. 538.

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Abbildung 18

2.3 P ROTAGONISTEN

DER

S ZENE

Um die Frage zu klären, wie sich die von Wurm begünstigte Theatralisierung des Ausstellungsraumes sowie die Skurrilität seiner Skulpturen auf die Erfahrungen der Besucher auswirken können, möchte ich im Folgenden drei unterschiedliche Situationen in den Blick nehmen, die sich aus der Anordnung der Podeste, Instruktionen und Gegenstände zu ergeben vermögen. Im ersten Fall geht es dabei um die nähere Bestimmung der intersubjektiven Erfahrungsdimensionen, die in der ko-präsenten Begegnung von Akteuren und Publikum zutage treten können (1.3.1). In den beiden anderen Fällen werde ich dann den intersubjektiven Erfahrungen dort nachgehen, wo sie vielleicht nicht unmittelbar auf der Hand zu liegen scheinen: in jenen Situationen, in denen entweder die Verkörperung der Skulpturen ohne die physische Anwesenheit von Betrachtern vonstatten geht (1.3.2) oder in denen die Verkörperung der Skulpturen allein in der Imagination vollzogen wird (1.3.3). 2.3.1 Ko-präsente Zwischenereignisse Betrat man den Ausstellungsraum im MMK in jenem Moment, in dem sich dort eine Frau bemühte, leere Plastikflaschen zwischen Armen und Oberkörper sowie zwischen ihren Beinen zu platzieren, in dem ein Junge mit seinen Füßen in einem weißen Eimer steckte, während ein schwarzer Eimer über seinen Kopf gestülpt war, und in dem eine weitere Frau in gebückter Haltung mit ihrer Stirn einen Filzstift an die Wand drückte, so begegnete man dort nicht nur drei Personen, die damit beschäftigt waren, lebende Skulpturen zu verkörpern. Wie bereits festgestellt, wurde man zugleich unmittelbar in eine Situation involviert, in der sich Akteure und Zuschauer mit ihren jeweiligen Aktionen und Reaktionen aufeinander Bezug nahmen. Diese spezifische Situation hatte ihren Anfang genommen, noch bevor man selbst hinzugekommen war, und ganz gleich, was man selbst sich fortan zu tun entschied, ob man auf eines der Podeste stieg, ob man sich vor ihnen in

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Stellung brachte oder ob man für eine Beobachterposition zweiter Ordnung votierte: Was immer man tat oder unterließ – die Erfahrungen, die man jeweils machen konnte, waren zwangsläufig an die Anwesenheit der anderen Personen sowie an die Dynamiken geknüpft, die zwischen ihnen so und nicht anders in Gang geraten waren. Was aber hieß es eigentlich genau, sich hier und jetzt auf das Podest zu begeben und sich dort zum skurrilen Objekt der Betrachtung zu machen? Dass sich Ausstellungs- und Theaterbesucher seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kaum noch darauf verlassen können, lediglich Betrachter sein zu dürfen, ist längst ein fest verankerter Befund. Trotzdem werden gerade diejenigen, die in den vergangenen Jahren regelmäßig ins Theater gegangen sind und sich dort unversehens, vielleicht sogar unfreiwillig im Scheinwerferlicht neben den eigentlichen Darstellern wiederfanden, festgestellt haben, dass der Verlust der tradierten Zuschauerrolle immer wieder aufs Neue ungemütlich zu werden verspricht.56 Der Umstand, dass wir damit zu rechnen haben, selbst zur Anschauung gebracht zu werden, zählt daher im zeitgenössischen Theater zu jenen Krisen erzeugenden Zumutungen, die verantworten, dass nervöse Zustände keineswegs mehr ein nur unter Schauspielern verbreitetes Phänomen sind. Das Wissen, dass es für eine unbehelligte Zuschauerposition keine Garantien gibt, hat nervöse Zustände, wie der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat schrieb, in der Zwischenzeit auch auf Seiten des Publikums zu einer grundlegenden Erfahrung werden lassen: »Sobald der erste Zuschauer die Bühne betritt, werden die weniger experimentierfreudigen Teile des Publikums die Köpfe einziehen und sich ängstlich in nervöser Erwartung des Unvorhersehbaren einrichten. Nervosität resultiert hier aus einer Erfahrung des Gesehenwerdens oder aus einem Sehen, das mit dem eigenen Gesehenwerden jederzeit rechnen muss. Der zum sichtbaren Akteur erhobene Besucher wird gezwungen, vor den Augen der Menge auf eine unvertraute Situation zu reagieren.

56 Als Stellvertreter derjenigen Regisseure und Künstlerkollektive des zeitgenössischen deutschen Theaters, die den Zuschauer immer wieder als Mitspieler inszenieren, sei an dieser Stelle lediglich auf Christoph Schlingensief, Rimini Protokoll, Gob Squad oder SheShePop verwiesen. Zur Art der Erfahrungen, die in Aufführungen als exponierter und agierender Besucher gemacht werden können, siehe Barbara Gronau: »Mambo auf der Vierten Wand. Sitzstreiks, Liebeserklärungen und andere Krisenszenarien«, in: E. Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München 2006, S. 43-56; Annemarie Matzke: »Die Performance des Zuschauers«, in: dies./Hajo Kurzenberger (Hg.): TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 269-274; Sandra Umathum: Der Zuschauer als Akteur. Untersuchungen am Beispiel von Christoph Schlingensiefs Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 1998. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 1999.

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Schon der Gedanke an die Möglichkeit, sich in solch einer Lage wiederzufinden, kann nervöse Ängste auslösen.«57

Droht einem im Theater die Zuschauerrolle streitig gemacht zu werden, so hat man sich in Konsequenz auch mit den Aus- und Nebenwirkungen zu konfrontieren, die diese Sachlage nach sich zieht: »Das Theater wird hier zum Test oder zur Prüfung: Tausend Augen begutachten, wie kläglich oder souverän man mit der Herausforderung umgeht.«58 Es ließe sich nun sagen, der Vorteil bei den One Minute Sculptures sei, sich dem Betrachtetwerden freiwillig stellen zu können. Man muss nicht befürchten, von einem Schauspieler ungewollt aufs Podest gezerrt zu werden. Was aus dem Entschluss zur Verkörperung einer Skulptur in der Gegenwart Anderer hervorgeht, ist jedoch durchaus mit jenen Effekten vergleichbar, die sich aus dem Verlust der Zuschauerposition im Theater ergeben können. Denn sich auf eins von Wurms Podesten zu begeben, ist eine Herausforderung nicht deshalb nur, weil man hiermit in Kauf nehmen muss, sich von fremden Blicken anschauen zu lassen. Es ist – und das unterscheidet das Akteursein bei den One Minute Sculptures wesentlich vom Akteursein bei den Candy-Installationen von Felix Gonzalez-Torres – eine Herausforderung auch und gerade deshalb, weil die fremden Blicke sehen, wie man sich in einer skurrilen Pose ›aufführt‹. Sich einen Eimer über den Kopf zu ziehen, wird noch vergleichsweise einfach sein. Schon schwieriger ist es, sich mehrere Flaschen zwischen Arme und Oberkörper zu klemmen, anschließend noch zwischen die Beine und dabei die Kontrolle über die Flaschen zwischen Armen und Oberkörper nicht wieder zu verlieren. Indem Wurm die Objekte – wie bei den Kleiderskulpturen die Hosen, Jacken oder Pullover – entgegen ihrer alltäglichen Bestimmung zum Einsatz bringen lässt, erzeugt er eine Inkongruenz zwischen den Gegenständen und ihren eigentlichen Aufforderungscharakteren, eine Inkongruenz, die die Agierenden im Prozess und Resultat der Ausführungen in unter Umständen missliche Lagen bringt. Wenn Robert Pfaller schreibt: »Man kann [die Anweisungen] […] kaum jemals besser oder schlechter befolgen […]«59 – dann stimmt dies nur bedingt. Zwar ist es richtig, dass es bei den One Minute Sculptures nicht um Können oder gar Vir-

57 Matthias Warstat: »Vom Lampenfieber des Zuschauers. Nervosität als Wahrnehmungserlebnis im Theater«, in: E. Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 86-97, hier: S. 90. 58 Ebd. 59 Robert Pfaller: »Glanz und Geheimnis der Evidenzen. Psychoanalyse und Philosophie in den Arbeiten von Erwin Wurm«, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Addendum zur gleichnamigen Publikation und Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2006, S. 30-36, hier: S. 31.

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tuosität geht. Die Präzision der Anweisungen sieht Spielräume für experimentelle Realisationen, in denen sich Talent oder Kreativität unter Beweis zu stellen vermögen, nur in bedingtem Maß vor. Insofern ist es nicht wie beim Fußball, wo das Befolgen der Regeln noch lange nicht bedeuten muss, dass man tatsächlich ein guter Fußballspieler ist. Trotzdem kann man sich, während man sich auf einem Podest in Szene setzt, geschickter oder ungeschickter anstellen. Man kann eine bessere oder schlechtere Figur machen und mit der Anwesenheit oder den Blicken seiner Betrachter entweder selbstsicher umgehen oder eher verlegen und verschämt auf sie reagieren. Szenen sind Schauplätze, so drückte es Bernhard Waldenfels aus, »in denen etwas […] auf dem Spiel steht und nicht bloß regelgeleitete Handlungen vollzogen oder regelkonforme Operationen ausgeführt werden«60. Was bei den One Minute Sculptures auf dem Spiel steht, ist letztlich nichts Geringeres aber als diese Werke selbst, denn sie sind die Szenen, die sie hervorbringen. Da die Konstitution dieser Werke so elementar an die Erfahrungen geknüpft ist, die auf und vor diesen Bühnen in unterschiedlichen szenischen Konfigurationen gemacht werden, lassen sich diese Werke im Grunde auch nur über die Inblicknahme der Szenen sowie der individuellen Erfahrungen in diesen Szenen erfassen. Es sind deshalb ihre Beschreibungen und Analysen, derer es bedarf, um sich den One Minute Sculptures angemessen zu nähern und der Frage auf den Grund gehen zu können, was Wurm eigentlich in Bewegung setzt, wenn er zur Realisierung skurriler lebender Skulpturen aufruft. Abbildung 19

Hold your breath and think of Spinoza

Auf das Podest steigen also. Um mir eine akrobatische Blamage zu ersparen, suchte ich mir eine Anweisung aus, deren Umsetzung kein außerordentliches Geschick zu erfordern versprach. Das Trinkerdenkmal schied aus. Wie die Verrenkungen der Frau offenbart hatten, konnte hier einiges schief

60 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004, S. 32.

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gehen. Eine der anderen Instruktionen mutete dagegen harmloser an. Ich stieg auf das Podest in der Mitte des Raumes, setzte mich mit ausgestreckten Beinen hin (»sit down, sit straight«), um – wie Wurm es wollte – tief einzuatmen, danach den Atem anzuhalten und über Spinoza nachzudenken (»take a deep breath – hold your breath and think about Spinoza«). Kaum hatte ich mich auf dem Podest niedergelassen, setzte sich eine ältere Frau neben mir nieder und hielt, noch bevor ich selbst überhaupt tief eingeatmet hatte, bereits demonstrativ ihren Atem an. Von einer Sekunde zur nächsten schien es ihr gelungen zu sein, sich in ihre Gedanken zu versenken. Zur selben Zeit bauten sich vor uns drei Jugendliche auf, musterten uns mit belustigten Blicken und flüsterten sich unverständliche Kommentare zu. Die Frau neben mir fühlte sich offenbar nicht im Geringsten davon gestört. Sie schloss einfach ihre Augen und tat so, als wollte sie sich von nichts in der Welt von der verordneten Konzentration auf Spinoza abbringen lassen. Mir war nicht ganz klar, was mich mehr irritierte: die Jugendlichen, deren Blicke und Geflüster nicht genau zu deuten waren, oder die Frau, die sich trotz (oder gerade wegen?) der kleinen Betrachtergruppe mit aller Hingabe der Verkörperung ihrer Skulptur widmete. Ich entschied mich, es ihr nachzutun und schloss ebenfalls die Augen. Zu Spinoza wollte mir allerdings nicht viel einfallen, und im Grunde war dies nicht erstaunlich, denn im Museum in ungewöhnlicher Haltung auf einem Podest zu sitzen und dabei fremden Blicken ausgesetzt zu sein, war mitnichten eine günstige Voraussetzung für umfassende philosophische Gedanken. Was mich zuallererst beschäftigte, waren stattdessen die Wechselwirkungen zwischen unseren Betrachtern, der vermeintlich souverän agierenden Frau an meiner Seite und meinem eigenen Befinden. Was mochten sich die Jugendlichen bei unserem Anblick gedacht und zugeflüstert haben? Kommentierten sie nur die unterschiedlichen Weisen, in der sich meine Nachbarin und ich uns ein und derselben Aufgabe stellten? Überlegten sie, wie es wohl wäre, an unserer Stelle zu sein? Oder waren sie möglicherweise von dem Gefühl erfasst worden, das man bisweilen von sich selbst kennt, wenn man andere Menschen in kompromittierenden Situationen beobachtet und dann einerseits aufs Peinlichste berührt ist, andererseits sein Vergnügen aber genau daraus zieht, dass ein Anderer und nicht man selbst das Opfer der schamvollen Szene geworden ist? War hier mithin der uralte Topos der »unbewegten Bewegtheit« am Werk, bei der ästhetischer Genuss eben dadurch entsteht, dass man in angenehmer Position zusieht, wie Anderen Unangenehmes widerfährt? Im Zuge seiner Überlegungen zur Interpassivität hat auch Slavoj iek diesen Topos zum Gegenstand der Analyse gemacht und die Funktion sowie Effizienz von, wie er sie nennt, »Ersetzungsoperationen« anhand unterschiedlicher Vorkommnisse aus der Ritual- und Alltagspraxis erläutert.61

61 Slavoj iek: »Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität«, in: Robert Pfaller (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien,

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Eine Ersetzungsoperation meint bei iek die »Delegation von Empfindungen«62, die Übertragung von Gefühlen auf Andere. Sie besagt, dass ich Anderen nicht nur mir lästige Tätigkeiten, sondern zugleich bestimmte Aspekte passiven Erleidens übertragen kann. Ich lasse beispielsweise eine andere Person für mich weinen oder lachen, und während er oder sie das Lachen oder Weinen für mich übernimmt, gewinne ich den »wertvollen Raum, in dem ich meine Freiheit ausleben kann«63. Dieser wertvolle Raum wäre in unserem Fall derjenige der jugendlichen Betrachter, ein Raum, in dem sie bloß zuschauen durften, in dem sie keine skurrilen Handlungen ausführen und in dem sie sich daher nicht vor Anderen lächerlich vorkommen mussten. Genossen sie aber nur, dass sie nicht selbst das exponierte Objekt der Betrachtung waren und mir aus sicherer Warte zusehen konnten, wie ich mich in seltsamer Pose ausstellte und mich dabei zunehmend unwohler fühlte? Oder hatten sie ihren Spaß daran, mich mit ihren Blicken zu verunsichern? Genossen sie am Ende sogar meine durch ihr Verhalten verursachte Unsicherheit? Oder war alles ganz anders? Fragten sie sich vielleicht nur, warum man sich überhaupt freiwillig einer derartigen Lächerlichkeit preiszugeben bereit war? Oder ging es um Erwin Wurm und gar nicht um uns? Waren sie damit beschäftigt, sich über seine Einfälle Gedanken zu machen? Über seinen Witz? Oder über die Kunsthaftigkeit seiner Arbeiten? All diese Fragen blieben offen. Nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte, waren die Jugendlichen verschwunden. Mit Gewissheit ließ sich deshalb nur sagen, dass es mir zu keiner Zeit gelungen war, meine Empfindungen, meine Emotionen sowie mein Reflektieren über meine Empfindungen und Emotionen von den Verhaltensweisen und Handlungen der Personen in meiner unmittelbaren Umgebung abzulösen. »Was immer die Ak-

New York 2000, S. 13-32, hier: S. 18. »Die sogenannten primitiven Religionen, in denen ein anderes menschliches Wesen mein Leiden, meine Bestrafung, aber auch mein Lachen und Genießen übernehmen kann, d. h. wo man leiden und den Preis einer Sünde durch den Anderen bezahlen kann (bis hin zu den Gebetsmühlen, die für mich beten), sind nicht so dumm und ›primitiv‹, wie sie scheinen mögen – sie bergen ein gewaltiges Potenzial. Indem ich meine intimsten Inhalte, meine Träume und Ängste an den Anderen ausliefere, öffnet sich ein Raum, in dem ich atmen kann: wenn der Andere für mich lacht, kann ich mich ausruhen; wenn der Andere an meiner Stelle geopfert wird, kann ich weiterleben im Bewusstsein, daß ich für meine Schuld bezahlt habe usw.« Zit. nach ebd., S. 19. 62 Vgl. Robert Pfaller: »Das Kunstwerk, das sich selbst betrachtet, der Genuß und die Abwesenheit. Elemente einer Ästhetik der Interpassivität«, in: ders. (Hg.): Interpassivität, Studien über delegiertes Genießen, Wien, New York 2000, S. 4984, hier: S. 62. In diesem Artikel diskutiert Pfaller das Phänomen des Delegierens von Empfindungen jedoch nicht nur vor dem Hintergrund von ieks Theorieansatz. Er bemüht sich darüber hinaus auch um dessen Anwendung auf den Bereich der zeitgenössischen Kunst. 63 S. iek: »Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität«, S. 19.

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teure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer.«64 Diesem in jeder Aufführung gültigen Abhängigkeitsverhältnis von den Blicken, Kommentaren und (Re-)Aktionen der Anderen war es letztlich zu verdanken, dass ich mir schon nach kurzer Zeit auf dem Podest wünschte, ich hätte mich für die Ausführung einer anderen Instruktion entschieden. Zum Beispiel für diejenige, bei der ich meinen Kopf unter einem Eimer hätte verstecken können oder bei der ich den Filzstift an die Wand hätte drücken sollen. Immerhin wäre es mir dann erspart geblieben, mein Angesehenwerden selbst mitansehen zu müssen. Wie diese Szene zeigt, kann das Setting der One Minute Scupltures Bezüglichkeiten und Dynamiken entwickeln, die auf ähnliche Weise allabendlich auch im Theater, in jener Institution zu erleben sind, in der Darsteller und Zuschauer gemeinsame Ereignisse – oder genauer: Zwischenereignisse – hervorbringen. Das von Wurm inszenierte Zwischen ermöglicht allerdings eine Nähe zu den Akteuren (oder je nach Perspektive: zum Publikum), die im Theater nicht allzu oft zu finden ist. Verkörpert man auf einem der Podeste eine Skulptur, so hat man demnach zwar das Glück, nicht von tausend und wahrscheinlich nicht einmal von einhundert Augen angeschaut zu werden. Weil es jedoch der Entscheidung der Zuschauer obliegt, ganz nah an die Podeste heranzutreten, ist dennoch damit zu rechnen, dass es ziemlich ungemütlich werden wird. Die Blicke, die einen als einminütige Skulptur treffen, sind unter Umständen gnadenloser als die im Theater. Man weiß, dass sie sich an jede Bewegung heften, jede noch so kleine Nuance der Gesichtszüge unter die Lupe nehmen und selbst die geringste Unsicherheit bemerken können. Bestens erkennt man, wohin und wie sie schauen. Man sieht Gesichtsausdrücke, die entweder freundlich und sympathisch wirken oder, wenn man Pech hat, spöttisch und verächtlich. Mit dieser bedrängenden Facette des Betrachtetwerdens sind in den vergangenen Jahren auch manche Theaterschauspieler auf bislang ungekannte Weise konfrontiert worden. War für sie die Bühne schon immer der Ort, an dem sie sich von tausend Augen begutachten lassen mussten, so war sie ihnen für lange Zeit gleichzeitig ein Ort, an dem sie das sichere Gefühl haben durften, dass die Betrachter nicht alles und vor allem nicht alles haargenau sehen können. Mit den Mediatisierungstendenzen im postdramatischen Theater ist diese Sicherheit allerdings ins Wanken geraten, und seit Regisseure wie Frank Castorf oder René Pollesch und Performance-Theatergruppen wie Gob Squad oder SheShePop Kameraleute auf die Bühne holen, seit sie das Geschehen auf Video aufnehmen, die Live-Aufnahmen unmittelbar auf große Leinwände projizieren lassen und dem Publikum übergroße Nahaufnahmen offerieren, sind selbst professionelle Darsteller vor ganz neue Herausforderungen des Beobachtetwerdens gestellt. Die Kamera auf der Bühne bewirkt nicht nur ein Bessersehen des darstellenden Spiels. Sie lässt ebenfalls

64 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 59.

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die Körper, Gesten und Handlungen der Akteure in ihrem phänomenalen So-Sein deutlicher hervortreten. In diesem Sinne ist die Kamera auf der Bühne dem Dramaturgen Carl Hegemann zufolge ein Mittel, die »[…] Möglichkeiten von Theater […] auf eine Weise zu erweitern, daß die Schauspieler nicht nur so gezeigt werden, wie sie sich sehen wollen, sondern auch so, wie sie sich nicht sehen wollen. Dadurch kommt vielleicht eine Ehrlichkeit oder ein dokumentarischer Charakter von Menschenschicksalen (und nicht nur Rollenschicksalen) in die Produktion mit hinein […].«65

Die Schauspieler können somit immer noch nicht besser erkennen, wie sie beobachtet werden. Sie wissen aber, dass ihnen mit der Kamera ein Vergrößerungsglas zu Leibe rückt, welches für das Publikum Dinge wahrnehmbar werden lässt, die sie vor diesem vielleicht lieber verbergen würden. Ganz gleich, ob es sich dabei um die »hässlichen Füße«66 einer Schauspielerin handelt oder um den entgleisten Gesichtsausdruck eines Schauspielers, der gerade seinen Text vergisst – der inspizierende Blick, den die Kamera bedingt, kann für den Beobachteten nicht zuletzt deshalb unangenehm werden, weil das Wissen um die Wahrnehmbarkeit noch der kleinsten Details seine Selbstwahrnehmung empfindlich in Mitleidenschaft zu ziehen imstande ist.67 Ohne ein professioneller Schauspieler sein und ohne eine fiktive Figur verkörpern zu müssen, darf man bei der Realisierung einer lebenden Skulptur nun gewissermaßen im Selbstversuch herausfinden, wie es sich anfühlt, ausgestellt zu sein und inspiziert zu werden, wie man mit dem Betrachtetwerden umgeht und wie sich beim Betrachtetwerden die Selbstbetrachtung ändert. Im Vergleich zu den Schauspielern im Theater sind die Personen, die Wurms Instruktionen in Museen und Galerien ausführen, Laien. Doch obgleich sie nicht ständig auf irgendwelchen Theaterbühnen stehen, wissen natürlich auch sie aus alltäglichen Zusammenhängen nur zu genau, welche Erfahrungen fremde Blicke auszulösen vermögen. Solche Erfahrungen sind nicht allein Theaterschauspielern vorbehalten. Sie werden fortwährend von uns allen gemacht und gehören, wie u.a. Erving Goffman in zahlreichen

65 Carl Hegemann: »Was bewirkt die Kamera auf der Bühne bei den Schauspielern«, in: Sandra Umathum (Hg.): Carl Hegemann: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005, Berlin 2005, S. 234-237, hier: S. 235. 66 So berichtet Carl Hegemann beispielsweise über die Schauspielerin Kathrin Angerer, dass sie nicht ihre Füße filmen lassen wollte, weil diese, wie sie selbst sagt, »häßlich sind«. Ebd. 67 Vor allem in René Polleschs Stück Diktatorengattinnen wurde dieser Sachverhalt von der Schauspielerin Sophie Rois explizit zum Thema gemacht.

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Studien gezeigt hat, zu den basalen anthropologischen Erfahrungen.68 Dass Goffman seine Studien so häufig am Modell des Theaters orientierte, ist indes kein Zufall, denn im Theater werden Erfahungen des Beobachtetwerdens einerseits bereits durch die Architektur des Raums in besonderer Weise begünstigt; andererseits sind sie dort das Ergebnis der spezifischen, in jeder Aufführung immer wieder aufs Neue wirksam werdenden Medialität dieser Kunstform. Im Einsatz der Kameras findet dieser Tatbestand letztlich nur seine signifikante Zuspitzung. Der Theaterschauspieler ist infolgedessen per definitionem ein ausgestellter Angeschauter – und dies unterscheidet ihn ebenso grundlegend von den Menschen, die als Zuschauer ins Theater gekommen sind und denen dann das Privileg genommen wird, Anderen nur zuschauen zu dürfen, wie von denjenigen, die sich zur Verkörperung einer Skulptur Wurms entschließen. Anders als der Theaterschauspieler, der sich schon von Berufs wegen mit dem Angeschautwerden und seit einiger Zeit mit den von Kameras erzeugten Nahaufnahmen auseinandersetzen muss, ist es für sie, trotz ihrer alltäglichen Erfahrungen, dennoch eine mehr als ungewohnte Situation, im Theater oder Museum den Blicken eines Publikums ausgesetzt zu sein. Wurm macht nun – zumindest prima facie – nichts Anderes als manch zeitgenössischer Regisseur, der das dem Theater dank seiner Medialität zur Verfügung stehende Potenzial des Rollentauschs nutzt und Zuschauer in Akteure verwandelt: Er holt diejenigen, die als Rezipienten gekommen sind, auf eine Bühne und ermöglicht ihnen Erfahrungen des Angeschautwerdens bzw. Erfahrungen, die eben daraus resultieren. Dennoch gibt es bei Wurm einen signifikanten Unterschied, und dieser Unterschied gründet nicht allein darin, dass seine lebenden Skulpturen besser erkennen können, wie sie betrachtet werden. Der Unterschied, den ich meine, betrifft viel eher die Sachlage, dass die One Minute Sculptures in Museen oder Galerien (und gerade nicht im Theater) präsentiert werden. Gemeinhin erwarten wir bei einem Museums- oder Galeriebesuch nicht, Zuschauer von anderen, auf Bühnen agierenden Besuchern zu werden oder uns selbst auf Bühnen zu exponieren. Wenn Wurm in diesen Institutionen Menschen auf Podeste bittet, ebnet er insofern Situationen den Weg, in denen diese intersubjektiven Bezüglichkeiten dazu angetan sind, Differenzerfahrungen gleich in mehrfacher Hinsicht zu provozieren. Denn was für die Personen auf und vor den Podesten erfahrbar wird, sind nicht bloß intersubjektive Bezüglichkeiten. Erfahrbar wird gleichzeitig die Diskrepanz zwischen konventionellen und unkonventionellen Tätigkeiten in diesen Institutionen, zwischen zufälligen und inszenierten Begegnungen sowie zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Wahrnehmungserlebnissen beim Angeschautwerden. Die Inszenierung intersubjektiver Bezüge nimmt sich anders

68 Siehe z.B. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1980. Oder ders.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a.M. 1986.

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ausgedrückt nicht als der alleinige Inhalt von Wurms Einrichtungen aus. Sie tritt hingegen als ein Mittel in den Brennpunkt, das seinen Zweck in der Aufmerksamkeit auf das erfüllt, was diese intersubjektiven Bezüglichkeiten gleichsam übersteigt und durch die Theatralisierung des Ausstellungsraums überhaupt erst bzw. sonst noch erfahrbar wird. Dies verbindet die One Minute Sculptures mit den Candy-Installationen, auch wenn die Bezeugungssituationen bei Gonzalez-Torres anders vorbereitet werden und im Ergebnis zu anderen Erfahrungen des Beobachtens und Beobachtetwerdens führen. 2.3.2 Imaginierte Betrachter Was im letzten Unterkapitel skizziert wurde, war eine persönliche Erfahrung, die aufgrund meiner eigenen Disponiertheit und aufgrund der besonderen Konstellierung zwischen mir, der Frau an meiner Seite und den jugendlichen Betrachtern vor unserem Podest so und nicht anders ausgefallen ist. Es versteht sich von selbst, dass diese Erfahrung nur eine exemplarische ist, denn natürlich kann alles ganz anders kommen. Besuchte man die Ausstellung etwa mit Freunden und agierte vor vertrauten Zuschauern bzw. war Zuschauerin vertrauter Akteure, dann waren die Erfahrungsbedingungen andere als diejenigen einer Person, die ohne Begleitung in die geschilderte Situation hineingeriet. Doch auch diejenigen, die zu den ›Delophilisten‹ gehören, zu jenen, die über ein ausgeprägtes Verlangen verfügen, »sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung zu faszinieren«69, werden an einer Situation wie der meinen weit mehr Gefallen gefunden haben als ich. Ich für meinen Teil entschied mich daher, fürs Erste lieber nur Betrachterin zu sein. Als ich vom Podest stieg, hatte sich im hinteren Bereich des Ausstellungsraums eine junge Frau gerade den Haken eines Kleiderbügels in den Mund gesteckt, auf dem ein großes, weiß-rosa-kariertes Hemd hing. Nun war ich diejenige, die von sicherem Posten aus betrachten konnte und sich keine Gedanken darüber machen musste, wie sie als Skulptur aussah. Dachte ich zumindest. Die soeben erlebte Situation auf dem Podest zeigte jedoch Nachwirkungen, und anstatt die Betrachtung einfach zu genießen, fragte ich mich, wie sich die Frau fühlte, ob es ihr ähnlich erging wie zuvor mir und ob sie ebenfalls mit Regungen der Peinlichkeit zu kämpfen hatte. Ich überlegte, ob der Abstand zwischen uns für sie noch angenehm oder schon unangenehm war und ob sie sich Sorgen machte, dass ich wahrnahm, was sie vielleicht gerne verborgen hätte: wie ihre Lippe von dem Haken nach unten gezogen wurde und ihre untere Zahnreihe sichtbar werden ließ, wie sich ihr

69 Dieses Verlangen bezeichnete der amerikanische Psychoanalytiker Léon Wurmser im Gegensatz zur Theatophilie, dem Verlangen zu schauen und zu bewundern, als Delophilie. Vgl. Léon Wurmser: Die Psychologie von Schameffekten und Schamkonflikten, Berlin 1938, S. 258.

