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German Pages 425 Year 2011
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 230
Kultur und Strafrecht Die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik
Von
Brian Valerius
Duncker & Humblot · Berlin
BRIAN VALERIUS
Kultur und Strafrecht
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 230
Kultur und Strafrecht Die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik
Von
Brian Valerius
Duncker & Humblot · Berlin
In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift. Die Juristische Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-13261-4 (Print) ISBN 978-3-428-53261-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83261-3 (Print & E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Alexandra
Vorwort Die wirtschaftliche und (vor allem informations- und medien-)technische Globalisierung führt zu einer Entwicklung in der Gesellschaft, die sich als kulturelle Pluralisierung bezeichnen lässt. Allerdings rückt die Welt lediglich näher zusammen, ohne zugleich zusammenzuwachsen. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Wertvorstellungen ruft daher mitunter kulturelle Konflikte hervor, deren Vermeidung und Entschärfung eine der wichtigsten derzeitigen politischen Aufgaben ist. Aus den Entstehungsjahren dieser Arbeit sei insoweit lediglich auf den weltweiten Streit um die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung oder auf die anhaltenden Diskussionen um das Verbot von Kopftüchern im öffentlichen Dienst verwiesen. Kulturelle Wertvorstellungen zu berücksichtigen und kulturelle Konflikte zu bewältigen, bedeutet auch für die Rechtswissenschaften eine Herausforderung, der sie sich in unterschiedlicher Weise annehmen kann. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf eine überwiegend dogmatische Perspektive auf das materielle Strafrecht. Andere Blickwinkel, seien sie rechtsphilosophisch, rechtssoziologisch oder rechtsvergleichend, oder eine Betrachtung des Strafverfahrensrechts bleiben außen vor, um zumindest insoweit einen annähernd umfassenden Überblick zu gewähren. Doch selbst in dem hier gewählten Ausschnitt ist die Arbeit aufgrund der Weite des Themas „Kultur und Strafrecht“ freilich bar jeden Anspruchs auf Vollständigkeit. Bestenfalls vermag sie die zunehmende Diskussion über die rechtliche Behandlung kultureller Konflikte weiter anzufachen und zu beleben. Die Arbeit wurde im April 2009 als Habilitationsschrift an der Juristischen Fakultät Würzburg eingereicht und wird nunmehr in überarbeiteter und aktualisierter Form veröffentlicht. Rechtsprechung und Schrifttum bis Ende 2010 sind im Wesentlichen berücksichtigt. Der Abschluss eines solchen langjährigen Projekts bietet eine willkommene Gelegenheit, sich bei allen zu bedanken, die einen währenddessen beruflich und/ oder privat begleitet haben. Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, der das Thema der Arbeit aufgeworfen, mir wertvolle Anregungen gegeben und mich auch sonst vor, während und nach Abschluss des Habilitationsverfahrens stets bereitwillig und zuvorkommend unterstützt hat. Ferner habe ich den beiden weiteren Mitgliedern des Fachmentorats aufrichtig für die freundliche Betreuung des Habilitationsverfahrens zu danken, Herrn Prof. Dr. Klaus Laubenthal zudem nicht zuletzt für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Frank Zieschang auch für die stetigen zahl- und hilfreichen Ratschläge in den vergangenen
8
Vorwort
Jahren. Für die zeitnahen externen und konstruktiven Gutachten bedanke ich mich schließlich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Jan C. Joerden sowie bei Herrn Prof. Dr. Hans Kudlich. Bei der Anfertigung der Habilitationsschrift haben mich viele unterstützt, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Zu danken ist zunächst Frau Dr. Susanne Beck und Herrn Dr. Thomas Frank, die das Manuskript zu Teilen bzw. vollständig kritisch gegengelesen haben. Darüber hinaus bin ich zu ewigem Dank verpflichtet Herrn Achim Bischoff, Herrn Christian Krauße, Frau Dr. Nina Nestler und Frau Sabine Stahl für ihre weiterführenden Anmerkungen und unermüdliche Diskussionsbereitschaft sowie dafür, mir in dieser Zeit stets hilfreich zur Seite gestanden zu haben. Zu guter Letzt bedanke ich mich von ganzem Herzen bei Frau Dr. Alexandra Kraemer. Sie hat nicht nur diese Arbeit, sondern mein gesamtes wissenschaftliches Leben von Anfang an aufopfernd und liebevoll begleitet. Ihr widme ich die Arbeit in Liebe und inniger Verbundenheit. Würzburg, im März 2011
Brian Valerius
Inhaltsübersicht Teil 1 Grundlagen
27
Kapitel 1 Kultur und Strafrecht
27
„Kultur“ und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
II. Kultur „und“ Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
III. Kultur und „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
I.
Teil 2 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
59
Kapitel 2 Kulturoffene Tatbestandsmerkmale
59
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
II. Mordmerkmal „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
I.
III. Zumutbarkeit im Sinne des § 323c StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Kapitel 3 Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre I.
116
Kulturoffene Tatbestandsmerkmale und kulturoffene Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . 116
II. Exkurs: Universale und kulturoffene Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Die Ehre als kulturoffenes Rechtsgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 IV. Kulturoffene Tatbestandsmerkmale bei den Ehrverletzungsdelikten . . . . . . . . . . 131 V.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
10
Inhaltsübersicht Teil 3 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
139
Kapitel 4 Rechtswidrigkeit I.
139
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
II. Schutz von Rechtsgütern und kulturelle Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 III. Kulturell motivierte Einwilligung in die Verletzung von Rechtsgütern . . . . . . . 147 IV. Kulturelle Wertvorstellungen als Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrund . . 160 V.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Kapitel 5 Unrechtsbewusstsein I.
171
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
II. Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Grenzüberschreitende Straftaten und Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Kapitel 6 Strafanwendungsrecht I.
203
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
II. Begehungsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 III. Anwendbarkeit mehrerer nationaler Strafrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 IV. Beteiligung an grenzüberschreitenden Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 V.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Inhaltsübersicht
11
Teil 4 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
286
Kapitel 7 Strafzumessung I.
286
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
II. Kulturelle Anschauungen als Strafzumessungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Teil 5 Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
314
Kapitel 8 Bestandsaufnahme I.
314
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
II. Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das deutsche Strafrecht . . . . . . . . . . 320 III. Insbesondere: Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
Kapitel 9 Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht? I.
339
Der Ruf nach Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
II. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Teil 6 Zusammenfassung
382
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Inhaltsverzeichnis Teil 1 Grundlagen
27
Kapitel 1 Kultur und Strafrecht
27
„Kultur“ und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelne Charakteristika der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) (Binnen-)Vielgestaltigkeit der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kultur als wertfreier Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Akzeptanz und Dauerhaftigkeit der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 32 33 36 37
II. Kultur „und“ Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
III. Kultur und „Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kultur und öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 b) Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kultur und Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kultur und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschiedliche Wertvorstellungen und Strafvorschriften . . . . . . . . . . . . b) Internationale und intranationale kulturelle Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . c) Berücksichtigung kultureller Konflikte im deutschen Strafrecht . . . . . . .
39 39 40
I.
43 48 51 51 54 55
Teil 2 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
59
Kapitel 2 Kulturoffene Tatbestandsmerkmale
59
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
II. Mordmerkmal „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
I.
14
Inhaltsverzeichnis 1. Das Phänomen der Ehrenmorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Rechtliche Beurteilung der Ehrenmorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Die Behandlung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 aa) Erste Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der „sittlichen Bewertung der Tat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 bb) Zweite Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der Subsumtion unter das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 cc) Dritte Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen auf der subjektiven Tatseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Die Behandlung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Zum Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 b) Objektive Voraussetzungen des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 aa) Bewertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 bb) Bewertungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Subjektive Seite eines Mordes aus niedrigen Beweggründen . . . . . . . . . . 92 aa) Kenntnis der Beweggründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Beherrschbarkeit der (niedrigen) Beweggründe . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 cc) Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 d) Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der Rechtsfolgenlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
III. Zumutbarkeit im Sinne des § 323c StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Behandlung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil des OLG Hamm vom 10. Oktober 1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1971 . . . . . . c) Urteil des LG Mannheim vom 3. Mai 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 106 106 108 110 111
IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Kapitel 3 Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre I.
116
Kulturoffene Tatbestandsmerkmale und kulturoffene Rechtsgüter . . . . . . . . . . . 116
II. Exkurs: Universale und kulturoffene Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Inhaltsverzeichnis
15
1. Auf dem Weg zu einem Weltstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Menschenrechte und Rechtsevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Kollision strafrechtlicher Schutzgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 III. Die Ehre als kulturoffenes Rechtsgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bedeutung der Ehre in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der strafrechtliche Schutz der Ehre in anderen Staaten und Kulturen . . . . . 3. Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen beim Rechtsgut „Ehre“ . . .
124 124 127 129
IV. Kulturoffene Tatbestandsmerkmale bei den Ehrverletzungsdelikten . . . . . . . . . . 1. Kulturelle Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung mehrdeutiger Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ermittlung des Sinngehalts einer Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Irrtumsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öffentlichkeit und Multikulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131 131 132 132 134 135
V.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Teil 3 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
139
Kapitel 4 Rechtswidrigkeit I.
139
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
II. Schutz von Rechtsgütern und kulturelle Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwehr- und Notstandslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Notwehr- und Notstandshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Irrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140 140 140 143 145
III. Kulturell motivierte Einwilligung in die Verletzung von Rechtsgütern . . . . . . . 1. Dispositionsbefugnis über das betroffene Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unverfügbarkeit des Rechtsguts Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwilligung in Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit Dritter am Beispiel der Beschneidung von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erscheinungsformen und Hintergründe der Beschneidung . . . . . . . . bb) Beschneidung als Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einwilligung der Eltern in die Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sittenwidrigkeit der Tat gemäß § 228 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 147 147 149 149 151 152 159
16
Inhaltsverzeichnis
IV. Kulturelle Wertvorstellungen als Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrund 1. Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kulturelle Wertvorstellungen als eigenständiger Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.
160 161 161 162 163 168 169
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Kapitel 5 Unrechtsbewusstsein I.
171
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
II. Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Behandlung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Behandlung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kulturelle Wertvorstellungen und Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . b) Gegenstand des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturoffene Aspekte des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unrechtseinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kulturelle Vorstellungen und Gewissensanspannung . . . . . . . . . (3) Erkundigungspflicht von Angehörigen anderer Kulturkreise . . . d) Ausblick: Kultureller Dialog und Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . .
173 173 175 178 180 180 180 184 184 186 186 187 188 192
III. Grenzüberschreitende Straftaten und Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Behandlung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Behandlung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 193 194 196 198
IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Inhaltsverzeichnis
17
Kapitel 6 Strafanwendungsrecht
203
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafanwendungsrecht und kulturelle Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . a) Distanzdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Multiterritoriale Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grenzüberschreitende Beteiligung an einer Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 203 206 206 208 209
II. Begehungsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Extensive Auslegung des Handlungsortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansatz aus der Rechtsprechung: Urteil des KG vom 16. März 1999 . . . . b) Ansätze aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansatz aus der Rechtsprechung: Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 (Fall Toeben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ansätze aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abrufbarkeit von Inhalten als Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tathandlungserfolg als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB . . . . . . cc) Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur extensiven Auslegung des Handlungsortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemeinsamkeiten der vertretenen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einwände gegen das Urteil des KG vom 16. März 1999 . . . . . . . . . . cc) Einwände gegen den Ansatz Cornils’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gemeinsamkeiten der vertretenen Ansätze und erste Einwände . . . . bb) Tathandlungserfolg als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB . . . . . . cc) Mögliche Entfaltung der Gefährlichkeit einer Tat als Erfolg . . . . . . dd) Abrufbarkeit von Inhalten als Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Abstrakte Gefahr als Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung und eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212 212 213 213 217 217
III. Anwendbarkeit mehrerer nationaler Strafrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ansatz aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 (Fall Toeben) . . . b) Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begrenzungsvorschläge der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Territorialer Bezug zum Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241 241 243 243 243 247 248
I.
217 221 221 221 223 224 224 224 225 228 230 230 233 234 236 236 237
18
Inhaltsverzeichnis b) Anlehnung an die Anknüpfungspunkte des § 7 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung des Herkunftslandprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Völkerrechtlicher Nichteinmischungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Handlungsort als primärer Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rekurs auf das Recht des Handlungsortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253 254 255 255 257 258 260
IV. Beteiligung an grenzüberschreitenden Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzüberschreitende Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittäterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Herrschende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Folgen der wechselseitigen Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rechtfertigung der wechselseitigen Zurechnung von Handlungsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Restriktive Interpretation des § 9 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mittelbare Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzüberschreitende Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262 262 263 263 265 265 267 267 268
V.
270 271 273 275 275 276 279
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Teil 4 Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
286
Kapitel 7 Strafzumessung I.
286
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
II. Kulturelle Anschauungen als Strafzumessungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelne Strafzumessungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fremde Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturbedingte Abweichungen in der Bewertung des Tatunrechts . . . . . .
287 287 288 288 291 291
Inhaltsverzeichnis
19
d) Erschwerte Normbefolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . f) Erwägungen außerhalb der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafempfindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausländerrechtliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Generalpräventive Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafrahmenwahl und Strafzumessung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
294 296 299 300 302 305 307 307 310
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Teil 5 Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
314
Kapitel 8 Bestandsaufnahme
314
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Karikaturen des Propheten Mohammed in europäischen Tageszeitungen . . . 2. Ausstrahlung der Zeichentrickserie „Popetown“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
314 315 317 318
II. Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das deutsche Strafrecht . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straftatbestände zum Schutz kultureller Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . a) Moralische Anschauungen und sittliche Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz vor unerwünschter Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutz vor Schriften mit unerwünschten Inhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutz von Religion und Pietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
320 320 323 323 327 328 332
III. Insbesondere: Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
334 334 337 339
I.
Kapitel 9 Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht? I.
339
Der Ruf nach Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 1. Allheilmittel „Strafrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
20
Inhaltsverzeichnis 2. Das Beispiel des § 166 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzgebungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geschütztes Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Änderungsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorschläge einer Erweiterung des § 166 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorschläge einer Streichung des § 166 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
340 340 342 343 343 348
II. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bemerkenswertes zu den Änderungsvorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgut und Ausgestaltung des § 166 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bisherige Fassungen der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gott als schützenswertes Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Religiöse Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Öffentlicher Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reformgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Streichung der Friedensschutzklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesetzliche Auslegungshilfe für den öffentlichen Frieden . . . . . . . . cc) Personalisiertes Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Religiöse und weltanschauliche Toleranz als Schutzgut? . . . . . . . . . (1) Gebot der Toleranz im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme . . (2) Rückgriff auf das Strafrecht zur Bekämpfung unliebsamer Äußerungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgen für die Auslegung des § 166 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350 350 353 353 353 355 357 361 361 363 366 368 368 371 375 376
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Teil 6 Zusammenfassung
382
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419
Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. EG ABl. EU Abs. a. E. AE AEUV a. F. AfP AG AMG AöR arg. ARSP Art. AT AufenthG Aufl. AVR Az. BAG BauR BayEUG BayGVBl. BayObLG BayVBl BayVerfGH BayVGH BayVSO BB Bd. BeckRS BGB BGBl. I, II BGH BGHR
anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union Absatz am Ende Alternativ-Entwurf Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Archiv für Presserecht Amtsgericht Arzneimittelgesetz Archiv des öffentlichen Rechts argumentum Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Aufenthaltsgesetz Auflage Archiv des Völkerrechts Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Baurecht Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Schulordnung für die Volksschulen in Bayern Betriebs-Berater Band Beck-Rechtsprechung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I, II Bundesgerichtshof Systematische Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes
22 BGHSt brasStGB BR-Drucks. BremSchulG BT BT-Drucks. BT-Prot. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE bzw. ca. CR ders. d.h. dies. diesn. DÖV DRiZ DuD DVBl DVjs E EG EGBGB EGG EGMR EMRK etc. EU EuGrCh EuGRZ f. FamRZ ff. Fn. GA GG
Abkürzungsverzeichnis Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Brasilianisches Strafgesetzbuch Bundesratsdrucksache Bremisches Schulgesetz Besonderer Teil Bundestagsdrucksache Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Plenarprotokolle Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise circa Computer und Recht derselbe das heißt dieselbe dieselben Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Datenschutz und Datensicherheit Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Entwurf Europäische Gemeinschaft; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) et cetera Europäische Union; Vertrag über die Europäische Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fortfolgende Fußnote Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundgesetz
Abkürzungsverzeichnis Gr. GRM GrS Halbs. h. M. HRRS Hrsg. HSchG HStGH ICJ IGH IuKDG i.V. m. IVR JA JR jStGB Jura JuS JW JZ K&R Kap. KastrG KG KJ KlinPädiatr KritV LG lit. MDR MedR MMR m.w. N. n. F. NJ NJW NJW-RR Nr. NSchG NStZ NStZ-RR
23
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24 NVwZ NVwZ-RR NWSchulG NWVBl NZG NZV o.A. ÖJZ OLG OLGSt öStGB OVG Rdn. RelKErZG RGBl. RGBl. I RGSt RiStBV Rom-Statut RStGB RW S. SchGBW SchiedsVZ SchwStGB SchwZStR SDÜ SEV sic! SpStr. SSchoG StA StGB StIGHE StPO StraFo StrRG StV StVollzG StZG sublit.
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Teil 1
Grundlagen Kapitel 1
Kultur und Strafrecht Der Titel „Kultur und Strafrecht“ lässt verschiedene Vorstellungen über den Inhalt der Abhandlung zu. Er erlaubt immerhin zunächst den Rückschluss, dass sich die Arbeit im Wesentlichen nicht kulturellen Erörterungen widmet, sondern sich auf rechtswissenschaftliche Diskussionen konzentriert. Hierbei liegt wiederum ausweislich des Untertitels „Die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik“ der Schwerpunkt auf einer dogmatischen Betrachtung. Rechtsvergleichende und rechtstheoretische Aspekte stehen hingegen im Hintergrund, wenngleich gelegentliche Ausflüge in diese Gebiete unentbehrlich bleiben. Trotz dieser ersten Eingrenzung werden die Leser – je nach fachlichem Interesse oder bisherigen Erfahrungen und Kontakten mit den Schnittpunkten von Kultur und (Straf-)Recht – unterschiedlicher Ansicht darüber sein, was sich hinter der vorliegenden Monographie im Einzelnen verbirgt. Die Vielfalt der denkbaren Assoziationen beruht nicht zuletzt auf den mannigfachen Interpretationen des Kulturbegriffs sowie auf den verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln, aus denen die Thematik untersucht werden kann. Es bietet sich daher an, vorab einige einleitende Worte zum Gegenstand und zum Fortgang der Arbeit zu verlieren.
I. „Kultur“ und Strafrecht 1. Zum Kulturbegriff Näherer Ausführung bedarf zunächst der Begriff der Kultur. Der Rekurs auf die gängigen Nachschlagewerke offenbart, dass es sich um einen äußerst vielschichtigen und mehrdeutigen Begriff handelt. Von Kultur wird etwa im Zusammenhang mit archäologischen Expeditionen nach Überresten vergangener Zivilisationen gesprochen, beim Anbau in der Land- und Forstwirtschaft sowie bei Experimenten mit Mikroorganismen. Zwar sind Ausgrabungen, agrikulturelle Erkenntnisse und biologische Forschungen für das Thema der Arbeit offensichtlich nicht von Bedeutung. Jedoch lassen die Beispiele bereits ein erstes Charakteristi-
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kum des Kulturbegriffs erahnen, handelt es sich doch sowohl bei Hoch- und Forst- als auch bei Zellkulturen in Petrischalen um vom Menschen geschaffene bzw. gezüchtete Produkte. Dementsprechend definiert stellvertretend die Brockhaus-Enzyklopädie den Begriff „Kultur“ als „alles [. . .], was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist“.1 Den Gegensatz zwischen der Kultur als menschlichen Erzeugnissen und der Natur als den vorgegebenen äußeren Bedingungen illustriert ebenfalls eine Rückbesinnung auf die etymologische Herkunft des Wortes „Kultur“. So stand das lateinische „cultura“ vornehmlich für Landwirtschaft und Ackerbau. Dass schon damit auf den Unterschied zwischen unberührter Natur und bestellten Feldern verwiesen wurde, verdeutlicht der spätere Gebrauch des Wortes, der auch die Ausbildung und Unterrichtung des menschlichen Geistes erfasst.2 Diese neue Bedeutung wird auf Marcus Tullius Cicero3 zurückgeführt, welcher erstmals den menschlichen Geist mit der Tätigkeit des Anbaus und der Pflege verband und der „Kultur“ damit zu einer neuen, noch heute gültigen Sprachbedeutung verhalf.4 In einem weiten Verständnis umfasst der Begriff der Kultur somit die Gesamtheit menschlicher Errungenschaften. Dazu zählen alle von Menschenhand hergestellten physischen Gebilde sowie sämtliche – weder in einem Gegenstand verkörperten noch darin zum Ausdruck kommenden – geistigen Schöpfungen, nach geläufiger Deutung also vor allem Kunst und Literatur, aber auch Sprache, Geschichte und Religion ebenso wie Wirtschaft und Wissenschaft, soziale und gesellschaftliche Strukturen, moralische Anschauungen, Traditionen und Gebräuche. Wegen der Weite dieser ersten Begriffseingrenzung bemühen sich schon seit jeher zahllose Abhandlungen um eine Konkretisierung.5 In Deutschland geht eine der ersten Definitionen auf Samuel Pufendorf zurück, der 1684 unter „Kultur“ den „Inbegriff der Pflichten [verstand], welche dem Menschen im Unterschied von Tieren über die Selbsterhaltung hinaus obliegen“.6 Darin findet sich nicht nur die bereits erwähnte Gegenüberstellung von Kultur und Natur wieder, sondern ebenso die Abgrenzung von Kultur und Barbarei.7
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Brockhaus-Enzyklopädie, Artikel „Kultur“, Bd. 16, S. 61. Duden, Herkunftswörterbuch, Artikel „Kultur“, S. 459. 3 Cicero, Tusculanae disputationes, II, 5 (13): „cultura autem animi philosophia est“ (Pflege der Seele aber ist die Philosophie). 4 Steinbacher, Kultur, S. 20 f. 5 Zusammenfassend etwa Eagleton, Was ist Kultur?, S. 7 ff. 6 Pufendorf, De jure naturae et gentium, Buch II, Kap. 4, § 2, S. 164 nach der Übersetzung von Em. Hirsch, DVjs 1925, 398 (398). 7 Baecker, Wozu Kultur?, S. 44 f.; Hejl, Artikel „Kultur“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 391. 2
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Das mit der Klassifizierung lediglich bestimmter Pflichten als Kultur verbundene wertende Element griff insbesondere Immanuel Kant auf. Er erachtete 1784 die Fähigkeit des Menschen zu moralischem Handeln als wesentlichen Bestandteil der Kultur. Außerdem sei die Kultur von der Zivilisation abzugrenzen: Während sich die Zivilisation in äußerlich gewahrten Sitten und Anstand erschöpfe, beinhalte die Kultur darüber hinaus die aus reiner Vernunft abzuleitende Idee der Moralität8 und bedeute somit die innere Verfeinerung.9 Die Kultur über die Zivilisation (im Sinne von Zivilisierung) zu erheben, ist allerdings allein dem deutschen Sprachraum eigen. In anderen Staaten verkörpert hingegen die Zivilisation das Ideal des gesamten menschlichen, sowohl geistigen und moralischen als auch technischen und materiellen Fortschritts.10 Auf der Grundlage dieser normativen Interpretation waren alsbald Bemühungen zu verzeichnen, den jeweils gegenwärtigen Entwicklungsstand der Menschheit zu untersuchen und das bereits Erreichte mit dem Erstrebten zu vergleichen. Diese Ansätze mündeten in ersten kulturkritischen Haltungen, für die stellvertretend Friedrich Schiller seinen Unmut äußerte: „Woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?“ 11 Schiller erblickte in der Kultur selbst die Ursache für den unbefriedigenden Ist-Zustand12 und sah die schönen Künste als Werkzeug, um die Menschheit zu veredeln und zu einer höheren Kultur zu erziehen.13 Diese Gleichsetzung von Kunst und Kultur durch den ästhetischen Kulturbegriff dürfte heute dem allgemeinen Sprachgebrauch am ehesten entsprechen.14 Die Kantsche Anknüpfung an eine höhere Idee erlebte vor allem durch den Neukantianismus eine Renaissance. So wollte Max Weber die Soziologie, als deren Mitbegründer er gilt, von den Naturwissenschaften abgrenzen, indem er mithilfe idealtypischer Begriffe das Zusammenleben von Menschen zu erklären
8 Kant, Werkausgabe, Bd. XI, S. 44 (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, gegen Ende des Siebten Satzes): „Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.“ Dazu Th. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S. 33 ff. 9 Hejl, Artikel „Kultur“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 392. 10 Braudel, Schriften zur Geschichte, Bd. 1, S. 243 ff.; vgl. hierzu auch Schäfers/ Kopp, Artikel „Kultur und Zivilisation“, S. 150; Veddeler, Rechtstheorie 29 (1998), 453 (457). 11 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 8. Brief, S. 32. 12 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 6. Brief, S. 22: „Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug.“ 13 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 9. Brief, S. 33: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihrem unsterblichen Muster.“ Siehe dazu Baecker, Wozu Kultur?, S. 167 ff.; Konersmann, Kulturphilosophie, S. 60. 14 Zum Verhältnis von Kunst und Kultur Baecker, Wozu Kultur?, S. 26 ff.
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suchte.15 Erst durch den Bezug auf Werte und Ideen gerate schließlich die empirische Wirklichkeit zur Kultur. Weber verstand also die Kultur als Wertbegriff16 und distanzierte sich dadurch von einer rein deskriptiven Kulturwissenschaft.17 Ebenso bemühte sich der von Weber beeinflusste Gustav Radbruch darum, den Kulturbegriff näher zu bestimmen. Er unterschied mit dem historischen, dem geschichtsphilosophischen sowie dem ethischen drei Kulturbegriffe, beschrieb die Kultur selbst jedoch in einem philosophischen Sinn als den „vorbildliche[n] Wertgehalt eines idealen Kultursubjekts“, der die Dreiheit der Werte Sittlichkeit, Wahrheit und Schönheit zur Einheit bringe.18 Da der philosophische Kulturbegriff für Radbruch „nicht eine Tatsache, auch nicht eine Idee, sondern ein Ideal“ 19 darstellte, fügte er den normativen Kulturbegriffen eine weitere Variante hinzu. Solchen normativen Begriffsbestimmungen stehen lediglich beschreibende Definitionsversuche in den Kulturwissenschaften gegenüber. Als deren Begründer wird der italienische Philosoph Giovanni Battista Vico angesehen. Auf der Suche nach einem Kulturbegriff wollte er 1725 in seinem Hauptwerk „scienza nuova“ den Blick auf die tatsächlichen kulturellen Errungenschaften des Menschen, vornehmlich die Sprache, als Quelle der Erkenntnis lenken. Dadurch wendete er sich von den vorherigen Bemühungen ab, einen abstrakten Begriff der Kultur anhand der Natur zu erkennen.20 Johann Gottfried Herder wiederum betonte die Vielzahl vorhandener Kulturen und bezeichnete die Kultur eines Volkes als „die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret“.21 Er erteilte somit nicht nur dem universalistisch verstandenen, absoluten Kulturbegriff der Aufklärung eine Absage,22 sondern entwickelte durch das hinzugefügte historische Moment23 ein deskriptives und egalitäres Verständnis von Kultur. Dadurch konzipierte er den Kulturbegriff im neuzeitlichen Sinne,24 der erst die Anerkennung der Existenz verschiedener Kulturen ermöglichte und den Weg zu 15 Zur Soziologie als Kulturwissenschaft Mintzel, Kultur und Gesellschaft, S. 171 (174 ff.). 16 M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 146 (175). 17 Zu Webers Verständnis der Kultur Th. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S. 90 ff. 18 Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 12 (Ueber den Begriff der Kultur, S. 201). 19 Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 13 (Ueber den Begriff der Kultur, S. 201). 20 Dazu Th. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S. 17 ff.; Konersmann, Kulturphilosophie, S. 35 ff. 21 Herder, Werke, Bd. 6, S. 571 (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 13. Buch, VII.). 22 Hierzu Eagleton, Was ist Kultur?, S. 21 ff.; Th. Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, S. 38 ff. 23 Vgl. hierzu Gaier, GRM 2007, 5. 24 Konersmann, Kulturphilosophie, S. 54.
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ethnologischen Studien eröffnete.25 Um diese Aufgabe zu erfüllen, verzichtet der wissenschaftliche Kulturbegriff auf jegliches wertendes Element und erschöpft sich in beschreibenden Merkmalen der Kultur. Die sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Mannigfaltigkeit zahllosen Bestrebungen um einen Kulturbegriff haben sich seit diesen ersten Definitionsversuchen kaum verringert. Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn notierten bereits im Jahr 1952, und zwar beschränkt auf die Zeit ab 1871, an die 300 verschiedene Kulturbegriffe.26 Bis heute beschäftigt sich eine Reihe weiterer Abhandlungen mit einer näheren Begriffsbestimmung von „Kultur“.27 Angesichts der Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens infolge der Komplexität und Vielgestaltigkeit der Kultur distanziert sich allerdings die Kulturtheorie selbst allmählich von solchen Anstrengungen.28 Da der Begriff „Kultur“ auch in einigen Rechtsnormen verwendet wird, widmen sich schließlich juristische Veröffentlichungen seiner Interpretation.29 Eine einheitliche rechtswissenschaftliche Definition scheitert jedoch schon daran, dass die betreffenden Vorschriften das Merkmal „Kultur“ in unterschiedlichen Bedeutungen gebrauchen. So nennt das Grundgesetz „Kultur“ einerseits in einem Atemzug mit schulischer Bildung und Rundfunk (Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG); insoweit wird „Kultur“ – vergleichbar dem ästhetischen Kulturbegriff – als Wissenschaft, Bildung und Kunst verstanden, wofür den Ländern die ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz infolge ihrer Kulturhoheit zusteht.30 Andererseits spricht Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG von der landsmannschaftlichen Verbundenheit sowie von geschichtlichen und kulturellen Zusammenhängen, die bei einer Neugliederung des Bundesgebiets zu berücksichtigen sind. Hier wird die identitätsstiftende Wirkung der Kultur betont, die daher nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern ebenso kulturelle Prägungen durch Erziehung und Religion erfasst.31 In einem solch weiten Sinne ist gleichfalls der Kulturbegriff in Art. 167 AEUV 25 Vgl. auch Baecker, Wozu Kultur?, S. 17 und 47: „,Kultur‘ ist das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht.“ 26 Kroeber/Kluckhohn, Culture, S. 149 Fn. 4a. Auf S. 43 ff. listen sie 164 dieser Kulturbegriffe auf und versuchen, sie zu kategorisieren. 27 Vgl. etwa Baecker, Wozu Kultur?, vor allem S. 33 ff.; Eagleton, Was ist Kultur?, S. 51; siehe ferner den 2006 veröffentlichten Sammelband „Kultur. Theorien der Gegenwart“ mit der Kurzübersicht der Herausgeber Moebius/Quadflieg, S. 9 ff. 28 Konersmann, Kulturphilosophie, S. 7 f. 29 Zusammenfassend Stern, in: Festschrift Heckel, S. 857 (858 ff.). Speziell zur Deutung des Bundesverfassungsgerichts M. Naucke, Kulturbegriff, S. 18 ff. 30 Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 23 Rdn. 61, wonach die schulische Bildung lediglich infolge ihrer besonderen Bedeutung vorweg genannt wird; vgl. aber den durch die Föderalismusreform zum 1. 9. 2006 in Kraft getretenen Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG, der die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den „Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“ begründet. 31 Hellermann, BeckOK-GG, Art. 29 Rdn. 9.1; Maunz/Dürig/Maunz/Herzog, Art. 29 Rdn. 31; Dreier/Pernice, Art. 23 Rdn. 31.
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(Art. 151 EG a. F.) auszulegen, nach dessen Absatz 1 die Europäische Union einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes leistet.32 Ein umfassendes Verständnis liegt schließlich auch Art. 22 EuGrCh zugrunde,33 wonach die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Den jüngeren Ansätzen bleibt das Bemühen um eine Definition gemein, die weiteren Forschungen in der jeweiligen Wissenschaft als Basis dienen soll. Für die Wirtschaftswissenschaft steht beispielsweise die Kommunizierbarkeit der Kultur im Vordergrund, da im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung das Bedürfnis nach Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation gestiegen ist.34 Dementsprechend muss im Folgenden ein Kulturbegriff zugrunde gelegt werden, der sich für eine juristische Diskussion als sinnvoll erweist. Eine Suche nach Merkmalen, welche die Kultur näher bestimmen und eingrenzen, bleibt somit entbehrlich. Schließlich möchte sich die Arbeit möglichst umfassend der Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Strafrecht widmen und sich nicht von vornherein durch einen insoweit verengten Begriff einzelnen Erscheinungsformen dieser Herausforderung verschließen. Vornehmlich kann auf jegliches normatives Kriterium verzichtet werden, da die Beachtung kultureller Unterschiede lediglich deren beschreibende Feststellung erfordert, nicht hingegen deren wertende Beurteilung.35 Unerlässlich ist allerdings, das differenzierende Potential des Kulturbegriffs zu betonen und die Vielzahl und Vielgestaltigkeit von Kulturen anzuerkennen. 2. Einzelne Charakteristika der Kultur Auf der Grundlage eines derart umfassenden Verständnisses sind unter kulturellen Wertvorstellungen sämtliche religiösen, gesellschaftlichen, historischen, politischen oder sozialen Traditionen, Institutionen, Sitten und Gebräuche, moralischen Überzeugungen und rechtlichen Ansichten zu begreifen. Da eine abschließende Enumeration der einzelnen Teilbereiche der Kultur unmöglich erscheint, kann diese Aufzählung zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, dürfte aber zumindest die für die Schnittmenge von Kultur und Strafrecht 32 Zum Kulturbegriff des Art. 167 AEUV (Art. 151 EG a. F.) Hochbaum, BayVBl 1997, 641; Ress, DÖV 1992, 944 (949 f.). 33 Siehe Tettinger/Stern/Ennuschat, Art. 22 Rdn. 17: „Gesamtheit der identitätsbildenden geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft oder einer Nation unter Einbeziehung von Religion, Sprache, Tradition und Geschichte“; vgl. auch Meyer/Hölscheidt, Art. 22 Rdn. 19; Jarass, Art. 22 Rdn. 5. 34 Chr. Schmidt, Interkulturelle Theorienentwicklung, S. 273 (275). 35 Kritisch zum normativen Kulturbegriff im Rahmen der Rechtswissenschaften auch Möllers, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?, S. 223 (229).
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wesentlichen Gesichtspunkte beinhalten. Einzelne Merkmale der Kultur, die für das Thema der Arbeit eine besondere Bedeutung einnehmen, seien im Folgenden vorab hervorgehoben. a) (Binnen-)Vielgestaltigkeit der Kulturen Ein erster näher zu beleuchtender Aspekt, der oft vernachlässigt wird und den der Einzelne aufgrund seines kulturellen Selbstverständnisses häufig verdrängt, ist die Vielgestaltigkeit der Kultur. Wie jedes menschliche Handeln sind auch Tätigkeiten, die körperliche oder geistige Erzeugnisse und somit Kultur in einem weiten Sinne erschaffen oder reflektieren, variantenreich und führen zu völlig unterschiedlichen Schöpfungen. Dies gilt nicht zuletzt für die Rechtssetzung und dort im Speziellen für Straftatbestände, die von Rechtsordnung zu Rechtsordnung mehr oder minder differieren, je nachdem, von welchen Wertvorstellungen sich der jeweilige Normgeber leiten lässt. In den Geisteswissenschaften werden gewöhnlich sieben bis acht Kulturkreise unterschieden. Bekanntheit hat vor allem die Einteilung von Samuel Huntington erlangt, der in seinem vielbeachteten Werk „Kampf der Kulturen“ die Existenz eines westlichen (Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland), lateinamerikanischen, islamischen (Nordafrika und vorderer Orient), orthodoxen (Russland und Balkanstaaten), hinduistischen (Indien), sinischen (China), japanischen sowie eines afrikanischen Kulturkreises postuliert.36 Eine solche geographische Gliederung der Welt in wenige große Kulturkreise und die damit verbundene Vereinfachung dürfte in Anbetracht des Anliegens der Ethnologie, die Kulturen der verschiedenen Völker im Detail zu untersuchen, zwar wenig hilfreich sein und den Blick auf spezifische kulturelle Eigenarten eher verschleiern als erhellen.37 Allerdings bemerkt Huntington selbst, dass sein Buch kein sozialwissenschaftliches Werk sei.38 Sein Differenzierungsvorschlag ist vielmehr bewusst überschaubar gehalten und an seinen Zwecken ausgerichtet, gegenwärtige und potentielle zukünftige politisch-gesellschaftliche Entwicklungen aufzuzeigen.39 Ob es überhaupt möglich oder auch nur sinnvoll erscheint, die menschliche Kultur in einzelne Kulturkreise zu untergliedern, muss angesichts der Belange der vorliegen36
Huntington, Kampf der Kulturen, S. 57 ff. Zur Kritik Fliege, Rechtstheorie 29 (1998), 293 (296 ff.); F. W. Graf, Die Wiederkehr der Götter, S. 203 ff.; ders., Rechtstheorie 29 (1998), 311; Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (317); Schemann, Rechtstheorie 29 (1998), 565 (566 ff.); siehe auch B. Ostendorf, Samuel Huntington: From Creed to Culture, S. 115 (124 f.). Neben zu starker Vereinfachung wird Huntington unter anderem vorgeworfen, das Recht als zentrales Strukturelement der menschlichen Gesellschaft bei der Bildung seiner Kulturkreise vernachlässigt zu haben, Veddeler, Rechtstheorie 29 (1998), 453 (454 ff.). 38 Huntington, Kampf der Kulturen, S. 12. 39 Huntington, Kampf der Kulturen, S. 42 ff. 37
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den Arbeit nicht entschieden werden. Für die nachfolgenden Überlegungen genügt, das Vorhandensein verschiedener Kulturen festzustellen, die in größeren Einheiten wie Kulturkreisen grob zusammengefasst werden können. Die Existenz mehrerer Kulturkreise bedeutet zugleich das Bestehen verschiedener Wertvorstellungen. Auf deren Grundlage regeln nationale Rechtsordnungen die Sanktionswürdigkeit ein und desselben Verhaltens unterschiedlich, sei es, dass sie es entweder unter Strafe stellen, als Verwaltungsunrecht unter Bewehrung mit einer Geldbuße untersagen oder auch als sozialadäquat erachten. Begibt sich jemand in den Geltungsbereich einer für ihn fremden Rechtsordnung, die auf einem anderen kulturellen Hintergrund beruht, können daher erhebliche Konflikte hervorgerufen werden. Wer etwa seinen Urlaub in einem fremden Kulturkreis verbringt, wird mitunter bedenkenlos Handlungen vornehmen, die ihm zu Hause erlaubt sind, an seinem derzeitigen Aufenthaltsort jedoch einen Straftatbestand verwirklichen. Als Beispiel sei der Konsum alkoholischer Getränke in der Öffentlichkeit genannt, der hierzulande allenfalls noch von wenigen als unsittsam erachtet wird, in einigen Staaten aufgrund der dort vorherrschenden religiösen und sittlichen Wertvorstellungen dagegen strafbar ist. Solche kulturbedingten Kontroversen setzen allerdings kein Aufeinandertreffen von Angehörigen verschiedener Kulturkreise voraus. Vielmehr sind ebenso Binnenspannungen dergestalt denkbar, dass Strafnormen einem Angehörigen desselben Kulturkreises nicht nachvollziehbar erscheinen, weil er andere Wertvorstellungen als diejenigen, die dem jeweiligen Gesetzgebungsakt zugrunde liegen, als verbindlich erachtet. Vor allem die Strafwürdigkeit des Missbrauchs moderner Mittel der Informations- und Kommunikationstechnologie (z. B. das Herunterladen oder Anbieten privat digitalisierter Musikdateien in Tauschbörsen), geschäftstüchtiger Verhaltensweisen unter Ausnutzung neuer Anlageformen auf dem Kapitalmarkt (z. B. Insiderhandel) oder fortschrittlicher Tätigkeiten in Forschung und Wissenschaft (z. B. die Herstellung und Verwendung embryonaler Stammzellen) beurteilen selbst Angehörige ein und desselben Kulturkreises äußerst unterschiedlich. Zu zahl- und variantenreich sind die Faktoren, welche die Anschauungen des Einzelnen prägen, zu pluralistisch die heutige Medienwelt mit ihrem zunehmenden Einfluss auf das Meinungsbild der Öffentlichkeit, um eine homogene Wertbasis zu bilden, auf die sich das Strafrecht stützen könnte. Vielgestaltigkeit ist also nicht nur zwischen den Kulturkreisen, sondern ebenso innerhalb der einzelnen Kulturkreise zu verzeichnen. Es existieren gewissermaßen Subkulturen, die eigene Anschauungen und Besonderheiten aufweisen und zum Teil deutliche Gegensätze zu weiteren Subkulturen ein und desselben Kulturkreises offenbaren. Das Phänomen der sogenannten Ehrenmorde vermag dies zu illustrieren:40 Zwar werden solche Taten vornehmlich von Angehörigen des islamischen Kulturkreises begangen. Dies bedeutet indes nicht, dass es ein Be40
Zur rechtlichen Behandlung der Ehrenmorde siehe Teil 2 Kap. 2 II.
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standteil des islamischen Wertesystems sei, der Familienehre den Vorrang vor dem Leben sich „unehrenhaft“ verhaltender Angehöriger einzuräumen. Eine solche Auffassung teilen lediglich wenige Subkulturen, die zumeist in ländlichen Regionen anzutreffen und durch eine ausgeprägte patriarchalische Gesellschaftsstruktur charakterisiert sind. Ansonsten wird auch in islamischen Staaten die Tötung eines Menschen zur Wiederherstellung der Familienehre als moralisch verwerflich angesehen. Daher sollten diagnostizierte Unterschiede nicht übereilt mit dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturkreise erklärt werden. Insbesondere erscheint die Rede von einem westlichen (oder in Anlehnung an früher geläufige Bezeichnungen von einem christlich-abendländischen) 41 Kulturkreis einerseits sowie einem islamischen Kulturkreis andererseits verfehlt und allzu typisierend, wenn nicht sogar polarisierend. Sicherlich bestehen nicht nur gelegentlich erhebliche Differenzen zwischen den Wertvorstellungen von Angehörigen verschiedener Kulturkreise. Gleichwohl sind vorschnelle Rückschlüsse von den Anschauungen Einzelner auf deren Kulturkreis in seiner Gesamtheit zu vermeiden. Für die vorliegende Arbeit, für welche die reine Existenz unterschiedlicher kulturbedingter Anschauungen als Grundlage genügt, reicht eine derart verkürzte Darstellung zwar aus. Wer hingegen die gesellschaftliche Realität untersuchen und ergründen möchte, darf sich angesichts der Binnenvielfalt der einzelnen Kulturkreise nicht mit derart vereinfachenden Skizzen begnügen. Dennoch verfahren mediale Öffentlichkeit und Stellungnahmen aus der Politik in der Regel anders. So erfreut sich in den letzten Jahren, z. B. bei der Debatte um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, vor allem der Rückgriff auf die Kulturkreisbezeichnungen „christliches Abendland“ und „islamischer Orient“ wachsender Beliebtheit. Dadurch wird ein Gegensatz behauptet, der in einer derart extremen und unvereinbaren Gestalt, wie die Gegenüberstellung dieser Schlagworte es vermuten lässt, nicht existiert. Es liegt anscheinend in der Natur des Menschen, nach Differenzierungskriterien zu suchen, mit deren Hilfe nicht nur eine eigene Identität begründet, sondern auch eine Abgrenzung gegenüber anderen Personen erreicht wird. War das primäre Unterscheidungsmerkmal insbesondere im Mittelalter noch die Religion, während des kalten Krieges das Staatssystem, bei nicht emanzipierten Personen nach wie vor das Geschlecht wie bei Ewiggestrigen die Rasse, gebührt nunmehr der kulturellen Zugehörigkeit eines Menschen die zweifelhafte Ehre, sich von ihm unterscheiden und distanzieren oder ihn diskriminieren zu können.42 41 Allerdings sind nicht alle Errungenschaften des westlichen Kulturkreises durch die christliche Religion bedingt. Vor allem die Durchsetzung der Menschenrechte ist maßgeblich auf die Ideen des Humanismus und der Aufklärung zurückzuführen, während insoweit die christlichen Kirchen den Prozess der Anerkennung eher verlangsamten, Hilgendorf, Religion, Gewalt und Menschenrechte, S. 169 (179 ff. und 189). 42 Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 18 f., 21, 24 f., 95 f. und passim.
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Vielfach bemüht sich daher die öffentliche Diskussion bei interkulturellen Konflikten um einen plakativen Vergleich verschiedener Kulturkreise oder spricht in Anlehnung an Huntington sogleich von einem „Kampf der Kulturen“.43 Solche Gepflogenheiten sind aus integrationspolitischer Sicht sowie im Interesse an einer friedlichen Völkerverständigung bedenklich. Sofern es den christlich-abendländischen oder islamischen, den westlichen oder asiatischen Kulturkreis jemals gegeben haben sollte, existieren sie jedenfalls nicht mehr. Je mehr eine Gesellschaft Einflüssen anderer Kulturen unterliegt, sei es durch Gäste mit anderen Wertvorstellungen oder durch Kontakte zu internationalen Medien bzw. den weltweiten Informationsaustausch, umso weniger kann von der Identität eines Kulturkreises gesprochen werden.44 Kein Kulturkreis vermag bei seinen Angehörigen in allen Beziehungen verbindliche und einmütig vertretene Werte festzustellen und selbst herrschende ethische Positionen sind stetiger Diskussion ausgesetzt. Die zahlreichen Subkulturen und regionalen Wertesysteme lassen sich deswegen allenfalls schematisch noch zu einem Kulturkreis vereinen, unterscheiden sich in ihren einzelnen Anschauungen aber erheblich. b) Kultur als wertfreier Begriff Die Vielgestaltigkeit der Kulturen mag dazu verführen, nach den jeweils besten oder vermeintlich einzig wahren Werten oder sogar nach einer „Leitkultur“ insgesamt Ausschau zu halten.45 Dies entspricht dem alltäglichen Sprachgebrauch der Gesellschaft, die mit „Kultur“ häufig eine herausragende Errungenschaft der Vergangenheit oder Gegenwart assoziiert, was vielfach auf der gedanklichen Gleichsetzung von Kultur und Kunst beruhen dürfte. Im Rahmen dieser Arbeit eine gefestigte und überlieferte Anschauung als „kulturell“ zu bezeichnen, bedeutet hingegen nicht, dass es sich dabei um eine nach unseren Maßstäben moralisch gute oder anderweitig positive Wertvorstellung handelt.
43 Insoweit bleibt anzumerken, dass der Originaltitel des Werks von Huntington „Clash of Civilizations [and the Remaking of World Order]“ lautet und daher die Übersetzung als „Zusammenprall der Kulturen“ treffender als der tatsächlich gewählte Titel „Kampf der Kulturen“ wäre. 44 Vgl. etwa Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, S. 11 (22): „So kann, wer heute von Kultur oder von kultureller Identität spricht, dies im pluralistischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes eigentlich immer nur in der Mehrzahl tun, muß von Kulturen oder kulturellen Identitäten sprechen“ (Hervorhebungen im Original). 45 Den politisch brisanten Begriff der Leitkultur verwendete – soweit ersichtlich – erstmals der Politologe Bassam Tibi. In seinem 1998 erschienenen Werk „Europa ohne Identität“ plädiert er für eine europäische Leitkultur, deren Werte der kulturellen Moderne entspringen müssten: „Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft“, Tibi, Europa ohne Identität, S. 154.
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Mit dem hier verwendeten Kulturbegriff soll vielmehr gerade keine ethische Bewertung verbunden sein. Auch (aus gegenwärtiger Sicht) negative oder überholte, selbst menschenunwürdige Anschauungen gehören daher zur Kultur einer Gesellschaft und lassen sich nicht per definitionem ausgrenzen. Ebenso wenig ist eine Subkultur als untergeordnete oder niedrige Kultur, sondern wertneutral als rein strukturelle Untergliederung einer Kultur zu verstehen. Anderenfalls müsste zum einen ein Gegensatzbegriff, also etwa eine „Unkultur“, „Nichtkultur“ oder „negative Kultur“, gebildet werden und bedürfte es normativer Kriterien, welche die Einordnung einer Wertvorstellung als „kulturell“ bzw. „nicht kulturell“ ermöglichten. Zum anderen ändert sich die ethische Beurteilung im Laufe der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Den Fokus auf eine solche Vorfrage zu richten, erweist sich für das Anliegen der Arbeit, die Berücksichtigung von Wertvorstellungen in der Strafrechtsdogmatik zu untersuchen, somit weder als notwendig noch als dienlich. c) Akzeptanz und Dauerhaftigkeit der Kultur Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass der Kultur eine Komponente zeitlicher Konstanz sowie verbreiteter Akzeptanz immanent ist. Huntington bezeichnet Kulturkreise treffend als „dauerhafteste[n] aller menschlichen Zusammenschlüsse“.46 Zwar bemühen Schilderungen des Zeitgeschehens auf der ständigen Jagd nach Höhepunkten und Superlativen häufig Begriffe wie „historisch“ oder „Kult“. Werte, Sitten und Gebräuche werden jedoch erst dann Teil der Kultur, wenn sie über einen längeren Zeitraum, in der Regel in der Überzeugung ihrer Richtigkeit bzw. Sozialverträglichkeit, gepflegt werden. Erst durch die beständige Praxis avanciert ein vorübergehender Gedanke zur kulturellen Anschauung bzw. ein gelegentliches Verhalten zur Tradition. Beständig bedeutet in diesem Sinne freilich nicht unveränderlich, ebenso wenig aber wechselhaft oder beliebig. Außer durch ihre zeitliche Konstanz zeichnet sich Kultur durch einen gewissen Grad an Verbreitung aus. Die Ansicht eines Einzelnen vermag also keine kulturelle Anschauung zu begründen, sondern muss von hinlänglich vielen Personen geteilt werden, die in einem geistigen Kontakt stehen. Von einer gemeinsamen Überzeugung kann also nicht gesprochen werden, wenn sie aus unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Gründen an verschiedenen Orten der Welt entsteht. Zwar muss eine kulturelle Wertvorstellung weder von einem gesamten Kulturkreis noch von einer einzelnen Subkultur anerkannt und praktiziert werden. Allerdings muss sie in einem hinreichend großen Umfeld sich durchzusetzen oder zu bestehen wissen.
