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German Pages 368 Year 1996
Kulturen und Innovationen Festschrift für Wolfgang Rudolph
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 30
Kulturen und Innovationen Festschrift für Wolfgang Rudolph
llerausgegeben von Georg Elwert, Jürgen Jensen und Ivan R. Kortt
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Kulturen und Innovationen : Festschrift für Wolfgang Rudolph I hrsg. von Georg Elwert . . . - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Sozia1wissenschaftliche Schriften ; H. 30) ISBN 3-428-08632-5 NE: E1wert, Georg [Hrsg.]; Rudolf, Wolfgang: Festschrift; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-08632-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 R in einem Organismus lokalisiert sei, der sowohl einen Stimulus empfängt als auch eine Reaktion zeigt, ergebe sich bei den Menschen vermittelt durch die Sprache ein anderes Bild: S --------> r ..... s -------> R; der erste Organismus empfängt einen Stimulus (S) und gibt eine sprachliche Ersatzreaktion (r) von sich; der zweite (oder ein weiterer) Organismus empfangt diese Äußerung als Ersatzstimulus (s) und zeigt eine Reaktion. Da, einen Stimulus (S) zu empfangen und eine Reaktion (R) zu zeigen, einen Dranismus als solchen ausweist, in der menschlichen Gemeinschaft aber vermittels der Sprache ein Organismus einen Stimulus empfangen und ein anderer die dazugehörige Reaktion zeigen könne, mache die Sprache aus der menschlichen Gemeinschaft in gewissem Sinne einen Organismus höherer Ordnung. Bei einem sehr viel perfekteren Entwicklungsstand der Naturwissenschaften und insbesondere der Psychologie könne darauf vielleicht einmal die praktische linguistische Arbeit gegründet werden, indem sie die Beziehungenzwischen Lauten bzw. Äußerungen einer Sprache und den Bedeutungen, auf die sie referieren, auf der Basis des S ---------> R-Modells erklärt. Für den gegenwärtigen Stand aber hat Bloomfield den Bezug auf Psychologie, auch auf behavioristische Psychologie, konsequent aus der Lingustik ausgeschlossen. Um zu einer stringenten Wissenschaft zu werden, müsse die Linguistik sich vorerst auf einige wichtige heuristische Annahmen stützen und aus sich selbst heraus entwickeln.41 Und als eine solche heuristische Annahme hat Bloomfield, was ich zeigen möchte, Sapirs Patternmodell in sein liguistisches Modell als zentrales Element eingebaut, zugleich aber die bei Sapir wichtige Programmatik ausgeschlossen, auf gleiche Weise auch Bedeutung bzw. Kultur zu beschreiben. Daß Bloomfield die Bedeutung dieser Programmatik wie auch die damit verbundene Gleichsetzung von Bedeutung und Kultur sehr wohl bewußt war, zeigen die folgenden Sätze, mit denen er 1945 seinen Artikel "About Foreign Language Teaching" beginnt: ,,Every language serves as the bearer of a culture. If you speak a language you take part, to some degree, in the way of living represented by that language. Each system of culture has its own way of looking at things and people and of dealing with them. To the extend that you have learned to speak and understand a foreign tongue, to that extend you have learned to respond with a different selection and emphasis to the world around you, and for your relations with people you have gained a new system of sensibilities, considerations, conventions, and restraints. All this has come to you in part unnoticed and in part through incidents which you remember, some of them painful an some pleasurable."42
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Vgl. Fries 1961 Bloomfield 1945: S. 625
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In seiner Phonologie beruft sich Bloomfield auf mehrere Quellen, so auf Baudouin de Courtenay, der den Terminus »Phonem« als erster geprägt hat, auf Boas, de Saussure, aber vor allem auch auf Sapirs Lautpattern43• In seinem Buch Language erklärt Bloomfield ein Phonem als ein Bündel distinktiver Lautmerkmale44 und gründet damit seinen Phonembegriff auf die bedeutungsunterscheidende Funktion45 : "Phono1ogy invo1ves the consideration of meanings. The meanings of speachforrns cou1d be scientifically defined on1y if all branches of science, inc1uding, especially, psycho1ogy and physio1ogy were close to perfection. Unti1 that time, phono1ogy and, with it, all the semantic phase of 1anguage study, rest upon an assumption of linguistics: we must assume that in every speech-community some utterances are alike in form and meaning."46
Die Einbeziehung der Bedeutung in die Phonologie war also für Bloomfield vorerst nur auf einer wissenschaftstheoretischen Metaebene wichtig, während er gegenwärtig sich auf die heuristische Annahme stützen wollte, die er in seinem "Set of Postulates" in prägnanter Weise geschildert hat: In jeder Sprache gebe es Äußerungen und Teile von Äußerungen, die sich gleichen. "Outside of aour science these similarities are relative; within it they are absolute."47 Und dies finde seinen Ausdruck in dem ,,same-or-different"-Prinzip: "That which is alike will be called same. That which is not same is different."48 Dieses "same or different"-Prinzip aber ist nahezu synonym mit Sapirs Patternmodell.49 Und auf dieses Prinzip bzw. auf die ,,Existenz von Phonemen" gründet Bloomfield unter expliziter Berufung auf Sapirs Patternmodell gegenwärtig die Wissenschaftlichkeit seines Faches, denn " ... its explicit statement not on1y guards the Iinguist against occasiona1 1apses ... , but justifies the very existence of our science. The 1ogica1 demand that a science speak. in quantitative terrns is met by linguistics because it speak.s in terms of phonemes; ..." 50
"Science" in dieser Aussage ist selbstverständlich im Sinne von Naturwissenschaft, nicht von Geisteswissenschaft, zu verstehen. Faßt man die Interpretation von naturwissenschaftlicher Methodik (nach diesem Zitat von Bloornfield und den vorangehenden von Kroeber) als Reduktion von Qualität auf Quantität weiter als eine Reduktion von Qualität auf Form, dann ist sie in Verbindung mit dem Patternmodell auf die Linguistik anwendbar, prinzipiell aber auch auf B1oomfie1d 1926: S. 157; 1927: S. 217; 1933: S. 514, 526 B1oomfie1d 1933: S. 80 f. 4 ~ B1oomfie1d 193.3: S. 74 ff. 46 B1oomfie1d 1933: S. 78 47 B1oomfie1d 1926: S. 154 f. 41 B1oomfie1d 1926: S. 155 49 Vgl. Sapir 1933: S. 47 ~o B1oomfield 1927: S. 217 43
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eine Ethnographie, die sich auf dieselben allgemeinen Eigenschaften des Verhaltens stützt. Andere Linguisten, z.B. Z. S. Harris und K. Pike, haben sich später wieder stärker an Sapir orientiert. Auf die Interpretation von Sapirs Begriff von "psychologischer Gültigkeit" als Übereinstimmung mit einem Pattern durch Zellig S. Harris ist eingangs bereits hingewiesen worden. Auch in der Einleitung zu dem Werk, in dem Zellig S. Harrissein Modell einer distributionalistischen Linguistik vorstellt, bezieht er sich explizit auf das Patternmodell Sapirs: "It is a matter of prime importance that these elements be defined relatively to the other element and to the interrelations among all of them.
[Und in einer Fußnote hierzu:]
The most explicit Statement of the relative and patterned character of the phonologic elements is given by Edward Sapir in Sound Patterns in Language, ... "51 Wie der ältere Titel dieser Arbeit von Z.S. Harris (,,Methods in Structural Linguistics") dies hervohebt, geht es darin vor allem um die methodische Umsetzung einer Patternanalyse der Sprache. Nicht nur Phoneme, sondern auch Morpheme hat Harris in diesem Modell durch ihre Distribution oder, was als Synonym gelten kann, durch die aus empirischem Material erschlossene Position im Pattern einer Sprache bestimmt. Während also Bloomfield theoretisch der Bedeutung noch eine Rolle in der Phonologie beimaß, konnte Harris sogar in der Morphologie auf einen Rückgriff auf die mit einem Morphem verbundene Bedeutung vezichten, da nämlich nicht nur die Laute einer Sprache, sondern auch ihre Morpheme zunächst als Position in einem Pattern bestimmbar sein müssen, bevor sie von Sprechern der Sprache dazu benutzt werden können, auf etwas zu referieren. Mit einer gewissen Konsequenz hat deshalb Harris, als er zusammen mit Carl F. Voegelin 1945 - 1952 mit einigen Artikeln die ,,Language-and-Culture"-Diskussion auslöste und führte, in der Ethnographie die Anwendung von einer auf denselben Prinzipien wie in der deskriptiven Linguistik beruhenden Methodik angemahnt, wodurch eine wichtige Vorarbeit zur Entwicklung der Kognitiven Anthropologie geleistet wurde. 52
Harris 1951b: S. 7 Eine andere Position vertritt hier E. Renner ( 1980, S. 40), wenn er zu der Kontroverse anmerkt: "Andererseits ist es jedoch überraschend, daß vor allem Z.S. Harris als der wohl konsequenteste Verfechter der Ausklammerung jedes Bedeutungsaspektes aus der Analyse der sprachlichen Formen sich in einer Zeit um eine Untersuchung von Sprachinhalt im weiteren Sinne bemüht, in der der Distri-butionalismus seinen Höhepunkt erreichte und grundsätzlich keine Kompro-mißbereitschaft in Richtung Sprachinhalt zeigte. Diese von dem strikten distributionalen Forschungskonzept abweichende Auseinandersetzung mit der Sprache kann als ein Ausdruck der Weitsichtigkeit dieser Linguisten gewertet werden." Was Renner in seiner Beurteilung des Distributionalismus von Harris verkannt hat, ist die konsequente Anwendung des auf Sapir zurückgehenden Pattcrnmodells, die von Sprachbeschreibung auf die Ethnopraphie auszudehnen, Harris in der Kontroverse forderte. Am Rande möchte ich 51
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Ein anderer Linguist, der hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet hat, ist Kenneth L. Pike mit seinem Modell der "Sprache im Verhältnis zu einer einheitlichen Theorie der Struktur des menschlichen Verhaltens", das ebenfalls eine konsequente Weiterentwicklung der Programmatik Sapirs ist einschließlich des Zieles, diese Methode auch auf den Bereich der Kultur auszudehnen 53• Als eine Einheit des Verhaltens, die gleichermaßen für verbales wie für nonverbales Verhalten gilt, hat Pike darin das "behaviorem" definiert und die inzwischen verbreitete Unterscheidung von "etics" und "emics" eingeführt. Beides sind nach Pike unterschiedliche Standpunkte, von denen aus Elemente des Verhaltens (der Sprache) beschrieben werden. Während der "etic" Standpunkt Einheiten oder Segmente losgelöst von ihrem Kontext in der jeweiligen Sprache oder Kultur betrachtet, ist der "emic" Standpunkt eine Betrachtung in Relation zu den anderen Einheiten der Sprache oder Kultur. Mit dem für jedes "behaviorem" angenommen "distributional mode" knüpft Pike an den von Z. S. Harris zur Grundlage der linguistischen Methodik gemachten Begriff der Distribution an.