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Gesichtsausdruck verkrampfte oder sie versuchte, meinen Blicken auszuweichen. Worum es mir mit dem Verweis auf diese Szene geht, ist die Dramaturgie, durch die ich meine beiden Erlebnisse zueinander in Bezug setzte. Es kann die von den ästhetischen Theoriebildungen allzu häufige Vernachlässigung der dramaturgischen Kraft von aufeinanderfolgenden Kunsterfahrungen hier nicht zum Gegenstand einer ausführlichen Diskussion erhoben werden. Gerade vor dem Hintergrund der beiden geschilderten Begebnisse möchte ich dennoch nicht auf die Bemerkung verzichten, dass wir in Museen und Galerien Erfahrungen in der Regel nicht nur an einem Objekt oder in einer einzigen Situation machen. Wir machen sie zumeist an verschiedenen Objekten und in unterschiedlichen Situationen, und mitnichten sind diese einzelnen Erfahrungen, wie so oft suggeriert wird, als hermetisch abgezirkelte Einheiten zu begreifen, die wir vor der Begegnung mit dem nächsten Objekt einfach beiseite legten. Wir nehmen sie mit; sie wirken nach und voraus, und die verschiedenen, häufig widersprüchlichen Erfahrungen stellen infolgedessen nicht nur die bloße Summe von Einzelerfahrungen dar. Durch Assoziationen, Vergleiche und Querbezüge verknüpfen, strukturieren, synthetisieren wir sie und bringen sie in Sinnzusammenhänge. Oft wird zwar erwähnt, dass wir bereits bei der zweiten Erfahrung mit ein und demselben Objekt nicht mehr dieselben sind wie beim ersten Mal. Zu wenig Berücksichtigung findet allerdings die Frage, inwiefern die Erfahrung an einem Objekt von den Erlebnissen beeinflusst werden, die wir zuvor an einem ganz anderen gemacht haben. Die von Wurms Arrangements generierten Situationen besitzen das Potenzial, diese dramaturgische Ebene wirksam werden zu lassen. Was ich als Zuschauerin erlebte, stand in engem Verhältnis zu dem, was mir vorher als Akteurin auf dem Podest passiert war. Es waren zwei verschiedene Situationen, zwei verschiedene Rollen auch, die ich jeweils einnahm. Trotzdem war die zweite Erfahrung mit der ersten unauflösbar verknüpft, wurde maßgeblich von ihr präfiguriert und hätte ohne sie so womöglich nicht gemacht werden können. Entsprechend sind auch die Erfahrungen, die im Zentrum meiner nachfolgenden Überlegungen stehen werden, nicht von den bereits beschriebenen zu trennen. Einige Tage später war das MMK wesentlich leerer. Es gab nur vereinzelte Besucher, und in dem Ausstellungsraum, in dem Wurms Podeste aufgebaut waren, befand ich mich im Gegensatz zum Vortag ganz allein. Die Lage schien nun vorteilhafter zu sein, daher entschied ich mich für die Verkörperung jener Skulptur, bei der man mit der Stirn einen Filzstift an die Wand drücken und dabei an Montaigne denken sollte. Den Filzstift so zu positionieren, dass er nicht gleich wieder herunterfiel, kostete nicht viel Mühe. Schon nach kurzer Zeit stand ich in leicht gebückter Haltung da, meinen Kopf nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt. Als ich am Vortag auf dem Podest saß, hatte ich mir noch gewünscht, diese Skulptur verkörpert zu

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haben. Ich ging davon aus, dass es angenehmer wäre, den Blicken der Betrachter nicht frontal ausgesetzt zu sein. Während ich aber merkte, dass ich aus den Augenwinkeln allenfalls einen kleinen Ausschnitt der Wand, des Fußbodens sowie der unmittelbaren Umgebung zu meiner Linken und Rechten erkennen konnte, musste ich feststellen, dass auch diese Skulptur nicht frei von Tücken war. Unter Umständen konnte ich jetzt unverhofft einen Betrachter im Rücken haben, ohne zu wissen, wie er sich verhielt und auf welche Weise er mich betrachtete. Als der Schauspieler Klaus Maria Brandauer in Hans Hollmanns Hamlet-Inszenierung von 1985 für ungewöhnlich lange Zeit mit dem Rücken zum Auditorium agierte, provozierte dies auf Seiten des Publikums eine ungeheure Unruhe. Was Brandauer bot, war ein Angriff auf die Seh- und Hörgewohnheiten der Zuschauer, mit dem er zugleich deren Seh- und Hörvermögen herausforderte. Vor allem war die Situation eine Herausforderung jedoch für ihn selbst, denn für längere Zeit das Publikum nur im Rücken zu haben, bedeutet eine keineswegs nur auf stimmliche Leistungen reduzierbare Anstrengung. Wollte Brandauer herausfinden, wie sich die Zuschauer verhielten, so war er, des Augenkontaktes zu ihnen beraubt, allein auf sein sinnliches Spüren und seine Imagination verwiesen.70 Sofern es Wurm dem Publikum ermöglicht, sich hinter den lebenden Skulpturen in Position zu bringen, gestattet er ebenfalls Rückenansichten und inszeniert mithin Situationen, in denen sich zwischen Zuschauern und Akteuren Verhältnismäßigkeiten ausprägen können, die insbesondere bei Letzteren für ganz spezifische Erfahrungen des Miteinanders zu sorgen imstande sind. Entweder kann man in eine Situation geraten, in der man, wie Brandauer, weiß, dass man von hinten betrachtet wird, ohne jedoch zu sehen, wie man betrachtet wird. Oder man kann sich, wie ich, in eine Situation bringen, in der dem Blick sogar verborgen bleibt, ob überhaupt jemand den Raum betritt und sich zum ungesehenen Betrachter der eigenen Tätigkeiten macht. Beiden Situationen haftet etwas gleichermaßen Irritierendes an, denn allerspätestens dort, wo das Sehen endet, beginnen Imagination und Phantasie ungehindert zu arbeiten. Obgleich es keinerlei Indizien gab, die darauf schließen ließen, dass ich nicht mehr allein im Ausstellungsraum war, hatte ich nichtsdestoweniger schon angefangen, mich mit meiner Beziehung zu einem – dieses Mal imaginierten – Zuschauer zu beschäftigen. Ich nahm mich längst wahr in einer Situation, in der mein Betrachter abwesend und anwesend zugleich war. Er teilte das Hier und Jetzt nicht in persona mit mir, besaß nichtsdestoweniger aber eine lebendige Gegenwärtigkeit. Auf dem Podest stehend, wurde die

70 Zur Bedeutung des Augenkontaktes für einen Schauspieler vgl.: »Wege durch die Vierte Wand. Momente der Reflexivität. Ein Gespräch mit Ulrich Matthes und Jan Speckenbach«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 72-85.

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für Wurm so typische Dialektik abwesender Anwesenheit oder anwesender Abwesenheit für mich nun am eigenen Leib erfahrbar. Ich hatte nur eine kleine, komische Instruktion in einem leeren Ausstellungsraum ausgeführt. Dass ich darüber nachdachte, wie es wohl wäre, von jemandem ins Visier genommen zu werden, den ich nicht sehen konnte, und mich fragte, welchen Anblick ich in meiner skurrilen Pose eigentlich bot, war allerdings schon Indiz genug für das Angekommensein in einer zumindest antizipierten Aufführungssituation. Es sind diese kleinen Überraschungen, die die One Minute Sculptures auszeichnen. Sie kommen als Versprechen kurzer, harmloser Vergnügungen daher, die man ohne viel Aufwand und quasi im Vorübergehen erleben kann. Lässt man sich auf sie ein, so merkt man jedoch, dass sie ganz unvermutete Kippmomente produzieren und die Welt tatsächlich für eine Minute auf den Kopf stellen können. Plötzlich machen sich Facetten des eigenen Selbst bemerkbar, die man hier und jetzt so vielleicht nicht erwartet hätte. Man steht allein in einem Ausstellungsraum auf einem Podest, nimmt eine alberne Pose ein und bekommt es unverhofft mit der eigenen Scham zu tun. Auf einmal ist der Spaß nicht mehr weit entfernt vom Ernst und ist es unter Umständen nur ein kleiner Schritt von der Heiterkeit zu Sartres Intersubjektivitätsstudien. Eindrücklich hat Sartre in seinem Text Der Blick herausgearbeitet, dass sich die Empfindung des Erblicktwerdens durchaus unabhängig zur faktischen Anwesenheit Anderer verhalten kann, und hat damit nicht zuletzt eine Kritik am intersubjektivitätstheoretischen Paradigma der Erkenntnis vorgelegt.71 In Abgrenzung zu jenen Theorien, die davon ausgehen, dass ein Subjekt von der Existenz anderer Personen Gewissheit nur erlangen kann, wenn es sie wie raum-zeitlich gegebene Objekte kognitiv zu erfassen versucht, bemühte er sich, die Gewissheit von der Existenz anderer Personen nicht auf erkenntnistheoretischem Wege, sondern kraft der Empfindung von Gefühlen zu begründen.72 So erläuterte er am Beispiel der Scham, dass es das Gefühl des Sich-Schämens ohne den Bezug auf mindestens eine andere Person nicht geben kann. Oder anders gesagt: Wenn wir uns schämen, erfahren wir uns nach Sartre bei unseren jeweiligen Handlungen oder Gedanken stets als Beobachtete. Wir schämen uns vor Anderen, was in Konsequenz dazu führt, dass wir durch den imaginierten Blick des Anderen einer Transformation

71 Jean-Paul Sartre: »Der Blick«, in: ders.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 457-538. 72 Diesem Motiv ist, wie Axel Honneth schreibt, in der Auseinandersetzung mit Sartres Intersubjektivitätstheorie meist zu wenig Beachtung geschenkt worden. Honneth selbst widmet sich ihm deshalb ausführlich in: »Erkennen und Anerkennen. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität«, in: ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M. 2003, S. 71-105.

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unserer Aufmerksamkeit für das eigene Handlungsgeschehen sowie das eigene Selbst-Bewusstsein ausgesetzt werden. Das von Sartre gewählte Szenario für die Explikation seiner Argumente ist hinlänglich bekannt: Angeregt durch die Geräusche hinter einer Tür schaut ein Mensch »aus Eifersucht, aus Neugierde, aus Verdorbenheit«73 durch das Schlüsselloch. Er steht in gebückter Haltung da, bis er auf einmal Schritte hört und sich sein Fokus schlagartig ändert. Statt sich weiterhin auf die Vorgänge hinter der Tür zu konzentrieren, erfährt er sich im Gefühl des Sich-Schämens nun als Objekt für Andere: »Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieses oder jenes tadelnswerte Objekt zu sein, sondern überhaupt ein Objekt zu sein, das heißt, mich in diesem verminderten, abhängigen und erstarrten Objekt, das ich für den Anderen bin, wiederzuerkennen.«74

Scham ist bei Sartre demnach zunächst eine existenzielle, nicht eine moralische Gefühlsreaktion. Sie verweist an erster Stelle nicht auf ein Fehlverhalten, sondern auf die Anerkennung des Anderen und bedingt, dass man sich in der »Situation eines Erblickten erleben« (und eben nicht »erkennen«) kann.75 Diese Vergegenwärtigung der in der subjektiven Affiziertheit sich vollziehenden Anerkennung des Anderen bewirkt nach Sartre letztlich aber weit mehr als nur eine Veränderung der eigenen Handlungen und des eigenen Bewusstseins. Sie löst einen grundlegenden Einstellungswandel aus, der das Selbstbild desjenigen, der sich als Angeblickter erlebt, angreift: Die intersubjektive Begegnung zwingt ihn, seinem Tun gegenüber, hier dem Blick durch das Schlüsselloch, eine verurteilende Haltung einzunehmen.76 Was meine Situation von der des Protagonisten in Sartres Szenario unterscheidet, sind die beiden simplen, jedoch nicht unerheblichen Fakten, dass ich mich erstens in einem Museum aufhielt und dort zweitens nichts Verwerfliches tat. Im Gegenteil. Mein Tun war sogar von einer Person angewiesen und somit sanktioniert worden, die in dieser Institution über ein nicht unbeträchtliches Maß an Autorität verfügt. Da Wurms Skulpturen von den sie verkörpernden Personen aber verlangen, sich »hie und da auch zum Affen zu machen«77, und sich der Künstler Handlungen ausdenkt, die mit unseren alltäglichen Handlungen genauso kollidieren wie mit unserem gewöhnlichen Tun in Museen und Galerien, verursachte die Tatsache, dass ich in skurriler Pose auf dem Podest stand, eine Hinwendung zu einem imagi-

73 74 75 76 77

J.-P. Sartre: »Der Blick«, S. 467. Ebd., S. 516. (Herv. i.O.) Ebd., S. 471. (Herv. i.O.) Siehe hierzu ausführlich A. Honneth: »Erkennen und Anerkennen«, S. 89-98. Ralf Christofori: »Mit zwei Beinen in einem Eimer. Ich war eine Skulptur, zumindest für eine Minute: Erwin Wurms künstlerische Handlungsformen im Kunsthaus Bregenz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.02.1999.

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nierten Anderen, die mich trotzdem dazu brachte, mich als in meinen Dasein Verunsicherte zu erleben. Man möchte meinen, Sartre habe für die Fundierung seiner Thesen ein Szenario entwickelt, das mit gutem Grund nicht in einem kunstinstitutionellen Kontext angesiedelt ist, denn immerhin konnte er so auf die Inblicknahme der spezifischen Wahrnehmungsbedingungen verzichten, die hier charakteristisch sind. Im Museum, das haben wir schon bei Gonzalez-Torres gesehen, muss jeder Anwesende stets damit rechnen, für einen Anderen zum Objekt der Betrachtung zu werden, und das umso mehr, als er sich von einer künstlerischen Arbeit zu bestimmten Handlungen animieren lässt. Selbst wenn man sich also alleine in einem Ausstellungsraum aufhält, hat man zu akzeptieren, dass diese Situation sich jederzeit ändern kann. Hätte Sartre sein Szenario in einem kunstinstitutionellen Kontext verortet, dann wäre er wohl kaum um eine kritische Auseinandersetzung mit seiner eigenen dramaturgischen Wendung herumgekommen, derzufolge man zuerst Schritte hören oder zu hören meinen muss, um sich als Objekt für Andere zu erleben und um seine Aufmerksamkeit von seinen zweckgebundenen und zielorientierten Handlungen (ich tue, »was ich zu tun habe«, damit ich das Schauspiel hinter der Tür sehen kann78) auf eine Beurteilung seines Tuns zu lenken.79

78 Vgl. J.-P. Sartre: »Der Blick«, S. 467. 79 Überhaupt ist es fraglich, ob Sartre bei seinen Überlegungen zu der in der subjektiven Affiziertheit sich vollziehenden Anerkennung des Anderen nicht auch ohne das entweder tatsächliche oder nur eingebildete Vernehmen von Schritten hätte auskommen können. Diese Frage kann hier nicht erörtert werden. Vgl. hierzu aber die Erfahrungsbeschreibung in Kap. 1.3. In jenem Moment nämlich, als ich mir – ohne zu wissen, ob dies erlaubt war – ein Bonbon nehmen wollte, erhielt mein Bezug auf mögliche Betrachter eine deutlich andere Note als hier bei den One Minute Sculptures von Erwin Wurm. Mein Versuch, mich ihren Blicken zu entziehen, hatte nicht mit der Frage zu tun, wie sie mich wohl wahrnahmen und ob ich bei meinen Aktivitäten eine gute Figur machte. Mein Bezug auf die Anderen, auf die Museumsaufsichten ebenso wie auf die anwesenden Besucher, stand allererst in Verbindung mit dem Dass meines Vorhabens selbst: mit dem Wunsch, mir ein Bonbon zu nehmen, obwohl ich gleichzeitig davon ausging, dass mein Griff in das Bonbonfeld eine verbotene Tat darstellte. Anders als in Sartres Argumentation war es mithin nicht der Andere, dessen – in meiner subjektiven Affiziertheit sich vollziehenden – Anerkennung eine Veränderung meiner Handlungen und meines Bewusstseins bewirkte. Mein Selbstbild wurde nicht angegriffen, weil ich mich als Angeblickte erlebte, und die verurteilende Haltung, die ich meinem eigenen Tun gegenüber einnahm, war nicht erst das Ergebnis einer Begegnung mit einem imaginierten Betrachter. Ich war mir der Verurteilungswürdigkeit meiner Tat hingegen sicher, und kam mir deshalb nicht nur von Anfang an wie eine Diebin vor, sondern verhielt mich auch genau so.

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Die Skulptur, die ich verkörperte, stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Wird man im Museum zur Akteurin, so braucht man nicht erst mit der Stirn einen Filzstift an die Wand zu drücken, um die Erfahrung zu machen, dass ein abwesender Betrachter in der Imagination längst anwesend sein und auf das Selbstbild, die Wahrnehmung oder Beurteilung der eigenen Tätigkeiten einwirken kann. Weil Wurm aber Aufführungssituationen kreiert, die den Betrachtern erlauben, sich auch hinter den Akteuren zu positionieren, kann es geschehen, dass die Akteure die Aktivitäten, das Verhalten oder Aussehen derjenigen, für die sie zum Objekt der Betrachtung werden, auch dann nur imaginieren können, wenn sie sicher wissen, dass diese bereits anwesend sind. Hätten mir Schritte, Stimmen oder andere Geräusche bedeutet, dass ich nicht mehr alleine im Raum war, wäre es folglich dennoch lediglich meinem Vorstellungsvermögen überlassen geblieben, sich auszumalen, was sich jenseits meines Gesichtsfeldes zutrug. 2.3.3 Imaginierte Verkörperungen Ihren Ausgang nahmen die bisher ins Auge gefassten Erfahrungen bei der tatsächlichen Ausführung der Instruktionen. Selbstverständlich muss dies aber nicht jedes Mal der Fall sein. Durchaus können sich Besucher von den Instruktionen nur zu einer mentalen Realisation auffordern lassen; die durch Kunst offerierte »Möglichkeit der aktiven Beteiligung« impliziert keineswegs, so der Kunsthistoriker Lars Blunck, deren zwangsläufige »Notwendigkeit«.80 Mit anderen Worten muss den jeweiligen Einladungen und Aufforderungen nicht unbedingt durch physische Handlungen Folge geleistet werden, um eine das Kunstwerk konstituierende Erfahrung zu machen. Wie Blunck am Beispiel von Joseph Beuys’ Everness II 1 (1968) darlegte, kann es ausreichen, sich bloß auf ein Gedankenspiel einzulassen und sich zu überlegen, was aus der Akzeptanz eines unterbreiteten Handlungsvorschlags resultieren wird.81 Solch ein Gedankenspiel ereignete sich, als ich die Ausstellung Das Lebendige Museum einige Wochen später erneut besuchte. Der Raum war fast leer. Lediglich zwei ältere Herren gingen von Podest zu Podest, lasen sich gegenseitig die Instruktionen vor und amüsierten sich zum Beispiel bei der Vorstellung, mit den Füßen in einem Eimer zu stehen, dann das Gleichgewicht zu verlieren und dabei zu allem Überfluss noch beobachtet zu werden. An diesem Tag gab es keine Besucher, die auf den Podesten agierten. Es gab nur diese beiden Herren, die sich ausmalten, wie es wäre, wenn ihnen

80 L. Blunck: »›Luft anhalten und an Spinoza denken‹«, S. 87-105, hier: S. 101. 81 Das Multiple Everness II 1 ist ein Holzkasten, in dem sich zwei verschlossene, filzetikettierte Wasserflaschen befinden und auf dessen Deckel steht: »Sender beginnt mit der Information, wenn ›II‹ ausgetrunken und der Kronverschluss möglichst weit weggeworfen ist.« Vgl. hierzu ebd., S. 96f.

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vor Zuschauern ein Malheur passierte. Obgleich sich die Skulpturen nicht in einer tatsächlichen Aufführungssituation materialisierten, geschah also dennoch etwas, das sich als Aufführung bezeichnen lässt: als eine imaginierte Aufführung, eine Aufführung im Kopf. Man könnte auch sagen: eine Aufführung, deren mentale Realisation die tatsächliche ersetzte. Oder sie verhinderte – denn wer weiß, vielleicht vereitelte ja gerade das imaginierte Malheur die tatsächliche Realisation. Wie schon ich bei der Verkörperung meiner Filzstift-Skulptur gaben sich diese beiden Herren ebenfalls ihren Imaginationen hin. Wir vergegenwärtigten demnach alle drei etwas, das die wahrnehmbare Gegenwart überschritt. Unsere imaginativen Vergegenwärtigungen unterschieden sich voneinander aber nicht allein durch die andersartigen Umstände (ich mit dem Kopf zur Wand auf dem Podest; die beiden Herren ohne Eimer auf dem Kopf vor dem Podest). Vor allem unterschieden sie sich durch ihre verschiedenen, von den jeweiligen Umständen bedingten Foki. War die Situation, in die ich mich hineinkatapultiert hatte, wesentlich dafür verantwortlich, dass meine Gedanken um kaum etwas Anderes als um mein Verhältnis zu meinem imaginierten Betrachter kreisten, so ermöglichte der Verzicht auf eine tatsächliche Ausführung der Handlungsanweisung der Phantasie der beiden Herren hingegen die Freiheit eines Spiels, die mir gerade deshalb nicht mehr gegeben war, weil ich mich als lebende Skulptur schon auf das Podest begeben hatte. Einmal mehr enthüllt dieser Vergleich die plurale Potenzialität der One Minute Sculptures, die mit jeder ihrer Ausführungen Räume für Vorstellungen eröffnen, welche sich, so hat es Martin Seel formuliert, durch eine »imaginierte sinnliche Gegenwärtigkeit des Vorgestellten«82 auszeichnen und gleichsam über die jeweiligen Gegenwarten hinausgehen. Bluncks Feststellung ist insofern Recht zu geben: Nicht jedes publikumsaktivierende Kunstwerk bedarf zwangsläufig der physischen Handlung eines Rezipienten, um ›funktionieren‹ und sich als solches konstituieren zu können. Dem Argumentationsgang, den er aus dieser Diagnose ableitet, ist meines Erachtens allerdings nur bedingt zuzustimmen. Seine Diagnose verdichtet Blunck genau genommen zu einer Kritik, die sich an der marginalisierten Rolle von Imaginationen und mentalen Prozessen im Kontext einer den Besucher als Akteur entwerfenden Kunst generell entzündet – und unterstützenswert ist diese Kritik nicht erst deshalb, weil sie der Emphase entgegenzusteuern versucht, mit der seit den 1960er Jahren vermeintlich ›aktive‹ gegen vermeintlich ›passive‹ Rezeptionsweisen häufig in Stellung gebracht werden. Wenn Blunck jedoch konstatiert, dass »die immer wieder eingeforderte Notwendigkeit einer Publikumsbeteiligung im institutionellen Kunstbetrieb wenig mehr zu sein [scheint], als eine bloße Beschwörungsformel«83, dann entscheidet er sich für eine Verallgemeine-

82 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003, S. 125. 83 L. Blunck: »›Luft anhalten und an Spinoza denken‹«, S. 100.

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rung, die verkennt, dass es vielen dieser Arbeiten um wesentlich mehr oder um alles andere als um bloße Beschwörung geht. Sicherlich lassen sich Werke finden, auf die Bluncks Einschätzung zutrifft, insbesondere Werke aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, als die Instantiierung neuer Produktions-, Präsentations- und Erfahrungsmodi regelmäßig mit einer ideologisch motivierten Abgrenzungspolitik einherging und sich die Notwendigkeit einer Publikumsbeteiligung nicht selten eher aus der Logik des Diskurses als aus derjenigen der Werke ableitete. Gerade die Entwicklungen der letzten 15 bis 20 Jahren geben aber zu erkennen, dass sich die Zeiten geändert haben und Künstler die Idee der Publikumsbeteiligung nicht nur ernst nehmen. Sie bemühen sich darüber hinaus auch um eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der publikumsaktivierenden Kunst selbst, um eine Auseinandersetzung, die sich u.a. darin zum Ausdruck bringt, dass sie Agieren und Betrachten, tatsächliches und imaginiertes Tun, Werk und Prozess oder Performativität und Semiotizität nicht länger gegeneinander ausspielen. Wie die Werke von Gonzalez-Torres, Wurm und Tino Sehgal exemplarisch belegen, ist das demonstrative Festhalten an diesen ohnehin nur konstruierten Gegensätzen längst der Bemühung gewichen, ihr Ineinandergreifen und gegenseitiges Bedingtsein produktiv zu machen. Interessanter als die Fortsetzung der alten Debatten mit veränderten Vorzeichen und wichtiger als die Frage, ob die One Minute Sculptures mental oder tatsächlich ausgeführt werden müssen, um ›adäquat‹ erfahren werden zu können, erscheint mir dagegen die Betonung der Situationsabhängigkeit, die beide Weisen der Realisation, die physische wie die mentale, kennzeichnet. Bemerkenswerterweise schenkt Blunck dieser Situationsabhängigkeit keinerlei Aufmerksamkeit. Er schildert, wie es wohl wäre, die auch von mir realisierte Instruktion Luft anhalten und an Spinoza denken auszuführen. Er räsoniert über die Mühen, die es kostet, eine Minute lang die Luft anzuhalten, wenn man nicht »über die Fertigkeiten eines polynesischen Perlentauchers verfügt«84, und imaginiert die Denkbewegungen, die sich beim Sinnieren über Spinoza vollziehen lassen: »Beim Versuch die Luft anzuhalten und an Spinoza zu denken, denke ich vielleicht eher daran, was ich wohl dächte, wenn ich jetzt an Spinoza dächte – eine um sich selbst mäandernde Denkbewegung, die sich ad infinitum fortführen ließe. Luft anhalten und an Spinoza denken: Was denke ich denn nun eigentlich, wenn ich die Luft anhalte und an Spinoza denke? Ich soll an Spinoza denken und komme vor lauter Denken – und vor allem vor lauter Nachdenken über mein Denken – gar nicht dazu, 85 mich auf das Denken an Spinoza zu konzentrieren.«

Es ist auffällig, dass Blunck weder die Situation markiert, in der er seiner Phantasie freies Spiel lässt, noch im freien Spiel seiner Phantasie einen si-

84 Ebd., S. 94. 85 Ebd.

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tuativen Kontext entwirft. Er beschreibt sich als ein ganz auf sich selbst und seine Gedanken zurückgeworfenes Erfahrungssubjekt. Weil die Potenzialität des Wurmschen Settings zur Hervorbringung intersubjektiver Begegnungen in seinen Imaginationen keinen Niederschlag findet und es keine Reflexion gibt auf die Umstände und beispielsweise auf jene Besucher, die in der Museumsrealität unsere Kunsterfahrungen so häufig irritieren, stören oder beeinflussen, macht es fast den Anschein, als habe Blunck seine mentale Realisation gar nicht in einem Museum angestellt. Für sich genommen wäre dies nicht problematisch, denn natürlich können Wurms Skulpturen an vielen Orten ausgeführt werden, im Museum, in einer Bibliothek oder unterwegs auf der Straße. Die jeglichen Kontext ausblendende Selbstbezüglichkeit Bluncks erstaunt gerade deshalb aber, weil mit ihr eben jene beiden Parameter aus dem Visier geraten, auf deren Verschränkung es ihm in seiner Argumentation wesentlich ankommt: auf die artistischen Einrichtungen sowie den kunstinstitutionellen Rahmen, in dem sie ausgestellt und rezipiert werden. Im Museum treffen wir auf Wurms instruierende Zeichnungen und Notationen nie als separierte Einheiten. Anders als bei ihrem Abdruck in einem Katalog erscheinen sie hier stets im Verbund mit den zu verwendenden Gegenständen und Podesten, sodass sich im Museum ein grundlegend anderes Bild als in Büchern bietet. Was wir vorfinden, sind bespielte oder unbespielte Bühnen, benutzte oder unbenutzte Requisiten und befolgte oder nicht befolgte Handlungsanweisungen, die in ihrer Gesamtheit auf das verweisen, was sich hier ereignen kann oder schon ereignet hat: auf die Theatralisierung des Ausstellungsraums und mithin auf die Wirkungen, die andere Besucher auf die eigene Erfahrung haben können. Keineswegs läuft es daher auf Dasselbe hinaus, wo und wann wir eine Instruktion von Erwin Wurm mental ausführen. Auch für ihre mentalen Realisationen macht es einen Unterschied, ob wir uns dabei zu Hause oder in einem Ausstellungsraum aufhalten und ob wir uns in einem Ausstellungsraum wiederum allein oder in Gesellschaft von Personen befinden, die die Podeste schon in Beschlag genommen und begonnen haben, sich zueinander in Bezug zu setzen. Man kann sich, wie Blunck richtig schreibt, bei den One Minute Sculptures »selbst zum Objekt ästhetischer Erfahrung«86 werden. Führt man die Instruktionen Wurms in einem Museum aus, dann wird es jedoch kaum gelingen, sich in vollkommen solipsistischer Abkoppelung auf seine jeweiligen physischen oder mentalen Verkörperungen zu konzentrieren. Denn in dem Moment, in dem man die Demarkationslinie zur Bühne realiter oder mental überschreitet, ebnet man zugleich den Weg für ein Subjekt-ObjektVerhältnis, bei dem das Subjekt, das normalerweise dazu bestimmt ist, Objekte zu betrachten, seinerseits zum betrachteten oder betrachtbaren Objekt wird. Sich in Kunstinstitutionen als Skulptur selbst zum Objekt ästhetischer Erfahrung zu werden, bedeutet daher, sich während dieser Verkörperungen

86 Ebd.

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als ausgestellt wahrzunehmen und sich mit seiner Bezüglichkeit auf einen Anderen konfrontieren zu müssen. Diese Konfrontation kann, wie bei den beiden Herren im MMK, nur in der Imagination stattfinden. Es ist eine Qualitäten von Wurms Einrichtungen, dass die Abhängigkeit der eigenen Erfahrung von Anderen im Grunde aber auch dann nicht gänzlich auszublenden ist, wenn wir auf ihren Aufforderungscharakter nur mit einem Gedankenspiel antworten. Wie immer wir die jeweiligen Skulpturen in Museen realisieren – ihren Ausgang nehmen diese Realisationen stets in der gegebenen Gegenwart und in einer konkreten Situation.

2.4 K URZLEBIGE S KULPTUREN – ODER DIE K UNST , H ALTUNG ZU

BEWAHREN

Trotz ihrer verschiedenartigen medialen Präsentationsweisen und Kontexte sind sich die One Minute Sculptures alle darin gleich, dass sie an der Schwelle von bildender und darstellender Kunst beheimatet sind. Sie markieren damit eine Nähe zu den Werken jener Künstlerinnen und Künstler, die seit den 1960er Jahren die Schnittstellen und Differenzen von Bewegung und Stillstand, Handlung und Pose, von Verlebendigung durch Verkörperung und Mortifikation durch Verfestigung fokussieren, um die Darstellungspraxis des Tableau vivant vor dem Horizont der Entgrenzungstendenzen zwischen den einzelnen Künsten sowie zwischen Kunst und NichtKunst auszuloten.87 Wurms einminütige Skulpturen lassen Querbezüge zu den Experimentalanordnungen von Piero Manzoni, Miranda Payne, von Steven Taylor Woodrow oder Jannis Kounellis zu, und nicht zuletzt erinnern sie an die Werke des Künstlerpaares Gilbert&George, mit dem Wurm überdies die Offenheit seines Skulpturbegriffs verbindet. Wie schon bei Gilbert&George, bei denen Skulptur nicht mehr nur als Bezeichnung für ein dreidimensionales Objekt mit bestimmten Eigenschaften fungiert, sondern ein Konzept ist, unter dem so heterogene Elemente wie Malerei, Sprache oder Musik zusammengefasst werden,88 kann auch bei Wurm alles Skulptur sein: die Verkörperung einer Instruktion sowie die Instruktion selbst, die auf einem Foto oder in einem Video gezeigte Verkörperung einer Instruktion genauso wie wiederum die Fotografien und Videofilme. Wurm weitet und

87 Zur historischen Entwicklung von Konzept und Praxis des Tableau vivant siehe Bettina Brandl-Risi: »Tableau Vivant«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 272-303. 88 Vgl. Beatrice von Bismarck: »Zwischen Revoltieren und Legitimieren – Aufführungen des Bildes. Zur ›Singing Sculpture‹ von Gilbert&George«, in: Christian Janecke (Hg.): Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin 2004, S. 247271, vor allem S. 253ff.

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dehnt den Skulpturbegriff und bringt so zum Ausdruck, dass er all seine Arbeiten als gleichwertige Teile einer künstlerischen Praxis begreift. Wie die Kunsthistorikerin Birgit Jooss bemerkte, haben die meisten Künstler, die seit den 1960er Jahren mit ihren Werken auf das Tableau vivant rekurrieren und sich mit der ihm eingetragenen Paradoxie von Belebtheit und körperlicher Erstarrung im Lichte verschiedener gattungs- und medienspezifischer Fragestellungen auseinandersetzen, die Definition, die für das Tableau vivant im 18. und 19. Jahrhundert Gültigkeit besaß, weitgehend aufrechterhalten. Eine der wesentlichen Veränderungen bestünde jedoch in der »Ausdehnung der Dauer und damit in der reduzierten Strenge der Erstarrung«89. Wurde im 18. und 19. Jahrhundert ein lebendes Bild in der Regel nur zwischen 30 Sekunden und wenigen Minuten vorgeführt und war die Länge der Vorführung von der physischen Konstitution der Darsteller abhängig (»so lange ihre Sehnen und Nerven es aushalten«90), so wurden in jüngerer Zeit aus »einer halben bis etwa zwei Minuten Ausharren in perfekter Illusion […] Stunden oder gar Tage, wobei die Schwierigkeiten des Ausharrens teils gemindert, in vielen Fällen gerade thematisiert werden«91. Während zeitgenössische Künstler das Diktum der vollkommenen Erstarrung zugunsten eines ungefähren Verharrens in einer Pose häufig aufgeben, um der Vergänglichkeit der Vorführungen eine auf Dauer verweisende Pose entgegenzusetzen oder um ihre physischen Belastbarkeiten zu testen und deren Grenzen im Selbsttest wahrnehmbar werden zu lassen, spielen diese Aspekte bei Wurm keine Rolle. Wie schon der Titel verrät, nimmt er mit seinen einminütigen Skulpturen die ursprüngliche Kürze des Tableau vivant wieder auf. Allerdings tut er dies nicht, so haben wir gesehen, im Interesse der Illudierung, die im 18. und 19. Jahrhundert durch die Bewegungslosigkeit der Darsteller sowie das Ausblenden der Einrichtung und Beendigung des lebenden Bildes im Betrachter erzeugt werden sollte. Viel eher entscheidet sich Wurm für die Kürze der Zeit, weil er so allen, auch den Ungeübtesten, ermöglichen kann, Erfahrungen in der Verkörperung einer Skulptur zu machen. Schon die Tatsache, dass er nicht-professionelle Darsteller adressiert und außerdem Skulpturen entwirft, die sowohl das Dass als auch das Wie ihrer sie vorbereitenden und sie wieder beendenden Handlungen inkludieren, zeigt den deutlichen Unterschied, der zwischen seinen lebenden Skulpturen und der anfänglichen Ausrichtung des Tableau vivant auf die Illudierung des Betrachters besteht. Wurm hat des Öfteren betont, dass ›eine Minute‹ lediglich für eine kurze Zeitspanne und nicht für die Exaktheit von 60 Sekunden steht:

89 Birgit Jooss: »Die Erstarrung des Körpers zum Tableau. Lebende Bilder in Performances«, in: Christian Janecke (Hg.): Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin 2004, S. 272-303, hier: S. 301. 90 In: Allgemeine Literatur Zeitung (1810); zit. nach ebd., S. 289. 91 Ebd., S. 301. Vgl. auch die Beispiele, die Birgit Jooss z.B. von Jannis Kounellis oder Jochen Gerz anführt.