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Huntington, Kampf der Kulturen, S. 55.
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II. Kultur „und“ Strafrecht Kultur umfasst in der hier verwandten weiten Bedeutung sämtliche geistigen Errungenschaften und körperlichen Erzeugnisse des Menschen. Auch das geschriebene Recht bildet, da es aus menschlicher Feder stammt, einen Teil der Kultur.47 Dies gilt für die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit (und die darin generell zum Ausdruck kommenden kulturellen Anschauungen) sowie für jede ihrer Vorschriften wie beispielsweise die einzelnen Straftatbestände (und die dadurch getroffene kulturell geprägte Entscheidung über die strafrechtliche Schutzwürdigkeit eines Rechtsguts). Es liegt daher der Einwand nahe, das Nebeneinander von Kultur „und“ Recht suggeriere einen nicht vorhandenen Gleichrang; vielmehr beinhalte die Kultur das Recht. Wie bereits dargelegt, existieren jedoch zahllose Kulturkreise und Kulturen. Die Verwendung der Konjunktion „und“ in dem Titel dieser Arbeit rechtfertigt sich demzufolge schon dadurch, dass kulturbedingte Spannungen häufig zwischen Angehörigen verschiedener Kulturkreise auftreten. So kann sich der Täter bei der Verwirklichung eines inländischen Straftatbestandes von seinen heimatlichen, gegebenenfalls auch im dortigen Recht zum Ausdruck kommenden Anschauungen leiten lassen, die mit den Wertvorstellungen der hiesigen Rechtsordnung nicht übereinstimmen. Unterschiedliche kulturelle Maßstäbe können folglich Uneinigkeit über die Strafbarkeit einer Handlung hervorrufen. Es vermögen also (die eine) Kultur und (das) Recht (einer anderen Kultur) aufeinanderzutreffen. Aber selbst bei Sachverhalten, die sich innerhalb ein und desselben Kulturkreises abspielen, erscheint es nicht von vornherein verfehlt, Kultur und Recht in einem Atemzug zu nennen. Gerade weil das Recht lediglich eine von vielen Ausformungen der Kultur darstellt, müssen rechtliche Verhaltensgebote oder -verbote und sonstige kulturelle Anschauungen, wie etwa moralische Ansichten und religiöse Überzeugungen, nicht identisch sein. In solchen Situationen ist fraglich, ob und gegebenenfalls inwieweit die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bei der Beurteilung seiner Strafbarkeit zu berücksichtigen sind. Häufen sich in einer Gesellschaft die Kollisionen zwischen Recht und (der sonstigen) Kultur, werden sich die widerstreitenden Positionen langfristig in der Regel annähern oder angleichen. Entweder beugt sich dann das Recht den gesellschaftlichen oder moralischen Anschauungen oder folgen umgekehrt Sitte und Moral dem Recht. Kultur und das Recht im Speziellen befinden sich also in einem Verhältnis der Wechselwirkung und tragen gegenseitig zu ihrer weiteren Entwicklung bei.48
47 Lampe, in: Festschrift Welzel, S. 151 (153 ff.); Schemann, Rechtstheorie 29 (1998), 565 (574); Veddeler, Rechtstheorie 29 (1998), 453 (458). 48 Vgl. dazu Lampe, in: Festschrift Welzel, S. 151 (156). Zur Emanzipation des Kulturbegriffs Hasso Hofmann, JZ 2009, 1 (1 ff.).
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III. Kultur und „Recht“ 1. Kultur und öffentliches Recht Kulturelle Konflikte sind vor allem im öffentlichen Recht zu verzeichnen.49 Die Auseinandersetzungen betreffen so unterschiedliche Themen wie den Bau von Moscheen,50 das Schächten von Tieren51 oder die Teilnahme muslimischer Kinder am Sexualkunde-52 oder am koedukativen Sport- und Schwimmunterricht.53 Viele kulturelle Streitigkeiten in der jüngeren Vergangenheit entfachten sich demnach anlässlich von Kontakten mit Angehörigen des Islam. Dies bleibt nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Muslime mit geschätzten 4,6% der Gesamtbevölkerung54 die größte nichtchristliche Religion in Deutschland bilden. Außerdem differieren ihre Wertvorstellungen häufig wesentlich von den hierzulande herrschenden Anschauungen. Gleichwohl wäre es verfehlt, kulturelle Kontroversen ausschließlich auf den wachsenden Bevölkerungsanteil der Muslime in Deutschland zurückzuführen. Wie die im Folgenden dargestellten prominenten Ereignisse, denen in den Medien und in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde, vielmehr belegen, setzen kulturelle Spannungen in Deutschland keinen Berührungspunkt mit dem Islam voraus.
49 Zusammenfassend Ga. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, S. 23 ff.; Rohe, Der Islam, S. 133 ff. Eingehend zu kulturellen Rechten im Verfassungsrecht Ga. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, S. 109 ff. 50 BayVGH NVwZ 1997, 1016; VG Düsseldorf NWVBl 2008, 157; VG Frankfurt am Main NVwZ-RR 2002, 175; VG Karlsruhe ZfBR 2010, 154; VG München BauR 2007, 1188; VG Stuttgart NVwZ-RR 2008, 522. 51 BVerfGE 104, 337; BVerfG NJW 2002, 1485; BVerwGE 127, 183. 52 Zu Kulturkonflikten an staatlichen Schulen Langenfeld, AöR 123 (1998), 375 (387 ff.). 53 BVerwGE 94, 82 mit zustimmender Besprechung Wesel, NJW 1994, 1389; siehe aber OVG Münster NVwZ-RR 2009, 923, VG Aachen, Beschluss vom 12. 1. 2011, Az. 9 L 518/10, BeckRS 2011, 45837 und VG Hamburg NVwZ-RR 2006, 121; weitere Nachweise bei Röper, ZRP 2006, 187 (188). Wiese/Wrase, ZRP 2007, 171 (171) weisen darauf hin, dass sich die Abmeldung muslimischer Kinder vom Sport- und Schwimmunterricht entgegen mancher Stimmen aus der Politik auf Einzelfälle beschränkt. 54 Hochrechnung für 2010 vom 3. 1. 2011, Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, Religionszugehörigkeit, Deutschland 1970–2010, S. 7. Allerdings gelten die Angaben zu den Muslimen als zu hoch. Mangels regulärer Kirchen oder Konfessionen werden alle Migranten aus einem „überwiegend muslimischen Land“ als Muslime eingestuft, weswegen letztlich auf die kulturelle Zugehörigkeit abgestellt wird. Nach empirischen Untersuchungen sind aber nur zwischen 20 und 50% der betreffenden Migranten als religiöse Muslime zu bezeichnen. Bei Zugrundelegung dieses Kriteriums reduzierte sich der Anteil der Muslime an der Bevölkerung auf 2% oder sogar weniger, Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, Religionszugehörigkeit, Deutschland 1970–2010, S. 5 und 7.
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Teil 1: Grundlagen
a) Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 Exemplarisch für Spannungen zwischen Kultur und Recht kann zunächst der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 199555 herangezogen werden. Wie das Paradebeispiel verdeutlicht, entstehen kulturelle Konflikte nicht nur beim Aufeinandertreffen verschiedener Kulturkreise, sondern auch innerhalb ein und desselben Kulturkreises. Voraussetzung ist lediglich, dass die Rechtsordnung bei der Regelung bestimmter Fragen bestimmte kulturelle Positionen nicht berücksichtigt, sich etwa in sämtlichen religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten und somit in einem zentralen Teilbereich der Kultur56 versucht neutral zu verhalten. Zugleich vermittelt die Entscheidung aufschlussreich, welche emotionalen Reaktionen Richtersprüche über religionsbezogene Sachverhalte mitunter hervorrufen. Der Beschluss befasste sich mit der Verfassungsmäßigkeit der hoheitlichen Anordnung, Kreuze in Unterrichtsräumen staatlicher Pflichtschulen anzubringen. Das Bundesverfassungsgericht befand mit der Senatsmehrheit von fünf zu drei Stimmen die Glaubensfreiheit der Schüler für verletzt, wenn sie von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit in ihren Klassenräumen mit dem Kreuz als spezifischem Glaubenssymbol des Christentums konfrontiert und dazu gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen.57 Aus der Glaubensfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG folge der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den einzelnen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz lediglich gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahre.58 Wegen Unvereinbarkeit mit Art. 4 Abs. 1 GG erklärte das Gericht daher die entsprechende Anordnung in § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (BayVSO)59 für nichtig.60 55
BVerfGE 93, 1. Siehe schon Huntington, Kampf der Kulturen, S. 52, 61, 81 und passim; Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (319); prägnant Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, S. 11 (16): „Wer von Kultur spricht, kann von Religion nicht schweigen“. 57 BVerfGE 93, 1 (17 f.). 58 BVerfGE 93, 1 (16). 59 § 13 Abs. 1 BayVSO in der Fassung vom 21. 6. 1983 lautete: „1Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. 2Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. 3In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. 4Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.“ 60 Eine ähnliche Regelung in Italien hat die Zweite Sektion des EGMR als Verstoß gegen Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK i.V. m. deren Art. 9 angesehen, BeckRS 2010, 90137 Rdn. 58 – Lautsi/Italien. Italien hat das Urteil aber angefochten, so dass der Fall nunmehr vor der Großen Kammer des EGMR verhandelt wird. Zu möglichen Folgen für die derzeitige Rechtslage in Bayern Michl, Jura 2010, 690 (693 f.); kritisch 56
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Die Reaktionen in Politik und Gesellschaft waren außerordentlich heftig und anlässlich eines Richterspruchs des höchsten deutschen Gerichts zuweilen befremdend maßlos und despektierlich.61 Vor allem aus dem am Verfahren beteiligten Bayern kamen kritische Stellungnahmen, noch bevor die Entscheidungsgründe in vollem Umfang veröffentlicht wurden. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber bezeichnete den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als „Urteil der Intoleranz“ 62 und wollte eine Änderung „dieses verheerenden Richterspruchs“ 63 erzwingen. Weitere Stimmen erblickten darin den Ruin des gewaltengeteilten Staates, riefen zum Widerstand „gegen den puren Unsinn und Übermut auch höchster Gerichte“ 64 auf und forderten die Nichtumsetzung des Kruzifix-Beschlusses bzw. eine Änderung des Grundgesetzes.65 Bayerische Eltern drohten damit, ihre Kinder aus den Schulen zu nehmen, wenn die Kreuze aus den Klassenzimmern entfernt würden. Gegenüber den vor dem Bundesverfassungsgericht klagenden und obsiegenden Eltern wurden sogar Morddrohungen ausgesprochen. gegenüber dem Urteil des EGMR hingegen Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, 450 (455 ff.). 61 Zur Reaktion der Öffentlichkeit auf den Kruzifix-Beschluss statt vieler Zuck, NJW 1995, 2903; zu sprachlichen Ausfällen in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung Czermak, ZRP 1996, 201. 62 Der Spiegel, Heft 33/1995 vom 14. 8. 1995, S. 33. 63 Süddeutsche Zeitung vom 21. 8. 1995, S. 31. 64 So der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier im Focus, Heft 33/1995 vom 14. 8. 1995, S. 44. 65 Der Freistaat Bayern reagierte auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, indem er mit Gesetz vom 23. 12. 1995 (BayGVBl., S. 850) in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) folgende neue Regelung einführte: „Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht.“ Allerdings kann nunmehr der Anbringung „aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten“ widersprochen werden, worauf die Schulleitung eine gütliche Einigung versuchen muss (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 BayEUG). Bei deren Misslingen bleibt „eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen“ (Art. 7 Abs. 3 Satz 4 BayEUG). Popularklagen gegen diese Konfliktlösung hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof am 1. 8. 1997 als unbegründet zurückgewiesen, BayVerfGH NJW 1997, 3157 mit kritischer Besprechung Renck, NJW 1999, 994. Hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG NJW 1999, 1020. Es hat dabei jedoch ausgeführt, dass kein Raum dafür war, die angefochtene Entscheidung des BayVerfGH auf ihre Übereinstimmung mit den tragenden Gründen des Kruzifix-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zu überprüfen, BVerfG NJW 1999, 1020 (1021). Zur grundgesetzkonformen Auslegung der Widerspruchsregelung in Art. 7 Abs. 3 BayEUG siehe BVerwGE 109, 40 mit Besprechung Nolte, NVwZ 2000, 891 sowie Michl, Jura 2010, 690 (693 f.). Zur Thematik ferner Detterbeck, NJW 1996, 426; hiergegen Biletzki, NJW 1996, 2633.
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Außerhalb des Freistaates überwogen ebenso negative Klänge. Beispielsweise riet der Generalsekretär der CDU Peter Hintze dem Bundesverfassungsgericht zur Selbstbesinnung.66 Angesichts der knappen 5-zu-3-Abstimmung wurde teilweise das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit für wichtige Entscheidungen des Gerichts befürwortet.67 Bundeskanzler Helmut Kohl nannte den Beschluss „unverständlich“: Die Offenheit der pluralistischen Gesellschaft in Deutschland wäre falsch verstanden, wenn sie dazu führte, „die Werte unserer abendländischen Kultur“ aufzugeben.68 Der Deutsche Lehrerverband warnte vor einem Kulturkampf an den Schulen.69 Nur wenige Stimmen in der Öffentlichkeit unterstützten das Bundesverfassungsgericht, mahnten zur gebotenen Sachlichkeit oder nahmen den Beschluss zum Anlass, das Verhältnis von Staat und Kirche umfassend zu hinterfragen und z. B. den schulischen Religionsunterricht oder das Einzugssystem der Kirchensteuer über die staatlichen Finanzämter zur Diskussion zu stellen.70 Der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und spätere Bundespräsident Johannes Rau bescheinigte etwa den Kritikern ihrerseits Intoleranz.71 Solche Einwürfe ernteten aber in der Regel harsche Kritik. Allein der Abdruck eines dem Kruzifix-Beschluss zustimmenden Gastkommentars in der Tageszeitung „Die Welt“ zog beispielsweise Forderungen nach sich, deren Chefredakteur zu entlassen.72 Unterschiedliche Reaktionen waren bei den Vertretern der Kirchen zu bemerken. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschränkte sich auf die Anmahnung von Toleranz, „dass herkömmliche, historisch gewachsene Ausdrucksformen des religiösen Lebens, wo sie der eigenen Überzeugung nicht entsprechen, gleichwohl nicht bekämpft, sondern ertragen werden“.73 Zurückhaltend zeigte sich auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die ihre Pfarrer zu Besonnenheit und Respekt vor der Kruzifix-Entscheidung aufrief.74 Von katholischen Würdenträgern waren dagegen heftige Worte zu vernehmen. So attestierte der katholische Bischof von Trier Hermann Josef Spital dem Richterspruch, an der Lebenswirklichkeit vorbeizugehen. Er merkte ferner an, die Mehrheit dürfe von der Minderheit nicht vergewaltigt werden.75 Der Münchener 66
Süddeutsche Zeitung vom 14. 8. 1995, S. 2. Süddeutsche Zeitung vom 14. 8. 1995, S. 2. 68 Süddeutsche Zeitung vom 12. 8. 1995, S. 1. 69 Süddeutsche Zeitung vom 12. 8. 1995, S. 1. 70 Siehe die Wortmeldungen in Frankfurter Rundschau vom 12. 8. 1995, S. 4. Zur Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten Rottleuthner, Wie säkular ist die Bundesrepublik?, S. 13 (25 ff.). 71 Frankfurter Rundschau vom 15. 8. 1995, S. 1. 72 Süddeutsche Zeitung vom 14. 8. 1995, S. 1. 73 Frankfurter Rundschau vom 12. 8. 1995, S. 4. 74 Süddeutsche Zeitung vom 16. 8. 1995, S. 40. 75 Frankfurter Rundschau vom 12. 8. 1995, S. 4. 67
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Kardinal Friedrich Wetter sprach schlicht von einem „Intoleranzedikt“, 76 während der Kölner Kardinal Joachim Meisner dem Bundesverfassungsgericht den Versuch vorwarf, eine „kreuzeslose abendländische Gesellschaft“ zu schaffen, und „einen schwarzen Tag im Leben unseres Volkes“ bescheinigte.77 b) Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 Für ein ähnliches Aufsehen in der Öffentlichkeit sorgte das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003.78 Es hatte mit dem muslimischen Kopftuch ein weiteres religiöses Symbol zum Gegenstand, das in vielen westlichen Staaten als Gradmesser für die Integration des Islam erachtet wird. Beschwerdeführerin war eine Muslimin, die ihre Aufnahme als Grund- und Hauptschullehrerin in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg begehrte. Sie wollte im Unterricht auf das Tragen ihres Kopftuchs nicht verzichten, da dies nach den Vorschriften des Islam zu ihrer religiösen Identität gehöre. Daraufhin wurde ihr die persönliche Eignung für das Amt mit der Begründung abgesprochen, dem Kopftuch komme nicht nur eine religiöse Bedeutung zu. Ihm sei vielmehr auch die politische Aussage kultureller Desintegration zu entnehmen,79 die sich mit dem Gebot der staatlichen Neutralität nicht vereinbaren lasse. Die Verwaltungsgerichte bewerteten es als rechtmäßig, die Einstellung der Beschwerdeführerin an ihre Bereitschaft zu knüpfen, das Kopftuch im Unterricht abzulegen. Zwar hielt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 4. Juli 200280 fest, dass die Zulassung zu öffentlichen Ämtern nach Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG unabhängig von dem religiösen Bekenntnis stattzufinden habe. Allerdings sei die Glaubensfreiheit des Einzelnen trotz fehlenden Gesetzesvorbehalts nicht schrankenlos gewährleistet, sondern vornehmlich durch die kollidierenden Grundrechte Andersdenkender beschränkt, vorliegend die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schüler und ihrer Eltern.81 Das Bundesverwaltungsgericht 76
Frankfurter Rundschau vom 15. 8. 1995, S. 3. Die Zeit vom 17. 8. 1995, S. 2. 78 BVerfGE 108, 282. 79 Zu den möglichen Deutungen BVerfGE 108, 282 (304 f.); VG Stuttgart NVwZ 2006, 1444 (1446); Rohe, Der Islam, S. 144 ff.; Wiese/Wrase, ZRP 2007, 171 (171). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat demgegenüber die politische Dimension des Kopftuchs hervorgehoben und betont, dass „es schwierig zu sein [scheint], das Tragen des islamischen Kopftuchs mit der Botschaft der Toleranz zu vereinbaren, der Achtung des anderen und insbesondere der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, eine Botschaft, die in einer demokratischen Gesellschaft Lehrer ihren Schülern übermitteln müssen“, EGMR NJW 2001, 2871 (2873) – Dahlab/Schweiz zur Zulässigkeit des Verbots, mit islamischem Kopftuch an einer Grundschule zu unterrichten; ebenso EGMR NVwZ 2006, 1389 (1392 f.) – Leyla Sahin/Türkei zum Kopftuchverbot an türkischen Universitäten. 80 BVerwGE 116, 359. 81 BVerwGE 116, 359 (360 f.). 77
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stützte sich dabei maßgeblich auf Aussagen der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.82 Demnach folge aus der umfassend gewährleisteten Glaubensfreiheit das Gebot staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen, nicht zuletzt um in einer pluralistischen Gesellschaft mit wachsender kultureller und religiöser Vielfalt ein friedliches Zusammenleben sicherzustellen. Dies gelte vor allem an öffentlichen Schulen, an denen wegen der allgemeinen Schulpflicht verschiedene religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Schüler, ihrer Eltern sowie der Lehrer unvermeidlich und besonders intensiv aufeinanderträfen. Lehrkräfte könnten sich deswegen nicht uneingeschränkt auf ihre Glaubens- und Bekenntnisfreiheit berufen.83 Das Bundesverfassungsgericht entschied – wiederum mit der minimalen Mehrheit von fünf zu drei Stimmen – zugunsten der Beschwerdeführerin. Es erkannte ihr Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG i.V. m. ihrer Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als verletzt und verwies daher die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurück. Jedoch beruhte das – vorläufige84 – Obsiegen der Beschwerdeführerin nicht auf der zu ihren Gunsten sprechenden materiellen Rechtslage, sondern auf der fehlenden Befugnisnorm der Schulbehörden, die Einstellung zu verweigern. Für die Anordnung eines Kopftuchverbots hätten die beamten- und schulrechtlichen Regelungen des Landes Baden-Württemberg als Eingriffsermächtigung lediglich dann ausgereicht, wenn das Tragen des Kopftuchs im Unterricht eine konkrete, vorliegend nicht nachgewiesene Gefährdung des Schulfriedens begründet hätte. Demgegenüber war nicht von den bestehenden Vorschriften gedeckt, für die Einstellung der Beschwerdeführerin allein wegen der abstrakten Gefahr, Schülerinnen und Schüler durch das Tragen des Kopftuchs zu beeinflussen und Konflikte zwischen Lehrern, Schülern sowie ihren Eltern zu verursachen, den Verzicht auf ihr Kopftuch zu fordern.85 Somit schloss das Bundesverfassungsgericht gerade nicht aus, Lehrkräften das Tragen von Kopftüchern zu untersagen. Vielmehr betonte es die grundgesetzliche Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Um den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht zu gefährden, dürfe der Staat weder gezielt im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung beeinflussen noch sich durch staatliche Maßnahmen mit einem Glauben oder einer Weltanschauung identifizieren.86 Dies gelte vor allem im schulischen Bereich, in dem der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit einem bestimmten Glauben, dessen Handlungen und Symbolen ausgesetzt sei. Wenn hier Lehr82 83 84 85 86
BVerfGE 93, 1; vgl. dazu soeben Teil 1 Kap. 1 III. 1. a). BVerwGE 116, 359 (361). Vgl. BVerwGE 121, 140; siehe dazu sogleich. BVerfGE 108, 282 (307). BVerfGE 108, 282 (299 f.).
Kap. 1: Kultur und Strafrecht
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kräfte religiöse oder weltanschauliche Bezüge in Schule und Unterricht einbrächten, könne dies den neutral zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das Erziehungsrecht der Eltern sowie die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen.87 Die Lösung des aufgezeigten Grundrechtskonflikts bleibe nach der Wesentlichkeitstheorie dem demokratisch legitimierten Landesgesetzgeber vorbehalten. Er verfüge hierbei über eine Einschätzungsprärogative, ob und gegebenenfalls welche Verhaltensregeln er etwa in Bezug auf die Kleidung und das sonstige Auftreten von Lehrkräften in Schule und Unterricht erlasse und welche Anforderungen an die Eignung für ein Lehramt zu stellen seien.88 Sollte dadurch das (vorbehaltlos gewährte) Grundrecht der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte eingeschränkt werden, bedürfe dies nach dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.89 Auch das Kopftuch-Urteil führte zu lebhaften und kontroversen Stellungnahmen in Politik und Gesellschaft. Berlins Senator für Bildung, Jugend und Sport Klaus Böger hielt das Urteil für sehr weise, weil das Bundesverfassungsgericht den Landesgesetzgebern die Letztentscheidung zugestanden habe.90 Dass demnach eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für ein Kopftuchverbot erforderlich sei, begrüßte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, als „Stärkung des Rechts auf Ausübung der religiösen Freiheit“.91 Andere Stimmen sahen in dem Richterspruch ein „integrationspolitisches Signal“, wonach es der Politik obliege, über das Tragen von Kopftüchern im Unterricht zu diskutieren und zu befinden.92 Wer sich von dem Bundesverfassungsgericht hingegen eine endgültige Klärung des Rechtsstreits erhofft hatte, zeigte sich enttäuscht. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nannte den Karlsruher Richterspruch „eigentümlich feige“, weil er reaktionäre Kräfte innerhalb des Islam ermutigen könne.93 Andere Stimmen bezeichneten wiederum das Urteil als ängstlich, kleinmütig und unzeitgemäß, da der Streit nicht endgültig zugunsten der Beschwerdeführerin entschieden wurde.94 Selbst die drei unterlegenen Verfassungsrichter verbargen in ihrem Minderheitsvotum ihre Unzufriedenheit mit der Senatsmehrheit nicht und fanden ungewohnt deutliche und kritische Worte. Unter anderem habe der Senat trotz Ent87 BVerfGE 108, 282 (302 f.). Zur Zulässigkeit des Tragens eines Kopftuchs durch eine Zuhörerin im Gerichtssaal dagegen BVerfG NJW 2007, 56. 88 BVerfGE 108, 282 (309 ff.). 89 BVerfGE 108, 282 (310 ff.). 90 die tageszeitung vom 25. 9. 2003, S. 3. 91 Frankfurter Rundschau vom 25. 9. 2003, S. 5. 92 Frankfurter Rundschau vom 25. 9. 2003, S. 5. 93 die tageszeitung vom 25. 9. 2003, S. 3. 94 Die Zeit vom 25. 9. 2003, S. 7.
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scheidungsreife das Verfahren weder endgültig geklärt noch dem Gesetzgeber mitgeteilt, wie er den aufgeworfenen Konflikt lösen und dadurch die verfassungsunmittelbaren Schranken der Glaubensfreiheit konkretisieren solle.95 Einige Bundesländer nahmen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass, eine gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot zu schaffen. Allen voran erließ Baden-Württemberg noch während des laufenden Ausgangsverfahrens am 1. April 2004 eine entsprechende Regelung in § 38 seines Schulgesetzes. Die Vorschrift bleibt jedoch umstritten, da sie der „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ 96 einen besonderen Stellenwert einräumt. Dadurch scheint sie das vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte „Gebot strikter Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen sowohl in der Begründung als auch in der Praxis der Durchsetzung solcher [in die Glaubensfreiheit von Amtsinhabern und Bewerbern um öffentliche Ämter eingreifenden] Dienstpflichten“ 97 zu missachten.98 Das Bundesverwaltungsgericht hatte indes keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Regelung mit dem Gleichheitsgebot. Im Urteil vom 24. Juni 2004 95 BVerfGE 108, 282 (337). Ebenso kritisch Bader, NJW 2004, 3092 (3094); J. Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1212 f.); Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3300 f.). 96 § 38 Abs. 2 SchGBW lautet: „1Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. 2Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. 3Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. 4Das religiöse Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht nach Artikel 18 Satz 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg.“ 97 BVerfGE 102, 282 (298). 98 Zur Diskussion etwa Böckenförde, JZ 2004, 1181 (1183 f.); Ekardt, ZRP 2005, 225 (227); Hufen, NVwZ 2004, 575 (578); Mahlmann, ZRP 2004, 123 (124 ff.); vorab für eine Widerspruchslösung plädierend Neureither, ZRP 2003, 465 (467 f.). Ebenso umstrittene Regelungen wie in Baden-Württemberg ergingen in Bayern (Art. 59 Abs. 2 BayEUG; nach BayVerfGH NVwZ 2008, 420 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden), Hessen (§ 86 Abs. 3 HSchG; bestätigt durch HStGH NVwZ 2008, 199), Niedersachen (§ 51 Abs. 3 NSchG), Nordrhein-Westfalen (§ 57 Abs. 4 NWSchulG) sowie im Saarland (§ 1 Abs. 2a SSchoG), die mit ähnlichen Formulierungen die christlichen und abendländischen Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen privilegierten. Ein Verbot für sämtliche religiösen oder weltanschaulichen Symbole erließen dagegen die Bundesländer Berlin (§ 2 des Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin) und Bremen (§ 59b Abs. 4 BremSchulG, der nach BVerwG NJW 2008, 3654 für Referendare allerdings nur eingeschränkt gilt); einen Überblick über die Landesgesetzgebung und -rechtsprechung gewährt Hans Hofmann, NVwZ 2009, 74 (76 ff.).
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führte es in der vom Bundesverfassungsgericht zurückverwiesenen Sache aus, der Begriff „christlich“ in § 38 Abs. 2 Satz 3 SchGBW sei losgelöst von Glaubensinhalten auszulegen. Er umfasse etwa Werte wie die Menschenwürde, die allgemeine Handlungsfreiheit oder die Gleichheit aller Menschen und Geschlechter sowie humane Werte wie Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Solidarität.99 Die Revision der Klägerin wurde daher als unbegründet zurückgewiesen. In einem ähnlichen Fall hob das VG Stuttgart hingegen durch Urteil vom 7. Juli 2006 einen Bescheid des Oberschulamts Stuttgart auf, der einer (bereits verbeamteten) Grund- und Hauptschullehrerin das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Gründen untersagen wollte. Zwar verneinte das Verwaltungsgericht im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eine Verfassungswidrigkeit des § 38 Abs. 2 Satz 3 SchGBW.100 In der bestehenden baden-württembergischen Verwaltungspraxis erkannte es allerdings einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG sowie gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK. Im Unterricht keine religiösen Bekundungen abgeben zu dürfen, werde nämlich lediglich beim islamischen Kopftuch, weder dagegen beim Nonnenhabit noch bei der jüdischen Kippa durchgesetzt.101 Der VGH Mannheim trat dem durch Urteil vom 14. März 2008102 aber entgegen und änderte die erstinstanzliche Entscheidung wieder zum Nachteil der Klägerin ab. In tatsächlicher Hinsicht sah das Berufungsgericht bei drei zum Vergleich herangezogenen Ordensschwestern, die in ihrer Nonnentracht unterrichten durften, einen den konkreten Umständen geschuldeten historisch bedingten Ausnahmefall, der keine systematische Bevorzugung von Angehörigen des christlichen Glaubens bedeute. Aus rechtlicher Perspektive gewähre Art. 3 GG ohnehin grundsätzlich keine Gleichbehandlung im Unrecht.103 Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Beschluss vom 16. Dezember 2008104 das Berufungsurteil. Es bleibt abzuwarten, ob durch die erneute höchstrichterliche Entscheidung die juristische Diskussion um die Zulässigkeit von Kopftüchern an Schulen ein Ende gefunden hat. Aktuelle Debatten um das Tragen der Burka im öffentlichen Dienst oder in der Öffentlichkeit generell105 lassen eher das Gegenteil vermuten.
99 BVerwGE 121, 140 (151). Kritisch Baer/Wrase, DÖV 2005, 243 (249 ff.); Ekardt, KJ 2005, 248 (258 f.). 100 VG Stuttgart NVwZ 2006, 1444 (1446). 101 VG Stuttgart NVwZ 2006, 1444 (1446 f.). 102 VGH Mannheim VBlBW 2008, 437. 103 VGH Mannheim VBlBW 2008, 437 (442 f.). 104 BVerwG NJW 2009, 1289. 105 Siehe hierzu R. Gerhardt, ZRP 2010, 232 und Gu. Britz, ZRP 2011, 26. Kritisch Finke, NVwZ 2010, 1127 (1128 ff.) im Hinblick auf Art. 8 bzw. 9 EMRK.
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2. Kultur und Zivilrecht Auch vor den Zivilgerichten finden Verfahren mit kulturellen Konflikten statt, wenngleich sie selten im Interesse der Öffentlichkeit stehen. Ein schon vor längerer Zeit aufgeworfenes, nach wie vor aktuelles Thema betrifft den Anspruch eines ausländischen Mieters auf Zustimmung seines Vermieters zur Errichtung einer Parabolantenne, um Rundfunkprogramme seines Heimatstaates zu empfangen. Mit der zivilrechtlichen Fragestellung musste sich unter anderem das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Es entschied mit Beschluss vom 9. Februar 1994,106 dass ausländische Rundfunkprogramme als allgemein zugängliche Informationsquellen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 GG anzusehen seien, wenn sie in Deutschland empfangen werden könnten.107 Die Auslegung und Anwendung mietrechtlicher Vorschriften erfordere demnach in der Regel eine fallbezogene Abwägung zwischen dem Grundrecht des Vermieters auf Eigentum gemäß Art. 14 Abs. 1 GG und dem Grundrecht des Mieters auf Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 GG.108 Dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer hätten demnach zumeist einen Anspruch gegen den Vermieter, der Errichtung einer Parabolantenne zuzustimmen, um sich über das Geschehen in ihrer Heimat zu unterrichten sowie die kulturelle und sprachliche Verbindung aufrecht zu erhalten. Da in die inländischen Kabelnetze gewöhnlich nur wenige ausländische Programme eingespeist würden, gelte dies sogar bei einem bereits vorhandenen Kabelanschluss.109 Ungleich größere Aufmerksamkeit erlangte ein Scheidungsverfahren vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main. Antragstellerin war eine 26-jährige deutsche Staatsangehörige, welche die Scheidung einer in Marokko geschlossenen Ehe vor Ablauf des gesetzlich vorgesehenen Trennungsjahres begehrte. Dadurch sollte der marokkanische Ehemann, der im Mai 2006 nach Gewalttätigkeiten gegen seine Ehefrau aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen musste und in der Folgezeit Beleidigungen und Morddrohungen gegen sie ausstieß, sein vermeintliches Recht zur Gewaltanwendung gegenüber seiner Ehefrau verlieren und von weiteren Schikanen abgehalten werden. Den im Oktober 2006 eingereichten Antrag auf Prozesskostenhilfe für ein vorzeitiges Scheidungsverfahren lehnte eine Familienrichterin am Amtsgericht Frankfurt am Main jedoch ab, weil die Aus-
106
BVerfGE 90, 27. BVerfGE 90, 27 (32). 108 BVerfGE 90, 27 (33 f.); ebenso BVerfG NJW-RR 1994, 1232; NJW-RR 1994, 1232 (1233). Vgl. ferner BVerfG NJW 1995, 1665 (1667) zur Abwägung bei einer Wohnungseigentümergemeinschaft. 109 BVerfGE 90, 27 (35 f.). Zur weiteren Berücksichtigung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG siehe die Entscheidungen BGH NJW 2008, 216 und OLG München NJW 2008, 235. 107
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übung des (angeblich) aus Sure 4, Vers 34 des Korans110 zu entnehmenden Züchtigungsrechts des Ehemannes in der marokkanischen Kultur nicht unüblich sei. Die Fortsetzung der Ehe stelle daher keine unzumutbare Härte im Sinne des § 1565 Abs. 2 BGB dar, die eine Scheidung vor Ablauf des Trennungsjahres aber voraussetze. Dem dürfte indes kaum zuzustimmen sein. Eine unzumutbare Härte im Sinne des § 1565 Abs. 2 BGB ist zwar nur im Ausnahmefall gegeben und muss bereits durch den formellen Fortbestand der gescheiterten Ehe als solchen, nicht hingegen erst durch die hypothetische Fortsetzung der ehelichen Lebensgemeinschaft begründet werden.111 Die publik gewordenen Umstände sprechen allerdings dafür, die hohen Anforderungen als erfüllt anzusehen. Infolge der Beleidigungen und Morddrohungen dürfte nämlich schon das bloße „Weiter-miteinander-verheiratet-sein“ 112 unzumutbar gewesen sein.113 Außerdem versprach sich die Antragstellerin gerade von der vorzeitigen Trennung ein Ende der Bosheiten ihres Ehemannes. Schließlich erwies sich als äußerst problematisch, dass das Gericht auf ein vermeintlich im Koran angelegtes Züchtigungsrecht des Ehemannes verwies. Selbst wenn das marokkanische Recht dieses anerkannt hätte, lag seine Anwendung gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB fern und scheiterte jedenfalls am „ordre public“-Vorbehalt des Art. 6 EGBGB.114 Der Bericht über diese Geschehnisse in einer Tageszeitung vom 20. März 2007115 zog zahlreiche Stellungnahmen von Politikern und religiösen Vertretern 110 Sure 4, Vers 34 des Korans lautet: „Die Männer stehen ein für die Frauen wegen dem, womit Allah die einen von ihnen gegenüber den anderen begünstigt hat, und weil sie von ihren Vermögensgütern ausgeben, und die rechtsschaffenen Frauen sind ergebene, Behütende für das Verborgene, weil Allah es behütet, und denjenigen, deren Erhebung ihr fürchtet, so ermahnt sie und trennt euch von ihnen in den Liegestätten und schlagt sie, und wenn sie euch gehorchen, so strebt nach keinem Weg gegen sie, Allah ist ja immer hoch, groß.“ Ob die vom Verfasser kursiv hervorgehobene Passage tatsächlich zur Gewaltanwendung gegenüber der Ehefrau rät, ist unter den Interpretatoren des Korans umstritten. 111 BGH NJW 1981, 449 (450); Palandt/Brudermüller, § 1565 Rdn. 9; Ey, MünchKomm-BGB, § 1565 Rdn. 101; Erman/Maier, § 1565 Rdn. 12. 112 Palandt/Brudermüller, § 1565 Rdn. 9. 113 Vgl. BGH NJW 1981, 449 (451); OLG Frankfurt am Main NJW 1978, 276 (276). 114 Hierzu allgemein Rohe, Der Islam, S. 111 ff. Ein ähnlicher Streit entzündete sich in Großbritannien, als der Erzbischof von Canterbury Rowan Williams im Februar 2008 auf die hohe Anzahl dort lebender Muslime verwies. Es sei deswegen unvermeidlich, Elemente der Scharia, des islamischen Regelwerks, im britischen Zivilrecht anzuerkennen; allgemein zur Scharia Schirrmacher, Rechtsvorstellungen im Islam, S. 339 (340 ff.). Rückendeckung erhielt der Erzbischof wenige Monate später von dem Obersten Richter von England und Wales Lord Phillips, nach dessen Rede vom 3. 7. 2008 das islamische Recht in der Praxis bei Familien- und Vertragsstreitigkeiten längst herangezogen werde. Zur Berücksichtigung islamischen Rechts in der Schiedsgerichtsbarkeit Adolphsen/Schmalenberg, SchiedsVZ 2007, 57; zum Familienrecht nach der Scharia Schirrmacher, Rechtsvorstellungen im Islam, S. 339 (350 ff.). 115 Frankfurter Rundschau vom 20. 3. 2007, S. 23.
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nach sich. Sie lehnten den Beschluss der Richterin einhellig ab und forderten vielfach dienstrechtliche Konsequenzen. Unter anderem wurde die Entscheidung als „unerträglich“ oder unter Bezug auf Richtersprüche, die einen Ehrenmord als Totschlag bewerteten, als „vorläufig letztes Glied einer Kette erschreckender Urteile deutscher Gerichte“ kritisiert. Tageszeitungen versahen ihre Berichterstattung mit Überschriften wie „Im Namen des Volkes: Prügeln erlaubt“ oder „Ein unerhörter Fall!“.116 Die Stimmen aus der Politik konzentrierten ihre Empörung vornehmlich darauf, dass die Richterin fremde kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigen wollte. So bemerkte der Generalsekretär der CDU Ronald Pofalla: „Wenn der Koran über das deutsche Grundgesetz gestellt wird, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland!“ 117 Der bayerische Staatsminister des Innern Günther Beckstein nahm den Richterspruch zum Anlass, eine stärkere Beschäftigung mit dem muslimischen Frauenbild zu fordern: „Wir müssen die Frage des Kampfs gegen die Unterdrückung der Frau im Islam offensiver angehen“.118 Derartige Äußerungen verdeutlichen das Problem im Umgang mit Wertvorstellungen aus fremden Kulturkreisen. Zwar fordert der zunehmende Kontakt mit anderen Anschauungen nicht, zentrale Elemente der eigenen Kultur aufzugeben, aus hiesiger Sicht beispielsweise die im Zuge der Aufklärung errungenen Menschenrechte und das gewonnene Bewusstsein für das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Demnach war in dem geschilderten Sachverhalt die Berücksichtigung eines (vermeintlichen) Züchtigungsrechts des Ehemannes gegenüber seiner Gattin strikt abzulehnen. Dies bedeutet indes nicht, den Frankfurter Fall auf sämtliche Konstellationen mit interkulturellen Berührungspunkten zu verallgemeinern und fremde Anschauungen von vornherein als rechtlich bedeutungslos anzusehen. Vielmehr bedarf es gerade einer sorgfältigen Untersuchung, inwieweit die Rechtsordnung offen für andere Wertvorstellungen bleibt. Sich mit der – von den Angehörigen sämtlicher Kulturkreise geteilten119 – Überzeugung zu begnügen, die eigenen Werte seien uneingeschränkt die vorzugswürdigen, hieße außerdem, sich dem interkulturellen Dialog gänzlich zu verweigern und nicht einmal die Bereitschaft zu zeigen, von fremden Kulturen zu lernen. Ein fehlendes Interesse an den Wertvorstellungen anderer Kulturkreise bedingt und fördert nicht zuletzt Vorurteile und Missverständnisse, die sich insbesondere in denjenigen Stellungnahmen widerzuspiegeln scheinen, in denen generell von „dem Koran“ oder „dem Islam“ die Rede ist. Derart pauschale Aussagen vermitteln den Eindruck, dass zum einen in sämtlichen muslimischen Ehen der Mann gewalttätig seine Frau unterwerfe und er sich zum anderen dazu noch guten Ge116 117 118 119
Sämtliche Zitate nach Der Spiegel vom 26. 3. 2007, S. 22. Süddeutsche Zeitung vom 22. 3. 2007, S. 4. Die Welt vom 23. 3. 2007, S. 3. Vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 155, 294 und passim.
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wissens auf den Koran berufen dürfe. Ein nicht minderer Skandal im Zusammenhang mit der Frankfurter Entscheidung liegt also in den Stimmen, die überhaupt nicht hinterfragt haben, ob denn die Ansicht der Familienrichterin über den Koran zutreffend sei. Viele Kommentare schienen stillschweigend gleichfalls der Auffassung zu sein, der Koran rufe eindeutig zu Gewalttätigkeiten gegenüber der Ehefrau auf und das Züchtigungsrecht des Mannes gehöre im islamischen Kulturkreis zu den unumstrittenen Gepflogenheiten. Stimmen, die sich um ein differenziertes Bild bemühten, waren kaum zu vernehmen. So musste die Pressereferentin des Zentralrates der Muslime Nurhan Soykan darauf hinweisen, dass auch im Islam Gewalt und Misshandlung in der Ehe eine Scheidung rechtfertigten.120 3. Kultur und Strafrecht a) Unterschiedliche Wertvorstellungen und Strafvorschriften Schließlich lässt sich gerade anhand der Strafvorschriften verschiedener nationaler Rechtsordnungen eine Vielfalt kultureller Anschauungen feststellen. In den Medien wird etwa häufig über weitreichende Einschränkungen der Meinungsund Pressefreiheit in anderen Staaten berichtet. Beispielsweise wurde in Ägypten ein Blogger für Äußerungen in seinem Internet-Tagebuch wegen Verächtlichmachung des Islam und Beleidigung des Präsidenten zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt,121 in China der Betreiber einer regierungskritischen Webseite wegen Aufwiegelung zu sechs Jahren Freiheitsstrafe.122 In Thailand erhielt ein Schweizer zunächst zehn Jahre Haft wegen Majestätsbeleidigung, nachdem er in angetrunkenem Zustand mehrere öffentliche Porträts des Königs mit Farbe beschmierte,123 bevor dieser ihn einige Tage später begnadigte.124 Unterschiede zwischen den Kulturen sind ebenso in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung zu verzeichnen. Empörung rufen vor allem Meldungen aus anderen Staaten über den Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten hervor. Exemplarisch sei auf den Fall der Iranerin Nazanin Fatehi verwiesen. Sie wurde im Alter von 17 Jahren von drei Männern verfolgt, die sie vergewaltigen wollten, und tötete in ihrer Verteidigung einen der Angreifer. Hierfür verurteilte sie ein Gericht in Teheran zum Tode durch den Strang. Erst nach internationalen Protesten wurde eine neue Hauptverhandlung durchgeführt und Anfang 2007 auf Notwehr erkannt.125 Fragwürdige Entscheidungen stammen aber auch aus nichtarabischen Staaten wie beispielsweise dem nahen Italien. Das Kassationsgericht in 120 121 122 123 124 125
Die Welt vom 23. 3. 2007, S. 3. Frankfurter Rundschau vom 28. 2. 2007, S. 38. Süddeutsche Zeitung vom 20. 3. 2007, S. 8. Süddeutsche Zeitung vom 30. 3. 2007, S. 10. Süddeutsche Zeitung vom 13. 4. 2007, S. 10. Berliner Kurier vom 21. 1. 2007, S. 63.
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Rom sah im Februar 2006 bei der Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens einen strafmildernden Umstand darin, dass das Opfer keine Jungfrau mehr war.126 Dasselbe Gericht hatte bereits im Jahre 1999 geurteilt, eine Frau in engen Jeans könne nicht vergewaltigt werden, weil sie beim Ausziehen ihrer Hose geholfen und damit dem Geschlechtsverkehr zugestimmt haben müsse.127 Erhebliche kulturelle Differenzen bestehen des Weiteren über das tolerierte Maß an Freizügigkeit in der Öffentlichkeit. Der nordmalayische Bundesstaat Kelantan untersagte Mitte 2008 Frauen unter Androhung eines Bußgeldes, dickes Make-up, grelle Lippenstifte und klappernde Stöckelschuhe zu tragen; zulässig seien nur noch hochhackige Schuhe mit Gummisohlen.128 Für Verwunderung hierzulande sorgte gleichfalls die Anklage des Chefredakteurs der indonesischen – im Vergleich zu westlichen Auflagen zurückhaltenden – Ausgabe des Männermagazins „Playboy“ wegen Verletzung der Moralnormen. Die Staatsanwaltschaft plädierte für eine Haftstrafe von zwei Jahren, radikale Islamisten forderten sogar die Todesstrafe.129 Im April 2007 erging in Indien ein Haftbefehl gegen den USamerikanischen Schauspieler Richard Gere wegen öffentlicher Obszönität, nachdem er bei einer Pressekonferenz in Nachahmung einer Filmszene seine indische Co-Darstellerin Shilpa Shetty auf die Wange küsste.130 In Italien schließlich führte im Juli 2007 der Kuss eines homosexuellen Paares vor dem Kolosseum in Rom zu einer Anzeige wegen obszöner Akte in der Öffentlichkeit.131 Aus Deutschland selbst sind insoweit bislang nur wenige, jedoch umso bedeutendere Beispiele bekannt, die sich juristisch mit kulturellen Unterschieden und Konflikten befassen. Für die Gesetzgebung darf insbesondere auf die Diskussionen um die Mohammed-Karikaturen und die Zeichentrickserie „Popetown“ verwiesen werden, in denen vermehrt der Ruf nach dem Strafgesetzgeber, vor allem nach einer Verschärfung des § 166 StGB zu vernehmen war.132 Eine weitere Debatte betrifft den Erlass eines Verbotes der Zwangsheirat. Zwar hat das 37. Strafrechtsänderungsgesetz vom 11. Februar 2005133 die Nötigung zur Eingehung der Ehe als einen besonders schweren Fall im Sinne des § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Var. 2 StGB eingestuft. Darüber hinaus sehen neue Gesetzesinitiativen vor, einen eigenen Straftatbestand der Zwangsheirat in das Strafgesetzbuch als § 234b StGB134 oder § 237 StGB135 aufzunehmen. In den letzten Jahren wird schließ126
Süddeutsche Zeitung vom 20. 2. 2006, S. 10. Süddeutsche Zeitung vom 12. 2. 1999, S. 12. 128 Süddeutsche Zeitung vom 25. 6. 2008, S. 9. 129 Frankfurter Rundschau vom 14. 3. 2007, S. 6. 130 Süddeutsche Zeitung vom 27. 4. 2007, S. 12. 131 Stuttgarter Zeitung vom 30. 7. 2007, S. 14. 132 Siehe dazu Teil 5 Kap. 8 I. und Kap. 9 I. 133 BGBl. I, S. 239. 134 So der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat (Zwangsheirat-Bekämpfungsgesetz) des Bun127
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lich zunehmend eine ausdrückliche Sanktionierung der Genitalverstümmelung gefordert, sei es als einzufügende Nummer bei der schweren Körperverletzung gemäß § 226 StGB136 oder als eigenständiger Straftatbestand.137 In der Rechtsprechung sind vornehmlich die sogenannten Ehrenmorde anzuführen, bei denen der Täter in der Regel eine eigene Angehörige tötet, um die Familienehre wiederherzustellen. Große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr das Schicksal von Hatun Sürücü, die am 7. Februar 2005 in Berlin wegen ihres zu westlichen Lebensstils von ihrem jüngsten Bruder erschossen wurde. Problematisch ist bei solchen Taten, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die kulturellen Anschauungen des Täters auf die Bewertung seines Motivs als niedrigen Beweggrund im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB auszuwirken vermögen.138 Eine weitere Konstellation, in der die Berücksichtigung unterschiedlicher kultureller Anschauungen und darauf basierender Strafvorschriften in Betracht zu ziehen bleibt, sind sozialschädliche, insbesondere volksverhetzende Inhalte in den Medien. Hier ist fraglich, ob solche Äußerungen der deutschen Strafgewalt unterliegen, wenn sie vom Ausland aus veröffentlicht werden und dort nicht unter Strafe stehen. Der Bundesgerichtshof hat dies mit seinem Toeben-Urteil vom 12. Dezember 2000139 in einem Fall bejaht, in dem ein australischer Staatsangehöriger auf einer frei im Internet zugänglichen, auf einem Server in Australien gespeicherten Webseite in englischer Sprache den Holocaust unter der Herrschaft des Nationalsozialismus leugnete. Im Schrifttum überwiegen indessen die Bedenken gegen einen derart weiten Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts.140 desrates vom 24. 3. 2010, BT-Drucks. 17/1213, in den vorherigen Legislaturperioden bereits eingebracht am 23. 3. 2006, BT-Drucks. 16/1035, und am 11. 8. 2005, BT-Drucks. 15/5951. Der Entwurf beruht auf einem Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg vom 6. 10. 2004, BR-Drucks. 767/04. Vgl. auch den – im Bundesrat gescheiterten – Gesetzesantrag des Landes Berlin in BR-Drucks. 436/05 vom 3. 6. 2005; hierzu Schubert/Moebius, ZRP 2006, 33; zur Diskussion ferner Yerlikaya, Zwangsheirat – ein eigener Straftatbestand?, S. 451. 135 Siehe den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 13. 1. 2011, BT-Drucks. 17/4401. 136 So etwa der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf in BT-Drucks. 16/12910 vom 6. 5. 2009 sowie der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in BT-Drucks. 17/4759 vom 9. 2. 2011, die jeweils die Genitalverstümmelung in den Katalog der Auslandstaten des § 5 StGB aufnehmen wollten; kritisch gegenüber der Eingliederung in § 226 StGB Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (407). 137 Ein Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg und Hessen sieht die Einführung eines § 226a StGB (Genitalverstümmelung) vor, BR-Drucks. 867/09 vom 8. 12. 2009, eingebracht in den Bundestag am 12. 2. 2010, ebenfalls unter Erweiterung des Katalogs in § 5 StGB auf die neue Vorschrift; siehe hierzu Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406; Hahn, ZRP 2010, 37 (39 f.) mit Erwiderung Wüstenberg, ZRP 2010, 131. 138 Zur rechtlichen Behandlung der Ehrenmorde Teil 2 Kap. 2 II. 139 BGHSt 46, 212. 140 Ausführlich zur Problematik Teil 3 Kap. 6 II. und III.