VI. Rezeption in der Kognitiven Anthropologie Daß das von Sapir im Bereich der Linguistik erfolgreich angewandte Patternmodell prinzipiell auch im gesamten Bereich der Kultur gelte, ist eine Aussage, die in Sapirs Schriften oft anklingt, und in seinem Werk ist insoweit eine Programmatik enthalten, die von der strukturalen bzw. deskriptivistischen Linguistik entwickelten Methoden auf die Ethnographie zu übertragen. Erst wesentlich später allerdings führte dies zur Herausbildung der Kognitiven Anthropologie, wofür als zeitliche Marke die bekannten, 1956 in der Zeitschrift Language veröffentlichten Komponentenanalysen von Goodenough und Lounsbury gelten können. 54 Wie Pike in seiner Systematik als analytische Einheit das Behaviorem definiert hat, so spielte der Gedanke einer solchen Einheit im Bereich der Kultur in Analogie zum Phonem oder Morphem in der Anfangsphase der Kognitiven Anthropologie eine gewisse Rolle. Die Frage ist jedoch älter als die Kognitive Anthropologie, wie dies eine Überlegung in der Untersuchung zum Kulturbegriff von Kroeber und Kluckhohn ( 1952) zeigt: "Most anthropologists would agree that no constant eiemental units like atoms, cells, or genes have as yet been satisfactorily established within culture in general. Many would insist that within one aspect of culture, namely language, such constant eiemental units have been isolated: phonemesss and morphemes. It
deshalb die Frage stellen, ob Kuhns Begriff des Wissenschaftsparadigmas ( 1969) eher auf Sapirs Patternbegriff als auf den Kulturbegriff anzuwenden ist. ~~Pike 1954 - 1960 I 1967 54 Goodenough 1956, Loounsbury 1956; vgl. Renner 1980 und Weiße 1984 ss Fußnote der Autoren hierzu: "Jakobson (1949, p.213) remarks, 'linguistic analysis with ist concept of ultimate phonemic entities ligually converges with
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is arguable wether such units are, in principle, discoverable in sectors of culture less automatic than speech and less closely tied (in some ways) to biological fact. We shall present both sides of this argument, for on this one point we ourselves are not in complete agreement. "56 Wie man sich leicht denken kann, war Kroeber deijenige, der die Suche nach einer dem Phonem analogen Entität im Bereich der Kultur für ausgeschlossen hielt, während Kluckhons Erwartungen in diese Richtung gingen. Die Suche nach ,,Entitäten" zeigt jedoch einen markanten Unterschied zum Patternmodell von Sapir, für den, wie erwähnt, Phoneme keine eigenständigen Größen oder Entitäten waren, sondern nur in der Bedeutung als Position in einem Pattern real waren, in dieser Weise dann aber auch sog. "psychologische" Gültigkeit besaßen.57 Wieder eine andere Variante vertritt der in der Fußnote von Kroeber & Kluckhohn zitierte Jakobson, der, um im Bild zu bleiben, nicht nur nach den Atomen einer Sprache, sondern nach ihren Elementarteilchen suchte. Das wird deutlich, wenn man den dem in der Fußnote von Kroeber & Kluckhohn enthaltenen Zitat unmittelbar vorangehenden Satz hinzunimmt: "Only in resolving the phonemes into their constituents and in identifying the ultimate entities obtained, phonemics arrives at its basic concept ... and thereby definitely breaks with the extrinsic picture of speech vividly summarized by L. Bloomfield: a continuum which can be viewed as consisting of any desired, and, through still finer analysis, infinitely increasable number of successive parts. Linguistic analysis with its concept of ultimate phonemic entities signally converges with modern physics which revealed the granular structure of matter as composed of elementary particles."s 8 Die Basis für diese Konstituenten der Phoneme sah Jakobson in den binär gedachten Artikulationsmerkmalen, die er als eine Universalie aller Sprachen betrachtete, jede Sprache also als ein anderes kombinatorisches Produkt der gleichen binären phonologischen Grundbausteine. Beiden Varianten also ist gemein, der Suche nach dem 'Atom' wie auch der Suche nach den 'Elementarteilchen' der Kultur bzw. Sprache, um im Bild zu bleiben, daß sie reines Analogiedenken sind und damit spekulativ bleiben. Für die Annahme aber, daß Sapirs "pattem of behavior" wie in allen Aspekten des Verhalten auch in Sprache und Kultur vorhanden ist, gibt es hinreichende wissenschaftliche Gründe; und vor allem, da sich das "patteming" in Sprache und Kultur auf das allgemeinere "patteming" im Verhalten (und der anatomischen Morphologie) zurückführen läßt, sind die Patterns in Sprache und Kultur keine modern physics wich revealed the granular structure of matter as composed of the elementary particles. "' s6 Kroeber & Kluckhohn 1953: S. 162 f. s7 Vgl. Fußnote 36. ss Jakobson 1949: S. 213
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Analogie, sondern eine Homologie; und die bietet in der Regel eine solidere Basis für die Übertragung von Methoden aus dem einen in den anderen Bereich.
Zu dem Zeitpunkt, als Goodenough, Lounsbury und andere Mitte der 50er Jahre mit ihren Komponentenanalysen59 und anderen analytischen Modellen der Kulturbeschreibung vor die Fachwelt traten und damit die Wende zur Begründung der Kognitiven Anthropologie einleiteten, waren in dem Auditorium, an das sie sich richteten, verschiedene Erwartungen vorhanden, auf welcher analytischen Basis man Kultur mit ähnlichen strukturalen Methoden wie Sprache beschreiben könnte. Das war zum einen die Erwartung, die an die von Kluckhohn in dem obigen Zitat vertretene Auffassung anschließt, es müsse den Phonemen und Morphemen vergleichbare deskriptive Entitäten im Bereich der Kultur geben. In der Anfangszeit der Kognitiven Anthropologie hat es mehrere Ansätze zu sog. semologischen Modellen gegeben, in denen im »Semem« die gesuchte Einheit der Bedeutung bzw. Kultur gesehen wurde. Auch Bloomfield hatte in seinem Buch ,,Language" ein Semem als die Bedeutung eines Morphems definiert, meinte aber, daß das Semem mit Mitteln der Linguistik nicht analysierbar sei 60• Als Goodenough 1956 in seiner Komponentenanalyse das Semem als analytische Einheit betrachtete, definierte er es als Bedeutung eines Lexem, d.h. einer Einheit der sprachlichen Form, deren Bedeutung nicht aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile und deren Kombination herleitbar sei61 • Vergleicht man aber etwa spanische Verwandtschaftstermini wie "tio:tia" usw. mit deutschen ("Onkel : Tante") oder englischen, dann müßte man sagen, daß die Bedeutung im Spanischen aus zwei Sememen zusammengesetzt wäre, im Deutschen und Englischen aber nur aus einem Semem besteht. Soweit die angenommenen Sememe in beiden Sprachen nur Nebenaspekte sprachlicher Formen sind, ist das legitim. Deshalb verschiedene kognitive Strukturen anzunehmen, wäre kaum gerechtfer-
59 Die Komponentenanalyse stammt ursprünglich aus der europäischen linguistischen Tradition, in der sie von Trier (1931, 1934) zur Begründung seiner Wortfeldtheorie entwickelt wurde. Wie Trier später (1968: S. 10, 12, 15) sagte, entspreche der darin enthaltene Strukturbegriff dem von de Saussure, der an die Stelle von positiven Einheiten ein System von Unterschieden setze. Eine Komponentenanalyse ist insofern auch die Phonologie Jakobsons, indem sie die Phoneme als Einheiten in distinktive Lautmerkmale auflöst. Während Goodenough (1956: S. 195) sich allgemein auf die linguistische Anwendung der Komponentenanalyse beruft, zitiert Lounsbury (1956: S. 161 u. Anm. 6 u. 7) Anwendungen des Verfahrens von Jakobson (1936), Sebeok (1946), Wonder1y (1952) und Harris (1948), nicht jedoch auf die Tradition von Trier. 60 Bloomfield 1933: S. 162: "The meaning of a morpheme is a sememe. The Iinguist assumes that each sememe is a constant and definite unit of meaning, different from all meanings, including all other sememes, in the laguage, but he cannot go beyond this." 61 Goodenough 1956: S. 197, 199, 208
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tigt. 62 Mit dieser und anderen Definitionen erweist sich das Semem daher eher als ein Anhängsel von Einheiten der sprachlichen Form als eine aMlytische Einheit der Bedeutung. Eine besondere Erwartung, die an Verfahren wie die Komponentenanalyse herangetragen wurde, war die Suche nach semantischen Grundbausteinen in Analogie zu den phonologischen Konstituenten von Jakobson u.a. Dabei wurden diese gesuchten Grundbausteine allerdings nicht in Sinne von Universalien, sondern im Sinne von grundlegenden kulturspezifischen "covert categories" gesehen mit einer gewissen Anlehnung an die Erwartungen, die Boas an die grammatischen Kategorien geknüpft hatte. Ausgangspunkt dafür war der Begriff vom Semem (oder einer anderen Einheit) als Bündel distinktiver semantischer Merkmale in Analogie zum Phonem als Bündel distinktiver Lautmerkmale. In diesem Sinne stellt Lounsbury in seiner Komponentenanalyse (1956) eine AMlogie zwischen der phonologischen Analyse und der semantischen Analyse von Verwandtschaftstermini auf der Basis einer Komponentenanalyse her63 :
Tabelle Phones. Unique Events.