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»Die ›One-Minute-Sculptures‹ […] verweisen auf die Kurzlebigkeit schon im Titel – wobei eine Minute nur ein Synonym für sehr kurz ist, sie können auch zehn Sekunden oder zwei Minuten existieren.«92

Die Zeit, in der Wurms Skulpturen verkörpert werden sollen, sind ohne die sie hervorbringenden und sie wieder beendenden Handlungen nicht zu haben. Gleichwohl markiert die eine Minute eine Andersartigkeit und mithin die Differenz zwischen Bewegung auf der einen und Stillstand auf der anderen Seite. Diese Phase, in der die Aktionen ausgesetzt, angehalten oder unterbrochen werden und in der die Akteure ihre Bewegungen in einer bildhaften Pose erstarren lassen, ist kurz. Trotzdem ist sie noch immer lang genug, um dem Publikum der lebenden Skulpturen wie auch und vor allem diesen selbst eine Auseinandersetzung mit ihrem Sein in einer konkreten Situation zu ermöglichen. Diese Zeit, so könnte man es mit Martin Seel sagen, ist der Abschnitt, in dem man sich »Zeit für den Augenblick«93 nehmen und in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen werden kann, weil »wir aus einer allein funktionalen Ordnung« heraustreten. »Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können. Wir begegnen dem, was unseren Sinnen und unserer Imagination hier und jetzt entgegenkommt, um dieser Begegnung willen.«94

Für die Betrachter ist es die Zeit, in der sie ihres Verhältnisses zu den Personen auf den Podesten gewahr werden und den Einfluss ihrer Handlungen und Verhaltensweisen auf ihr Gegenüber beobachten, reflektieren, überprüfen können. Und für die Personen auf den Podesten ist es wiederum die Zeit, in der sie ihre Aufmerksamkeit kanalisieren können: auf ihre Posen, die von ihnen mehr oder weniger Geschick verlangen; auf die Dauer, die entweder intuitiv oder durch das Zählen der Sekunden bemessen werden kann; auf das Moment des Angeschautwerdens, das für ein verändertes Selbstverhältnis zu sorgen imstande ist; auf die Gedanken, Empfindungen und Emotionen, die sich aus der Verknüpfung all dieser Ebenen ergeben. Was passiert, ist somit das Folgende: Man macht sich zum Material von Wurms künstlerischem Konzept und sich als Skulptur ausstellt, bringt man zugleich die dem erweiterten Skulpturbegriff Wurms zugrunde liegende Idee mit hervor. Die One Minute Sculptures lassen die Erfahrung des Skulpturseins sowie die zur Skulptur gewordenen Erfahrungssubjekte thematisch werden. Sie versetzen in Situationen, in denen es nicht darum geht, einen vorgängigen Sinn im hermeneutischen Nachvollzug zu ermitteln. Der Sinn und die Bedeutung dieser Arbeiten finden sich stattdessen in den eigenen

92 E. Wurm/R. Metzger: »Erwin Wurm«, S. 202. 93 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 44. (Herv. i.O.) 94 Ebd., S. 44f. (Herv. i.O.)

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Erfahrungen. Insofern könnte man auch sagen, dass Wurm, indem er auf die Kurzlebigkeit seiner Skulpturen setzt, einen permanenten Wechsel der Bezüglichkeiten zwischen Personen begünstigt. Weil er die Besucher anweist, die Podeste schon nach kurzer Zeit wieder zu verlassen, sorgt er gewissermaßen im Schnellverfahren dafür, dass sich immer wieder andere Menschen in Szene setzen, dass immer wieder neue Aufführungssituationen und Erfahrungen entstehen. Dieserart verschieben die One Minute Sculptures die traditionelle Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Künstler, mit seinem Werk oder der Geschichte der Kunst zugunsten einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Sie eröffnen nicht allererst einen Zugang zu Wurms Welt, sondern zu unserer eigenen. Wurm gestattet uns das – oder zwingt uns zu dem – Durchleben von Gefühlen, die wir, so sagt er, »gerne ausschließen möchten« und mit denen wir doch ständig »zu kämpfen haben: Peinlichkeit und Lächerlichkeit, Scheitern und Versagen, Dummheit und Ungeschicktheit«95. Indem er verschiedene Formwerdungen des menschlichen Körpers auf skurrile Weise durchbuchstabiert und uns in Situationen bringt, in denen »die physiologische Unversehrtheit des menschlichen Subjekts«96 aufgelöst ist und es deshalb gleich in doppelter Hinsicht zur Herausforderung werden kann, Haltung zu bewahren, bringt er gleichsam die Psyche des Subjekts ins Spiel: »Wir sind ja nicht nur körperliche, sondern auch psychologische Wesen, wir haben eine Erfahrungsgeschichte, die unsere Handlungen, unser Denken und uns als ganzer Mensch bestimmt. Dieser Aspekt interessiert mich weit mehr als der körperliche.«97

Wie die vorangegangenen Beschreibungen zu zeigen versuchten, sind bei den One Minute Sculptures diese Konfrontationen mit dem eigenen Selbst stets Konfrontationen, die nicht vom Anderen absehen können. Sie begreifen ihn notwendig mit ein. Über die Kunsterfahrungen zu sprechen, die hier gemacht werden können, bedeutet daher, von den eigenen persönlichen Erfahrungen im Verhältnis zu Anderen, zu einer Situation und zu den jeweiligen Umständen sprechen zu müssen – und genau an dieser Stelle bringt sich dann doch noch Montaigne ins Spiel, an den wir denken sollen, während wir für eine Minute einen Filzstift mit der Stirn an die Wand drücken. Denn was Wurm uns zu tun aufgibt, trifft sich mit den Vorgehensweisen Montaignes insofern, als er einer der Ersten war, der die Welt beschrieben hat, indem er sich selbst im Verhältnis zu dieser Welt beschrieb.

95 Nadine Olonetzky: »Erwin Wurm. Von prekären Zuständen im menschlichen Dasein«, in: entwürfe, Zeitschrift für Literatur (31/2002), S. 73-87, hier: S. 74f. 96 Thierry Davila: »Ein Kapitel aus der Geschichte des Subjekts«, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Addendum zur gleichnamigen Publikation und Ausstellung, Ostfildern 2006, S. 18-22, hier: S. 18. 97 E. Wurm/R. Metzger: »Erwin Wurm«, S. 209.

3. Im Kreis der Anderen: Tino Sehgals This Objective of that object & This situation

In den ersten beiden Kapiteln haben wir gesehen, dass sowohl die Candy Spills von Felix Gonzalez-Torres als auch die One Minute Sculptures von Erwin Wurm Werke sind, die situative Kunsterfahrungen insofern gestalten, als diese wesentlich von dem Einfluss anderer Personen abhängen können. Es hat sich gezeigt, dass dieser Einfluss nicht unbedingt an die faktische Anwesenheit dieser Personen gebunden sein muss. Oftmals reicht es schon aus, sich nur vorzustellen, wie es wäre, wenn im nächsten Moment jemand den Raum beträte, um Veränderungen in der Selbstwahrnehmung zu bemerken, um sich zu entscheiden, bestimmte Handlungen zu unterlassen oder um das eigene Verhalten zu reflektieren und einer Modifikation zu unterziehen. Im Unterschied zum Theater, wo die gemeinsame Anwesenheit von Darstellern und Zuschauern eine immer schon zu akzeptierende Grundbedingung darstellt und daher vor allem jene Aufführungen unangenehme Erlebnisse zu evozieren imstande sind, in denen sich Zuschauer exponieren sollen, besteht in Museen und Galerien die Möglichkeit, wenn schon nicht der imaginierten, so doch immerhin der realen Begegnung mit anderen Personen aus dem Weg zu gehen. Wir können uns in diesen Institutionen in der Regel aussuchen, ob wir bereit sind, uns durch die Ausführung bestimmter Tätigkeiten für Andere zum Objekt der Betrachtung zu machen, oder ob wir dies lieber vermeiden möchten. Meistens können wir das – zumindest dann, wenn wir nicht vorhaben, uns auf eine Arbeit von Tino Sehgal einzulassen. Der signifikanteste Unterschied zwischen den Werken von Erwin Wurm oder Felix Gonzalez-Torres und denjenigen von Tino Sehgal besteht sicherlich darin, dass es bei Sehgal keine von ihm hergestellten oder ausgewählten Objekte und Gegenstände gibt, die für die Emergenz zwischenmenschlicher Bezüglichkeiten sorgen und selbst dann die Ausstellungsräume okkupieren, wenn Besucher noch nicht gekommen oder schon gegangen sind. Sehgal organisiert Zusammenkünfte zwischen Menschen nicht qua stofflich fixierter Arrangements. Er organisiert sie allein durch den Einsatz von eigens enga-

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gierten Akteuren, für die er sich Handlungen und Texte ausdenkt, die er im Vorfeld mit ihnen einstudiert. Wie ein Regisseur probt er mit ihnen Bewegungsabläufe, Posen und Artikulationen, was bedeutet, dass es auch bei Sehgal Handlungsanweisungen gibt. In seinem Fall dienen sie der Instruierung der von ihm ausgewählten Spieler, von denen einige in der Gegenwart der Besucher wie ohnmächtig zu Boden fallen (This exhibition (2004)), während andere im Beisein der Besucher kurze Strophen singen und dabei mit den Armen und Beinen bestimmte Bewegungen ausführen (This is so contemporary (2004) oder This is good (2001)). Andere wiederum begeben sich mit den Besuchern auf einen vorgegebenen Weg durch Museen oder Galerien und tauschen sich mit ihnen über das Thema Fortschritt aus (This progress (2006)). Interpreten nennt Sehgal diese Spieler auch, Interpreten seiner Instruktionen, die in den Ausstellungsräumen auf die Ankunft von Besuchern und auf den Vollzug der vorbereiteten Handlungen warten. In Konsequenz bedeutet dies aber, dass sich bei Sehgal jeder Besucher mit der Anwesenheit Anderer zu konfrontieren hat und sich ihr nur entziehen kann, wenn er sich entscheidet, den Ort des Geschehens entweder gar nicht zu betreten oder ihn alsbald wieder zu verlassen. Dass Sehgals Werke ausschließlich durch die Aktivitäten und das Miteinander von Menschen hervorgebracht werden, dass sie sich erst mit der Ankunft eines Besuchers zu materialisieren und sich in eben jenem Moment wieder zu entmaterialisieren beginnen, in dem der letzte Besucher gegangen ist, ist Teil seines künstlerischen Konzepts. Seinen Ausgang nimmt dieses Konzept bei der Prämisse, dass ein Kunstwerk, so Sehgal, »immer ein Objekt gewesen« ist und zudem die Kunst stets »der technischen Entwicklung [folgt], von der Höhlenmalerei bis zur Internetkunst«1. Vor dem Horizont dieser Konvention hat er es sich zur Aufgabe gemacht, nach einer anderen »Form der Produktion«2 zu suchen. Seine Arbeit an der Begünstigung zwischenmenschlicher Begegnungen ist entsprechend als Antwort auf die Frage zu begreifen, wie sich etwas herstellen und ins Museum bringen lässt, das kein materielles Objekt ist, das ohne den Einsatz technologischer Hilfsmittel auskommt und die »celebration of material production«3 nicht länger perpetuiert.

1

2 3

»Tino Sehgal«, Aufzeichnung eines Gesprächs im »Münzsalon« anlässlich der Ausstellung Funky Lessons vom 14.09.-13.11.2004 im »BüroFriedrich« Berlin, in: Heiser, Jörg (Hg.): Funky Lessons, Frankfurt a.M. 2005, S. 98-102, hier: S. 100. Tino Sehgal: »Ich suche eine andere Form der Produktion«, Gespräch mit Christiane Fricke et.al., in: Handelsblatt vom 06.06.2005. Tino Sehgal/Silvia Sgualdini: »The objectives of the object«, Interview, in: UOVO (2005), S. 169-177, hier: S. 170.

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3.1 D AS

UNSTOFFLICHE

K UNSTWERK

Die Absage an das materielle Objekt ist in der bildenden Kunst nicht ohne Vorgeschichte. In den 1960er Jahren war sie kennzeichnend für sämtliche Strömungen der Neoavantgarde, für die Performance Art, Fluxus und Happening ebenso wie für die Konzeptkunst. Der Anspruch Sehgals, eine andere Form der Produktion privilegieren zu wollen, lässt sich im Lichte dieser Tradition betrachten. Deutlich geben die Materialisierungen seiner Werke allerdings zu erkennen, dass dieser Anspruch weniger auf die Übernahme früherer Praktiken zielt als viel eher auf eine Neuformulierung, die eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Praktiken selbst sowie mit deren Rezeption impliziert. Sehgals Werk nimmt Bezug insbesondere auf die Vorgehensweisen der Konzeptkunst, für die Lucy Lippard 1968 den Begriff der Dematerialisierung eingeführt hatte. Was Lippard mit diesem Begriff benannte, war die Bemühung, das Konzept vom Werk abzulösen und der Idee gegenüber der Ausführung und Gestaltwerdung dieser Idee den Vorzug zu geben, um so die »nutzlos gewordene Hülle der Kunst abzustoßen«4 und dem kapitalistischen Missbrauch der bestehenden Werkpraxis entgegenzuwirken. »Konzeptkunst ist […] eine Kunstart, deren Material die Sprache ist«,5 postulierte Henry Flynt bereits Anfang der 1960er Jahre und brachte mit diesen Worten das Bekenntnis zum Ausdruck, dass sich eine Idee der Kunst, wie jede andere Idee, in Sprache darstellen lassen können muss, wenn sie denn wirklich eine Idee ist. Indes war der Begriff der Dematerialisierung von Anfang an nicht glücklich gewählt,6 denn die Sachlage, dass sich jede Idee immer schon in irgendeiner Form zu materialisieren hat, wenn sie als solche kommunizierund rezipierbar sein will, blieb selbstverständlich auch für die Konzeptkunst unhintergehbar. Aus der Negation des Objekts bzw. der Priorisierung der Idee resultierte deshalb auch keineswegs ein Nichts, eine bloße Dematerialisierung. Viel eher wurde fortan eine andere Form der Materialisierung be-

4

5 6

Hans Belting: »Konzeptkunst – Die Sprache des Drehbuchs«, in: ders.: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, S. 459462, hier: S. 460. Henry Flint: »Essay: Concept art« (1963), http://www.henryflynt.org/aesthetics/conart.htmlLa Zum Begriff der Dematerialisierung siehe Lucy Lippard, die diesen in ihrem gemeinsamen Essay mit John Chandler 1968 diskursivierte: Lucy Lippard/John Chandler: »The dematerialization of the Art«, in: Art International (1968). In der Einleitung zu ihrem 1973 erschienenen Standardwerk Six Years: The dematerialization of the art object erklärte sie dessen Wahl mit einem »lack of a better term« und wies explizit darauf hin, dass sie sich der Ungenauigkeit seines Gebrauchs durchaus bewusst ist. Siehe Lucy Lippard: Six Years: The dematerialization of the art object, Berkeley, Los Angeles, London 1997, S. 5.

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vorzugt. Die Arbeit bestand nun vielfach im Verfassen von Texten – von Zertifikaten, Listen, Instruktionen oder Diagrammen –, die zu Papier gebracht oder in Zeitschriften abgedruckt und nicht selten sogar wie Gemälde in Rahmen und Glas ausgestellt wurden. Demnach wurde zwar versucht, die Idee zu extrahieren und zu abstrahieren. Die Vermittlung der extrahierten und abstrahierten Ideen fand jedoch noch stets unter dem Einsatz materieller Trägermedien statt, und Objektcharakter besaßen diese Trägermedien selbst dann noch, wenn es sich bei ihnen bloß um ein simples Blatt Papier handelte. Diesem Objektcharakter verdankte es sich schließlich, dass die in Zeichen und Texten konkret gewordenen Ideen, wie alle anderen Werke, weiterhin auf dem Kunstmarkt gehandelt werden konnten. Und die so genannte Dematerialisierung bewirkte insofern weder die Auflösung der ökonomischen noch der ästhetischen Verknüpfungen mit dem Feld der Kunst. Indem Tino Sehgal die Weichen dafür stellt, dass sich seine Werke erst im Ausstellungsraum herstellen und dort im Moment ihrer Verflüchtigung nichts Stoffliches hinterlassen, indem er anders gewendet das Fundament für Produktionen legt, die ihre eigene Deproduktion gleichsam mit einbegreifen, geht er einen wesentlichen Schritt über die Praktiken seiner Vorgänger hinaus. Ließen nämlich jene das materielle Objekt letztlich nur in veränderter Form in Erscheinung treten statt es tatsächlich zum Verschwinden zu bringen, so verfolgt Sehgal einen Ansatz, der diese Inkonsequenzen in Betracht zieht, sie reflektiert und zu überwinden sucht. Wenn er bemerkt: »[…] mich interessiert in meiner Arbeit zu sagen, o.k., ich produziere mal auf eine andere Art und Weise, nämlich auf eine eher traditionelle […], über die Transformation von Handlung, wie es bei gesprochener Dichtung, Gesang oder Tanz geschieht […]«7 – dann verdeutlichen seine Worte, dass es ihm um einen Produktionsmodus geht, der ohne Kompromisse auf eine tatsächlich unstoffliche Form der Materialisierung ausgerichtet ist. Hans Belting hat die Praktiken der Konzeptkunst einmal mit der »Sprache des Drehbuchs« verglichen. Man mag einwenden, schrieb er, »[…] daß ein Drehbuch für einen Film bestimmt ist wie ein Textbuch für eine Theateraufführung. Läßt man aber den Gedanken zu, daß ein Drehbuch sich selbst genügt, ohne noch in einem Film aufzugehen, so kommt man dem eigentlichen Umgang mit dem Werk nahe, das die Konzeptkünstler auf die bloße Idee reduzieren wollten (im doppelten Sinn von rückführen und beschränken).«8

Sehgal interessiert sich nicht für die Selbstgenügsamkeit von ›Dreh- und Textbüchern‹, welche Bewegungsabläufe, Handlungen, Posen oder Wortgefüge festlegen. Seine Werke gehen nicht auf im Erfinden und Verfassen von Liedtexten, von Partituren oder Notationssystemen. Die Produktionsformen des Tanzes, des Gesangs oder der gesprochenen Dichtung fruchtbar machen

7 8

»Tino Sehgal«, S. 100. H. Belting: »Konzeptkunst – Die Sprache des Drehbuchs«, S. 459.

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zu wollen, heißt bei Sehgal, das Singen, Tanzen und Rezitieren selbst vorzuführen und die jeweiligen Ausführungen der erdachten Bewegungsabläufe, Handlungen, Posen oder Wortgefüge als die eigentlichen Formen der Materialisierung seiner Ideen zu definieren. Auch und schon deshalb entspricht es der Logik seines künstlerischen Konzepts, dass er seine ›Dreh- und Textbücher‹ nicht schriftlich fixiert. Sie existieren nicht in stofflicher Form, und weder heute noch künftig besteht daher die Grundlage dafür, seine Idee von Kunst an die Stelle ihrer Formwerdung treten zu lassen oder allein die Idee, gewissermaßen substituierend für ihre Formwerdung, zur Ausstellung zu bringen.9 Obgleich Sehgal mit Blick auf den Aspekt der Unstofflichkeit sowie das der Unstofflichkeit inhärente Moment der Flüchtigkeit kompromisslos bleibt, ist sein künstlerisches Konzept mitnichten nur auf das Impermanente ausgerichtet. Zwar materialisieren sich seine Werke nur temporär. Nichtsdestoweniger erfüllen sie aber alle Bedingungen, die jedes Werk der bildenden Kunst immer schon erfüllen muss, wenn es dauerhaft existieren, wenn es auf dem Markt zirkulieren und Eingang in die Geschichte der Kunst finden will. Folglich können und sollen Sehgals Werke gekauft, gesammelt und immer wieder ausgestellt werden, was anders gesagt bedeutet, dass er sich mit seiner anderen Form der Produktion weder dem Markt noch den Mechanismen der Institutionalisierung zu entziehen gedenkt. Sehgal erkennt an, dass eine wesentliche Aufgabe der Kunst in der Produktion, der Verbreitung und dem Verkauf von Werken besteht. Er opponiert nicht gegen die Tatsache, dass ein Kunstwerk eine Ware wie jede andere ist und der Kunstmarkt nach den üblichen Gesetzen der Warenökonomie funktioniert. Dezidiert operiert er innerhalb des Marktes und des Museums und nutzt diese Positionierung, um herauszufinden, was »innerhalb dieser bekannten Abläufe von Produktion und Konsumtion möglich ist«10. Sehgals Kunst zielt mithin – und hierin manifestiert sich sicherlich die weit reichendste Differenz zwischen seinem eigenen und dem Ansatz sämtlicher Neoavantgarden – nicht auf eine Kritik an den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Kunstsystems oder an der Warenförmigkeit von Kunstwerken. Stattdessen geht es ihm um die Kritik an einem Produktionsmodus, der unablässig der Transformation von Materie den Vorzug gibt. »Ich denke«, erklärt er, »dass die Marktwirtschaft oder der Kapitalismus, also das Distributionssystem, das wir kennen, weniger das Problem ist; problematisch ist das, was darin zirkuliert. Und was darin zirkuliert, hat erst einmal nichts mit diesem Distributionssystem an sich zu tun, sondern mit einer bestimmten Kultur.«11 Was diese Kultur nicht vorsieht, ist

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Zu Sehgals Auseinandersetzungen mit der Konzeptkunst siehe auch Dorothea von Hantelmann: How to do things with art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst, Zürich, Berlin 2007, S. 161ff. 10 »Tino Sehgal«, S. 98. 11 Ebd.

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die Zirkulation von Dingen, »die nach landläufiger Meinung erst einmal keine Dinge sind«12. Kaufen Sammler oder Museen ein Werk Sehgals, so erwerben sie das Recht, dieses Werk präsentieren zu dürfen, und erhalten die Kenntnisse, derer es bedarf, um es installieren und die Voraussetzungen für dessen Materialisierung erfüllen zu können.13 Wie bei dem Erwerb eines Zertifikats von Felix Gonzalez-Torres oder Erwin Wurm übernehmen Museen und Sammler mit dem Recht zur Ausstellung aber auch Pflichten. Bei Sehgal heißt dies jedoch nicht, Eimer, Pullover oder Filzstifte bereitstellen oder Bonbons kaufen zu sollen. Für die Zeit der Ausstellung müssen sie hingegen die Interpreten engagieren und entlohnen, die an der Hervorbringung und Gestaltung der jeweiligen Materialisierung beteiligt sind. Dass selbst beim Verkaufsakt keine materiellen Objekte im Spiel sind, wird spätestens an dieser Stelle kaum noch verwundern. Sehgal buchstabiert seine andere Form der Produktion bis hin zu den Verträgen durch, die den Eingang seiner Werke in den Markt bewirken und zugleich ihre Existenz belegen. Es gibt keine auf Papier fest gehaltenen Klauseln, keine Unterschriften, nichts. Es findet lediglich eine mündliche Transaktion von Texten statt, die sich ebenfalls nur für eine gewisse Zeit an einem konkreten Ort materialisieren, ansonsten aber allein als abrufbares Wissen in den Köpfen der Vertragsteilnehmer abgespeichert sind.14

12 Ebd., S. 99. 13 Im Gegensatz zu Felix Gonzalez-Torres sichert sich Sehgal hinsichtlich der Einrichtungen seiner Werke insofern die Kontrolle, als er in seinen Verträgen darüber verfügt, dass die Vorbereitungen für die Materialisierungen seiner Arbeiten nur von ihm selbst oder von einer durch ihn autorisierten Person zu treffen sind. Nur er selbst oder eine Person seines Vertrauens dürfen die Interpreten auswählen und mit ihnen die entsprechenden Bewegungsabläufe und Artikulationen der Texte proben. Damit ist die Frage nach der Kontrolle zwar auf konzeptueller Ebene gelöst. Offen bleibt allerdings, wie sie auf praktischer Ebene entschieden werden wird, wenn Sehgal eines Tages nicht mehr dazu in der Lage sein wird, die entsprechenden Vorbereitungen selbst zu treffen oder hierfür eine Person zu autorisieren. 14 Wie ein Vertragsabschluss bei Sehgal aussieht, hat er selbst einmal in einem Interview mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist beschrieben: »So Jérôme [Bel, SU] wanted to buy it and I said ›okay, but I want to do it with an oral contract‹, and so I went to see a lawyer, and he said ›Well you should keep it (the oral contract) very simple and there should be a notary as a testimony, so if there is some fight, the notary will have more authority because this would normally be his job‹. He said […] the best person as a testimony would be a notary, the second best would be a lawyer and the third best would be the director of an art museum, to reinforce this feeble thing. An oral contract is of course considered more feeble than a written contract. It took weeks to find a notary who was prepared to do this – everyone in Paris said ›No, no, that’s illegal‹ or ›it will take too much time to

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3.2 W AS IST HIER SO ZEITGENÖSSISCH ? Z UM P ARADIGMA DER ZWEIFACHEN G LEICHZEITIGKEIT IN T INO S EHGALS W ERK Wie das Ergebnis solch einer anderen Form der Produktion aussehen kann, ließ sich u.a. im Sommer 2005 während der Kunst-Biennale in Venedig begutachten, bei der Sehgal zusammen mit dem Maler und Bildhauer Thomas Scheibitz den deutschen Pavillon bespielte. Kurz nach Betreten des Pavillons wurde man von einer Frau und zwei Männern in Empfang genommen, die mit ihren hellen Hemden und dunklen Hosen in dem typischen Outfit der Biennale-Aufsichten gekleidet waren. Ihr Verhalten hatte mit demjenigen, das man normalerweise von Museumsaufsichten kennt, jedoch nur wenig gemein: Aus drei verschiedenen Ecken des Raums kamen sie fröhlich tanzend auf die Eintretenden zu, umkreisten sie in immer geringer werdendem Abstand und sangen dabei in unterschiedlichen chorischen Versionen: »Oh! This is so contemporary, contemporary, contemporary.« Nach etwa einer halben Minute verstummten sie schließlich und hielten in ihren Bewegungen inne. Dann rief die Frau: »Tino Sehgal«, woraufhin alle gemeinsam mit »This is so contemporary« fortfuhren. Einer der beiden Herren sang dann »2004«, bevor sein Kollege die Verlautbarung des Textes, der in Museen und Galerien für gewöhnlich auf den kleinen weißen Texttafeln zu finden ist, mit »Courtesy Jan Mot Gallery« beendete. Diese kurze Beschreibung mag einen ersten Eindruck davon vermitteln, was eine Besucherin erwarten kann, wenn sie zur Beteiligten an der Hervorbringung einer von Sehgal entworfenen zwischenmenschlichen Situation wird. Sehgal hat mit dieser Arbeit eines von mehreren Ergebnissen seiner anderen Form der Produktion präsentiert. Zugleich aber hat er mit This is so contemporary die zentralen Charakteristika dieser von ihm favorisierten anderen Form der Produktion und somit die Kennzeichen all seiner Werke pointiert zum Thema gemacht. Lohnenswert ist es deshalb, This is so contemporary etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Wie in jedem Sommer, in dem die Biennale stattfindet, gab es auch 2005 zahlreiche Zeitungsberichte über die Kunstschau in Venedig, und den beiden ungleichen deutschen Künstlern, die von dem Kurator Julian Heynen ausgewählt worden waren, wurde jede Menge Aufmerksamkeit zuteil. Inte-

find out‹, but then I called one and he said ›No problem‹. I have a friend who had studied law and we met in a cafe and prepared the contract. Preparing the contract we didn’t write a thing down, we really tried to play the game. She would tell me the sentences in French and I would repeat them to her, then I rehearsed it with her before we met the notary.« Zit. nach »Hans Ulrich Obrist interviews Tino Sehgal«, in: Kunsthalle Bremen (Hg.): Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen, Bremen 2003, S. 50-55, hier: S. 53.

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ressant waren insbesondere jene Passagen, in denen sich die Journalisten This is so contemporary widmeten. Denn die Art, in der sie diese Arbeit besprachen, enthüllte in nicht wenigen Fällen, dass das Erlebte eine Reihe von Fragen und Irritationen ausgelöst hatte. Worum ging es bei dieser »Clownerei«15? Hatte man es hier mit simpler Provokation zu tun? Und worauf bezog sich überhaupt dieses »This«, das »so contemporary« sein sollte? Vor allem die Suche nach einer Antwort auf die letzte Frage trieb die erheiterten und sympathisierenden Autoren ebenso um wie diejenigen, die sich in ablehnender Haltung zu Wort meldeten. Eine Rezensentin, die sich von der »allzu pubertär-agitierenden, allzu durchsichtigen Inszenierung belästigt« fühlte, vermutete, dass »scheinbar über das große Thema, was wohl zeitgenössisch (oder modern) in der Kunst und auch im Leben sein könnte, nachgedacht werden«16 sollte. Einem ihrer Kollegen, dem die Szene am Eingang des deutschen Pavillons immerhin als witzige Begebenheit in Erinnerung geblieben war, mutmaßte hingegen, dass This is so contemporary zu einer »Reflexion über die Position der Kunst in der heutigen High-Tech-Welt«17 aufrief. Wiederum andere deuteten die gesungenen Strophen als ironischen Kommentar zur skulpturalen Formenwelt von Scheibitz oder als »Satire auf den Kunstbetrieb mit seiner rastlosen Suche nach dem Neuen, nach dem Trend, nach der absoluten Gegenwart«18. Die selbstreferentielle Bezüglichkeit zwischen den gesungenen Worten der Museumsaufsichten und dem Geschehen selbst fand bemerkenswerterweise so gut wie keine Erwähnung. Wie alle zeitgenössischen Kunstwerke zeichnet sich auch This is so contemporary dadurch aus, dass es, wie die Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann bemerkte, »eine Idee des Zeitgenössischen nicht nur repräsentiert, sondern auch wesentlich mit herstellt«19. Was damit angesprochen ist, ist die autoritäre Kraft eines Kunstwerks, an der Idee und Definition dessen, was jeweils als zeitgenössisch gelten und anerkannt werden soll, seinerseits mitzuwirken. In dieser Hinsicht unterscheidet sich diese Arbeit nicht von anderen zeitgenössischen Kunstwerken. Indem Sehgal bei This is so contemporary die Erzeugung einer – oder genauer: seiner – Idee des Zeitgenössischen aber ins Hier und Jetzt verlegt und sie erst und allein in situ hervorbringen lässt, betont er diesen definitorischen Setzungsakt und unterstreicht

15 Uta Baier: »Hüpfen. Armwedeln. Kunstsingen. Traurige Clownereien im Deutschen Pavillon: Die Aktionen von Tino Sehgal stehlen dem Maler Thomas Scheibitz die Schau«, http://www.basis-wien.at/avdt/htm/089/00065369.htm vom 11.06.2005. 16 Ebd. 17 »Ein Querkopf vertritt Deutschland auf der Biennale«, in: Handelsblatt vom 09.06.2005. 18 Michael Hierholzer: »Die Biennale von Venedig 2005«, http://www.magazinedeutschland.de /issue/Biennale_4-05.php?&lang=deu vom 18.07.2005. 19 Vgl. D. von Hantelmann: How to do things with art , S. 175.