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b) Internationale und intranationale kulturelle Konflikte Die soeben geschilderten Geschehnisse sind lediglich Beispiele für kulturbedingte Konflikte, die sowohl in ihrer Zahl als auch in ihrer Intensität zunehmen. Diese Entwicklung lässt sich zum einen auf die Fortschritte in der Informationsund Kommunikationstechnologie zurückführen, welche die Kontaktaufnahme zu Angehörigen anderer Kulturkreise erleichtern. Zum anderen ermöglicht die gestiegene Mobilität des Menschen regelmäßige Aufenthalte in anderen Kulturkreisen, nicht zuletzt im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung, in dem sich grenz- und kulturüberschreitende Berührungspunkte erheblich mehren. Dadurch häufen sich Konstellationen, in denen ein Verhalten aus der Sicht des Handelnden und aufgrund seiner kulturellen Anschauungen unbedenklich bzw. zumindest nicht strafwürdig erscheint, gleichwohl die durch andere Wertvorstellungen geprägte Rechtsordnung eines anderen Staates verletzt und dort einen Straftatbestand verwirklicht. Kulturbedingte Konflikte stellen nicht nur eine Herausforderung für die Gesellschaft und die Integrationspolitik eines Staates dar, sondern müssen ebenso von den nationalen Strafrechtsordnungen hinreichend berücksichtigt werden. Um sich hiermit sinnvoll auseinanderzusetzen, empfiehlt sich zunächst eine grundlegende Unterscheidung der denkbaren Sachverhalte. Kulturelle Differenzen ergeben sich zum einen, wenn sich jemand in einen für ihn fremden Kulturkreis begibt. So kann aufgrund der unterschiedlichen Wertvorstellungen ein bestimmtes Verhalten zwar nicht in dem Heimatstaat des Täters, aber in seinem derzeitigen Aufenthaltsstaat strafbar sein. Da sich hier der gesamte Sachverhalt innerhalb ein und desselben Staates abspielt, darf insoweit von einem intranationalen kulturellen Konflikt gesprochen werden. Solche Konflikte entstehen etwa durch Kontakte in der Schule oder am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, das Engagement in Vereinen, gemeinsame Freizeitaktivitäten oder auch bei dem Besuch eines ausländischen Restaurants. In Deutschland wird eine Zunahme solcher Auseinandersetzungen unausweichlich sein. Schließlich lässt der seit Jahren relativ konstante Anteil ausländischer Mitbürger (7,2 Millionen) an der Bevölkerung (82,0 Millionen) in Höhe von 8,8%141 Berührungspunkte mit fremden Kulturen zur Alltagserscheinung werden. Ungefähr 15,6 Millionen Menschen weisen einen Migrationshintergrund im engeren Sinne auf,142 sind also nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik zugezogen oder in Deutschland als Ausländer geboren.143 Exemplarisch sind für intranationale kulturelle Konflikte in Deutschland die schon genannten Ehrenmorde anzuführen. Das Leben verkörpert zwar auch in patriarchalisch geprägten Gesellschaften, in denen das Phänomen der Ehren141 142 143
Stand: 31. 12. 2008, Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2010, S. 29. Stand: 2008, Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2010, S. 48. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2010, S. 31.
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morde verbreitet ist, ein schützenswertes Rechtsgut. Allerdings kommt der Familienehre ein derart hoher Stellenwert zu, dass zum Ausgleich einer (vermeintlichen) Ehrminderung die Tötung eines eigenen Verwandten als probates oder sogar notwendiges Mittel erachtet wird. In Deutschland lässt sich ein derartiges Verständnis von Ehre dagegen nicht mit der Freiheit des selbstbestimmten Individuums vereinbaren und stellt vielmehr eine Missachtung seiner Person dar. Die Motivation des Täters, seine Achtung und Anerkennung in seinem gesellschaftlichen Umfeld auf Kosten des Lebens des Opfers wiederzuerlangen, vermag demnach den Unrechtsgehalt seiner Tat kaum zu mindern, sondern legt im Gegenteil die Annahme eines niedrigen Beweggrundes nahe. Zum anderen entstehen kulturelle Konflikte dadurch, dass Handlungen ein grenzüberschreitendes Element beinhalten und sich auf das Territorium anderer Staaten auswirken. Weichen hier die Wertvorstellungen des betroffenen Staates von denen des Aufenthaltsstaates des Täters ab – unabhängig davon, ob die Anschauungen des Täters und seines Aufenthaltsstaates übereinstimmen –, kann die strafrechtliche Beurteilung wiederum verschieden ausfallen. Da hier die Rechtsordnungen mehrerer Staaten tangiert sind, werden derartige Konstellationen im Folgenden als internationale kulturelle Konflikte bezeichnet.144 Ein Paradebeispiel hierfür bilden Inhalte auf einer frei zugänglichen und daher grundsätzlich weltweit abrufbaren Webseite im Internet. Solche Veröffentlichungen mögen nach dem Wertegefüge des Aufenthaltsstaates ihres Urhebers unbedenklich erscheinen, in einem anderen Staat hingegen strafrechtlich relevant sein. Selbst wenn eine kulturübergreifende Einigkeit über die Bewertung bestimmter Inhalte (z. B. bei rassistischen Äußerungen) herrscht, werden gleichwohl unterschiedliche Wege zu ihrer Bekämpfung beschritten. So vertrauen Australien und die Vereinigten Staaten von Amerika auf die Selbstregulierung des Marktes der freien Meinungen, während unter anderem in Deutschland auf das Strafrecht zurückgegriffen wird. Insoweit bleibt exemplarisch auf die schon erwähnte Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu verweisen. c) Berücksichtigung kultureller Konflikte im deutschen Strafrecht Im Strafrecht wurden die Schnittstellen von Kultur und Recht bislang kaum untersucht.145 Umfassende Abhandlungen sind jedenfalls zum materiellen Strafrecht, soweit ersichtlich, noch nicht erschienen,146 wenngleich die Strafrechtsleh144 Zur Begriffsbestimmung bereits Valerius, Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht, S. 217 (220 ff.). 145 So die noch immer gültige Einschätzung von Hassemer aus dem Jahr 1998, wonach die starke kulturelle Verhaftung und kaum vorhandene interkulturelle Beweglichkeit einer wissenschaftlichen Durchdringung harrt, Hassemer, in: Festschrift E. A. Wolff, S. 101 (103). 146 Siehe aber Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, Berlin 2008.
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rertagung 2005 in Frankfurt (Oder) unter dem Thema „Transnationale Grundlagen des Strafrechts“ 147 stand und sich dabei zumindest zum Teil den kulturellen Hintergründen der Strafrechtsordnungen widmete.148 Ausführliche Beiträge über die „Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts“ wurden auf der gleichnamigen Jahrestagung 2006 der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Würzburg vorgestellt.149 In Abgrenzung zu diesen Problemen richtet die vorliegende Arbeit ihren Blick weniger auf die kulturellen Einflüsse auf die Rechtsordnung, sondern auf deren Möglichkeit, kulturelle Berührungspunkte bei der Beurteilung konkreter Taten zu berücksichtigen. Kulturelle Wertvorstellungen können bereits auf der Tatbestandsebene von Strafvorschriften aus dem Besonderen Teil zu beachten sein. Beispielsweise bedarf es einer Erörterung, ob und gegebenenfalls inwieweit die Anschauungen des Beteiligten an einem Ehrenmord bei der Bewertung seiner Beweggründe als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB von Bedeutung sind (siehe dazu Kapitel 2). Kulturelle Unterschiede können sich aber nicht nur auf die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale auswirken, sondern auch in Bezug auf das einer Norm zugrunde liegende Rechtsgut bestehen. Je nach kultureller Prägung des Täters scheint ein Straftatbestand gegebenenfalls einen geringeren oder weiteren Schutzbereich aufzuweisen als dies die jeweilige Rechtsordnung an sich vorsieht. Beispielsweise entbehrt die Ehre als Schutzgut der Beleidigungsdelikte der §§ 185 ff. StGB einer festen kulturübergreifenden Kontur. Wessen Ehre (etwa die eines Kollektivs wie der Familie) in welchem Umfang vor Beleidigungen zu schützen ist, wird vielmehr je nach gesellschaftlicher Anschauung äußerst verschieden betrachtet (siehe dazu Kapitel 3). Die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bleiben indes nicht nur im Rahmen des Tatbestandes, sondern gleichfalls auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen. Abweichende Anschauungen über die Schutzwürdigkeit eines Rechtsguts oder eines Interesses führen unter Umständen dazu, das Vorliegen einer Notwehr- oder Notstandssituation bzw. die Erforderlichkeit oder Gebotenheit einer Verteidigungshandlung unterschiedlich zu beurteilen. Des Weiteren kann je nach kultureller Prägung Uneinigkeit über die Wirksamkeit einer erteilten Einwilligung bestehen, z. B. der Eltern in die Beschneidung ihrer Kinder. Besonderes Augenmerk verlangt schließlich die Behandlung der Glaubensfreiheit aus 147
Die Vorträge der Tagung sind in ZStW 117 (2005), 697 ff. veröffentlicht. Vgl. vor allem den Beitrag von Hörnle über die kulturellen Hintergründe der unterschiedlichen Ausgestaltung europäischer Strafverfahrensordnungen, ZStW 117 (2005), 801. Zur Beachtung kultureller, insbesondere religiöser Wertvorstellungen im Rahmen der freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StGB Hilgendorf, in: Festgabe Paulus, S. 87 (98 ff.); ders., JZ 2009, 139 (143 f.). 149 Die einzelnen Vorträge wurden publiziert in ARSP, Beiheft Nr. 113, Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, Stuttgart 2008. 148
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Art. 4 Abs. 1 GG als eigenständiger Rechtfertigungsgrund. Die Religion verkörpert nach wie vor für die meisten Menschen einen ebenso wesentlichen wie verbindlichen Lebensinhalt und stellt daher in den meisten Kulturen einen zentralen und identitätsstiftenden Bestandteil dar (siehe dazu Kapitel 4). Die Rechtswidrigkeit bildet allerdings nicht denjenigen Bereich des Allgemeinen Teils, in dem kulturelle und internationale Elemente vornehmlich zu beachten sind. Unterscheiden sich etwa die Wertvorstellungen des Täters weitgehend von den hiesigen Anschauungen, kann ihm zum Zeitpunkt der Tat völlig verborgen bleiben, Unrecht zu begehen. Gemäß § 17 StGB entscheidet sodann die Vermeidbarkeit seines Verbotsirrtums über die Bestrafung des Täters. Es bleibt zu untersuchen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen seine kulturelle Prägung dazu führt, dass ihm die Tat nicht persönlich zum Vorwurf gemacht werden darf, er mithin ohne Schuld handelt (siehe dazu Kapitel 5). All diese Erwägungen und strafrechtlichen Einfallstore für kulturelle Differenzen kommen jedoch erst in Betracht, wenn der Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts überhaupt eröffnet ist. Bei intranationalen kulturellen Konflikten wird daran in aller Regel kein Zweifel bestehen, da sie sich auf dem Gebiet eines einzigen Staates abspielen. Ereignen sie sich im Inland der Bundesrepublik, gelangt nach dem in § 3 StGB niedergelegten Territorialitätsprinzip deutsches Strafrecht zur Anwendung. Anders gestaltet sich die Situation bei internationalen kulturellen Konflikten, vor allem wenn lediglich die Folgen des fraglichen Verhaltens einen Berührungspunkt mit der hiesigen Rechtsordnung begründen. Hier wird verstärkt auf das Strafanwendungsrecht der §§ 3 ff. StGB einzugehen sein. Dabei bedarf der Diskussion, ob und gegebenenfalls wie es den mit der Zunahme internationaler kultureller Konflikte verbundenen Herausforderungen noch gerecht wird (siehe dazu Kapitel 6). Kulturelle Anschauungen vermögen sich indes nicht nur auf die Verwirklichung von Unrecht schlechthin, sondern auch auf dessen Maß auszuwirken. Der Täter kann beispielsweise das von ihm begangene Unrecht als weniger schwerwiegend empfinden, wenn er dem beeinträchtigten Rechtsgut aufgrund seiner kulturellen Prägung einen geringeren Schutzwert als die verletzte Rechtsordnung einräumt. Solche unterschiedlichen Beurteilungen sind unter Umständen bei der Strafzumessung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB zu berücksichtigen (siehe dazu Kapitel 7). Jenseits ihres Einflusses auf die strafrechtliche Beurteilung einer konkreten Tat bleibt erörterungswürdig, ob kulturelle Wertvorstellungen selbst ein taugliches Schutzgut einer Strafnorm darstellen. Den Schluss der Arbeit bildet daher zunächst eine Kurzuntersuchung des deutschen Strafrechts auf Tatbestände, die dem Schutz kulturgeprägter Anschauungen dienen. Einer detaillierten Betrachtung wird stellvertretend die Vorschrift des § 166 StGB unterzogen, welche die Beschimpfung religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse und somit eines
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Teil 1: Grundlagen
prägnanten Teilausschnitts kultureller Anschauungen sanktioniert (siehe dazu Kapitel 8). Gerade am Beispiel des § 166 StGB soll indes aufgezeigt werden, dass der Schutz kultureller, vornehmlich religiöser Überzeugungen Schwierigkeiten bereitet. Schließlich eignen sich die Gefühle des Einzelnen, die durch eine Herabwürdigung seiner Anschauungen verletzt werden sollten, kaum als Rechtsgut einer Strafnorm. Es muss deswegen erst ein anderes Interesse gefunden werden, dessen strafrechtlicher Schutz mittelbar auch kulturelle bzw. religiöse Vorstellungen vor zumeist verbalen Angriffen sichert. Selbst wenn sich ein solches Schutzgut finden ließe, wäre in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch fraglich, ob kritische Äußerungen gegenüber kulturellen Anschauungen strafrechtlich verfolgt werden sollen oder die Grenzen des interkulturellen Dialogs nicht vielmehr durch die Gesellschaft selbst zu ziehen sind (siehe dazu Kapitel 9).
Teil 2
Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB Kapitel 2
Kulturoffene Tatbestandsmerkmale I. Grundlagen Sämtliche Straftatbestände einer Rechtsordnung beruhen auf den kulturellen Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in seinem sogenannten Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 festgehalten, dass die „Strafrechtspflege [. . .], sowohl was die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch was die Vorstellungen von einem fairen, angemessenen Strafverfahren anlangt, von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen und von den im deliberativen Prozess sich bildenden Alternativen abhängig [ist], die die jeweilige öffentliche Meinung bewegen“.1 Einen kulturellen Hintergrund als Strafvorschrift zu offenbaren bedeutet indes nicht, auch im konkreten Einzelfall den jeweiligen kulturellen Hintergrund der Tat zu berücksichtigen. Vielmehr sind die meisten Straftatbestände deskriptiv formuliert und bieten daher keinen Raum für wertende Elemente wie moralische Anschauungen und gesellschaftliche Sitten. Wann etwa ein Täter einen anderen Menschen im Sinne des § 212 StGB getötet hat, richtet sich ausschließlich nach wissenschaftlich-medizinischen Kriterien. Ebenso lässt sich unter Rekurs auf das Zivilrecht eindeutig bestimmen, wann eine Sache „fremd“ im Sinne des § 242 StGB oder des § 303 StGB ist. Wenngleich das Merkmal „fremd“ als normatives betrachtet wird, beruhen die damit verbundenen Wertungen doch auf rechtlichen Grundsätzen, die in ihrem Ursprung noch kulturbedingt sein mögen, aber nicht mehr in ihrer Anwendung auf den jeweiligen Einzelfall. Einige Normen weisen allerdings Tatbestandsmerkmale auf, die sich an gesellschaftlichen Moralanschauungen orientieren und in ihrer Interpretation somit kulturellen Wertvorstellungen nicht von vornherein verschlossen zu sein schei1 BVerfGE 123, 267 (359 f.); eingehend zu diesem Aspekt des Lissabon-Urteils Kubiciel, GA 2010, 99. Zur Abhängigkeit des Strafrechts von kulturellen Faktoren schon Hassemer, Vielfalt und Wandel, S. 157 (157 f.); Weigend, ZStW 105 (1993), 774 (786 ff.); ferner Vogel, GA 2010, 1 (2 ff.).
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
nen. Exemplarisch darf auf das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB verwiesen werden. Zwar existiert eine weitgehend anerkannte Definition, wonach ein Beweggrund dann als niedrig angesehen wird, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, durch hemmungslose Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich ist.2 Ob ein Tötungsmotiv im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung3 als verwerflich erachtet wird, hängt jedoch vom Werteverständnis des Betrachters ab, das seinerseits maßgeblich durch seine kulturelle Prägung beeinflusst wird. Wissen sich die Wertvorstellungen des Täters eines Tötungsdelikts auf die Beurteilung seiner Motivation auszuwirken, könnte es sich demnach bei den niedrigen Beweggründen um ein „kulturoffenes Tatbestandsmerkmal“ handeln (dazu sogleich II.). Ein weiteres Beispiel für eine mögliche kulturoffene Interpretation von Strafvorschriften bildet der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB. Hier bleibt denkbar, die Anschauungen des Täters wie etwa seine religiösen oder ethischen Überzeugungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob ihm die objektiv erforderliche und physisch mögliche Hilfeleistung zuzumuten war (dazu III.).
II. Mordmerkmal „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ 1. Das Phänomen der Ehrenmorde Die kulturelle Offenheit des Mordmerkmals „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ lässt sich an den sogenannten Ehrenmorden verdeutlichen. Sie gerieten vor allem durch den Tod von Hatun Sürücü in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die 23-jährige Deutsche türkisch-kurdischer Herkunft wurde am Abend des 7. Februars 2005 in der Nähe ihrer Wohnung an einer Bushaltestelle in BerlinTempelhof aus nächster Nähe mit drei Kopfschüssen niedergestreckt und verstarb noch am Tatort. Anlass der Tat war der westliche Lebensstil des Opfers. Sürücü wurde unter anderem vorgehalten, kein muslimisches Kopftuch mehr zu tragen und ihren fünfjährigen Sohn nicht nach islamischen Regeln zu erziehen. Der 2 BGHSt 3, 132 (133); 42, 226 (228); BGH NStZ 2002, 369 (370); NStZ-RR 2004, 332 (333); NStZ 2006, 284 (285); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 29; Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rdn. 18; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 24; Lackner/Kühl, § 211 Rdn. 5; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 69; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 16; Wessels/Hettinger, Rdn. 95; kritisch dagegen Neumann, NK, § 211 Rdn. 26 f. m.w. N. 3 BGHSt 35, 116 (127); 47, 128 (130); BGH NJW 1980, 537 (537); NJW 1981, 1382 (1382); NStZ 2002, 369 (370); NStZ-RR 2004, 332 (333); NStZ 2005, 35 (36); NJW 2006, 1008 (1011); NStZ 2006, 284 (285); NStZ-RR 2006, 340 (341); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 30; Lackner/Kühl, § 211 Rdn. 5; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 69; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 16; Wessels/Hettinger, Rdn. 95.
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Sohn ging aus einer Zwangsehe mit einem Cousin in Istanbul hervor, von dem sich Sürücü vor der Geburt des Kindes getrennt hatte. Zur Tat bekannte sich der jüngere, damals 18 Jahre alte Bruder des Opfers, wobei die Hintergründe der Tat nicht als völlig geklärt gelten. Zwei weitere Brüder, die zum Tatzeitpunkt 24 und 25 Jahre alt waren, wurden zwar mitangeklagt, weil sie den Mord überwacht bzw. die Tatwaffe besorgt haben sollen. Sie wurden aber von dem Landgericht Berlin am 13. April 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen.4 Allerdings hob der Bundesgerichtshof am 28. August 2007 insoweit das erstinstanzliche Urteil auf Revision der Staatsanwaltschaft hin wegen rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung auf und verwies an das Landgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurück.5 Das Schicksal Hatun Sürücüs ist ein trauriges Paradebeispiel für das Phänomen der Ehrenmorde. Allerdings existiert insoweit keine allgemein anerkannte Definition. Eine verbreitete Begriffsbestimmung stammt aus einer im Mai 2006 veröffentlichten Studie des Bundeskriminalamts über „Ehrenmorde in Deutschland“. Danach sind Ehrenmorde sämtliche Tötungsdelikte, „die aus vermeintlich kultureller Verpflichtung heraus innerhalb des eigenen Familienverbandes verübt werden, um der Familienehre gerecht zu werden“.6 Die vom Bundeskriminalamt vorgeschlagene Definition schließt zum einen Tötungen aus dem Spektrum der Ehrenmorde aus, die nicht der Ehre der Familie dienen, sondern dem Täter persönlich ein Gefühl der Genugtuung vermitteln oder seine Rachegelüste befriedigen. Dies gilt etwa für Eifersuchtstaten des erfolglosen Freiers oder des verlassenen bzw. betrogenen Ehemannes. Ebenso wenig sind zum anderen Anschläge als Ehrenmorde einzuordnen, die jemanden außerhalb des eigenen Familienverbandes zum Ziel haben. Vor allem Tötungen aus Blutrache stellen demnach keine Ehrenmorde im Sinne der vorstehenden Definition des Bundeskriminalamts dar. Sie richten sich nämlich gegen ein Mitglied einer anderen Familie, die für eine zuvor erfahrene Ehrverletzung – nicht selten der Tod eines eigenen Familienangehörigen – als verantwortlich angesehen wird.7 Schwierig gestaltet sich die Abgrenzung, wenn mehrere Motive des Täters zusammentreffen, z. B. seine Eifersucht und eine vorangegangene Verletzung der Familienehre. Als problematisch erweist sich zudem das Merkmal der Familienzugehörigkeit des Opfers. So kann ein und derselbe Anlass, etwa eine unerwünschte Liebesbeziehung mit folglich zwei Verantwortlichen für die vermeintliche Ehrminderung, den Täter sowohl zu einem Ehrenmord (gegen das Mitglied der eigenen Familie) als auch zu einer Blutrache (gegen den aus einer anderen 4 5 6 7
Az. (518) 1 Kap Js 285/05 KLs (39/05) (unveröffentlicht). BGH, Az. 5 StR 31/07, Streit 2008, 12. Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 3. Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 6.
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
Familie stammenden Liebhaber) bewegen. Derartige Grenzfälle hat das Bundeskriminalamt in seiner Studie demgemäß selbst dann als Ehrenmord erfasst, wenn sie zum Nachteil des Angehörigen der anderen Familie verübt wurden.8 Die Betonung des eigenen Familienverbandes entspricht einer wesentlichen Differenzierung, die nicht zuletzt diejenigen Kulturen vornehmen, in denen das Phänomen der Ehrenmorde verbreitet ist. Besonders betroffen sind hiervon unter anderem Pakistan, Jordanien, Israel, Libanon, Afghanistan, Irak und die Türkei, ferner Brasilien, Ecuador, Indien und Italien.9 Der hohe islamische Bevölkerungsanteil in den meisten der genannten Staaten darf jedoch nicht zu der These verleiten, dass Ehrenmorde von dem religiösen Bekenntnis der Täter abhängig seien und ausschließlich von muslimischen Gläubigen verübt würden. Solche Taten waren im östlichen Mittelmeerraum bereits in vorislamischen Zeiten bekannt und werden noch heute ebenso von Juden und Christen begangen, zum Beispiel im Libanon und in Syrien sowie im südeuropäischen Raum.10 Trotz des häufig zentralen Einflusses der Religion auf Sitten und Gepflogenheiten haben die Ehrenmorde vielmehr einen soziokulturellen Ursprung, da sie eine traditionelle patriarchalische Gesellschaft voraussetzen.11 Dem Koran lässt sich eine Legitimation zu Ehrenmorden hingegen nicht entnehmen,12 wenngleich seine zum Teil unterschiedlich auslegbaren Verse13 solche Herrschaftsstrukturen zu fördern vermögen.14 In einem patriarchalisch geprägten Umfeld werden – vornehmlich in ländlichen Regionen – dem Ansehen und dem Ruf der Familie in der Regel eine große Bedeutung eingeräumt. Infolge der Ausrichtung des Familienverbandes auf die männlichen Personen, vor allem den Patriarchen als das Familienoberhaupt, werden außerdem Leben und Ehre eines Mannes höher bewertet als das Leben einer Frau.15 Daher zählen zu den Opfern eines Ehrenmordes (innerhalb der eige8
Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 6 und 9. Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 7. 10 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 4. 11 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 4; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 174; Rehm, Zwangsheirat und „Ehrenmord“, S. 45; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 4 und 7. 12 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 228; Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 52 ff.; Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (709 f.). 13 Siehe vor allem Sure 4, Vers 34 (Teil 1 Fn. 110), die nach verbreiteter Interpretation dem Mann eine höhere Position gegenüber der Frau einräumt und ihn zur häuslichen Gewalt autorisiert. 14 Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 65 ff.; Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 59; Izol, „Ehrenmorde“ in der Türkei, S. 7 (14); Sahin, „Ehrenmorde“ in Irakisch-Kurdistan, S. 33 (42). Zur Blutrache im Koran Baumeister, Ehrenmorde, S. 63 ff. 15 Zu den Strukturen patriarchalischer Gesellschaften Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 152 ff.; Kizilhan, „Ehrenmorde“, S. 29 ff. 9
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nen Familie) in erster Linie weibliche Verwandte,16 während sich die Blutrache zumeist gegen männliche Mitglieder der verfeindeten Familie richtet.17 Die unterschiedlichen Ehrvorstellungen führen mitunter sogar dazu, dass in den geschilderten Grenzfällen, in denen ein männlicher Angehöriger einer anderen Familie für den Ehrverlust eines weiblichen Mitglieds der eigenen Familie verantwortlich ist, die eigene Verwandte geopfert wird. Die Ermordung des männlichen Beteiligten drohte nämlich wiederum durch dessen Familie im Wege der Blutrache geahndet zu werden und somit eine nicht endende Reihe weiterer Tötungen hervorzurufen.18 Die Motive für einen Ehrenmord sind vielfältig, lassen sich aber im Wesentlichen auf einen gemeinsamen Nenner bringen: das mit den traditionellen Anschauungen der Familie oder der jeweiligen Gemeinschaft nicht übereinstimmende Verhalten des Opfers. Ein solches Verhalten mindert nach den kulturellen Vorstellungen des betreffenden Umfeldes zunächst die Ehre des weiblichen Familienmitglieds. Sie wird vor allem in ihrer Keuschheit und Züchtigkeit erblickt, wodurch sich auch im Wesentlichen ihre Achtung in der Öffentlichkeit definiert. Diese Form der Ehre (arabisch ’ird, türkisch namus) besitzt zunächst noch jede Person, d.h. Frauen und Männer. Sie kann jedoch nicht vermehrt, sondern allenfalls verloren werden. Ausschließlich Männern steht das Ansehen zu (arabisch sˇaraf, türkisch s¸eref), das sie jedoch erst, etwa durch persönliche Leistung oder durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, erwerben müssen.19 Die verschiedenen Ehrkonzepte verdeutlichen den unterschiedlichen Status von Frau und Mann sowie ihre Rollenverteilung in einer patriarchalischen Gesellschaft: „Weiblichkeit ist ein zugewiesener Status, in dem Frauen verharren müssen; Männlichkeit dagegen ist ein Status, den es durch Auszeichnung zu erlangen gilt“.20
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Beispiele für Ehrenmorde an Männern bei Çelebi, Kein Schutz, nirgends, S. 143 f. Zum Brauch der Blutrache Baumeister, Ehrenmorde, S. 17 ff.; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 230 ff.; Hakeri, Die türkischen Strafbestimmungen zum Schutz des Lebens, S. 71 ff.; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 6 ff. 18 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 5; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 5. Zur Problematik auch Rumpf, Die Ehre im türkischen Strafrecht, S. 11. 19 Zur Ehre in der Türkei Baumeister, Ehrenmorde, S. 48 ff.; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 125 ff. und 155 ff.; Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 53 ff.; Rehm, Zwangsheirat und „Ehrenmord“, S. 34 ff.; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 12; vgl. ferner Kizilhan, „Ehrenmorde“, S. 81 ff.; Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (706); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (399 ff.). Zu den Ehrkonzepten in der jordanischen Gesellschaft Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 44 ff.; zum Begriff der Ehre in der kurdischen Gesellschaft Sahin, „Ehrenmorde“ in Irakisch-Kurdistan, S. 33 (55 ff.). 20 Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 45. 17
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Verliert eine Frau ihre Reputation, betrifft dies nicht nur ihre eigene Ehre. Vielmehr beeinflusst dies zudem die Ehre ihres Ehemannes bzw. der sonstigen männlichen Mitglieder des Haushalts, die für die Frau als verantwortlich angesehen werden, und schließlich die Ehre der gesamten Familie. Diese Abhängigkeit führt zu der Normierung von Sittenkodizes für Frauen und zu deren Durchsetzung sowie der Sanktionierung regelwidrigen Verhaltens durch die männlichen Verwandten.21 Im Einzelfall liegt ein sittlich inadäquates Fehlverhalten eines weiblichen Familienmitglieds beispielsweise in dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit vor der Ehe, dem Eingehen einer außerehelichen oder von den Eltern nicht geduldeten Beziehung, der Ablehnung eines durch die Familie ausgewählten Ehemannes (Zwangsheirat) oder in der (beabsichtigten) Trennung von ihrem Ehemann und gegebenenfalls der Mitnahme der gemeinsamen Kinder. Die Familienehre kann des Weiteren bereits dadurch verletzt werden, dass die Frau die Rolle des Mannes als Beschützer und Versorger der Familie untergräbt, indem sie anstelle des arbeitslosen Ehemannes für den gemeinsamen Unterhalt aufkommt, oder sich nicht in das überlieferte Weltbild einfügen will und sich stattdessen an der westlichen Lebensweise orientiert.22 Konflikte bleiben vor allem bei jungen Frauen aus der dritten und vierten Generation von Einwandererfamilien vorprogrammiert, die in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen sind. Sie müssen eine Gratwanderung zwischen den traditionellen Anschauungen ihres Elternhauses einerseits und dem westlichen Lebensstil andererseits bewältigen, dem sie in der Schule oder am Ausbildungsplatz bzw. in den Medien begegnen.23 Die Gerichte in Deutschland verhandelten unter anderem über Ehrenmorde, die am Tag der Scheidung24 oder der Verhandlung über das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder25 begangen wurden. Als Motiv gaben Angeklagte die unehrenhafte Lebensweise ihrer Tochter26 oder die Demonstration ihres Besitzrechts über ihre Frau27 an. Auch in den wenigen Beispielen, in denen die Tat nicht gegen eine eigene Verwandte oder die eigene Ehefrau, sondern gegen einen
21 Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 44 f.; Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (402 f.); siehe auch Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 4; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 4 und 12. 22 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 5; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 5 f. Weitere Beispiele bei Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 197 ff.; Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 57; Göztepe, EuGRZ 2008, 16 (16 f.); Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (706 ff.). 23 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 4; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 8. 24 die tageszeitung vom 10. 10. 2007, S. 6. 25 Die Welt vom 21. 4. 2008, S. 10; zu den Hintergründen des Mordes und dem Prozessverlauf, insbesondere zum Verhalten der Justiz, Çelebi, Kein Schutz, nirgends. 26 Berliner Morgenpost vom 1. 4. 2008, S. 10. 27 Berliner Morgenpost vom 23. 4. 2008, S. 12. Zur Annahme niedriger Beweggründe in einem solchen Fall Fischer, § 211 Rdn. 31.
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männlichen Außenstehenden verübt wurde, sind die Beweggründe für die Tötung bzw. den Tötungsversuch nach den hiesigen Wertvorstellungen nicht nachvollziehbar oder sogar absurd. So wollte ein Vater den Liebhaber seiner Tochter töten lassen, weil dieser sie schwängerte, anschließend aber nicht ehelichte.28 In einem weiteren Fall genügte schon der Besitz von Porträtaufnahmen, auf denen die Tochter des Täters ohne Kopftuch und Schleier abgebildet war.29 Die vorstehenden Anlässe für die Tötung insbesondere eines eigenen Familienangehörigen erscheinen in der Regel als nichtig, wenn die hierzulande vorherrschenden kulturellen Anschauungen zugrunde gelegt werden. Aus dieser Perspektive täuscht die Bezeichnung „Ehrenmord“ demnach darüber hinweg, dass ein solches Verbrechen für den Täter kein ehrenwertes Verhalten darstellt bzw. weder er noch seine Familie dadurch an Ansehen und Achtung gewinnen. Der Begriff „Ehrenmord“ bleibt demnach als Euphemismus einzuordnen.30 Ehrenmorde werden in der Regel von männlichen Verwandten des Opfers begangen, da sie nach den patriarchalischen Anschauungen die Pflicht trifft, die Familienehre notfalls durch Anwendung auch tödlicher Gewalt31 wiederherzustellen.32 Jedenfalls in Deutschland handelt es sich dabei zumeist um erwachsene Täter. Der vor allem durch den Fall Sürücü vermittelte Eindruck, es würden häufig minderjährige Söhne der Familie zur Tat bestimmt, da für sie das mildere Jugendstrafrecht gelte, hat sich hierzulande bislang nicht bestätigt.33 Vermehrt lässt sich bei Ehrenmorden eine besondere Brutalität der Täter beobachten. So wurden Opfer mit 2334 oder 4835 Messerstichen getötet, die wenige Stunden zuvor vom Täter geschiedene Ehefrau wurde vor den Augen des gemeinsamen fünfjährigen Sohnes auf offener Straße mit zwölf Stichen in Kopf und Rücken niedergestochen, mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib 28
BGH NJW 1980, 537. BGH NStZ-RR 2004, 361. 30 Vgl. statt vieler den Antrag der Fraktion der CDU/CSU vom 13. 11. 2001 „Im Namen der ,Ehre‘ – Gewalt gegen Frauen weltweit ächten“. Er weist auf den Sprachgebrauch des damaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan hin, der anstatt von „Ehrenmorden“ von „Schandemorden“ („shame killings“) sprach, BT-Drucks. 14/7457, S. 2. 31 Zu den einzelnen Sanktionen Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 47 f. 32 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 5 und 13; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 4; vgl. auch Baumeister, Ehrenmorde, S. 50 ff. 33 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 14. Verbreitet scheinen aber jugendliche Täter in der Türkei (Hakeri, Die türkischen Strafbestimmungen zum Schutz des Lebens, S. 114 f.; Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 102 f.; Izol, „Ehrenmorde“ in der Türkei, S. 7 [8 und 16]) sowie in Jordanien herangezogen zu werden (Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 70); vgl. auch Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 9. 34 Frankfurter Rundschau vom 14. 2. 2009, S. 5. 35 BGH NJW 2004, 1466. 29
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verbrannt.36 In einem weiteren Fall wurde eines der beiden Opfer mehrere Minuten in den Uferschlick gedrückt, bis es erstickte, das andere Opfer unter anderem mit einem Radmutterschlüssel elfmal gegen den Kopf geschlagen und anschließend von einem Pkw überfahren.37 Dem Phänomen der Ehrenmorde sollen nach einem Bericht der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen von 2000 weltweit jährlich ca. 5.000 weibliche Personen zum Opfer fallen. Eine vermutlich um ein Vielfaches höhere Dunkelziffer bleibt dabei unberücksichtigt.38 In Deutschland wurden zwischen 1996 und einschließlich 2005 nach Angaben des Bundeskriminalamts 55 derartige Taten mit insgesamt 70 Opfern registriert, von denen 48 den Tod fanden.39 Täter und Opfer von Ehrenmorden sind dabei zumeist türkischer Nationalität.40 Dies liegt zum einen an dem großen Anteil, den türkische Einwohner an der ausländischen Wohnbevölkerung in Deutschland generell sowie gegenüber den Angehörigen derjenigen Staaten, in denen Ehrenmorde verbreitet sind, stellen.41 Zum anderen wohnen türkische Staatsangehörige häufig in Großstädten und Ballungszentren, in denen eine hohe ausländische Bevölkerungsquote das Bedürfnis nach Integration verringert und den Fortbestand der als verbindlich empfundenen eigenen Ehranschauungen erleichtert. 2. Rechtliche Beurteilung der Ehrenmorde An die unterschiedlichen Ehrvorstellungen knüpft sich zugleich das wesentliche juristische Problem bei der Behandlung von Ehrenmorden. Nach den hiesigen Anschauungen bildet das Motiv, die Familienehre wiederherzustellen, näm36
die tageszeitung vom 10. 10. 2007, S. 6. BGH NStZ 2002, 369. 38 Angaben nach Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 3 und 7. Zahlen und Statistiken für die Türkei finden sich bei Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (96) und Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 11 ff., für Jordanien für die Jahre 1995–2002 bei Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 61 ff.; weitere Zahlen bei Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (704). Zu Beispielen in der Türkei Izol, „Ehrenmorde“ in der Türkei, S. 7 (19 ff.), im irakischen Teil Kurdistans Sahin, „Ehrenmorde“ in Irakisch-Kurdistan, S. 33 (61 ff.). 39 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 9. Elyafi, Ehrverbrechen, S. 433 (435) geht aufgrund einer Materialsammlung der anonymen Kriseneinrichtung Papatya für den Zeitraum von 1996 bis 2007 von 62 Fällen von Ehrenmorden, versuchten Ehrenmorden und Körperverletzungsdelikten aus. 40 Unter den 70 Opfern von Ehrenmorden zwischen 1996 und 2005 befanden sich 36, unter den 70 Tatverdächtigen sogar 50 türkische Staatsangehörige, Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 12 und 14. 41 Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 12 und 14; Elyafi, Ehrverbrechen, S. 433 (438). Zum 31. 12. 2009 waren unter 6,7 Millionen ausländischen Einwohnern der Bundesrepublik 1,7 Millionen türkische Staatsangehörige, was einem Anteil von 25% entspricht, Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2010, S. 52. 37
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lich keinen verständlichen Anlass, einen Menschen zu töten. Demnach liegt ein Mord aus niedrigen Beweggründen nahe. Nach dem Wertegefüge des Täters hingegen erscheint die Tötung des eigenen Familienangehörigen nachvollziehbar, gegebenenfalls sogar geboten, weswegen an der Verwirklichung der niedrigen Beweggründe Zweifel entstehen. Es muss daher entschieden werden, nach welchem kulturellen Maßstab die Tat zu bewerten bleibt. Oder mit anderen Worten: Ist der Ehrenmord auch ein Mord im strafrechtlichen Sinne?42 a) Grundlagen Niedrige Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB sind nach allgemein anerkannter Definition Motive, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verachtenswert sind.43 Allerdings wird nicht zu Unrecht angemerkt, dass die postulierte allgemeine sittliche Wertung eine Fiktion sei und demzufolge in der Praxis das persönliche Votum des Tatrichters den Ausschlag gebe.44 Einige Stimmen plädieren deswegen dafür, auf das Merkmal der niedrigen Beweggründe zu verzichten.45 Nach der geltenden Rechtslage bleibt indes die Motivation des Täters nach unstreitiger Ansicht im Wege einer Gesamtwürdigung aller äußeren
42 Vgl. hierzu aus der Rechtsprechung BGH NJW 1980, 537; StV 1994, 182; NJW 1995, 602; NStZ 2002, 369; NStZ-RR 2004, 361; NJW 2006, 1008. Aus dem Schrifttum Baumeister, Ehrenmorde; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 167 ff.; Dietz, NJW 2006, 1385; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92; Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419; Schulz, NJW 2005, 551; Valerius, JZ 2008, 912; siehe ferner die Anmerkungen von Fabricius, StV 1996, 209; Köhler, JZ 1980, 238; Saliger, StV 2003, 22; Trück, NStZ 2004, 497. Zur Übertragung der elterlichen Sorge auf den eines Ehrenmordes an der Mutter verdächtigen Vater BVerfG FamRZ 2008, 381; zu den ausländerrechtlichen Folgen eines Ehrenmordes Dietz, NJW 2006, 1385 (1387 ff.). 43 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 2. 44 Kargl, StraFo 2001, 365 (367); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (419); Neumann, JR 2002, 471 (472); Otto, JZ 2002, 567 (567); ders., Jura 2003, 612 (616); Rüping, JZ 1979, 617 (620); Wolf, in: Festschrift Schreiber, S. 519 (526); vgl. auch Fischer, § 211 Rdn. 15; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 24; Lenckner, JuS 1968, 249 (251 f.). 45 Siehe insbesondere den Alternativ-Entwurf Leben, mit Begründung abgedruckt in GA 2008, 193, der die lebenslange Freiheitsstrafe in § 211 Abs. 2 StGB-AE nur für Tötungen unrechtserhöhender Gemeinschaftsbedrohlichkeit vorsieht. Köhne, ZRP 2007, 165 (167 ff.) will darüber hinaus auf jegliches Mordmerkmal verzichten und plädiert für einen einheitlichen Tatbestand der vorsätzlichen Tötung. Wolf, in: Festschrift Schreiber, S. 519 (532) bevorzugt eine Rückkehr zur früheren Differenzierung nach der Durchführung der Tat mit oder ohne Überlegung. Ebenso eine Reform der Tötungsdelikte befürwortend Lackner/Kühl, Vor § 211 Rdn. 25; Neumann, NK, Vor § 211 Rdn. 156 f.; Heine, GA 2000, 305 (305 ff.); Kargl, StraFo 2001, 365 (374 f.). Erste Rufe nach einer Reform finden sich schon Anfang der 1970er bei Arzt, ZStW 83 (1971), 1 sowie Otto, ZStW 83 (1971), 39 (79 f.). Knapp zehn Jahre später erhielt diese Diskussion durch das Gutachten von Eser für den 53. Deutschen Juristentag neuen Aufwind; vgl. hierzu Geilen, JR 1980, 309; Jähnke, MDR 1980, 705.
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
und inneren für seine Handlungsantriebe maßgeblichen Faktoren zu beurteilen,46 die unter anderem die Umstände der Tat, seine Lebensverhältnisse und seine Persönlichkeit berücksichtigt.47 Erfolgt die sittliche Bewertung der Tötungsmotivation aus Sicht der in Deutschland verbreiteten kulturellen Wertvorstellungen, wird der Täter eines Ehrenmordes oftmals „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ gehandelt haben. Denn die Zeiten, in denen eine Ehrverletzung anerkannterweise durch den Tod des Täters zu sühnen war, sind spätestens seit dem Aussterben der – ohnehin nur in bestimmten Kreisen und außerdem offen ausgetragenen – Duelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorüber. Diese Entwicklung spiegelt sich mit Verzögerung auch im deutschen Strafrecht wider. So wurde zwar bereits die Herausforderung zum Zweikampf mit tödlichen Waffen in § 201 RStGB unter Strafe gestellt und mit Festungshaft von bis zu sechs Monaten geahndet. Verlief ein solcher Zweikampf aber tödlich, erfuhr der siegreiche Duellant eine Strafmilderung, indem der Mindeststrafrahmen von Zuchthaus nicht unter fünf Jahren (§ 212 RStGB) auf Festungshaft nicht unter zwei bzw. drei Jahren (§ 206 RStGB) herabgesetzt wurde.48 Diese Sonderregelungen wurden schließlich durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 196949 aufgehoben. Letztlich bedeutet die Tötung eines Menschen zur Wiederherstellung der Familienehre nichts anderes als das eigene Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung über das Leben des Opfers zu erheben.50 Nach den hiesigen Maßstäben erscheint dies nicht einmal annähernd als tragfähiger Grund für die Tötung eines Menschen. Vielmehr handelt es sich um die besonders verachtenswerte Nichtachtung menschlichen Lebens. Dass hier ein hohes Missverhältnis zwischen der Tat und ihrem Anlass besteht, welches das Auffangmerkmal der niedrigen Beweggründe verwirklicht,51 zeigt ebenso der Vergleich mit den ausdrücklich in § 211 46 BGH NStZ 2002, 369 (370); NStZ 2005, 35 (36); NJW 2006, 1008 (1011); NStZRR 2006, 340 (341); NStZ 2007, 330 (331); NJW 2009, 305 (305); Wessels/Hettinger, Rdn. 95. 47 BGHSt 35, 116 (127); 47, 128 (130); BGH NJW 1980, 537 (537); NJW 1981, 1382 (1382); NStZ-RR 2004, 332 (333); NStZ 2006, 284 (285); NStZ-RR 2006, 340 (341); NStZ 2007, 330 (331); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 30; Neumann, NK, § 211 Rdn. 32; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 69; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 16; Wessels/Hettinger, Rdn. 95. 48 Allerdings war umstritten, ob § 206 RStGB die vorsätzliche Verletzung erforderte oder ebenso die unverschuldete Tötung des Kontrahenten erfasste; zum Streitstand von Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, § 93 IV 2, S. 495. 49 BGBl. I, S. 645. 50 Vgl. auch BGH, Urteil vom 5. 9. 2007, Az. 2 StR 306/07, Rdn. 25 (insoweit nicht abgedruckt in wistra 2007, 475), wonach die Tötung des Opfers, „nur um sich vor seinem Neffen und den anderen Familienangehörigen nicht bloßzustellen, als besonders verachtenswertes Motiv anzusehen wäre“. 51 Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 29; Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rdn. 18; Fischer, § 211 Rdn. 18.
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Abs. 2 Gr. 1 StGB benannten Motiven: Dort wird dem Täter vorgeworfen, seine bloße Freude am Tötungsakt („Mordlust“), seinen Wunsch nach sexuellem Lustgewinn („zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“) oder sein Streben nach Vermögensmehrung („Habgier“) für gewichtiger als das Leben seines Opfers erachtet zu haben.52 Dieser erste Eindruck wird bestätigt, wenn der eigentliche Beweggrund bedacht wird, der den Täter zur Tat und zu der dadurch beabsichtigten Wiederherstellung der Familienehre bestimmt. So wird jemand getötet, weil er sich einer Zwangsheirat widersetzt, eine unerwünschte Beziehung eingeht oder einen westlichen Lebensstil pflegt. Der Einzelne muss also dafür mit seinem Leben bezahlen, wichtige Angelegenheiten in seinem Privatleben selbstständig und nicht im Einklang mit den Wertvorstellungen seiner Familie geregelt zu haben. Aus der Sicht des westlichen, maßgeblich durch die Aufklärung geprägten Kulturkreises ist zumeist weder nachvollziehbar, inwiefern ein solches Verhalten die Familienehre überhaupt verletzt haben sollte, noch begreiflich, dass es jemanden zur Tötung eines Menschen veranlasst. Vermag der Täter das Opfer nicht als freies und selbstbestimmtes Individuum zu respektieren, sondern nimmt er eine höchstpersönliche Entscheidung des Opfers gerade zum Anlass, sich zum Richter über dessen Leben sowie über die Rechtsordnung zu erheben, bleibt seine Motivation daher in aller Regel als besonders verwerflich anzusehen.53 Diese Erwägungen gelten nicht nur für den Ehrenmord in dem engen Verständnis des Bundeskriminalamts. Vielmehr lassen sie sich im Wesentlichen auf die Tötungen aus Blutrache übertragen, die gleichfalls aufgrund anderer Vorstellungen über Ehre und das Recht auf Leben begangen werden.54 Ein anderes Bild kann sich hingegen ergeben, wenn gerade die abweichenden Anschauungen des Täters als Bewertungsmaßstab für die Sittlichkeit seiner Motivation herangezogen werden. Während hierzulande wegen der Betonung des Individuums Personenverbänden allenfalls in geringem Ausmaß eine Ehre zuteilwird, kommt in patriarchalischen Gesellschaften den Kollektiven wie vornehmlich der Familie eine weitaus höhere Bedeutung zu, welche die Interessen des Einzelnen, gegebenenfalls auch sein Recht auf Leben, in den Hintergrund zu drängen vermag. Werden solche kulturellen Wertvorstellungen als Gradmesser für die erforderliche „allgemeine sittliche Wertung“ herangezogen, ist nicht aus52 Schütz, JA 2007, 23 (25); vgl. ferner Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 30; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 25. 53 Siehe auch Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 33.1; Fischer, § 211 Rdn. 31; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 26. 54 Vgl. dazu BGH NJW 1995, 602 (602 f.); NJW 2006, 1008 (1011 f.); Fischer, § 211 Rdn. 30; Arzt/Weber/Hilgendorf, § 2 Rdn. 72b; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 44 ff.; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (94); Küper, JZ 2006, 608 (611); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (425 f.); aus Schweizer Sicht Frischknecht, Kultureller Rabatt, S. 310 ff.