Kinsmen. Unique individuals.
Phone type. A class of phones heard and transcribed as the same by the phonetican. [... ]
Kin type. A class of kinsmen given the same designation by the ethnologist. [... ]
Phoneme. A class on noncontraslive phone types which share a dis-tinctive bundle of phonetic features. [A phoneme can be defined by listing the principa1 phone types (allophones) which be1ong to it; or it can be defined by stating the defining phonetic features of the class.]
Kin class. A class of kin types which are not contrasted terminologically and which share some distinctive bundle of semantic features. [A kin class can be described by listing the principa1 kin types which belong to it; or it . can be defined b y stating the defining semantic features of the class.]
Unbestritten haben Goodenough und Lounsbury mit ihren Komponentenanalysen Beiträge zur Entwicklung der Kognitiven Anthropologie erbracht, die kaum überschätzt werden können. Eine andere Frage als die Würdigung dieser beiden Leistungen ist aber, ob daraus geschlossen werden kann, daß eine Kornpanentenauflösung eines semantischen Feldes generell den Schluß erlaubt, daß diese Komponenten kognitive ("psychologische") Gültigkeit haben und, soweit sie nicht mit Termini der jeweiligen Sprache belegt werden können, sog. 62 6)
Vgl. Lounsbury 1956: S. 159 Lounsbury 1956: S. 191 f.
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"covert categories" sind. Während man in dieser Frage zunächst sehr optimistisch war, hat 1964 ein Artikel von Robbins Burling64 im American Anthropologist zu einer erheblichen Verunsicherung geführt. Als ein kombinatorisches Rechenexempel wies Burling nach, daß schon bei einer kleinen Zahl von Termini eine astronomisch große Zahl von unterschiedlichen Komponentenauflösungen prinzipiell möglich sei. Auch wenn sich dagegen einwenden läßt, daß bei einer solchen Analyse in der Regel auch weiteres ethnographisches Wissen eingesetzt wird und daß von den kombinatorisch möglichen Komponenten die Mehrzahl für den Ethnographen kaum definierbar wäre, räumt dies doch die Kritik am Verfahren als solchem, als Methode zum Erreichen kognitiver Gültigkeit, letztlich nicht aus. Eine Konsequenz, die Burling selbst vorgeschlagen hat, war, auf die PostuIierung kognitiver ("psychologischer") Gültigkeit für die Komponentenauflösung zu verzichten und in ihnen Generationsregeln im Sinne des in jener Zeit aufgekommenen linguistischen Generativismus Chomskys zu sehen.65 Mag diese Entscheidung auch wissenschaftlich legitim sein, so ist dies doch damit auch eine Abkehr von einer "Kognitiven" Anthropologie. Einen anderen Weg zur Lösung des Problems der "psychologischen Gültigkeit", was hier vielleicht besser mit "psychologischer Validität" übersetzt werden sollte, haben Wissenschaftler wie Anthony F. C. Wallace, John Atkin, A. Kimball Romney und Roy G. D'Andrade vorgeschlagen66 • Mit Verfahren wie der Komponentenanalyse sollten Aussagen mit ,,sozial-strukturaler" Gültigkeit erzielt werden, und in nachher (und ggf. auch schon vorher) ausgeführten individualpsychologischen Tests sollten diese Daten dann psychologisch validisiert werden. Da der Anspruch einer akademischen Disziplin, gültige Aussagen zu machen, ihr Wesen berührt, mag es bereits skeptisch stimmen, wenn eine Disziplin die Ergebnisse ihrer Analysen quasi im Nachhinein von einer anderen validisieren läßt. Und diese Skepsis wird bestätigt, wenn man bei Romney & D'Andrade liest, daß sie genau das Element der deskriptivistischen Linguistik, das für Sapir, Bloomfield und andere die Linguistik zu einer Wissenschaft ("science") gemacht hat, gegen ihren Triaden-Test austauschen: "This task of choosing the most different of three items is a slightly more complex variety of the frequently used procedure of asking persons to state 64 Ausgelöst wurde die Diskussion durch den Artikel von Robbins Burling ( 1964) "Cognition and Componential Analysis: God's Truth or Hocus Pocus". Zuvor war die Frage auch schon von Wallace & Atkins (1960) und Wallace (1962) angesprochen worden. Erwiderungen zu Hurlings Artikel (1964) geben Hymes (1964), Frake (1964) und Hammel (1964); den Versuch einer Zusammenfassung gibt Wallace (1965). 65 Burling 1964: S. 426 66 Der Vorschlag, "psychologische Validität" durch Einbeziehung individualpsychologischer Verfahren zu erzielen, wurde zunächst von Wallace & Atkins (1960: S. 75 ff.) unterbreitet, bei Wallace (1962) erneut aufgegriffen und von Romney & D'Andrade (1964) in einer empirischen Untersuchung exemplifiziert.