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zugleich die Verhandelbarkeit seiner eigenen Idee des Zeitgenössischen. Was genau bedeutet dies? »Oh! This is so contemporary, contemporary, contemporary«, singen die als Museumsaufsichten gekleideten Personen, sobald eine Besucherin den deutschen Pavillon betritt. In diesen Worten, die so fröhlich und beschwingt vorgetragen werden, tritt indessen eine unhintergehbare Zweistimmigkeit zutage. Denn während durch die Artikulation dieser Worte das Kunstwerk und die ihm zugrunde liegenden Idee des Zeitgenössischen einerseits hervorgebracht werden, kommuniziert die Artikulation dieser Worte andererseits die Behauptung, die von Sehgal bevorzugte andere Form der Produktion sei ›so zeitgenössisch‹. Was sich in Szene setzt, ist insofern das Angebot, »This is so contemporary« sowohl als performative wie als konstative Äußerung zu verstehen, sodass sich hier in exemplarischer Weise der Sinn von John L. Austins Vorschlag zu erhellen scheint, die Unterscheidung, die er in seiner Sprechakttheorie ursprünglich zwischen Performativa und Konstativa vorgenommen hat, »zu vergessen«20. Deutet man »This is so contemporary« in konstativer Perspektive, dann begegnet diese Äußerung als eine Behauptung, deren tautologischer Charakter sich gerade im Kontext der Biennale von Venedig in signifikanter Weise zur Schau trägt. Denn im Rahmen dieser Biennale, einer der prominentesten und größten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst, dürfte sich nicht nur ohnehin jedes Kunstwerk als zeitgenössisch begreifen. Vermutlich werden dort die meisten Besucher auch davon ausgehen, zeitgenössische Kunstwerke anzutreffen. Weil Sehgal die Behauptung »Dies ist so zeitgenössisch« und mithin eine Behauptung, die jedes Werk in einer zeitgenössischen Ausstellung stets implizit über sich aufstellt, nun explizit zur Sprache bringt, lenkt er, wie schon von Hantelmann ausführte, die Aufmerksamkeit auf die Sachlage, dass diese Behauptung entweder als richtig oder als falsch beurteilt werden kann und dass ein Kunstwerk, welches eine Idee des Zeitgenössischen mit hervorbringt, als zeitgenössisches Kunstwerk erst und nur dann Anerkennung finden kann, wenn es jemanden gibt, der es als solches beglaubigt und seine Behauptung, zeitgenössisch zu sein, affirmiert.21 Wie aber sieht es mit dieser Behauptung in Bezug auf This is so contemporary aus, in Bezug auf ein Kunstwerk, das mit Tanz und Gesang auf Produktionsformen zurückgreift, die gemessen an den technologischen Möglichkeiten, welche der Kunstherstellung heutzutage zur Verfügung stehen, zunächst vielleicht vergleichsweise wenig zeitgenössisch anmuten mögen? In einem Interview sagte Sehgal einmal:

20 John L. Austin: How to Do Things with Words, Cambridge/Mass. 1962, S. 137. 21 Vgl. D. von Hantelmann: How to do things with art, S. 175f.

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»I was interested if we can construct a contemporariness without using contemporary technology or without even making references to it but using the oldest means possible, just people moving around.«22

Argumentieren möchte ich, dass This is so contemporary in der Tat seine Anerkennung als zeitgenössisches Kunstwerk finden kann, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Sehgal auf die Produktionsformen des Tanzes und des Gesangs zurückgreift. Die Plausibilisierung dieser These steht und fällt selbstverständlich mit der Art, in der der Begriff des Zeitgenössischen in Gebrauch tritt. In der Alltagssprache und vor allem im Kontext der Kunst, der Architektur oder Musik findet ›zeitgenössisch‹ oft synonym zu ›aktuell‹ oder ›modern‹ Verwendung. Etwas ist zeitgenössisch und eben aktuell oder modern oder, wie es im Englischen heißt, up-to-date, weil es inhaltliche und formalästhetische Charakteristika aufweist, die für die jeweilige Gegenwart typisch und bestimmend sind, sein oder werden sollen. Darüber hinaus besteht jedoch die Möglichkeit, ›contemporary‹ noch anders zu bestimmen. Nicht zuletzt ist es das englische Wort für ›gleichzeitig‹, und wie der MerriamWebster Collegiate Dictionary informiert, verweist es im Sinne von ›gleichzeitig‹ bzw. – im Englischen – von ›simultaneous‹ auf etwas »happening, existing, living, or coming into being during the same period of time«23. Was unter einer »period of time« zu verstehen ist, ist freilich relativ. Eine »period of time« kann Jahre oder gar Jahrzehnte umfassen und kann den Zeitraum bezeichnen, in dem Menschen gleichzeitig, als Zeitgenossen, miteinander leben. Genauso gut kann eine »period of time« aber einen exakt definierten kurzzeitlichen Abschnitt meinen, zum Beispiel den Vormittag eines bestimmten Tages, an dem, wie es Kurt Tucholsky in seinem Essay über die Gleichzeitigkeit beschrieb, an verschiedenen Orten der Welt ganz unterschiedliche Dinge synchron ablaufen, ohne miteinander in einem kausalen Zusammenhang zu stehen. Wenn wir von Gleichzeitigkeit sprechen, können wir uns demnach auf Vorkommnisse, Ereignisse oder Handlungen berufen, die ihren Lauf weder an einem einzigen Ort noch genau zur selben Zeit nehmen müssen, oder hingegen auf Vorkommnisse, Ereignisse oder Handlungen, die demgegenüber während einer bestimmten Zeit an einem einzigen Ort stattfinden und im Hier und Jetzt einer punktuellen raum-zeitlichen Gegenwart erlebbar werden. This is so contemporary ist eine Arbeit, die solche punktuellen raumzeitlichen Gegenwarten ermöglicht, in denen Gleichzeitigkeit dadurch ent-

22 »Tino Sehgal im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist«, in: Anette Hüsch/Joachim Jäger (Hg.): Preis der Nationalgalerie für junge Kunst, Berlin 2007, S. 26-29, hier: S. 29. Dieses Gespräch wurde ursprünglich im Februar 2005 in Paris geführt. 23 Zit. nach Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary (2003), http://www.m-w.com /dictionary/contemporary

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steht, dass sich die Interpreten und Besucher handelnd und wahrnehmend aufeinander beziehen, und in denen umgekehrt die gleichzeitige Anwesenheit von Interpreten und Besuchern vonnöten ist, um die raum-zeitlichen Gegenwarten bilden zu können, in denen sich diese Arbeit allein zu materialisieren vermag. Dieses Merkmal teilt This is so contemporary mit den Aufführungssituationen bei den One Minute Sculptures oder den Candy Spills genauso wie mit den Aufführungen des Sprech-, Tanz- oder Musikheaters. In der punktuellen raum-zeitlichen Gegenwart tritt Gleichzeitigkeit allerdings noch in einer weiteren Form in Erscheinung, in einer Form, die hier so grundlegend am Werk ist wie zugleich im Theater, beim Tanz oder in der Oper. In Abgrenzung zur dauernden, einer Jahre oder Jahrzehnte umspannenden Gegenwart, die »Zukunft und Vergangenheit stärker distanziert«, hat Niklas Luhmann die punktuelle Gegenwart als jene Zeit benannt, »in der unaufhörlich und unaufhaltsam Zukunft zur Vergangenheit wird«24. Mit dieser Abgrenzung rückte die punktuelle Gegenwart gleichsam als jenen mikrozeitlichen Abschnitt in den Blick, der immer schon gekennzeichnet ist von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von der Paradoxie also, dass im gegenwärtigen Augenblick »die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft«25 hervortritt. Indem Sehgal die Menschen in situ tanzen und singen lässt (und ihren Tanz und Gesang nicht als technisch vermittelte Videoaufzeichnungen präsentiert), macht er neben der Gleichzeitigkeit von Darbietung und deren Rezeption ebenfalls die Gleichzeitigkeit von Werden und augenblicklichem sich Verflüchtigen zur wesentlichen Bedingung und Eigenschaft von This is so contemporary. Dass er hierfür ausgerechnet auf Tanz und Gesang zurückgreift, ist kein Zufall, gilt doch der Gesang als die unstofflichste Form der Kunstproduktion, der Tanz als die ephemerste. Wenn ich sage, Sehgal hat mit This is so contemporary pointiert zum Ausdruck gebracht, was die von ihm gewählte andere Form der Produktion wesentlich charakterisiert und daher für all seine Werke geltend gemacht werden kann, dann erklärt sich dieser Gedanke mit dem Paradigma der zweifachen Gleichzeitigkeit: der Gleichzeitigkeit von Darbietung und Rezeption sowie der Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen. Denn obschon Sehgals Werke bestimmte Fragestellungen auf inhaltlicher wie formaler Ebene auf je unterschiedliche Weise in Angriff nehmen, sind sie alle doch insofern »contemporary«, als sie sich nur so lange materialisieren, wie es Besucher gibt, die mit ihrer Anwesenheit die Ausführungen der vorbereiteten Handlungen in Gang halten. In diesem Sinne hat Sehgal mit This is

24 Niklas Luhmann: »Temporalstrukturen des Handlungssystems« (1980), in: ders.: Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1993, S. 126-150, hier: S. 133. 25 Niklas Luhmann: »Temporalisierungen«, in: ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M 1997, S. 997-1015, hier: S. 1007. Siehe in diesem Kap. ausführlich Luhmanns Auseinandersetzungen mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

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so contemporary bei der Biennale in Venedig nicht nur paradigmatisch ausgestellt, dass die Materialisierungen seiner Werke entlang der Bedingungen von Aufführungen funktionieren. Mit der Ausstellung seiner anderen Form der Produktion als Hervorbringung von Aufführungen hat er vor allem unterstrichen, dass die Materialisierungen seiner Werke auch dann noch »contemporary« sein werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden Inszenierungen eines Tages längst nicht mehr als aktuell oder als up-to-date anerkannt werden sollten. Man könnte sogar noch einen Schritt gehen und sagen, Sehgal hat gezeigt, inwiefern die »contemporariness« seiner Inszenierungen ausschließlich durch die »contemporariness« ihrer Aufführungen verhandelbar ist und verhandelbar bleiben wird. Verlässt bei Sehgal die letzte Besucherin den Ausstellungsraum, so ist eine Aufführungssituation beendet, die ohne den Einsatz materieller Objekte entstanden ist. Beendet ist außerdem eine Aufführung, deren Entmaterialisierung nichts Stoffliches hinterlässt. Dies unterscheidet seine Arbeiten von den One Minute Sculptures, den Candy Spills und den meisten Theater- und Opernaufführungen. Zurück bleiben keine Objekte, Gegenstände oder Bühnenbilder, die auf ihre erneute Benutzung hoffen oder von den Handlungen künden, die Akteure mit, an und in ihnen im Beisein eines Publikums vollzogen haben. Zurück bleiben lediglich die Interpreten, die mit der Ankunft des nächsten Besuchers wieder in Aktion schreiten werden. Der Besucher ist bei Sehgal somit immer schon als eine Instanz entworfen, der signifikante Verantwortung für die Materialisierung seiner Werke übertragen ist. Nach der Beendigung einer Zusammenkunft zwischen Interpreten und Besuchern kann eine neue Materialisierung erst wieder entstehen, wenn der nächste Besucher den Schauplatz betritt und die Gegenwart mitherstellt, in der die intersubjektiven Situationen existieren und sich wieder verflüchtigen werden, um darauf zu warten, erneut etwas zu sein, das gewesen sein wird.

3.3 D IE P ERMANENZ

DER

W IEDERHOLUNG

Unter anderem dieser zweifachen Gleichzeitigkeit verdankt es sich, dass Sehgals Arbeiten nicht selten mit der Performance in Verbindung gebracht werden. Gegen diese Assoziierung hat Sehgal in diversen Interviews seine Einwände formuliert. Zu tun haben sie in erster Linie mit einem speziellen Performance-Verständnis, das insbesondere in der bildenden Kunst Bezug nimmt auf die Body Art, die den Beginn der Performance Art markiert und für viele noch immer im Kern repräsentiert. Genau genommen ist es also die Verknüpfung seiner Werke mit dieser spezifischen Kunstgattung, gegen die sich Sehgal ausspricht, und die dort, wo sie erfolgt, in der Tat das Ergebnis eines Kategorien-Irrtums darstellt.26

26 Vgl. hierzu etwa den Standpunkt von RoseLee Goldberg, die die Diagnose aufstellte: »All signs indicate that we are in the midst of a strong reemergence of

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Richtig ist zwar, dass sich Sehgals Arbeiten wie die vieler Performance Künstlerinnen und Künstler in der gemeinsamen Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern hervorbringen. Dieser Tatbestand macht Sehgal jedoch genauso wenig zu einem Vertreter der Performance Art wie letztlich Erwin Wurm oder Felix Gonzalez-Torres, die mit ihren Einrichtungen ebenfalls für die Emergenz aufführungshafter Situationen sorgen. Mit dem Verweis allein auf die Materialität oder Medialität als das Gemeinsame dieser Arbeiten ist daher kaum etwas gewonnen und ist weder die Performance Art noch das Werk Sehgals hinreichend erfasst. Erst durch die Inblicknahme ihrer jeweiligen Intentionen und Vorgehensweisen lässt sich klären, warum Sehgal kein Performance Künstler und in der Tradition der Performance Art nicht adäquat verortet ist. Als die Performance Art in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts als theatrale Gattung aus der bildenden Kunst hervorging, war sie wie sämtliche neoavantgardistischen Strömungen bestrebt, sich an den Grenzen und Begrenzungen der existierenden Kunstformen abzuarbeiten.27 Anders als bei Happening oder Fluxus rückte in der Performance Art dabei der Körper ins Zentrum der künstlerischen Beschäftigung und wurde zum Gegenstand und Material zahlreicher Erforschungen. Einige der in der Regel als Solokünstler auftretenden Body Artists widmeten sich der Auseinandersetzung mit so vermeintlich simplen Aktivitäten wie Sitzen oder Essen, Trinken oder Umherlaufen; andere setzten sich erheblichen Selbstverletzungen, Schmerzen oder Gefahren aus. Was die Performance Art mit diesen neuen Ausdrucksformen im Sinn hatte, war eine Kampfansage an ein der Repräsentation verpflichtetes Kunstverständnis, an das traditionelle Ideal des Werkbegriffs, an eingeübte Rezeptionsmuster und das auf konservier- und vermarktbare Werke ausgerichtete Kunstsystem. Obgleich sie zur Verwirklichung dieses Unternehmens häufig auf die theatrale Praxis der vor Zuschauern ausgeführten Handlungen zurückgriff, bedeutete dies keineswegs aber, dass sie sich nun auf die Seite des Theaters zu schlagen gedachte. Im Gegenteil. Mithilfe theatraler Produktionsmodi zielte sie zwar auf nichts Geringeres als auf die Zurückweisung des gesamten Dispositivs der bildenden Kunst. Doch mit dem Theater, das ihr als Ort der Darstellung fiktiver Rollen und Geschehnisse

performance, and that in the coming years this is only likely to be more so.« (S. 109) Die Zeichen, von denen Goldberg spricht und mit der sie ihre Rede von dem Wiederaufleben der Performance Art belegt, erkennt sie bei zahlreichen bildenden Künstlerinnen und Künstlern, zu denen sie u.a. auch Tino Sehgal zählt. Weil Sehgal die Arbeit an ephemeren Ereignissen aufgenommen hat und Situationen des »eye contact« kreiert (S. 111), unterstellt Goldberg, er beziehe sich, wie viele seiner Kollegen, explizit auf die »performance history« (ebd.) und belebe deren Erbe »with fascination and reverence« (ebd.). Siehe RoseLee Goldberg: »The Shock of the live«, in: ArtReview (2005), S. 108-111. 27 Vgl. RoseLee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present, London 2000, S. 9.

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galt, wollte sie trotzdem nichts zu tun haben. Entsprechend etablierte sich die Performance Art als eine Gattung, die ihren Platz zwischen den Stühlen der bildenden und der darstellenden Kunst einnahm und eine Zäsur in der Geschichte beider Künste zu bewirken suchte. Das Vorhaben, den etablierten Regeln, Diskursen und Bedingtheiten hier wie dort gleichermaßen entgehen zu wollen, generierte jedoch Widersprüchlichkeiten, die die Performance Art alsbald in unauflösbare Konflikte mit ihren eigenen Absichten brachte. Diese Widersprüchlichkeiten fingen bereits bei der Grenzziehung zum Theater an. Da man das Theater, wie Marina Abramovi in den 1990er Jahren rückblickend sagte, aufgrund seines »Fake«-Charakters als Feind betrachtete,28 reichte es nicht aus, sich von ihm bloß in der ästhetischen Praxis abzuheben. Wichtig war eine Abstandnahme auch auf konzeptueller Ebene. Bei einer Konferenz, die 1975 in Washington unter dem Titel Performance and the arts stattfand, machten es sich die teilnehmenden Künstler deshalb u.a. zur Aufgabe, den Performance-Begriff so zu konturieren, dass er wirkungsvoll gegen den Theaterbegriff in Stellung gebracht werden konnte. Wie Marvin Carlson berichtete, wurde etwa herausgestellt, dass in der Performance Art der Raum meist eher als »work space« denn als ein formales »theatrical setting« fungierte oder dass Performance Künstler »the dramatic structure and psychological dynamics of traditional theatre or dance« vermieden und sich stattdessen auf »bodily presence and movement activities« verlegten.29 Was diese Bemühungen um den Nachweis eindeutiger Distinktionskriterien allererst enthüllen, ist indes der Umstand, dass sich die Performance Künstler über die nicht oder nur schwer wegzudiskutierende Theaterhaftigkeit ihrer Arbeiten mehr als bewusst waren.30 Der Einfluss des Theaters, so bestätigte Carlson, »[...] was not, however, so easily denied. The very presence of an audience watching an action, however neutral or non-matrixed, and presented in whatever unconventional space, inevitably called up associations with theatre. Moreover, even as perfor-

28 Marina Abramovi: »In the seventies, the theater was the enemy of performance artists. It was considered a fake, a staged experience.« Zit. nach Hans-Peter von Däniken/Beatrix Ruf: »In conversation with Marina Abramovi«, in: New Moment (1997), Special Issue La Biennale di Venezia, S. 3-4, hier: S. 3. 29 M. Carlson: Performance Art, S. 104. 30 Dass Vito Acconci schon nach wenigen Jahren wieder aufhörte, vor Publikum aufzutreten, weil er besorgt war, seine Auftritte könnten als theatrale Schauspiele wahrgenommen werden, ist folglich nur eine Episode, in der sich zum Ausdruck bringt, wie schwierig es für die Performance Künstler war, dem Einfluss des Theaters zu entkommen. Siehe Peter Noever/MAK (Hg.): Out of Actions. Zwischen Performance und Objekt 1949-1979, Ausstellungskatalog, Ostfildern 1998, S. 28.

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mance emerged as a distinct genre in the early 1970s, many of its practitioners uti31 lized distinctly theatrical approaches.«

Dass sich eine gewisse Verwandtschaft zum Theater nicht leugnen ließ, lag jedoch nicht erst an den theatralen Eigenheiten der Performance Art selbst. Sie lag zugleich an den Parallelen, die sich zu jener Zeit zwischen den Intentionen und Vorgehensweisen der Performance Künstler und den Vertretern der Theateravantgarde abzeichneten. In Weiterentwicklung der avantgardistischen Bestrebungen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hatten längst auch Letztere damit angefangen, die Konventionen ihrer eigenen Kunstform zu hinterfragen. So bemühten sich in den 1960er und 70er Jahren zahlreiche Theatermacher ihrerseits darum, das Theater aus seiner Funktion als Vermittlungsinstanz dramatischer Texte zu entlassen und dessen »Fake«-Charakter zu überwinden. Zunehmend verzichteten sie auf literarische Vorlagen, bestimmten das Verhältnis zwischen Schauspieler und Rollenfigur neu oder verließen die institutionellen Räume, um andere als die gewohnten Zuschauer-Akteur-Konstellationen zu ermöglichen.32 Trotz all dieser Gemeinsamkeiten gab und gibt es zwischen dem Theater und der Performance Art dennoch einen signifikanten Unterschied. Denn während im Theater die Inszenierung sowie deren Darbietung gemeinschaftliche Arbeitsprozesse sind, die unter Beteiligung eines ganzen Ensembles von Personen entstehen, und während das Theater auf die Wiederaufführung von Inszenierungen ausgerichtet ist, ist die Performance Art jene Kunstgattung, mit der die Bühne zum Schauplatz für die Auftritte und Selbststilisierungen der Künstlersubjekte sowie für Emphase nur einmal aufgeführter und in diesem Sinne: nicht zu reproduzierender Ereignisse avancierte. Schon diese beiden Kennzeichen, die Ausstellung des Künstlersubjekts auf der Bühne und die Hinwendung zu singulären Darbietungen, trennen Sehgal maßgeblich von der Performance Art. Sehgal, das haben wir gesehen, ist an der wiederholten Materialisierung seiner Werke interessiert. Für ihn ist das Museum jener Ort, an dem sie sich während der Öffnungszeiten und für die Dauer einer Ausstellung immer wieder aufs Neue von der Inszenierungs- in die Aufführungsebene übersetzen und immer wieder aufs Neue

31 M. Carlson: Performance Art, S. 104. Mit der Formulierung »non-matrixed« bezieht sich Carlson auf Michael Kirbys Definition einer »non-matrixed performance«, die meint, dass ein Performer in einer Aufführung Handlungen vollzieht, welche von den Zuschauern als inszeniert wahrgenommen werden, ohne dass er allerdings einen anderen Charakter darstellt oder eine fiktive Rollenfigur verkörpert. Vgl. M. Kirby: A formalist theatre, S. X. 32 Zu den historischen Theateravantgarden sowie zum Verhältnis der historischen Theateravantgarden und der Theateravantgarden der 1960er und 70er Jahre siehe stellvertretend Sandra Umathum: »Avantgarde«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 26-30.

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Erfahrungen generieren können sollen. Mit der Idee der repetitiven Realisation sind diese Werke speziell für diesen institutionellen Rahmen gestaltet, um sich durch Wiederholungen, die sich – so hätte es Derrida ausgedrückt – freilich niemals wiederholen, nachhaltig in die Geschichte der Ausstellungskunst einzutragen. Weil Sehgal die Permanenz der Wiederholung vorsieht, weil er sich als Künstlersubjekt nicht selbst auf die Bühne bringt, sondern die Darbietung seiner Werke wie ein Regisseur aus den Händen gibt und sie Anderen überlässt, rückt er durch die Affirmation dieser von der Performance Art negierten Strukturelemente des Theaters von dieser ab und begibt sich gleichsam in die Nähe des Theaters selbst. Mit der Hervorbringung nicht zu reproduzierender Ereignisse distanzierte sich die Performance Art von einer Spezifik des Theaters und meinte zugleich, derart die geeignete Maßnahme gefunden zu haben, um sich den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Kunstbetriebs erfolgreich widersetzen zu können. Allerdings waren es gerade die Idee und das Prinzip, die Arbeiten nur ein einziges Mal aufführen und sie so vor ihrer Tradierbarkeit bewahren zu wollen, die für die Performance Art bald zum Stolperstein wurden. Pragmatische Beweggründe (wie die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen) oder kunsthistorische Motive (wie der Wunsch, die eigene Arbeit vor dem Verschwinden und Vergessen retten zu wollen) veranlassten schließlich die Herstellung, Sammlung und Vermarktung der Dokumente und Relikte, die heute in den Museen zu finden sind und dort von den einzigartigen und uneinholbaren Ereignissen künden, denen sie gleichwohl als ein Anderes zur Seite stehen: als eigenständige Kunstwerke, substantielle Hinweise oder defizitäre Reste, in jedem Fall aber als gegenständliche und wohl behütete Artefakte. Die Geschichte der Performance Art ist die Geschichte dieses Konflikts zwischen einer Kunst im Modus des Ereignisses, das nicht käuflich und nicht konservierbar sein sollte, und den Dokumenten oder Relikten, die gehandelt und archiviert werden. Dass diese Dokumente oder Relikte von den Praktiken künden, mit denen sich die Performance Künstler von eben jenem Dispositiv zu verabschieden gedachte, welches nun nicht nur die Aufgabe übernimmt, diese Belege ihrer Abgrenzungsversuche zu sammeln, aufzubewahren und auszustellen, sondern welches damit ebenfalls am Vorführen des Gescheitertseins dieser Versuche teilhat, bezeugt die paradoxe Verkehrung, die dem Selbstverständnis der Performance Art widerfahren ist.33

33 Dass mit der Institutionalisierung dieser Film- und Fotoaufnahmen die ursprüngliche Idee sowie das Selbstverständnis der Performance Art letztlich ad absurdum geführt wurde, haben auch viele Performance Künstlerinnen und Künstler selbst mit Regelmäßigkeit beklagt. Mit ihrer Performance-Serie Seven Easy Pieces, die im November 2005 im New Yorker »Guggenheim Museum« zur Aufführung kam, hat Marina Abramovi nicht zuletzt deshalb den Versuch unternommen, eine andere Form der ›Dokumentation‹ zu erproben, und hat sechs prominente Per-

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Um seinen Arbeiten ein ähnliches Schicksal zu ersparen, wählt Sehgal einen anderen Weg. Er organisiert die Tradierbarkeit seiner Werke durch deren wiederholte Materialisierungen und verzichtet zugleich auf die Herstellung jeglicher Film- und Fotodokumente. Er weiß, dass solche Dokumente irgendwann zu zirkulieren begännen. Sie wären leichter zu ›verwalten‹, einfacher zu handhaben und vermutlich besser zu verkaufen. Im Sinne seines eigenen Selbstverständnisses handelt Sehgal gewissermaßen präventiv, denn die Existenz und Zirkulation von Foto- und Filmmaterialien könnte die Anerkennung der situativen Geschehnisse als die eigentlichen Materialisierungen seiner Werke unter Umständen ebenso aufs Spiel setzen wie in Konsequenz seine Bemühung um eine andere Form der Produktion. Mit dem Aufzeichnungsverzicht agiert Sehgal außerdem entlang seiner eigenen erfahrungsästhetischen Konzeptionslogik. Die Situationen, in denen seine Werke entstehen, leben von den Interaktionen zwischen seinen Spielern und den Besuchern. In filmischen und fotografischen Aufnahmen würden diese Situationen zu Bildern gefrieren, die gegenüber dem Ereignis defizitär blieben Sie würden, wie viele Dokumentationen der Performance Art, etwas zeigen, das kaum imstande wäre, repräsentativen Charakter zu adoptieren. Dass Sehgal die sich ständig ändernden Situationen nur in der und allein durch die Erinnerung derjenigen fortdauern lässt, die sich miteinander für eine gewisse Zeit begegnet sind, ist deshalb nur konsequent. Wer die Ausstellung eines Werks versäumt hat, wird dessen erneute Materialisierung abwarten oder mit den Beschreibungen Anderer vorlieb nehmen müssen. Auf der Basis dieser Augenzeugenberichte kann er sich eine Vorstellung des nicht selbst Erlebten machen, kann bei seinen Imaginationsprozessen allerdings nicht auf Abbilder der Personenanordnungen, der verschiedenen Posen oder Räumlichkeiten zurückgreifen. Wer Mitwirkender war, muss sich, wie nach dem Besuch einer Tanz- oder Theaterveranstaltung, auf sein Erinnerungsvermögen verlassen. Selbst wenn die Möglichkeit besteht, die Materialisierung eines Werks erneut aufzusuchen, ist es nämlich dennoch nicht möglich, zu einer identischen Situation zurückzukehren. Man kann an der

formances aus den 1960er und 1970er Jahren durch deren Wiederaufführung wiederbelebt. Gleichwohl hat sie dabei nicht nur ein Ereignis hervorgebracht, das durch seine spezifischen Parameter – durch die institutionelle Rahmung in einem Museum sowie die Dauer sowohl der einzelnen Performances (jede von ihnen erstreckte sich über einen Zeitraum von sieben Stunden) als auch des gesamten Aufführungszyklusses – zugleich seine Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit exponierte. Darüber hinaus hat sie auch auf die Aufzeichnungen dieser Wiederaufführungen nicht verzichtet. Die ständige Anwesenheit mehrerer Kamerafrauen und -männer hat daher mit zur Ausstellung gebracht, inwiefern Abramovi um eine möglichst exakte Film- und Fotodokumentation dieses ephemeren Ereignisses bemüht war. Vgl. Marina Abramovi: Seven Easy Pieces, Mailand 2006 (und hier insbesondere das Interview mit Nancy Spector).

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Materialisierung eines Werks ein weiteres Mal teilhaben, ihre Gestalt wird aber, wie die jeweilige Erfahrung, eine andere sein. Die Konsequenz, mit der Sehgal die Hervorbringung unstofflicher Kunstwerke betreibt und die tradierten Weisen künstlerischer Produktion hinter sich lässt, dabei jedoch durch die Akzeptanz der Gesetze des Marktes und der Institution seinen Platz gleichwohl innerhalb des Kunstsystems behauptet, macht unbestritten die Singularität seines Ansatzes aus.34 Die Autoren, die sich in den vergangenen Jahren mit seinem Werk beschäftigten, haben diese Singularität häufig herausgestellt. Was sie allerdings vernachlässigten, sind die von Sehgal inszenierten Begegnungen zwischen Spielern und Besuchern selbst. Weil diese noch kaum einer ausführlichen Analyse unterzogen wurden, möchte ich sie im Folgenden ins Zentrum meiner Untersuchungen stellen.

3.4 S ICH

IN DIE

D ISKUSSION

BRINGEN

Um zu erörtern, welche Erfahrungen sich bei der Materialisierung eines Werks von Sehgal machen lassen können, möchte ich in den nächsten beiden Unterkapiteln zwei seiner Arbeiten in den Fokus rücken, die bislang sicherlich zu seinen komplexesten zu zählen sind: This objective of that object (2004) und This situation (2007). Im Unterschied beispielsweise zu This is so contemporary sind sie in Hinblick auf die Einflussmöglichkeiten des Publikums wesentlich offener gehalten. Sie verbinden – stärker als die meisten anderen Werke Sehgals – Vorgegebenes mit Improvisiertem. Sie übereignen den Interpreten und Besuchern deutlich mehr Handlungs- und Gestaltungsspielraum, jedoch auch weit mehr Verantwortung für die Formwerdung der jeweiligen Situationen. 3.4.1 Beziehungsspiele: This objective of that object Im Winter 2004/05 wurden im Londoner »Institute of Contemporary Arts« (ICA) zwei Arbeiten Sehgals präsentiert.35 Im Erdgeschoss zeigte er ein Werk, das bereits einige Jahre zuvor entstanden war: Instead of allowing some thing to rise up to your face dancing bruce and dan and other things

34 Tino Sehgal: »Ich verstehe bildende Kunst nicht als technischen Terminus, sondern als eine bestimmte Tradition. Die Rezeption meiner Arbeiten macht nur Sinn, wenn man sie im Fokus dieser Traditionslinie sieht.« Zit. nach »Auch ich nehme auf meine Art am Markt teil. Von einer Kunst, die keine Gegenstände kennt: der deutsche Biennale-Künstler im Gespräch«, in: Stuttgarter Nachrichten vom 28.07.2005. 35 Die beiden Arbeiten wurden vom 17.01-03.03.2005 im ICA ausgestellt.