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
zuschließen, dass das Ansehen der Familie über das Leben desjenigen Menschen – infolge der Geringschätzung der Frau in der Regel eines weiblichen Familienmitglieds – gestellt wird, der als verantwortlich für eine (vermeintliche) Ehrminderung angesehen wird. Die Familienehre durch seine Tötung wiederherzustellen, erscheint demzufolge den gleichdenkenden Angehörigen des kulturellen Umfeldes unter Umständen als verständlicher, jedenfalls nicht als von vornherein besonders verwerflicher Beweggrund.55 Ein solcher Schluss erweist sich indes selbst in patriarchalischen Gesellschaften nicht als zwingend. Zum einen bleibt zu beachten, dass auch in den von Ehrenmorden besonders betroffenen Staaten verschiedene Kulturen mit deutlich unterschiedlichen Wertvorstellungen existieren. Der stillschweigend postulierte und demnach von vornherein nicht zu hinterfragende einheitliche Bewertungsmaßstab besteht also überhaupt nicht56 und es sind lediglich einzelne Bevölkerungsteile, die Ehren- und Blutrachetötungen nach wie vor akzeptieren und gutheißen.57 Zum anderen ist die gesellschaftliche Prägung des Umfeldes nur einer von verschiedenen kulturellen Faktoren, die es bei der Bewertung der Tötungsmotivation zu berücksichtigen gilt. Einen weiteren wesentlichen Umstand bildet etwa die rechtliche Beurteilung von Ehrenmorden in dem Heimatstaat des Täters. Zwar gibt es in Syrien in Art. 192 syrStGB einen besonderen Strafmilderungsgrund für Straftaten aus ehrenhaften Motiven, der auch bei Ehrenmorden verschiedentlich angewendet wird.58 Ähnlich vermag sich in Jordanien der Täter eines Ehrenmordes nach der Rechtsprechung zumeist auf den allgemeinen Strafmilderungsgrund in Art. 98 jStGB zu berufen, wonach die Strafe bei Taten herabgesetzt wird, die aus heftigem Zorn über ein unrechtes Verhalten des Opfers begangen wurden. Zudem gestattet Art. 99 jStGB dem Gericht eine weitere Halbierung der Strafe, wenn die Familie des Opfers auf eine Strafanzeige verzichtet, was nicht zuletzt infolge der patriarchalischen Strukturen die Regel darstellt.59 Jedoch bleibt festzuhalten, dass nicht sämtliche Staaten, in denen Ehrenmorde verbreitet sind, eine solche Tat gegenüber sonstigen Tötungsdelikten privilegieren.60 So verwirklicht insbesondere in der Türkei die Tötung aus Blutrache bereits seit 1953 einen qualifizierten Fall des vorsätzlichen Totschlags (Art. 450
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Valerius, JZ 2008, 912 (914 f.). Rohe, JZ 2007, 801 (805). 57 Zu den unterschiedlichen Anschauungen in der Türkei Grünewald, NStZ 2010, 1 (6); Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (96 ff.). 58 Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (715). 59 Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 9; Wehler-Schöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 68 ff.; Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (717 ff.). 60 Eine Übersicht über einige arabische Staaten gewährt Tellenbach, Ehrenmorde an Frauen in der arabischen Welt, S. 701 (711 ff.). 56
Kap. 2: Kulturoffene Tatbestandsmerkmale
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Abs. 1 Nr. 10 türkStGB a. F.,61 mittlerweile § 82 Abs. 1 lit. j türkStGB), der mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet wird bzw. bis zur Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 2002 sogar mit dem Tode bedroht wurde.62 Seit Inkrafttreten der Neufassung des türkischen Strafgesetzbuches am 1. Juni 200563 ist außerdem die Tötung aus Gründen des Brauchtums gemäß § 82 Abs. 1 lit. k türkStGB ein strafschärfendes Merkmal, das im Wesentlichen auch Ehrenmorde erfasst.64 Bis zu seiner Aufhebung im Juli 2003 konnte sich der Täter dagegen häufig auf den besonderen Strafmilderungsgrund des Art. 462 türkStGB berufen, wenn er einen nahen Verwandten bei der Pflege einer außerehelichen Geschlechtsbeziehung angetroffen hatte.65 Des Weiteren nahmen die Gerichte häufig einen Rückgriff auf den allgemeinen Strafmilderungsgrund der Provokation nach Art. 51 türkStGB a. F. vor,66 der von der Neufassung des türkischen Strafgesetzbuches nur eingeschränkt in § 29 türkStGB übernommen wurde.67 Der unmittelbare Rückschluss von der Rechtslage auf die allgemeine sittliche Wertung68 bleibt zwar mit Vorsicht zu ziehen, da der Rechtsordnung in anderen Staaten nicht dasselbe Maß an Verbindlichkeit zuteil wird wie in Deutschland.69 61 Hierzu Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 144 ff. und 241 ff.; Hakeri, Die türkischen Strafbestimmungen zum Schutz des Lebens, S. 101 ff.; Grünewald, NStZ 2010, 1 (3 f.). 62 Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (98 f.). Kritisch zur restriktiven Anwendung durch die Rechtsprechung Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in der Türkei, S. 619 (652). Allgemein zur rechtlichen Stellung der Frau in der Türkei in Vergangenheit und Gegenwart Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 7 ff. 63 Dazu allgemein Sözüer, ZStW 119 (2007), 717. 64 Hierzu Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 220 ff.; Sözüer, ZStW 119 (2007), 717 (744); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (423 f.); Wörner, Zur gesellschaftlichen Verankerung von Rechtsnormen, S. 489 (518 f.). Kritisch zur Verwendung des Begriffs des Brauchtums anstatt der Ehre Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 101 f.; Göztepe, EuGRZ 2008, 16 (20). 65 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 142 ff. und 212 ff.; Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (417 f.); eingehend Hakeri, Die türkischen Strafbestimmungen zum Schutz des Lebens, S. 131 ff., der für die Beibehaltung der Norm plädierte, S. 135. 66 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 139 ff. und 215 ff.; Keinert, Die Menschenrechte der Frau in der Türkei, S. 42 ff. und 102; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 11; Göztepe, EuGRZ 2008, 16 (18 f.); Rumpf, Die Ehre im türkischen Strafrecht, S. 9 ff.; Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in der Türkei, S. 619 (647 ff.); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (418 ff.); allgemein zur Provokation im islamischen Strafrecht Hakeri, Tötungsdelikte im islamischen Strafrecht, S. 34. 67 Hierzu Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 148 f. und 219 f.; Sözüer, ZStW 119 (2007), 717 (732). 68 So wohl Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 35; Dietz, NJW 2006, 1385 (1387). 69 Zu den Folgen des Auseinanderfallens von Recht und Moral für die Beurteilung nach deutschem Strafrecht Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (100 ff.); Saliger, StV 2003, 22 (24); allgemein hierzu Grünewald, NStZ 2010, 1 (7 f.).
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
Dies gilt insbesondere, wenn eine Strafnorm lediglich auf dem Papier steht, von den Justizbehörden in der Praxis – wie etwa in Bezug auf Ehrenmorde in Pakistan – indes nicht umgesetzt wird.70 Es erscheint aber nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine Tötung zur Wiederherstellung der Familienehre auch in einer patriarchalischen Gesellschaft als besonders verachtenswert und somit als Mord aus niedrigen Beweggründen beurteilt wird. Vorrangig bedarf es gleichwohl der Entscheidung, anhand welchen Maßstabs die allgemeine sittliche Wertung vorzunehmen ist: Geben die hierzulande herrschenden und in der Rechtsordnung zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen den Ausschlag oder die Anschauungen des Täters bzw. des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem sich die Tat ereignet? Sollte die kulturelle Prägung des Täters insoweit unbeachtlich sein, bleibt fraglich, ob und gegebenenfalls inwieweit sie noch an anderer Stelle, namentlich bei der subjektiven Seite der Tat berücksichtigt werden muss. b) Die Behandlung in der Rechtsprechung aa) Erste Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der „sittlichen Bewertung der Tat“ Die Rechtsprechung vertritt eine uneinheitliche Linie bei der Berücksichtigung der heimatlichen Anschauungen des Täters. Eine Analyse der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu Tötungsdelikten mit fremdem kulturellem Hintergrund lässt mindestens drei Phasen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen erkennen.71 Dabei waren die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen fließend und die einzelnen Strafsenate wendeten zum Teil zeitgleich verschiedene Grundsätze an,72 ohne sich näher mit der entgegenstehenden Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Erste Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu kulturell geprägten Tötungsdelikten stammen schon aus den 1960er Jahren. Allerdings betrafen die damaligen Sachverhalte noch keine Ehrenmorde im heutigen Sinne. Das Motiv der Täter war nicht, ihre Familienehre wiederherzustellen. Vielmehr veranlassten Herabwürdigungen und Demütigungen die Täter aufgrund ihrer heimatlichen Wertvorstellungen73 zu ihrer mitunter tödlichen Reaktion. Beispielsweise er70
Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 13. Siehe bereits Saliger, StV 2003, 22 (22 f.); ebenso Baumeister, Ehrenmorde, S. 141 ff.; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 177 ff. 72 Siehe etwa BGH StV 1997, 565 einerseits und BGH NJW 1995, 602 andererseits. 73 Vgl. z. B. BGH MDR/Holtz 1977, 807 (810): „sizilianische Denkweisen“; StV 1981, 399 (400): „italienisch-südländische Mentalität“; später BGH StV 1997, 565 (566): Täter „bekennt ,sich zum Islam schiitischer Glaubensrichtung‘ und ist in einer ,nach traditionellen iranischen Sitten und Gebräuchen‘ lebenden Familie aufgewach71
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schoss ein zur Tatzeit 22-jähriger Sizilianer seine ehemalige 16-jährige Freundin sowie deren drei Begleiter vor einem Kino, nachdem sie kurz zuvor ihr Verhältnis zum Täter beendet hatte und ihre Begleiter ihn bei dem Aufeinandertreffen vor dem Lichtspielhaus schwer beleidigt hatten.74 Einem Urteil von 1967 lag ein Fall zugrunde, in dem ein Täter, der nach den Feststellungen des Tatgerichts seit Wochen grundlos keiner Arbeit nachging, seine bis dahin ihm stets unterwürfige Ehefrau in einer plötzlichen Aufwallung von Wut und in jäh aufloderndem Vernichtungswillen mit einem Beil erschlagen wollte. Sie hatte sich zuvor geweigert, ihm von ihrem Lohn neun DM für eine Wochenfahrkarte zu geben.75 In dieser ersten Phase zeigte sich der Bundesgerichtshof unentschlossen, ob die kulturellen Wertvorstellungen des Täters in die Prüfung der Niedrigkeit seiner Beweggründe einzubeziehen seien. Zum Teil vertrat er, die heimatlichen Anschauungen könnten in die sittliche Bewertung der Tat einfließen.76 Schließlich komme es bei der Wertung der Motive auf die Gesamtumstände und daher auch auf die Persönlichkeit des Täters an.77 Vermöge sich jemand zum Zeitpunkt eines (versuchten oder vollendeten) Tötungsdelikts noch nicht von den Vorstellungen seiner Heimat zu lösen, seien wegen seiner darauf beruhenden Persönlichkeit und Denkweise die Beweggründe unter Umständen nicht als besonders verwerflich und verächtlich, d.h. nicht als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB anzusehen.78 Somit lagen bereits objektiv keine niedrigen Beweggründe vor. Ausgangspunkt für diese Erwägungen war ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. November 195379. Bei der Bewertung eines Beweggrundes als niedrig durften demnach Persönlichkeitsstörungen des Täters, die der Tatausführung ein schicksalhaftes Gepräge verliehen, berücksichtigt werden. Allerdings hielt der Bundesgerichtshof fest, die Motivation des Täters könne trotz vorhandener Persönlichkeitsmängel derart missbilligenswert und verwerflich sein, dass sie als niedrig bezeichnet werden müsse.80 Ob dieser Lösungsweg zustimmungswürdig erscheint, wird später noch zu erörtern sein. Jedenfalls hat der Bundesgerichtshof bei seinem Rekurs auf die Entscheidung aus seinen Anfangsjahren bedenkliche Formulierungen gewählt: „Der BGH hat wiederholt entschieden, daß Persönlichkeitsmängel bei der sittlichen Bewertung einer Tat u. U. zu berücksichtigen sind. sen“; NJW 2004, 1466 (1467): „nach seinen anatolischen Wertvorstellungen“; vgl. ferner den BGH NStZ 2006, 284 zugrunde liegenden Sachverhalt aus einem griechischen Umfeld. 74 BGH MDR/Holtz 1977, 807. 75 BGH NJW 1967, 1140. 76 BGH GA 1967, 244 (244). 77 Vgl. BGH NJW 1954, 565 (565); GA 1967, 244 (244). 78 BGH GA 1967, 244 (244). 79 BGH NJW 1954, 565. 80 BGH NJW 1954, 565 (565).
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
Gilt das in gewissem Umfange schon für ,psychopathische Persönlichkeiten‘ [. . .], so ist dieser Grundsatz erst recht dann anzuwenden, wenn Ausländer in – von den unseren abweichenden – Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit noch nicht lösen konnten.“ 81 In einer anderen Entscheidung beschritt der Bundesgerichtshof hingegen den Weg über die subjektive Seite der Tat. Die Verwirklichung des Auffangmerkmals der niedrigen Beweggründe setze demnach zwar das Bewusstsein des Täters über die Motivation seines Handelns voraus; ob er diese selbst als niedrig bewerte, sei indessen unerheblich.82 Der Täter müsse lediglich zu einer solchen Wertung nach seiner Persönlichkeit überhaupt imstande sein, da er ansonsten keinen Vorsatz aufweise.83 Der Bundesgerichtshof vermochte sich also zunächst nur dahingehend festzulegen, dass sich der kulturelle Hintergrund des Täters auf dessen Strafbarkeit auswirken kann. Unklar blieb, wie ein solcher „Zustand interkultureller Spannungen“ 84 zu berücksichtigen war. In Betracht kam im Wesentlichen eine Lösung (objektiv) bei der Subsumtion unter das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ oder (subjektiv) erst im Bereich des Vorsatzes bzw. der Schuld. bb) Zweite Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der Subsumtion unter das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ Ein klareres Bild zeichnete sich durch den Beschluss vom 27. November 197985 ab, in dessen Rahmen sich der Bundesgerichtshof, soweit ersichtlich, erstmals mit einem Sachverhalt zu beschäftigen hatte, welcher der heute vielbeachteten Kategorie „Tötung zur Wiederherstellung der Familienehre“ zuzuordnen ist. Opfer der Tat war ein türkischer Student, der eine aus der Türkei stammende junge Frau schwängerte, sie aber anschließend nicht ehelichen wollte. Der Vater der verschmähten Frau sah sich deswegen dem Spott seiner Landsleute ausgesetzt. In seiner türkischen Heimat herrschte die – von den von dort stammenden Gastarbeitern nach wie vor geteilte – Anschauung, dass die männlichen Familienmitglieder ihre Ehre verlören, wenn sie nicht mit Gewalt gegen den Mann vorgingen, der sich der Heirat verweigere. Der stark von diesen Sitten und Gebräuchen geprägte Vater bedrängte daher seinen ältesten, zur Tatzeit 18-jährigen Sohn, seiner Pflicht nachzukommen und den Studenten zu töten. Neben Vater 81 BGH GA 1967, 244 (244) – Hervorhebungen durch den Verfasser; ebenso auf Persönlichkeitsmängel verweist BGH MDR/Holtz 1977, 807 (810). 82 BGH NJW 1967, 1140 (1141); MDR/Holtz 1977, 807 (810); vgl. auch BGH MDR/Dallinger 1969, 722 (723). 83 BGH MDR/Holtz 1977, 807 (810); vgl. ferner BGH MDR/Dallinger 1969, 722 (723). 84 BGH MDR/Holtz 1977, 807 (810). 85 BGH NJW 1980, 537 mit Anmerkung Köhler, JZ 1980, 238.
Kap. 2: Kulturoffene Tatbestandsmerkmale
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und Sohn war außerdem ein 22-jähriger Freund des Sohnes in die Tat verwickelt, der als Spätaussiedler aus Polen wenig Kontakt mit Deutschen hatte und sich überwiegend unter Türken aufhielt. Um von ihnen anerkannt zu werden, wollte er sich mit ihren Problemen identifizieren. Die soziale Verhaltenserwartung, der die Angeklagten unterlagen, führte schließlich zu dem erfolglosen Versuch, den Studenten mit einem Messer zu töten. Nach Auffassung des Fünften Strafsenats durften die besonderen Anschauungen des Täters, denen er wegen seiner Bindung an eine fremde Kultur verhaftet war, im Rahmen der notwendigen Gesamtwürdigung nicht außer Betracht bleiben. Allgemeine sittliche Wertmaßstäbe an die Beweggründe für ein Tötungsdelikt anlegen zu müssen, schließe nicht aus, die individuellen Bedingungen der Tat in die Bewertung einfließen zu lassen. Damit wären etwa auch die besonderen Ehrvorstellungen des Lebenskreises des Täters zu beachten, die gegebenenfalls den Ausschlag dafür geben, dass seine Motivation nicht als niedrig erscheine.86 Allein das Versäumnis der Täter, sich während ihres langjährigen Aufenthalts in Deutschland mit den hier herrschenden Wertvorstellungen vertraut zu machen, vermöge ebenso wenig die Niedrigkeit ihrer Motive zu begründen wie ihre Kenntnis von der hiesigen sittlichen Bewertung ihrer Tat. Entscheidend seien „die tatsächlichen Beweggründe“ der Täter.87 Ob im vorliegenden Fall die Motive der Angeklagten niedrig waren, ließ der Senat zwar offen.88 Da jedoch der Tatrichter die türkischen Wertvorstellungen gemäß diesen Erwägungen nicht ausreichend gewürdigt hatte, wurde die Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Mordes aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Nach dem Beschluss des Fünften Strafsenats können die kulturellen Wertvorstellungen des Täters dazu führen, seine Beweggründe abweichend von den hiesigen Anschauungen nicht als „niedrig“ im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB zu bewerten. Dies stellt eine bedeutende Konkretisierung bzw. Abkehr von der vorangegangenen Rechtsprechung dar, die den Wertehorizont des Täters zumindest zum Teil lediglich im subjektiven Bereich, namentlich bei seiner Fähigkeit, seine Beweggründe als niedrig zu bewerten, berücksichtigte. Die verschiedenen dogmatischen Konstruktionen wirkten sich in dem zugrunde liegenden Sachverhalt im Ergebnis zwar nicht aus. Allerdings besteht ein nicht unerheblicher Unterschied, ob die Anschauungen des Täters schon objektiv das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ entfallen lassen oder allenfalls auf der subjektiven Seite der Tat Beachtung finden, deren Voraussetzungen in der Regel erfüllt sein werden und weniger Raum für Privilegierungen des Täters bieten. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den früheren Entscheidungen des 86 87 88
BGH NJW 1980, 537 (537). BGH NJW 1980, 537 (537). Vgl. dazu Köhler, JZ 1980, 238 (239).
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Bundesgerichtshofs blieben die Gründe des Beschlusses jedoch schuldig. Vielmehr wurde lapidar darauf verwiesen, der Bundesgerichtshof habe bereits hervorgehoben, dass „die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen die Täter wegen ihrer Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sind, nicht außer Betracht bleiben“ können.89 Die Rechtsprechung des Fünften Strafsenats wurde in der Folgezeit von anderen Senaten des Bundesgerichtshofs übernommen. Vor allem der Erste Strafsenat ließ in seinem Urteil vom 5. Mai 1981 die besonderen Anschauungen des Täters schon in die Gesamtwürdigung einfließen, welche die Bewertung der Niedrigkeit der Beweggründe erfordert.90 Das Verfahren richtete sich gegen einen in den Abruzzen aufgewachsenen Italiener, der in die Wohnung seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau eindrang, weil er glaubte, sie beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Liebhaber ertappt zu haben. Aufgrund eines spontanen Entschlusses tötete er seine Ehefrau, während sich sein Nebenbuhler durch die Flucht in ein Gebüsch noch retten konnte. Der Angeklagte wurde daher wegen Totschlags und versuchten Totschlags verurteilt. Niedrige Beweggründe verneinte das Landgericht in erster Instanz, da der Angeklagte das Geschehen infolge seiner italienisch-südländischen Mentalität als Ehebruch wertete und deshalb der Ansicht war, zu Recht darüber verärgert und wütend zu sein. Die Ausführungen des Landgerichts wurden vom Ersten Strafsenat nicht beanstandet. Nachdem somit bereits objektiv keine niedrigen Beweggründe vorlagen, ließ der Senat offen, ob die subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals gegeben waren.91 Ebenso folgte der Vierte Strafsenat diesem Ansatz. Nach seinem Urteil vom 26. Juni 1997 seien die besonderen Wertvorstellungen des Täters, denen er trotz seines Aufenthalts in der Bundesrepublik nach wie vor verhaftet bleibe, schon bei der Frage zu berücksichtigen, ob ein Tötungsbeweggrund als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB zu bewerten sei.92 Angeklagt war ein iranischer Staatsangehöriger, der seine von ihm getrennt lebende Ehefrau mit einem Tapetenmesser und einer Rasierklinge durch zahlreiche Stich- und Schnittwunden tötete, weil sie sich einem Tamilen aus Sri Lanka zugewandt hatte. cc) Dritte Phase: Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen auf der subjektiven Tatseite Bereits wenige Jahre vor dem soeben genannten Urteil des Vierten Strafsenats erging eine entgegengesetzte Entscheidung des Zweiten Strafsenats vom 7. Okto89
BGH NJW 1980, 537 (537). BGH StV 1981, 399 (399); vgl. auch den Dritten Strafsenat in seinem Urteil vom 10. 11. 1993, StV 1994, 182 (182). 91 BGH StV 1981, 399 (399 f.). 92 BGH StV 1997, 565 (566). 90
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ber 199493. Hierin wich er von den soeben erläuterten Grundsätzen der zweiten Phase ab und leitete einen erneuten, bislang letzten Wechsel in der Rechtsprechung ein. Den Anlass bildete ein Fall der Blutrache, die ein aus Ostanatolien stammender Angeklagter auf Drängen seiner Familie ausübte. Er sollte dadurch Rache für den Tod des Mitglieds einer anderen türkischen Familie nehmen, das versehentlich anstelle eines Verwandten des Angeklagten getötet worden war. Dessen Familie gelangte zu dem Schluss, dass die vorangegangenen Geschehnisse ihre Beteiligung an der Tötung des Opfers erforderten, um die Familienehre zu wahren. Der Zweite Strafsenat betonte, der „Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes [sei] den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen, vor deren Gericht sich der Angeklagte zu verantworten hat, und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt“.94 Handele der Täter aus dem Motiv der Blutrache, erhebe er sich über die Rechtsordnung und das Lebensrecht eines anderen Menschen, das die hiesige Rechtsgemeinschaft selbst demjenigen nicht aberkenne, der denkbar schwerste verbrecherische Schuld auf sich geladen habe. Dies sei in der Regel als in höchstem Maße verwerflich und somit als niedriger Beweggrund im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB anzusehen.95 Eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen entfalle gleichwohl, wenn der Täter sich zum Zeitpunkt der Tat der Umstände nicht bewusst sei, welche die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn er seine handlungsbestimmenden Gefühlsregungen nicht gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern könne.96 Bei der Blutrache komme demnach ausnahmsweise die Verwirklichung lediglich eines Totschlags in Betracht. Der Senat beanstandete daher im konkreten Fall die erstinstanzliche Verurteilung wegen Totschlags nicht, die sich auf die infolge traditioneller Moral- und Wertvorstellungen reduzierte persönliche Entscheidungsfreiheit des Angeklagten berufen hatte.97 Indem der Zweite Strafsenat die Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland betonte, erteilte er der bis dahin bestehenden Praxis, die kulturellen Anschauungen des Täters bereits bei der Gesamtwürdigung der Niedrigkeit seiner Beweggründe zu berücksichtigen, eine deutliche Absage. Zwar ließ sich die Entscheidung vom 7. Oktober 1994 unter Umständen noch derart interpretieren, dass sie sich auf das Motiv der Blutrache beschränkte, zumal der 93
BGH NJW 1995, 602 mit Anmerkung Fabricius, StV 1996, 209. BGH NJW 1995, 602 (602). 95 BGH NJW 1995, 602 (602 f.). Zur Niedrigkeit des Motivs der Blutrache siehe auch die Nachweise in Teil 2 Fn. 54. 96 BGH NJW 1995, 602 (603). 97 BGH NJW 1995, 602 (603). 94
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offizielle Leitsatz ausschließlich dieses Tötungsmotiv erwähnte. Jedoch haben spätere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs erwartungsgemäß generell die hiesigen Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft herangezogen, ohne irgendeine Einschränkung auf die Tatmotivation des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen.98 Ausdrücklich sprach der Zweite Strafsenat den erheblichen Unterschied zur Rechtsprechung der zweiten Phase allerdings erst in seinem Urteil vom 28. Januar 200499 an, wenngleich er es auch hier versäumte, sich argumentativ mit den älteren Entscheidungen auseinanderzusetzen. Vielmehr begnügte sich der Zweite Strafsenat mit dem Hinweis auf die – zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren – tatsächlich vollzogene Kehrtwende.100 Eine rechtliche Begründung für die Abkehr von der früheren Rechtsprechung steht dagegen bis heute noch aus. Können sich die heimatlichen Anschauungen des Täters somit nicht auf das objektive Vorliegen niedriger Beweggründe auswirken, verbleibt lediglich ihre Berücksichtigung auf der subjektiven Tatseite. Diesbezüglich hatte sich in der Zwischenzeit schon eine differenzierte Rechtsprechung herausgebildet, die – nicht zuletzt infolge ihrer nunmehr gewachsenen Bedeutung – in den Folgejahren zunehmend konkretisiert und gefestigt wurde. Demnach sind drei verschiedene Aspekte zu trennen, von denen der Zweite Strafsenat in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1994 zwei erwähnte. (1) Zunächst muss sich der Täter zum Zeitpunkt der Tat derjenigen Umstände bewusst sein, welche die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen.101 Ansonsten seien die subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen“ nicht gegeben. Dies entsprach der früheren ständigen Rechtsprechung,102 und wurde ebenso in späteren Entscheidungen unverändert aufgegriffen.103 (2) Von der Kenntnis der (für die Begehung des Tötungsdelikts tatsächlich maßgebenden) Beweggründe ist das Wissen um deren (rechtliche) Bewertung zu unterscheiden. Fraglich bleibt daher, ob der Täter die subjektive Tatseite des Mordmerkmals auch dann verwirklicht, wenn er zwar weiß, aus welchem (tatsächlichen) Beweggrund er einen Menschen tötet, diesen aber (rechtlich) nicht als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB einstuft. Dies gilt etwa für einen Täter, der das Motiv der Blutrache aufgrund seiner kulturellen Prägung 98 Vgl. BGH, Beschluss vom 28. 6. 2000, 1 StR 199/00 (unveröffentlicht); Beschluss vom 24. 4. 2001, 1 StR 122/01 (unveröffentlicht); NStZ 2002, 369 (370); NJW 2004, 1466 (1467); NStZ 2005, 35 (36); NJW 2006, 1008 (1011); NStZ 2006, 284 (285). 99 BGH NJW 2004, 1466. 100 BGH NJW 2004, 1466 (1467). 101 BGH NJW 1995, 602 (603). 102 BGH StV 1981, 399 (400); NStZ 1989, 363 (363); NStZ 1993, 281 (281). 103 BGHSt 47, 128 (133); BGH NStZ 2002, 369 (370); NJW 2004, 1466 (1467); NStZ-RR 2006, 340 (341).
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nicht als besonders verwerflich erachtet. Der Zweite Strafsenat ging auf diesen Punkt nicht ein, den die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs uneinheitlich behandelt. Einige Entscheidungen verlangen für den Vorsatz bezüglich der niedrigen Beweggründe, dass der Täter die Bedeutung seiner Motivation und seiner Ziele für die Bewertung der Tat erfasst habe.104 Sie berufen sich dabei auf frühere Entscheidungen, die sie allerdings unzutreffend wiedergeben. So legt das oftmals zitierte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. Oktober 1954105 lediglich dar, der Täter müsse sich der (tatsächlichen) Bedeutung seiner Beweggründe „für die Tat“ 106 bewusst sein. Diese Formulierung unterscheidet sich jedoch beträchtlich von dem unter Rekurs hierauf anderenorts verlangten Bewusstsein der (rechtlichen) Bedeutung seiner Beweggründe „für die Bewertung der Tat“ 107. Vornehmlich jüngere Entscheidungen distanzieren sich ohnehin von dem Erfordernis einer solchen Bedeutungskenntnis. Demnach ist unerheblich, ob der Täter im Einklang mit den hiesigen kulturellen Anschauungen seine Beweggründe als niedrig einschätzt.108 Zwar hat sich der Bundesgerichtshof insoweit noch nicht ausdrücklich mit der eigenen entgegenstehenden Rechtsprechung auseinandergesetzt und fehlt es nach wie vor an einer höchstrichterlichen Klarstellung. Im Hinblick auf den Übertragungsfehler bei älteren sowie den Trend bei aktuellen Entscheidungen bleibt aber davon auszugehen, dass nach der Rechtsprechung der Täter zum Zeitpunkt der Tat seine Motivation nicht als niedrig erachten muss, um das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ zu verwirklichen. (3) Letztlich muss – worauf auch der Zweite Strafsenat in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1994 im Einklang mit der früheren Rechtsprechung109 hingewiesen hat110 – der Täter in der Lage sein, die gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen, soweit sie bei der Tat eine Rolle spielen (und die Niedrigkeit seiner Beweggründe bedeuten), gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.111 Eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen entfalle demnach, wenn der Täter seine Gefühlsregungen zum Zeitpunkt der Tat verstandesmäßig nicht erkennen bzw. im Falle des Erkennens nicht so zu steuern vermag, dass sie als auslösendes Moment für eine als besonders niedrig einzustu104
BGH NStZ 1981, 100 (101); NStZ 1989, 363 (363). BGHSt 6, 329. 106 BGHSt 6, 329 (331 f.). 107 BGH NStZ 1981, 100 (101); NStZ 1989, 363 (363). 108 BGH NStZ 1993, 182 (183); NJW 2004, 1466 (1467). 109 BGH NJW 1981, 1382 (1382); NStZ 1981, 100 (101); NStZ 1989, 363 (363); NStZ 1993, 182 (183); NStZ 1993, 281 (281). 110 BGH NJW 1995, 602 (603). 111 BGHSt 47, 128 (133); BGH NStZ 2002, 369 (370); NJW 2004, 1466 (1467); NStZ-RR 2006, 340 (341). 105
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fende Tötungshandlung nicht mehr in Betracht kommen. In diesem Fall könne dem Täter zwar seine Handlung, nicht jedoch deren Niedrigkeit vorgeworfen werden.112 Solche Situationen werden laut Bundesgerichtshof allerdings nur „ausnahmsweise“ 113 in Erwägung zu ziehen sein. dd) Zusammenfassung In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind bislang drei verschiedene Phasen mit unterschiedlichen Ansätzen zur Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen zu registrieren. Die ersten Entscheidungen ließen die Anschauungen des Täters noch in die sittliche Bewertung der Tat einfließen, ohne sich auf einen konkreten Prüfungsort festzulegen. Seit dem Beschluss des Fünften Strafsenats vom 27. November 1979 wurden die kulturellen Wertvorstellungen des Täters hingegen im Rahmen der notwendigen Gesamtwürdigung beachtet und konnten demgemäß dazu führen, dass das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ bereits objektiv nicht gegeben war. Gegen diese Verortung wendete sich der Zweite Strafsenat mit seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1994, die sich mittlerweile zur gängigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelt haben dürfte. Danach richtet sich der Bewertungsmaßstab für die Niedrigkeit eines Beweggrundes allein nach den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ansichten des Täters oder seines kulturellen Umfeldes sind allenfalls für die subjektive Seite der Tat von Bedeutung, die der Beachtung anderer Anschauungen aber einen geringeren Spielraum lassen.114 Bei der inneren Tatseite bleiben wiederum drei Aspekte zu unterscheiden, die der Bundesgerichtshof regelmäßig in seinen Entscheidungen erwähnt. (1) So muss sich der Täter der (tatsächlichen) Umstände bewusst sein, die ihn zu seiner Tat veranlassen. (2) Ob er selbst seine Beweggründe (rechtlich) als niedrig bewertet, ist indessen nach nicht unumstrittener, mittlerweile aber herrschender Rechtsprechung unerheblich. (3) Die Strafbarkeit entfällt jedoch, wenn der Täter seine Motivation gedanklich nicht zu beherrschen bzw. nicht durch seinen Willen zu steuern vermag. An diesen subjektiven Voraussetzungen wird die Strafbarkeit wegen eines Mordes aus niedrigen Beweggründen allerdings nur selten scheitern. Dementsprechend darf nach der Rechtsprechung insoweit auf eine nähere Erörterung verzichtet werden, wenn Zweifel an der Verwirklichung der inneren Tatseite nach dem Gesamtzusammenhang der tatrichterlichen Feststellungen nicht bestehen bzw. als fernliegend erscheinen.115 112 113 114 115
BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 2, S. 2. BGH NJW 1995, 602 (603); NStZ 2002, 369 (370). Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94 f. BGH NStZ 1989, 363 (364); NStZ 1993, 281 (281).
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c) Die Behandlung in der Literatur Auch die Literatur zeigt sich uneinig darüber, ob und gegebenenfalls wie die Anschauungen des Täters in Bezug auf die Niedrigkeit seiner Beweggründe zu beachten sind. Im Wesentlichen sind dabei diejenigen Auffassungen vorzufinden, die der Bundesgerichtshof in den letzten beiden der soeben geschilderten Phasen vertreten hat. So plädieren einige Stimmen dafür, die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bereits im Rahmen der objektiven Verwirklichung des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen“ zu berücksichtigen.116 Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der oben genannten zweiten Phase, deren Beginn der Beschluss vom 27. November 1979117 markiert. Köhler stützt diese Ansicht unter anderem darauf, dass die Bewertung der Motive des Täters eine rechtliche Verallgemeinerung sozialethischer Anschauungen erfordere, und zwar einschließlich der Vorstellungen des Täters, da er ansonsten von vornherein aus der durch die Werte der (gesamten) Gesellschaft geprägten Rechtsgemeinschaft herausfalle. Zur Begründung von Strafrechtsnormen könne somit lediglich ein gemeinsames sozialethisches Minimum herangezogen werden. Kulturelle Wertvorstellungen dürften daher nicht als niedrig und strafrechtlich relevant beurteilt werden, wenn sie einen gewissen ethischen Allgemeinheitsanspruch erhöben. Die Grenzen lägen erst dort, wo die fremden Anschauungen – wie etwa im Falle der Blutrache – nicht mehr mit denen der hiesigen Rechtsgemeinschaft vereinbar seien und diese deswegen zugleich beschränkten.118 Ähnlich will Neumann die kulturelle Einbindung des Täters bei der Gesamtwürdigung seiner Beweggründe miteinbeziehen. Hierbei sei die Niedrigkeit des Motivs nicht generalisierend, sondern individualisierend zu bestimmen, so dass auch die Verhaftung des Täters in den Normen seiner Kultur zu berücksichtigen sei.119 Ansonsten werde dieser „im Ergebnis für seine – aus Sicht der ,Leitkultur‘ – ,fehlerhafte‘ Sozialisation verantwortlich“ gemacht, was mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip nicht vereinbar sei.120 Auch im Schrifttum scheint sich hingegen die Ansicht durchzusetzen, für die Niedrigkeit der Beweggründe allein einen aus den hiesigen Wertvorstellungen abzuleitenden Bewertungsmaßstab anzulegen.121 Beispielsweise erachtet Schnei116 Neumann, NK, § 211 Rdn. 30b; Baumeister, Ehrenmorde, S. 148 ff.; von Gerkan, Niedrige Beweggründe, S. 28 f. und 129 ff.; Köhler, JZ 1980, 138 (140 f.); Saliger, StV 2003, 22 (24); Sonnen, JA 1980, 746 (747); ebenso wohl Schroeder, NStZ 2005, 153 (154). 117 BGH NJW 1980, 537. 118 Köhler, JZ 1980, 238 (240). 119 Neumann, NK, § 211 Rdn. 30b. 120 Neumann, NK, § 211 Rdn. 30a. 121 Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rdn. 19; Fischer, § 211 Rdn. 29; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 37; Momsen, SSW-StGB, § 211 Rdn. 31; Sinn, SK-StGB, § 211 Rdn. 27; Arzt/Weber/Hilgendorf, § 2 Rdn. 72a; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdn. 37;
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der „die sozialethischen Grundanschauungen der Gemeinschaft der in Deutschland lebenden In- und Ausländer“ als maßgeblich.122 Dies als anmaßend zu kritisieren, so Nehm, bedeute, generell eine kulturübergreifende Strafbefugnis in Frage zu stellen, vor allem bei moralisch umstrittenen Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, Ehebruch oder Prostitution, deren strafrechtliche Beurteilung an Traditionen und Wertebewusstsein einer Gesellschaft gebunden sei.123 Zudem lasse sich mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht vereinbaren, dasselbe Tatgeschehen bei einer gemischt-nationalen Tätergruppe objektiv unterschiedlich zu bewerten.124 Eine gleichwohl vorgenommene Bevorzugung von Ausländern sei ebenso wenig ein Ausdruck von „political correctness“, sondern könne diese sogar diskriminieren.125 Die Bindung an eine fundamental abweichende partikuläre Werteordnung betreffe vielmehr – wie die Anschauungen des Mitglieds einer exotischen Sekte oder eines politischen Überzeugungstäters – lediglich die Individualethik, nicht aber die nach objektiven Kriterien zu bestimmende Sozialethik.126 Die Vorstellungen des Täters flössen demnach erst auf der subjektiven Ebene ein127 und werden zumeist beim Motivationsbeherrschungspotential berücksichtigt. Es fehle aber nur, wenn der Täter seinen Anschauungen intensiv verhaftet sei.128 3. Stellungnahme a) Zum Meinungsstand Wie sich die kulturellen Wertvorstellungen des Täters auf die Niedrigkeit seiner Beweggründe und seine Strafbarkeit wegen Mordes auswirken, beschäftigt Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 191 f.; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 71; Dietz, NJW 2006, 1385 (1386); Grünewald, NStZ 2010, 1 (3 ff.); Hilgendorf, JZ 2009, 139 (141); Jähnke, MDR 1980, 705 (709); Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (100); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (426); Schulz, NJW 2005, 551 (554); Trück, NStZ 2004, 497 (497); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (410); tendenziell zustimmend Küper, JZ 2006, 608 (610). Zur vergleichbaren Beurteilung in Israel Ghanayim, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Israel, S. 221 (272 f.). 122 Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94. 123 Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (426). 124 Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 37; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 192; Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (426); Otto, Jura 2003, 612 (617); Schulz, NJW 2005, 551 (554); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (410). 125 Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94; Altvater, NStZ 1998, 342 (344); Dietz, NJW 2006, 1385 (1386); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (428); vgl. auch Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 193. 126 Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94; Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (427); Schulz, NJW 2005, 551 (554). 127 Otto, Jura 2003, 612 (617); Trück, NStZ 2004, 497 (497). 128 Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94 f.; Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (100 f.); Kühl, JA 2009, 833 (835 f.); ders., JuS 2010, 1041 (1047); vgl. ferner Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 37; Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (429).
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Rechtsprechung und Literatur bereits über vier Jahrzehnte. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. November 1979129 wird der Problematik größere Aufmerksamkeit zuteil. Sie wurde also von der Rechtswissenschaft schon lange diskutiert, bevor sie in den Blickpunkt der medialen Öffentlichkeit geriet, die sich zudem auf die spektakulären Fälle der Ehrenmorde und der Blutrache konzentriert. Obwohl die Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes des Täters ein nicht unbedeutendes Thema darstellt, hat sich die Rechtsprechung insoweit mit undifferenzierten Ausführungen und leitsatzartigen Behauptungen begnügt. Deutlich wird dies vor allem in dem heimlich vorgenommenen Meinungswandel durch das Urteil des Zweiten Strafsenats vom 7. Oktober 1994,130 das frühere entgegenstehende Entscheidungen völlig außer Acht ließ. Erst nahezu zehn Jahre später ging der Senat ausdrücklich auf die Abkehr von seiner ehemaligen Auffassung ein,131 blieb aber eine Erklärung hierfür wiederum schuldig und verwies lediglich auf die seitdem bestehende Rechtsprechung. Wenngleich sich der Bundesgerichtshof in den letzten Jahren zunehmend um eine Konkretisierung der subjektiven Tatseite eines Mordes „aus niedrigen Beweggründen“ bemüht, bleibt zumindest zweierlei zu beanstanden. Zum einen fehlt es nach wie vor an einer fundierten Begründung, warum sich die Anschauungen des Täters nicht bereits auf das objektive Vorliegen von niedrigen Beweggründen auswirken können. Zum anderen geben die präsentierten Leerformeln dem Tatrichter keine geeigneten Maßstäbe an die Hand, um den Einzelfall zu bewerten. Nicht zu Unrecht wurden diesbezügliche strafgerichtliche Entscheidungen mangels Vorhersehbarkeit als „Gottesurteil“ bezeichnet und das Fehlen eines regelorientierten Rechtsfindungsverfahrens bemängelt.132 Erst jüngere Entscheidungen holen dieses Versäumnis nach und setzen sich detailliert mit der Bewertung kulturgeprägter Beweggründe des Täters auseinander.133 b) Objektive Voraussetzungen des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen“ aa) Bewertungsmaßstab Bei den objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen“ ist zunächst fraglich, nach welchem Maßstab sich die Niedrigkeit der Motivation bemisst. Denkbar wäre sowohl eine Bewertung aus der Sicht des jeweiligen Täters als auch anhand anderer, allgemeingültiger Kriterien. Für eine 129 130 131 132 133
BGH NJW 1980, 537. BGH NJW 1995, 602. BGH NJW 2004, 1466 (1467). Neumann, JR 2002, 471 (471). Vgl. etwa BGH NJW 2004, 1466 (1467 f.); NJW 2006, 1008 (1011 f.).
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individuelle Betrachtung scheint zunächst der Wortlaut des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB zu sprechen, wonach der Täter „aus niedrigen Beweggründen“ gehandelt haben muss. Die Präposition „aus“ bringt allerdings lediglich zum Ausdruck, dass das jeweilige Motiv den Täter zur Tat bestimmt. Dies besagt indes weder etwas über die sittliche Beurteilung der Motivation noch über die hierfür maßgebliche Perspektive. Vor allem muss nicht gerade die Niedrigkeit seines Beweggrundes für den Täter die treibende Kraft hinter seinem Tatentschluss bilden. Ebenso wenig lässt sich aus dem Charakter der niedrigen Beweggründe als subjektives Mordmerkmal ableiten, ihre Verwirklichung ausschließlich aus einer subjektiven Sicht und ohne jeglichen Rückgriff auf objektive Kriterien zu prüfen. Die insoweit trügerische Bezeichnung „subjektives Mordmerkmal“ bedeutet nur, dass Anknüpfungspunkte in der Person des Täters – und beispielsweise nicht die Art und Weise der Ausführung der Tat – den besonderen, unrechtserhöhenden Gehalt der Tötung begründen. Treffender bleibt daher der Begriff des täterbezogenen Merkmals. Zugunsten eines objektiven Maßstabs für die Niedrigkeit der Beweggründe spricht, ansonsten den unrechtserhöhenden Charakter des Mordmerkmals, das grundsätzlich lebenslange Freiheitsstrafe nach sich zieht, nicht erklären zu können. Entschiede allein die subjektive Sicht, läge ein Mord schon dann vor, wenn lediglich der Täter selbst seinen Beweggrund als niedrig erachtet. Ob die inländische Rechtsgemeinschaft seine Motivation für nicht besonders verwerflich bzw. sogar für verständlich hält, wäre hingegen unerheblich. Als Beispiel sei auf einen Täter verwiesen, der sich nach jahrelangen Bedrohungen und Misshandlungen durch seinen Ehepartner nicht anders als durch dessen Tötung zu helfen weiß,134 seine Motive aber völlig verachtet, weil er dadurch seine Pflichten als verheiratete Person gröblich zu verletzen meint. Die subjektive Bewertung des Täters den Ausschlag geben zu lassen, hätte somit zur absurden Folge, eher diejenigen zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen, die selbstkritisch den Tatanlass hinterfragen und sich dadurch näher am grundsätzlich strafmildernden Umstand der Reue bewegen. Umgekehrt bliebe denjenigen Tätern eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen von vornherein erspart, die sich in unkritischer Verblendung oder selbstgerechtem Wahn zur Tötung eines Menschen entschließen. Jeweils auf die Anschauungen des Täters abzustellen, riefe zudem eine Unmenge von Bewertungsmaßstäben hervor, anhand derer die Niedrigkeit seiner Motivation zu bemessen wäre. Hiergegen bleiben bereits rein praktische Erwägungen wie eine erschwerte Beweisfindung vor Gericht einzuwenden. Vor allem erscheint eine derartige Vielfalt von Bewertungsmaßstäben jedoch unter dem Blickwinkel der anzustrebenden Gleichheit vor dem Gesetz bedenklich. Es wird 134 Vgl. die Haustyrannen-Fälle in BGHSt 48, 255; BGH NJW 1983, 2456; NStZ 2005, 154.
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daher zu Recht darauf verwiesen, dies könne bei mehreren Beteiligten aus verschiedenen Kulturen an ein und derselben Tat trotz identischen Motivs zu objektiv unterschiedlichen Ergebnissen führen – je nachdem, ob der jeweilige Beteiligte selbst seinen Beweggrund infolge seiner kulturellen Prägung als besonders verwerflich empfinde oder nicht.135 Für einen objektiven und allgemeingültigen Maßstab spricht nicht zuletzt der Vergleich mit den ausdrücklich benannten, anderen niedrigen Beweggründen des § 211 Abs. 2 Gr. 1 StGB. Die Mordmerkmale der Mordlust, der Befriedigung des Geschlechtstriebs sowie der Habgier ziehen auch dann die lebenslange Freiheitsstrafe nach sich, wenn die betreffende Motivation in den Kreisen des Täters nicht als besonders verwerflich angesehen wird. Wird etwa ein Tötungsdelikt im rücksichtslosen Streben nach Gewinn um jeden Preis136 begangen, so dürfte niemand einen Mord deswegen verneinen, weil der Täter einem Umfeld entstammt, das materiellen Wohlstand zum primären Lebensziel erklärt und daher die tatbestimmende Habgier nicht als sittlich verachtenswert beurteilt. Wenn sich aber die ausdrücklich benannten Mordmerkmale der ersten Gruppe jeweils an einem objektiven Maßstab orientieren und die sittliche Bewertung durch den Täter(kreis) außer Acht lassen, dann kann nichts anderes für das Auffangmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe gelten.137 Kann demnach bislang festgehalten werden, die Niedrigkeit der Beweggründe aus objektiver Perspektive bestimmen zu müssen, stellt sich sodann die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des allgemeingültigen Bewertungsmaßstabs. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum138 verweist insoweit in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland.139 Diese Ansicht verdient grundsätzlich Zustimmung, da mangels gesetzlicher Anknüpfungspunkte für den Rückgriff auf andere kulturelle Wertvorstellungen nahe liegt, dass sich der Gesetzgeber durch die Anschauungen der inländischen Gesellschaft leiten lassen wollte. Dem Täter wird dadurch auch nicht vorgeworfen, sich nicht in die Gesellschaft integriert zu haben. Die Straferhöhung bei einer Tötung aus niedrigen Beweggründen beruht darauf, dass der Täter aus einem – nach der Bewertung der inländischen Rechtsgemeinschaft – besonders verwerflichen Motiv gehandelt hat. Warum er sich hiervon leiten ließ, bleibt dagegen unerheblich und kann ebenso auf anderen Gründen als seinen kulturellen Wertvorstellungen bzw. seiner fehlen135
Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 124. BGHSt 10, 399 (399); 29, 317 (317 f.); BGH NJW 1981, 932 (932); NJW 2001, 763 (763); Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 8; Wessels/Hettinger, Rdn. 94b. 137 Valerius, JZ 2008, 912 (916). 138 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 121. 139 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 94 und 98. 136
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den Integration beruhen.140 Der Vorwurf eines niedrigen Beweggrundes offenbart mit Schneider und Trück also keine Intoleranz gegenüber Fremden.141 Für die Verwirklichung der objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals kommt es vielmehr weder auf das Fremdsein noch auf die kulturelle Prägung des Täters an. Noch nicht entschieden ist damit, inwieweit – vor allem im Zeitalter zunehmender Multikulturalität – andere kulturelle Wertvorstellungen bei der notwendigen Konkretisierung des Bewertungsmaßstabes „Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft“ von Bedeutung sind. So möchte Köhler abweichende Auffassungen lediglich dann als niedrig beurteilen, wenn sie keinen gewissen ethischen Allgemeinheitsanspruch erheben dürfen bzw. sich mit der hiesigen Rechtsgemeinschaft nicht mehr vereinbaren lassen. Im Ergebnis bedeutet dies wohl eine möglichst weitgehende Berücksichtigung der heimatlichen Vorstellungen des Täters, der ansonsten von vornherein aus der – durch die Werte der (gesamten) Gesellschaft geprägten – Rechtsgemeinschaft herausfiele.142 Indes erscheint eine derart umfassende Beachtung vor dem Hintergrund der ausdrücklich benannten Mordmerkmale der ersten Gruppe fraglich. Da der Gesetzgeber die Mordlust, die Befriedigung des Geschlechtstriebs sowie die Habgier exemplarisch als niedrige Beweggründe aufgeführt und sich insoweit an den Vorstellungen der hiesigen Gesellschaft orientiert hat, können hiervon abweichende Anschauungen auch bei der Auslegung des Auffangmerkmals der niedrigen Beweggründe kaum berücksichtigt werden. Jemanden aus fiskalischen Erwägungen (z. B. wegen einer hoch dotierten Lebensversicherung) zu töten, qualifiziert demnach den Totschlag selbst dann zum Mord, wenn in sämtlichen anderen Kulturen dem Leben nicht die ihm nach der inländischen Rechtsordnung zu bescheinigende Unveräußerlichkeit zugesprochen würde. Die von Köhler angesprochene Grenze der Nichtvereinbarkeit mit den Vorstellungen der hiesigen Rechtsgemeinschaft hat der Gesetzgeber also durch die explizite Benennung dreier Motive bereits konkretisiert. Die Normierung und die Gesamtschau der drei äußerst unterschiedlichen Mordmerkmale ergeben zudem, dass die Definition niedriger Beweggründe als Motive, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen,143 entgegen nahe liegender Interpretation keine allzu enge Auslegung erfordert, mithin mehrere und durchaus verschiedene Beweggründe dem Superlativ der Begriffsbestimmung gerecht werden. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, was jedenfalls im Ergebnis eine Annäherung an die Ansicht Köhlers bedeutet, dass sich die Anschauungen der Gesell140
Vgl. Grünewald, NStZ 2010, 1 (5). Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94; Trück, NStZ 2004, 497 (497), der darüber hinaus dem Täter „durch seine Verletzung des sozialethischen Minimums eine höchst intolerante Haltung gegenüber den gemeinschaftsbildenden Grundsätzen derjenigen Rechtsgemeinschaft, deren Aufnahmebereitschaft er in Anspruch nimmt“, attestiert. 142 Köhler, JZ 1980, 238 (240). 143 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 2. 141
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schaft stetig ändern. Dementsprechend erweist sich das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“ als dynamisch. Die Wertvorstellungen anderer Kulturen und Kulturkreise vermögen sich mittel- oder langfristig auf den an die Niedrigkeit einer Tötungsmotivation anzulegenden Bewertungsmaßstab auszuwirken, sofern sie Eingang in das herrschende Wertegefüge finden und sich im kulturellen Dialog zu behaupten wissen. Festgemacht an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind also die „Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland“ 144 entscheidend, d. h. das Wertegefüge der gesamten in Deutschland lebenden (in- und ausländischen) Bevölkerung, die als Einheit der inländischen Rechtsordnung unterworfen ist.145 Maßgebend sind schließlich die Anschauungen der Rechtsgemeinschaft, nicht die einer etwaigen Kulturgemeinschaft, sofern sich eine solche Gruppe mit einheitlichen Wertanschauungen überhaupt bilden ließe. Grenzen für die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wandels werden also erst zu ziehen sein, wenn entweder die Verwerflichkeit der drei ausdrücklich in der ersten Gruppe benannten Mordmerkmale oder elementare, grundgesetzlich verankerte Werte (wie z. B. die Menschenwürde und das darauf beruhende Selbstbestimmungsrecht) in der Gesellschaft ihre Anerkennung verlieren sollten.146 Eine Antwort schuldig bleiben müssen diese Ausführungen auf das nach wie vor ungelöste Problem, wie die Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft überhaupt ermittelt werden können. Eine allgemeingültige sittliche Würdigung entpuppt sich nicht erst in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft als Illusion.147 Es fehlen also eindeutige Referenzen für die vorzunehmende Wertung, die der Tatrichter daher vielfach unbewusst durch sein eigenes, wiederum durch seine persönliche kulturelle Prägung beeinflusstes Rechtsgefühl ersetzen wird. Die Folge ist ein alles andere als befriedigender Zustand, der in Anbetracht der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Bestimmtheit der Mordmerkmale148 bereits den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit hervorrief.149 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe einen nicht unerheblichen Überarbeitungs- und Konkretisierungsbedarf offenbart, der sich angesichts der kulturellen Pluralisierung zusätzlich erhöht.