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whether two items are the same or different. Here, the person is asked which two of three objects are more similar, or which one is more different. •w 7
Allerdings wird dadurch illustriert, daß es sinnvoll ist, den seit Boas mißverständlichen Terminus "psychologische Gültigkeit" durch einen anderen wie "kognitive Gültigkeit" zu ersetzen. Die erwähnte Krise, in die das Vertrauen auf die Komponentenanalyse68 als Methode kognitiver Kulturbeschreibung nach der ersten Dekade geraten ist, betrifft aber eigentlich weniger das Verfahren als solches, sondern mehr den der Methodenanalogie zugrundegelegten phonologisch-semantischen Strukturbegriff. Wie das zuvor abgebildete Analogiemodell nach Lounsbury zeigt, ist der zugrundegelegte und in den Bereich der Semantik übertragene Phonem- bzw. Strukturbegriff der eines Bündels distinktiver Merkmale, wie er, was zuvor gezeigt worden ist, von Jakobsan und in gewissem Sinne auch von Bloomfield vertreten worden ist, während Sapir in seinem Patternmodell die Reduzierung der Phoneme bzw. Positionen im Pattern auf distinktive Markmale betont abgelehnt hat. Und während Sapir vom Pattern her "psychologische", d.h. kognitive, Gültigkeit postuliert, lehnt Jakobsan für sein phonologisches Modell universal gedachter binärer Merkmale eine psychologische Begründung wie Gültigkeit ebenso dezidiert ab69 • Insoweit ist es nicht schlüssig, wenn für das phonologische Original eines Strukturmodells (als ein System seiner selbst) keine kognitive Gültigkeit beansprucht wird, diese dann aber bei der analogen Übertragung in den Bereich der Bedeutung zu postulieren. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang zwei Komponentenanalysen von Zellig S. Harris aus den Jahren 1944 und 1948, von denen die erste das Verfahren auf die Phonologie und die zweite auf die Morphologie anwendet. Der ersten Analyse ist eine eingehende Diskussion mit Roman Jakobsan vorausgegangen70, und im Text selbst lehnt Harris die Auflösung aller Phoneme einer
Romney & D'Andrade 1964: S. 386 Die Komponentenanalyse exemplifiziert das Problem zwar besonders deutlich, da das phonologische Strukturmodell im Grunde eine Komponentenanalyse ist; grundsätzlich besteht das Problem aber auch bei der Anwendung anderer Verfahren, z.B. der taxonomischen Analyse. So bestehen nach Sturtevant (1964) die analytischen Operationen der "ethnoscience" (Kognitive Anthropologie) wesentlich im "Klassifizieren" (was in der taxonomischen Analyse seinen klarsten Ausdruck findet) von Einheiten eines "etic grid" (nach Pike 1954) bei einer Selektion von "culture-free characteristics/features" (vgl. Sturtevant 1964: 10 I f.). Sowohl der Begriff "culture-free features" als auch die Vorstellung, die Begriffe einer Kultur seien durch Selektion solcher "kulturfreier" Merkmale faßbar, widersprechen diametral dem Patternmodell von Sapir (1925: 51), das er mit den Worten zusammenfaßt "The whole aim and spirit of this paper has been to show that phonetic phenomena are not physical phenomena per se, ..." 69 So nach Jakobson 1949: S. 205, der insoweit auch Trubetzkoy ( 1939) folgt. 70 Harris 1944: S. 181 Anm. 1 67
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Sprache in binäre Komponenten, wie das die Linguisten der Prager Schule praktizieren, entschieden ab: "The Prague Circle more closely approached the technique of dividing elements into simultaneaus components, but purely on arbitrary phonetic grounds, when they said that the difference between two phonemes was not a vs. b, but a vs. a + x (where x is a Merkmal denoting the extra features which differentiate b from a).'m "Such expressions of phonemes in termes of components arenot in themselves of value to linguistics. The advantage they offer in reduction of the number of elements may be more than offset if connecting them with the distributional and phonetic facts require more complicated statements than are required for regular phonemes. "72 Die von Harris analysierten phonologischen Komponenten sind solche Merkmale, die sich zwar nicht durch Segmentation einer Lautfolge isotierbar sind, sondern, wie z.B. Akzent oder Intonation, simultan zu einem oder mehreren Phonemen vorkommen, aber durch ihre Distribution genauso bestimmbar sind wie durch phonetische Segmente repräsentierte Phoneme. Entsprechend hat Harris in der zweiten Komponentenanalyse morphologische Komponenten angenommen, wenn die Komponenten zwar durch ein als Phonemfolge nicht weiter teilbares Morphem repräsentiert sind, von ihrer Distribution her die Komponenten sich aber verhalten, als wären sie durch je ein Morphem repräsentiert. Komponenten sind demnach solche Einheiten der sprachlichen Form, aber, wenn es darauf angewendet wird, auch der Bedeutung, die zwar keine isoliert faßbare Repräsentation haben, wohl aber durch ihre Distribution oder, was insoweit als synonym betrachtet werden kann, durch ihre Position in einem Pattern bestimmt werden können. Während für den Beginn der Kognitiven Anthropologie die Komponentenanalysen von Goodenough und Lounsbury als eine Wendemarke gelten können, bei der bestimmte formale Prozedureil Aufsehen erregten, dürfte der Wert des Ansatzes in neuerer Zeit vor allem in einer Revolutionierung der Methodik der ethnographischen Feldforschung zu suchen sein. Als ein Beispiel hierftir kann die von Spradley entwickelte ,,Developmental Research Sequence (DRS)" angesehen werden, quasi als eine Art Ethnographie der Handlungen, die von Ethnologen zur Ausübung der ethnographischen Feldforschung entwickelt worden sind. Am Beispiel der Methoden des ethnographischen Interviews und der teilnehmenden Beobachtung wird eine in 12 Arbeitsschritte gegliederte Prozedur entwickelt.n Als zentrales Element seines Ansatzes hebt Spradley in seinem Buch über das ethnographische Interview eine ,,Relational Theory of Meaning" hervor, die Harris 1944: S. 183 Anm. 3 Harris 1944: S. 186 B Spradley 1979: "The Ethnographie Interview." derselbe 1980: .,Participant Observation." 71
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davon ausgeht, daß "all cultural meaning is created by using symbols. "74 Zum Verständnis des Vorgehens sei es deshalb wichtig, zu wissen, wie mit dem Gebrauch von Symbolen kulturelle Bedeutung konstituiert wird. Das sei zunächst einmal die mit dem Gebrauch eines Terminus verbundene referentielle Bedeutung. In diesem Sinne referiert der Terminus ,,Maus" auf ein kleines Nagetier. Aber diese referentielle Beziehung sage noch nichts dariiber aus, daß Kinder Mäuse als Haustiere halten, manche Erwachsene Angst vor Mäusen haben, daß es Unternehmen gibt, die Mäusegift, Mausefallen, Filme, in denen Mäuse handeln, und Mickey-Maus-Hemden und -Mützen verkaufen, daß Mäuse für wissenschaftliche Experimente benutzt werden .... ,,A full cultural definition of this symbol would include all these things and many more." Ein Weg, wie Wissenschaftler dieses Problem zu lösen versucht hätten, sei die Unterscheidung von Denotation und Konnotation gewesen, nach der die erste Bedeutung, die auf das Nagetier verweist, die denotative oder referentielle Bedeutung, die andere die konnotative Bedeutung sei. Diese Unterscheidung sei zwar in anderen Zusammenhängen sinnvoll, tauge aber nicht zur Lösung der Probleme der Ethnographie. "For purposes of ethnographic research, I think it is more useful to Iook at cultural meaning systems from the perspective of a relational theory of meaning. This will shift our attention away from what a particular symbol denotes and connotes to the system of symbols that constitute a culture. .... A relational theory of meaning is based on the following premise: the meaning of any symbol is its relationship to other symbols. "15 Damit wird, wenn auch ohne expliziten Bezug darauf, der ethnographisch relevante Begriff von Bedeutung auf das Patternmodell Sapirs zurückgeführt. Die "relationale Theorie der Bedeutung" faßt Spradley wie folgt zusammen: I. 2. 3. 4.
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Cultural meaning systems are encoded in symbols. Language is the primary symbol system that encodes cultural meaning in every society. Language can be used to talk about all other encoded symbols. The meaning of any symbol is its relationship to other symbols in a particular culture. The task of ethnography is to decode cultural symbols and identify the underlying coding rules. This can be accomplished by discovering the relationships among cultural symbols."76
Sprad1ey 1979: S. 95 Sprad1ey 1979: S. 96 f. Sprad1ey 1979: S. 98
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In einer Anmerkung zu diesem Kapitel führt Spradley (1979: 219) aus: "Although this theory is intended as a set of propositions that will explain how meaning works in human cultural systems, it is presented here primarily as a heuristic theory, that is, one designed to further the investigation of meaning. u77
Diese ,,heuristische Theorie referentieller Bedeutung" ist jedoch nicht nur ein programmatischer Entwurf, sondern sie ist eingebettet in einen entwickelten Ansatz der ethnographischen Feldforschung, den Spradley zum einen auf das "ethnographische Interview" und zum anderen auf die "teilnehmende Beobachtung" bezieht. In beiden Fällen jedoch dient als methodischer Ansatzpunkt der Bezugsrahmen von Frage und Antwort. Im ethnographischen Interview sind dies vorzugsweise (wenn auch nicht ausschließlich) explizit gestellte Fragen. Außer diesen expliziten Fragen spielen in der ethnographischen Feldforschung aber auch implizite Fragen eine Rolle. Wenn z.B. jemand an den Fahrkartenschalter der Bahn tritt und, ohne danach gefragt worden zu sein, sagt: ,,Bitte eine Rückfahrkarte nach Leipzig!", dann ist dies eine zulässige Antwort auf die im Handlungskontext des Fahrkartenschalters implizierte Frage: "Was für eine Fahrkarte möchten Sie lösen?" Teilnehmende Beobachtung - wie Spradley sie als ethnographische Feldforschung im Unterschied zur sozialwissenschaftliehen teilnehmenden Beobachtung versteht- sollte in diesem Sinne verstanden werden als eine Ausdehnung der auf dem Bezugsrahmen von Frage und Antwort aufbauenden Methode auf implizite Fragen und nonverbale Antworten. Die von Spradley verwendete Unterscheidung von referentieller und relationaler Bedeutung läßt sich auf den Bezugsrahmen von Frage und Antwort anwenden. Üblicherweise ist es das Interesse der Fragenden, Information im Sinne referentieller Bedeutung zu erhalten. Dabei wird die relationale Bedeutung in der Regel vorausgesetzt, um auf ihrer Grundlage die referentielle Bedeutung richtig interpretieren zu können. Um an dem von mir gewählten Beispiel des Fahrkartenschalters anzuknüpfen: Würde jemand an den Fahrkartenschalter der Eisenbahn gehen und um einen Sammelfahrschein für den (städtischen) Omnibus bitten, dann wäre die zu erwartende Erwiderung gleichbedeutend mit der analytischen Feststellung, daß diese 'Antwort' [auf eine implizite Frage} eine Regel der in diesem kulturellen Kontext geltenden relationalen Bedeutung verletzt. Das findet u.a. seinen Ausdruck in der Gewohnheit, bei der Bahn von Fahrkarten und bei den städtischen Verkehrsbetrieben von Fahrscheinen zu sprechen. Der Bezugsrahmen von Frage und Antwort erweist sich damit als ein geeignetes methodisches Mittel, um in einer ethnographischen Feldforschung 'relationale Bedeutungen' zu erfragen, was natürlich von den üblichen, mit einer Frage verbundenen Erwartung abweicht. Wir haben zwar als kulturell kompetente Mitglieder einer Gemeinschaft gelernt, die 'relationale Bedeutung' richtig zu gebrauchen, um referentielle Bedeutungen zu übermitteln, aber da uns die Regeln unserer Kultur, ihr "Patterning", weitgehend unbewußt sind, fallt es uns 77
Spradley 1979: S. 219, Fußnote 4 zu "A Relational Theory of Meaning", S. 95
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schwer, gezielte referentielle Fragen auf Regeln der relationalen Bedeutung zu beantworten. Ethnographische Feldforschung stellt deshalb Fragen so, daß sie als Fragen nach referentieller Bedeutung beantwortet werden können, aber unter dem Gesichtspunkt der zugrundegelegten relationalen Bedeutung analy-siert werden. Die von Spradley beschriebene Methode der ethnographischen Feldforschung entspricht damit in den grundlegenden Operationen dem, was beispielsweise Zellig S. Harris in der linguistischen Analyse mit bezug auf die Distribution entwickelt hat. Beide, Distribution und "relationale Bedeutung", lassen sich auf ein ihnen zugrundeliegendes Prinzip zurückführen: das [kognitive] Pattern, wie es von Edward Sapir entwickelt worden ist. Diese Parallelität von deskriptiver Linguistik und Ethnographie ist mit dem theoretischen Bezug auf den Patternbegriff Sapirs aber nicht mehr nur eine äußerliche Methodenanalogie, sondern eine theoretisch verifizierbare homologe Anwendung derselben Methodik in verschiedenen Bereichen. Ziel dieses Artikels war es aufzuzeigen, daß zur Weiterentwicklung einer Theorie und Methodik der "relationalen Bedeutung", wie Spradley sie genannt hat, oder der Patternanalyse, wie ich sie nennen möchte, auch eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive beitragen kann. Die Einsicht über diese Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Entwicklung unseres Faches ist mir wesentlich von meinem Lehrer Wolfgang Rudolph vermittelt worden.