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(2000). Im hinteren Teil eines großen, lang gestreckten und gänzlich leer geräumten Ausstellungsraums befand sich einzig ein Mann. Langsam, wie in Zeitlupe, wälzte er sich über den Fußboden, erst ein Stück in Richtung des Eingangs und zu den Besuchern hin, danach wieder zurück zur hinteren Wand des Raums. Ohne Unterlass ging er seiner Tätigkeit nach und fuhr mit seinen Bewegungen noch immer fort, als meine Begleiterin und ich eine Stunde später zu dieser Arbeit zurückkehrten.36 Im ersten Stockwerk erwartete die Besucher This objective of that object, eine Arbeit aus dem Jahr 2004.37 Auch hier hing nichts an den Wänden, war nichts auf dem Fußboden drapiert. Eine gähnende Leere – bis kurz nach unserem Eintreten auf einmal nacheinander fünf Personen auftauchten. Im allerersten Augenblick konnte man sie für Besucher halten. Sie waren unauffällig gekleidet, trugen gewöhnliche Hosen und Pullover. Doch fünf Personen in einem Raum, in dem nichts ausgestellt war? Dieser Sachverhalt ließ erste Zweifel an ihrem Besucherstatus aufkommen. Spätestens als wir registrierten, dass sie sich rückwärts auf uns zu bewegten, waren die letzten Zweifel zerstreut: Diese Personen, die schließlich im Abstand von nur wenigen Metern einen Kreis um uns bildeten, waren keine Besucher. Sie waren Interpreten Sehgals, und noch bevor wir uns richtig orientiert hatten, hatten sie uns schon in ihre Mitte genommen. Offensichtlich sollte es uns nicht gestattet sein, sie von vorn zu sehen, denn ohne sich nur einziges Mal umzudrehen, setzten sie, kurz nachdem sie ihre Positionen eingenommen hatten, zu einem chorischen Sprechgesang an. Erst flüsternd, dann mit kontinuierlich lauter und deutlicher werdenden Stimmen gaben sie sicherlich ein Dutzend Mal denselben Satz von sich: »The objective of this work is to become the object of a discussion!« Was erst noch leise, beinahe verhalten, und am Ende mit Emphase vorgetragen wurde, war das Vorhaben dieser Arbeit selbst. Ihr Ziel sollte es sein, Gegenstand einer Diskussion zu werden. Die tautologische Implikation dieser Verlautbarung erinnert an »This is so contemporary«, sofern auch sie formuliert, was ein jedes Kunstwerk zu erreichen versucht: Es will wahrgenommen und erfahren, besprochen und diskursiviert, will und muss mithin der anerkennenden Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung für wert befunden werden. »The objective of this work is to become the object of a discussion« ist eine Äußerung, die aber, wie »This is so contemporary«, nicht allein einen Anspruch expliziert, der jedem Kunstwerk implizit zugrunde liegt. Sie ähnelt der Äußerung »This is so con-

36 Auf diese Arbeit werde ich hier nicht näher eingehen. Sie wurde ausführlich analysiert und im Lichte ihrer kunsthistorischen Referenzen, vor allem in Bezug auf jene Werke der schon im Titel anklingenden Künstler Dan Graham und Bruce Nauman von Dorothea von Hantelmann untersucht. Siehe D. von Hantelmann: How to do things with art, S. 147ff. 37 This objective of that object wurde im Frühling 2004 zum ersten Mal in der »Galerie Johnen + Schöttle« in Köln präsentiert.

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temporary« auch insoweit, als sie die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen und Eigenarten des Geschehens lenkte und somit den Schlüssel zu einem wesentlichen Merkmal der konkreten situativen Begebenheiten bereithielt. Während die Interpreten das Ziel dieser Arbeit verkündeten, fragten sich meine Begleiterin und ich, was hier wohl von uns erwartet wurde. Wir verständigten uns flüsternd und bestätigten uns gegenseitig unsere Ahnungslosigkeit, als die Interpreten ihren Sprechgesang unversehens beendeten und alle durcheinander riefen: »We have a comment! We have a comment! Who will answer? Who will answer?« Daraufhin antwortete einer der Männer: »I« und begann anschließend über die Rolle von Spionen zu sprechen, über klandestine Verhaltensweisen und die Gefahren ihres Entdecktwerdens. Eine der Frauen unterbrach ihn und kam auf das Moment des Verdachts zu sprechen, auf die Risiken der Selbstentblößung und deren Folgen. Unsere Anwesenheit hatte eine Diskussion in Gang gesetzt, die nicht so wirkte, als ob die Sprechenden auf auswendig gelernte Texte zurückgriffen. Sie schienen ihre Gedanken und Argumente erst im Hier und Jetzt zu entfalten. Sie rangen um die passenden Worte, formulierten Thesen, die sie wieder in Frage stellten, oder suchten nach Beispielen, um ihre Argumente zu bekräftigen. Als sich die Frau und der Mann austauschten, begann ich mich zu fragen, inwiefern dieses Gespräch eine Anspielung auf meine Begleiterin und mich war. Es ließ sich immerhin nicht von der Hand weisen, dass die Interpreten nicht nur miteinander, sondern zur selben Zeit zu uns sprachen oder sich in ihrem Sprechen zumindest indirekt auf uns bezogen. Waren also wir selbst der Gegenstand dieser Diskussion geworden? Und durften wir an ihr teilnehmen? Oder sollten wir nur zuhören? Erving Goffman hat festgestellt, dass sich ein jeder, der sich in einer Situation aufhält, bewusst oder unbewusst die Frage stellt, was in ihr eigentlich vor sich geht: »Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung oder Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewißheit besteht – die Frage wird gestellt […].«38 Was eigentlich vor sich geht, ist nach Goffman eine Frage, die vor allem jedoch in zwischenmenschlichen Situationen Dringlichkeit gewinnt, denn »das Gefühl zu wissen, was vor sich geht«, ist, so konstatierte er, »am häufigsten unter Umständen gefährdet […], bei denen andere Personen unmittelbar anwesend sind«39. Wir befanden uns in solch einer Situation, in der andere Personen anwesend waren, Personen, die wir noch dazu nicht kannten und denen wir nie zuvor begegnet waren. Was ging also hier in unserer Situation im ersten Stockwerk des ICA vor sich? Goffman zufolge ergibt sich die Antwort auf diese Frage daraus, »wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen« bzw. aus den Vorgängen, die im Sinne bestimmter Regeln gedeutet werden können und beim Deutenden wiederum passende Handlungen hervorrufen.40

38 E. Goffman: Rahmenanalye, S. 16. 39 Ebd., S. 410. 40 Ebd., siehe hierin vor allem Kapitel 2, 3 und 4.

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Was für uns die passende Handlung war, war den Vorgängen noch nicht zu entnehmen. Die Interpreten gingen vor wie bisher. In der Zwischenzeit hatte sich ein weiterer Spieler in das Gespräch eingemischt und das Thema auf einen Roman gebracht, den er kürzlich gelesen hatte. Uns wurde bald klar, dass wir selbst herausfinden mussten, was unsere Rolle in diesem Kreis war oder sein konnte. Natürlich hätten wir einfach irgendetwas sagen können, um zu sehen, was dann als Nächstes passierte. Ob dies erwünscht war, stand aber nicht fest. War es wirklich angemessen, in die Diskussion einzugreifen? Oder hätte man nicht gerade dadurch das Werk ›zerstört‹? Aber war es umgekehrt angemessen zu schweigen? Wer diese Arbeit bereits kannte, wird diese Bedenken belächeln mögen. Wer diesem oder überhaupt einem Werk Sehgals zum ersten Mal begegnete, konnte sich in dieser Situation jedoch verloren fühlen, weil einerseits nichts verboten schien und andererseits zu nichts ausdrücklich aufgefordert wurde. Als Besucherinnen, die mit dieser Arbeit zum ersten Mal in Berührung kamen, sahen wir uns deshalb vor die Aufgabe gestellt, ihre Regeln und Ordnungsprinzipien selbst aufzuspüren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als so vorzugehen, wie man es in einer Situation tut, in der man noch nicht weiß und einem niemand verrät, wie man in ihr vorzugehen hat. Kunst, die den Betrachter als Akteur, als Teilhaber und Kollaborateur entwirft, spielt nicht selten mit dem Prinzip der Des- und Reorientierung. Sie versetzt in Situationen, in denen man sich nicht auskennt und erst zurechtfinden muss, in denen man gewissermaßen im cause and effect-Verfahren zu ergründen hat, wie ein Objekt oder eine Installation funktioniert. Ken Feingold hat die aus diesem Prinzip resultierenden Erfahrungen einmal mit denjenigen verglichen, die man in durchdesignten öffentlichen Toiletten machen kann, wenn die Hände bereits voller Seife sind und man dann feststellen muss, dass es keine Wasserhähne gibt, mit denen sich der Wasserstrahl aktivieren ließe. Man beginnt nach pedalenartigen Vorrichtungen am Fußboden oder nach Hebeln und Knöpfen an der Wand zu suchen. Man findet nichts und testet schließlich alles aus, was nach einem Sensor anmuten könnte, der das Wasser zum Laufen bringt.41 Es ist einer dieser Momente, in dem man zwar den Rahmen kennt, sich in diesem Rahmen auf einmal jedoch fremd fühlt, weil es eine Abweichung gibt und man der Lage nicht in der gewohnten Weise habhaft zu werden vermag. Mit This objective of that object hat Sehgal für eine Situation die Weichen gestellt, in der wir ähnlich zu verfahren hatten. Anders als bei dem Beispiel mit der öffentlichen Toilette und anders als bei künstlerischen Arrangements, die ein Austesten der Wirkungen von Handlungen auf ein Objekt provozieren, erhielt das interaktive Vorgehen hier allerdings nicht nur deshalb eine besondere Note, weil wir es mit Personen und nicht mit Objekten zu tun hatten. Weil Sehgal diese Personen mit dem Rücken zu uns agie-

41 Vgl. Ken Feingold: »The Interactive Art Gambit (»Do not run! We are your friends!«)«, New York 1997, http://tech90s.walkerart.org/kf/index-nj.html

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ren, sie uns nicht anblicken ließ, durchkreuzte er zugleich den Aspekt des »narcissistic ›it sees me‹«42, der nach Feingold so häufig mitschwingt, wenn es in der bildenden Kunst darum geht, Objekte zum Reagieren zu bringen. Wir probierten also aus, was passierte, wenn wir uns durch den Raum bewegten. Als wir uns den diskutierenden Interpreten näherten, entfernten sie sich von uns, indem sie einige Schritte nach vorn taten. Meine Begleiterin versuchte, eine der Interpretinnen einzuholen, um sie von vorn in Augenschein zu nehmen. Doch diese wich aus und wendete ihren Kopf zur Seite. Offenbar hatten wir eine Regel zum Vorschein gebracht: Keinen Blickkontakt! Man hätte dieses Spiel nun fortsetzen und die Interpreten buchstäblich in die Ecke treiben können. Man hätte sie auch – wie dies bei der Ausstellung von This objective of that object einige Monate später in Berlin geschah – durch den ganzen Raum jagen können.43 Da diese Arbeit nichts verbietet oder erlaubt, sah man sich auf subtile Weise vor die Frage gestellt, wie weit man bereit zu gehen und inwiefern die Inkorporation bestimmter Verhaltenskodizes die Versuchung einer temporären Suspendierung aller Gepflogenheiten im Zaum zu halten imstande war. Wollte man wirklich wie eine Furie den Raum durchfegen, um herauszufinden, wie sich die Interpreten behaupten werden? Wollte man seine Gedankenspiele in die Tat umsetzen und sich zu einem Katz-und-Maus-Spiel hinreißen lassen? Wir sahen von einer Verfolgungsjagd ab und verständigten uns per Handzeichen, auf dem Fußboden Platz zu nehmen und herauszufinden, was vor sich ging, wenn wir erst einmal gar nichts taten. Wie lange würde die Diskussion dauern? Und auf welche Weise würde diese Arbeit ihr Ende finden? Kaum hatten wir uns hingesetzt, begann die Frau, die gerade von meiner Begleiterin traktiert worden war, die Bedeutsamkeit von Blicken zu thematisieren. Ihres Erachtens, so erklärte sie, wäre die beziehungskonstituierende Dimension von Blicken deutlich überschätzt. Aha – dies war die Replik auf die unerwünschten Annäherungsversuche, und unzweifelhaft bot sie die Vorlage für eine Entgegnung. Spätestens jetzt enthüllte der Satz »The objective of this work is to become the object of a discussion« seine zweite Ebene. Denn offenkundig war das Ziel dieser Arbeit nicht nur, ihrerseits zum Gegenstand einer Diskussion zu werden. Nein, auch die Anwesenden konnten sich, ihr Wissen, ihre Meinungen oder hingegen die Handlungen und das Verhalten der Anderen zum Gegenstand einer Diskussion machen. Ohne etwas gesagt zu haben, waren wir längst zum Gegenstand der Diskussion geworden – bzw. hatten die Interpreten uns und unser Agieren zu einem solchen gemacht. Wir saßen auf dem Fußboden und ließen sie sprechen. Man könnte auch sagen: Wir waren darum bemüht, uns zu verweigern und ihnen so wenig Anlass wie möglich zu geben, sich weiterhin auf uns beziehen zu können.

42 Ebd. 43 In Berlin wurde diese Arbeit vom 26.11.2005-14.01.2006 in der »Galerie Johnen« gezeigt.

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In diesem Moment betrat ein älterer Herr den Raum. Er sah sich noch fragend um, als die Interpreten schon erneut angesetzt hatten, erst flüsternd, dann mit immer lauter und deutlicher werdenden Stimmen zu verkünden: »The objective of this work is to become the object of a discussion!« Sie schalteten sich sozusagen aus ihrem Gespräch aus und spulten zu jener Sequenz, mit der – das schien eine weitere Regel zu sein – jeder Besucher in Empfang genommen und über das Ziel sowie den Anspruch dieses Werks informiert werden sollte. Kaum hatten die Interpreten den Satz zum zweiten Mal wiederholt, machte der Herr allerdings auf dem Absatz kehrt und verließ den Ausstellungsraum. Deutlich hatten seine Blicke sein Irritiertsein verraten. Augenscheinlich wusste er mit der Situation, in die er geraten war, nicht viel anzufangen. Möglicherweise hatte er sie nicht einmal als die Materialisierung eines Kunstwerks erkannt. Ich zumindest war über sein baldiges Verschwinden nicht unglücklich, denn wie das Vorgehen der Interpreten verriet, bedingte das Erscheinen eines neuen Besuchers die Veränderung der bestehenden Situation und drohte in unserem Fall den Plan zu durchkreuzen, ihren weiteren Verlauf durch unsere Verweigerungshaltung bestimmen zu wollen. Nachdem die Interpreten »The objective of this work is to become the object of a discussion!« mehrmals vorgetragen hatten und die Pausen zwischen dem Ende des einen und dem Beginn des nächsten Satzes immer länger geworden waren, fingen sie an, den Duktus ihrer Artikulation zu modifizieren. Zwei weitere Male wiederholten sie den Satz, nun jedoch mit wesentlich schwächer werdenden Stimmen. Und während sie nurmehr vor sich hin röchelten, bis ihre Worte fast verhauchten, sanken sie langsam in sich zusammen, erst in die Knie und schließlich seufzend zu Boden. Meine Begleiterin und ich warteten ab, was weiterhin passieren würde. Nachdem sich die Interpreten minutenlang nicht gerührt hatten, entschieden wir uns zu gehen. Wir kletterten über den vor dem Ausgang liegenden Spieler und verließen den Ausstellungsraum. In einem Interview wurde Sehgal einmal darauf angesprochen, dass die Besucher bei This objective of that object den Interpreten gegenüber insofern im Nachteil wären, als diese darüber entscheiden können, ob sie die Besucher in die Diskussion involvieren oder nicht. Wie Silvia Sgualdini berichtete, hatte sie selbst sich erfolglos darum bemüht, Teilnehmerin an einer Diskussion zu werden: »The interpreters discuss something that you initiated, but through their body language of turning their backs to you […] they exclude you. […] First, I asked whether we could have a discussion. I said we and they started bouncing off of one another discussing what a discussion is and talking about novels and all kind of interactions. Then some other people came into the room, but they didn’t say anything so the piece collapsed on its own, because there was no reaction. When the interpreters were on the floor I said: ›Can we still speak when you are lying on the floor.‹ They livened up

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again and they started to discuss speech and the difference between the written word as something lying down and the spoken word as something standing up! […] [The interpreters] start running this circle of discussion and you can feel that there is a sort 44 of conspiracy between them and that doesn’t really include the viewer.«

Was in diesen Sätzen mitschwingt, ist eine Enttäuschung, und womöglich sind Enttäuschungen die sichersten Indikatoren für unsere eigentlichen Erwartungen. Etwas tritt ein oder tritt nicht ein, und in jenem Moment merken wir, dass wir dieses Etwas anders erwartet hätten. Keineswegs bedeutet dies, dass wir mit einem vorgefertigten Register von Erwartungen ins Museum gingen und sie dort, wie es Jens Roselt formuliert hat, »wie auf einer Strichliste abhak[t]en, um am Ende Bilanz zu ziehen«45. Oft produzieren wir unsere Erwartungen erst im Moment des Enttäuschtwerdens, entwickeln erst dann eine Vorstellung von dem, was wir erwartet oder uns gewünscht hätten. Im Fall von This objective of that object kann dies heißen, dass wir, wie die Worte Sgualdinis vermitteln, in einem Ausstellungsraum fünf diskutierenden Personen begegnen, die allenfalls über, aber nicht mit uns zu sprechen bereit sind. Und während wir erkennen müssen, dass sie nicht mit uns sprechen, nicht auf unsere Fragen antworten und nicht auf unsere Kommentare reagieren, merken wir, dass uns dies nicht behagt. Indes erzählt die Enttäuschung der Interviewerin vielleicht aber weniger von dem Wunsch, sich mit den Interpreten über das ein oder andere Thema ausgetauscht haben zu wollen, als eher von der Irritation über den Tatbestand des Ausgeschlossenwerdens an sich. Fünf Personen hätten sie als Teilnehmerin in ihre Diskussion integrieren können, aber sie taten es nicht. Genau diese Möglichkeit, dem reibungslosen Miteinander ebenso wie den widerständigen und repulsiven Bewegungen Raum zu geben, die jede zwischenmenschliche Begegnung ausmachen, ist eine der Stärken dieser Arbeit. In den Situationen, die sie und in der sie sich hervorbringt, kann alles passieren und können daher auch unversehens alle Erwartungen unterlaufen werden. Es kann eine aufgeregte oder unaufgeregte Diskussion zwischen den Besuchern und Interpreten entstehen oder stattdessen zu Ablehnungen und gar zu einem Widerstreit kommen, der sich nicht erst und nicht allein im Austausch von Meinungen und Ansichten niederschlägt, sondern bereits in der Verhandlung des Zugangs zur Teilnahme an diesem Austausch selbst. In all seinen Werken werden die Interpreten und Besucher von Sehgal ermächtigt, deren Materialisierungen mitzugestalten. Was bei This objective of that object durch die im Vergleich zu den meisten frühen Arbeiten wesentlich komplexere Dramaturgie in signifikanter Weise thematisch wird, sind neben den unterschiedlichen Gestaltungen und Gestaltbarkeiten der Er-

44 T. Sehgal/S. Sgualdini: »The objectives of the object«, S. 175. 45 Zum diastatischen Verhältnis von Erwartung und Enttäuschung vgl. Jens Roselt: »Erfahrung im Verzug«, in: Erika Fischer-Lichte/Clemens Risi/ders. (Hg.): Kunst der Aufführung. Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 27-39, hier: S. 36.

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fahrungssituationen gleichsam die Dynamiken und Machtverhältnisse, die zwischenmenschliche Beziehungen immer schon prägen: Inklusion und Exklusion, Überlegenheit und Unterlegenheit, Stärke und Schwäche, Angriff und Verteidigung. Zumal in der Londoner Version von This objective of that object traten diese Dimensionen prägnant zutage.46 Obgleich Sehgals Spieler im Unterschied zu den Besuchern auf die jeweiligen Situationen vorbereitet sind und Direktiven oder Regeln bei der Hand haben, sind die Möglichkeiten, mitbestimmen zu können, bzw. die Notwendigkeiten, sich bestimmen lassen zu müssen, trotzdem nicht einseitig verteilt. In diesem Punkt ist Sgualdini zu widersprechen. Die Interpreten mögen entscheiden können, ob sie die Besucher in eine Diskussion integrieren, doch bedeutet dies noch lange nicht, dass sie den Besuchern gegenüber grundlegend im Vorteil sind. Sehgal hat die Situationen so konzipiert, dass jede verbale oder nonverbale Setzung, jedes Tun oder Unterlassen – man könnte auch sagen: jeder einzelne Zug in diesem Beziehungsspiel – die jeweiligen Verhältnismäßigkeiten erst performativ hervorbringt und sie insofern immer wieder verändern kann. Von der Diskussion ausgeschlossen zu werden, heißt nicht, aus der Situation ausgeschlossen zu sein, heißt nicht, nicht mehr ›mitspielen‹ zu dürfen und seines Einflusses auf den Fortgang der Situation beraubt zu sein. Der Nachteil, als Besucher die Regeln nicht von Beginn an zu kennen, sondern erst im Verlauf des Spiels herausfinden zu müssen, wie man auf die Verhältnisse einwirken kann, ist insofern ein nur vermeintlicher. Er bedingt Entscheidungen, bedingt ein Austesten und den Versuch, die Gestaltbarkeit der Verhältnisse zu eruieren, und stellt somit auch die Interpreten vor immer neue Herausforderungen. Im Gegensatz zu Squaldini hatten meine Begleiterin und ich nicht vor, uns in das Gespräch der Interpreten einzumischen. Wie sich zeigte, blieb die Verweigerung zum Mitdiskutieren gleichwohl nicht ohne Folgen. Gerade durch unser Nichttun zwangen wir die Interpreten buchstäblich in die Knie und zu Boden und evozierten somit die Bestätigung des Gesetzes, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Wir setzten einen Prozess in Gang, in dem wir uns zunächst in der günstigeren Position wähnten. Allerdings mündete dieser Prozess in einem durchaus ambivalenten Ergebnis. So hatten wir uns zwar den Kommentaren der Interpreten erfolgreich entzogen und es geschafft, nicht mehr zum Gegenstand der Diskussion zu werden. Doch auf

46 Über die Arbeit in London sagte Sehgal: »I prefer when [the players] include the people a little, but I leave it up to them to decide. It’s their decision and not mine. […] When I showed the work in Cologne, they were almost not speaking about but only speaking with. I guess, here at the ICA, I rehearsed them to speaking about maybe a bit too much and now they are really quite violent. I said to them: ›You are violent when you do it‹, but they are on track and they are going for it. This is fine by me.« Zit. nach T. Sehgal/S. Sgualdini: »The objectives of the object«, S. 175.

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diese Weise hatten wir eine Situation herbeigeführt, die uns am Ende vor die eigenen Füße fiel. Was dieser unvorhergesehene Verlauf zum Vorschein brachte, war so simpel wie tiefgründig zugleich. Denn in dem Maß, wie die an Kraft verlierenden Körper und Stimmen verdeutlichten, dass die Gelingensbedingungen dieser Arbeit nicht mehr erfüllt waren, brachten sie desgleichen zum Ausdruck, dass diese Gelingensbedingungen dieselben sind wie die einer jeden sozialen Beziehung. Die bedeutsamste Eigenschaft eines Sozialprozesses, schrieb der Soziologe Karl Otto Hondrich, ist »[…] seine Gegenläufigkeit oder Dialektik. […] Eine Bewegung im sozialen Raum, in welche Richtung auch immer, läuft nicht unendlich weiter, sondern nur so lange, wie sie ein Gegenüber findet, das ihr Halt, Einhalt, Widerstand bietet und sie zurückwendet. Eine Beziehung hin wird zu einer sozialen Beziehung erst durch eine Beziehung her. Im Hin und Her zwischen Seite und Gegenseite bildet sich die soziale Beziehung als gegenseitige und wechselseitige […].«47

Diese Notwendigkeit der Erwiderung als Voraussetzung für das Funktionieren einer sozialen Beziehung stellte dieser Verlauf von This objective of that object in eindrücklicher Form heraus. Die existenzielle Bedeutung der Erwiderung ist ein Thema, das im Film, in der Literatur oder im Theater ebenfalls häufig Verhandlung findet. Blickt man in Richtung der dramatischen Texte, die dieses Thema für das Theater aufbereitet haben, so wird man fündig vor allem bei Beckett, der es in seinen Dramen in unterschiedlichen Variationen aus- und durchbuchstabierte. Interessant ist der Verweis auf Beckett an dieser Stelle jedoch nicht nur, weil sich Beckett wie kaum ein Anderer mit der Darstellung den Fragen beschäftigte, wie sich das Ausbleiben von Rückmeldungen und Reaktionen auf das Gegenüber auswirkt und sich das Nicht-antworten-können oder Nichtantworten-wollen einerseits in einer sozialen Beziehung und andererseits in der Subjektkonstitution der an ihr Beteiligten niederschlägt. Interessant ist der Verweis auf Beckett auch, weil er in Happy Days, in jenem Drama, in dem er diese Fragen vielleicht am pointiertesten verhandelte, ein Szenario entwarf, welches demjenigen nicht unähnlich ist, das wir bei This objective of that object mit unserer Reaktionsverweigerung hervorgebracht hatten. Wir erinnern uns an die ohne Unterlaß sprechende Winnie, die im ersten Akt zunächst mit dem Unterkörper, im zweiten Akt dann bis zum Hals in einem Erdhügel steckt. Und wir erinnern uns an ihren Mann Willie, der sich hinter diesem Erdhügel aufhält und so gut wie keinen Laut von sich gibt. Winnie erzählt Geschichten aus ihrem Leben, kommentiert ihr Dasein und

47 Karl Otto Hondrich: »Gefühle als soziale Beziehungen«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München 2006, S. 107-123, hier: S. 111.

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versucht ihrem Mann immer wieder aufs Neue eine Reaktion zu entlocken. Wenn er sich hin und wieder tatsächlich zu einer einsilbigen Antwort hinreißen lässt, ist es für Winnie ein glücklicher Tag48 – weil er mit ihr spricht und ihr dabei vermittelt, dass er, zu dem sie sich im zweiten Akt nicht einmal mehr umdrehen kann, da ist, dass er sie hört und ihr noch zuhört. Willies knappe Antworten und die wenigen Geräusche, die er von sich gibt, sind für Winnie von geradezu existenzieller Wichtigkeit. Sie bedeuten ihr, dass Willie sie nicht allein zurückgelassen hat, und bestätigen ihr, dass es noch wenigstens eine Person gibt, die ihre Existenz bezeugt. Was aus unserer Reaktionsverweigerung resultierte, war ein Verhältnis zwischen uns und den Interpreten, das mit demjenigen zwischen Winnie und Willie vergleichbar ist, sofern wir uns, wie Willie, im Rücken der Sprechenden aufhielten, und sofern sie, wie Winnie, mit dem Schweigen von Personen konfrontiert waren, die sie nicht zu sehen vermochten.49 Beckett war ein Meister im Konstruieren von Situationen, auf deren Veränderungen die Protagonisten keinen Einfluss zu nehmen imstande sind. Nie weiß man, wie seine Figuren in diese Situationen geraten sind. Lediglich ahnt man, dass sie erst der Tod, freilich aber kaum der Freitod aus ihnen befreien wird. Keine Veränderbarkeit nirgends. Im Unterschied zu Beckett, der seiner im Erdhügel gefangenen Protagonistin sodann auch keine Möglichkeit einräumt, die Beziehung zu ihrem Mann entweder anders zu gestalten oder ihr gar zu entfliehen, der ihr keine Redepause gönnt, sie in einem ununterbrochenen Monolog vielmehr Trost und Kompensation für den von ihrem Mann verwehrten Dialog finden lässt, hält Sehgal seine Spieler dazu an, das Schweigen der Besucher mit ihrem eigenen Schweigen zu beantworten und es auf sie zurückzuwenden. Weil bei Sehgal den Besuchern nicht darstellend vorgeführt wird, was sich aus der Verweigerung von Reaktionen und Rückmeldungen ergeben kann, sondern die Besucher als Beteiligte an diesem Beziehungsspiel entworfen sind, können sie sich letztlich und zumindest so lange, wie sie sich zum Bleiben entscheiden, nie aus ihm herausziehen. In der Ausstellung zu

48 »Oh you are going to talk to me today, this is going to be a happy day!« Zit. nach Samuel Beckett: »Happy Days«, in: ders.: Dramatische Dichtungen I (in drei Sprachen), Frankfurt a.M. 1981, S. 146-233, hier: S. 172. 49 Es zeigt sich insbesondere an dieser Konstellation, dass Sehgal die Situationen so konzipierte, dass sich, je nach Perspektive oder Spielzug, jeder Vor- oder Nachteil in sein Gegenteil verkehren kann. Denn in dem Maß, wie es die Besucher als ungastliche, als abweisende Geste empfinden können, dass diejenigen, die mit ihnen oder über sie sprechen, ihre Gesichter nicht zeigen, bedeutet es – ähnlich wie wir dies bereits bei Wurm in Kap. 2.3.2 gesehen haben – für die Interpreten wiederum eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, Personen in ihrem Rücken zu wissen, die sie nicht selbst betrachten können und deren Reaktionen vor allem dann, wenn sie sich nicht in Worten oder vernehmbaren Geräuschen äußern, unter Umständen nicht im geringsten einzuschätzen sind.

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sein, heißt nicht, nur den Beziehungen und Bezüglichkeiten Anderer zuzuschauen. Es heißt, ein Mitspieler zu sein, der gerade deshalb, weil er nicht Zuschauer einer ihn außen vor lassenden Situation sein kann, ein umso aufmerksamerer Beobachter werden muss. Was This objective of that object somit erfahrbar macht, ist eine sehr spezifische Form der Wechselwirksamkeit von Beobachtung und Teilnahme. Dass Beobachtung und Teilnahme niemals ohne einander gehen, ist keine neue Erkenntnis. Wer nicht beobachten kann, schrieb Martin Seel, »[…] kann nicht Teilnehmer sein. Wer nicht beobachten kann, wie andere auf Ereignisse in ihrer Umgebung reagieren und welche Worte sie bei welchen Gelegenheiten verwenden, kann kein Verständnis ihrer Rede gewinnen; wer nicht beobachten kann, wie sie sich dann und wann verhalten, kann den Sinn ihres Verhaltens nicht verläss50 lich einschätzen […].«

Diese Gleichursprünglichkeit von Beobachtung und Teilnahme ist stets gegeben, und daher gilt in allen Zusammenhängen und ebenso selbstverständlich bei der Rezeption darstellerischer Vorführungen, dass wir »die eine Fähigkeit im vollen Sinn nur [haben], wenn wir auch die andere haben«51. Ist bei einem Besuch im Kino oder im Theater die Verschränkung von Beobachtung und Teilnahme in der Regel jedoch Voraussetzung für die Nachvollziehbarkeit des Handlungsverlaufs oder der Entwicklung der Charaktere, so muss bei This objective of that object nicht nur beobachtet werden, um dem Geschehen folgen zu können. Beobachtet werden muss hier zugleich, um die Art der eigenen Teilnahme bestimmen zu können. Das Wie der eigenen Teilnahme lässt sich erst und nur dann klären, wenn man beobachtet, was vor sich geht. Und im selben Moment kann wiederum nur das beobachten werden, was aus der eigenen Entscheidung zum Tun oder Unterlassen resultiert und durch die eigenen Spielzüge vor sich zu gehen beginnt. Bei This objective of that object wird die Verknüpfung von Teilnehmen und Beobachten anders virulent als bei der Rezeption darstellerischer Vorführungen, und nicht zuletzt aus diesem Grund steht in unserer eigenen Verantwortung, was und wie gespielt wird, ob es ein interessantes Spiel ist oder nicht. Dass die Mechanismen dieser Arbeit vor allem regelmäßigen Theatergängern bekannt vorkommen dürften, wird kaum erstaunen. Mit seinen Versuchen, die Vierte Wand durchlässig werden zu lassen, hat das Theater seit den 1960er Jahren Zuschauer immer wieder in Mitspieler verwandelt und so Erfahrungen ermöglicht, die genau genommen zwar von jeher gemacht werden konnten, allerdings in weit weniger zugespitzer Form als in jenen Produktionen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf so genannte Zuschauer-

50 M. Seel: »Teilnahme und Beobachtung«, S. 131f. Zum Verhältnis von Teilnahme und Beobachtung siehe ausführlich den gesamten Artikel. 51 Ebd., S. 132.