144
Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 94 und 98 (Hervorhebung durch den Verfas-
ser). 145
Vgl. Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 94; Köhne, Jura 2008, 805
(808). 146
Vgl. schon Köhler, JZ 1980, 238 (240). Köhne, Jura 2008, 805 (808 f.); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (419); siehe auch die Nachweise in Teil 2 Fn. 44. 148 BVerfGE 45, 187 (267). 149 Zuletzt Mitsch, JZ 2008, 336 (337 ff.); zur Thematik ferner Sinn, SK-StGB, § 211 Rdn. 21; Köhne, Jura 2008, 805 (809 f.). 147
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bb) Bewertungsgrundlage Als Bewertungsmaßstab sind nach den vorstehenden Ausführungen die Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft heranzuziehen. Die Tötung eines Menschen, die der Wiederherstellung der Familienehre dient – sei es ein Ehrenmord im engeren Sinne nach der Begriffsbestimmung des Bundeskriminalamts oder eine Tat der Blutrache –, stellt demnach in der Regel einen Mord aus niedrigen Beweggründen dar. Bei sämtlichen Tötungsdelikten, also auch solchen ohne anderen kulturellen Hintergrund, bleibt jedoch zu beachten, dass der Anlass einer Tat nicht stets den eigentlichen Beweggrund des Täters bildet. Verdeutlicht werden kann dies an dem Auftragskiller, der in der Regel nur aus Habgier im Hinblick auf seine Entlohnung handelt, unabhängig davon, welche gegebenenfalls kulturell geprägten Motive den Auftraggeber dominieren. Bei den sogenannten Ehrenmorden ist dementsprechend denkbar, dass die damit an sich beabsichtigte Wiederherstellung der Familienehre den Täter nicht bei der Ausführung der Tat beherrscht. Ehrenmorde beschließt in patriarchalischen Gesellschaften zumeist der Familienrat, d. h. eine Versammlung der älteren Familienangehörigen, die zugleich die zur Tötung verpflichtete Person bestimmt. In dem häufigen Fall einer vermeintlichen Ehrminderung durch ein jüngeres und unverheiratetes weibliches Familienmitglied werden in der Regel der Bruder oder der Vater des späteren Opfers zur Tat auserkoren.150 Der vorgesehene Täter muss die Wertvorstellungen seiner Familie also nicht zwingend teilen und begeht die Tat unter Umständen erst nach anfänglichem Zögern. In einer solchen Konstellation erscheint fraglich, ob ihn tatsächlich das Anliegen, die Familienehre wiederherzustellen, zur Tötung seiner Verwandten motiviert oder nicht vielmehr die ausgeprägte Erwartungshaltung der übrigen Familie, die sich mitunter in intensivem Bedrängen oder der Ausübung sonstigen Drucks äußert. Bei einem Motivbündel des Täters gibt allein der bewusstseinsdominante Beweggrund den Ausschlag, welcher der Tat ihr Gepräge verleiht.151 Nur er bleibt dem Sittlichkeitsurteil zu unterziehen und bestimmt somit die Einordnung des Geschehens als Totschlag oder als Mord aus niedrigen Beweggründen. Wird der Täter durch Druck von außen zur Tatausführung bestimmt, dürfte das eigentliche Ziel der Tat, die Ehre der Familie wiederherzustellen, dann in den Hintergrund treten, wenn der auf den Täter wirkende Zwang die Entscheidung für oder wider die Tatbegehung maßgeblich beherrscht. In der Regel setzt dies voraus, dass der Täter die Ehranschauungen seiner Familie zumindest nicht vorbehaltlos teilt und 150 Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 4 und 25 f.; vgl. auch Bundeskriminalamt, Ehrenmorde in Deutschland, S. 5 und 15. 151 BGH NJW 1981, 1382 (1382); NStZ 2006, 338 (340); NStZ-RR 2007, 111 (111); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 31; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 23; Lackner/ Kühl, § 211 Rdn. 5c; Neumann, NK, § 211 Rdn. 31; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 77; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 21; Wessels/Hettinger, Rdn. 97.
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er daher die Tat im Verhältnis zu ihrem eigentlichen Anlass nicht nachvollziehen kann. Allein das Unbehagen, ein eigenes Familienmitglied zu töten, genügt jedenfalls nicht, eine etwaige Erwartungshaltung der Familie zum bewusstseinsdominanten Beweggrund der Tat zu erklären. Entlarvt sich nach diesen Grundsätzen die auf den Täter lastende Drucksituation als tatbeherrschendes Motiv, bedeutet dies allerdings nicht von vornherein den Ausschluss eines niedrigen Beweggrundes. Insbesondere wer einen Ehrenmord aus dem als verbindlich erfahrenen Gefühl begeht, seine Familie nicht zu enttäuschen, handelt nach wie vor aus einem niedrigen Beweggrund, da er dann deren Beweggründe in fehlender Selbstbehauptung akzeptiert und sich letztlich zu eigen macht.152 Etwas anderes gilt hingegen, wenn sich der Täter infolge der Beeinflussung durch den Familienrat oder durch sein gesellschaftliches Umfeld in einer derartigen Zwangslage befindet, in der ihm lediglich die Wahl bleibt, sich entweder dem auf ihn ausgeübten Druck zu beugen und die Tötung widerwillig zu vollziehen oder dem Zwang zu widerstehen und ihm angedrohte Folgen zu tragen. Von welcher Art und welcher Intensität die dem Täter angekündigten Konsequenzen sein müssen, damit sein Beweggrund nicht als niedrig erscheint, richtet sich nach den konkreten Umständen der Tat. Die im Einzelfall vorzunehmende Trennung zwischen dem eigentlichen Anlass der Tat und der bewusstseinsdominanten Motivation des Täters verdeutlicht ein Sachverhalt, über den der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 20. Februar 2002153 zu entscheiden hatte. Ein kurdischer Vater lehnte die Hochzeitswünsche seiner Tochter ab, weil ihr Lebensgefährte der – in Deutschland vereinsrechtlich verbotenen – Arbeiterpartei Kurdistans (Partya Karkeren Kurdistan; PKK) angehörte und seit einer Verletzung, die er im bewaffneten Kampf der PKK in der Türkei erlitt, querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gebunden war. Der Vater war der Ansicht, dass ein Behinderter nicht der richtige Mann für seine Tochter sei und ein PKK-Mitglied ohnehin nicht heiraten dürfe. Deswegen fühlte er sich in seiner Ehre verletzt und verlangte von dem Gebietsverantwortlichen der PKK die Wiederherstellung seiner Ehre. Nachdem mehrere Versuche scheiterten, die Beziehung zu beenden, befahl der Gebietsverantwortliche insgesamt drei aktiven Sympathisanten, das – zwischenzeitlich nach islamischem Recht verheiratete – Paar zu töten. Die Angeklagten waren zwar über den Tötungsbefehl konsterniert, weil die Zielperson für sie als Kriegsheld galt. Sie unterwarfen sich aber dem Befehl, nachdem sie ihn nicht abwenden konnten. Die Tochter des vermeintlich entehrten Vaters wurde daraufhin im Schlick des Weserufers erstickt, während ihr Ehemann unter anderem mit einem Radmutterschlüssel elfmal gegen den Kopf geschlagen und zweimal mit einem Pkw überfahren wurde. Trotz der Konfliktsituation, in der sich die beiden Angeklagten befanden, hat der Bundesgerichtshof niedrige 152 153
Vgl. BGHSt 47, 128 (131); BGH NJW 1994, 395 (395); Kriminalistik 1994, 127. BGH NStZ 2002, 369.
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Beweggründe als nahe liegend erachtet, weil sie für den Fall der Nichtausführung des ihnen erteilten Tötungsbefehls schlimmstenfalls mit einem Ansehens- und Ehrverlust rechnen mussten.154 Dem Bundesgerichtshof ist sowohl darin, die konkreten Folgen für die Bewertung heranzuziehen, als auch in dem gefundenen Ergebnis grundsätzlich zuzustimmen. Klarstellend darf jedoch hinzugefügt werden, dass bei dieser Beurteilung wiederum die Perspektive der inländischen Rechtsgemeinschaft den Ausschlag gibt und nicht etwa, ob der Täter selbst die ihm drohenden Konsequenzen aufgrund seiner heimatlichen Anschauungen als gravierend empfindet. Ansonsten würden nämlich wiederum die Vorstellungen seiner Kultur zum entscheidenden Maßstab erhoben.155 Der Stellenwert des drohenden Ansehens- und Ehrverlusts richtet sich daher ausschließlich nach den im Inland herrschenden Wertvorstellungen als einheitlichem Bewertungsmaßstab. Bei der Ermittlung der äußeren Umstände, also der Bewertungsgrundlagen, die im Rahmen der notwendigen Gesamtwürdigung zu beurteilen sind, bleiben allerdings die kulturellen Besonderheiten zu beachten. In dem vorstehenden Fall hätte etwa berücksichtigt werden müssen – der Bundesgerichtshof musste insoweit nicht selbst entscheiden und hat die Sache zurückverwiesen –, welche konkreten Folgen der Ansehens- und Ehrverlust für die Täter mit sich bringt und welches Ausmaß der auf sie wirkende Druck dadurch letztlich annimmt. Ginge damit beispielsweise eine derart ausgeprägte soziale Ächtung der Täter einher, dass sie auf Dauer aus der in ihrem Leben zentralen Gemeinschaft ausgeschlossen wären und nur noch als gesellschaftliche Außenseiter gälten,156 kann die widerwillige Ausführung der Tat kaum noch als besonders verwerflich angesehen werden. Sich dem ausgeübten Druck zu beugen, wird jedenfalls dann nicht als niedrig zu beurteilen sein, wenn den Tätern annähernd gleichermaßen schlimme Konsequenzen wie dem Opfer drohen, sei es in Form von körperlichen Übergriffen oder sogar ihrer Tötung.157 cc) Ergebnis Bei dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe ist zwischen dem anzulegenden Bewertungsmaßstab und den danach zu beurteilenden Bewertungsgrundlagen zu differenzieren. Für den Bewertungsmaßstab sind allein die Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft entscheidend. Hiervon abweichende 154 BGH NStZ 2002, 369 (370); vgl. auch BGH, Urteil vom 5. 9. 2007, Az. 2 StR 306/07, Rdn. 25. 155 Valerius, JZ 2008, 912 (916). 156 Siehe hierzu Baumeister, Ehrenmorde, S. 144 ff.; Terre des Femmes, Studie: Ehrenmord, S. 5; zur Einbindung in hierarchische Befehlsstrukturen infolge abweichender kultureller Wertvorstellungen Momsen, NStZ 2003, 237 (237 ff.). 157 Vgl. BGH NStZ 2002, 369 (370); a. A. Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 71.
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Anschauungen anderer Kulturen sowie eine gegebenenfalls abweichende Sicht des Täters bleiben unberücksichtigt. Die Bewertungsgrundlage hingegen, die anhand dieses einheitlichen Bewertungsmaßstabs einem Urteil unterzogen wird, steht kulturellen Einflüssen offen. Demnach kann die kulturelle Prägung des Täters bzw. seines Umfeldes mittelbar zu beachten sein, z. B. wenn sich der Täter unter einem derart intensiven Druck befindet, dass die Begehung der Tat aus dieser Motivation (auch) nach hiesigen Wertvorstellungen keinen besonders verachtenswerten Beweggrund darstellt. Bei einer derartigen Situation ist demzufolge unerheblich, ob der Täter bei einer Verlegung der Geschehnisse in das hiesige kulturelle Milieu ebenso in eine solche Lage geraten wäre. Der Täter begeht also selbst dann keinen Mord aus niedrigen Beweggründen, falls er in einem durch inländische Anschauungen geprägten Umfeld einer solchen Konfliktsituation nicht ausgesetzt gewesen wäre. Vielmehr bleiben die tatsächlichen Begebenheiten maßgeblich, selbst wenn sie lediglich aufgrund kultureller Besonderheiten in dieser Form entstanden sind. Gleiches gilt für sämtliche sonstigen Umstände des Einzelfalls, unter anderem für die Intensität des ausgeübten Drucks. Wegen des somit nicht auszuschließenden, wenngleich nur mittelbaren Einflusses kultureller Wertvorstellungen erscheint es gerechtfertigt, die (sonst) niedrigen Beweggründe als „kulturoffenes Tatbestandsmerkmal“ zu bezeichnen, d. h. als Merkmal, auf dessen Verwirklichung sich die kulturellen Besonderheiten des Einzelfalls auszuwirken vermögen. Auch bei Tötungsdelikten mit kulturellem Hintergrund sind die Beweggründe der Beteiligten schließlich gesondert zu untersuchen. So kann bei einem Ehrenmord das Familienoberhaupt, das seinen heimatlichen Anschauungen verhaftet bleibt, eine vermeintliche Verletzung der Familienehre tatsächlich zum Anlass nehmen, die Tötung einer eigenen Verwandten anzuordnen, und daher in seiner Person einen niedrigen Beweggrund aufweisen. Bei dem ausführenden Täter ist – etwa bei weitgehender Integration in die hiesige Gesellschaft – hingegen denkbar, dass er lediglich infolge der ihm angedrohten Konsequenzen tätig wird und deswegen selbst gegebenenfalls nicht aus niedrigem Beweggrund handelt. Solche Divergenzen sind nach dem herrschenden Schrifttum, das den Mord nach § 211 StGB als Qualifikation des Totschlags gemäß § 212 StGB versteht,158 über die Tatbestandsverschiebung des § 28 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung, welche nach wie vor die §§ 211 f. StGB als eigenständige Tatbestände betrachtet,159 kann indessen nur § 28 Abs. 1 StGB ange-
158 Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 211 ff. Rdn. 5 f.; Fischer, § 211 Rdn. 6; Jähnke, LK11, Vor § 211 Rdn. 45; Lackner/Kühl, Vor § 211 Rdn. 22; Neumann, NK, Vor § 211 Rdn. 141; Schneider, MünchKomm-StGB, Vor §§ 211 ff. Rdn. 138 f.; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 1; Wessels/Hettinger, Rdn. 69. 159 BGHSt 1, 368 (370 ff.); 6, 329 (330); 50, 1 (5); BGH NStZ 2006, 288 (290). Erste Bedenken hegt hingegen der Beschluss des 5. Strafsenats, NJW 2006, 1008 (1012 f.),
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wendet werden. Verwirklicht wie hier ausschließlich der Teilnehmer ein persönliches Mordmerkmal, verbleibt der Rechtsprechung allenfalls der Ausweg über eine – mit der Teilnahme am (versuchten) Totschlag tateinheitlich begangene – versuchte Anstiftung zum (versuchten) Mord,160 wenn der Teilnehmer den Täter zur Tat bestimmt und dabei irrigerweise dessen Motivation annimmt, die Familienehre wiederherzustellen. In der Praxis wurden solche Fallgestaltungen, soweit ersichtlich, allerdings noch nicht entschieden, da der Täter in der Regel die völlige Verantwortung für die Tat übernimmt und die Beteiligung anderer Familienangehöriger nicht offenbart.161 c) Subjektive Seite eines Mordes aus niedrigen Beweggründen aa) Kenntnis der Beweggründe Subjektive bzw. täterbezogene Mordmerkmale weisen auch eine innere Tatseite auf. Der objektiv vorliegende niedrige Beweggrund bedarf einer Entsprechung in der Person des Täters, da es ansonsten am personalen Unrecht der Tat fehlte und sich die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip nicht begründen ließe.162 Fraglich ist, ob und gegebenenfalls inwiefern die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bei der subjektiven Tatseite zu berücksichtigen sind. Nach unstreitiger Auffassung muss sich der Täter jedenfalls seiner Beweggründe und somit der tatsächlichen Umstände bewusst sein, die das Unrecht seiner Tat objektiv erhöhen. Der Täter muss daher seine Motivation sowie, insbesondere wenn ein Motivbündel vorliegt, die antreibende Wirkung des ihn bestimmenden (objektiv niedrigen) Beweggrundes für die Begehung der Tat erkennen.163 An diesem Erfordernis wird die Strafbarkeit wegen Mordes allerdings kaum scheitern, da der Täter selbst bei unvermittelten Tötungshandlungen gewöhnlich um den ihn beherrschenden Anlass weiß, wenngleich die Spontaneität wovon sich etwa Rengier, BT II, § 4 Rdn. 1 die „überfällige Wende“ erhofft; zum obiter dictum des Senats auch Küper, JZ 2006, 608 (612 f.). 160 Vgl. BGHSt 50, 1 (10) mit kritischen Anmerkungen Puppe, JZ 2005, 902; Valerius, JA 2005, 682. 161 Exemplarisch darf hier wohl der „Fall Sürücü“ herangezogen werden. Der Täter behauptete, die Tat allein begangen zu haben, und sagte weder gegen seine beiden mitangeklagten Brüder aus noch deckte er die etwaige Beteiligung sonstiger Familienangehöriger auf. Siehe auch Artkämper, Kriminalistik 2008, 616 (617); zur gleichlaufenden Praxis in der Türkei Izol, „Ehrenmorde“ in der Türkei, S. 7 (16), in Jordanien WehlerSchöck, Ehrenmorde in Jordanien, S. 70. 162 BGH NStZ 1993, 281 (281); Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rdn. 37; Neumann, NK, § 211 Rdn. 45; Trück, NStZ 2004, 497 (497). 163 Lackner/Kühl, § 211 Rdn. 5b; Wessels/Hettinger, Rdn. 100; enger Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 96.
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der Tat im Einzelfall die besonders sorgfältige Prüfung der subjektiven Seite des Mordmerkmals gebietet.164 Erst recht bestehen bei vorbereiteten Taten wie gerade bei den Ehrenmorden, denen in der Regel ein Entschluss des Familienrates vorausgeht,165 keine Zweifel an der Kenntnis des Täters seiner Beweggründe. Fraglich ist jedoch, ob der Täter sich nicht nur seiner (tatsächlichen) Beweggründe, sondern auch ihrer (rechtlichen) Bewertung als niedrig bewusst sein muss. Den entscheidenden Bezugsmaßstab bildeten wiederum die Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft. Der Täter müsste demnach wissen, dass seine Motivation nach den hiesigen Anschauungen als besonders verachtenswert beurteilt wird; unbeachtlich bliebe hingegen, wie er selbst seine Beweggründe bewertet. In der Regel wird der Täter seine eigene Einschätzung auf das Urteil der inländischen Rechtsgemeinschaft projizieren, vor allem wenn er seine moralische Haltung nicht hinterfragt und ihm die Möglichkeit einer abweichenden Beurteilung verborgen bleibt. Weiß der Täter indes um die Verschiedenheit seiner heimatlichen Anschauung und der hiesigen Vorstellungen, vermag er die Niedrigkeit seiner Beweggründe aus der inländischen Perspektive zu erkennen, selbst wenn er seine Motivation infolge seiner kulturellen Prägung als ehrenwert empfindet.166 Mit der von der Rechtsprechung zuletzt vertretenen Ansicht wird eine solche Bedeutungskenntnis aber nicht verlangt werden können.167 Ist für die sittliche Bewertung der Beweggründe ein einheitlicher Maßstab in Gestalt der Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland anzulegen, obliegt es ebenso allein dem gesamten Volk, in dessen Namen das Tatgericht entscheidet, die Niedrigkeit eines Tötungsanlasses zu beurteilen. Zudem privilegierte das Erfordernis der Bedeutungskenntnis den selbstgerechten Täter, der sein Handeln in angeeigneter Verblendung als verständlich erachtet und überhaupt keine Bereitschaft zeigt, die Verwerflichkeit seiner Beweggründe zu hinterfragen. Wie der Täter selbst seine Motivation einschätzt, bleibt demzufolge unerheblich. 164 BGH NStZ 1983, 19 (19); NStZ-RR 2000, 333 (333); NStZ 2001, 87 (87); NStZ 2005, 331 (331); NStZ-RR 2006, 234 (234 f.); Fischer, § 211 Rdn. 20; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 35. 165 Vgl. BGH NStZ 1989, 363 (364); Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 35. 166 Vgl. den Mord eines Irakers an seiner wenige Stunden vorher von ihm geschiedenen Ehefrau, der Ende 2007 vor dem LG München verhandelt wurde: Der Täter verachtete die deutsche Rechtsordnung, die Frauen Rechte gewähre, und warf den Behörden und der Justiz vor, diese Rechte zu schützen. Als Schlusswort hielt er fest, sehr froh zu sein, die Tat begangen zu haben, Frankfurter Rundschau vom 12. 10. 2007, S. 6. 167 So neben der Rechtsprechung (Nachweise in Teil 2 Fn. 108) Schönke/Schröder/ Eser, § 211 Rdn. 38; Fischer, § 211 Rdn. 82; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 33; Lackner/ Kühl, § 211 Rdn. 5b; Neumann, NK, § 211 Rdn. 44; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 96; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 40; Wessels/Hettinger, Rdn. 100; Dietz, NJW 2006, 1385 (1387); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (429); kritisch gegenüber der Differenzierung zwischen tatsächlichem Beweggrund und rechtlicher Wertung Jakobs, ZStW 118 (2006), 831 (837 Fn. 26).
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Diesbezügliche Fehlvorstellungen führen zu einem unbeachtlichen Subsumtionsirrtum, welcher der Strafbarkeit wegen Mordes nicht entgegensteht. bb) Beherrschbarkeit der (niedrigen) Beweggründe Wegen der Entbehrlichkeit der Bedeutungskenntnis ist zwar nicht erforderlich, dass der Täter zum Zeitpunkt der Tat um die Niedrigkeit seiner Motivation nach dem Urteil der inländischen Rechtsgemeinschaft weiß. Nach der Rechtsprechung muss der Täter zu einer solchen Wertung jedoch zumindest imstande sein, da er sich ansonsten nicht von der Beurteilung seiner Beweggründe als besonders verachtenswert und somit nicht von der Erkenntnis leiten lassen könne, infolge seiner Motive erhöhtes Unrecht zu verwirklichen. Der Täter müsse also in der Lage sein, die gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen, soweit sie bei der Tat eine Rolle spielen (und die Niedrigkeit seiner Beweggründe hervorrufen), gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.168 Mit diesen Ausführungen versucht die Rechtsprechung, kulturelle Anschauungen im Rahmen der Schuld zu berücksichtigen. Um eine Tat schuldhaft zu begehen, muss der Täter das Unrecht seines Tuns begreifen und nach der gewonnenen Unrechtseinsicht handeln können. Ohne eine solche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit darf ihm sein – in seinem Unrechtsgehalt nicht erfass- bzw. kontrollierbares – Verhalten nicht vorgeworfen werden und der Gesinnungsunwert der Tat entfiele. Demnach kommt eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen nicht in Betracht, wenn der Täter die besondere Verwerflichkeit seiner Tötungsmotivation von vornherein nicht zu erkennen vermag bzw. sich trotz etwaiger Bedenken ihrem maßgeblichen Antrieb für den Tötungsentschluss nicht zu entziehen weiß. Das sogenannte Motivationsbeherrschungspotential169 wird indessen nur „ausnahmsweise“ 170 zu verneinen sein, z. B. wenn der Täter seinen heimatlichen Anschauungen strikt verhaftet bleibt und die inländischen Wertvorstellungen weder aufnehmen noch nachvollziehen kann.171 Für eine derartige Bindung an seine Moralmaßstäbe wird im speziellen Fall der Ehrenmorde eine größere Wertschät168 Für die Rechtsprechung siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 109 ff.; aus dem Schrifttum Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 34; Schönke/Schröder/Eser, § 211 Rdn. 39; Fischer, § 211 Rdn. 82; Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 34; Lackner/Kühl, § 211 Rdn. 5b; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 98; Sinn, SK-StGB, § 211 Rdn. 28; Rengier, BT II, § 4 Rdn. 40; Wessels/Hettinger, Rdn. 100; Dietz, NJW 2006, 1385 (1386); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (429); Varol, Ehre und Ehrenmord im deutschen und türkischen Recht, S. 397 (412). 169 Vgl. hierzu Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 98 ff.; aus forensischpsychiatrischer Sicht Dannhorn, NStZ 2007, 297 (300 ff.). 170 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 113. 171 Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 95; vgl. auch Küper, JZ 2006, 608 (611).
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zung von Kollektiven wie Familien und Gemeinschaften allein nicht genügen. Vielmehr muss ihnen ein solch hoher Stellenwert eingeräumt werden, dass sich gesellschaftliche Anerkennung und ethische Bewertung eines Lebenswandels wesentlich nach der Familien- oder Gemeinschaftsehre bemessen. In diesem Fall mag dem Täter dann zwar die Tötungshandlung (und somit der Totschlag), nicht aber die Niedrigkeit seiner Beweggründe (und demzufolge der Mord) zum Vorwurf erhoben werden. Die Schuld des Täters muss sich insoweit lediglich auf den eigenständigen Unrechtsgehalt beziehen, der in der Tötung aus niedrigen Beweggründen gemäß § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB liegt, nicht hingegen auf das mit der Begehung eines jeden Tötungsdelikts verbundene Unrecht.172 Der von der Rechtsprechung eingeschlagene Weg über die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist indes nicht unbedenklich. Durch den damit verbundenen Rückgriff auf die Vorschriften der §§ 20 f. StGB zur (verminderten) Schuldfähigkeit173 werden kulturelle Wertvorstellungen nämlich auf eine Stufe mit einer seelischen Störung gestellt, namentlich mit – so der Wortlaut des § 20 StGB – „einer krankhaften seelischen Störung, [. . .] tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, [. . .] Schwachsinn[s] oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit“. Dies ruft Erinnerungen an die frühen Entscheidungen der Rechtsprechung aus der ersten Phase wach, welche die Prägung durch heimatliche Anschauungen als Persönlichkeitsmangel deklarierten.174 Die kulturelle Prägung des Täters auf diese Weise als Krankheitsbild einzuordnen bzw. ihn wegen seiner kulturellen Identität für therapiebedürftig zu erklären, bedeutete eine nicht hinnehmbare Missachtung anderer Kulturen.175 cc) Unrechtsbewusstsein Anstatt die Vorschriften der §§ 20, 21 StGB zu bemühen und dadurch zwischen den Zeilen die eigenen Anschauungen als „gesund“, überlegen und einzig vernünftig festzuschreiben, erscheint ein anderer Lösungsweg auf der Ebene der Schuld vorzugswürdig. Im Schrifttum wurde bereits verschiedentlich erwogen, die kulturellen Wertvorstellungen des Täters im Rahmen des Unrechtsbewusst172
BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 2, S. 2. Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 34; Neumann, NK, § 211 Rdn. 45; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 195; von Gerkan, Niedrige Beweggründe, S. 52; Neumann, JR 2002, 471 (473); Saliger, StV 2003, 22 (23); Trück, NStZ 2004, 497 (499); vgl. auch Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 99 f.; kritisch Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdn. 42. 174 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 81. 175 Neumann, NK, § 211 Rdn. 30a; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 195; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 92; Waldhoff, S. D 168; Valerius, JZ 2008, 912 (918); siehe ferner Fabricius, StV 1996, 209 (211); Saliger, StV 2003, 22 (24): „diskriminierende Tendenz zur Pathologisierung“; Wörner, Zur gesellschaftlichen Verankerung von Rechtsnormen, S. 489 (520 Fn. 162). 173
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seins gemäß § 17 StGB zu berücksichtigen.176 Der Bundesgerichtshof hat sich hingegen mit diesem Ansatz noch nicht auseinandergesetzt. Dies überrascht, da – bezogen auf Fälle fehlender Unrechtseinsicht – die Regelungen des § 17 StGB und der §§ 20, 21 StGB eine gewisse Verwandtschaft aufweisen und zu denselben Rechtsfolgen gelangen. Das Unrechtsbewusstsein stellt ein selbstständiges Element der Schuld dar und setzt das Bewusstsein des Täters voraus, gegen die Rechtsordnung zu verstoßen, also Unrecht zu begehen.177 Bei dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe muss der Täter etwa zum Zeitpunkt der Tat erkennen, dass seine Motive dem begangenen Tötungsdelikt einen zusätzlichen Unrechtsgehalt verleihen. Den Anknüpfungspunkt bildet also nicht das mit der Begehung jedes Tötungsdelikts verwirklichte Unrecht, sondern der eigenständige Unwert, den die Vornahme der Tötung aus einem besonders verachtenswerten Beweggrund beinhaltet. Ein aktuelles Unrechtsbewusstsein während der Begehung der Tat ist nicht erforderlich. Der Täter handelt nicht allein deswegen ohne Schuld, weil er seine Beweggründe tatsächlich nicht als niedrig bewertet. Vielmehr genügt bereits das sogenannte potentielle Unrechtsbewusstsein, d. h. die bloße Möglichkeit, die Einsicht in das Unrecht der Tat zu gewinnen. Auch derjenige handelt also schuldhaft, der zum Zeitpunkt der Tat den besonderen Unwert seiner Motive und somit den erhöhten Unrechtsgehalt des von ihm begangenen Tötungsdelikts hätte erkennen können.178 Die Folgen eines Verbotsirrtums richten sich gemäß § 17 StGB nach seiner Vermeidbarkeit. Vermag der Täter sein fehlendes Unrechtsbewusstsein in Bezug auf seine niedrigen Beweggründe nicht zu vermeiden, handelt er gemäß § 17 Satz 1 StGB ohne Schuld. Die Strafbarkeit wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen entfällt daher, so dass der Täter – sofern keine sonstigen Mordmerkmale vorliegen – lediglich einen Totschlag nach § 212 StGB verwirklicht. Ist der Irrtum für den Täter dagegen vermeidbar, verbleibt es bei der Strafbarkeit wegen Mordes. Allerdings kann die Strafe nach § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden, was an Stelle der lebenslangen eine zeitige Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren treten ließe (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB).
176 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 196; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 83 ff.; Artkämper, Kriminalistik 2008, 616 (619); Fabricius, StV 1996, 209 (211); Grünewald, NStZ 2010, 1 (9); Hilgendorf, JZ 2009, 139 (141); Köhler, JZ 1980, 238 (240 Fn. 16); Nehm, in: Festschrift Eser, S. 419 (426); Schulz, NJW 2005, 551 (554); Valerius, JZ 2008, 912 (918); vgl. auch Jähnke, MDR 1980, 705 (709); Momsen, NStZ 2003, 237 (242); Trück, NStZ 2004, 497 (498). 177 Allgemein zum Unrechtsbewusstsein bei Tätern mit anderem kulturellen Hintergrund siehe Teil 3 Kap. 5. 178 BGHSt GrS 2, 194 (201 f.); Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 34; Neumann, NK, § 17 Rdn. 53; Kindhäuser, AT, § 28 Rdn. 11; Wessels/Beulke, Rdn. 429.
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Ein fehlendes Unrechtsbewusstsein erweist sich nach der Rechtsprechung jedoch nur unter engen Voraussetzungen als unvermeidbar. Demnach dürfte der Täter den Unrechtsgehalt seines Handelns trotz des ihm nach den Umständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seinem Lebens- und Berufskreis zumutbaren Einsatzes seiner geistigen Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen – von der Rechtsprechung oftmals als Anspannung des Gewissens verbildlicht179 – nicht erkannt haben. Eine solche Ausnahmesituation wird bei kulturell geprägten Delikten vornehmlich dann gegeben sein, wenn der Täter seinen heimatlichen Anschauungen verhaftet bleibt und mangels Integration in die inländische Gesellschaft sowie mangels Kontakts zu dem hiesigen Wertesystem keinen Anlass sieht, seine Wertvorstellungen zu hinterfragen. Über die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums entscheidet aber nicht allein die Isolation des Täters. Dies gilt vor allem dann, wenn er sich schon seit geraumer Zeit im Inland aufhält oder sich im Bewusstsein der kulturellen Unterschiede für ein Festhalten an seinen heimatlichen Anschauungen entscheidet. In diesen Fällen bleibt ihm zuzumuten, sich über die wesentlichen Grundlagen der von ihm abgelehnten kulturellen Gemeinschaft zu informieren, zu denen nicht zuletzt das Selbstbestimmungsrecht des Individuums zählt, welches die Ehrenmorde gerade nicht respektieren.180 Diesbezüglich bleibt in der Regel also ein auf anderen Wertvorstellungen beruhender Verbotsirrtum vermeidbar und eröffnet lediglich den Weg zu einer fakultativen Strafmilderung nach §§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der hier vertretene Ansatz, die von den hiesigen Anschauungen abweichenden kulturellen Wertvorstellungen des Täters im Hinblick auf das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe über die Grundsätze des Verbotsirrtums in § 17 StGB zu berücksichtigen, setzt allerdings voraus, ein Unrechtsbewusstsein nicht nur bezüglich unrechtsbegründender, sondern auch bezüglich unrechtserhöhender Merkmale anzuerkennen. Die Rechtsprechung lehnt dies ab. Es entspricht zwar allgemeiner Auffassung, die Einsicht in das Unrecht für jeden Straftatbestand gesondert feststellen zu müssen.181 Für das Verhältnis zwischen Grundtatbestand und Qualifikation scheide eine Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins jedoch aus, 179
BGHSt GrS 2, 194 (201); 4, 1 (5); 9, 164 (172); 21, 18 (20); 22, 314 (317). Im Ergebnis wie hier Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 95; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 87 ff.; Hilgendorf, JZ 2009, 139 (141); vgl. auch Fischer, § 211 Rdn. 29b; zurückhaltend dagegen Saliger, StV 2003, 22 (25), der von einer „Quasi-Unvermeidbarkeit der Verwurzelung in der heimatlichen Vorstellungswelt“ spricht. Zu den allgemeinen Anforderungen an die Erkundigungspflicht eines Angehörigen aus einem anderen Kulturkreis siehe Teil 3 Kap. 5 II. 4. c) bb) (3). 181 BGHSt 10, 35 (38 ff.); 22, 314 (318); BGH MDR/Dallinger 1958, 738 (739); NJW 1963, 1931; MDR/Dallinger 1967, 14; StV 1982, 218 (218); NStZ-RR 1996, 24 (25); Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 9; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 6; Neumann, NK, § 17 Rdn. 35; Vogel, LK, § 17 Rdn. 21; Rengier, AT, § 31 Rdn. 9; Wessels/Beulke, Rdn. 428; Walter, Kern des Strafrechts, S. 306; a. A. noch BGHSt 3, 342 (343). 180
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da sich der Täter lediglich über das generelle Verbot seiner Handlung irren könne, wie es bereits im Grundtatbestand zum Ausdruck komme.182 Das Bewusstsein erhöhter Strafbarkeit sei für die Schuld daher unerheblich.183 In der Tat erscheint es bei Qualifikationsmerkmalen fraglich, wie das Bewusstsein bezüglich des dadurch verwirklichten erhöhten Unrechts aussehen soll. Dies betrifft vor allem objektive Qualifikationsmerkmale. Welche zusätzliche Einsicht muss etwa derjenige zeigen, der bei einer Körperverletzung dem Opfer nicht offen gegenübertritt, sondern einen hinterlistigen Überfall gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB verübt? Die deswegen gestiegene Gefahr für das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit vermag die Annahme eines gesonderten Unrechtsbewusstseins kaum zu rechtfertigen. So muss mit einem hinterlistigen Überfall keine schwerere Körperverletzung einhergehen, wenn der Täter es beispielsweise bei einer heftigen Ohrfeige belassen und durch die Hinterlist bloß das Erreichen seines Ziels sicherstellen will. Das bloße Bewusstsein, dadurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers einzuschränken und die Vollendung der Tat zu garantieren, ist eher ein Ausdruck krimineller List, die sich als solche nicht als eigenständiger Bezugspunkt einer Unrechtseinsicht eignet. Ein anderes Bild ergibt sich dagegen bei Qualifikationsmerkmalen, die einen eigenständigen Unrechtsgehalt verkörpern. Dies gilt insbesondere, wenn deren Verwirklichung ein weiteres, vom Grundtatbestand nicht geschütztes Rechtsgut verletzt,184 wie bei der gewaltsamen Wegnahme einer Gattungssache der Raub gegenüber der darin enthaltenen Nötigung.185 Des Weiteren kann die Tat durch das Qualifikationsmerkmal ein anderes Gepräge erhalten und sich nicht darauf beschränken, die Beeinträchtigung des durch den Grundtatbestand geschützten Rechtsguts zu intensivieren. Neumann unterscheidet daher zu Recht zwischen der (zulässigen) sogenannten vertikalen Teilbarkeit bezüglich der Qualität und der (nicht zulässigen) horizontalen Teilbarkeit bezüglich der Quantität des verwirklichten Unrechts.186
182 BGHSt 8, 321 (324) zur Beamteneigenschaft als Straferhöhungsgrund; vgl. ferner BGHSt 42, 123 (130) mit kritischer Anmerkung Seelmann, StV 1996, 672; a. A. BGH StV 1982, 218 (219) für das Verhältnis von § 90a Abs. 1 und Abs. 3 StGB. 183 BGHSt 10, 35 (42); 15, 377 (383). 184 Neumann, NK, § 17 Rdn. 37; Vogel, LK, § 17 Rdn. 22; Neumann, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 83 (98); Warda, NJW 1953, 1052 (1053); enger Zimmermann, NJW 1954, 908 (908). 185 Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 17; Baumann, JZ 1961, 564 (564). 186 Neumann, NK, § 17 Rdn. 37; ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 83 (98); ebenso Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 8; Vogel, LK, § 17 Rdn. 22; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 17; weitergehend Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 9 f., der von einem „partiellen Verbotsirrtum“ spricht, sowie Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 17 f. und Rudolphi, SK-StGB, § 17 Rdn. 8, wonach auch Fehlvorstellungen über die Quantität des verwirklichten Unrechts relevant seien.
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Eine solche vertikale Teilbarkeit bleibt gerade den Mordmerkmalen der ersten Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB zu bescheinigen. Die Tötung eines Menschen aus niedrigen Beweggründen bedeutet jedenfalls keine quantitative Erhöhung des Unrechtsgehalts gegenüber dem einfachen Totschlag, da in das Schutzgut Leben nicht in unterschiedlichem Ausmaß eingegriffen werden kann. Allerdings beschränkt sich die Tötung eines Menschen aus besonders verwerflicher Motivation nicht nur auf eine Beeinträchtigung des Rechtsguts Leben, sondern bedeutet zugleich eine deutliche Herabwürdigung des Tatopfers und seines Stellenwerts als selbstbestimmtes Individuum. Diese Komponente verleiht der Tötung eines Menschen einen Unrechtscharakter von anderer Qualität, sobald sie aus niedrigen Beweggründen begangen wird.187 Auch die Rechtsprechung müsste trotz ihrer kategorisch ablehnenden Position gegenüber der Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins zwischen Grundtatbestand und Qualifikation zu demselben Ergebnis gelangen. Schließlich handelt es sich nach ihrer Auffassung bei Mord und Totschlag um zwei selbstständige Straftatbestände, die nicht im Verhältnis von Grundtatbestand und Qualifikation stehen.188 Zudem hat der Bundesgerichtshof selbst den unterschiedlichen Unrechtsgehalt von Mord und Totschlag hervorgehoben. Speziell für die niedrigen Beweggründe hat er ausdrücklich bemerkt, dass das Mordmerkmal den Unrechtsgehalt der Tötung bestimmt und nicht lediglich die Schuld des Täters erhöht.189 d) Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen bei der Rechtsfolgenlösung Scheidet es bei einem Ehrenmord mangels Verbotsirrtums aus, die kulturellen Wertvorstellungen des Täters zu berücksichtigen, verbleibt nur noch der Weg über die Strafzumessung. Allerdings sieht der Mordtatbestand des § 211 StGB das absolute Strafmaß der lebenslangen Freiheitsstrafe vor und eröffnet somit überhaupt keinen Strafrahmen. Ebenso wenig kann schon wegen seiner amtlichen Überschrift und wegen seines Wortlauts auf den minder schweren Fall nach § 213 StGB zurückgegriffen werden.190 Im Einzelfall führt dies zu unbefriedigenden Ergebnissen, wenn der Täter den durch die Verwirklichung eines Mordmerkmals erhöhten Unrechtsgehalt der Tat durch unrechtsmindernde Umstände zu kompensieren weiß, es dem Gericht gleichwohl nicht offensteht, eine schuldangemessene Strafe zu verhängen. 187
A. A. Neumann, NK, § 211 Rdn. 30a. Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 159. 189 BGHSt 1, 368 (371); vgl. ebenso BGHSt 11, 226 (228). 190 BGHSt 11, 139 (143 f.); 30, 105 (120); Schönke/Schröder/Eser, § 213 Rdn. 3; Fischer, § 213 Rdn. 1; Schneider, MünchKomm-StGB, § 213 Rdn. 2; kritisch Eschelbach, BeckOK-StGB, § 213 Rdn. 27; a. A. in Bezug auf § 213 Var. 1 StGB Maurach/ Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdn. 28. 188
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Mit dieser Problematik beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 1977191 zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe. Es befand zwar die absolute Strafandrohung des § 211 StGB unter bestimmten Voraussetzungen für mit dem Grundgesetz vereinbar. Insbesondere hielt es aber für die Mordmerkmale der Heimtücke und der Verdeckungsabsicht fest, es habe eine verfassungskonforme restriktive Auslegung zu erfolgen, die dem Tatrichter ermögliche, auch im Einzelfall auf eine verhältnismäßige Strafe zu erkennen.192 Die konkrete Umsetzung dieser Vorgaben überließ das Bundesverfassungsgericht den Strafgerichten.193 Bislang wurden jedoch noch keine überzeugenden Interpretationsrichtlinien gefunden, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht würden. Zu vielfältig sind die denkbaren Erscheinungsformen und äußeren Umstände von Tötungsdelikten, als dass – auf einen bestimmten Sachverhalt durchaus anwendbare – Ansätze einer restriktiven Auslegung194 Allgemeingültigkeit erfahren könnten. Der Große Senat des Bundesgerichtshofs hat sich schließlich in seinem Beschluss vom 19. Mai 1981195 der sogenannten Rechtsfolgenlösung zugewandt. Demnach tritt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, d. h. zeitige Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern. Der Große Senat hat diese Lösung auf die zur Entscheidung vorgelegte Heimtücke beschränkt.196 Von einer Übertragung dieser Grundsätze auf andere Mordmerkmale hat die Rechtsprechung bislang keinen Gebrauch gemacht bzw. sogar ausdrücklich abgesehen.197 Die geforderten außergewöhnlichen Umstände hat der Große Senat exemplarisch bei Taten anerkannt, die durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motiviert und in großer Verzweiflung, aus tiefem Mitleid oder aus „gerechtem Zorn“ auf Grund einer schweren Provokation begangen wurden. Gleiches gelte bei Tötungen, denen ständig neu angefachte, zermürbende und vom späteren Opfer verursachte Konflikte oder schwere gemütsbewegende Kränkun-
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BVerfGE 45, 187. BVerfGE 45, 187 (261). 193 BVerfGE 45, 187 (267). 194 Einen Überblick über die unterbreiteten Vorschläge zur Heimtücke gewähren Kargl, StraFo 2001, 365 (369 f.) und Schneider, NStZ 2003, 428 (429 f.). 195 BGHSt GrS 30, 105. 196 BGHSt GrS 30, 105 (119); weitere Entscheidungen zur Anwendung der Rechtsfolgenlösung beim Mordmerkmal der Heimtücke in BGHSt 48, 255; BGH NStZ 1982, 69; NJW 1983, 54; NJW 1983, 55; NJW 1983, 2456; NStZ 1990, 490; NStZ 1995, 231; NStZ-RR 2004, 294; NStZ 2005, 154. 197 Offen gelassen für die Verdeckungsabsicht in BGHSt 35, 116 (127 f.); 41, 358 (363); abgelehnt für die Habgier wegen der ohnehin engen Auslegung des Mordmerkmals von BGHSt 42, 301 (304). 192
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gen durch das Opfer vorangingen.198 Konkret lag dem Beschluss ein Sachverhalt aus einem türkischen Milieu zugrunde, in dem der Angeklagte in einem Lokal auf seinen ins Kartenspiel vertieften Onkel 14 bis 16 Schüsse aus einer Selbstladepistole abgab und ihn tödlich verwundete. Der Onkel hatte zuvor die Ehefrau des Angeklagten vergewaltigt, weswegen sie sich von dem Angeklagten abwendete und dreimal versuchte, sich das Leben zu nehmen. Als der Angeklagte das spätere Opfer auf die Rückzahlung eines Restdarlehens ansprach, drohte es ihm außerdem an, ihn alsbald umzubringen. Der Angeklagte fasste daraufhin den Entschluss, seinen Onkel zu töten, der – so der Bundesgerichtshof – „eine Belastung für ihn und seine Ehe darstellte und [. . .] seine Ehre und die Ehre seiner Frau gröblichst verletzt hatte.“ 199 Die kulturellen Wertvorstellungen der Beteiligten waren hier allerdings nur einer von vielen tatverursachenden Faktoren und wurden vom Großen Senat nicht eigens angesprochen.200 Indes bleibt nicht ausgeschlossen, dass allein die heimatlichen Anschauungen des Täters einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der Rechtsfolgenlösung begründen. Auch der Bundesgerichtshof hat die Rechtsfolgenlösung im Zusammenhang mit kulturellen Wertvorstellungen des Täters in Betracht gezogen. Gegenstand des Urteils des Dritten Strafsenats vom 2. September 1981201 war ein Heimtückemord, dem ein ehewidriges Verhältnis des Tatopfers, der Ehefrau des Angeklagten, zu einem Landsmann vorangegangen war. Als der Angeklagte seine Frau darauf ansprach, beschimpfte und kratzte sie ihn und verglich in Gegenwart anderer Türken die sexuelle Potenz sowie die Geschlechtsteile ihres Ehemannes und ihres Liebhabers. Ferner hielt sie ihm vor, ehrlos und kein Mann zu sein, da er sie nicht töte. Schließlich verlangte sie von ihm, nicht mehr nach Hause zu kommen, weil sie ihn ansonsten töten lassen werde. Der Senat führte aus, der Angeklagte sei „weitgehend den in seiner Heimat herrschenden moralischen und religiösen Vorstellungen verhaftet geblieben“.202 Dies rief – mitbedingt durch die unterschiedliche Anpassung der Eheleute an die deutschen Lebensgewohnheiten – eine starke Eifersucht in dem Angeklagten hervor, die zunehmend Auseinandersetzungen schon vor dem ehewidrigen Verhältnis der Ehefrau auslöste. Des Weiteren spielten religiöse Auffassungen und der Gedanke an seine verletzte Ehre für den Tatentschluss des Angeklagten möglicherweise eine Rolle. Die kulturellen Anschauungen des Täters waren aber allenfalls einer von mehreren Tatanlässen. Der Senat hielt fest, dass ebenso der Gedanke an 198 BGHSt GrS 30, 105 (119); BGH NStZ 1982, 69 (69); NJW 1983, 54 (55); NStZRR 2004, 294 (294); NStZ 2005, 154 (155). 199 BGHSt GrS 30, 105 (107). 200 Vgl. schon Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 99. 201 BGH NStZ 1982, 69. 202 BGH NStZ 1982, 69 (69).