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Teil B
Trance und Schamanismus
Persönliche Kontakte zum Übersinnlichen in Tranceerlebnissen im mittelalterlichen und nachtridentinisch-katholischen Christentum Überlegungen zum Problem der interkulturellen Vergleichsebenen in der Ethnologie Von Jürgen Jensen In diesem Beitrag geht es darum, an einem Beispiel aufzuzeigen, daß die Einbeziehung komplexer Gesellschaften einschließlich der westlichen Industriegesellschaften in die ethnologische Forschung in verschiedener Hinsicht noch erhebliche Defizite aufweist. Jedoch gerade dadurch eröffnen sich Wege zu neuen Forschungsfeldern und alte Problemstellungen erhalten neue Impulse. Einerseits gibt es ethnographische Phänomene in komplexen Gesellschaften, die 00" ethnographischen Forschungsmethodik besonders adäquat sind, andererseits erschließen sich Möglichkeiten, besser als bisher interkulturell die gesamte Variationsbreite vergleichbarer Phänomene zu erfassen. Vor allem auf den zweiten Aspekt, die vergleichende Untersuchung, soll hier das Augenmerk gerichtet werden. Bei dem Beispiel handelt es sich um das Phänomen der persönlichen Kontakte zu übersinnlichen Wesenheiten durch als wirkliche Begegnungen empfundene Visionen und Auditionen, die bis heute in katholischen Gebieten eine große Bedeutung haben. Des weiteren geht es dann um die Zuordnung zu einer interkulturell zu untersuchenden Kategorie solcher persönlichen Kontakte zu übersinnlichen Personen und Ereigniskomplexen im Zustand von Trance; denn die Visionen und Auditionen in der christlichen Tradition ereignen sich allen detaillierten Beschreibungen nach in einem Zustand von Trance, bei dem Wahrnehmungen und Kontakte zur Umgebung weitgehend verändert sind und von außen gesehen charakteristische Verhaltensänderungen eintreten, wie sie heute allgemein unter dem Begriff "religiöse Trance" beschrieben werden (Goodman 1994:48-55). In der katholisch-religiösen Literatur spricht man häufig von ,,Ekstase" oder "Verzückung". Die schriftliche Überlieferung des Christentums bietet reichhaltiges Material für die Verankerung einer Tradition von persönlichen Kontakten durch Visionen
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Jürgen Jensen
und Auditionen 1• Im Alten Testament erscheint Gott selbst ausgewählten Personen oder spricht zu ihnen, oder aber es erscheinen Engel. Dieses setzt sich im Neuen Testament fort in den Engelserscheinungen der Verkündigung und in der Geburtsnacht, in Christi Versuchung, in seinen Erscheinungen zwischen Auferstehung und Himmelfahrt und in der insgesamt als Vision interpretierten Offenbarung des Johannes. Wenn auch die Bibel insgesamt als "Wort Gottes" gilt, so sind diese persönlichen Begegnungen doch die Grundsteine für die Beziehungen zwischen den Menschen und den übersinnlichen Kräften. In den Heiligenlegenden aus der Zeit des Frühchristentums, die besonders bei den Kirchenvätern zu finden sind und dann die Hauptmasse des Materials in der ,,Legenda aurea" bilden, finden sich weitere Beispiele für persönliche Kontakte zwischen Menschen, in diesem Fall Heiligen, und übersinnlichen Mächten: hier geht es um Visionen vornehmlich von Engeln und Dämonen/Teufeln, manchmal aber auch von Christus und schon verstorbenen Heiligen (Jacobus de Voragine 1925). Die Möglichkeit des unmittelbaren Kontaktes zu den übersinnlichen Mächten gehörte damit für die Menschen des Mittelalters zum Grundbestand der religiösen Überzeugungen, mit deren jederzeitigem, wenn auch unvorhersehbaren Auftreten man rechnen konnte. Die Unvorhersehbarkeit gehörte notwendig zu dem betreffenden Glaubenskomplex, weil - wie in den Texten eindeutig erkennbar - nicht der Mensch von sich aus den Kontakt aufnehmen konnte, sondern die Initiative stets von den übersinnlichen Kräften ausging.
Im Mittelalter nun, besonders seit dem 11. Jahrhundert, von welcher Periode an einerseits die Schriftquellen insgesamt anfangen reichlicher zu fließen und andererseits vielfache religiöse Neuentwicklungen zu verzeichnen sind, liegen zahlreiche Belege für Visionen sowohl von Geistlichen wie von Laien vor. Die Inhalte der Visionen wiesen eine außerordentliche Variationsbreite auf und sie waren von ganz unterschiedlicher Dauer, hatten auch ganz verschiedene Zielrichtungen. Da gab es die differenzierten Visionen der Hildegard von Bingen, die eine Version des damaligen Weltbildes in bildhafter Form enthielten (Hildegard von Bingen 1992). Es gab Visionen von Himmel und Hölle und solche von Jenseitsreisen, wie sie dann dichterisch von Dante in der "Göttlichen Komödie" dargelegt wurden und die wesentlichen Anschauungen der sich entwickelnden Vorstellung vom Fegefeuer lieferten (Le Goff 1990). Es gab Erscheinungen von Christus, Maria und diversen Heiligen, aber auch vom Teufel. Manchmal hatten die Visionen mehr persönlichen Charakter und bildeten den Höhepunkt einer intensiven Beziehung zu verehrten himmlischen Personen. Manchmal enthielten die Visionen Anweisungen oder Botschaften für die Allgemeinheit oder theologische Lehren. Die Erscheinung des heiligen Jakob brachte wohl auch verirrte Reisende auf den richtigen Weg (Jacobus de Voragine 1925:402-497). Manchmal sind nur sehr knapp die Inhalte der Visionen überliefert, z.T. aber auch die näheren Umstände. So ist insbesondere von diversen Geistlichen und 1 Im folgenden wird nur noch von "Visionen" gesprochen; "Auditionen" sind dann aber stets mitgemeint
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anderen, die später als Heilige verehrt wurden, überliefert, daß sie oft ein strenges Büßerleben mit religiösen Übungen, Fasten, Schlafentzug und Kasteiungen führten, häufig krank oder kurz vor dem Tode waren. Berücksichtigt man die Zufälligkeilen der Quellenlage, ist mit einer erheblich größeren Zahl von stattgehabten Fällen zu rechnen. Insgesamt kann man davon ausgehen, daß das Wissen um solche Ereignisse und um die Möglichkeit ihres jederzeit plötzlichen Auftretens nicht nur bei ausgewählten Geistlichen, sondern auch bei sonstigen Personen allgemein verbreitet war, ja zum Grundbestand der religiösen Überzeugungen gehörte. Im Zeitalter der religiösen Bewegungen (15./16. Jahrhundert) gab es einerseits die reformatorischen, zum Protestantismus fUhrenden Entwicklungen, die in der Konsequenz auch beinhalteten, daß unmittelbare Beziehungen zu jenseitigen Wesen nicht möglich sind, da die Heilige Schrift als einzige Quelle der Offenbarung zu gelten hat, durch deren Kenntnis jeder hinreichend Zugang zum Übersinnlichen haben konnte. Gleichzeitig gab es jedoch im Katholizismus entgegengesetzte Strömungen neuer religiöser Innerlichkeit. In deren Rahmen nahm das Visionswesen offensichtlich stark zu. So traten im Zuge des auflebenden Marienkultes in weiter altgläubigen Gebieten Europas die Manenerscheinungen verstärkt auf, und zwar gewöhnlich in der Form, daß Maria jemandem aus der einfachen Bevölkerung, gewöhnlich einem Bauern, erschien und zumeist die Errichtung einer Kultstätte, die dann zur Gnadenstätte wurde, wünschte, oder zur allgemeinen Buße aufrief, so in Savona /Ligurien (Sabatelli 1985). Die Erscheinung der Jungfrau von Guadelupe in Mexiko fällt ganz in den Rahmen der vorangehenden bzw. unmittelbar zeitgenössischen übernatürlichen Erscheinungen in Buropa (Hierzenberger u. Nedomanski 1993:123-128). Insgesamt nahmen die Visionen so zu, daß die kirchlichen Autoritäten auch hier Möglichkeiten für das Aufkommen von Irrlehren sahen und die Inquisation sich mit solchen Fällen befaßte, mit dem Resultat, daß es auch zu spektakulären Widerrufen kam und damit die Möglichkeit in den Vordergrund gerückt wurde, daß es sich oftmals eher um Vorspiegelungen des Teufels handeln würde (Auclair 1953:91, Dobhan u. Körner 1992:74-75). Manche Reformer, wie Johannes vom Kreuz und Philipp Neri, die selbst Visionen hatten, empfahlen überhaupt, Visionen keine Beachtung zu schenken, eben weil durch Christi Wirken die Offenbarung abgeschlossen wäre, so daß dieser durch gegenwärtige Visionen nichts mehr hinzugefügt werden kann, aber sich leicht Täuschungen einschleichen können; anzustrebendes religiöses Ziel im Bereich übersinnlicher Erfahrungen war allein das mystische Vereinigungserlebnis (Johannes vom Kreuz 1989:124-218, Türks 1995:36). Seither wurden Vorkommnisse von Visionen bei Geistlichen wie Laien in der katholischen Kirche genau untersucht, wenn sie zu größeren Aufsehen führten. Dadurch wurde die Zahl der anerkannten Fälle begrenzt, es bedurfte der Argumente, um anzuerkennen, daß es sich um "echte" Visionen handelte. Eine wahrscheinlich weiterhin große Zahl von Visionen wurde damit abgetan, daß insbesondere Frauen zu übersteigerter Phantasie oder Vorspiegelungen des Teufels neigten (Vita, e ratti ...,2,1688:5, Maria von Agreda,1,1992:445).