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partizipation setzten. Zu allen Zeiten waren Zuschauer nie bloß Empfänger. Sie waren stets auch Sender, die mit ihren Reaktionen auf den Verlauf einer Aufführung Einfluss nahmen, selbst wenn ihnen dies oft nicht bewusst war und die Effekte ihrer Reaktionen nicht deutlich zutage traten oder treten sollten. Seit Zuschauer zu Mitspielern geworden sind und Regisseure wie Schauspieler demonstrieren, dass sie ihre Autorschaft und Definitionsmacht gewissermaßen zu teilen bereit sind, wird aber nicht nur der Einfluss des Publikums auf den Verlauf einer Aufführung thematisch. Thematisch wird dabei zugleich die Mitverantwortlichkeit aller Beteiligten. Bei This objective of that object rückt die auf alle Beteiligten sich erstreckende Mitverantwortlichkeit ebenfalls in den Fokus. Da die Besucher hier in Situationen geraten können, in denen sie sich mit den Interpreten in einem Ausstellungsraum allein aufhalten und in denen sie mit ihren Spielzügen auf deren Gestalt zwangsläufig einwirken, gelingt es dieser Arbeit, die Mitverantwortlichkeit aller Anwesenden in einer Weise erfahrbar zu machen, in der dies das zeitgenössische Theater nur in seltenen Fällen vermag. Auch im Theater zählen zahlreiche Produktionen wesentlich auf die Mitgestaltung der Besucher. Allerdings ist die Versammlung einer von den Theaterbauten präfigurierten Zuschauermenge nicht recht dafür geeignet, jedem Einzelnen das Gefühl zu vermitteln, eine Aufführung funktioniere nicht genauso gut ohne seine Anwesenheit oder sein Zutun und liefe vielleicht ganz anders ab, wenn er nicht da wäre oder sich anders verhielte. Es ist daher nicht von ungefähr, dass Regisseure und Theatergruppen, die jeden Besucher die elementare Bedeutsamkeit seiner Mitverantwortlichkeit erfahren lassen möchten, die Theaterinstitution verlassen und/oder, das Publikum auflösend, ihn zum einzigen oder zu einem von nur wenigen Besuchern machen.52 Was im Theater erst durch die Praxis der Vereinzelung bewerkstelligt wird, regeln die Besucherbedingungen in Museen und Galerien oftmals ganz von selbst – und infolgedessen kann, darf oder je nach dem: muss man sich bei This objective of that object in einer Situation wiederfinden, in der man allein oder mit nur einigen Anderen auf die Interpreten Sehgals trifft und in der jede Handlung, jedes Verhalten und jedes Wort in das Geschehen eingreift. Dem Zufall, der hier die Anzahl der Anwesenden reguliert, verdankt sich die Prägnanz, in der die Mitverantwortlichkeit jeder Person zum Vorschein tritt. Ihm verdankt sich allerdings auch, dass wir uns niemals sicher

52 Als Beispiele von Theaterproduktionen, die Besucher vereinzeln, seien hier genannt: Showcase Beat Le Mot: Showcase Super Aspirin (1998); Rimini Protokoll: Kirchner (2000/2001) und Call Cutta (2005); X Wohnungen. Theater in privaten Räumen (seit 2002 an wechselnden Orten), Konzept: Matthias Lilienthal; Dries Verhoeven: uw koninkrijk kome (2003); Mineska:Plus: Blendwerk: Rashomon::Truth lies next door (2007). Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem die zahlreichen one-on-one-Performances, die derzeit vor allem in Großbritannien Hochkonjunktur haben.

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sein können, wann der nächste Besucher den Raum betritt und was sein Eintreffen nach sich ziehen wird. Wenn das Theater die Besucher vereinzelt, so organisiert es diese Vereinzelung in der Regel mithilfe sukzessivierender Maßnahmen, bringt die einzelnen Besucher bzw. die jeweiligen Aufführungen in eine Abfolge und sorgt dafür, dass sich die Rezipienten nicht in die Quere kommen. Wie wir schon bei Wurm und bei Gonzalez-Torres gesehen haben, kann hingegen im Museum ein Besucher unverhofft auftauchen. Im Fall von This objective of that object ist dieser unverhofft auftauchende Besucher imstande, das eigene Vorgehen entweder zu unterstützen oder einem das Heft aus der Hand zu nehmen. Er kann so handeln, wie man es sich selbst zurechtgelegt hat oder kann Entscheidungen treffen, die den eigenen zuwiderlaufen. Und wer im Besitz des Wissens ist, dass andere Besucher zu Störfaktoren werden können, wird diese vielleicht selbst dann schon als Gegenspieler wahrnehmen, wenn sie noch gar nicht erst erschienen sind. Dass unser Vorhaben letztlich nicht von anderen Rezipienten torpediert wurde, hatten wir genauso dem Zufall zu verdanken wie die Situation, die uns bei unserem zweiten Besuch erwartete. Wir hatten uns vorgenommen, dieses Mal anders zu agieren, und wollten, nachdem wir einige der Spielregeln bereits aufgedeckt hatten, die Erfahrungen vom Vortag nutzen, um zu sehen, inwiefern wir tatsächlich in der Lage waren, uns durch Wortbeiträge zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Womit wir nicht gerechnet hatten, war jedoch die Sachlage, dass das ICA nun wesentlich besser besucht war; als wir den Ausstellungsraum betraten, waren schon zwei mit den Interpreten diskutierende Besucherinnen anwesend. Kurz nach unserer Ankunft und noch bevor wir eruiert hatten, worum sich das Gespräch drehte, stoppten die Interpreten die laufende Diskussion. Es waren andere Interpreten, aber wie ihre Kollegen vom Tag zuvor gaben jetzt sie mehrmals nacheinander den uns schon bekannten Satz von sich: »The objective of this work is to become the object of a discussion!« Während sie das bisherige Geschehen unterbrachen, um die Veränderung der Situation anzuzeigen, mussten wir feststellen, dass die Anwesenheit der beiden Frauen unseren eigenen Vorstellungen einen Strich durch die Rechnung machte. Bewusst wurde uns aber auch, dass wir selbst diejenigen waren, die als unwillkommene Besucherinnen wahrgenommen werden konnten. Immerhin hatten wir die Unterbrechung oder gar das Ende der Diskussion eingeleitet und den beiden Frauen möglicherweise das Gefühl genommen, das wir am Vortag noch zu weiten Teilen haben durften: dass die Spieler nur für uns bzw. nur durch uns so agierten, wie sie es taten. Was demzufolge bei This objective of that object vor sich geht, ist die Entstehung und Gestaltung von Bezüglichkeiten zwischen Menschen, in denen die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Entstehung und Gestaltbarkeit selbst reflexiv werden. Man wirkt als Besucherin an der Etablierung und permanenten Veränderung einer zwischenmenschlichen Situation mit und macht dabei zugleich für sich und alle Anderen erfahrbar, dass der Entschluss, sich

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auf eine Beziehung einzulassen oder eine Beziehung aufrechterhalten zu wollen, im Kern immer schon die Bereitschaft impliziert, die eigenen Erwartungen sowie das eigene Wünschen und Wollen zur Disposition stellen zu müssen. 3.4.2 Salon der Zitate: This situation Indem er die Interaktionen zwischen den Interpreten und Besuchern mithilfe dramaturgischer Maßnahmen strukturierte, hat Sehgal mit This objective of that object die Gelingensbedingungen und Dynamiken intersubjektiver Verhältnisse ins Zentrum gerückt. Aber nicht nur das. Auf markante Weise hat er jene Mechanismen hervortreten lassen, die bei den Materialisierungen seiner Werke, in dem Miteinander sich begegnender Personen, immer schon wirksam werden – wenn auch nicht alle immer im selben Maße und in derselben Ausprägung. Wie bereits bei This is so contemporary akzentuierte Sehgal im Grunde somit auch hier gewisse Eigenheiten, die aus seiner anderen Form der Produktion zwangsläufig resultieren und diese desgleichen wesentlich charakterisieren. Ich möchte behaupten, dass eine solche Verweisstruktur allen Arbeiten Sehgals eignet und sich deshalb anhand jeder einzelnen von ihnen demonstrieren ließe, wie er Aspekte durch ein Vergrößerungsglas ansichtig macht, die in all seinen Arbeiten mehr oder weniger explizit aufscheinen. Abschließend möchte ich mich jedoch This situation, einem von Sehgals jüngeren Werken, zuwenden, das deutliche Verwandtschaftsverhältnisse zu This objective of that object aufweist. Mit This situation perspektiviert er das Thema der zwischenmenschlichen Bezüglichkeiten noch einmal anders und verknüpft die Grundideen seines künstlerischen Konzepts so miteinander, dass dieses sich in bislang vielleicht signifikantester Weise zur Ausstellung zu bringen vermag. Wechseln wir also Ort und Zeit und begeben uns in den »Hamburger Bahnhof« nach Berlin, wo This situation im Herbst 2007 präsentiert wurde. In einem der Ausstellungsräume im ersten Obergeschoss, aus dem alle Bilder und Objekte entfernt worden waren, befanden sich bei meinem Besuch etwa zwanzig Personen. Einige von ihnen standen in der Mitte des Raums oder gingen dort langsam auf und ab, andere saßen oder lagen auf dem Fußboden. Sie hörten einer Frau und einem Mann zu, die darüber diskutierten, ob Mitleid die vielleicht prominenteste Emotion der heutigen Zeit wäre und ob diese Emotion als etwas prinzipiell Gutes oder Schlechtes begriffen werden könnte. Es dauerte einen Moment, bis ich die beiden Sprechenden ausgemacht hatte. Die Frau war von meiner Position aus nicht zu sehen. Sie kauerte in einer Ecke und wurde von drei Herren verdeckt, die sich vor ihr platziert hatten. Nachdem die Diskutierenden eine Weile ihre Argumente ausgetauscht hatten, schaltete sich eine zweite, auf dem Boden liegende Frau in das Gespräch ein und sagte, Mitleid wäre vor allem dann positiv zu bewerten, wenn es sich in helfende Handlungen übersetzte. Als Beispiel

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nannte sie die Spendengelder, die den Betroffenen von Hungersnöten oder Naturkatastrophen zugute kommen. Der Mann unterbrach sie und entgegnete, Spendengelder wären seiner Ansicht nach weniger Ausdruck von Mitleid als eher von einem schlechten Gewissen. Als die beiden damit fortfuhren, ihre Meinungen zu erläutern und über die Vorzüge, die ungewünschten Nebenwirkungen und Nachteile von Spendengeldern zu debattieren, betrat eine kleine Besuchergruppe den Ausstellungsraum. Rasch beendeten die Diskutierenden ihre Rede, und kurz darauf riefen mehrere Personen gleichzeitig: »Welcome to this situation!« Das Geräusch kollektiven Einatmens wurde vernehmbar; im selben Augenblick erhoben sich drei Personen vom Fußboden und begannen sich, zusammen mit drei weiteren Personen, rückwärts gehend zur jeweils nächsten Wandseite zu bewegen. Erst jetzt, da sie im Uhrzeigersinn den Raum durchschritten, sich dabei vorsichtig umsahen, um niemanden anzurempelten, und ihre neuen Plätze einnahmen, löste sich die bisherige Ununterscheidbarkeit zwischen den Interpreten und Besuchern auf und wurde ersichtlich, wer zu Sehgals Spielern zählte und wer nicht. An diesem Tag waren es vier Frauen und zwei Männer. Zwei der Frauen ließen sich nun an der linken Querseite des Raums kniend auf dem Fußboden nieder. Eine von ihnen führte die ausgestreckten fünf Finger ihrer beiden Hände so zusammen, als umfasste sie einen unsichtbaren Gegenstand. Die andere wiederum winkelte ihren rechten Arm an, gerade so, als hielte sie einen unsichtbaren aufgespannten Schirm. An der Längsseite lehnte sich die dritte Frau an die Wand. Sie knickte leicht ihre Beine ein, legte ihre linke Hand auf ihren rechten Oberschenkel und griff mit der rechten Hand nach ihrem linken Ellenbogen. Mit dem Gesicht zur rechten Querseite des Raums setzten sich die beiden Männer nebeneinander auf den Fußboden, beugten ihre Knie und starrten an die Wand. Die vierte Frau brachte sich vor der zweiten Längsseite in Position. Auch sie winkelte ihren rechten Arm an, und auch sie sah so aus, als hielte sie einen unsichtbaren aufgespannten Schirm in der Hand. Kaum hatten die Interpreten ihre Stellungen bezogen, sagte einer der beiden Männer: »In 1710 somebody said: ›Sein ist wahrgenommen werden.‹« Als er anschließend den Faden der vorherigen Diskussion wieder aufnahm, lösten sich alle sechs aus ihren Posen. In langsamen Bewegungen veränderten sie die Positionen ihrer Arme und Beine, und wie in Zeitlupe wandte sich der Mann, der zuvor den Grundsatz des Philosophen und Empiristen George Berkeley ausgesprochen hatte, von der Wand ab und zu den Besuchern in der Mitte des Raums hin. Unterdessen begann er, seine Gedanken über die Mitleid erzeugenden Mechanismen der Medien zu formulieren, denen wir es zu verdanken hätten, dass wir heutzutage in der Lage wären, auch mit Menschen Mitleid zu empfinden, die wir gar nicht kennen, und die an Orten leben, an denen wir nie gewesen sind. Wenige Minuten später wurde sein Monolog von zwei eintretenden Besucherinnen erneut unterbrochen. Es spielte sich dasselbe Prozedere ab wie zuvor: Die beiden Besucherinnen wurden mit »Welcome to this situation!« begrüßt, die Interpreten atmeten tief ein und wechselten dann, im Uhrzeigersinn rückwärts

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gehend, an die nächste Wandseite. Dort nahmen sie ihre jeweils neuen Positionen und Posen ein, bevor einer von ihnen sagte: »In 1984 somebody said: ›In reality the situation is far more complex.‹« Es war nicht klar, ob er sich mit diesem Satz auf die Diskussion über Mitleid und die Problematiken einer Spendengesellschaft oder auf die gegenwärtige Situation im »Hamburger Bahnhof« bezog. Wie so oft bei Sehgal adoptierte auch dieser Satz im Augenblick seiner Artikulation eine unhintergehbare Doppeldeutigkeit. Wer vor allem Sehgals jüngere Arbeiten kennt, wer Teilnehmerin bereits bei This objective of that object oder bei This progress (2006)53 war, weiß um die unterschiedlichen Situationen und Bedeutungen, die bei den Materialisierungen seiner Werke entstehen können, und weiß ebenso um die Unterschiedlichkeiten der Erfahrungen, die im Verlauf dieser Materialisierungen zu machen sind. Diese Diversitäten, die bei Sehgals jüngeren Arbeiten insofern konzeptuell angelegt sind, als sie sich maßgeblich im verbal-sprachlichen Austausch konstituieren, machen es unmöglich, seine Werke durch Beschreibungen mit normativem Geltungsanspruch zu fixieren. Meist ahnt man schon bei der ersten Teilnahme, dass die nächste ganz andere Ergebnisse hervorbringen wird und die einzelnen Situationen, Bedeutungen und Erfahrungen deshalb nur exemplarisch sind. Im Grunde funktionieren die einzelnen Materialisierungen eines Werks wie partikulare Steinchen eines nie zur Vollendung gelangenden Mosaiks. Die Gespräche, die bei meinem Be-

53 This progress wurde u.a. im »Hamburger Kunstverein« (30.11.2006-14.01.2007), im »Institute of Contemporary Arts« (ICA) in London (03.02.-19.03.2006) und im »Guggenheim Musum« in New York (29.01.-10.03.2010) gezeigt. Im »Hamburger Kunstverein« konnte die Materialisierung dieses Werks etwa so aussehen: Kurz nachdem man an der Kasse seine Eintrittskarte bezahlt hatte, wurde man von einem etwa sechsjährigen Mädchen in Empfang genommen, die freundlich »hallo« sagte, ihren Namen nannte und dann fragte: »Was ist Fortschritt?« Man schlenderte mit ihr durch den gänzlich leer geräumten Ausstellungsraum im Untergeschoss und erklärte ihr notdürftig und gerade so, wie man es einem Kind gegenüber für angemessen hielt, was man unter Fortschritt versteht. Plötzlich tauchte ein etwa 17-jähriger Jugendlicher auf. Das Mädchen verschwand, man wurde nun mit nach draußen genommen und fand sich auf der Außentreppe wieder. Während man selbst voranschritt, die Treppe hinauf, durch den Lieferanteneingang im ersten Stock wieder ins Gebäude zurück und in den nächsten objektund bilderfreien Ausstellungsraum hinein, tauschte man Gedanken zum Thema Fortschritt aus. Es wurden Thesen formuliert und wieder verworfen, bis eine Frau, etwa Mitte dreißig, um die Ecke einer Stellwand bog und sich zur neuen Diskussionspartnerin machte. Nach einigen Minuten wurde das Gespräch erneut, dieses Mal von einem Mann um die 70, unterbrochen. Mit ihm stieg man die Treppe wieder ins Erdgeschoss hinab, bis man wieder in der Kassenhalle angelangt war. Siehe hierzu auch die Tagebucheintragungen von Jörg Herrmann, der von seinen Erfahrungen als Interpret von This progress berichtet. Vgl. Jörg Herrmann, http://sehgalblog.blogspot.com/

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such im »Hamburger Bahnhof« geführt wurden, mögen den Schluss nahe gelegt haben, bei dieser Arbeit ginge es um die Funktion von Mitleid im zwischenmenschlichen Miteinander. Wer lange genug blieb oder an einem anderen Tag in die Ausstellung kam, konnte hingegen Diskussionen verfolgen, in denen das Wort Mitleid nicht ein einziges Mal fiel. Unter Umständen unterhielten sich dann nicht nur andere Interpreten miteinander. Gesprochen wurde auch über ganz andere Themen, sodass dann der Eindruck entstehen konnte, This situation wäre eine Arbeit über feministische Standpunkte, über ökonomische Ziele, soziologische Fragestellungen oder – wie sich bei meinem zweiten Besuch vermuten ließ: über den Situationismus. An diesem Tag sprachen die Interpreten über die Eigenschaften und Definierbarkeiten von Situationen und zitierten dabei immer wieder die Situationisten herbei (deren Aussagen im Übrigen die einzigen waren, die durch die Beifügung der Interpreten »the Situationists said« eine Zuordnung erfuhren, während auf alle anderen zitierten Autoren und Autorinnen lediglich mit »somebody said« Bezug genommen wurde). Ausführlich erörterten die Interpreten, ob die Situation eher mit der Kategorie des Raums oder mit derjenigen der Zeit in Verbindung steht, und überlegten, wie sich Anfang und Ende einer Situation eigentlich bestimmen lassen. Nachdem sie sich eine Weile darüber ausgetauscht hatten, was eine Situation als solche überhaupt kennzeichnet, unterbrach eine der Interpretinnen plötzlich das Gespräch und adressierte eine Besucherin, die ihre Haare zu einer Hochsteckfrisur zusammengebunden hatte und ein auffällig gemustertes schwarz-weißes Minikleid trug: »Mir gefällt die Art, wie Sie gekleidet sind und wie Ihre Haare zurechtgemacht sind. Sie sehen beinahe selbst aus wie eine Erscheinung aus den 60er Jahren und stellen eine wunderbare visuelle Komponente zu dieser Situation dar.« This situation ist eine Arbeit, bei der alle erdenklichen Themen ihren Platz finden können, wenn es die Interpreten und/oder die Besucher nur gestatten. Lässt man sich auf diese Arbeit ein, so merkt man, dass sich die zahlreichen Themen auf der Basis eines Repertoires an mehr oder weniger bekannten Sentenzen entwickeln, die die Interpreten in verschiedenen Abständen aus dem Hut zaubern. Sechs Personen suchen einen Autor. Im Unterschied zu den sechs Protagonisten in Luigi Pirandellos Theaterstück Sei personaggi in cerca d’autore suchen sie aber nicht einen Autor, der ihnen dabei helfen soll, ihr persönliches Schicksal zu dramatisieren und zur Aufführung zu bringen.54 Stattdessen suchen sie sich immer wieder andere Au-

54 Sehgals Interpreten unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht nur von den Protagonisten in Pirandellos Theaterstück, sondern vor allem auch von den Darstellern in denjenigen Produktionen des zeitgenössischen Theaters, die unter dem Stichwort des dokumentarischen Theaters oder Dokumentartheaters firmieren und so genannte Alltagsspezialisten auf die Bühne bringen. Diese Alltagsspezialisten sind keine Schauspieler. Es sind Menschen aus dem »wahren« Leben: ehemalige Mitarbeiter der Fluggesellschaft »Sabena«, Richter, Politiker oder Be-

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toren aus, mit deren Hilfe sie die jeweiligen Gespräche in Gang setzen, sie beleben oder ihnen eine veränderte Stoßrichtung geben. Die Interpreten zitieren sich durch die vergangenen Jahrhunderte, und manche Zitate tauchen dabei innerhalb weniger Stunden wiederholt auf, andere nur ein einziges Mal. Bisweilen löst ein Zitat eine längere Debatte aus. Gelegentlich aber, wenn neu eintretende Besucher sie dazu zwingen oder sich eine Debatte zu erschöpfen droht, springen die Interpreten im Eiltempo zwischen Autoren oder Autorinnen hin und her, wechseln unversehens von Michel Foucault zu John Kenneth Galbraith, von Guy Debord zu Max Weber, von Donna Haraway zu jemandem, dessen Namen bestenfalls nur zu erahnen ist. »A kind of time travel unfolds«,55 schrieb Roberta Smith über diese Arbeit und benannte damit gleich in zweifacher Hinsicht, was bei This situation im Beisein der Besucher geschieht. Denn während die Interpreten einerseits einen Autor nach dem anderen in Worten herbeizitieren und im Bezug auf dessen Gedanken ihre individuellen Wissensbestände, Biografien und Erfahrungen durchforsten, um ihre Haltungen kundzutun, ihre Meinungen auszubilden und sich über banale Alltagsbegebenheiten zu unterhalten oder sich intellektuelle Wortgefechte über verschiedene Positionen in akademischen Diskursen zu liefern, berufen sie sich andererseits mit ihren Körpern auf Posen aus der Geschichte der Malerei: Die Pose der Frau, die auf dem Fußboden kniend ihre ausgestreckten Finger zusammenführt, sowie die Pose ihrer Nachbarin, die ebenfalls auf dem Fußboden kniend ihren rechten Arm anwinkelt, erinnern an einen Ausschnitt aus Seurats La grande jatte (1884-86) – zwei elegante Damen, die auf diesem Bild im Gras sitzen, die eine einen kleinen Blumenstrauß haltend, die andere einen Sonnenschirm in der Hand. Ein andermal, in der Konfiguration von drei auf dem Boden sitzenden Interpreten, taucht dann die kleine Gesellschaft aus Manets Le déjeuner sur l'herbe (1863) auf. In diesen Bezugnahmen auf Sentenzen und Posen materialisiert sich This situation als eine Art Salon, in dem zugleich einige Spezifika insbesondere der Konversationssalons hervortreten, die im 17. Jahrhundert als regelmäßige gesellige Zusammenkünfte intellektueller Zirkel in Frankreich entstanden waren und sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsächlich in Paris, Berlin und Sankt Petersburg als feste Institutionen etabliert hat-

stattungsunternehmer. Sie verkörpern keine dramatischen Figuren und stellen keine fiktiven Handlungsabläufe dar. Sie präsentieren ihre individuellen Geschichten, ihre Lebenssituationen und sich selbst. Vertreter dieser Theaterform sind u.a. Rimini Protokoll oder Lubricat. Siehe hierzu Eva Behrendt: »Die Alltagsspezialisten«, in: Jahrbuch Theater heute, Berlin 2003, S. 52-63, sowie Miriam Dreysse/Florian Malzacher: Experten des Alltags – Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007. 55 Roberta Smith: »Art in Review. Tino Sehgal«, in: The New York Times vom 14.12.2007.

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ten.56 Mit This situation begibt sich Sehgal gewissermaßen in eine Rolle also, die einstmals den adeligen und späterhin den bürgerlichen Frauen vorbehalten war und es ihnen ermöglichte, sich mit der Veranstaltung und Organisation dieser kulturellen Einrichtung eine gesellschaftlich einflussreiche Domäne zu erobern: in die Rolle des Initiators geistreicher Gesprächsrunden, in denen vergnüglich geplaudert oder erhitzt debattiert wird. Mit Blick auf Sehgals Werk und erfahrungsästhetischen Ansatz erscheint diese Anlehnung an den klassischen Konversationssalon als ein so interessanter wie beinahe schon konzeptionslogischer Schritt. Exemplarisch steht der Konversationssalon für Situationen, die durch das gesprochene Wort und die im Sprechen sich entfaltenden Inhalte gestaltet werden. Als Einrichtung, die Ereignissen verpflichtet ist, welche ohne den Einsatz materieller Objekte auskommen und per definitionem kontingent und flüchtig sind, korrespondiert sie auf geradezu musterhafte Weise mit Sehgals künstlerischer Praxis. Mit der Entscheidung, This situation als salonartige Veranstaltung zu inszenieren, wirft er so ein Licht auf die gemeinsamen Seinsbedingungen des Salons und seiner eigenen Werke. Er zeigt auf, inwiefern sich der Salon als ein Modell für seinen künstlerischen Anspruch begreifen lässt. Keineswegs beschränkt sich das Modellhafte des Salons allerdings auf die Unstofflichkeit, Kontingenz oder Flüchtigkeit der sich situativ entwickelnden Worte, Gedanken und Bezüglichkeiten. Es kristallisiert sich auch darin, dass in den Salons stets auf die Protokollierung der geführten Gespräche verzichtet wurde und Rückschlüsse auf den Inhalt oder den Charakter der jeweiligen Zirkel heutzutage allenfalls unter Berufung auf Berichte von Teilnehmern gezogen werden können.57 In diesem Sinne hat der Salon selbst vorgeführt, was es bedeutet, etwas zu produzieren, das nicht als etwas stofflich Fixiertes in die Welt kommt und dennoch in der Lage ist, den temporären Veranstaltungen sowie vor allem deren Initiatorinnen zu Ansehen und Einfluss zu verhelfen. In bislang all seinen Arbeiten hat Sehgal demonstriert, wie sich sein Anspruch auf die Produktion unstofflicher Kunstwerke mit der Hinwendung zu Situationen realisieren lässt, die sich allein in der gleichzeitigen Anwesenheit von Interpreten und Besuchern materialisieren. Indem er Zusammenkünfte von Diskutanten organisiert, betont er in This situation die Bedingungen, Kennzeichen und Effekte intersubjektiven Miteinanders jedoch noch einmal anders als bisher: Er ebnet den Weg für intersubjektive Situationen qua verbal-sprachlichem Austausch und ermöglicht so, dass zur selben Zeit im verbal-sprachlichen Austausch über politische, ökonomische oder gesell-

56 Zur Begriffsgeschichte des Salons und zur Definition des Konversationssalons siehe Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914), Berlin, New York 1989, hierin insb. das Kap. »Bemerkungen zum Salonbegriff«, S. 16-32. 57 Ebd., S. 1f.