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
die Untreue seiner Ehefrau den Angeklagten am Abend der Tat bewegte. Zudem wollte er seiner eigenen Tötung zuvorkommen, nachdem er Gerüchte vernommen hatte, der Liebhaber seiner Gattin beschaffe sich mit deren Einverständnis eine Schusswaffe, um ihn zu töten. Da die einzelnen Umstände in ihrer Gesamtschau als außergewöhnlich im Sinne der Rechtsfolgenlösung erachtet werden konnten,203 verwies der Bundesgerichtshof die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurück. In einem weiteren Fall, den die kulturellen Vorstellungen des Täters prägten, blieb hingegen der unterlassene Rückgriff des Landgerichts auf die Rechtsfolgenlösung in der Revision unbeanstandet: Der nach Anschauungen des ländlich-griechischen Kulturkreises erzogene Täter erfuhr nach fünf Jahren Ehe, dass sein bereits in der Hochzeitsnacht erweckter Verdacht der fehlenden Jungfräulichkeit seiner Angetrauten berechtigt war. Er fühlte sich dadurch in seiner Ehre zutiefst verletzt und ließ daher seine Ehefrau ihren früheren Liebhaber in die gemeinsame Wohnung locken, um den Ahnungslosen dort mit einem Beil zu erschlagen. Mit Urteil vom 8. September 1982204 entschied der Bundesgerichtshof, die besondere kulturell-ethnische Bewusstseinslage dürfe bei der Wertung der Schuld nicht außer Betracht bleiben und könne bei der Verhältnismäßigkeit der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe von Bedeutung sein. Allein „die Bindung eines Täters an fremdkulturelle Anschauungen und Wertvorstellungen“ habe derweil „selbstverständlich nicht ohne weiteres zur Folge, daß damit auch außergewöhnliche Umstände vorlägen, die den Schuldgehalt eines heimtückisch begangenen Mordes so minderten, daß die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre. Sie kann aber im Einzelfall den Täter in eine Situation schwerster seelischer Bedrängnis oder Erregung bringen, die ihn aus seiner Sicht nahezu zwingend zur Tat führt und die eine entsprechende Schuldminderung bedingt“,205 was der Bundesgerichtshof für den vorliegenden Sachverhalt ablehnte. Ähnlich verneinte er mit Urteil vom 10. Mai 2005206, allein wegen der Verhaftung des Täters in den Ehrvorstellungen und Traditionen seiner anatolischen Heimat auf die Rechtsfolgenlösung zurückzugreifen.207 Die Rechtsfolgenlösung stellt somit eine Möglichkeit dar, die kulturelle Prägung des Täters zu berücksichtigen, wenn sie eine lebenslange Freiheitsstrafe trotz Verwirklichung eines Mordmerkmals als unverhältnismäßig erscheinen lässt. Allerdings bestimmt sich wiederum aus der Perspektive der inländischen Rechtsgemeinschaft, wann die Vorgaben des Bundesgerichtshofs wie z. B. die geforderte notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation oder insbesondere der 203 204 205 206 207
BGH NStZ 1982, 69 (69). BGH NJW 1983, 55. BGH NJW 1983, 55 (56). BGHR StGB § 211 Abs. 1 Strafmilderung 7. BGHR StGB § 211 Abs. 1 Strafmilderung 7, S. 3.
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„gerechte Zorn“ auf Grund einer schweren Provokation erfüllt sind. Denn trotz ihres Weges über den Strafrahmen handelt es sich bei der Rechtsfolgenlösung um einen Notbehelf zur restriktiven Auslegung des Tatbestandes. Deswegen bietet sich auch hier die aufgezeigte Trennung zwischen Bewertungsmaßstab und Bewertungsgrundlagen an, um eine einheitliche Interpretation zu gewährleisten. Dass der Täter nach seinen Anschauungen etwa eine höchstpersönliche Entscheidung des späteren Opfers wie die Wahl eines nicht tolerierten Lebenspartners oder die Übernahme eines westlichen Lebensstils als schwere Provokation empfindet, rechtfertigt also keinen Rückgriff auf die Rechtsfolgenlösung. Ohnehin stößt die Konstruktion des Großen Senats für Strafsachen auf Kritik in der Literatur, unter anderem deshalb, weil sie dem Gesetz in keiner Weise zu entnehmen sei.208 Der Bundesgerichtshof hält nach wie vor – wohl mangels gangbarer Ersatzwege – an seinem Modell fest, betrachtet dessen Anwendung aber als letzten Ausweg, auf den nicht vorschnell zurückgegriffen werden dürfe.209 Demgemäß bleibt im Einzelfall zuerst jeweils nach Alternativen zu suchen, um die heimatlichen Wertvorstellungen des Täters zu beachten. Für das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe, soweit hierauf die Rechtsfolgenlösung überhaupt Anwendung findet,210 wurden solche Wege aufgezeigt. Die Bindung an traditionelle Anschauungen vermag demnach hier in aller Regel keine außergewöhnlichen Umstände zu begründen, welche die Anwendung eines nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB gemilderten Strafrahmens rechtfertigen. Etwas anderes gilt für das Merkmal der Heimtücke. Zwar wird auch hier die kulturelle Prägung als solche die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe kaum ausschließen. Jedoch können die traditionellen Vorstellungen in dem Umfeld des Täters das Gesamtbild der Tat derart mitbestimmen, dass die vom Bundesgerichtshof verlangten außergewöhnlichen Umstände, z. B. ein notstandsähnlicher Konflikt des Täters, im Einzelfall gegeben sind. Nicht zu Unrecht hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 16. Mai 1990211 eine solche ausweglos erscheinende Situation für eine singhalesische Staatsangehörige angenommen, die ihren ebenfalls aus Sri Lanka stammenden, wiederholt gewalttätigen und zuneh208 Eschelbach, BeckOK-StGB, § 211 Rdn. 121; Lackner/Kühl, Vor § 211 Rdn. 20; Neumann, NK, Vor § 211 Rdn. 149; Arzt/Weber/Hilgendorf, § 2 Rdn. 17; Günther, NJW 1982, 353 (355 ff.); Hassemer, JZ 1983, 967 (968); Mitsch, JuS 1996, 121 (122). A. A. Jähnke, LK11, § 211 Rdn. 70 und 72; Schneider, MünchKomm-StGB, § 211 Rdn. 40, welche die Rechtsfolgenlösung auch auf alle anderen Mordmerkmale anwenden wollen; insofern anders, dem BGH indessen ebenso zustimmend Baumeister, Ehrenmorde, S. 136 f.; Reichenbach, Jura 2009, 176 (181 f.); Rengier NStZ 1982, 225 (226 ff.); ders., NStZ 1984, 21 (22 f.); Th. Weigend, in: Festschrift Hirsch, S. 917 (920). 209 BGHSt 48, 255 (263) mit kritischer Anmerkung Hillenkamp, JZ 2004, 48 (52), der die Rechtsfolgenlösung als eigenständigen Strafmilderungsgrund ansieht; BGH NJW 1983, 2456 (2456). 210 Vgl. die Nachweise in Teil 2 Fn. 197. 211 BGH NStZ 1990, 490.
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mend dem Alkohol zusprechenden Ehemann erschlug. Eine Trennung von ihrem Ehemann hätte nämlich ihren dauerhaften Aufenthalt in Deutschland in Frage gestellt. Die Rückkehr nach Sri Lanka kam ebenso wenig in Betracht, weil sie als untaugliche Ehefrau im höchsten Maße Schimpf und Schande über sich und ihre Familie gebracht hätte und ihr Dasein auf niedrigster sozialer Stufe hätte fristen müssen.212 Bei Ehrenmorden bleibt für die Rechtsprechung die Rechtsfolgenlösung etwa zu erwägen, wenn auf den für einen Ehrenmord auserkorenen, jedoch unwilligen Täter immenser Druck ausgeübt wird, die Tat zu begehen. Dann dürfte die verzweifelte und notstandsnahe Situation vorliegen, die der Große Senat in seinem Rechtsfolgenbeschluss exemplarisch als außergewöhnlichen Umstand genannt hat. Kann in diesem Fall die ausweglose Lage des Täters nicht bereits an anderer Stelle berücksichtigt werden – nach dem hier vertretenen Ansatz als Bewertungsgrundlage für die Niedrigkeit der Beweggründe –, erscheint ein Rekurs auf das Modell des Großen Senats demnach möglich. Dieser Weg erlangt vor allem dann Bedeutung, wenn der auf den Täter wirkende Zwang zwar die niedrigen Beweggründe entfallen lässt, er die Tat aber heimtückisch ausgeführt hat. 4. Zusammenfassung Nicht wenige Tötungsdelikte werden begangen, weil sich der Täter gekränkt, gedemütigt oder auf sonstige Weise in seiner Ehre verletzt fühlt und daher dem Opfer ebenso Leid zufügen möchte. Bei den sogenannten Ehrenmorden geschieht die Tötung eines Menschen hingegen weniger als Vergeltung für einen erlittenen individuellen Ehrverlust, sondern zur Wiederherstellung der Ehre einer Familie oder einer anderen Personengemeinschaft. Damit geht einher, dass der Täter zumeist nicht unmittelbarer Adressat des vermeintlich ehrherabsetzenden Verhaltens des späteren Opfers war. Vielmehr agiert er als Repräsentant der betroffenen Gemeinschaft, häufig nicht aus eigenem Antrieb, aber auf Anordnung des Familienrates, der ihn zur Ausführung der Tat bestimmt. Das Leben eines Menschen als weniger wert zu erachten als die Ehre einer Familie oder eines anderen Personenverbundes, bleibt auf der Grundlage der hierzulande herrschenden Wertvorstellungen, maßgeblich geprägt durch die in der Aufklärung errungene Anerkennung des selbstbestimmten Individuums, nicht nachvollziehbar. Aus hiesiger Perspektive erscheinen das vermeintliche Fehlverhalten des Opfers, z. B. die freie Wahl seines Partners oder auch nur die Übernahme eines westlichen Lebensstils, als Selbstverständlichkeit und gewalttätige Reaktionen als unerklärlich. Sich hier zur Tötung eines Menschen, bei den Ehrenmorden im engeren Sinne sogar eines eigenen Familienmitglieds, zu entschließen, 212
BGH NStZ 1990, 490 (490).
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offenbart somit ein hohes Missverhältnis zwischen Anlass und Tat. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe wird in der Regel verwirklicht. Diese Beurteilung ergibt sich mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum infolge des einheitlichen Bewertungsmaßstabs der Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Sicht des Täters oder die Anschauungen in seinem heimatlichen Kulturkreis heranzuziehen, ließe sich insbesondere mit dem Anliegen anzustrebender Rechtsgleichheit nicht vereinbaren. Dies zeigt zudem ein Vergleich mit den ausdrücklich in der ersten Gruppe des § 211 Abs. 2 StGB benannten Motiven. Andere kulturelle Wertvorstellungen sind daher lediglich zu berücksichtigen, wenn sie bereits in der hiesigen Gesellschaft akzeptiert und von den Anschauungen der Rechtsgemeinschaft übernommen werden. Allerdings muss sich nicht jeder „Ehrenmörder“ von dem Ziel der Wiederherstellung der Ehre leiten lassen. Begeht beispielsweise ein vom Familienrat auserwählter Täter die Tat widerwillig und nur infolge ausgeprägter Erwartungshaltung seiner Familie, die sich in einem immensen Druck und der Androhung erheblicher Konsequenzen für den Fall der Nichtausführung des Tötungsbefehls äußert, kann das bewusstseinsdominante Motiv des Täters allein darin liegen, sich von diesem Zwang zu befreien. Inwieweit hier erst die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bzw. seines Umfeldes eine solche Konfliktsituation begründen, bleibt unerheblich, solange sie tatsächlich ein solches Ausmaß erreicht, dass die Annahme eines niedrigen Beweggrundes nicht mehr zu rechtfertigen ist. Die Anschauungen des Täters können sich somit nicht auf den anzulegenden Bewertungsmaßstab auswirken, als Bewertungsgrundlage indessen eine Rolle spielen. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe darf demzufolge als „kulturoffenes Tatbestandsmerkmal“ bezeichnet werden. Auf der subjektiven Tatseite muss der Täter zunächst die Beweggründe kennen, die sein Handeln antreiben und den Tötungsentschluss mitbestimmen. Über die – nach den inländischen Wertvorstellungen zu attestierende – Niedrigkeit seiner Beweggründe muss er sich nicht im Klaren sein; diesbezügliche Fehlvorstellungen stellen einen unbeachtlichen Subsumtionsirrtum dar. Verkennt der Täter infolge des Verhaftetseins in seinen heimatlichen Anschauungen aber, dass seine Motive dem begangenen Tötungsdelikt einen zusätzlichen Unrechtsgehalt verleihen, unterliegt er einem Verbotsirrtum, der nach den Grundsätzen des § 17 StGB zu behandeln ist. Erweist sich eine solche Fehlvorstellung im Ausnahmefall als unvermeidbar, scheidet demnach mangels Schuld eine Strafbarkeit wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen aus und der Täter macht sich – sofern andere Mordmerkmale nicht verwirklicht sind – lediglich wegen Totschlags strafbar. In der Regel, d. h. bei vermeidbarem Verbotsirrtum, kommt gemäß § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB hingegen nur eine Strafmilderung in Betracht. Sie erspart dem Täter zwar nicht die Verurteilung wegen Mordes, jedoch immerhin die lebenslange Freiheitsstrafe. Die Lösung über den Verbotsirrtum eröffnet da-
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mit den Tatgerichten einen Weg, die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls trotz der absoluten Strafandrohung des Mordtatbestandes hinreichend zu berücksichtigen.
III. Zumutbarkeit im Sinne des § 323c StGB Die Zumutbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB stellt ein weiteres Tatbestandsmerkmal213 dar, bei dem sich die Rechtsprechung mit der Beachtlichkeit der kulturellen Wertvorstellungen des Täters zu beschäftigen hatte. Welche Hilfeleistung jemandem infolge der allgemeinen Solidaritätspflicht zuzumuten bleibt, richtet sich bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift „den Umständen nach“. Das Gesetz führt als nicht abschließende („insbesondere“) Beispiele hierfür auf, ob die Hilfeleistung „ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist“. Wichtige Pflichten in diesem Sinne sind nicht nur rechtliche Gebote, sondern auch moralische Verpflichtungen, als die der Einzelne etwa seine religiöse Überzeugung begreifen kann.214 1. Die Behandlung in der Rechtsprechung a) Urteil des OLG Hamm vom 10. Oktober 1967 Mit der Fragestellung, ob sich kulturelle Einflüsse auf das Tatbestandsmerkmal der Zumutbarkeit auswirken, musste sich erstmals, soweit ersichtlich, das OLG Hamm in seinem Urteil vom 10. Oktober 1967 auseinandersetzen.215 Angeklagter war ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. In Berufung auf seine religiöse Überzeugung verweigerte er die Einwilligung in die lebensrettende Bluttransfusion für sein zwei Tage altes Kind. Selbst der Vorhalt des zwischenzeitlich eingeschalteten Vormundschaftsrichters konnte ihn nicht umstimmen. Der Vormundschaftsrichter entzog daraufhin den Eltern des Kindes das Personensorgerecht und bestellte den Chefarzt des Krankenhauses zum Sorgerechtspfleger, der sogleich eine Bluttransfusion veranlasste, die das Kind rettete. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten zunächst wegen unterlassener Hilfeleistung. Allerdings hob das OLG Hamm das Urteil mit den zugrunde lie213 BGHSt 17, 166 (170); Fischer, § 323c Rdn. 15 und 20; Freund, MünchKommStGB, § 323c Rdn. 90; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 323c Rdn. 20; Lackner/Kühl, § 323c Rdn. 7; Wohlers, NK, § 323c Rdn. 11; Arzt/Weber/Hilgendorf, § 39 Rdn. 26; Rengier, BT II, § 42 Rdn. 13; Wessels/Hettinger, Rdn. 1048; a. A. Spendel, LK11, § 323c Rdn. 159: Schuldmerkmal. 214 Siehe sogleich BVerfGE 32, 98 (109 f.); LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2212); aus dem Schrifttum Spendel, LK11, § 323c Rdn. 172; Wohlers, NK, § 323c Rdn. 12; Bopp, Der Gewissenstäter, S. 217 f.; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (70); Otto, in: Festschrift Schmitt Glaeser, S. 21 (38 f.); Sonnen, JA 1990, 358 (359). 215 OLG Hamm NJW 1968, 212.
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genden Feststellungen auf und verwies die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurück. Nach Auffassung des Revisionsgerichts war die Einwilligung des angeklagten Vaters in den notwendigen ärztlichen Eingriff nicht erforderlich, da er nach der Einschaltung des Vormundschaftsrichters gewusst habe, die Bluttransfusion würde auch ohne seine Zustimmung erfolgen. Bestraft werde jedoch nicht die verwerfliche Gesinnung, die in dem Untätigbleiben zum Ausdruck komme, sondern nur die pflichtwidrig unterlassene Hilfeleistung. Zwar dürfe der Hilfspflichtige grundsätzlich nicht auf die Hilfe eines anderen vertrauen.216 Eine Ausnahme gelte aber bei sicherer Kenntnis, dass andere ebenso schnell und wirksam helfen, wie es von ihm selbst verlangt werde, weil dann der Betroffene keiner Hilfe mehr bedürfe.217 Jedenfalls sei dem Angeklagten die Einwilligung in die Transfusion nicht mehr zuzumuten gewesen. Ansonsten wäre von ihm verlangt worden, gegen ein von ihm ernst genommenes religiöses Gebot zu verstoßen und gegen sein Gewissen zu handeln, obwohl der vom Vormundschaftsrichter bestellte Sorgerechtspfleger ohnehin die notwendige Zustimmung erteilt hätte.218 Eine Strafbarkeit des Angeklagten komme dennoch insoweit in Betracht, als er die Bluttransfusion bereits zu einem früheren Zeitpunkt verweigert hatte, in dem er noch nicht mit der Einschaltung eines Vormundschaftsrichters rechnen konnte. In diesem Augenblick erschien seine Zustimmung noch unabdingbar, um das Leben seines Kindes zu retten. Hier waren nach Auffassung des Gerichts die objektiven Voraussetzungen des § 330c StGB a. F. (nunmehr § 323c StGB219), vor allem die Zumutbarkeit der Hilfeleistung gegeben. Die dabei zu berücksichtigende Gewissensentscheidung des Angeklagten bedeute keinen allgemeinen Vorrang des Gewissens über das Gesetz; es diene als überindividuelle Ordnung nicht lediglich dem Handelnden, sondern auch den dadurch Betroffenen. Ebenso wenig schütze das Grundrecht der Religionsfreiheit jegliche religiöse Betätigung oder Überzeugung. Vielmehr finde es seine Grenzen in der allgemeinen Sittenordnung, wonach jedermann im Unglücksfall zur Hilfeleistung verpflichtet sei. Da Leben und Gesundheit des hilfsbedürftigen Kindes auf dem Spiel gestanden hät-
216 Vgl. BayObLG NJW 1957, 354 (354); Freund, MünchKomm-StGB, § 323c Rdn. 84; Spendel, LK11, § 323c Rdn. 89; Wohlers, NK, § 323c Rdn. 10. 217 OLG Hamm NJW 1968, 212 (213). Ebenso BGH NJW 1952, 394 (394); OLG Karlsruhe NJW 1979, 2360 (2360); Fischer, § 323c Rdn. 12; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 323c Rdn. 19; Lackner/Kühl, § 323c Rdn. 5; Spendel, LK11, § 323c Rdn. 89; Rengier, BT II, § 42 Rdn. 10; Wessels/Hettinger, Rdn. 1046. 218 OLG Hamm NJW 1968, 212 (213); zustimmend Schönke/Schröder/Lenckner/ Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 120; Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 210; Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 109; Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (623). 219 Die Strafnorm des § 330c StGB a. F. wurde durch das 18. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. 3. 1980 (BGBl. I, S. 373) wortgleich zur heute gültigen Vorschrift des § 323c StGB.
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ten, sei dem Angeklagten als dessen Vater die Erteilung seiner Zustimmung zuzumuten gewesen.220 Die Literatur teilte im Wesentlichen die Ausführungen des OLG Hamm zur Zumutbarkeit.221 Kritikpunkte betrafen hingegen die gezogene Unterscheidung. Sie führe zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass sich der Zustimmungsberechtigte nicht strafbar mache, wenn der behandelnde Arzt sogleich mit dem schwersten Geschütz drohe und auf den Vormundschaftsrichter verweise.222 Zwar entspreche es der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, schon die erste – und nicht erst die letztmögliche – Verweigerung der Zustimmung als Unterlassen der erforderlichen Hilfeleistung anzusehen.223 Allerdings bleibe in diesem Fall gleichwohl die Erforderlichkeit in Frage zu stellen, da der lebensrettende Eingriff durch den Arzt selbst ohne die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt gewesen wäre.224 b) Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1971 Mit einem ähnlichen Fall wie das OLG Hamm beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten Gesundbeter-Entscheidung vom 19. Oktober 1971.225 Der wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilte Beschwerdeführer wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und war wie seine Ehefrau ein überzeugter Anhänger des evangelischen Brüdervereins. Nach der Hausgeburt ihres vierten Kindes verschlechterte sich infolge einer Blutarmut der Zustand der Ehefrau lebensgefährlich. Gleichwohl lehnte das Ehepaar die vom herbeigerufenen Arzt vorgeschlagene Einweisung in ein Krankenhaus zur Durchführung einer Bluttransfusion unter Verweis auf die Heilige Schrift ab: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse sie über sich beten [. . .] und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen.“ 226 Dementsprechend betete das Ehepaar mit einem Bruder ihrer Glaubensgemeinschaft für die Gesundheit der 220 OLG Hamm NJW 1968, 212 (214); kritisch Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (623 f.). 221 Kreuzer, NJW 1968, 1201 (1202); Ulsenheimer, FamRZ 1968, 568 (573), wonach der Angeklagte zudem einen versuchten Totschlag durch Unterlassen verwirklichte (570 f.). 222 Kreuzer, NJW 1968, 1201 (1202); vgl. auch Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (623 f.). 223 Siehe BGHSt 14, 213 (217); 21, 50 (55); Freund, MünchKomm-StGB, § 323c Rdn. 120; Lackner/Kühl, § 323c Rdn. 10; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Hecker, § 323c Rdn. 22; Rengier, BT II, § 42 Rdn. 19; enger Rudolphi/Stein, SK-StGB, § 323c Rdn. 15; Spendel, LK11, § 323c Rdn. 96: Vollendung erst, wenn keine rechtzeitige Hilfeleistung mehr erfolgen kann. 224 Kreuzer, NJW 1968, 1201 (1202); ebenso im Ergebnis Dreher, JR 1972, 342 (344); Peters, JZ 1972, 85 (86). 225 BVerfGE 32, 98. 226 Jak. 5, 14–15.
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Ehefrau, die kurze Zeit später verstarb. Der Ehemann wurde daraufhin in einem mehrjährigen Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 330c StGB a. F. verurteilt. Er habe es entgegen seiner aus ehelicher Lebensgemeinschaft resultierenden Verpflichtung nicht versucht, die Ehefrau zur Einwilligung in die ärztlich für notwendig erachtete Behandlung zu bewegen,227 sondern ihre ablehnende Haltung durch Hinweis auf die Lehren ihrer Glaubensgemeinschaft gefördert. Dem Beschwerdeführer sei trotz seiner inneren Einstellung ebenso zumutbar gewesen, seiner Ehefrau zur Bluttransfusion zu raten.228 Das Bundesverfassungsgericht widersprach diesen Ausführungen und verwies auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 4 Abs. 1 GG auf die Auslegung und Anwendung des § 330c StGB a. F.229 Wer sich durch seine Glaubensüberzeugung zur Verwirklichung eines Straftatbestandes bestimmen lasse, lehne sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf. Vielmehr befinde er sich in einer Grenzsituation, in der er den Widerstreit zwischen allgemeiner Rechtsordnung und persönlichem Glaubensgebot zugunsten des letzten löse. Diese Entscheidung sei zwar objektiv nach den allgemein herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft zu missbilligen, jedoch nicht mehr in einem Maße vorwerfbar, das den Einsatz strafrechtlicher Mittel gestatte. Zumindest wenn sich der Täter aufgrund seines Konflikts in seelischer Bedrängnis befinde, bedeute seine Bestrafung eine übermäßige und seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion, weswegen das Strafrecht zurückweichen müsse.230 Gemessen an diesen Grundsätzen könne dem Beschwerdeführer im konkreten Fall nicht vorgeworfen werden, seiner Ehefrau nicht zur ärztlichen Behandlung geraten zu haben. Sein Verhalten stelle ein Bekenntnis zur gemeinsamen Überzeugung der Ehepartner dar, dass das Gebet zu Gott der bessere Weg sei. Von Personen gleicher Glaubensrichtung dürfe in einer solchen Situation nicht strafrechtlich verlangt werden, aufeinander einzuwirken, um sich von der Gefährlichkeit ihres Entschlusses zu überzeugen.231 Das Bundesverfassungsgericht hob deswegen die für den Beschwerdeführer nachteiligen Entscheidungen auf und verwies die Sache an die Revisionsinstanz zurück, auf deren Erwägungen die Verurteilung des Beschwerdeführers beruhte. Die Literatur lehnte den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überwiegend ab. Bemängelt wurde unter anderem die fehlende Verankerung seiner Aus-
227 Vgl. das Urteil der ersten Revisionsinstanz OLG Stuttgart MDR 1964, 1024 (1025), an dessen Begründung das Landgericht, an das zurückverwiesen wurde, gebunden war. 228 Zur Begründung des erkennenden Landgerichts BVerfGE 32, 98 (102 f.). 229 BVerfGE 32, 98 (105 ff.). Zur Bedeutung der Glaubensfreiheit als Rechtfertigungsgrund siehe unten Teil 3 Kap. 4 IV. 1. 230 BVerfGE 32, 98 (108 f.); zustimmend Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 124. 231 BVerfGE 32, 98 (109 f.).
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führungen in einem konkreten Merkmal des § 330c StGB a. F.;232 insbesondere ließ das Gericht eine eindeutige Zuordnung zur Zumutbarkeit vermissen. Andere waren der Ansicht, der Beschwerdeführer hätte seine Ehefrau zur lebensrettenden Bluttransfusion überreden müssen und habe daher den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung verwirklicht.233 Zudem wurden die Situation und die menschliche Würde des Arztes betont, der die notwendige Behandlungsmaßnahme bei der sich bis zuletzt in klarem Bewusstsein befindenden Ehefrau nicht vornehmen dürfte.234 Dazu ist anzumerken, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu jener Zeit noch nicht den Stellenwert innehatte, der ihm mittlerweile zugesprochen wird.235 c) Urteil des LG Mannheim vom 3. Mai 1990 Über einen weiteren Sachverhalt unterlassener Hilfeleistung, bei dem besondere kulturelle Hintergründe festzustellen waren, musste das Landgericht Mannheim in seinem Urteil vom 3. Mai 1990 befinden.236 Im Gegensatz zu den vorstehenden Entscheidungen bestand hier kein familiäres Band zwischen den Beteiligten. Angeklagt wurde ein pakistanischer Staatsangehöriger und Anhänger der islamischen Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya. Dessen 49-jährige Nachbarin wurde von ihrem Lebenspartner bei einer Auseinandersetzung in den Rücken gestochen und klopfte deshalb abends um 22.30 Uhr an die Tür des Angeklagten mit der Bitte, einen Krankenwagen zu rufen. Sie war dabei nur mit T-Shirt und Slip bekleidet und roch stark nach Alkohol. Der Angeklagte, der keinen Telefonanschluss besaß, empfand ob dieses Anblicks Abscheu und Ekel und schloss die Tür, obwohl er Blut am Bein seiner Nachbarin bemerkte. Außerdem wollte er nicht in die steten Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem regelmäßig alkoholisierten Intimfreund verwickelt werden. Die Nachbarin legte sich daraufhin wieder in ihr Bett und verstarb dort eine halbe Stunde später an ihren Stichverletzungen, da sich auch ihr Lebenspartner nicht mehr um sie kümmerte. Das Amtsgericht Mannheim verurteilte den Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung. Die Berufungsinstanz, das Landgericht Mannheim, sprach den Angeklagten frei.
232 Dreher, JZ 1972, 342 (343); Ranft, in: Festschrift Schwinge, S. 111 (114 ff.); Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (446). 233 von Blumenthal, MDR 1972, 759 (760); vgl. auch Deubner, NJW 1972, 814 (814) und Schultz, MDR 1973, 20 (21), wonach sich der Angeklagte allerdings aufgrund seiner Überzeugung, durch das Gebet seiner Ehefrau zu helfen, in einem Tatbestandsirrtum befand. 234 Händel, NJW 1972, 330 (330). 235 In heutigem Sinne (siehe unten die Nachweise in Teil 2 Fn. 245) dagegen bereits Peters, JZ 1972, 85 (85). 236 LG Mannheim NJW 1990, 2212.
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In seiner Begründung verneinte das LG Mannheim die Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung. Demnach musste sich der Angeklagte schon nicht der Gefahr aussetzen, mangels eigenen Telefonanschlusses das Zimmer zum Hilferuf zu verlassen und dadurch gegebenenfalls selbst von dem Lebenspartner der Nachbarin misshandelt zu werden.237 Darüber hinaus richte sich die Zumutbarkeit nach allgemeinen sittlichen Maßstäben. Außer der Lebenserfahrung und Vorbildung des Täters seien daher seine Persönlichkeit und Herkunft zu berücksichtigen. Ebenso wenig dürfe seine Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturkreis, vor allem zu einer anderen Religion oder Weltanschauung, außer Acht bleiben.238 Auf Grundlage dieser Erwägungen führte das LG Mannheim sodann aus, dass für den Angeklagten als Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung der Koran die höchste Autorität habe. Dieser gebiete aber in Auslegung durch den Gründer der Ahmadiyya-Bewegung, den Blick von fremden Frauen abzuhalten und dem Genuss von Wein zu entsagen. Da sich der Angeklagte infolgedessen von seiner betrunkenen und halbnackten Nachbarin abgestoßen fühlte, war ihm die Hilfeleistung nach Auffassung des Gerichts nicht zuzumuten.239 2. Stellungnahme Wie die vorstehenden Entscheidungen der Rechtsprechung belegen, handelt es sich bei der Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB um ein kulturoffenes Tatbestandsmerkmal, auf dessen Verwirklichung sich die kulturellen Besonderheiten des Einzelfalls gegebenenfalls auswirken. Dabei ist der Rechtsprechung eine weitaus großzügigere Bereitschaft als im Rahmen der niedrigen Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB zu attestieren, die von den hiesigen kulturellen Wertvorstellungen abweichende, in der Regel religiös geprägte Überzeugung des Täters zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Während die heimatlichen Anschauungen des Täters nur in Ausnahmefällen der Verwirklichung des Mordmerkmals entgegenstehen, werden sie bei der unterlassenen Hilfeleistung ungleich bereitwilliger herangezogen, um bereits den objektiven Tatbestand wegen fehlender Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung abzulehnen. Außerdem lässt seine kulturelle Prägung den Täter unter Umständen die sittliche Gebotenheit der Hilfeleistung und somit das Unrecht seines Unterlassens verkennen.240 237 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2212), das auf die Schilderung des Lebenspartners in der Entscheidung des Schwurgerichts als „Prototyp eines unberechenbar-brutalen Messerstechers und Totschlägers“ verweist. Er wurde wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. 238 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2212). Siehe auch die Nachweise aus dem Schrifttum in Teil 2 Fn. 214. 239 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2212 f.). 240 Vgl. dazu OLG Hamm NJW 1968, 212 (214 f.); LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213); zur letztgenannten Entscheidung siehe insoweit unten Teil 3 Kap. 5 II. 2.
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Die unterschiedliche Behandlung mag auf den ersten Blick als inkonsequent oder widersprüchlich erscheinen, ist jedoch zutreffend. Zwar bleibt wiederum ein einheitlicher Bewertungsmaßstab anzulegen, so dass sich der Inhalt der allgemeinen Solidaritätspflicht nach den Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft ergibt. Sollten andere Kulturen eine solche gegenseitige Unterstützung in Unglücksfällen nicht oder in einem anderen Umfang als verpflichtend ansehen, wirkte sich dies insoweit nicht auf die tatbestandliche Reichweite der Norm aus. Unterschiede können aber aus den Bewertungsgrundlagen resultieren. Dabei sind die persönlichen Eigenschaften stärker zu beachten als etwa bei dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe, da sich schon der Wortlaut des § 323c StGB „ihm [. . .] zuzumuten“ auf die Person des Täters bezieht. Die Zumutbarkeit ist deshalb nicht danach zu bestimmen, was von einem Normmenschen in der Situation des Täters zu verlangen wäre. Vielmehr sind gerade die individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften des Täters selbst (z. B. die ungenügenden Schwimmkünste, welche die Rettung eines Ertrinkenden als gefährliches Unterfangen gestalten) zu berücksichtigen,241 auch wenn sie von der gewöhnlichen Erwartungshaltung abweichen. Zudem stellt § 323c StGB ein (echtes) Unterlassungsdelikt dar,242 beinhaltet im Gegensatz zu § 211 StGB also kein Verhaltensverbot, sondern ein Verhaltensgebot. Es ist ein Unterschied, ob dem Täter lediglich ein Tun untersagt wird, zu dem er sich infolge seiner Anschauungen veranlasst sieht, er also zum Unterlassen einer Handlung angehalten wird, oder ob ihm durch eine normierte Verhaltenspflicht aufgetragen wird, positiv ein Verhalten an den Tag zu legen und dadurch aktiv gegen seine persönlichen kulturgeprägten Wertvorstellungen zu verstoßen. Hier sind die Grenzen des Erlaubten weiter zu ziehen, weswegen die Zumutbarkeit der Hilfspflicht besonders begründet werden muss. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn der Täter wider seine religiösen Überzeugungen tätig werden soll und deshalb der Schutzbereich der Glaubensfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG tangiert sein könnte. Demnach bleibt der herrschenden Auslegung der Zumutbarkeit in § 323c StGB unter Beachtung der kulturellen Wertvorstellungen des Untätigen zuzustimmen. Insbesondere der Gesundbeter-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist daher zumindest im Ergebnis beizupflichten. In den Gründen kommt allerdings bisweilen das damalige, mittlerweile veraltete Bild von Ehe und Familie zum Ausdruck. So sah sich das Gericht dazu veranlasst, die aus heutiger Sicht selbstverständliche Feststellung zu betonen, dass „sich auch in der Ehe zwei 241 Fischer, § 323c Rdn. 17; Freund, MünchKomm-StGB, § 323c Rdn. 90; Lackner/ Kühl, § 323c Rdn. 7. 242 von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 323c Rdn. 2; Spendel, LK11, § 323c Rdn. 19; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Hecker, § 323c Rdn. 1; Wohlers, NK, § 323c Rdn. 3; Wessels/Hettinger, Rdn. 1042.
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autonome Persönlichkeiten mit dem Recht auf freie Entfaltung gegenüberstehen“.243 Demzufolge wären inzwischen ebenso die Ausführungen zur Religionsfreiheit des Angeklagten obsolet. Seine Ehefrau nicht gegen seinen (und vor allem ihren) Willen zu einer Bluttransfusion überzeugen zu müssen, folgt vielmehr aus ihrer freien Entscheidung – eine solche trotz ihres unbedingten Vertrauens in das Gebet vorausgesetzt244 – über Ob und Wie ihrer ärztlichen Behandlung.245 Die Grenzen für die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen zeigt eindrucksvoll das Urteil des OLG Hamm. Zwar bedarf die rechtliche Verbindlichkeit einer Handlungspflicht, die sich mit den Überzeugungen des Täters nicht vereinbaren lässt, der besonderen Begründung. Selbst bei akuter Lebensgefahr des Hilfsbedürftigen wird demnach zu untersuchen und gegebenenfalls zu differenzieren sein, ob sämtliche Formen der Hilfeleistung den Anschauungen des Untätigbleibenden widersprechen. In dem Sachverhalt des OLG Hamm beispielsweise mag dem Täter infolge seiner religiösen Überzeugung nicht zuzumuten sein, selbst Blut für sein hilfsbedürftiges Kind zu spenden. Hingegen ist es ihm aber zumutbar, die medizinisch indizierte Bluttransfusion für einen Angehörigen durch seine Einwilligung zu ermöglichen. Seine Hilfeleistung beschränkt sich dann zum einen lediglich auf diese Zustimmung und zum anderen steht er in einem besonderen Nähe- und Verantwortungsverhältnis zum Hilfsbedürftigen. Ansonsten würden diesem die religiösen Anschauungen des Täters mitsamt allen Konsequenzen aufgedrängt, selbst wenn sich der Betroffene – wie im Fall des zwei Tage alten Kindes – nicht zu demselben Glauben bekannt hat bzw. überhaupt nicht bekennen konnte. Auch dem Urteil des LG Mannheim ist nach diesen Grundsätzen im Ergebnis zuzustimmen. Allerdings darf die Entscheidung nicht so verstanden werden, dass dem Angeklagten allein ob des Anblicks seiner alkoholisierten, spärlich bekleideten Nachbarin jegliche Hilfeleistung unzumutbar war.246 Denn dies schließt jedenfalls die Verständigung eines Arztes, worum die Nachbarin ausschließlich gebeten hatte, nicht aus. Die Straflosigkeit des gleichwohl Untätigbleibenden kann also nicht ausschließlich auf seine kulturellen Wertvorstellungen zurückgeführt werden. Sie resultiert aus den weiteren Umständen des konkreten Einzelfalls, namentlich der fehlenden Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung mangels 243 BVerfGE 32, 98 (110). Grund für die Aussage mag unter anderem gewesen sein, dass der Angeklagte in erster Instanz sogar wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde, obwohl seine Ehefrau bis zuletzt bei klarem Bewusstsein war und in voller geistiger Klarheit und Willensfähigkeit die Bluttransfusion ablehnte. 244 Siehe hierzu Hillenkamp, in: Festschrift Küper, S. 123 (134 ff.). 245 OLG Karlsruhe NJW 1979, 2360 (2360); Freund, MünchKomm-StGB, § 323c Rdn. 107; Lackner/Kühl, § 323c Rdn. 6; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 120; Spendel, LK11, § 323c Rdn. 130 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 118; Wessels/Hettinger, Rdn. 1047; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (71); Frisch, in: Festschrift Schroeder, S. 11 (21). 246 Ebenso Spendel, LK11, § 323c Rdn. 161; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (70).
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eigenen Telefonanschlusses und des unberechenbaren Nachbarn sowie des noch an anderer Stelle zu diskutierenden Verbotsirrtums.247
IV. Fazit Die niedrigen Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB sind das Paradebeispiel für Tatbestandsmerkmale, deren Offenheit für die Wertvorstellungen der Beteiligten eine eingehende Betrachtung verdienen. Zur Bedeutung der Untersuchung trägt insoweit das in Deutschland zunehmend verbreitete Phänomen der sogenannten Ehrenmorde als besonders ausgeprägte Verkörperung kultureller Differenzen bei. Die Diskussion um die Niedrigkeit der Beweggründe eines Ehrenmörders ist wesentlich, weil die absolute Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe dem Tatgericht den Weg zu einer flexiblen Strafzumessung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls grundsätzlich verwehrt. Allerdings darf der hohe Stellenwert der niedrigen Beweggründe nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch andere Strafvorschriften kulturoffene Tatbestandsmerkmale enthalten und die Wertvorstellungen des jeweiligen Beteiligten erfassen. Ihre Anzahl ist in einem Strafrechtssystem, das weder die Gesinnung noch die Anschauungen des Täters, sondern den äußeren Tathergang bestraft, indes gering. Sie wird ebenso wenig durch das mögliche Interpretationsspektrum von Strafvorschriften erhöht. Täter legen zwar je nach ihrer kulturellen Prägung Tatbestandsmerkmale durchaus unterschiedlich aus. Wer etwa aus einem Umfeld stammt, in dem Zuwendungen an amtliche Entscheidungsträger zum guten Ton gehören bzw. sogar für die Vornahme von Amtshandlungen erforderlich sind, dürfte den Bestechungsdelikten der §§ 331 ff. StGB lediglich einen eingeschränkten Anwendungsbereich zugestehen und eher zurückhaltend den tatbestandlichen Vorteil annehmen.248 Allein die je nach kulturellem Hintergrund andere Sicht der Dinge lässt aus einem Tatbestandsmerkmal aber kein kulturoffenes werden. Vor allem aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit bedarf es vielmehr objektiver Auslegungskriterien. Hiervon abweichende Interpretationen des Täters bilden in der Regel einen unbeachtlichen Subsumtionsirrtum. Wie die niedrigen Beweggründe beim Mordtatbestand zeigen, bleiben die Anschauungen der Beteiligten nur bei Merkmalen zu berücksichtigen, welche die – bei der Vielzahl äußerer Einflüsse notwendigerweise kulturell geprägte – Motivation des Täters zum strafrechtsbegründenden bzw. -erhöhenden Vorwurf erheben. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Kriterium der Zumutbarkeit einer gebotenen Handlung. Es findet sich außer bei der erforderlichen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB noch in § 113 Abs. 4 Satz 2 StGB bei Irrtümern des Täters über 247
Siehe dazu unten Teil 3 Kap. 5 II. 2. Zu den Folgeproblemen für die Interpretation der Bestechungsdelikte im geschäftlichen Verkehr der §§ 299 ff. StGB Arzt/Weber/Heinrich, § 49 Rdn. 55 und 60 f. 248
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die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung, der er sich widersetzt hat. Durch den ausdrücklichen Bezug der Zumutbarkeit auf die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die betreffende Diensthandlung sind hier kulturelle Wertvorstellungen jedoch kaum von Bedeutung. Einen ungleich größeren Stellenwert erfahren die Anschauungen des Täters hingegen im Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte, bei denen im Wesentlichen dieselben Grundsätze gelten wie bei der Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung beim echten Unterlassungsdelikt des § 323c StGB. Schließlich sind – ungeachtet ihrer problematischen Zuordnung und Behandlung – die sogenannten Gesinnungsmerkmale249 als kulturoffen zu erwägen. Namentlich bei den Kriterien „böswillig“ in § 90a Abs. 1 Nr. 1, § 130 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, § 225 Abs. 1 StGB und „rücksichtslos“ in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB mag die kulturelle Prägung der Beteiligten zu Differenzen in der Bewertung ihrer Gesinnung führen. Wer etwa einem Staat angehört, dessen Geschichte durch Demonstrationen, Aufstände und Revolutionen geprägt ist, kann unter Umständen eine verächtliche Äußerung gegen die Bundesrepublik im Einzelfall entgegen der hiesigen herrschenden Interpretation noch nicht als böswillig im Sinne des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB empfinden. Ihm wird daher infolge seiner kulturellen Hintergründe die notwendige bewusst feindselige Gesinnung250 gegebenenfalls abzusprechen sein. Ähnlich kommt in Betracht, einem Autofahrer, der gemäß den Gepflogenheiten seines Heimatlandes einen eher riskanten Fahrstil pflegt und durch gewagte Überholmanöver rechtzeitig zum Anpfiff eines wichtigen Fußballspiels nach Hause kommen will, trotz dieses eigensüchtigen Zieles oder einer gleichgültigen Haltung251 keine rücksichtslose Fahrweise im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB vorzuwerfen. In den vorstehenden Fallgestaltungen ist zu erörtern, ob und auf welche Weise eine abweichende, auf anderen kulturellen Wertvorstellungen beruhende Einschätzung der eigenen Motivation bzw. Gesinnung berücksichtigt werden kann. Wie bei dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe muss zunächst die subjektive Bewertung des Täters für das Vorliegen des jeweiligen Tatbestandsmerkmals ohne Bedeutung bleiben. Ob der wagemutige Straßenverkehrsteilnehmer seine Fahrweise als rücksichtslos betrachtet oder nicht, darf sich nicht auf die Verwirklichung der Strafvorschrift des § 315c Abs. 1 StGB auswirken, da an249 Zum Begriff Roxin, Strafrecht AT I, § 10 Rdn. 78 ff.; eingehend Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, S. 131 ff. 250 BGH NJW 1964, 1481 (1483); NStZ 2003, 145 (145); Lackner/Kühl, § 90a Rdn. 6; Paeffgen, NK, § 90a Rdn. 14; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 90a Rdn. 9; vgl. auch BGH NStZ-RR 2006, 305 (306); OLG Hamburg NJW 1975, 1088 (1088) zu § 130 StGB. 251 Vgl. BGHSt 5, 392 (395); OLG Düsseldorf NJW 1989, 2764 (2764); OLG Karlsruhe NJW 1957, 1567; Fischer, § 315c Rdn. 14; Groeschke, MünchKomm-StGB, § 315c Rdn. 27; Herzog, NK, § 315c Rdn. 15; Kudlich, BeckOK-StGB, § 315c Rdn. 39; Lackner/Kühl, § 315c Rdn. 19; Wessels/Hettinger, Rdn. 998.
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sonsten gerade der uneinsichtige Fahrer privilegiert würde, der mangels Gefahrenbewusstseins eine umso höhere Risikenquelle für den Straßenverkehr verkörpert. Demnach kommt es nicht darauf an, wie der Täter selbst seine Einstellung bewertet, sondern allein darauf, dass er (subjektiv) aus einer (objektiv) rücksichtslosen Gesinnung handelt. Der Täter muss sich zwar seiner Motivation und der Gefährlichkeit seines Handelns bewusst sein, nicht aber dessen tatbestandsverwirklichender rechtlicher Beurteilung.252 Kapitel 3
Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre I. Kulturoffene Tatbestandsmerkmale und kulturoffene Rechtsgüter Die Ausführungen zu den niedrigen Beweggründen in § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB sowie zur Zumutbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung in § 323c StGB haben die Existenz sogenannter kulturoffener Tatbestandsmerkmale aufgezeigt, auf deren Verwirklichung die kulturellen Wertvorstellungen des Täters Einfluss nehmen können. Beiden Merkmalen ist gemein, den jeweiligen Straftatbestand lediglich auszugestalten und die Voraussetzungen der Strafbarkeit näher zu bestimmen, jedoch eines unmittelbaren Bezugs zum jeweiligen Schutzgut der Vorschrift zu entbehren. So erfolgt die Auslegung der niedrigen Beweggründe unabhängig davon, wie das durch die Tötungsdelikte der §§ 211 ff. StGB geschützte Rechtsgut Leben im Einzelnen konkretisiert und welcher Stellenwert ihm allgemein zuteilwird. Ebenso wenig wirkt sich die Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung darauf aus, ob ein Unglücksfall die durch § 323c StGB strafrechtlich bewehrte allgemeine Solidaritätspflicht bereits ausgelöst hat; sie begrenzt allenfalls deren Reichweite für den einzelnen Gebotsadressaten. Ähnliche Überlegungen sind im Rahmen der Ehrverletzungsdelikte der §§ 185 ff. StGB zu erwägen. Ob einer Äußerung ein ehrverletzender Charakter zuzuschreiben ist, hängt nicht zuletzt von dem Umfeld ab, in dem sie getroffen wird. Zu den einzelnen maßgeblichen Umständen zählen Umgangston, Bedeutung gebräuchlicher Gesten und Mimik oder Wortassoziationen, kurzum sämtliche kulturellen Gepflogenheiten der Beteiligten. Ein und dieselbe Bemerkung erweist sich daher in dem einen kulturellen Umfeld als belanglos oder sogar als anerkennendes Kompliment, in einem anderen Kulturkreis dagegen als ehrverletzend. In der Zeit weltweiter Kommunikation und Mobilität häufen sich interkul252 BayObLG NJW 1969, 565 (566); Fischer, § 315c Rdn. 18; König, LK, § 315c Rdn. 149; Kudlich, BeckOK-StGB, § 315c Rdn. 64; Lackner/Kühl, § 315c Rdn. 19; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Hecker, § 315c Rdn. 30.
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turelle Kontakte, die ein hohes Potential für – gegebenenfalls strafrechtlich bedeutsame – Missverständnisse bergen (dazu IV.). Bei den Ehrverletzungsdelikten könnten kulturelle Anschauungen aber nicht erst bei der Auslegung einer konkreten Äußerung, sondern schon bei der Bestimmung des tatbestandlichen Schutzbereichs zu beachten sein. Ob der Betroffene eines ehrverletzenden Werturteils im Sinne des § 185 StGB beleidigt wurde oder sich eine Tatsachenaussage gemäß §§ 186 f. StGB dazu eignet, jemanden verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, bemisst sich unmittelbar danach, welcher Umfang dem Rechtsgut der Ehre zuteilwird. Die Ehrvorstellungen verschiedener Kulturkreise unterscheiden sich in Bezug auf den Ehrträger (z. B. bei Anerkennung der Ehre eines Kollektivs wie der Familie) sowie hinsichtlich ihres Inhalts (z. B. bei der Frage, welche Eigenschaften und Charakterzüge der Person bzw. welche sozialen und gesellschaftlichen Aspekte seinen Geltungswert bestimmen). Zu untersuchen bleibt also, ob die Ehrvorstellungen der Beteiligten bereits den Anwendungsbereich der Ehrverletzungsdelikte beeinflussen oder wirklich erst bei der Auslegung einer Äußerung zu berücksichtigen sind. Es muss mit anderen Worten erörtert werden, ob es sich bei der Ehre – in Anlehnung an die „kulturoffenen Tatbestandsmerkmale“ – um ein „kulturoffenes Rechtsgut“ handelt (vgl. dazu III.).