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Eine Folge war, daß Fälle von Visionen recht genau dokumentiert wurden stark interessenmäßig gefärbt, versteht sich - und daher relativ viel Quellenmaterial zu anerkannten Fällen produziert wurde, das Forschungen erleichtert und auch bereits zu vielen veröffentlichten Dokumentationen und historisch-biographischen Untersuchungen geführt hat. Weitgehend unbearbeitet geblieben sind nichtanerkannte oder relativ unbeachtet gebliebene ältere historische Fälle, die wahrscheinlich anzahlmäßig die bekannten, gut belegten an Zahl weit übertreffen dürften. In der nachtridentinischen Zeit gab es Fälle häufig wiederholteT, inhaltlich differenzierter vielgestaltiger Visionen besonders bei Ordensmitgliedem, kurze, mit knappen Botschaften versehene Visionen dagegen mehr bei Laien, oft aus den unteren Volksschichten. Dies änderte sich jedoch im Verlauf der Jahrhunderte. Ordensleute wurden mit dem 19. Jahrhundert überhaupt sehr viel seltener unter den Sehern - Katharina Laboure und Johann Bosco waren schon Ausnahmen - und die Zahl von Laien (von denen einige später allerdings in Orden eintraten ) nahm zu: sie beherrschten praktisch das Feld und nun gab es auch unter diesen eine ganze Reihe mit sehr häufig sich wiederholenden, inhaltlich vielgestaltigen und differenzierten Visionen (Hierzenberger u. Nedomansky 1993). Es gab in katholischen Gebieten von der Gegenreformation bis zur Gegenwart eine Vielzahl übersinnlicher Wesen, die in Visionen auftraten: Gottvater, Christus, Maria, viele Heilige, Engel, der Teufel und Dämonen sowie Verstorbene aus dem Fegefeuer. Die Anlässe waren ebenfalls vielfältig. Es gab Gesamtvisionen von Himmel und Hölle, Erscheinungen ohne Anrede, Ansprachen und Gespräche zu persönlichen Angelegenheiten des geistigen Lebens oder auch von Problemsituationen der Seher selbst, Aufforderungen an die Allgemeinheit (wie zur Begründung einer Kapelle oder zur Buße und Umkehr), die persönliche Teilnahme am Leidensweg Christi, die Herzdurchbohrung (Teresa von Avila), die Vermählung mit Christus ( Teresa v. Avila, Rosa von Lima, Maria Magdalena von den Pazzi), Berichte über Ereignisse in der übersinnlichen Welt (z.B. ßt>. richte von Verstorbenen über Ursachen und Art ihrer Strafen im Fegefeuer), die Übermittlung von Darstellungen früherer Ereignisse, etwa zum Marienleben, Übermittlung von Lehrtexten und theologischen Auslegungen, apokalyptische Prophezeibungen u.a.. Apokalyptische Prophezeibungen waren - im Gegensatz zu den übrigen Inhalten - relativ neu und bilden eine besondere Kategorie von Botschaften Marias. Sie beginnen mit den Erscheinungen von La Salette 1846, finden in den Erscheinungen von Fatima 1917 einen international aufsehenerregenden ersten Höhepunkt und häufen sich in den letzten Jahrzehnten; die bis zur Gegenwart sich fortsetzenden Erscheinungen von Medjugorje (ab 1981) und Bayside/New York (ab 1970) sind nur die bekanntesten darunter. Insgesamt muß damit gerechnet werden, daß Vorkommnisse von Visionen rezent auch sehr viel häufiger im katholischen Bereich waren und weiterhin sind, als es zunächst den Anschein auf Grund von Übersichten hat, obwohl auch diese bereits eine große Fülle erkennen lassen (Skunka 1984, Bortolotti u. Mantero 1988, Ernst 1989, Hierzenberger u. Nedomansky 1993). So hat es im Umkreis meines Feldforschungsgebietes in Finale Ligure im Verlauf der letzten 150 Jahre allein mehrere Fälle von Marienvisionen gegeben, von denen nur
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einer weiter bekanntgeworden ist und auch in den italienischen Medien bekanntgemacht wurde. Eine erste bekanntgewordene Vision, die allerdings schlecht belegt ist, ist für 1850 in dem kleinen Ort Calice im Hinterland von Finale Ligure zu verzeichnen. Einigen Hirtenkindem erschien eine Frau, die dann als Maria gedeutet wurde. An der Erscheinungsstelle wurde später eine kleine Gnadenkapelle errichtet (Vado 1984:82). Im Jahre 1874 erschien Maria zwei Hirtenkindem bei einem kleinen Dorf Feglino im Hinterland von Finale Ligure mehrmals, dann auch noch einer Reihe anderer Personen über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg (Rosselli 1897). Die Erscheinung wurde vom Bischof anerkannt, es wurde zunächst eine kleine Kapelle, später eine Kirche als Gnadenstätte erbaut, und es wurden Wunderheilungen unter den herbeiströmenden Gläubigen notiert. Der Erscheinungstag wurde zum lokalen Festtag und so wurde permanent ein Kult institutionalisiert. Ab 1949 hatte eine Frau in einem anderen Ort im ligurischen Küstenhinterland, in Balestrino, über 22 Jahre hinweg regelmäßig Marlenerscheinungen (Mantero 1986). Auch dieses führte mit bischhöflicher Billigung zur Widmung einer bestehenden Kapelle als einer Gnadenstätte. Ein Bauer aus einem benachbarten Ort Gorra (zur Gemeinde Finale Ligure gehörend) , der zu den Kultanhängern in Balestrino gehört hatte, fühlte sich eines Tages im Jahr 1987 von einem Lichtstrahl von Balestrino zu einer kleinen Kapelle im benachbarten Verezzi geleitet, wo er von da an regelmäßig Marienerscheinungen hatte und sich zu dem Ereignis jeden 7. eines Monats eine Kultgemeinschaft zusammenfand (Granero 1994). Ab 1989 trat dort ein anderer Seher in den Vordergrund, der Kult verlagerte sich zu einem Steinkreuz ins Freie und der Pfarrer des Ortes richtete ein ungenutztes Oratorium als Gnadenstätte ein. Dieser Seher erhielt apokalyptische Botschaften und hatte in seinen Visionen außer Maria als Begleiter zahlreiche Heilige erkannt. Nach dem Tode des Pfarrers 1994 verkündete Maria eines Tages, daß dieses nun ihr letztes Auftreten sei. Der Bischof unterband den Kult, der in den letzten Jahren eine große Zahl von Anhängern, zumeist Leute aus ferneren Gegenden, angezogen hatte. Dieses sind die lokal bekannt gewordenen Fälle von Visionen aus dem näheren Umkreis meiner Feldforschungregion. Es gibt aber Anzeichen dafür, daß sie auch darüber hinaus anderwärts in Ligurien vorgekommen sind und weiterhin vorkommen. So erschien 1990 ein Bericht in der Presse über eine Frau, die von ihrem Wohnort in einem Außenbezirk von Genua zu einer bestimmten Kapelle in Imperia fahrt und dort Visionen hat (Gazetta del Lunedi, 10.9.1990:10). Das Bewußtsein von der Möglichkeit von Erscheinungen, also Einwirkungen übersinnlicher Kräfte durch persönliche Kommunikation mit bestimmten Personen wird im übrigen durch die Pilgerfahrten zu rezenten Erscheinugsstätten wie Lourdes und Fatima, die von kirchlichen Institutionen organisiert und damit offiziell propagiert werden, ebenfalls befördert. Im Finale-Gebiet gibt es Lourdes-Pilgerfahrten seit den 30er Jahren, es gibt zahlreiche Lourdes-Kapellen oder Grotten in Kirchen und Klöstern. Und Wissen über die jetzigen Visionen in Medjugorje erreichen die Gegend u.a. über die auch in Italienisch erscheinende Monatszeitschrift mit den jeweils wichtigsten neuesten Botschaften Marias, die über die Seher dort vermittelt werden (Eco di Medjugorje 1982 ff.).