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schaftliche Sachlagen reflektiert werden kann. Die Zitate, die den Interpreten als thematische Bezugspunkte zur Verfügung stehen, sind daher trotz ihrer Vielseitigkeit mitnichten beliebig. Sie dienen allesamt der Generierung von Diskussionen, die um die Fragen kreisen, wie verschiedene Lebensbereiche zwischenmenschliches Miteinander entwerfen oder wie zwischenmenschliches Miteinander durch das Ein- und Zusammenwirken dieser Lebensbereiche affiziert wird. Die Zitate begünstigen ein Nachdenken über das Zusammensein und Zusammenleben von Menschen, während sie ihrerseits Antworten auf oder Thesen zu diesen Fragen formulieren. Allerdings entsteht bei einer Materialisierung von This situation weit mehr als nur eine Gesprächssituationen, in der gegenwärtige wie historische Phänomene, Ideen und Entwürfe auf den Prüfstand geraten. Wenn die Interpreten Aussagen über die Kunst der Konversation, über identitätsbildende Handlungen oder gesellschaftliche Zustände zitieren, dann erzählen sie zugleich etwas über die konkreten Situationen, die sie durch die Artikulation dieser Aussagen generieren. Sie stellen eine Selbstbezüglichkeit her und lassen die zitierten Sätze oder die aus ihnen resultierenden Gespräche als Kommentare zu den jeweiligen Materialisierungen von This situation erscheinen. Und in jenen Momenten, in denen die Zitate als Verweise auf die Gesprächssituationen dienlich werden, erhellen sie nicht selten auch den Blick auf Sehgals künstlerische Ambition. In den Debatten etwa um das Verhältnis von Technologie und Fortschritt oder um ökonomische und soziale Nachhaltigkeit macht sich sein Koordinatensystem bemerkbar, und es wird deutlich, inwiefern bei This situation die einzelnen Fäden seines Werks zusammenlaufen. Sehgal, der, anders als viele der Salonnières, bei den Zusammenkünften seiner Diskutanten, seiner Habitués, nicht selbst als Moderator zugegen ist, gewinnt durch die Zitate eine mal mehr, mal weniger vernehmliche Präsenz, in der sich sodann die doppelte Stellvertreterfunktion enthüllt, die diesen Zitaten zugewiesen ist: Anstelle des Salonherren übernehmen sie die Aufgabe, tote Punkte in den Gesprächsverläufen zu verhindern oder zu überwinden, und bringen trotz dessen Abwesenheit seine thematischen Interessen und Leitlinien ins Spiel. Kaleidoskopisch tauchen sämtliche Inhalte und Fragestellungen auf, die schon für Sehgals andere Arbeiten kennzeichnend waren, sodass sich in This situation sozusagen die Grundbausteine von Sehgals Werk präsentieren. This situation bringt zur Sprache und in die Diskussion, worum es in diesem Werk geht, und gibt die ihm zugrunde liegenden Interessen und Leitlinien wiederum insofern zur Verhandlung frei, als die Interpreten Thesen und Ansichten formulieren können, die denen von Sehgal durchaus zu widersprechen vermögen. Weil immer etwas geschieht und immer über etwas gesprochen und debattiert wird, das zum Mitdenken einlädt, ist es für einen Zugang zu This situation nicht entscheidend, die Querbezüge zu Sehgals anderen Arbeiten zu erkennen. Für diejenigen, die sie erkennen, eröffnen sich Dimensionen, die Form und Inhalt des Gesagten ebenso übersteigen, wie für diejenigen, die

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mit den jeweiligen Sentenzen und Posen vertraut sind. Wenn beispielsweise aus dem Mund des Interpreten, der die Pose einer Figur aus Manets Le Déjeuner sur l'Herbe einnimmt, der Satz erklingt: »In 1957 the Situationists said: ›Die Leidenschaften sind oft genug interpretiert worden, es kommt jetzt darauf an, neue zu finden‹«, oder wenn eine die Pose aus Georges Seurats La grande jatte verkörpernde Interpretin von sich gibt: »In 2003 somebody said: ›The relation is the smallest unit of analysis and the relation is about significant otherness at every scale‹« – so verbindet sich eine Pose aus der einen mit einer Aussage aus einer anderen Epoche. In jenen Momenten entwickelt diese Arbeit eine subtile Komik, die sich aus der Vorstellung ableitet, die Figuren auf den Bildern von Manet, Seurat oder anderen Malern könnten selbst diejenigen sein, die die entsprechenden Zitate in ihren Mündern führten und sich auf ihrer Basis unterhielten. In dem Maß, wie die Interpreten mit ihren Körpern und Worten eine Pose zu einer Bemerkung oder These ins Verhältnis setzen, rücken sie beide in ein anderes Licht. Sie fügen ihnen etwas hinzu oder wenden sie um und evozieren derart die Idee, die Figuren, deren Posen sie einnehmen und die sich bei einem Picknick unter Bäumen am See befinden, sprächen oder sinnierten über Emotionen, über Tugenden, ethisch-moralische Werte oder die Bedeutsamkeit des Salons für die Rolle der Frau. Wenngleich es nicht ausschlaggebend ist, die einzelnen Posen und Sentenzen zu kennen oder zu erkennen, erfüllen diese ihren Zweck auch dort, wo sie fremd und vielleicht unverständlich bleiben. Sie sind keineswegs nur schmuckes Beiwerk. Mit ihnen sowie mit der Idee, dass sich die Interpreten nur im Modus der Zeitlupe bewegen, vor jedem Positionswechsel tief einatmen und neu hinzukommende Besucher mit »Welcome to this situation« begrüßen sollen, verleiht Sehgal den salonartigen Materialisierungen dieser Arbeit eine Struktur und Dramaturgie, die die Gemachtheit der sich entfaltenden Situationen unterstreichen. Sehgal deckt ihre Konstruktionsprinzipien auf und exponiert damit seine ganz eigene Antwort auf die Frage, wie sich eine Situation herstellen lässt. Diese Antwort liest sich sodann als Entgegnung auf die so häufig implizit oder explizit durch die Materialisierungen dieser Arbeit geisternden Situationisten, deren erklärtes Hauptanliegen es war, durch die Konstruktion von Situationen »eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durch[zu]führen: die materielle Ausstattung des Lebens und Verhaltensweisen, die diese Ausstattung hervorbringt und durch sie erschüttert wird.«58

58 Guy Debord: »Rapport über die Konstruktion von Situationen« (1957), in: Roberto Ohrt (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 28-44, hier: S. 39. Zu den Situationisten siehe außerdem: Situationistische Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I. in zwei Bänden (Bd. 1; S.I. Nr. 1-7) und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12), Hamburg 1976. Einen Überblick über die Anliegen der Situationisten bietet Roberto Ohrt:

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Wie diese Situationen genau auzusehen hatten, mit deren Hilfe sie nichts Geringeres zu erreichen suchten als eine grundlegende gesellschaftliche Umformung, ließen die Situationisten weitgehend unbenannt. Die von Sehgal ins Spiel gebrachte Künstlichkeit unterstreicht die Inszeniertheit seiner Situationen und markiert die Interpreten als von ihm instruierte Spieler. Auf diese Weise lässt Sehgal sie von den anderen Besuchern unterscheidbar werden und verdeutlicht, dass es sich bei ihnen nicht um eine Privatgesellschaft handelt, die nur zufällig ins Museum geraten ist, ihre Gesprächsrunde ebenso gut aber an einem anderen Ort abhalten könnte. Es ist diese ausgestellte Künstlichkeit, die die Besucher wissen lässt, dass die Interpreten für sie da sind, dass sie für sie agieren, denken und sprechen und sie einladen, an diesen Gesprächen teilzunehmen. Vor allem für jene, die beim Besuch von This situation zum ersten Mal mit einer Arbeit Sehgals in Berührung kommen, mag je nach Situation keineswegs gleich mit Sicherheit feststehen, in welcher Form eine solche Teilnahme vorgesehen ist. Wie schon bei This objective of that object mag man sich auch hier fragen, ob es angemessen ist, in die Diskussionen einzugreifen, oder ob es nicht eher der Idee des Werks entspricht, ihnen nur zuzuhören. Es gibt Situationen, in denen Besucher das Wort ergreifen, sich in die Gespräche einmischen, Thesen in Zweifel ziehen oder eigene Meinungen formulieren. Und es gibt Situationen, in denen Interpreten die Besucher ansprechen und sie fragen: »Oder was denken Sie?« Dies sind die Momente, in denen sich die Idee des Rezipienteneinbezugs unter Beweis stellt und in denen die Möglichkeiten ihrer Involvierung Evidenz gewinnen. Ob sie von diesen Einladungen Gebrauch machen, ist indes nicht kalkulierbar. Bisweilen beteiligen sich die Besucher an den Diskussionen; dann wiederum ist zu beobachten, wie es denjenigen, die gefragt werden, was sie denken, geradewegs die Sprache verschlägt. In der Verweigerung oder dem Unvermögen, mitdiskutieren und die eigene Meinung sagen zu wollen, sowie in der Entscheidung der Interpreten, die Besucher zu ignorieren oder auf ihre Beiträge kaum einzugehen, bringt sich auch bei dieser Arbeit die Kehrseite ihrer Öffnung zum Publikum zur Geltung. Einerseits gestattet sie einen Austausch zwischen Interpreten und Besuchern, andererseits eignet ihr die Möglichkeit des Entzugs und der Absage. In diesem Punkt sind sich This objective of that object und This situation nicht unähnlich. Verändert jedoch bei This objective of that object alles, was die Besucher tun oder unterlassen, jede Geste oder jedes Schweigen die Situationen oder findet Eingang in die Diskussionen, so begibt sich This situation weit weniger in Abhängigkeit zu den Besuchern. Sehgal hat bei This situation die Koordinaten geändert, hat statt der Besucher nun die zu zitie-

Phantom Avantgarde: Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1990; eine Zusammenfassung der wichtigsten Selbstaussagen und Ansprüche der Situationisten findet sich bei Thomas Y. Levin: »Geopolitik des Winterschlafs«, http://www.si-archiv.tk/

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renden Sentenzen und Posen zu den bestimmenden Orientierungspunkten der Interpreten werden lassen. Wie in den mitunter verteilten Komplimenten deutlich wird, heißt dies zwar nicht, dass deren Verhalten – oder wie im Fall der Frau mit dem schwarz-weißen Minikleid: deren Aussehen – nicht trotzdem zum Anlass für einen Kommentar genommen werden kann. Doch selbst wenn die Interpreten jemandem mitteilen, was ihnen an ihm auffällt oder gefällt, und so zu erkennen geben, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken, machen sie das Auftreten der Besucher trotzdem nicht zum Gegenstand ihrer Gespräche. Sehgal erlaubt den Interpreten bei This situation mit anderen Worten, auf die Tätigkeiten und das Verhalten der Besucher einzugehen, gestattet ihnen aber zugleich, von ihnen abzusehen – und gibt somit den Besuchern gleichsam die Freiheit, nur Zuschauer und Zuhörer sein zu dürfen. Sie können mitdiskutieren oder sich zurückziehen. Und sie können, je nach Belieben und eigenem Interesse, für kurze oder lange Zeit verweilen, denn anders als This objective of that object kennt diese Arbeit kein inszeniertes Ende. So lange das Museum geöffnet und mindestens ein Besucher anwesend ist, wird weiter gedacht und gesprochen, wird weiter von einem Themenkomplex zum nächsten mäandert und sich weiter von einer Position und Pose zur nächsten bewegt. Vergleicht man Sehgals Konzeption der Besucherrolle bei This situation mit derjenigen bei This objective of that object, so mag man konstatieren, dass er sich bei This situation insofern an einem eher klassischen Betrachtermodell orientierte, als den Besuchern ihre Mitverantwortlichkeit für das Geschehen nicht ständig vor Augen geführt wird und sie sich nicht ununterbrochen mit den Folgen des eigenen Tuns auseinandersetzen müssen. Obschon sie in die Lage versetzt sind, sich im Hintergrund zu halten und den Interpreten bei der Arbeit in derselben Weise zuzusehen, wie es die Zuschauer eines Bühnenspiels im Theater können, ist diese Diagnose dennoch nicht ganz richtig. Denn letztlich nimmt die Entscheidung, in eine Diskussion einzugreifen oder ihr bloß zuzuhören, auch bei This situation Einfluss auf die jeweilige Situationsgestalt. Auch hier ist jeder Wortbeitrag das Ergebnis der Wahl zwischen Alternativen und stellt, wie jedes Schweigen, einen Spielzug dar. Beide Arten der Teilnahme, das sprechende oder das schweigende Teilnehmen, finden ihren Nachhall. Sie wirken sich aus auf die Diskussionen und die Bezüglichkeiten zwischen allen Anwesenden im Raum. Ganz gleich, was man tut oder unterlässt: als Besucherin bestimmt man – direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt – die Erscheinungsformen der Aufführungen sowie die Inhalte der jeweiligen Unterhaltungen mit. Aus der von Sehgal genehmigten Distanznahme resultiert nicht eine Nicht-Verantwortlichkeit. Eher bedingt sie eine Mitverantwortlichkeit, die subtiler zutage tritt als bei This objective of that object. This situation ist eine Arbeit, bei der man als Besucherin selbst entscheiden kann, wie und wann man sich in eine Diskussion einbringt. Doch was heißt es eigentlich mit Blick auf die Kunsterfahrungen, sich an einer Diskussion zu beteiligen?

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Gemäß der Idee des Salons rückt Sehgal die Entstehung und den Entwurf intersubjektiver Bezüglichkeiten qua verbal-sprachlichem Austausch in den Fokus. Er stellt für ein Sprechen und Nachdenken über Themen die Weichen, die ihrerseits um die Entstehung und den Entwurf zwischenmenschlichen Miteinanders kreisen, und kreiert so Situationen, in denen das Sprechen einen An-Spruch in doppelter Hinsicht impliziert: Es ist ein Sprechen, das adressiert, das Erwiderung ist und Erwiderung herausfordert. Und es ist ein Sprechen, das dem Anspruch folgt und seinerseits den Anspruch hervorruft, das eigene Wissen, die eigenen Geschichten und Meinungen exponieren und sie in der Diskussion zur Disposition stellen zu müssen. Wie es dem Salon als »Ausdrucksform der Individual- und Persönlichkeitskultur«59 zueigen ist, sind daher alle Beteiligten gefragt, sich in ihrer Subjektivität in Szene zu setzen. Sie können dabei erfahren, was es heißt, als ausgestellte und sich zur Disposition stellende Subjekte im Hin und Her, im Für und Wider, im Geben und Nehmen an der eigenen Subjektkonstitution weiterzuarbeiten. In einem Interview fragte sich Sehgal einmal, ob sich »auch durch Handlungen, Verhaltensweisen, Kommunikationsformen so etwas wie Subjektivität weiter gestalten lässt«60. This situation ist einer seiner Versuche, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Darüber hinaus exemplifiziert diese Arbeit, wie Kunst das Thema der zwischenmenschlichen Begegnung noch einmal anders in Angriff nehmen kann als wir es bei Erwin Wurm und Felix Gonzalez-Torres gesehen haben. Im Rückgriff auf den Salon, auf eine Einrichtung, die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts selbst kaum mehr als up-to-date erwies und im Zuge des aufkommenden technisierten und geschwindigkeitsbegeisterten Massenzeitalters ihren Status und ihre Wirkkraft verlor,61 gibt This situation die seltene Gelegenheit, in einer Kunstinstitution die eigene Stimme zu erheben, und verlangt, dass wir dies einerseits im Zeichen der Preisgabe dessen tun, wofür wir (ein)stehen, und andererseits im Zeichen der Bereitschaft, das anzunehmen, was Andere durch die Preisgabe ihrer Subjektivität offerieren.

59 P. Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert, S. 456. Siehe hierin außerdem das Kap. »Zeitgeist in den Salons«, S. 450-456. 60 Tino Sehgal/Peter Sloterdijk: »Kunst im Futur II«, Interview, in: Die Zeit vom 09.06.2005. 61 Über das Aussterben der Salons, speziell der Berliner Salons reflektierten auch einige der Salonnières selbst. Siehe hierzu Sabine Lepsius: Über das Aussterben der »Salons«, Berlin 1913.

4. Die Politizität intersubjektiver Erfahrungssituationen

Die vorangegangenen Kapitel haben es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Phänomen der Inszenierung aufführungshafter Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst auf die Spur zu kommen. Sie haben zu zeigen versucht, wie, weshalb und zu welchem Ende drei ausgewählte Künstler intersubjektive Begegnungen gestalten. Und vor allem waren sie bestrebt, unterschiedliche Aufführungserfahrungen durch die Inblicknahme exemplarischer Situationen ins Auge zu fassen. Im Anschluss an diese Untersuchungen lässt sich nun mit Recht die Frage stellen, was eigentlich mit diesen Ergebnissen anzufangen ist. Wie sind die aufführungshaften Kunsterfahrungen auf einer weitergehenden Ebene zu bewerten? Wie ist ihre Qualität zu bestimmen? Und was überhaupt erzählen sie über eine Kunst, die das zwischenmenschliche Miteinander in den Fokus rückt? Es werden sich diese Fragen nicht erschöpfend verhandeln lassen. Trotzdem möchte ich im Folgenden eine Antwort vorschlagen, die sich gleichsam zu den zentralen Thesen von Nicolas Bourriaud und Claire Bishop, den exponierten Protagonisten im Diskurs der so genannten relationalen Kunst, verhält.

4.1 K UNST UND P OLITIK : N ICOLAS B OURRIAUDS R ELATIONAL A ESTHETICS Seit seinem Erscheinen und hauptsächlich seit seiner englischen Übersetzung im Jahr 2002 hat Bourriauds Buch1 in der Kunstpraxis ebenso wie in der Kunsttheorie für nicht unerhebliche Aufmerksamkeit gesorgt, für eine Aufmerksamkeit, die sich zunächst seiner Leistung verdankt, ein Konzept eingeführt zu haben, das es erlaubt, so disparate Werke wie Rirkrit Tiravanijas Wohninstallationen, Christine Hills Gymnastik-Workshops, Felix Gon-

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Im Folgenden zitiere ich aus N. Bourriaud: Relational Aesthetics, der englischen Übersetzung dieses Buches. Ursprünglich erschienen ist es 1998 unter dem Titel Esthétique relationnelle im selben Verlag.

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zalez-Torres’ Candy Spills oder Vanessa Beecrofts bildhafte Aufführungen mit verschieden großen Gruppen an gleich gekleideten Männern oder Frauen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wie zahlreiche andere Werke der vergangenen Jahrzehnte lassen sie sich den etablierten Gattungen kaum mehr zuordnen. Die meisten von ihnen sind in einem Zwischenbereich von Installation, Performance, Skulptur und Bild angesiedelt, sind oftmals mehreres zugleich und doch wiederum weder als das eine noch das andere eindeutig identifizierbar. Ausgehend von der Feststellung, dass solche Arbeiten allein mit dem Verweis auf ihre hybriden Strukturen nicht angemessen beschrieben sind, hat Bourriaud das Konzept der Relationalität entwickelt, um in den Vordergrund zu rücken, was all diese Arbeiten trotz ihrer Unterschiedlichkeit verbindet: die Relationalitäten, die sie zwischen Menschen zu entwerfen sich bemühen. Relationalität ist in der Geschichte der Kunst ein allerdings keineswegs neuartiges oder exzeptionelles Phänomen. Im Gegenteil. Kunst ist immer schon relational gewesen. Sie thematisiert, inszeniert und macht stets Relationen erfahr- und wahrnehmbar, Relationen zwischen Form und Inhalt, zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Kunst und Nicht-Kunst, Werk und Betrachter, Werk und Kontext usf. Indem Bourriaud den Begriff der Relationalität nun auf Verhältnisse anwendet, die eine künstlerische Arbeit zwischen Personen in die Wege leitet, grenzt er sein Relationalitätsverständnis nicht nur von anderen Relationalitätsverständnissen ab. Er präpariert diesen Begriff vor allen Dingen auch so, dass er ihm als Grundbegriff für jene Veränderungen dienlich werden kann, die sich in den Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsweisen mit dem Aufkommen der Arbeiten abzuzeichnen begannen, denen er sich verpflichtet. Bourriaud geht es demnach um die Instantiierung einer neuen Idee von Relationalität und gleichzeitig um die Begründung einer »›relationist‹ theory of art« bzw. einer Kunsttheorie, in der »inter-subjectivity […] the quintessence of artistic practice«2 ist. Bourriaud liefert indes keine konzise oder kohärente Theorie. Vielmehr legt er eine Sammlung von Aufsätzen vor, in denen einige seiner zentralen Gedanken immer wieder schlaglichtartig auftauchen. Relational Aesthetics ist in erster Linie ein Buch, das unterschiedliche Diskurse, Konzepte und Standpunkte mit historischen Einordnungen, Künstlern und Werken lose verknüpft. Es unternimmt einen assoziativen Streifzug, in dessen Verlauf der Autor nichtsdestoweniger einige Kernthesen formuliert, die in jüngerer Zeit für durchaus kontroverse Diskussionen gesorgt haben. Auf den nächsten Seiten soll uns hauptsächlich jene These interessieren, mit der er die Bestimmung der zwischenmenschlichen Beziehungen fokussiert. Die Beobachtung, dass Künstler Werke als Katalysatoren für Situationen entwerfen, die von den Besuchern für eine gewisse Zeit gemeinsam durchlebt werden können, bringt Bourriaud zu zwei wechselseitig aufeinander bezogenen Annahmen: Zum einen erkennt er in der Gestaltung zwischen-

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menschlicher Beziehungen das primäre Anliegen, alternative Geselligkeitsformen (»alternative forms of sociability«3) erfinden und Gemeinschaftseffekte (»community effect«4) erzeugen zu wollen. Und zum anderen bescheinigt er diesem Anliegen, ein Projekt mit einer eindeutig politischen Funktion zu sein. Seine Begründung nimmt ihren Ausgang er bei der folgenden Beobachtung: »The present-day social context restricts the possibilities of inter-human relations all the more […] The general mechanisation of social functions gradually reduces the relational space. Just a few years ago, the telephone wake-up call service employed human beings, but now we are woken up by a synthesised voice… The automatic cash machine has become the transit model for the most elementary of social functions, and professional behaviour patterns are modelled on the efficiency of the machines replacing them, these machines carrying out tasks which once represented so 5 many opportunities for exchanges, pleasure and squabbling.«

Bourriauds Diagnose lässt sich zusammenfassen als die Tendenz des heutigen urbanen Lebens sowie der technologisierten oder globalisierten Welt, Menschen zunehmend voneinander zu distanzieren und zu entfremden. Der Schluss, den er aus dieser kulturpessimistischen Beurteilung im Weiteren zieht, ist so simpel wie unmissverständlich zugleich: Da sich die Möglichkeiten des Beisammenseins und des kommunikativen Austauschs immer weiter reduzierten und sich im sozialen Gefüge zahlreiche Risse bemerkbar machten, sei es nun Sache der Kunst – oder genauer: der relationalen Kunst – geworden, einen Beitrag zur Schließung der »cracks in the social bond«6 zu leisten. Um »an inter-human commerce« zu begünstigen, »that differs from the ›communication-zones‹ that are imposed on us«, habe sie es sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht, »free areas, and time spans« zu kreieren, »whose rhythm contrasts with those structuring everyday life«7. Diese These variiert Bourriaud in seinem Buch mehrfach und betont so stets aufs Neue die Situierung der relationalen Kunst vor dem Horizont eines allgemeinen kulturellen Zustandes. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er sie als eine Antwort auf die in ihrer Veränderung defizitär gewordenen Kommunikationsstrukturen begreift, auf die Virulenz zunehmend indirekter oder virtueller Begegnungen und somit als eine Maßnahme, die Bedürfnisse nach »togetherness« und unmittelbarer zwischenmenschlicher Interaktion zu befriedigen. Politisch ist die Funktion der relationalen Kunst für Bourriaud insofern also, als sie sich bemühe, soziale Gemeinschaften zu stiften und Erfahrungen des Beisammenseins zu gestatten, die in unserer gegenwärtigen

3 4 5 6 7

Ebd., S. 44. Ebd., S. 61. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 16.

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Zeit und Welt (so) kaum noch möglich seien.8 Aber Bourriaud geht noch einen Schritt weiter und assoziiert diese temporären, provisorischen Lösungen sogar mit dem Begriff der Utopie, nicht allerdings mit der Utopie im Sinne der großen, gesellschaftstransformierenden Ideen, die noch auf der Agenda der Avantgarden standen, sondern mit der Utopie im Sinne realisierbarer »life possibilities«9. »Micro-utopias« oder »neighborhood utopias«10 heißen diese künstlerisch gestifteten Gemeinschaften bei Bourriaud auch – Gemeinschaften, in denen das Eintreten für eine zukunftsgerichtete Utopie zugunsten der Modellierung von Interaktionen im Hier und Jetzt, »within the existing real«11, seine Verabschiedung gefunden habe.12 Man könnte sagen, Bourriaud traut (oder mutet) der relationalen Kunst relativ viel zu. In seiner Perspektive wird sie zu jener Sphäre des Ästhetischen, in der soziokulturelle Probleme zumindest eine vorübergehende oder behelfsmäßige Lösung erfahren können sollen. Allerdings besitzt diese von Bourriaud attestierte Ambitioniertheit eine zweite Seite und kündet ebenfalls von seiner eigenen Ambitioniertheit bzw. von seinem Bestreben, die relationale Kunst im kunsttheoretischen Diskurs verorten und als Weiterentwicklung insbesondere der Institutionskritik lancieren zu wollen. Mit Bourriaud,

8 Ebd., S. 17. 9 Ebd., S. 45. 10 »Avantgardes were about utopias. How is it possible to transform the world from scratch and rebuild a society which would be totally different? I think that is totally impossible and what artists are trying to do now is to create micro-utopias, neighborhood utopias, like talking to your neighbor, just what’s happening when you shake hands with somebody. This is all super political when you think about it. That’s micro-politics.« Zit. nach »Nicolas Bourriaud and Karen Moss. Part I, Interviewed by Stretcher« (2002), http://www.stretcher.org/archives/i1_a/2003 _02_25_i1_archive.php 11 N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 13. 12 In Anlehnung an Lothar Wolfstetter bemerkt Oskar Negt, dass Thomas Morus, der den Begriff der Utopie ins Leben gerufen hatte, mit seinem Konzept des Nichtortes oder des Nirgendwo nicht zuletzt auf ein »sinnreiches Wortspiel« abhob. Denn mit geringfügig anderer Zusammensetzung lässt sich »No Where« (Nirgendwo – u-topos) auch als »Now Here« (Hier und Jetzt – hic et nunc) lesen. Mit anderen Worten: »An die Stelle des Hier und Jetzt, das verneint wird, soll ein grundlegend anderes Hier und Jetzt treten, auf das sich der Verwirklichungswille bei allen Utopisten richtet.« Zit. nach Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 432. Bei Bourriauds Rede von der Mikro-Utopie oder der Nachbarschafts-Utopie ist dieses Wortspiel gewissermaßen beim Wort selbst genommen: Die Hervorbringung intersubjektiver Interaktionen im Hier und Jetzt ist bei Bourriaud gleichbedeutend mit der sich im Hier und Jetzt realisierenden (oder realisierten) Utopie. Inwiefern mit dem Verständnis einer Mikro-Utopie ›als bereits realisierter Utopie‹ der Utopie-Begriff eine Entleerung erfährt, kann hier nicht zum Gegenstand der Diskussion erhoben werden.

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das darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, spricht ein Autor, der desgleichen Kurator und letztlich in eigener Sache unterwegs ist. Zu jener Zeit, als er sich in seinen Texten um eine theoretische Fundierung der relationalen Kunst zu bemühen begann, war er längst selbst eine ihrer zentralen Figuren. Noch bevor er zu ihrem Cheftheoretiker avancierte, hatte er bereits mit einigen der entsprechenden Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet, um mit ihnen die Beziehungen zwischen der Kunst und ihrem Kontext aufs Neue zu befragen und auszuloten. Anders als die Institutionskritik der 1970er Jahre, die sich eher an den Bedingungen des Ausstellungsortes und den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Kunstsystems orientierte, rückte Bourriaud in seiner kuratorischen Arbeit in erster Linie die Bezugnahme der Kunst auf die gesellschaftlichen und urbanen Strukturen der alltäglichen Lebenswelt in den Brennpunkt. Und zwangsläufig stand für ihn mit dieser Bezugnahme auch eine Redefinition der tradierten Obliegenheiten von Museen und Galerien auf dem Spiel. Als »jewelry box«13 waren sie seiner Ansicht nach kaum noch in der Lage, den aktuellen Verhältnissen gerecht zu werden, und gemeinsam mit verschiedenen Künstlern bemühte sich Bourriaud deshalb darum, diese Institutionen als Orte zu entwerfen, an denen soziale Defizite der Alltagswelt mithilfe veränderter künstlerischer Praktiken zum Thema gemacht wurden. Liam Gillick, einer der Künstler, auf die sich Bourriaud des Öfteren beruft, gehört zu jenen, die schon früh darauf aufmerksam machten, dass Relational Aesthetics ein Buch ist, welches seinen Zweck wesentlich in einer kuratorischen Positionsbestimmung erfüllt.14 Und wie die Kunsthistorikerin

13 »Nicolas Bourriaud and Karen Moss«. 14 Siehe hierzu Liam Gillick: »The texts that form the book [Relational Aesthetics, SU] came to fruition during and after Bourriaud’s experience with the exhibition Traffic at the CAPC Bordeaux in 1996 […]. The press office of the Bordeaux art center, having misread the work, mistakenly communicated to the public the idea that the structures in the exhibition were primarily a form of what can best be described as ›interactive-baroque-conceptualism.‹ This left Bourriaud under attack from some artists who felt that their positions were more complex than that and from the visitors who had been thwarted in their attempts to literally ›interact‹ with almost everything in the show (during the opening of the exhibition many works were destroyed by well-meaning but overeager visitors who had been encouraged to directly interact with the work by the director and the education department of the art center). Bourriaud found himself in a complicated situation in which he was obliged to gather together and develop recent essays in order to articulate his position in relation to the artists […].« Zit. nach Liam Gillick: »Letters and Responses. Contingent Factors: A Response to Claire Bishop’s ›Antagonism and Relational Aesthetics‹«, in: October (2006), Nr. 115, S. 95-106, hier: S. 96f. Siehe ebd., Fußnote 3, in der Gillick schreibt: »The first texts were published in Documents sur l’art in 1995 and were not brought together into the book Relational Aesthetics until 1998. The exhibition Traffic occured in the

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Anna Dezeuze außerdem bemerkte, ist Bourriaud sicherlich weniger ein analytischer Denker denn ein Anwalt der relationalen Kunst.15 Seine Rede von ihrer politischen Funktion ist in diesem Lichte zu betrachten, auch wenn dies nicht ein großzügiges Hinwegsehen über die Kritikwürdigkeit seiner Thesen zur Folge haben kann. Nachvollziehbarer wird vor diesem Horizont unter Umständen jedoch die Verve, mit der Bourriaud den relationalen Kunstwerken eine kompensatorische Aufgabe zuweist, und sie, indem er dies tut, gleichsam alle der Pauschalisierung übereignet. Er suggeriert eine sie alle verbindende Gemeinsamkeit, und problematisch ist diese Suggestion nicht erst, weil man als Leserin keine Mitteilung über die individuellen und möglicherweise unterschiedlichen Anliegen der jeweiligen Künstlerinnen und Künstler erhält. (Ob sie selbst ihre Arbeiten als ein – nach Bourriauds Definition – politisches Projekt begreifen, bleibt weitgehend unklar.) Problematisch ist diese Verallgemeinerung schon deshalb, weil sie um den Preis einer differenzierten Fokussierung der einzelnen Arbeiten sowie Beziehungen geschieht, die sie tatsächlich entstehen lassen. Auf die Beantwortung der Frage, wie zwischenmenschliche Begegnungen im einzelnen gestaltet werden, verzichtet Bourriaud ebenso wie auf die Untersuchung der kommunikativen Austauschprozesse an konkreten Beispielen. Nur selten reichen seine Ausführungen über die Feststellung hinaus, dass Menschen in Museen und Galerien mithilfe der Kunst in gemeinschaftliche und gesellige Situationen versetzt werden. Was in diesen Situationen aber genau geschieht und ob sich in ihnen wirklich Gemeinschaften bilden, wird nicht verhandelt. Bourriaud entzieht sich, und das ist ihm vorzuwerfen, der Beweisführung seiner eigenen These. Und fraglich bleibt insofern etwa, wie sich diese These mit der Beobachtung vertrüge, dass sich in einer Installation zwar zwei oder mehrere Besucher aufhalten, dort aber gar keinen Kontakt zueinander aufzunehmen. Der Aufenthalt mehrerer Besucher in einer Installation verifiziert Bourriauds Behauptung noch keineswegs, denn mehrere Menschen in einem Raum etablieren an sich – und dies ist ein Einwand gegenüber Bourriaud, nicht gegenüber den relationalen Kunstwerken – noch keine Beziehung, geschweige denn eine Gemeinschaft. Trotz ihrer räumlichen Nähe wären sie genauso wenig aufeinander bezogen wie Menschen, die Seite an Seite in einem Restaurant essen, im Fitnessstudio trainieren oder in der Bibliothek lesen. Eine solche Situation bliebe im Grunde derjenigen gleich, die sich in öffentlichen Räumen permanent erleben lässt, wo Menschen denselben Raum teilen, wo sie die Möglichkeit besitzen, mit anderen Anwesenden ins Gespräch zu kommen, und wo in Hinblick auf einen kommunikativen Austausch alles passieren kann, nichts aber passieren muss. Oder was,

middle of this process and was the moment that forced Bourriaud into a position where he could no longer operate without defining his position in relation to the artists with whom he was working.« 15 Anna Dezeuze: »Transfiguration of the Commonplace«, in: Variant (2005), Vol. 2, No. 22, S. 17-19.