II. Exkurs: Universale und kulturoffene Rechtsgüter 1. Auf dem Weg zu einem Weltstrafrecht? Die aufgeworfene Kulturoffenheit von Rechtsgütern bietet zunächst Gelegenheit, sich allgemein mit ihrem Verhältnis zu kulturellen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen. Dass Unterschiede zwischen den einzelnen Kulturen bestehen und einzelne strafrechtlich geschützte Rechtsgüter in ihrer Existenz bzw. in ihrem Umfang von den jeweiligen Anschauungen abhängig sind, dürfte auf generelle Zustimmung stoßen. Umgekehrt bleibt offen, ob es kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, auf deren Grundlage sich bestimmte Rechtsgüter einer universalen Anerkennung erfreuen. Angestoßen hat diese Diskussion insbesondere Otfried Höffe. Er stellte 1999 in seiner gleichnamigen Monographie die Frage „Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?“ und suchte hierauf eine Antwort aus philosophischer Sicht.253 Seine Abhandlung erfolgte losgelöst von tatsächlichen Entwicklungen im Völkerstrafrecht,254 die in das am 1. Juli 2002 in Kraft getretene Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 mündeten und Höffes Ausfüh253 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 1999. 254 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 12.
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rungen zu bestätigen scheinen. Der hierdurch errichtete Internationale Strafgerichtshof in Den Haag urteilt nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Rom-Statut über schwerste Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, vor allem den Völkermord (Art. 6 Rom-Statut), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 Rom-Statut) und Kriegsverbrechen (Art. 8 Rom-Statut).255 Da mittlerweile (Stand: 1. März 2011)256 114 Vertragsparteien aus unterschiedlichen Kulturkreisen das Statut ratifiziert und weitere 25 Staaten es unterzeichnet haben, darf insoweit von einem interkulturellen Strafrecht gesprochen werden, dessen Vorschriften weltweit akzeptiert werden. Die ausstehende Ratifikation des Abkommens durch Großmächte wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, China und Indien hat denn auch überwiegend politische Hintergründe und liegt nicht daran, dass die geahndeten Verbrechen dort nicht als strafwürdiges Unrecht angesehen würden.257 Die Entwicklungen im Völkerstrafrecht können unter Umständen eines fernen Tages zu einem umfassenden gemeinsamen und geschriebenen Weltstrafgesetzbuch führen – eine Aufgabe, die nach Höffe auf der Agenda der Weltpolitik einen ersten Platz verdient.258 Fraglich erscheint jedoch, ob den nationalen Rechtsordnungen bereits jetzt ein interkulturelles Strafrecht zu entnehmen ist, der Schutz einzelner Rechtsgüter mit strafrechtlichen Mitteln also von sämtlichen Kulturen erstrebt wird – so etwa die dem Weltrechtsprinzip in § 6 StGB zugrunde liegende Annahme. Eine solche gemeinsame Essenz ließe sich zwar empirisch im Wege der Rechtsvergleichung aller nationalen Strafrechtsordnungen ermitteln. Die theoretisch mögliche Untersuchung gestaltete sich allerdings schon infolge der enormen Masse und stetigen Dynamik der Vergleichsobjekte als äußerst schwieriger und langwieriger Akt. 2. Menschenrechte und Rechtsevolution Höffe versucht, die Frage nach der Existenz eines interkulturellen Strafrechts auf philosophischem Wege zu beantworten. Dadurch bleibt er unabhängig von den tatsächlichen Begebenheiten und geschriebenen Strafrechtsnormen, die zum Teil auf den jeweiligen Machtverhältnissen in den einzelnen Staaten beruhen. Er gelangt schließlich zu dem Ergebnis, dass „nicht schlechthin, aber soweit sich die strafrechtlichen Delikte mit allgemeinmenschlichen, des näheren mit menschenrechtlichen Argumenten begründen lassen, [. . .] ein interkulturelles Strafrecht[,] 255 Vgl. dazu §§ 6 ff. des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) vom 26. 6. 2002 (BGBl. I, S. 2254), in Kraft getreten am 30. 6. 2002. 256 Eine aktuelle Übersicht über den Ratifikationsstand findet sich unter http:// treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XVIII-10&chapter= 18&lang=en (1. 3. 2011). 257 Vgl. zur ablehnenden Haltung der USA Kreß, NStZ 2000, 617 (618). 258 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 111.
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zweifelsohne gegeben“ sei.259 Den wirklich „,großen Fremden‘, der nicht aus einem kulturell benachbarten Staat kommt, sondern aus einer andersartigen Rechtskultur“,260 gebe es überhaupt nicht und „Rechtskulturen, die so grundsätzlich anders sind, daß sie die menschenrechtlich begründbaren Delikte gar nicht kennen, sind schwer zu finden“.261 Und sollte es den großen Fremden doch geben, könne man von ihm die Anerkennung dieser Delikte eben aufgrund ihrer menschenrechtlichen Begründbarkeit verlangen.262 Den Ausführungen Höffes bleibt zum Teil mit Zurückhaltung zu begegnen. Ein erster Einwand ist allgemeiner Natur und beinhaltet zwar nicht zwingende, doch nahe liegende Bedenken, mit denen sich jeder auseinanderzusetzen hat, der eine umfassende kulturübergreifende rechtsphilosophische Betrachtung wagt: die (Vor-)Prägung durch die eigenen kulturellen und philosophischen Vorstellungen. Kann eine unvoreingenommene und neutrale Betrachtung überhaupt gelingen, ohne zuvor die einem selbstverständlich erscheinenden Vorstellungen der eigenen Kultur zu hinterfragen, die sich zumeist erst dann als lediglich vermeintlich unzweifelhaft entpuppen, wenn die Anschauungen anderer Kulturkreise als Vergleich herangezogen und analysiert werden? Bei rechtsphilosophischen Erwägungen bedeutet dies insbesondere, die Einflüsse der vorgegebenen gesellschaftlichen Umstände auf die eigenen Ansichten zu erkennen und beim Rekurs auf andere Philosophen den jeweiligen geschichtlichen Hintergrund ihrer Gedanken zu beachten. Höffe erkennt dieses Problem und bemerkt zum Einstieg seiner Überlegungen, eine die Kulturen übergreifende Frage bedürfe kulturübergreifend gültiger Begriffe und Argumente; Kultur versteht er in diesem Zusammenhang „als einen kontingenten Komplex von bestimmten Werten, Überzeugungen und Handlungsnormen“.263 Zudem weist er auf den Relativismus hin, den Ethnologen bzw. Kulturanthropologen gerne vertreten und in dem eine Skepsis gegenüber der Annahme allgemein anerkannter Verbindlichkeiten zum Vorschein tritt. Er kommt jedoch zu dem Schluss, im Bereich von Recht und Gerechtigkeit viele kulturübergreifende Gemeinsamkeiten zu entdecken und vor allem im Strafrecht einen „klaren Gegenbeleg“ zum empirisch begründeten Kulturrelativismus zu finden. Dies gelte nicht nur für das Strafrecht als solches, sondern auch für einen Großteil dessen, was als strafwürdig erachtet werde. Als Beispiele nennt er „Tötungsdelikte, Eigentumsdelikte, strafbare Handlungen gegen die Ehre, Sexualdelikte, Brandstiftung, Maß-, Gewicht- und Geldfälschungen, Urkundenfälschung“.264 259 260 261 262 263 264
Höffe, Gibt es ein interkulturelles Höffe, Gibt es ein interkulturelles Höffe, Gibt es ein interkulturelles Höffe, Gibt es ein interkulturelles Höffe, Gibt es ein interkulturelles Höffe, Gibt es ein interkulturelles
Strafrecht?, S. 107. Strafrecht?, S. 11. Strafrecht?, S. 107. Strafrecht?, S. 107. Strafrecht?, S. 11. Strafrecht?, S. 67.
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Kulturelle Voreingenommenheit zeige sich hier allenfalls in einigen Spezialbestimmungen sowie ansonsten bei Delikten wie Kuppelei, Homosexualität, Unzucht unter Verlobten, Häresie, Majestätsbeleidigung und Staatskritik, welche die modernen bzw. liberalen Gesellschaften bereits gestrichen hätten.265 Diesem Befund dürfte noch weitgehend zuzustimmen sein. Insbesondere die höchstpersönlichen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit, Ehre und Freiheit werden kulturübergreifend strafrechtlich geschützt.266 Allerdings besagt dies lediglich, dass ein Kulturrelativismus in Bezug auf die diagnostizierte Übereinstimmung der Strafrechtsordnungen aus verschiedenen Kulturkreisen nicht angebracht ist. Hinsichtlich der Ursachen für dieses Phänomen lässt sich daraus indes keine Aussage ableiten. So erlaubt die Existenz eines zumindest in Ansätzen vorhandenen interkulturellen Strafrechts nicht die Schlussfolgerung, die Strafwürdigkeit der gemeinsamen Schnittmenge auf ein und dieselbe philosophische Begründung zurückführen zu können. Gleichwohl beschränkt sich Höffe auf einen einzigen philosophischen Ansatz: Menschenrechte und Demokratie. Sie „sind nicht spezifisch europäische oder westliche Phänomene, vielmehr kommt in ihnen etwas Allgemeinmenschliches zum Durchbruch“.267 Höffe versteht (die268) Menschenrechte jedoch nicht im westlichen Sinne, sondern weist ausdrücklich auf die Existenz „unveräußerlicher, sakrosankter Rechte des Individuums“ sogar in „vermeintlich ,primitiven‘ Kulturen“ hin.269 Daraus zieht er den Schluss, Menschenrechte seien kulturindifferent zu rechtfertigen.270 Eine derart begründete gemeinsame Basis habe zudem den Vorteil, anderen Kulturen ein hohes Maß an Eigenständigkeit einzuräumen und Menschenrechte für unterschiedliche Lebensbedingungen und Gesellschaftsentwürfe offen zu halten. „Die Devise heißt: Universalität ohne Uniformität.“ 271 Dem Verweis auf nach wie vor bestehende andere kulturelle Anschauungen hält Höffe das Moment der (Rechts-)Evolution entgegen. Er will dies nicht als Überheblichkeit des Westens verstanden wissen, der seine Kultur als weiter entwickelt ansieht, und verweist auf das gegenseitige Geben und Nehmen bei der Begegnung mit anderen Kulturen.272 Die noch existenten Abweichungen einiger 265
Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 104 f. Zustimmend auch der Kommentar von Rössner, Kriminalrecht als unverzichtbare Kontrollinstitution, S. 121 (125), der zu dem sich in den einzelnen Staaten gleichenden Kernbereich geschützter Rechtsgüter Leben, Gesundheit, Freiheit, Persönlichkeitsentfaltung und Vermögen zählt. 267 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 93. 268 Höffe verzichtet bewusst auf den bestimmten Artikel, um Assoziationen mit westlichen Vorstellungen der Menschenrechte zu vermeiden, Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 56. 269 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 51. 270 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 56. 271 Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 96. 266
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Rechtsordnungen zum interkulturellen Strafrecht dürften demnach mit der Zeit verschwinden. Höffe nährt seine Hoffnung durch den zunehmenden Rückgang von Leib- und Todesstrafen sowie die mittlerweile anerkannte Rechtswidrigkeit der Sklaverei, wohl auch des Menschenhandels und des Handels mit Rauschgiften, der Folter und der Menschenopfer. Zu den nicht mehr zu rechtfertigenden großen Verstößen gehöre ebenso die Blutrache; wenngleich sie etwa in Ostanatolien noch gepflegt werde, sei sie nach türkischem Recht nicht erlaubt.273 Die an früherer Stelle unternommenen Ausführungen zu den Ehrenmorden274 lassen den Verweis auf die Strafbarkeit der Blutrache indes fragwürdig erscheinen. Solche Taten werden nach wie vor in patriarchalischen Gesellschaften akzeptiert und praktiziert, unabhängig davon, ob das Gesetz diese, wie in Jordanien, privilegiert oder, wie in der von Höffe exemplarisch angeführten Türkei, ausdrücklich als nicht zu rechtfertigendes Unrecht kennzeichnet.275 Selbst in der Türkei ist der Ehrenmord im engeren Sinne erst seit 2005 ein qualifizierter Fall der Tötung. Gerade diese Entwicklung könnte freilich als Beleg für die von Höffe erwartete Rechtsevolution erachtet werden. Jedoch dürfte in erster Linie nicht die gesellschaftliche Überzeugung von der Notwendigkeit einer solchen Gesetzesänderung den Hintergrund der türkischen Strafrechtsreform gebildet haben, sondern der politische Druck der Europäischen Union und ihre Forderung nach einem besseren Schutz der Menschenrechte. Es handelt sich hier also allenfalls um eine aufgedrängte, nicht aber um eine gewachsene Evolution, die ihre tatsächliche Anerkennung durch eine dauerhafte Umsetzung noch beweisen muss. So sympathisch die Vision eines an Menschenrechten ausgerichteten Weltstrafrechts ist, so groß sind die Zweifel an ihrer Realisierung. Zwar mag schon jetzt die Existenz eines interkulturellen Kernstrafrechts behauptet werden. Ob sich hierfür eine kulturübergreifend einheitliche Begründung findet, bleibt angesichts der Vielfalt und der Differenziertheit bestehender Gesellschaftssysteme aber fraglich. Gerade die sittliche Bewertung der Ehrenmorde offenbart erhebliche kulturelle Unterschiede, welche die Vorstellung einer interkulturellen Akzeptanz von Menschenrechten in die Nähe einer Illusion rücken und die gemeinsame Schnittmenge als äußerst gering erscheinen lassen. Um es mit den Worten Hassemers zum Ausdruck zu bringen: „Ich bin keineswegs davon überzeugt, ,daß es, strafrechtlich gesehen, den großen Fremden gar nicht gibt‘.“ 276 Der bislang er272
Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 93. Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 108 f. 274 Siehe Teil 2 Kap. 2 II. 1. 275 Zur Wirkungslosigkeit der Sanktionierung der Blutrache Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 241 f.; Kizilhan, „Ehrenmorde“, S. 79 f.; Rumpf, Die Ehre im türkischen Strafrecht, S. 11 f. 276 Hassemer, Vielfalt und Wandel, S. 157 (172); vgl. auch ders., in: Festschrift E. A. Wolff, S. 101 (116). 273
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reichte Konsens über grundlegende Menschenrechtsverletzungen kann „ein Motor für eine interkulturelle Verständigung über den Inhalt und den Bestand von Menschenrechten sein“,277 eine Garantie für ihre bevorstehende allgemeine Anerkennung beinhaltet er hingegen nicht. 3. Kollision strafrechtlicher Schutzgüter Selbst wenn ein interkulturelles Strafrecht existierte und über die strafrechtliche Schutzwürdigkeit von Rechtsgütern zumindest in einem Kernbereich Einigkeit bestünde, bedeutete dies lediglich eine Übereinstimmung über deren grundsätzliche Gewährleistung, nicht aber über den Umfang dieses Schutzes. Das Rechtsgut Leben kulturübergreifend anzuerkennen hat weder zur Folge, es jedem Menschen in gleichem Maße zuzugestehen, wie der unterschiedliche Wert der Leben von Mann und Frau in patriarchalischen Gesellschaften belegt, noch ihm überall denselben Stellenwert bei der Kollision mit anderen Rechtsgütern zukommen zu lassen. Für philosophische und strafrechtliche Überlegungen bleiben Reichweite und Stellenwert eines Rechtsguts eminent wichtig. Denn es sind nicht ausschließlich Sachverhalte ethisch oder juristisch zu bewerten, die sich in einem einseitigen Eingriff in ein anerkanntes Schutzgut erschöpfen, z. B. einem grundlosen Angriff auf das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Opfers. Vielmehr bedürfen gerade Kollisionsfälle, die verschiedene miteinander in Ausgleich zu bringende Rechtsgüter betreffen, einer Beurteilung, in der Regel einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. Das Ergebnis dieser Gesamtwürdigung hängt im Wesentlichen von der jeweiligen Bedeutung der Güter ab, die kaum in sämtlichen Kulturen identisch oder auch nur derart ähnlich sein wird, dass stets dasselbe Rechtsgut den Vorrang erhält. Als Paradebeispiel hierfür dienen abermals die Ehrenmorde und die Blutrache. Selbst in patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen, in denen solche Taten am ehesten begangen werden, sind Leben und Ehre durchaus anerkannte Rechtsgüter. Während jedoch hierzulande das Rechtsgut der (Familien-)Ehre inzwischen weit davon entfernt ist, in einer Abwägung das Rechtsgut Leben zu überragen oder den Unrechtsgehalt dessen Verletzung erheblich zu mindern, erscheint es den Angehörigen des betreffenden kulturellen Umfeldes als geboten, ihre Ehre durch die Tötung der für den Ehrverlust als verantwortlich angesehenen Person wiederherzustellen. Diese Wertung spiegelt sich zumindest zum Teil noch in der 277 Hassemer, Vielfalt und Wandel, S. 157 (179). Roxin, Strafrecht AT I, § 4 Rdn. 51 weist zudem auf „die allgemeinen Lehren des Strafrechts und leitende kriminalpolitische Maßstäbe (wie das Gesetzlichkeitsprinzip, das Schuldprinzip und das Tatstrafrecht)“ hin, die „zu einer beachtlichen Annäherung von Strafrechtsordnungen in vielen Teilen der Welt geführt haben“.
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Behandlung solcher Taten durch die Strafrechtsordnung der betroffenen Staaten wider. Von einem einheitlichen interkulturellen Strafrecht kann also nicht einmal bei dem Schutz grundlegender Rechtsgüter wie dem Leben gesprochen werden. Doch bedarf es eines Phänomens wie der Ehrenmorde überhaupt nicht, um die Problematik der verschiedengestaltigen Abwägung kollidierender Rechtsgüter zu verdeutlichen. Vornehmlich bei Handlungen, über deren ethische Bewertung Streit besteht, genügt bereits ein Blick in die Nachbarstaaten, um erhebliche Differenzen in der Ausgestaltung des Strafrechts zu bemerken. Exemplarisch kann auf den Schwangerschaftsabbruch verwiesen werden, der selbst innerhalb des vielfach zitierten christlich-abendländischen Kulturkreises äußerst uneinheitlich behandelt wird. Während z. B. die polnische Rechtsprechung seit 1993 einen Schwangerschaftsabbruch nur bei medizinischer und kriminologischer Indikation gestattet, existiert in den Niederlanden seit 1981 ein äußerst liberales Abtreibungsrecht. Die unterschiedlichen Regelungen dürften sich nicht zuletzt darauf zurückführen lassen, dass Polen mit einem entsprechenden Bevölkerungsanteil von fast 90% eine deutlich römisch-katholische Prägung besitzt, während in den Niederlanden nahezu jeder zweite keiner Konfession angehört, der Einfluss der christlichen Kirchen somit erheblich geringer ist. Ein weiteres prominentes Beispiel für abweichende Auffassungen über die Reichweite und Abwägung von Rechtsgütern in Staaten ein und desselben Kulturkreises bildet die Forschung an embryonalen Stammzellen. Die gesetzliche Regelung der Materie erweist sich in den europäischen Staaten als äußerst unterschiedlich und reicht von der Zulässigkeit sowohl der Gewinnung als auch der Verwendung von embryonalen Stammzellen (z. B. in Großbritannien, Schweden und den Niederlanden) über vermittelnde Kompromissregelungen (z. B. der Stichtagsregelung in Deutschland) bis hin zu einem völligen Verbot der embryonalen Stammzellforschung (z. B. in Österreich und Polen). Maßgeblich ist jeweils, ob und in welchem Umfang den Embryonen, aus denen die embryonalen Stammzellen gewonnen werden, Menschenwürde und ein Recht auf Leben zugestanden wird, bzw. wie der Konflikt zwischen diesen Rechtsgütern auf der einen und der Forschungsfreiheit auf der anderen Seite aufgelöst wird. Ähnlich wie bei der Normierung des Schwangerschaftsabbruchs lässt sich ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen der Reichweite der Verbote embryonaler Stammzellforschung und dem jeweiligen Einfluss der christlichen Kirchen verzeichnen. Medizinische Fortschritte und technologische Errungenschaften werden nicht selten mit einem gewissen Argwohn betrachtet, weswegen ihre ethische Bewertung schon aus diesem Grund oft umstritten ist. Es bleibt deswegen generell äußerst schwierig, für ihre (straf-)rechtliche Behandlung einen gemeinsamen Nenner zu finden, den alle Staaten akzeptieren. Dies betrifft insbesondere neue Bereiche der Wissenschaft, z. B. die Genforschung, sowie die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie, hier etwa den Schutz von Persönlichkeitsrechten im
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Internet. Die Vielgestaltigkeit der neuen Herausforderungen für Recht und Gesellschaft erschwert aber ebenso die Ausbildung eines interkulturellen Strafrechts, das sich nicht nur auf die grundsätzliche Anerkennung bestimmter Rechtsgüter beschränkt, sondern darüber hinaus ihren Stellenwert im Verhältnis zu gegebenenfalls kollidierenden Rechtsgütern übereinstimmend bewertet. Ein einheitliches, noch dazu philosophisch kulturübergreifend begründbares Weltstrafrecht dürfte daher in weiter, gegebenenfalls unerreichbarer Ferne liegen.
III. Die Ehre als kulturoffenes Rechtsgut? 1. Die Bedeutung der Ehre in Deutschland Der je nach Kultur unterschiedliche Gehalt eines Rechtsguts lässt sich an der Ehre illustrieren. In Deutschland verlor sie in den letzten Jahrhunderten zunehmend an Bedeutung. Noch im 19. Jahrhundert weckten Ehrverletzungen in dem Beleidigten gelegentlich das Verlangen nach Satisfaktion und veranlassten ihn zu einer Aufforderung zum – wenngleich stets umstrittenen – Duell.278 Dem mitunter tödlich verlaufenden Zweikampf fielen berühmte Persönlichkeiten wie beispielsweise der Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle zum Opfer. Solche drastischen Formen der Vergeltung für erlittene Beleidigungen gehören heutzutage der Vergangenheit an. Der verminderte gesellschaftliche Stellenwert der Ehre in Deutschland spiegelt sich in ihrem strafrechtlichen Schutz in der Praxis wider. Zwar werden herabwürdigende Verhaltensweisen häufig, in absoluten Zahlen sogar zunehmend zur Anzeige gebracht.279 Zu Ab- oder Verurteilungen kommt es indes vergleichsweise selten,280 weil vor allem bei Kontroversen im privaten Bereich oftmals keine öffentliche Klage erhoben wird. Dies entspricht Nr. 229 Abs. 1 Satz 1 RiStBV, wonach die Staatsanwälte bei nicht wesentlichen Ehrenkränkungen, wie sie vielfach bei Familienzwistigkeiten, Hausklatsch und Wirtshausstreitigkeiten vorliegen, regelmäßig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen sollen. Daher stellen die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren in der Regel ein und verweisen den
278
Dazu allgemein Schlink, NJW 2002, 537. Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasste 2009 200.827, 2008 193.617, 2007 193.092 und 2006 187.527 Fälle, Polizeiliche Kriminalstatistiken 2006 bis 2009, Tabelle 01, Schlüsselzahl 6730 bzw. 673000. Dies entspricht dem seit 1990 (79.552 Fälle) andauernden Trend, wonach jedes Jahr mehr Beleidigungen polizeilich registriert werden. 1994 wurden erstmals über 100.000 (exakt: 103.771), 2000 über 150.000 (exakt: 152.282) Fälle notiert. 280 Die Strafverfolgungsstatistik 2009 verzeichnete 29.806 Ab- bei 22.852 Verurteilungen wegen der §§ 185 ff. StGB (2008: 29.687/22.545, 2007: 29.166/22.373, 2006: 24.017/18.320), Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts 2006 bis 2009, Tabelle 2.1. 279
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Verletzten auf den Privatklageweg, der wegen der geringen Erfolgsaussichten und des Kostenrisikos allerdings generell kaum beschritten wird.281 Die schwindende Bedeutung in der Praxis dürfte unter anderem auf den geringer werdenden Anwendungsbereich der Ehrverletzungsdelikte zurückzuführen sein. Obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 185 bis 187 StGB sowie der Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB seit 1871 unverändert blieben, hat sich der materiell-strafrechtliche Ehrenschutz in wesentlichen Punkten verringert. Vornehmlich hat eine stärkere Konturierung der Ehre als lediglich einem von mehreren Aspekten der Personenwürde dazu geführt, dass mittlerweile nicht mehr jede Verletzung des Persönlichkeitsrechts als Beleidigung angesehen wird. Beispielsweise werden sogenannte mittelbare Beleidigungen, bei denen einer Verhaltensweise gegenüber einer Person ein herabwürdigender Charakter für einen Dritten entnommen wurde – sei es das nächtliche Ausgehen mit einer verheirateten Frau als Ehrkränkung ihres Ehemannes282 oder die Ohrfeige gegenüber einem Kind in Gegenwart des Vaters als Missachtung seines Erziehungsrechts283 –, heute nicht mehr als Ehrverletzung erachtet.284 Ebenso wenig beinhalten Verletzungen der Intimsphäre als solche eine Missachtung der Ehre des Betroffenen. Dies gilt etwa für die bloße Weitergabe von Aktfotos oder sonstigen intimen oder peinlichen Bild- und Videoaufnahmen,285 sofern sich nicht aus den Umständen der Veröffentlichung eine Herabsetzung des Betroffenen ergibt.286 Deutlich wird die Einschränkung des strafrechtlichen Schutzguts der Ehre bei der Sexualbeleidigung. Nach früherer Rechtsprechung verwirklichten sexuelle und sexualbezogene Handlungen als Angriff auf die „Geschlechtsehre“ in der Regel den Tatbestand der Beleidigung.287 Dadurch kam den Ehrverletzungsdelikten eine Funktion als Lückenbüßer zu, wenn die Strafbarkeitsschwelle zu einem Sexualdelikt mangels Erheblichkeit nicht überschritten war.288 Unter Heranziehung des fragwürdigen Konstrukts der soeben geschilderten mittelbaren Beleidigung galt dies nicht nur gegenüber dem Opfer der sexuellen Handlungen selbst, sondern auch gegenüber Dritten, die durch dieses Verhalten indirekt betroffen waren. Insbesondere der Ehebruch wurde lange Zeit, selbst bei Einverständnis des untreuen Ehepartners, als Beleidigung des unbeteiligten Ehegatten gewer281 Fischer, Vor § 185 Rdn. 6; Winter, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Deutschland, S. 95 (138). 282 RGSt 70, 94 (97 ff.). 283 OLG Koblenz NJW 1955, 602. 284 Zur Kritik Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 34 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/ Eisele, § 185 Rdn. 10; Zaczyk, NK, Vor §§ 185 ff. Rdn. 26; Wessels/Hettinger, Rdn. 477. 285 Anders noch BGHSt 9, 17 (17 f.). 286 Dazu S. M. Beck, MMR 2008, 77 (80). 287 BGHSt 7, 129 (130); 8, 357 (358); BGH StV 1982, 14 (15). 288 Kritisch statt vieler Lackner/Kühl, § 185 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 185 Rdn. 4; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 61 ff.
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tet.289 Inzwischen wurde aber die Strafbarkeit des Ehebruchs in § 172 StGB a. F. durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969290 aufgehoben und fand eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts durch das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts (4. StrRG) vom 23. November 1973291 statt. Seitdem entspricht es herrschender, wenngleich in der Rechtsprechung nicht durchgängig eingehaltener Ansicht,292 dass eine sexuelle Handlung ausschließlich dann eine Beleidigung beinhaltet, wenn der Täter dadurch – abweichend von dem gewöhnlichen Erscheinungsbild einer sexuellen Handlung – zum Ausdruck bringt, der Betroffene weise einen ehrmindernden Mangel auf.293 Eine weitere Problematik des deutschen Beleidigungsstrafrechts stellt der Schutz der Ehre von Personengemeinschaften dar. Dies erscheint fraglich, da einem Kollektiv keine Personenwürde zukommt, aus welcher der Geltungswert des Einzelnen und der darauf beruhende Achtungsanspruch abgeleitet werden kann.294 Die Rechtsprechung und die herrschende Auffassung im Schrifttum bejahen gleichwohl eine Beleidigungsfähigkeit der Personengemeinschaften als solche, d. h. unabhängig von einer etwaigen Verletzung der Ehre der darin vereinigten Mitglieder als Individuen,295 sofern sie eine rechtlich anerkannte soziale Funktion erfüllen und in der Lage sind, einen einheitlichen Willen zu bilden.296
289 RGSt 65, 1 (2); 75, 257 (259); BGH NJW 1952, 476 (476 f.); vgl. außerdem BayObLG GA 1963, 20 (21) zur sittlichen Belästigung einer verheirateten Person, wenngleich ausdrücklich unabhängig von deren Geschlecht; einschränkend OLG Zweibrücken NJW 1971, 1225. 290 BGBl. I, S. 645. 291 BGBl. I, S. 1725. 292 Vgl. OLG Bamberg NStZ 2007, 96 (kritisch hierzu Fischer, § 185 Rdn. 11b); OLG Hamm NStZ-RR 2008, 108 f. 293 BGHSt 36, 145 (150); BGH NStZ 2007, 218; OLG Düsseldorf NJW 2001, 3562 (3563); OLG Karlsruhe NJW 2003, 1263 (1264); Fischer, § 185 Rdn. 11a; Lackner/ Kühl, § 185 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 185 Rdn. 4; Regge, MünchKomm-StGB, § 185 Rdn. 11; Valerius, BeckOK-StGB, § 185 Rdn. 30; Zaczyk, NK, Vor §§ 185 ff. Rdn. 25; Rengier, BT II, § 29 Rdn. 28; Kiehl, NJW 1989, 3003 (3004 f.); Sick, JZ 1991, 330 (333). 294 Eine Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften ablehnend Fischer, Vor § 185 Rdn. 12a; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, Vor § 185 Rdn. 36; Zaczyk, NK, Vor §§ 185 ff. Rdn. 12; Wessels/Hettinger, Rdn. 468: „Rechtsfortbildung in malam partem“; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 112 ff.; Gounalakis, NJW 1996, 481 (484); KettStraub, ZStW 120 (2008) 759 (776 ff.); Wagner, JuS 1978, 674 (675 f.); einschränkend Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (441): Beleidigungsfähigkeit nur von echten Lebensund Schicksalsgemeinschaften. 295 RGSt 70, 140 (140 f.); BGHSt 6, 186 (189 ff.); Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 27; Lackner/Kühl, Vor § 185 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 185 ff. Rdn. 3; Valerius, BeckOK-StGB, § 185 Rdn. 11; Tenckhoff, JuS 1988, 457 (458). 296 BGHSt 6, 186 (191); OLG Düsseldorf MDR 1979, 692; OLG Frankfurt am Main NJW 1989, 1367 (1367); OLG Köln NJW 1979, 1723 (1723); Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 27; Lackner/Kühl, Vor § 185 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele,
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Unter anderem wurden – von der Rechtsprechung in mitunter großzügigem Umfang297 – Kapitalgesellschaften 298, die Bundeswehr299, politische Parteien und ihre Unterorganisationen300 sowie ein katholisches Erzbistum301 als beleidigungsfähig angesehen. Der Familie wird indes keine Beleidigungsfähigkeit zugesprochen, weil es ihr an der erforderlichen einheitlichen Willensbildung fehle.302 Dies bedeutet allerdings nicht zwingend die Straflosigkeit herabwürdigender Äußerungen gegenüber einer Familie, da die abfälligen Bemerkungen häufig als Beleidigung der einzelnen Familienmitglieder unter einer Kollektivbezeichnung erfasst werden dürften.303 Dennoch bleibt festzuhalten, dass die §§ 185 ff. StGB nicht die Familienehre als solche schützen. 2. Der strafrechtliche Schutz der Ehre in anderen Staaten und Kulturen Schon die Ausführungen zu den Ehrenmorden304 ließen erkennen, welche unterschiedlichen Ehrvorstellungen in den einzelnen Kulturen existieren. Die differenzierten Ausgestaltungen der Ehre können erneut am Beispiel der Türkei aufgezeigt werden. Dort sind neben den bereits erwähnten Ehrbegriffen von namus und s¸eref weitere Bezeichnungen für einzelne Ehraspekte gebräuchlich, z. B. onur als insbesondere die individualisierte und verinnerlichte Ehre, haysiyet als das Ansehen oder die Würde, s¸öhret als die Reputation oder saygınlık als das berechtigte Ansehen. Sie haben größtenteils ihren Weg in das türkische Strafgesetzbuch gefunden und erschweren infolge ihrer nicht stets trennscharfen Abgrenzung die Rechtsanwendung.305 „Die Rolle der Ehre im Strafrecht“ ist in den einzelnen Staaten also recht unterschiedlich angelegt. Einen vertiefenden Überblick über die Rechtslage in 13 Vor §§ 185 ff. Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 24 Rdn. 17; Rengier, BT II, § 28 Rdn. 10. 297 Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 27; Lackner/Kühl, Vor § 185 Rdn. 5. 298 BGHSt 6, 186 (191). 299 BGHSt 36, 83 (88); OLG Frankfurt am Main NJW 1989, 1367 (1367); kritisch Giehring, StV 1992, 194 (195 f.). 300 OLG Düsseldorf MDR 1979, 692. 301 BGH NJW 2006, 601 (602). 302 Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 33; Lackner/Kühl, Vor § 185 Rdn. 5; Schönke/ Schröder/Lenckner/Eisele, Vor §§ 185 ff. Rdn. 4; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, Vor § 185 Rdn. 37; Valerius, BeckOK-StGB, § 185 Rdn. 13; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 24 Rdn. 20; Wessels/Hettinger, Rdn. 470; Geppert, Jura 2005, 244 (245); Tenckhoff, JuS 1988, 457 (459); vgl. auch BGHSt 6, 186 (192); a. A. Otto, BT, § 31 Rdn. 18; Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418 (441 f.). 303 Vgl. hierzu vor dem Hintergrund der kulturellen Pluralisierung Hilgendorf, JZ 2009, 139 (142). 304 Siehe Teil 2 Kap. 2 II. 1. 305 Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in der Türkei, S. 619 (623 f.).
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Ländern, namentlich in Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Israel, Italien, Japan, Kroatien, Norwegen, Polen, Spanien, der Türkei und den USA, gewährt der gleichnamige, von Tellenbach im Jahr 2007 herausgegebene Sammelband.306 In den USA etwa spielt das Strafrecht beim Schutz der Ehre in der Praxis überhaupt keine Rolle. Dort kann gegen den Angreifer allenfalls mit Mitteln des Zivilrechts vorgegangen werden.307 Auch in Australien wird der Ehre nahezu überhaupt keine strafrechtliche Bedeutung zuteil, da sie als privates Rechtsgut betrachtet wird, dessen Verteidigung in erster Linie dem Zivilverfahren obliegt.308 Das Strafverfahren (und somit der strafrechtliche Ehrenschutz) hat hingegen zur Aufgabe, den öffentlichen Frieden zu wahren.309 Ansonsten sind Differenzen des strafrechtlichen Schutzes unter anderem bei der schwierigen Bestimmung des Ehrbegriffs, vornehmlich dem Widerstreit zwischen faktischen und normativen Ansätzen,310 sowie bei dem Kreis der möglichen Ehrträger zu verzeichnen,311 sei es bei dem Ehrenschutz Verstorbener oder der Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften. Viele Berichtsländer schützen juristische Personen in größerem Umfang als in Deutschland,312 wenngleich ihnen in der Regel eine innere Ehre abgesprochen wird und strafrechtlicher Anknüpfungspunkt lediglich ihr äußerer Ruf bleibt.313 Ein weiterer interkultureller Problemkreis betrifft die Ehrverletzung als Auslöser weiterer Konflikte und Ausgangspunkt für Eingriffe in Rechtsgüter,314 unter anderem ihre Heranziehung als notwehrfähiges Rechtsgut.315 Für die Feststellung der Ehrenrührigkeit besteht aber Einigkeit zumindest insoweit, bei der Bewertung nicht die subjektive Empfindlichkeit des Opfers heranzuziehen, sondern objektivierte Kriterien anzulegen.316 Die Suche nach einem 306 307
Tellenbach (Hrsg.), Die Rolle der Ehre im Strafrecht, Berlin 2007. Nelson, Honor and criminal law in the United States of America, S. 663 (679 und
683). 308
Taylor, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Australien, S. 1 (6). Taylor, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Australien, S. 1 (10). 310 Zusammenfassend Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (732 ff.). 311 Zusammenfassend Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (752 ff.). 312 Vgl. etwa für Japan Matsuo, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Japan, S. 377 (389); für Italien de Simone/de Francesco, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Italien, S. 293 (316); ebenso wohl für Kroatien Bojanic´, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Kroatien, S. 405 (419). Zum Streit in Spanien siehe Bacigalupo/Manso Porto, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Spanien, S. 589 (608); in Polen E. Weigend/Zielin´ska, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Polen, S. 529 (543). 313 Für Norwegen Borvik, Honour and criminal law in Norway, S. 459 (473); für Brasilien Choukr, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Brasilien, S. 41 (61); für Israel Ghanayim, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Israel, S. 221 (244 f.). 314 Zusammenfassend Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (785 ff.). 315 Siehe dazu unten Teil 3 Kap. 4 II. 2. 316 Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (748). 309
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solchen Maßstab erweist sich insbesondere dann als problematisch, wenn in der Gesellschaft unterschiedliche Bevölkerungsgruppen vertreten sind, deren Verhältnis nicht frei von Komplikationen ist. So fehlt der Behauptung, der Erzbischof der armenischen Kirche in Jerusalem, ein jordanischer Staatsbürger, habe mit der israelischen Regierung kollaboriert, aus israelischer Sicht jegliche Eignung, die Ehre des Betroffenen zu verletzen. In der unmittelbaren palästinensischen Umgebung des Erzbischofs wird eine solche Zusammenarbeit dagegen als ehrenrührig angesehen.317 Die in solchen Fällen entscheidende Perspektive wird in Israel kontrovers diskutiert.318 In Polen werden beleidigende Äußerungen auch dann als ehrverletzend angesehen, wenn sie nur von bestimmten Gruppen als herabwürdigend erachtet werden, es sei denn, dass die fraglichen Bemerkungen mit dem allgemeinen Wertesystem übereinstimmen.319 3. Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen beim Rechtsgut „Ehre“ Da über Inhalt und Umfang des Rechtsguts „Ehre“ in den einzelnen Staaten unterschiedliche Vorstellungen herrschen, bleibt bei kulturellen Konflikten schon der Anwendungsbereich der §§ 185 ff. StGB sorgsam zu untersuchen. Dies gilt vor allem für Äußerungen von oder gegenüber Angehörigen eines anderen Kulturkreises, die lediglich nach deren Ehrverständnis herabwürdigend und strafbar sind, beispielsweise indem sie die hierzulande nicht als strafrechtliches Schutzgut anerkannte Familienehre als solche verletzen. Ebenso möglich erscheint der umgekehrte Fall, dass jemand eine nach hiesigen Maßstäben beleidigungsfähige Personengemeinschaft in ihrer Ehre beeinträchtigt, ohne ihr aufgrund seiner kulturellen Wertvorstellungen irgendeine Ehre zuzugestehen. In solchen Konstellationen stellt sich die Frage, welche der verschiedenen Anschauungen den Ehrverletzungsdelikten zugrunde zu legen ist. Insbesondere bei Sachverhalten, die sich unter Angehörigen ein und desselben fremden Kulturkreises ereignen, könnte erwogen werden, ausschließlich deren Anschauungen zu berücksichtigen. Dies bedeutete, gegebenenfalls die Strafbarkeit von Äußerungen abweichend von dem inländischen Ehrverständnis zu beurteilen. Für einen solchen multikulturellen Maßstab ließe sich zum einen der Respekt vor fremden Wertvorstellungen anführen. Zum anderen stieße es auf Unverständnis der Betroffenen, wenn der Staat einen strafrechtlichen Schutz verwehrt, obwohl eine Äußerung nach der Ansicht aller Beteiligten etwa die Ehre einer Familie zutiefst verletzt. 317 Beispiel nach Ghanayim, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Israel, S. 221 (241); ergänzend Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (749). 318 Ghanayim, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Israel, S. 221 (240 ff.). 319 E. Weigend/Zielin ´ska, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Polen, S. 529 (557).
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Eine solche kulturelle Flexibilität des Rechtsguts „Ehre“ wäre allerdings auf ihre Vereinbarkeit mit den hiesigen verfassungsrechtlich geschützten Werten zu überprüfen. Es bliebe vornehmlich in Bezug auf die Familienehre zu beachten, auf welchen Anschauungen deren Anerkennung überhaupt beruht. Bei streng patriarchalischen Gesellschaften kommt darin beispielsweise weniger eine Achtung der Familie als Gemeinschaft zum Ausdruck als vielmehr die dominante Position des Mannes und „seiner“ Familie, für die er als Oberhaupt die Verantwortung trägt. Ein Rekurs auf eine solche Begründung des Rechtsguts „Familienehre“ würde die sich darin verbergende Ungleichbehandlung von Mann und Frau, unter anderem in Art und Ausmaß der ihr zugestandenen Ehre, gutheißen und gegen die Vorgaben des Grundgesetzes verstoßen. Auch jenseits verfassungsrechtlicher Schranken bestehen generelle Einwände gegen die Auswirkungen kultureller Ehrvorstellungen auf Inhalt und Umfang des von den §§ 185 ff. StGB geschützten Rechtsguts. Zunächst bereitet die anzustrebende Gleichheit vor dem Gesetz Bedenken, wenn ein und dieselbe Äußerung je nach kultureller Zugehörigkeit der Beteiligten einmal als strafbar, einmal als straffrei anzusehen wäre. Fraglich wäre zudem, welcher Maßstab Anwendung finden sollte, wenn Personen aus verschiedenen Kulturkreisen mit jeweils unterschiedlichem Ehrverständnis betroffen sind, und inwieweit dann etwaige Widersprüche bei der Strafbarkeit einer herabwürdigenden Aussage noch erklärt werden könnten. Demzufolge liegt es – ähnlich wie bei kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen – nahe, einen einheitlichen Bewertungsmaßstab, namentlich die Ehrvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft, heranzuziehen.320 Ein multikulturelles Ehrverständnis hinderte nicht zuletzt die Integration von Angehörigen anderer Kulturen und ihrer Anschauungen in die Gesellschaft.321 Zum einen würde die einheimische Bevölkerung nicht nachvollziehen, warum eine ihrer Auffassung nach unbedenkliche Äußerung strafbar ist bzw. umgekehrt eine ihres Erachtens ehrverletzende Bemerkung straflos bleibt. Zum anderen würde eine bei den Beleidigungsdelikten praktizierte Maßstabsvielfalt den Angehörigen anderer Kulturen die hiesigen Anschauungen weder vermitteln noch näherbringen; mit einem solchen Anliegen geht aber die Hoffnung oder Erwartung einher, dass die hiesigen Ehrvorstellungen von ihnen respektiert oder sogar akzeptiert bzw. durch einen Diskurs mit ihrem eigenen Ehrverständnis weiter entwickelt werden. Dadurch könnten die Vorstellungen anderer Kulturen den hierzulande mehrheitlich geteilten Ehrbegriff beeinflussen und langfristig den Bewertungsmaßstab für die Ehrverletzungsdelikte verändern. Inhalt und Umfang des strafrechtlich geschützten Rechtsguts „Ehre“ bestimmen sich demzufolge nach den inländischen Ehrvorstellungen. Dies gilt unabhän-
320 321
Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 120 f. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 121.
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gig davon, welchem Kulturkreis die Beteiligten jeweils angehören bzw. in welchem kulturellen Umfeld eine Äußerung getätigt wird. Die Ehre lässt sich daher nicht als „kulturoffenes Rechtsgut“ bezeichnen. Weder dehnt ein anderes Ehrverständnis den Anwendungsbereich der §§ 185 ff. StGB – z. B. auf die Verletzung der Familienehre – aus noch wird umgekehrt der inländische Ehrenschutz durch diesbezüglich großzügigere Anschauungen relativiert. Im letztgenannten Fall wird der Betroffene, der die Äußerung nach seinen kulturellen Vorstellungen als nicht ehrverletzend empfindet, in der Regel ohnehin von dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB notwendigen Strafantrag absehen.
IV. Kulturoffene Tatbestandsmerkmale bei den Ehrverletzungsdelikten 1. Kulturelle Missverständnisse Verschiedene kulturelle Anschauungen bedingen nicht nur ein abweichendes Ehrverständnis, sondern wirken sich ebenso auf die Interpretation einer Äußerung aus. So kann ein und derselben Aussage ein unterschiedlicher Erklärungsinhalt beigemessen werden, je nachdem, in welchem kulturellen Umfeld sie erfolgt. Die Anzahl derartiger Fallgestaltungen potenziert sich in einer multikulturellen Gesellschaft mit der damit einhergehenden Vielfalt möglicher Gesprächspartner. Vor allem zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen besteht eine erhöhte Gefahr für Missverständnisse, wenn eine bestimmte Wortwahl oder eine bestimmte Geste lediglich nach den Vorstellungen einer der beteiligten Kulturen einen ehrverletzenden Inhalt aufweist. Um dies an einer in Deutschland alltäglichen und unbedenklich erscheinenden Geste aufzuzeigen: Die geschlossene Faust mit nach oben ausgestrecktem Daumen symbolisiert in den meisten Staaten (insbesondere in Großbritannien, den USA sowie in Russland) ein positives und zufriedenes Urteil. In Australien, einigen islamischen Staaten sowie teilweise in Griechenland und Sardinien gilt die Geste hingegen als obszöne sexuelle Beleidigung.322 Als weiteres mehrdeutiges Zeichen, bei dessen Auslegung schon hierzulande der jeweilige Kontext den Ausschlag gibt, lässt sich der aus Daumen und Zeigefinger gebildete Kreis anführen. Häufig wird damit – beispielsweise unter Tauchern und Piloten – signalisiert, dass alles in Ordnung sei. Bei anderen Gelegenheiten wie etwa bei unerfreulichen Begegnungen im Straßenverkehr steht die Geste jedoch für einen Kraftausdruck und wird demzufolge als Beleidigung verwendet. Ein ähnliches Interpretationsspektrum wie in Deutschland ergibt sich in anderen Staaten: Während in den USA die soeben beschriebene positive Deutung verbreitet ist, wird das Zeichen in einigen lateinamerikanischen Staaten sowie in 322
Mitchell, Interkulturelle Kompetenz im Auslandsgeschäft, S. 103.
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den meisten romanischen Ländern in dem genannten abwertenden Sinne verstanden. In Japan kommt dem Symbol sogar eine völlig andere Bedeutung zu: Dort wird damit die passende Gelegenheit angezeigt, um über Geld zu sprechen.323 Der interkulturelle Dialog offenbart also einige Fallstricke, die leicht zu Verstimmungen führen. Kulturelle Missverständnisse dieser Art spielen sich nicht notwendigerweise nur zwischen den Gesprächspartnern ab. Vieldeutige Situationen können sich auch dann ergeben, wenn Angehörige anderer Kulturkreise als unbeteiligte Zuhörer an einer (vermeintlich) ehrenrührigen Kommunikation teilnehmen. So können zwei aus dem Ausland stammende Personen in einem Gespräch Ausdrücke oder Redewendungen benutzen, die nach dem inländischen Sprachgebrauch eine Ehrverletzung darstellen, hingegen in dem kulturellen Umfeld der Gesprächspartner völlig unbedenklich sind oder sogar ein Kompliment verkörpern. Umgekehrt kann eine heftige und mit gegenseitigen Beleidigungen gespickte Auseinandersetzung zwischen zwei Personen aus einem anderen Kulturkreis für einen inländischen Zuhörer harmlos und harmonisch erscheinen, weil er die einzelnen Gesprächsteile ohne das notwendige Wissen um die kulturellen Gepflogenheiten nicht zutreffend zu deuten vermag. Angesichts der zahlreichen kulturbedingten Interpretationsmöglichkeiten von Äußerungen und wortersetzenden Gesten stellt sich die Frage nach der zugrunde zu legenden Perspektive für die rechtliche Würdigung derartiger Sachverhalte. Zwar handelt es sich bei der Ehre – wie zuvor aufgezeigt – nicht um ein kulturoffenes Rechtsgut, da sich die Reichweite des strafrechtlichen Ehrschutzes ausschließlich nach den inländischen Anschauungen bestimmt. Dies schließt jedoch nicht aus, bei der Auslegung einer konkreten Äußerung nicht die hiesige Sicht, sondern ein anderes kulturelles Verständnis heranzuziehen. Es bleibt also zu untersuchen, ob die §§ 185 ff. StGB in ihren jeweiligen tatbestandlichen Ausgestaltungen („Beleidigung“ in § 185 StGB, „Tatsache [. . .], welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist“ in §§ 186, 187 StGB) kulturoffene Tatbestandsmerkmale enthalten. 2. Auslegung mehrdeutiger Äußerungen a) Ermittlung des Sinngehalts einer Aussage Nach allgemeinen Grundsätzen bildet das Verständnis eines durchschnittlichen Kundgabeempfängers den Maßstab für die Auslegung einer Äußerung.324 Daher 323 Bergemann/Sourisseaux, Interkulturelles Management, S. 117; Mitchell, Interkulturelle Kompetenz im Auslandsgeschäft, S. 103. 324 BVerfGE 93, 266 (295); BGHSt 19, 235 (237); BGH NJW 1998, 3047 (3048); BayObLG NStZ-RR 2002, 210 (211); OLG Düsseldorf NJW 1989, 3030; NStZ-RR 2006, 206; OLG Hamm NStZ-RR 2007, 140 (140); Hilgendorf, LK, § 185 Rdn. 19; Regge, MünchKomm-StGB, § 185 Rdn. 9; Wessels/Hettinger, Rdn. 509.