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Es zeigt sich also, daß es im katholischen Bereich bis heute eine ungebrochene, breite Tradition des unmittelbaren, persönlichen Kontaktes mit übersinnlichen Kräften durch Visionen einzelner Personen, die aber auch als Mittler zu den Gläubigen verstanden werden, gibt. Es sei erwähnt, daß sehr häufig dieselben Seher ebensolche Kontakte auch in Träumen hatten, so daß der Traum neben den Visionen im Trancezustand als weitere Möglichkeit für solche Kontakte akzeptiert wird. Gänzlich außerhalb dieses Komplexes steht das im gleichen Kulturbereich seit alters, mit Grundlagen ebenfalls aus der Bibel, auftretende Phänomen der dämonischen Besessenheit - vereinzelt auch bis heute. Die Möglichkeit dieses Einbruches außersinnlicher Kräfte in die Welt wurde von der Kirche durch das Ritual des Exorzismus in die kultische Praxis einbezogen und damit als weitere Form des persönlichen Kontaktes zu übersinnlichen Kräften anerkannt. Bis heute wird das Exorzismusritual gelegentlich eingesetzt.2 Wir haben es also insgesamt mit einem Komplex zu tun, dessen Ausmaß und Bedeutung bis in die Gegenwart eher unterschätzt wird, was u.a. daran liegt, daß eine systematische sozialwissenschaftliche, insbesondere ethnologische und psychologische, aber auch historische Bearbeitung noch aussteht. Am meisten Beachtung fand das Phänomen bisher im theologischen und kirchenhistorischen Schrifttum, häufig parteiergreifend für oder gegen die ,,Echtheit" von Visionen, oft auch etwas irreführend unter der Bezeichnung ,,Mystik" abgehandelt. Was die ethnographische Einzelforschung von seiten der Ethnologie und aus Nachbardisziplinen betrifft, so kann man auch erst für die letzten beiden Jahrzehnte Anfange beobachten, wobei das meiste kleinere Sekundäranalysen sind. So wird in einigen Arbeiten zu historischen Fällen, wie zur Erscheinung von Guadelupe/Mexiko (Wolf 1958, Lafaye 1976, Kurtz 1982) oder zu rezenten Ereignissen wie der Erscheinung von Medjugorje (Bax 1990) versucht, die Phänomene in ihrer Bedeutung für soziale Situationen und Spannungen zu analysieren. Erste systematische Untersuchungen wurden von Carroll vorgelegt, der sich auf die Persönlichkeiten der Seher und die soziale Zuordnung einer größeren Anzahl historischer Fälle konzentriert (Carroll 1983). In anderen Arbeiten geht es mehr darum, aufgrundvon Feldforschungen Erscheinungen in ihrer unmittelbaren sozialen und geistigen Dynamik zu erfassen. Hier sind vor allem die Monographien von Apolito über die Marienerscheinungen, die seit 1985 in Oliveto Citrat Campanien stattfinden, hervorzuheben (Apolito 1990, 1992). Apolito gelang es, die Entwicklung des Kultes um Manenerscheinungen in den Interaktionen zwischen Sehern und der sich bildenden Kultgemeinschaft von Anfang an zu beobachten. In seinen Arbeiten, die voraussichtlich bald zu den klassischen ethnologischen Monographien zählen werden, analysiert er detailliert den sich entwickelnden Kultkomplex in seinen sozialen und geistig-symbolischen Aspekten. In knappperer Form hat Granero dies auch für Verezzi versucht (Granero 1994). 2 Auf diese Spezialtradition der dämonischen Besessenheit im christlichen Bereich wird hier nicht näher eingegangen. Wenn von der "christlichen Tradition" gesprochen wird, geht es nur um den die christliche Doktrin stützende und ergänzende Tradition von Visionen.
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Soweit die Skizzierung des christlichen Traditionskomplexes zum Visionswesen; im folgenden soll nun versucht werden, die interkulturelle Vergleichsebene in den Blick zu rücken. In der Ethnologie gibt es nach wie vor Tendenzen zu einem übertriebenen kulturellen Relativismus, die die fruchtbare Spannung zwischen dem verstehenden Eindringen in eine bestimmte Kultur und dem Vergleich mit anderen, sowie die Bildung übergreifender Kategorien und Theorien einseitig zugunsten der Erfassung von kulturellen Individualitäten aufheben wollen. So die Vertreter der "emic" Studien mit dem Aufkommen der kognitiven Ethnologie, die Proponenten von "dichten Beschreibungen" und Vertreter von postmodernen Ansätzen alles Richtungen, die ihr Augenmerk einseitig auf die Ethnographie richten, sei es in der Feldforschung, sei es in der ethnographischen Darstellung. Häufig wird auch als einziger Gesichtspunkt des Vergleichs die Konfrontation des Ethnographen aus seiner eigenen Kultur heraus mit einer fremden Kultur thematisiert. Dabei wird jedoch irrtümlich der kulturelle Hintergrund des Forschers mit seinem ethnologischen Kenntnishintergrund verwechselt. Wohl ist die Ethnologie wie überhaupt die heutige Wissenschaft aus dem europäischwestlichen Kulturbereich hervorgegangen, aber ihre Theoriebildungen sind nicht einfach als ethnozentrisches Gebilde anzusehen3• Denn Kategorien und Theorien der Ethnologie haben zwar ihren Ausgangspunkt im westlichen Denken genommen und es wurden zunächst einmal Termini aus der Umgangssprache oder aus Disziplinen verwendet, die auf westliche Verhältnisse bezogen waren. Jedoch wurden sie in der Auseinandersetzung mit den vielen ethnographischen Einzelresultaten in aller Regel in ihrer Definition so verändert, daß sie brauchbare Vergleichsebenen bildeten, woran dann die Theorieentwicklung anknüpfen konnte. Die Geschichte des Begriffs "Totemismus" (Levi-Strauss 1963) zeigt jedoch im Extrem, daß dies keineswegs ein leichtes Unterfangen ist, daß es oft ein mühsamer Prozeß ist herauszufinden, ob wirklich Vergleichbares zusammengefaSt wird oder irreführend Heterogenes. Zweifellos ist es noch keineswegs immer gelungen, interkulturell brauchbare Begriffe zu schaffen. Dies darf jedoch nicht dazu verleiten, das Unterfangen des Vergleichs und der allgemeinen Theoriebildung ganz zu verwerfen, also das Kind mit dem Bade auszuschütten. Gerade die Ethnologie hat die Möglichkeit, durch den Vergleich eine kulturenübergreifende Metaebene zu erreichen, wie sie von Rudolph als Mittel zur Überwindung des extremen kulturellen Relativismus postuliert wurde (Rudolph 1968:116-132). Nur eben- diese Metaebene war und ist nicht ad hoc zu erreichen, sondern sie muß in Versuch und Irrtum im interkulturellen Vergleich nach und nach aufgebaut werden; und ich behaupte, daß schon ein gutes Stück dieser Arbeit erfolgreich geleistet wurde. J Dies soll nicht heißen, daß Ethnologen von unbewußten Einflüssen aus ihrer Kultur heraus in Forschung und Darstellung frei wären. Dies gehört vielmehr zu dem subjektiven Grundlagen der Erkenntnis, die dann von anderen quellenkritisch herausgearbeitet werden können. Jedoch löst sich die Ethnologie wie jede Wissenschaft durch reflektiertes methodisches Vorgehen vom Alltagsverständnis und zielt auf verbindliches, an bestimmte Kulturen nicht mehr gebundenes Wissen.