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so ließe sich weiterhin fragen, finge Bourriaud mit einer Erfahrungssituation wie derjenigen an, in die meine Begleiterin und ich bei This objective of that object involviert waren? Mit einer Situation, in der eine Beziehung hergestellt wurde, eine Beziehung allerdings, die allererst geprägt war von Momenten des Entzugs, der Kommunikationsverweigerung und des Ausschlusses, die ein Machtverhältnis erfahrbar werden und reflexiv werden ließ, wie oder inwiefern man sich vom Anderen überhaupt bestimmen lassen möchte bzw. wie und inwiefern man selbst den Anderen bestimmen kann? Oder wie passte eine Situation in Bourriauds Schema wie diejenige bei den One Minute Sculptures, in der ich vor den Jugendlichen auf dem Podest saß und mich unter ihren Blicken zunehmend unwohler zu fühlen begann? Es ist ein grundsätzliches Problem, dass Bourriaud die Geschehnisse nicht in Augenschein nimmt, dass er nichts berichtet von Erfahrungen der Differenz, des Widerspruchs oder des Konflikts und stattdessen lediglich die Geselligkeit und Gemeinschaft beschwört. Vermutlich tut man Bourriaud sogar Unrecht, wenn man ihm unterstellt, Gemeinschaft und Geselligkeit seien bei ihm lediglich mit der Note des happy together versehen. Weil sein Gemeinschaftskonzept aber unscharf bleibt und er ausgerechnet in der Erzeugung dieser wie auch immer zu begreifenden Gemeinschaften die politische Funktion der relationalen Kunst verortet, hat er seinen Kritikern den Angriff sowohl auf seine relationalen Ästhetik als mit ihr auf die von ihm besprochenen Kunstwerke nicht sonderlich schwer gemacht. »[T]oday simply getting together sometimes seems enough«, lautet eine der gängigen Einsprüche, dieses Mal in den Worten von Hal Foster. »Here we might not be too far from an artworld version of ›flash mobs‹«, schreibt er weiter, »of ›people meeting people‹ […] as an end in itself. […] [T]his tends to drop contradiction out of dialogue, and conflict out of democracy […].« 16

4.2 E INE KRITISCHE R EPLIK : C LAIRE B ISHOPS A NTAGONISM AND R ELATIONAL A ESTHETICS Bourriauds Engführung zwischen der politischen Funktion der relationalen Kunst und ihrem angeblich primären Anliegen, Geselligkeitsformen erfinden und Gemeinschaftseffekte erzeugen zu wollen, ist der Einsatzpunkt auch von Claire Bishops 2004 erschienenem Artikel Antagonism and Relational Aesthetics. Einer ihrer elementaren Vorwürfe zielt ebenfalls auf Bourriauds feierliche Umarmung eines zwischenmenschlichen Miteinanders, das jedem Konflikt und jedem Dissens den Platz zu verweigern scheint. Und wie ich kritisiert sie nicht zuletzt die fehlende Inblicknahme konkreter Situationen:

16 Hal Foster: »Arty Party«, in: London Review of Book (2003), S. 21-22, hier: S. 22.

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»The quality of the relationships in ›relational aesthetics‹ are never examined or called into question. [A]ll relations that permit ›dialogue‹ are automatically assumed to be democratic and therefore good. […] If relational art produces human relations, then the next logical question to ask is what types of relations are being produced, for 17 whom, and why?«

Genau genommen geht es Bishop nicht also bloß um einen Angriff auf die in Bourriauds Text implizit vermittelte Note des happy together. Ihr Angriff zielt vielmehr auf die Ansicht, eine solche Form des zwischenmenschlichen Miteinanders hätte in irgendeiner Weise mit Demokratie zu tun. Bishops Anliegen ist entsprechend ein doppeltes: In dem Maß, wie sie ein dem Dissens verpflichtetes Politikverständnis gegenüber einem auf Konsens, auf Versöhnung und Konfliktlosigkeit beruhenden Politikverständnis zu verteidigen sucht, bemüht sie sich des weiteren um den Aufweis der These, die Beziehungen, von denen bei Bourriaud die Rede ist, seien insofern weit davon entfernt, »intrinsically democratic« zu sein, als sie »too comfortably within an ideal subjectivity as whole and of community as immanent togetherness«18 residierten. Das zentrale Konzept, mit dem Bishop nun gegen Bourriaud und gleichzeitig gegen die unter seiner Schirmherrschaft stehenden Arbeiten ins Feld zieht, ist das des Antagonismus. In Anlehnung an Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Antagonismus-Begriff, der als Grundbedingung demokratischer Gemeinschaften die Aufrechterhaltung und nicht die Eliminierung konfliktreicher Beziehungen bestimmt,19 tut Bishop einen Schritt in die meines Erachtens zunächst richtige Richtung. Denn mithilfe dieses Begriffs opponiert sie nicht allein gegen Bourriauds Politikverständnis im Besonderen, sondern, auf einer allgemeineren Ebene, gegen die Vorstellung, Kunst sei dann politisch, wenn sie es sich zur Aufgabe macht, konsensuelle und versöhnte Gemeinschaften zu stiften. Bishops Einwand hat viel Beifall geerntet, und gerade weil nicht wenige von Bourriauds Gegnern in ihr eine Verbündete in Bezug auf ihre eigenen Einwände gefunden zu haben meinen, ist es umso dringlicher, die Problematik in den Vordergrund zu rücken, die in Bishops Argumentationsgang trotz der Bedeutsamkeit ihres Ansatzes zum Vorschein tritt. Worin aber besteht diese Problematik? Wie Michael Fried bei seinem Artikel Art and Objecthood macht Bishop bereits den Titel ihres Textes zum Schauplatz einer Dichotomie, die sie im Verlauf ihrer Argumentation ausfalten wird. Was bei Fried der unvereinbare Gegensatz von Kunst auf der einen und Objekthaftigkeit auf der anderen

17 C. Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, S. 65. (Herv. i.O.) 18 Ebd., S. 67. 19 Bishop bezieht sich insb. auf den Antagonismus-Begriff, den Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 1985 in Hegemony and Socialist Strategy entwickelten. Vgl. ebd., S. 66f.

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Seite ist, ist bei ihr der Gegensatz von einer antagonistischen Kunst und Bourriauds relationaler, den antagonistischen Strukturen anscheinend keinen Raum gewährenden Ästhetik. Diese Gegenüberstellung mag erst einmal eine bestechende Schlagkraft besitzen, doch bei ihrer Explikation geht Bishop nicht ganz überzeugend vor. Statt sich konsequent an Bourriaud und seinen Thesen abzuarbeiten und statt ihre eigene Position gegenüber seiner zu konturieren, illustriert sie beide Positionen mithilfe von je zwei Beispielen. So ernennt sie die in Relational Aesthetics mehrfach erwähnten Künstler Rirkrit Tiravanija und Liam Gillick zu Kronzeugen einer Kunst, die Spannungsverhältnisse, Differenzen oder Konflikte gar nicht erst aufkommen lasse, und erklärt demgegenüber Thomas Hirschhorn und Santiago Sierra zu Repräsentanten einer »intrinsically democratic« Kunst, einer Kunst, die darauf ausgerichtet sei, Spannungsverhältnisse, Differenzen oder Konflikte zu erzeugen und in Szene zu setzen. Sie wertet mithin die Arbeiten von zwei Künstlern auf und die von zwei anderen ab, und tut dies, ohne sich ihrerseits mit den konkreten Erfahrungssituationen beschäftigt zu haben. Zwar ist es richtig, dass Bourriaud die Werke von Tiravanija und Gillick als Belege für seine Thesen heranzieht; da er die von ihnen ausgelösten Erfahrungssituationen nicht untersucht, ist ihre Belegkraft jedoch zwangsläufig schwach. Bourriaud blieb den Beweis schuldig, dass sie ein geselliges Beisammensein in Gang setzen oder Gemeinschaftseffekte wirklich erzeugen. Dasselbe allerdings gilt für Bishop, die ihrerseits den Beweis für ihre gegenteilige Behauptung unterschlägt, für die Behauptung, die Arbeiten von Tiravanija und Gillick seien nicht in der Lage, Dissense zu produzieren. Ihre Vorgehensweise gleicht sich insofern derjenigen von Bourriaud an. Projizierte schon er ohne Überprüfung auf die entsprechenden Erfahrungssituationen, so tut es ihm Bishop mit umgekehrten Vorzeichen nach. Die Argumente für ihr abqualifizierendes Urteil findet und sucht auch sie nicht in den Erfahrungssituationen, sondern an ganz anderer Stelle: zum Beispiel in den Worten des Kurators Udo Kittelmann, der im Vorwort des Katalogs zur Ausstellung von Tiravanijas Untitled, 1996 (Tomorrow is Another Day) im »Kölnischer Kunstverein« neben der »impressive experience of togetherness to everybody« die Art bewirbt, in der sich der Kunstraum in einen »free social space« transformiert habe.20 Weiterhin findet Bishop ihre Argumente in Jerry Saltz’ Erlebnisbericht von Tiravanijas Untitled (Still) (1992) in dem Kunstmagazin Art in America, der ihr deshalb so gut in die Hände spielt, weil Saltz’ Ausführungen über die Begegnungen, die er in dieser Installation mit verschiedenen Kunsthändlern und Künstlern pflegte,21 in der Tat den Eindruck vermitteln, Tiravanijas Arbeit erschöpfe sich allein darin, Anlaufstation für Gleichgesinnte zu sein, für eine homogene Gemeinschaft mit einem einzigen, sie alle verbindenden Interesse: sich bei einer Suppe zu »artworld gossip, exhibition reviews, and flirtation« zu treffen:

20 Zit. nach C. Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, S. 68. 21 Zit. nach ebd., S. 67.

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»At 303 Gallery I regularly sat with or was joined by a stranger, and it was nice. The gallery became a place for sharing, jocularity and frank talk. I had an amazing run of meals with art dealers. Once I ate with Paula Cooper who recounted a long, complicated bit of professional gossip. Another day, Lisa Spellman related in hilarious detail a story of intrigue about a fellow dealer trying, unsuccessfully, to woo one of her artists. About a week later I ate with David Zwirner. I bumped into him on the street, and he said, ›nothing’s going right today, let’s go to Rirkrit’s.‹ We did, and he talked about a lack of excitement in the New York art world. Another time I ate with Gavin Brown, the artist and dealer … who talked about the collapse of SoHo – only he welcomed it, felt it was about time, that galleries had been showing too much mediocre art. Later in the show’s run, I was joined by an unidentified woman and a curious flirtation filled the air. Another time I chatted with a young artist who lived in Brooklyn who had real insights about the shows he’d just seen.«22

Indem sich Bishop auf solch strategisch gewählte Aussagen stützt, führt sie Tiravanijas Installationen als Einrichtungen ein, die allein nichtige Beziehungen entstehen ließen. Und zugleich nutzt sie diese Vorgehensweise, um die Beziehungen, die von Santiago Sierras und Thomas Hirschhorns Werken hervorgebracht werden können, gegen erstere positiv in Stellung zu bringen. Auch bei Sierra und Hirschhorn verzichtet Bishop auf eigene Untersuchungen und verlässt sich stattdessen auf die programmatischen Selbstaussagen der Künstler oder die Verfasstheit ihrer artistischen Einrichtungen. Das Beispiel, das sie von Hirschhorn heranzieht, ist dessen 2002 auf der documenta XI gezeigtes Bataille Monument. Diese Installation hatte der Künstler in dem Kasseler Vorort Nordstadt, einem sozialen Brennpunkt abseits der üblichen documenta-Ausstellungsflächen, aufgebaut und zugleich einen ShuttleService organisiert, von dem das Publikum in regelmäßigen Abständen dorthin gebracht und später von dort wieder abgeholt wurde. Die Installation bestand aus drei bretterbudenartigen, mit Fernsehern, Videos, Infomaterial von und Büchern über Bataille ausgestatteten Hütten, einer Bar, die von einer Familie aus der Wohngegend betrieben wurde, und einer Baumskulptur. Was Bishop an dieser Arbeit in Hinblick auf die Qualität der zwischenmenschlichen Begegnungen lobend hervorhebt, ist die Konfrontation, die sie zwischen den documenta-Besuchern, mithin zwischen einem kunstinteressierten Publikum und einer »community« ermögliche, »whose ethnic and economic status did not mark it as a target audience for Documenta«23. Das Bataille Monument, und das eben sei der signifikante Unterschied zu den Werken Tiravanijas, basiere wesentlich auf der Idee des Antagonismus, auf der Idee, wie es in Bishops Rekurs auf Laclau und Mouffe heißt, dass die Gegenwart des Anderen, der nicht Ich ist, die eigene Identität prekär und verletzlich erscheinen lässt, und die Bedrohung, die der Andere repräsentiert, mein eigenes Selbst in etwas Fragwürdiges transformiert: »[…] the

22 Ebd. 23 Ebd., S. 75.

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presence of what is not me renders my identity precarious and vulnerable, and the threat that the other represents transforms my own sense of self into something questionable.« 24 Zu diesem Anderen, der die eigene Identität prekär und verletzlich erscheinen lässt und das eigene Selbst in etwas Fragwürdiges verwandelt, wird durch Bishops Verschränkung dieses Antagonismus-Verständnisses mit dem Bataille Monument hier nun der Bewohner einer sozialschwachen Gegend: der Schlechtverdiener, der Hartz IV-Empfänger, der Mensch mit so genanntem Migrationshintergrund.25 An seinem eigenen Wohnort und jenseits der gewohnten documenta-Ausstellungsflächen ins Werk geholt, ist er derjenige, dem Bishop bescheinigt, das kunstinteressierte Publikum dazu zu bringen, sich »like hapless intruders«26 zu fühlen. Einen »zoo effect« evoziere das Bataille Monument, wie Bishop im Zitat einer Wendung Hirschhorns bemerkt, einen »zoo effect«, der in beide Richtungen wirksam werde und dafür sorge, dass schließlich sowohl auf Seiten des Kunstpublikums als zugleich auf Seiten der Nordstadt-Bewohner jede Auffassung von »community identity« destabilisiert werde.27 Anders als bei Tiravanija – auf diesen Punkt kommt es ihr an – reduziere sich die Partizipation des Besuchers daher nicht auf das triviale Essen von Nudeln. Gezwungen werde der Besucher von den Umständen, sich stattdessen als »thoughtful and reflective visitor« einzubringen.28 (Weshalb die Einladung zum Nudelessen für sie ein Zeichen der intendierten Besucherpartizipation darstellt, die Einladung zur Lektüre von Bataille-Texten für sie hingegen nicht in diese Kategorie fällt, lässt Bishop ungeklärt.29)

24 Siehe zu diesem Antagonismus-Verständnis C. Bishop in ebd., S. 66. 25 Bei Santiago Sierra sind es dann wahlweise die Asylbewerber, die für die Dauer einer Ausstellung unter Pappkartons sitzen (Six People who Are Not Allowed to Be Paid for Sitting in Cardboard Boxes (2000)) oder die illegalen Straßenverkäufer, denen für eine geringe Entlohnung die Haare blond gefärbt wird (Persons Paid to Have Their Hare Dyed Blond (2001)). 26 C. Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, S. 76. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Dies ist eine der Stellen, an denen deutlich wird, wie sehr Bishop sich auf die Selbstaussagen des Künstlers allzu unkritisch verlässt, der über sein Publikum sagt: »[…] I do not want to activate the public. I want to give of myself, to engage myself to such a degree that viewers confronted with the work can take part and become involved, but not as actors.« (Thomas Hirschhorn zit. nach ebd., S. 74.) Worauf Hirschhorn mit dieser Aussage meines Erachtens abhebt, ist eine Abgrenzung von der Publikumsaktivierung um ihrer selbst willen. Dennoch bleibt zu fragen, inwiefern der Besucher nicht auch bei ihm zu einem Akteur wird. Insbesondere vor dem Hintergrund meines eigenen Verständnisses, demzufolge jemand nicht nur zum Akteur wird, wenn ihm Handlungen offeriert werden, die er sich auszuführen entschließt, sondern bereits dadurch, dass ihn eine

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Bishops wohlmeinende Bewertung des Bataille Monument ist schon für sich genommen nicht unproblematisch. In kaum nachvollziehbarer Ungeniertheit stilisiert sie den Schlechtverdiener, Erwerbslosen oder den Mensch anderer Herkunft zu jenem Anderen, der zu einer Bedrohung für das eigene Selbst werden und im Gegenzug wiederum durch das Kunstpublikum eine Destabilisierung seiner »community identity« erfahren soll. Vermutlich ohne es beabsichtigt, vielleicht sogar ohne es bemerkt zu haben, ist es Bishop mit dieser Beschreibung zumindest gelungen, die Aufmerksamkeit auf genau jenen zynischen Zug zu lenken, der diesem Werk ebenso wie den Aussagen Hirschhorns ohnehin schon anhaftet. Abgesehen von dem bitteren Beigeschmack, den diese Argumentation hinterlässt, bleiben ihre Ausführungen aber auch auf einer allgemeineren Ebene zweifelhaft. Ließ sich bei Bourriaud fragen, wie all jene Situationen in sein Konzept und zu seiner Gemeinschaftsthese passen, in denen Besucher trotz des gemeinsamen Aufenthalts in einem Raum keinen Kontakt zueinander aufnehmen oder in denen sie Bezüglichkeiten herstellen, die allererst Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung, der Kommunikationsverweigerung und Spaltung erfahrbar machen, so lässt sich bei Bishop fragen, was sie eigentlich mit jenen Situationen anfinge, die sich in Hirschhorns Bataille Monument ebenfalls ergeben können, mit ihrer Antagonismus-These jedoch nicht recht in Einklang zu bringen sind. Was sagte sie beispielsweise zu einer Situation wie derjenigen, in die ich bei meinem eigenen Besuch des Bataille Monument geriet, zu einer Situation, in der außer dem Kunstpublikum selbst niemand anwesend war? Es gab hier keine Konfrontation mit dem Anderen, jedenfalls nicht mit einem Bewohner der Nordstadt. Das Kunstpublikum blieb unter sich. Es saß zwar inmitten dieser von den eigentlichen Ausstellungsflächen entfernten Gegend auf den verschlissenen Sofas, las dort aber bloß in den ausliegenden Büchern oder tauschte sich über das Werk und die documenta aus – und tat genau das, was Bishop als Anlass für ihre Kritik an Tiravanijas genommen hatte: Es pflegte den »art-world gossip«. Oder wie beurteilte sie eine Situation, in der auf einem Sofa die Nordstädter und auf einem anderen Sofa die documenta-Besucher sitzen, alle mit sich, doch nicht miteinander beschäftigt? Inwiefern unterschied sich eine solche Situation von derjenigen, die wir tagtäglich in der U-Bahn, im Supermarkt oder auf der Straße erleben können? Und wäre es angemessen, hier so ohne Weiteres gleich von Prozessen der gegenseitigen Destabilisierung zu sprechen? Wie gegen Bourriaud ist auch gegen Bishop einzuwenden, dass pauschale Urteile über die intersubjektiven Erfahrungssituationen eher in die Irre als zum Ziel führen. Durchaus ist es möglich, dass bei Hirschhorn das Kunstpublikum unter sich bleibt oder die gemeinsame Anwesenheit eines Hartz

andere Person zu sich selbst in ein spektatorisches Verhältnis rückt, ist hier ein Einwand vorzutragen. Plausibilität gewinnt dieser Einwand umso mehr, als Hirschhorn selbst den Begriff des »zoo-effect« ins Spiel gebracht und damit auf das distanzierende Betrachten des Anderen verwiesen hat.

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IV-Empfängers und eines documenta-Besuchers nicht notwendig zu einer wechselseitigen Destabilisierung ihres Selbst oder ihrer jeweiligen »community«-Zugehörigkeit führen muss. Je nach Situation kann im Sinne von Bishops Antagonismus-Verständnis das Bataille Monument unter Umständen sogar deutlich weniger wirksam sein als Tiravanijas Installationen oder kann das Moment der Destabilisierung umgekehrt bei Tiravanija wesentlich effektvoller zutage treten als bei Hirschhorn. Tiravanijas Installationen sind während der Dauer ihrer Ausstellung häufig rund um die Uhr geöffnet, und wie man zahlreichen Beschreibungen entnehmen kann, treffen auch hier keineswegs nur ein gleichgesinntes Kunstpublikum aufeinander. Liam Gillick, der sich als einer der Wenigen die Mühe machte, Bishops Ungereimtheiten zu sezieren, hat darauf hingewiesen, dass sich hier bisweilen »[…] exactly the kind of diverse group of local people« begegnet, »that she claims to be excluded by the purview of her project. The work [is] used by locals as a venue, a place to hang out and somewhere to sleep. I doubt that she was ever there.«30 Was aber, so lässt sich fragen, meint Bishop überhaupt, wenn sie von Gleichgesinnten und community-Identitäten spricht? Unterstellt sie wirklich, wonach ihre Worte klingen: dass es eine automatische Gleichgesinntheit zwischen den Nordstadt-Bewohnern auf der eine und den documenta-Besuchern auf der anderen Seite gebe? Dass Gleichgesinntheit, das simple Resultat eines gemeinsamen Interesses an Kunst, einer identischen Wohnanschrift oder der Zugehörigkeit zur selben Sozialleistungsstufe sei? Bei genauerem Hinsehen sind diese Ungereimtheiten keineswegs bloße Flüchtigkeitsfehler. Sie sind mehr als aussagekräftig, denn letztlich geht es Bishop vor allem um eins: um die kalkulierte Verteidigung zweier Künstler, deren werkästhetische Qualitäten sie durch die Herabwürdigung von zwei weiteren Künstlern zu akzentuieren versucht. Sie beginnt mit einer Kritik an Bourriauds relationaler Ästhetik, präsentiert am aber ein Ergebnis, das mit Bourriaud nur noch wenig zu tun hat. Durch ihren inkonsequenten Argumentationsgang und die unbelegten Behauptungen, die sie in Kauf nimmt oder sogar absichtlich setzt, um Hirschhorn und Sierra als Lichtgestalten zu inszenieren, macht Bishop ihren Text jedoch nicht nur zu einem Musterbeispiel unseriöser Kunsttheorie.31 Indem sie Bourriauds Standpunkt mit zwei künstlerischen Entwürfen kurzschließt und seine zweifellos kritikwürdigen Thesen allzu schnell zu einer Folie verkommen lässt, auf deren Hintergrund sie mit der Darlegung dessen beginnt, was für sie gute von schlechten Künstlern unterscheidet,32 nimmt sie sich in letzter Instanz auch die Chance, einen gewinnbringenden Diskursbeitrag zu leisten.

30 L. Gillick: »Letters and Responses«, S. 105. 31 Von den zahlreichen Fehlern und Ungenauigkeiten, die schon bei der Nennung von Bourriauds Buchtitel beginnen, sei hier sogar abgesehen. Liam Gillick hat bereits ausführlich auf sie aufmerksam gemacht. Siehe ebd. 32 In Variation hat Bishop die Gegenüberstellung von Tiravanija/Gillick und Hirschhorn/Sierra seit Antagonism and Relational Aesthetics des Öfteren aktuali-

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4.3 D IE K UNST

DER

A NERKENNUNG

DES

A NDEREN

Was sich mit meiner Kritik an Bishop verbindet, ist der Aufruf zu einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit einer Kunst, die die Gestaltung von intersubjektiven Begegnungen auf ihre Agenda setzt. Es geht mir mit anderen Worten darum, die verschiedenen und in ihrer Verschiedenartigkeit kaum auf einen Nenner zu bringenden Werke ebenso in ihr Recht zu setzen wie die Diversität der zwischenmenschlichen Erfahrungssituationen, die sie hervorzubringen imstande sind. Hiermit angesprochen ist die Notwendigkeit einer sauberen Trennung zwischen den Werken oder Erfahrungen und ihrer durch Bourriaud initiierten Diskursivierung. Eine solche Trennung ist in den vergangenen Jahren nicht selten auf der Strecke geblieben, und immer wieder lässt sich beobachten, dass relationale Kunstwerke weniger an sich selbst als vor allem an Bourriauds Behauptungen gemessen werden. Was dabei herauskommt, bleibt mitunter so fragwürdig wie Bourriauds relationale Ästhetik, denn wie er machen es sich auch viele seiner Kritiker nur allzu leicht. Sie werfen Bourriaud vor, den einzelnen Werken und konkreten Erfahrungssituationen keine Beachtung geschenkt zu haben und machen letztlich nichts anderes. Notwendig ist insofern eine längst überfällige Hinwendung zu den Geschehnissen vor Ort, mit deren Plädoyer meine Überlegungen begannen. Diese Hinwendung ist es, die an die Stelle der Projektionen treten muss, wenn man sich der relationalen Kunst angemessen nähern und ihre Diskursivierung substantiell weiterentwickeln möchte. Erst und allein meine Beispiele, Untersuchungen und Ergebnisse sind entsprechend jene Referenzen, die es mir abschließend gestatten, eine Position gegen Bourriaud und zugleich gegen Bishop zu beziehen. Diese Position nimmt Abstand in allererster Linie von Bourriauds Engführung zwischen der politischen Bedeutung der relationalen Kunst und einem (angeblich) sozialen Engagement, von einer Definition, derzufolge das politische Potenzial der relationalen Kunst darin bestehe, die Brüche im sozialen Gefüge kitten zu wollen. Mein Einwand gegen diese Engführung leitet sich nicht allein aus der Beobachtung ab, dass es keinem der von mir diskutierten Künstler darum geht, mithilfe der Kunst auf die defizitäre Struktur von Kommunikationszonen im urbanen Raum hinzuweisen oder im Rahmen der Kunst die Beseitigung dieser Defizite durch die Etablierung anderer, effektiverer Kommunikationszonen zu bewirken. Gemeint ist damit nicht, dass es nicht Künstler gibt, die dieses Ziel verfolgen. Gemeint ist damit lediglich, dass Gonzalez-Torres, Wurm und Sehgal es nicht tun – und nicht zuletzt deshalb

siert, so etwa in ihrem Buch Installation Art. A Critical History von 2005 (hier Kap. 4: »Activated spectatorship«, S. 102-133), oder im März 2006 bei einem Vortrag in der Tate Modern. Interessanterweise nahm sie bei diesem Vortrag, der kurz nach Gillicks Replik auf Antagonism and Relational Aesthetics stattfand, diesen aus der Schusslinie. Vgl. Claire Bishop: »Utopias and Avant-gardes«, http://www.tate.org.uk/learning/studydays/utopia_avant_gardes/

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wurden sie von mir ausgewählt. Denn mein Einwand gegen die Engführung zwischen der politischen Bedeutung von Kunst und sozialem Engagement ist grundsätzlicher Natur. Es ist ein Einwand gegen die Ansicht, Kunst sei dann politisch, wenn sie, um es mit Jacques Rancière zu sagen, ihren »Müßiggang« aufgibt und nicht mehr »[…] Abstand [hält] zu jedweder gesellschaftlichen ›Arbeit‹ und jeder Beteiligung an einem aktivistischen Weltverbesserungsprojekt oder an der Aufgabe, die Welt des Marktes und das entfremdete Leben zu verschönern.«33 Mit Rancière möchte ich daher gegen Bourriaud die Meinung vertreten, dass Kunst eben genau dann nicht politisch ist, wenn sie ihre Motivation in kompensatorischen Dienstleistungen zu finden versucht und ihr eine Ersatzfunktion zu eignen beginnt.34 Die von Gonzalez-Torres, Wurm und Sehgal inszenierten Erfahrungssituationen sind für mich aus einem anderen Grund interessant, und dieser Grund findet sich vor allem in ihrer Fähigkeit, zwischenmenschliche Ereignisse emergieren zu lassen, in denen – so lässt es sich unter Berufung auf Bernhard Waldenfels’ Konzept der Diastase beschreiben – »das, was unterschieden wird, erst entsteht«35 und die verschiedenen Interessen, Haltungen oder Disponiertheiten der einzelnen Teilnehmer also erst durch ihre jeweiligen Aktionen, Verhaltensweisen oder Gespräche hervor- und in Erscheinung gebracht werden. Die politische Dimension dieser Werke liegt nicht darin, dass sie einfach nur andere als die aus dem Alltag bekannten Kommunikationszonen entwerfen, sondern dass sie Verhandlungsräume eröffnen, in denen eine Konfrontation mit dem eigenen Selbst qua Anderen möglich wird. Die von mir besprochenen Arbeiten sind nur einige unter vielen, die dies tun. Da sie Situationen gestalten, die sich zugleich als Aufführungssituationen bezeichnen lassen, begünstigen sie jedoch Bezüglichkeiten, die durch die Distanzierung des einen vom Anderen, durch die Spaltung in Zuschauer und Akteure, in besonderer Weise dazu prädestiniert sind, Prozesse der Er- und Entmächtigung, des Bestimmens und Bestimmenlassens, der Konsonanz und Dissonanz, der Affirmation und Negation in Gang zu setzen und die eigene Dispositionierung bzw. die Notwendigkeit, sich zur Disposition stellen zu müssen, sichtbar und erfahrbar werden lassen. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal gestalten diese Verhandlungsräume nicht dadurch, dass sie den Anderen als Schlechtverdiener, als Hartz IV-Empfänger oder als Mensch mit so genanntem Migrati-

33 Jacques Rancière: »Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien«, in: Maria Muhle (Hg.): Jacques Rancière. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 75-99, hier: S. 85f. 34 »Als Ersatz«, schreibt Rancière im direkten Bezug auf Bourriaud, »läuft die Kunst Gefahr, sich in den Kategorien des Konsens’ insofern zu verwirklichen, als dieser die politischen Anwandlungen einer ihr Gebiet verlassenden Kunst auf die Aufgaben von Nachbarschaftspolitik und eines sozialen Heilmittels beschränkt.« Zit. nach ebd., S. 96. 35 B. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 174.

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onshintergrund ausstellen. Und gerade weil sie darauf verzichten, soziale Randgruppen zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung zu erheben oder das Diesseits und Jenseits konkreter communities zu thematisieren, gelingt es ihnen, die Frage nach Gemeinschaft oder Destabilisierung anders als Bourriaud und gleichzeitig anders als Bishop zu adressieren. Was sie nämlich zutage treten lassen, ist die Sachlage, dass der Andere, der dafür sorgt, dass sich mein Selbst in etwas Fragwürdiges verwandelt, der dafür verantwortlich ist, dass ich mir in der Erfahrung fremd werde oder mich zu mir selbst in ein reflexives Verhältnis setze, auch derjenige sein kann, der zum selben Geschlecht, zum selben Kulturkreis oder zum selben Diskurssystem gehört, der dieselbe Sprache spricht, dasselbe Alter hat oder aus denselben Gründen ins Museum gekommen ist wie ich. Ihre Leistung ist es mithin, die Anerkennung jedes Anderen, der nicht Ich ist, durch das zu bewirken, was er in mir verursacht: die Hinterfragung meiner Handlungen und meines Verhaltens, die Evokation von Peinlichkeit und Schamgefühlen, die Artikulation oder Revision von Meinungen, die Bereitschaft oder Verweigerung, mich auf ihn einzulassen oder mich von ihm bestimmen zu lassen. Mit der Hervorbringung von intersubjektiver Begegnungen hat sich die Kunst somit gewissermaßen in einen Schauplatz verwandelt, auf dem die unterschiedlichen Interessen, Haltungen, Befindlichkeiten oder Disponiertheiten der einzelnen Teilnehmer aufeinandertreffen und Reflexionen anregen können. Zugleich wird auf diese Weise bezüglich der Figur des Museumsbesuchers eine signifikante Wendung in die Geschichte der institutionalisierten Kunst eingetragen: Denn vom erfahrungsgestaltenden Künstler wird der Museumsbesucher nun genau genommen als eine Instanz entworfen, die nicht mehr nur in Hinblick auf ihre eigenen Erfahrungen produktiv werden kann. Indem sie dazu aufgefordert wird, ein Geschehen mitzugestalten, in es einzugreifen und so auf die Erfahrungen der anderen Anwesenden einzuwirken, wird der Museumsbesucher vielmehr selbst als Erfahrungsgestalter in Szene gesetzt.

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Abbildungen

Abb. 1 (S. 27): »Untitled« (Welcome back heroes), 1991, in: Nancy Spector: Felix Gonzalez-Torres, Ausstellungskatalog, New York 1995, S. 160. Abb. 2 (S. 28): »Untitled« (Public Opinion), 1991, in: ebd., S. 159. Abb. 3 (S. 28): »Untitled« (Placebo), 1991, in: ebd., S. 105. Abb. 4 (S. 29): »Untitled« (Loverboys), 1991, in: ebd., S. 155. Abb. 5 (S. 29): »Untitled« (Loverboys), 1991, in: Parkett (39/1994), S. 45. Abb. 6 (S. 37): »Untitled« (Portrait of the Wongs), 1991, in: N. Spector: Felix Gonzalez-Torres, S. 145. Abb. 7 (S. 40): »Untitled«, 1991, in: Parkett, S. 42. Abb. 8 (S. 68): Untitled, 1977, in: Hal Foster: The Return of the Real, Cambridge/Mass., London 1996, S. VIII. Abb. 9 (S. 74): One Minute Sculpture, in: Edelbert Köb/Kunsthaus Bregenz (Hg.): Erwin Wurm. One Minute Sculptures. Werkverzeichnis, Ostfildern-Ruit 1999, S. 91. Abb. 10 (S. 76): Untitled, 1994, in: Peter Weibel (Hg.): Fat Survival. Handlungsformen der Skulptur, Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2002, S. 42. Abb. 11 (S. 77): Untitled, 12.01.-26.01.1990, in: ebd., S. 31. Abb. 12 (S. 78): Untitled, 1989, in: ebd., S. 66. Abb. 13 (S. 79): Untitled, 1988, in: ebd., S. 70. Abb. 14 (S. 81): Instruction drawing, 1990, in: ebd., S. 48. Abb. 15 (S. 81): Untitled, 1992, in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Addendum zur gleichnamigen Publikation und Ausstellung, Ostfildern 2006, S. 24. Abb. 16 (S. 84): 59 positions, 1992, in: ebd., S. 30f. Abb. 17 (S. 93): One Minute Sculpture, in: E. Köb/Kunsthaus Bregenz (Hg.): Erwin Wurm. One Minute Sculptures, S. 263. Abb. 18 (S. 94): One Minute Sculpture, in: ebd., S. 259. Abb. 19 (S. 97): One Minute Sculpture (»hold your breath and think of Spinoza«), in: E. Köb/Kunsthaus Bregenz (Hg.): Erwin Wurm. One Minute Sculptures, S. 139.

Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Dezember 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken Oktober 2011, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0

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Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Dezember 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis November 2011, 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2

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Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York Mai 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

Alejandro Perdomo Daniels Die Verwandlung der Dinge Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts

2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Dezember 2011, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1915-7

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen

Lars Spengler Bilder des Privaten Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst

Dezember 2011, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

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Mai 2011, 358 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1778-8

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