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Ich erinnere mich noch aus meiner Studentenzeit in Berlin, daß S. WestphalHellbusch in einer Diskussion meinte, im Bereich des Religiösen sähe sie nicht so recht Möglichkeiten des Vergleichs, während sie sonst intensiv auf die Wichtigkeit derBefassungmit genereller Theorie und damit auch auf den Vergleich drängte und damit der Weiterentwicklung der Ethnologie in Deutschland in der Situation Anfang der 60er Jahre wichtige Impulse gab. Inzwischen lassen neuere Arbeiten zur Religionsethnologie erkennen, daß auch auf diesem Feld das Erreichen von Ebenen des interkulturellen Vergleichs Fortschritte gemacht hat (z.B. Bourguignon 1968, Goodman 1972, 1991, Firth 1995). In diesem Sinne sollen auch die oben beschriebenen Phänomene aus dem Traditionsfeld des Christentums in einen vergleichenden, weiteren Rahmen gestellt werden. Die Phänomene der Kontakte mit übersinnlichen Wesen, wie sie in Trancezuständen im mittelalterlichen und posttridentisch-katholischen Christentum bis heute vorkommen, finden ihre Parallele in zahlreichen Kulturen der Welt, ja fast überall, wenn man auf bestimmte Merkmale achtet und andere als situationsabhängige Merkmale, die Alternativen darstellen, betrachtet. Schamanismus, Visionen bei nordamerikanischen Indianern, Geistbesessenheit, Prophetenturn in Heilserwartungsbewegungen, in vielen kleineren christlichen Gemeinschaften und anderwärts in neuen Religionen, auch Seher- und Prophetenturn in vielen historischen Religionen, gehören dazu. In allen solchen Fällen wird grundsätzlich davon ausgegangen, daß ein unmittelbarer Kontakt hier und jetzt mit übersinnlichen Wesen möglich ist und daß dieser Kontakt über einige dafür berufene, ausgewählte oder begabte Personen verläuft, die in einem besonderen Bewußtseinszustand, der von außen als Trance wahrnehmbar ist, mit übersinnlichen Wesen persönlich kommunizieren, mögen die sonstigen Umstände und die Art der betreffenden jeweiligen übersinnlichen Wesen auch noch so unterschiedlich sein. Es handelt sich hier um einen zusammenhängenden Komplex von allgemeiner Funktion, grundsätzlicher Interpretationsmaxime und Einsatz eines psychischen Potentials, daß es berechtigt erscheint, hier ein kulturenübergreifendes Phänomen zu postulieren, das eine Ebene des Vergleichs liefert. Angesichts der weiten Verbreitung kann man sogar behaupten, daß es sich um eine universale Tendenz handelt. Von "Tendenz" möchte ich deshalb sprechen, weil es für die Realisierung des psychischen Potentials einer Glaubensmaxime - Glauben an personale übersinnliche Wesen in Verbindung mit dem Glauben an die Möglichkeit des Kontaktes mit diesen bedarf, die nicht immer gegeben ist. Es gibt offensichtlich kulturelle Konstellationen, in denen diese Glaubensmaxime nicht existiert. Wenn es sichjedoch um eine universale Tendenz handelt, so müßte man erwarten, daß auch in Gesellschaften, in denen nicht mit einer solchen Form von persönlichem Kontakt mit übersinnlichen Wesen gerechnet wird, gelegentlich bei entsprechend begabten Menschen dennoch Erlebnisse vorkommen, die eventuell von ihnen selbst wieder als übersinnliche Kontakte interpretiert werden, oder aber es müßte zur Neukonstitution von Varianten des kulturellen Komplexes, die solche Kontakte als möglich zulassen, kommen, oder aber Menschen müßten dazu neigen, sich gelegentlich einem entsprechenden fremdartigen Kult
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zuzuwenden. Für eben solche Ereignisse gibt es aber Belege. In protestantischen Gebieten Europas, wo eigentlich seit der Reformation Derartiges nicht mehr vorgesehen war, gab es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Fälle von Visionen, so bei dem Philosophen Swedenborg (Geymüller 1965), wo sie so vielgestaltig wie bei manchen katholischen Heiligen waren, oder bei den mittel- und norddeutschen pietistischen "Geistseherinnen" (Wallmann 1990:67). So manches persönliche Erweckungserlebnis, über das Betroffene nicht gern sprechen, dürfte sich wahrscheinlich ähnlich beschreiben lassen. Im Bereich des Protestantismus bzw. des skientistisch-rationalen Weltbildes haben sich überdies zahlreiche religiöse Sondergruppen seit dem letzten Jahrhundert gebildet, bei denen entweder die Gründer allein oder aber auch einzelne Mitglieder als Propheten wirken (Pfingstkirchen) oder besessen werden (Johanneische Kirche). Spiritismus und manche NewAge Gruppierungen sind ebenfalls zu nennen. Vor einigen Jahren stellte sich mir ein junger Deutscher vor, der sich als Medium eines Clangeistes in Ghana bezeichnete. Auf Mauritius konnte ich beobachten, daß Angehörige der hinduistischen Reformgemeinschaft Arya Samaj, die der Lehre nach Monotheisten sind und keine persönlichen Kontakte zu übersinnlichen Wesen kennen, an einem Kali-Kult der orthodoxen Hindus teilnahmen, in dem der Priester in Trance Kontakt mit Kali aufnimmt. Wenn E. Bourguignon auf Grund der Human Relation Area Files in einer Studie bei 92% der Gesellschaften ihres Sampies veränderte religiöse Bewußtseinszustände festgestellt hatte (Bourguignon 1968), bestätigen Sachverhalte wie die oben genannten noch mehr die universale Tendenz. Die systematisch- vergleichende Forschung zum hier angesprochenen Problemfeld krankte lange Zeit daran, daß man sich zu sehr an überkommene zusammenfassende Kategorien wie Schamanismus, Geistbesessenheit usw. klammerte, die jedoch nur einen Teil der Phänomene erfaßten, bzw. man behandelte isoliert die Phänomene zu bestimmten Komplexen wie Heilserwartungen; so war die Diskussion zu zersplittert und ohne übergreifenden Zusammenhang. Erst in den letzten Jahrzehnten ist ein Wandel eingetreten. Vor allem in den Arbeiten von E. Bourguignon (1968, 1973, 1976, 1979:233-699) und F. Goodman (1972, 1981, 1991, 1994), in etwas engerem Rahmen auch von I. Lewis (Lewis 1971), wurden Phänomene wie die hier angesprochenen und weitere, die im Rahmen von Trance beobachtet werden können, wie die Glossolalie, auf breiter Materialbasis, darunter vielen neuen empirischen Feldforschungsresultaten, diskutiert4. Der Blickwinkel war vorrangig derjenige der psychologi4 Die weiteren Phänomene, die mit der religiösen Trance zusammenhängen können, werden hier nicht thematisiert. Trance ohne außergewöhnliche Erlebnisse, Glossolalie, die "Unio Mystica" sind Phänomene, die als Formen von Trancehaltungen in die Nähe der hier behandelten persönlichen Kontakte mit übersinnlichen Wesen gehören, deren Mitbehandlung hier aber nicht möglich ist. Auch physische Folgen, wie die speziell im Christentum seit Franz von Assisi vorkommenden Stigmatisierungen, für die nach vergleichbaren Parallelen in anderen Kulturen noch erst zu suchen wäre, können hier nicht behandelt werden. Es sei auch angemerkt, daß manche katholischen Seher selbst eine Typologie von Erlebnisformen in der Trance entwickelt haben (Johannes vom Kreuz 1989:96-218, Maria von Agreda I,
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sehen Ethnologie, d.h. die psychischen Prozesse und ihre möglichen Prägungen durch kulturelle Typen wurden untersucht. Mittlerweile sind die psychischen Abläufe der Trance (Goodman 1994:48-56) und auch die gleichzeitigen physiologischen Veränderungen (Goodman 1994:49-50) als Grundlage untersucht, wenn auch ihre Einordnung in das übrige psychische Potential des Menschen und damit eigentliche Erklärungen noch ausstehen. Auch die gängige Gliederung in Trance mit Visionen und Trance mit Geistbesessenheit ist eher eine Typologie als daß die Ursachen der unterschiedlichen Verhaltensweisen erklärt werden. Das Zusammenbringen von Besessenheit mit dem Krankheitssyndrom der multiplen Persönlichkeiten weist zwar hinsichtlich der Sonderform der dämonischen Besessenheit (Goodman 1991: 127-136) erhebliche Parallelen auf, ohne daß jedoch eine überzeugende, alle Formen der Besessenheit und das Syndrom der multiplen Persönlichkeit umfassende Theorie vorgelegt wäre. Auch das Verhältnis der Besessenheitstrance zur Trance mit Visionen sowie Trance ohne persönliche Kontakte zu übersinnlichen Wesen, die relativ selten behandelt wird, bleibt ungeklärt. Die vorgenommenen Korrelationen zwischen Wirtschaftstypen und Typen von Tranceerlebnissen oder auch von Geschlechtszuordnungen von Männem zu Trance mit Visionen und Frauen zu Trance mit Geistbesessenheit (Bourguignon 1979:250-264, Goodman 1994:55;85-191) erscheinen nicht überzeugend,