Kap. 3: Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre
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ist weder von Bedeutung, wie der Erklärende selbst interpretiert werden wollte, noch wie sein Gesprächspartner ihn tatsächlich verstanden hat.325 Nahe liegt zunächst, die Perspektive des „durchschnittlichen Kundgabeempfängers“ durch die im Inland vorherrschende Sicht zu ersetzen. Dies mag sodann zu der Annahme verleiten, der kulturelle Hintergrund der Äußerung sei ohne jeglichen Belang. Demnach könnte auch eine aus der Sicht der Beteiligten harmlose Bemerkung den Tatbestand eines Ehrverletzungsdelikts verwirklichen. Umgekehrt bliebe eine Bemerkung infolge der abweichenden inländischen Anschauungen straffrei, obwohl die Beteiligten sie als ehrenrührig empfinden. Dass solche kuriosen Ergebnisse indes nicht aus dem gängigen Interpretationshorizont resultieren, zeigt eine nähere Betrachtung der anerkannten Auslegungskriterien. Zu diesen zählen nicht nur der unmittelbare Kontext der Äußerung, sondern alle erkennbaren Begleitumstände des konkreten Einzelfalls, einschließlich des Umgangstons im Umfeld der Beteiligten, regionaler und zeitlicher Besonderheiten sowie der jeweiligen sprachlichen und gesellschaftlichen Ebene.326 Ob eine Aussage einen ehrenrührigen Sinn enthält, ergibt sich also stets erst aus ihrer Auslegung. Eine per se beleidigende Äußerung existiert nicht.327 Oder um es mit den treffenden Worten von Wessels/Hettinger auszudrücken: „es kommt ganz darauf an, wer was zu wem sagt und unter welchen Umständen dies geschieht“.328 Zur Verdeutlichung kann insoweit auf Bemerkungen auf dem Fußballfeld verwiesen werden. Da dort im Eifer des Gefechts mitunter ein rauer Umgangston herrscht, muss etwa der Gebrauch eines gewöhnlich als herabwürdigend empfundenen Schimpfwortes nicht den Tatbestand der Beleidigung verwirklichen. In der gleichen Weise muss das kulturelle Umfeld bei der Interpretation einer Äußerung berücksichtigt werden.329 Der „durchschnittliche Kundgabeempfänger“ erweist sich also aufgrund der bei der Auslegung zu berücksichtigenden Faktoren als offen für die kulturellen Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles. Klarstellend ist nochmals festzuhalten, dass es bei der Auslegung einer Äußerung weder auf das Verständnis deren Urhebers noch dessen Kommunikations325 BVerfGE 93, 266 (295); BGH NJW 1998, 3047 (3048); BayObLG NStZ-RR 2002, 210 (211); OLG Düsseldorf NJW 1989, 3030; OLG Hamm NStZ-RR 2007, 140 (140); Regge, MünchKomm-StGB, § 185 Rdn. 9; Valerius, BeckOK-StGB, § 185 Rdn. 25. 326 Fischer, § 185 Rdn. 8; Hilgendorf, LK, § 185 Rdn. 21; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 185 Rdn. 8; Regge, MünchKomm-StGB, § 185 Rdn. 9. 327 RGSt 60, 34 (35); 65, 1 (1); OLG Hamm NJW 1982, 659 (660); Hilgendorf, LK, § 185 Rdn. 18; Lackner/Kühl, § 185 Rdn. 4; Valerius, BeckOK-StGB, § 185 Rdn. 24; Zaczyk, NK, § 185 Rdn. 7; Geppert, Jura 1983, 580 (589); Tenckhoff, JuS 1988, 787 (790). 328 Wessels/Hettinger, Rdn. 510 (Hervorhebungen im Original). 329 Ausdrücklich Fischer, § 185 Rdn. 8; siehe hierzu auch Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 38.
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
partners ankommt. Entstammen allerdings beide demselben kulturellen Umfeld, stellt dies einen Umstand dar, der den Auslegungshorizont maßgeblich bestimmt; dies gilt insbesondere, wenn die (vermeintlich) herabwürdigende Aussage in einem Vier-Augen-Gespräch ergeht und demzufolge kaum andere kulturelle Faktoren als Interpretationskriterien zur Verfügung stehen. In solchen Konstellationen entscheidet somit in der Regel letztlich das Verständnis der Beteiligten.330 Unerheblich bleibt demgegenüber, wie die fragliche Äußerung nach dem hiesigen Sprachgebrauch aufgefasst wird. Daher kann auch eine nach unseren Maßstäben harmlos erscheinende Äußerung strafbar sein, wenn sie nach dem Interpretationshorizont des kulturellen Umfeldes der Beteiligten die Ehre des Betroffenen verletzt. Schwierig gestaltet sich die Behandlung von Mischfällen, in denen die Beteiligten einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund aufweisen und einer Bemerkung aufgrund dessen ein einmal beleidigender, einmal harmloser Sinngehalt beigelegt wird. Hier darf nach den vorstehenden Grundsätzen nicht auf die Kommunikationspartner selbst abgestellt werden. Einen wesentlichen Faktor bildet nach wie vor das gesamte kulturelle Umfeld, was bei unterschiedlichem Sprachgebrauch eines multikulturellen Empfängerkreises zur Mehrdeutigkeit einer Aussage führen kann. Jedoch ist der Umgangston im Umfeld der Beteiligten nicht das einzige Auslegungskriterium. Verschiedene kulturelle Interpretationen hindern demnach nicht die Feststellung eines eindeutigen Inhalts, wenn er sich aus den sonstigen Begleitumständen der Äußerung ergibt. b) Irrtumsfälle Die zahlreichen Auslegungsmöglichkeiten einer Äußerung können zu Irrtümern in Bezug auf den geäußerten Inhalt führen. Der Urheber einer Aussage muss sich also deren Ehrenrührigkeit in dem Umfeld, in dem er diese getätigt hat, nicht bewusst sein. Als Beispiel sei auf einen Deutschen verwiesen, der in einer Gaststätte mit überwiegend lateinamerikanischem Publikum aus Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildet, um seine Zufriedenheit über das Essen zum Ausdruck zu bringen, damit aber den Koch unwissentlich zutiefst beleidigt.331 In diesem Fall verwirklicht der Gast zwar objektiv den Tatbestand eines Ehrverletzungsdelikts, weil der Sprachgebrauch der Anwesenden maßgeblich den Interpretationshorizont bestimmt. Gleichwohl bleibt er straffrei, da er keinen Vorsatz in Bezug auf die durch seine Äußerung erfolgte Kundgabe von Miss- oder Nichtachtung aufweist.
330 Im Ergebnis wohl ebenso Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 38; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 185 Rdn. 6. 331 Zu den verschiedenen Interpretationen der Geste siehe oben Teil 2 Kap. 3 IV. 1.
Kap. 3: Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre
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Des Weiteren befindet sich in einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB, wer – z. B. infolge mehrerer Geschäfts- oder Privatreisen – um die herabwürdigende Bedeutung seiner Äußerung in bestimmten Kulturen weiß, das Umfeld im konkreten Einzelfall fälschlicherweise jedoch keiner dieser Kulturen zuordnet. Wer also die unterschiedlichen Deutungen bestimmter Ausdrücke oder Gesten in verschiedenen Staaten und Kulturen kennt, muss nicht von vornherein den Gebrauch vieldeutiger Äußerungen und Zeichen vermeiden. Selbst wenn der Gast im vorigen Beispiel um die unterschiedliche Auslegung seiner Geste weiß, macht er sich daher nicht wegen Beleidigung strafbar, wenn er beispielsweise von einem rein deutschen Publikum ausgeht und somit ohne Vorsatz bezüglich der Mehrdeutigkeit seiner wortersetzenden Handbewegung unter den konkreten Umständen handelt. Umgekehrt kann jemand von der Ehrenrührigkeit seiner Äußerung in dem jeweiligen Umfeld ausgehen, während sie dort in Wahrheit als freundlich oder unbedenklich aufgenommen wird. Hier liegt ein (untauglicher) Versuch vor, der mangels dessen Strafbarkeit bei den Ehrverletzungsdelikten straflos bleibt. Zu denken wäre etwa an eine Person, die gegenüber einem mutmaßlichen Griechen den Daumen nach oben ausstreckt, um ihn grundlos zu beleidigen.332 Ebenso wenig macht sich strafbar, wer um die herabwürdigende Interpretation einer Bemerkung in einer bestimmten Kultur weiß und seine Umgebung irrigerweise dieser Kultur zuordnet. In beiden Konstellationen zeigt sich der Täter entschlossen, seine Miss- oder Nichtachtung kundzugeben, was aber von vornherein durch die abweichende Interpretation im Umfeld der Äußerung zum Scheitern verurteilt ist. 3. Öffentlichkeit und Multikulturalität Ein weiteres Problem im interkulturellen Kontext entsteht bei Tatsachenaussagen gegenüber einem Dritten, den der herabwürdigende Inhalt der Äußerung nicht betrifft. Die einschlägigen Straftatbestände der üblen Nachrede und der Verleumdung in §§ 186, 187 StGB setzen zum einen die Eignung der Tatsachenaussage voraus, einen anderen „in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen“, und enthalten zum anderen eine Qualifikation der „öffentlich[en]“ Begehung. Beide Merkmale werfen die Frage nach der maßgeblichen Zusammensetzung der in Bezug genommenen Öffentlichkeit auf. Bei Tatsachenaussagen wird zunächst allerdings von einem geringeren kulturellen Missverständnispotential auszugehen sein als bei Werturteilen, die ausschließlich der Beleidigungstatbestand des § 185 StGB erfasst. Während bei wertenden Äußerungen nämlich ein etwaiges Missverständnis bereits durch die Vieldeutigkeit des verwendeten Wortes oder der gebrauchten Geste hervorgerufen 332 Zu den unterschiedlichen Auslegungen des erhobenen Daumens siehe oben Teil 2 Kap. 3 IV. 1.
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
werden kann, erscheinen solche Fehlinterpretationen bei zumeist verbalen und ausformulierten Tatsachenaussagen weniger wahrscheinlich. Zu denken wäre auch hier vor allem an Bemerkungen mit einem mehrdeutigen Begriff, der trotz seiner Einbettung in einen längeren Kontext unterschiedlichen Interpretationen offen steht und bei einem anderen kulturellen Hintergrund in ehrenrühriger Weise verstanden wird. Ob eine Tatsachenaussage in diesem Fall geeignet erscheint, den Betroffenen „in der öffentlichen Meinung“ im Sinne der §§ 186, 187 StGB herabzuwürdigen, bestimmt sich nach der Ansicht eines größeren und individuell unbestimmten Teils der Bevölkerung.333 Der nach diesem Merkmal anzulegende objektive Maßstab bezieht sich also gerade nicht auf das Urteil der gesamten inländischen Rechtsgemeinschaft. Vielmehr kann eine Äußerung schon dann als ehrverletzend einzustufen sein, wenn eine solche Deutung in einzelnen Bevölkerungsgruppen verbreitet ist. Sämtliche dadurch eröffneten Interpretationsmöglichkeiten zu berücksichtigen, bedeutete in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft jedoch, den objektiven Tatbestand der §§ 186, 187 StGB zu sehr auszudehnen. Daher bleibt die Öffentlichkeit zu konkretisieren, deren Meinung den Ausschlag für die herabwürdigende Bewertung einer Tatsachenaussage gibt. Insoweit bietet sich entsprechend den bereits dargelegten Auslegungsgrundsätzen an, die Angehörigen desjenigen Umfeldes heranzuziehen, vor denen die Äußerung tatsächlich erfolgt. Die maßgebliche Öffentlichkeit besteht also nicht aus einer Personenmenge, deren Zusammensetzung einen Querschnitt der gesamten inländischen Bevölkerung widerspiegelt, sondern stellt eine „projizierte Öffentlichkeit“ dar, die den konkreten Empfängerkreis der Aussage vergrößert abbildet. Dies gewährleistet insbesondere, Tatsachenbehauptungen nicht als tatbestandliches Unrecht zu erfassen, wenn sie von dem Empfängerkreis abweichend von den sonstigen in der multikulturellen Gesellschaft existierenden Deutungsvarianten als nicht herabwürdigend empfunden werden. Bei Äußerungen vor Angehörigen aus ein und derselben Bevölkerungsgruppe erscheint eine Strafbarkeit nur in dem umgekehrten Fall angebracht, dass sich die ehrverletzende Eignung einer Äußerung gerade aus dem Verständnis der angesprochenen Adressaten ergibt. Die Anschauungen der projizierten Öffentlichkeit erfahren allerdings eine normative Einschränkung durch die Wertungen der inländischen Rechtsordnung. Selbst wenn eine größere Bevölkerungsgruppe eine Tatsache als ehrenrührig betrachtet, darf diese Beurteilung nicht die Anwendbarkeit der §§ 186, 187 StGB begründen, sofern dies der Rechtsordnung widerspräche.334 Dies gilt beispiels333 Fischer, § 186 Rdn. 4; Hilgendorf, LK, § 186 Rdn. 10; Lackner/Kühl, § 186 Rdn. 4; Regge, MünchKomm-StGB, § 186 Rdn. 13. 334 BGHSt 8, 325 (326); 11, 329 (331); Fischer, § 186 Rdn. 6; Schönke/Schröder/ Lenckner/Eisele, § 186 Rdn. 5; Regge, MünchKomm-StGB, § 186 Rdn. 13.
Kap. 3: Kulturoffene Rechtsgüter am Beispiel der Ehre
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weise für aus hiesiger Sicht neutrale Umstände wie die Religionszugehörigkeit335 oder die sexuelle Orientierung einer Person, nach der Rechtsprechung ebenso für die Bereitschaft eines Arztes, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.336 Will der Täter durch die Bemühung solcher Tatsachen seine Miss- oder Nichtachtung gegenüber dem Betroffenen zum Ausdruck bringen, bleibt jedoch der Rückgriff auf den Beleidigungstatbestand des § 185 StGB wegen eines in der Aussage zugleich enthaltenen Werturteils.337 Keine Besonderheiten im multikulturellen Kontext weist hingegen das Qualifikationsmerkmal „öffentlich“ auf, das in § 186 und § 187 StGB die Höchstfreiheitsstrafe von ein auf zwei bzw. von zwei auf fünf Jahren anhebt. Öffentlich wird nach gängiger Definition eine Tatsache dann geäußert, wenn sie von einem größeren, nach Zahl und Zusammensetzung unbestimmten und nicht durch persönliche Beziehungen verbundenen Personenkreis zur Kenntnis genommen werden kann.338 Da dazu tatsächlich eine adressierte Öffentlichkeit existieren, bei mündlichen Äußerungen also anwesend sein muss,339 ist deren wirkliche Zusammensetzung bereits bei der Auslegung der Tatsachenaussage nach den oben dargelegten Grundsätzen zu berücksichtigen. Anders als bei der Eignung einer Tatsachenaussage, einen anderen „in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen“, geht es hier also nicht um eine fiktive, sondern um eine reale Öffentlichkeit.
V. Zusammenfassung Rechtsgüter wie vornehmlich die Ehre nehmen in den verschiedenen Kulturen einen unterschiedlichen Inhalt und Umfang ein. Voneinander abweichende Ehrvorstellungen werfen bei einem Aufeinandertreffen von Angehörigen mehrerer Kulturen die Frage auf, welches Ehrverständnis zugrunde zu legen ist. Um Rechtsgleichheit zu gewähren und den Ehrverletzungsdelikten der §§ 185 ff. StGB ihre integrative Funktion nicht zu nehmen, muss insoweit – wie schon bei den kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen – auf einen einheitlichen Maßstab, namentlich den der inländischen Rechtsgemeinschaft, verwiesen werden. Damit sind allerdings nicht sämtliche Probleme bei der strafrechtlichen Beurteilung interkultureller Kommunikation geklärt. Vielmehr kann das jeweilige kulturelle Umfeld einzelnen Worten und Gesten einen anderen Sinn und allein 335
BGHSt 8, 325 (325 f.). OLG Karlsruhe NJW 2005, 612 (614). 337 BGHSt 8, 325 (326); 11, 329 (332); Fischer, § 186 Rdn. 6. 338 RGSt 58, 53 (53 f.); Fischer, § 186 Rdn. 16; Hilgendorf, LK, § 186 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 186 Rdn. 19; Regge, MünchKomm-StGB, § 186 Rdn. 34; Zaczyk, NK, § 186 Rdn. 27; Wessels/Hettinger, Rdn. 496. 339 Hilgendorf, LK, § 186 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 186 Rdn. 19; Regge, MünchKomm-StGB, § 186 Rdn. 34; Valerius, BeckOK-StGB, § 186 Rdn. 25. 336
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Teil 2: Kulturelle Wertvorstellungen im Besonderen Teil des StGB
infolgedessen einen ehrverletzenden Charakter verleihen. Zwar richtet sich der Inhalt des geschützten Rechtsguts „Ehre“ ausschließlich nach einem einheitlichen Maßstab. Zu den einzelnen Umständen, die bei der Auslegung einer Äußerung heranzuziehen sind, gehören indes auch die kulturelle Zusammensetzung des Umfeldes, in dem die fragliche Bemerkung getätigt wird, sowie dessen etwaige sprachliche Besonderheiten. Dies gilt ebenso für Tatsachenaussagen gegenüber einem Dritten und deren Eignung, den Betroffenen in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Öffentlichkeit in diesem Sinne ist nicht die gesamte inländische, sondern die aus dem konkreten Empfängerkreis der getätigten Äußerung projizierte Öffentlichkeit. Wie der Täter selbst seine Äußerung versteht, bleibt demgegenüber unerheblich, begründet aber gegebenenfalls einen Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB.
Teil 3
Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB Kapitel 4
Rechtswidrigkeit I. Grundlagen Abgesehen von kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen finden die kulturellen Wertvorstellungen der Beteiligten im Rahmen der einzelnen Strafvorschriften keine Beachtung. Häufig wird daher auf Rechtsinstitute des Allgemeinen Teils zurückzugreifen sein, um Differenzen zwischen den heimatlichen Anschauungen des Handelnden und dem Wertegefüge der verletzten Strafrechtsordnung zu berücksichtigen. Infolge ihrer internationalen bzw. interkulturellen Berührungspunkte sind hierfür vornehmlich das Unrechtsbewusstsein (siehe Kapitel 5) sowie das Strafanwendungsrecht (siehe Kapitel 6) prädestiniert. Darüber hinaus ist denkbar, dass die heimatlichen Anschauungen die Rechtswidrigkeit der Tat beeinflussen. Denn ob ein tatbestandsgemäßes Verhalten ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint, bestimmt sich danach, welchem der kollidierenden Interessen im konkreten Einzelfall der Vorrang eingeräumt wird. Werden Schutzwürdigkeit und Stellenwert der widerstreitenden Rechtsgüter von verschiedenen Kulturen unterschiedlich beurteilt, kann dies auch eine abweichende Bewertung der Rechtswidrigkeit einer Tat nach sich ziehen. Ähnlich wie bei kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen einer Strafvorschrift bedarf demnach einer Untersuchung, ob und inwieweit sich die kulturelle Prägung des Täters auf die Voraussetzungen der einzelnen Rechtfertigungsgründe auswirkt. Unter anderem erweist sich als fraglich, nach welchem Maßstab sich das Vorliegen einer Notwehr- oder Notstandssituation bzw. die Erforderlichkeit und Gebotenheit der Notwehr- oder Notstandshandlung bestimmen (vgl. dazu II.). Die eigenen kulturellen Wertvorstellungen veranlassen aber unter Umständen nicht nur den Täter dazu, sein Verhalten abweichend von den hiesigen Anschauungen für gerechtfertigt zu halten. Ebenso können die Inhaber des betroffenen Rechtsguts selbst die fragliche Tat anders bewerten, weil sie aufgrund ihres Wertegefüges kein oder lediglich ein mangelndes Interesse an der Unversehrtheit ihres Rechtsguts haben. Für sie mag eine erteilte Einwilligung in eine Rechtsguts-
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
verletzung daher selbstverständlich sein, während nach der inländischen Rechtsordnung eine wirksame Einwilligung etwa wegen Verstoßes gegen die guten Sitten im Sinne des § 228 StGB ausgeschlossen bleibt (vgl. dazu III.). Schließlich bleibt ein besonderes Problem anzusprechen, das sich aus der zentralen Stellung der Religion in den meisten Kulturkreisen ergibt: Kann sich der Täter, der aufgrund seines Glaubens einen Straftatbestand verwirklicht, auf die Religionsfreiheit berufen? Ob die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG den Täter zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder allenfalls dessen Strafe zu mildern vermag, ist äußerst umstritten. In diesem Zusammenhang erscheint denkbar, neben religiösen Überzeugungen auch sonstigen kulturellen Wertvorstellungen eine rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Wirkung einzuräumen (vgl. dazu IV.).
II. Schutz von Rechtsgütern und kulturelle Wertvorstellungen 1. Allgemeines Eine vollständige Untersuchung sämtlicher geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsgründe auf ihre Kulturoffenheit sprengte den Rahmen der folgenden Ausführungen. Ohnehin dürfte eine separate Betrachtung der einzelnen Rechtfertigungsgründe nicht notwendig sein, da sie – soweit sie dem Schutz eines überwiegenden Interesses dienen – im Wesentlichen denselben Grundsätzen folgen: In einer bestimmten (Notwehr- oder Notstands-)Lage (siehe dazu sogleich 2.) wird dem Täter gestattet, eine bestimmte (Notwehr- oder Notstands-) Handlung (siehe dazu 3.) vorzunehmen, falls seine Verteidigung von einem entsprechenden subjektiven Rechtfertigungselement1 getragen ist. 2. Notwehr- und Notstandslage Rechtfertigungsgründe zum Schutz eines überwiegenden Interesses setzen zunächst eine Situation voraus, in der einem schützenswerten Rechtsgut eine Gefährdung oder Verletzung droht. Exemplarisch kann dies an den Vorschriften der Notwehr und des rechtfertigenden Notstandes aufgezeigt werden. Um sich auf Notwehr nach § 32 StGB zu berufen, bedarf es eines gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs. Das Merkmal der Gegenwärtigkeit – das auch § 34 StGB enthält, wenngleich es dort weiter interpretiert wird2 – richtet sich dabei nach zeit1 So die ganz h. M., statt vieler BayObLG NStZ-RR 1999, 9 (9); Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 6; Rengier, AT, § 17 Rdn. 9; Roxin, Strafrecht AT I, § 14 Rdn. 96; Wessels/ Beulke, Rdn. 275; a. A. Spendel, LK11, § 32 Rdn. 138 ff.; hiergegen Paeffgen, NK, Vor §§ 32 ff. Rdn. 88.
Kap. 4: Rechtswidrigkeit
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lichen und somit kulturunabhängigen Maßstäben. Die Rechtswidrigkeit des Angriffs orientiert sich an den Vorgaben der Rechtsordnung und demzufolge zumeist an Kriterien, die losgelöst von (nicht kodifizierten) gesellschaftlichen Anschauungen zu beurteilen sind. Nur bei Vorschriften, die kulturoffene Merkmale enthalten, vermögen sich die heimatlichen Anschauungen des Täters auszuwirken. Ansonsten haben die kulturellen Wertvorstellungen des Täters keinen Einfluss. Etwas anderes gilt dagegen für den Angriff im Sinne des § 32 StGB als solchen, der nach gängiger Auslegung eine durch menschliches Verhalten hervorgerufene Bedrohung rechtlich geschützter Interessen erfordert.3 Ein ähnliches Problem stellt sich bei der Notstandsregelung in § 34 StGB, bei der die Rechtfertigungslage in der Gefahr für ein Rechtsgut besteht. Ob ein bedrohtes Interesse als generell schutzwürdig und verteidigungsfähig einzustufen ist bzw. welchen Inhalt und Umfang es gegebenenfalls einnimmt, ergibt sich aufgrund einer Wertung, die angesichts der Vielfalt kultureller Maßstäbe nicht stets zu ein und demselben Ergebnis führt. Der Illustration solcher kulturbedingten Differenzen dienen zwei Beispiele aus dem Bereich Familie und Ehre. In Brasilien wird etwa der Ehre von Ehegatten ein ungleich größerer Stellenwert als hierzulande eingeräumt. Vor allem beinhaltet dort der Ehebruch eine erhebliche Verletzung der Ehre des hintergangenen Ehepartners. So haben brasilianische Gerichte wiederholt, wenngleich nicht in ständiger Rechtsprechung, entschieden, dass der betrogene Ehegatte den in flagranti ertappten untreuen Partner in Notwehr töten darf.4 In Deutschland wird zwar die Ehre grundsätzlich als notwehrfähiges Rechtsgut anerkannt,5 was im internationalen Vergleich keine Selbstverständlichkeit darstellt.6 Allerdings dürfte ein Seitensprung die Ehre kaum in notwehrfähiger Weise beeinträchtigen. 2 BGHSt 39, 133 (136 f.); Erb, MünchKomm-StGB, § 34 Rdn. 76; Fischer, § 34 Rdn. 4 f.; Neumann, NK, § 34 Rdn. 56; Schönke/Schröder/Perron, § 34 Rdn. 17; Zieschang, LK, § 34 Rdn. 36; Roxin, Strafrecht AT I, § 16 Rdn. 73. 3 Herzog, NK, § 32 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 2; Momsen, BeckOK-StGB, § 32 Rdn. 17; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rdn. 3; Rönnau/Hohn, LK, § 32 Rdn. 77; Kindhäuser, AT, § 16 Rdn. 6; Roxin, Strafrecht AT I, § 15 Rdn. 6; Wessels/Beulke, Rdn. 325. 4 Choukr, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Brasilien, S. 41 (80 ff.). In Brasilien war der Ehebruch noch bis 2005 nach Art. 240 brasStGB strafbar, Choukr, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Brasilien, S. 41 (80 Fn. 125). 5 RGSt 21, 168 (170); 29, 240 (240); 69, 265 (268); BGHSt 3, 217 (218); BayObLG NJW 1991, 2031 (2031); Erb, MünchKomm-StGB, § 32 Rdn. 81; Fischer, § 32 Rdn. 8; Herzog, NK, § 32 Rdn. 14; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 3; Momsen, BeckOK-StGB, § 32 Rdn. 19; Rönnau/Hohn, LK, § 32 Rdn. 84; Rengier, AT, § 18 Rdn. 8. 6 Beispielsweise verkörpert die Ehre in Australien (Taylor, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Australien, S. 1 [29]), Israel (Ghanayim, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Israel, S. 221 [271 f.]) und Frankreich (Pin, L’Honneur et le Droit Pénal en France, S. 149 [190 f.]) kein notwehrfähiges Rechtsgut.
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Ein weiteres denkbares Beispiel aus dem Ehrbereich betrifft den Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, den viele Kulturen als anstößig empfinden. Die Unsittlichkeit dieses Verhaltens erhöht sich je nach kultureller Betrachtungsweise gegebenenfalls, wenn die innige Beziehung des Paares aufgrund fehlender Heirat generell als ungehörig angesehen wird oder wenn die Familie den Lebensgefährten infolge seiner Abstammung oder Herkunft nicht akzeptiert. Wer nach solchen Vorstellungen erzogen wurde und seine Schwester dabei ertappt, wie sie in der Öffentlichkeit einen ihr nicht angetrauten oder der Familie nicht genehmen Mann küsst, kann sich deswegen dazu veranlasst sehen, dem Freund der Schwester eine heftige Ohrfeige zu verabreichen, um das aus seiner Sicht für seine Familie ehrbeeinträchtigende Verhalten zu unterbinden. Nach den Anschauungen der hiesigen Gesellschaft sind öffentliche Liebesbekundungen hingegen unbedenklich. Die Reaktion des Bruders würde vielmehr missbilligt, weil sie das Recht seiner Schwester nicht respektierte, über ihre Beziehungen selbst zu entscheiden. In beiden Fällen stellt sich die Frage, nach welchen kulturellen Wertvorstellungen sich die Rechtfertigungslage bestimmt. Bei der Suche nach dem einschlägigen Bewertungsmaßstab darf weitgehend auf die zu den kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden.7 Schließlich ähneln die normierten Rechtfertigungsgründe insoweit den Strafvorschriften des Besonderen Teils, als sie allgemeine Merkmale beschreiben, deren Vorliegen die Annahme eines (hier ausnahmsweise rechtfertigenden) Tatbestandes bedeutet. Daher ist wiederum, nicht zuletzt wegen der anzustrebenden Rechtsgleichheit, der anzuwendende Bewertungsmaßstab den inländischen Vorstellungen zu entnehmen.8 Ansonsten wären vor allem bei multikulturellen Sachverhalten seltsame Ergebnisse die Folge: Ertappten der oben genannte, nach seinen heimatlichen Anschauungen erzogene Bruder und sein hierzulande aufgewachsener deutscher Stiefbruder ihre gemeinsame (Stief-)Schwester bei dem öffentlichen Austausch von Zärtlichkeiten und reagierten darauf jeweils mit einer Ohrfeige für den Freund der Schwester, so müssten die Handlungen unterschiedlich beurteilt werden. Während das Verhalten des Stiefbruders nicht gerechtfertigt wäre, könnte sich der leibliche Bruder gegebenenfalls auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehr berufen, weil er in den Liebesbekundungen einen Angriff auf die Ehre seiner Familie erblickt. Zudem lässt sich zugunsten eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes wiederum anführen, dass bei einer rechtlichen Multikulturalität die friedensstiftende und integrative Funktion des Strafrechts verloren ginge. Ob bzw. in welchem Umfang ein Rechtsgut vor Gefahren und Angriffen geschützt werden darf, richtet 7 Vgl. vornehmlich die Ausführungen zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Teil 2 Kap. 2 II. 3. 8 Vgl. auch Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 27.
Kap. 4: Rechtswidrigkeit
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sich deshalb nach den durch die Rechtsordnung anerkannten hiesigen gesellschaftlichen Vorstellungen. Der objektive Beobachter, dessen Perspektive über das Vorliegen einer rechtfertigenden Notwehr- oder Notstandssituation entscheidet,9 ist also der inländischen Rechtsgemeinschaft zu entnehmen. In dem Beispiel der beiden Brüder kann sich also keiner von ihnen auf Notwehr berufen, weil die Familienehre in Deutschland kein schützenswertes Rechtsgut verkörpert. Ebenso wenig befindet sich ein in Brasilien aufgewachsener Ehegatte in einer Rechtfertigungslage, wenn er hierzulande seinen Lebenspartner in flagranti bei einem Seitensprung überrascht und sich dadurch in seiner Ehre verletzt fühlt. Die kulturellen Anschauungen des Täters dürfen insoweit nicht berücksichtigt werden. Allerdings bleibt auch im Rahmen der Rechtfertigungsgründe wiederum zwischen dem einheitlichen, ausschließlich den inländischen Vorstellungen entnommenen Bewertungsmaßstab und den vielfältigen, gegebenenfalls anderen Kulturen entspringenden Bewertungsgrundlagen zu trennen.10 Ob ein – nach den Anschauungen des objektiven Beobachters – notwehr- oder notstandsfähiges Rechtsgut tatsächlich in einer Weise beeinträchtigt wird, die Verteidigungsmaßnahmen gestattet, richtet sich also unter anderem nach den kulturellen Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Beispielsweise ist der ehrverletzende Gehalt von andauernden Äußerungen nach dem Verständnis des jeweiligen Umfeldes zu bewerten, in dem sie getroffen werden.11 3. Notwehr- und Notstandshandlung Kulturelle Wertvorstellungen können des Weiteren bei der Entscheidung über die gerechtfertigte Handlung zu berücksichtigen sein. Welche Verteidigung der Einzelfall erlaubt, hängt unter anderem von Schutzwürdigkeit und Gewichtigkeit des bedrohten Rechtsguts ab. Insoweit sind wiederum kulturbedingt unterschiedliche Beurteilungen denkbar. Unter Umständen wirken sich hier kulturelle Differenzen bereits auf das allen Rechtfertigungsgründen im Wesentlichen gemeinsame Merkmal der Erforderlichkeit der Verteidigung aus (z. B. § 32 Abs. 2 StGB oder § 34 Satz 1 StGB: „nicht anders abwendbar[en]“). Dieses Kriterium setzt zunächst die Geeignetheit der Verteidigungshandlung voraus, das bedrohte Rechtsgut vor Schaden zu bewahren.12 Zudem muss sie das relativ mildeste Mit9 RGSt 27, 44 (46); BayObLG NStZ-RR 1999, 9 (9); Erb, MünchKomm-StGB, § 32 Rdn. 56; Fischer, § 34 Rdn. 3; Herzog, NK, § 32 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 6 und § 34 Rdn. 2; Momsen, BeckOK-StGB, § 32 Rdn. 22 und § 34 Rdn. 4; Schönke/ Schröder/Perron, § 32 Rdn. 27 und § 34 Rdn. 12. 10 Vgl. die Ausführungen zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Teil 2 Kap. 2 II. 3. b). 11 Vgl. oben Teil 2 Kap. 3 IV. 2. 12 Vgl. BGHSt 24, 356 (358); BGH NJW 1980, 2263 (2263); NJW 1991, 503 (504); NStZ 2002, 140 (140); NStZ 2005, 31 (31); NStZ 2005, 85 (86); NStZ 2006, 152 (153);
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
tel darstellen, d. h. unter gleich wirksamen Handlungsalternativen diejenige sein, die den schonendsten Eingriff in das durch die Verteidigung beeinträchtigte Rechtsgut bedeutet.13 Welche Verteidigungshandlung nach diesen Maßstäben im konkreten Einzelfall erforderlich ist, werden die Angehörigen verschiedener Kulturen unterschiedlich bewerten. Der Illustration dient erneut das Beispiel der sogenannten Ehrenmorde. Nicht jede Kultur, welche die Familienehre als schützenswertes Rechtsgut anerkennt, zieht bei deren Verletzung die Tötung der hierfür verantwortlichen Person in Erwägung. Lediglich nach den Wertvorstellungen einiger patriarchalischer Gesellschaften bildet eine derartige Verteidigungsmaßnahme unter Umständen das geeignete und relativ mildeste Mittel, um die Familie zu rehabilitieren. Auch bei der Verteidigungshandlung erscheint es aus den vorgetragenen Gründen fraglich, die Vielgestaltigkeit ihrer kulturellen Beurteilungen zugleich als rechtliche Multikulturalität anzuerkennen. Der objektive Dritte, nach dessen „ex ante“-Urteil sich die Erforderlichkeit der Verteidigung bestimmt,14 bleibt also wiederum als ein Beobachter zu begreifen, der den inländischen gesellschaftlichen Anschauungen folgt und sich nicht von den hiervon abweichenden Wertvorstellungen des Täters leiten lässt. Allein die Erforderlichkeit einer Tat zur Verteidigung eines angegriffenen oder gefährdeten Rechtsguts bedeutet nicht deren Rechtfertigung. Bei der Notwehr muss die Verteidigungshandlung zudem „geboten“ sein (§ 32 Abs. 1 StGB); der rechtfertigende Notstand verlangt, dass die Verteidigung „ein angemessenes Mittel“ darstellt (§ 34 Satz 2 StGB) und „bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter [. . .] das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“ (§ 34 Satz 1 StGB). Welche Schutzwürdigkeit und welchen Stellenwert die kollidierenden Rechtsgüter haben, kann abermals je nach Kultur unterschiedlich bewertet werden. Dies betrifft unter anderem die nach § 34 Satz 1 StGB notwendige Abwägung der widerstreitenden Interessen oder den Ausschluss des Notwehrrechts bei krassem Missverhältnis der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter. So ist unter Anknüpfung an die RechtspreFischer, § 32 Rdn. 28; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rdn. 35 und § 34 Rdn. 19; Rengier, AT, § 18 Rdn. 33; Roxin, Strafrecht AT I, § 15 Rdn. 42 und § 16 Rdn. 23. 13 Vgl. BGHSt 42, 97 (100); BGH NJW 1991, 503 (504); NStZ 2001, 591 (592); NJW 2003, 1955 (1957); NStZ 2005, 31 (31); Fischer, § 32 Rdn. 30 und § 34 Rdn. 5; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 9 und § 34 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rdn. 36a und § 34 Rdn. 20; Rönnau/Hohn, LK, § 32 Rdn. 175; Zieschang, LK, § 34 Rdn. 52; Kindhäuser, AT, § 16 Rdn. 27. 14 Vgl. BGH NJW 1969, 802; NStZ 1983, 117; NStZ-RR 2004, 10 (11); Erb, MünchKomm-StGB, § 32 Rdn. 121; Fischer, § 32 Rdn. 30; Herzog, NK, § 32 Rdn. 60; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 10; Momsen, BeckOK-StGB, § 32 Rdn. 25; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rdn. 34; Rönnau/Hohn, LK, § 32 Rdn. 180; Kindhäuser, AT, § 16 Rdn. 27 und § 17 Rdn. 23; Roxin, Strafrecht AT I, § 15 Rdn. 46; Wessels/Beulke, Rdn. 308.
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chung zur Einschränkung des Notwehrrechts unter Familienangehörigen und sonstigen nahe stehenden Personen mit engen persönlichen Beziehungen15 denkbar, in einer patriarchalisch geprägten Familie der Ehefrau eine weitgehende Duldungspflicht selbst gegenüber Misshandlungen durch ihren Ehemann aufzuerlegen, um dessen Position als unumstrittenes Familienoberhaupt zu verdeutlichen. Solche Ansätze, den Anwendungsbereich von Rechtfertigungsgründen je nach kulturellem Hintergrund der Betroffenen einzuschränken, bleiben jedoch abzulehnen. Wegen der erstrebenswerten Rechtsgleichheit gelten vielmehr wiederum einheitliche Maßstäbe, die den hiesigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu entnehmen sind und abweichende kulturelle Anschauungen außer Acht lassen. In dem soeben genannten Beispiel darf sich daher auch die Ehefrau in einer patriarchalisch geprägten Familie gegenüber Angriffen ihres Ehemannes in demselben Umfang auf Rechtfertigungsgründe berufen wie eine Frau, deren Ehe dem gleichberechtigten Bild der inländischen Rechtsgemeinschaft entspricht. 4. Irrtümer Ob eine Tat objektiv gerechtfertigt ist, bestimmt sich gemäß den vorstehenden Ausführungen nach dem Bewertungsmaßstab der Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft. Hiermit nicht übereinstimmende Anschauungen des Täters sind insoweit unerheblich, vermögen allerdings Fehlvorstellungen in seiner Person hervorzurufen. Unter Umständen hält der Täter also infolge seiner kulturellen Prägung seine Verteidigungshandlung für gerechtfertigt und verkennt trotz des Wissens um die grundsätzliche Strafbarkeit seines Verhaltens, hiermit Unrecht zu verwirklichen. Die fehlende Unrechtseinsicht kann unter anderem darauf beruhen, dass der Täter ein hierzulande nicht notwehr- bzw. notstandsfähiges Rechtsgut für verteidigungsfähig hält – vgl. etwa den oben genannten Bruder, der den Freund seiner Schwester nach dem Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit ohrfeigt – oder bei der Kollision zweier anerkannter Interessen demjenigen den Vorrang einräumt, welches nach dem hiesigen Wertegefüge zurücktritt. Der kulturell bedingte Irrtum des Täters kann sich sowohl auf die Notwehrbzw. Notstandslage als auch auf die Notwehr- bzw. Notstandshandlung beziehen. 15 So noch BGH NJW 1969, 802; NJW 1975, 62 (62 f.); Momsen, BeckOK-StGB, § 32 Rdn. 35; Kindhäuser, AT, § 16 Rdn. 47; einschränkend Erb, MünchKomm-StGB, § 32 Rdn. 194 ff.; Herzog, NK, § 32 Rdn. 111; Schönke/Schröder/Perron, § 32 Rdn. 53; Rönnau/Hohn, LK, § 32 Rdn. 238 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 15 Rdn. 94; Wohlers, JZ 1999, 434 (441 f.). Kritisch gegenüber der Begrenzung des Notwehrrechts BGH NJW 1984, 986 (986 f.); NStZ-RR 2002, 203 (204); aus dem Schrifttum Deubner, NJW 1969, 1184; Engels, GA 1982, 109 (112 ff.); Frister, GA 1988, 291 (308 f.); Kretschmer, JR 2008, 51 (53); Schroth, NJW 1984, 2562 (2563 f.); Spendel, JZ 1984, 507 (509); Walther, JZ 2003, 52 (56); eingehend Zieschang, Jura 2003, 527 (528 ff.).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Die beiden Anknüpfungspunkte ziehen aber nicht unbedingt unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich. Den Ausschlag gibt hingegen, ob sich die Fehlvorstellung des Täters auf tatsächliche Umstände des rechtfertigenden Ausnahmetatbestandes oder auf dessen rechtliche Wertungen bezieht.16 Ein Irrtum über Tatsachen begründet einen Erlaubnistatbestandsirrtum, z. B. wenn der Täter infolge der Verkennung tatsächlicher Umstände irrigerweise eine Rechtfertigungslage annimmt17 oder nicht um eine mildere und ebenso effektive Verteidigungsalternative weiß.18 Ansonsten befindet sich der Täter in einem Erlaubnisirrtum. Dies gilt vor allem für die in diesem Kapitel skizzierten kulturbedingten Fehlvorstellungen, die auf einer abweichend von der inländischen Rechtsgemeinschaft beurteilten Schutzwürdigkeit und Gewichtigkeit der beteiligten Rechtsgüter beruhen. In diesem Zusammenhang von einer Fehlvorstellung des Täters zu sprechen, bedeutet nicht, seine kulturellen Anschauungen zu kritisieren oder die inländischen Wertvorstellungen zum ethischen Standard zu erheben. Der Irrtum des Täters bezieht sich aus der Sicht des Juristen nicht auf die moralische, sondern allein auf die rechtliche Bewertung seines Tuns. Gegenstand der Erörterung ist also nicht, welche der verschiedenen kulturellen Wertvorstellungen aus ethischer Perspektive vorzugswürdig erscheint. Es geht vielmehr allein um die rechtliche Beurteilung einer Verteidigungshandlung, für welche nach den hier dargelegten Erwägungen die Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft zugrunde zu legen sind. Der Erlaubnis- oder auch indirekte Verbotsirrtum des Täters führt gemäß § 17 Satz 1 StGB zum Wegfall der Schuld, wenn er unvermeidbar war. Dies setzt voraus, dass der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten trotz Einsatzes aller seiner geistigen Erkenntniskräfte und seiner sittlichen Wertvorstellungen nicht in der Lage war, zur Unrechtseinsicht zu gelangen.19 Ein solcher unvermeidbarer Verbotsirrtum wird allerdings nur selten anzuerkennen sein. Zwar bilden die kulturellen Anschauungen des Täters durchaus eine Ursache fehlender Unrechtseinsicht, die einen direkten Verbotsirrtum im Einzelfall als unvermeidbar erscheinen lassen, insbesondere wenn der Täter seinen Wertvorstellungen verhaftet bleibt.20 Ist sich der Täter hingegen der grundsätzlichen Strafbarkeit seiner Tat und somit der Schutzwürdigkeit des von ihm verletzten Rechtsguts bewusst, sind an seine Bemühungen, zur Unrechtseinsicht zu gelangen, höhere Anforderungen zu stel16
Statt vieler Paeffgen, NK, Vor §§ 32 ff. Rdn. 102 ff.; Wessels/Beulke, Rdn. 457 f. BGH NStZ-RR 2002, 73; NStZ 2003, 599 (600); OLG Düsseldorf NJW 1994, 1232; OLG Stuttgart NJW 1992, 850 (851); Fischer, § 32 Rdn. 50; Herzog, NK, § 32 Rdn. 132; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 19. 18 BGHSt 45, 378 (384); BGH NStZ 1996, 29 (30); NStZ 2001, 530 (530); NJW 2003, 1955 (1960); Fischer, § 32 Rdn. 50; Herzog, NK, § 32 Rdn. 132; Lackner/Kühl, § 32 Rdn. 19; Kindhäuser, AT, § 29 Rdn. 12. 19 BGHSt 4, 1 (5); 4, 236 (243); 9, 164 (172). 20 Siehe hierzu unten Teil 3 Kap. 5 II. 4. c) bb). 17
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len. Lediglich wenn die Bewertung der widerstreitenden Rechtsgüter durch den Täter außerordentlich von den Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft abweicht, kommt die Unvermeidbarkeit des indirekten Verbotsirrtums noch in Betracht. Ist eine Verteidigungshandlung umgekehrt objektiv gerechtfertigt, geht der Täter indes infolge seiner kulturellen Wertvorstellungen von der Rechtswidrigkeit seines Tuns aus, sind gleichfalls die Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft maßgeblich. Demzufolge bleibt die Tat entgegen der Auffassung des Täters gerechtfertigt. Da sich seine Fehlvorstellung wiederum nicht auf die tatsächlichen Umstände, sondern auf eine rechtliche Wertung bezieht, entfällt auch nicht das subjektive Rechtfertigungselement. Vielmehr erweist sich ein solcher Irrtum des Täters zu seinen Ungunsten als unbeachtlich, da die bloße (Wahn-) Vorstellung, etwas Unrechtes zu tun, keine Strafbarkeit begründet. Es handelt sich daher um ein Wahndelikt.21
III. Kulturell motivierte Einwilligung in die Verletzung von Rechtsgütern Die Vielgestaltigkeit kultureller Wertvorstellungen kann nicht nur bei Rechtfertigungsgründen, welche die Verteidigung eines angegriffenen oder bedrohten Rechtsguts gestatten, zu unterschiedlichen Sichtweisen über die Rechtswidrigkeit einer Tat führen. Ebenso mag die Rechtfertigung eines Verhaltens aufgrund Einwilligung des Rechtsgutsinhabers je nach kulturellem Blickwinkel anders zu beurteilen sein. Zu denjenigen Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung, bei denen rechtliche Erwägungen und kulturelle Anschauungen aufeinandertreffen, zählen die Dispositionsbefugnis über das betroffene Rechtsgut (siehe sogleich 1.) sowie bei Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit die fehlende Sittenwidrigkeit der Tat gemäß § 228 StGB (siehe dazu 2.). 1. Dispositionsbefugnis über das betroffene Rechtsgut a) Unverfügbarkeit des Rechtsguts Leben Wer einen anderen Menschen tötet, darf sich nach herrschender Auffassung zumindest dann nicht auf den Rechtfertigungsgrund22 der Einwilligung berufen, 21
Fischer, § 17 Rdn. 10. So die nach wie vor h. M., BGHSt 7, 112 (114); 16, 309 (309); Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 33; Paeffgen, NK, Vor §§ 32 ff. Rdn. 156; Wessels/Beulke, Rdn. 363; Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (938); Geerds, GA 1954, 262 (263). Anders eine im Vordringen befindliche Ansicht, wonach der Einwilligung tatbestandsausschließende Wirkung zuteil22
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
wenn er mit Vorsatz handelt.23 Die Zustimmung des Opfers begründet allenfalls die Anwendung des Privilegierungstatbestandes der Tötung auf Verlangen gemäß § 216 Abs. 1 StGB. Ansonsten lässt sich der Vorschrift entnehmen, dass das Leben unveräußerlich bleibt und nicht zur Disposition seines Rechtsgutsträgers steht. Dieser Gedanke findet seinen Ursprung in der christlichen Überzeugung, das menschliche Leben als Gabe Gottes zu betrachten und deswegen der letzten Verfügbarkeit zu entziehen.24 Zwar werden in einem säkularen Staat andere Erklärungsansätze bemüht, um die Existenz des § 216 StGB und die damit verbundene Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts zu legitimieren.25 Jedenfalls beruht die Norm aber auf bestimmten kulturellen Anschauungen, welche die inländische Gesellschaft nach wie vor maßgeblich prägen. Wer dagegen infolge eines anderen kulturellen Hintergrundes dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein eigenes Leben und Sterben uneingeschränkten Vorrang einräumt, kann der Auffassung sein, die Einwilligung des Sterbewilligen rechtfertige die Tat desjenigen, der diesem Wunsch nachkomme. Jedoch steht § 216 Abs. 1 StGB der Erwägung entgegen, die Vorstellung eines absoluten Selbstbestimmungsrechts zu berücksichtigen. Da die Vorschrift der Dispositionsbefugnis des Einzelnen ausdrücklich Grenzen setzt, erübrigt sich die Frage nach einem einheitlichen Bewertungsmaßstab, den § 216 Abs. 1 StGB vielmehr selbst normiert. Die unzutreffende Annahme, durch den Sterbewunsch des Opfers gerechtfertigt zu sein, bedeutet daher nach allgemeinen Grundsätzen einen indirekten Verbotsirrtum. Ob die Fehlvorstellung des Täters auf seinem kulturellen Hintergrund beruht, bleibt allenfalls für die Vermeidbarkeit des Irrtums von Bedeutung.
wird, Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 156; Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 104 ff.; Kindhäuser, AT, § 12 Rdn. 5; Roxin, Strafrecht AT I, § 13 Rdn. 12 ff.; Rönnau, Jura 2002, 665 (666); Rudolphi, ZStW 86 (1974), 68 (87 f.); Th. Weigend, ZStW 98 (1986), 44 (61). 23 OLG Zweibrücken NZV 1994, 35 (36); Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 114; Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (940 und 945); Otto, NJW 2006, 2217 (2222); weiter BGHSt 4, 88 (93); 7, 112 (114); OLG Celle MDR 1980, 74; Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 14; Dölling, GA 1984, 71 (88 ff.): auch fahrlässige Tötung nicht gerechtfertigt. 24 Chatzikostas, Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 239 f.; Dreier, JZ 2007, 317 (317 f.); Gutmann, Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?, S. 295 (308); Hilgendorf, Religion, Recht und Staat, S. 359 (365 f.); Schmitt, in: Festschrift Maurach, S. 113 (118). 25 Siehe dazu Neumann, NK, § 216 Rdn. 1 ff.; Schneider, MünchKomm-StGB, § 216 Rdn. 3 ff.; eingehend Chatzikostas, Disponibilität des Rechtsgutes Leben, S. 236 ff.; Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 169 ff.; Merkel, Früheuthanasie, S. 393 ff.; von Hirsch/Neumann, GA 2007, 671 (676 ff.); Schroeder, ZStW 106 (1994), 565 (567 ff.).
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b) Einwilligung in Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit Dritter am Beispiel der Beschneidung von Kindern aa) Erscheinungsformen und Hintergründe der Beschneidung Für interkulturelle Konflikte ist ferner von Bedeutung, ob und inwieweit jemand in die Verletzung der Rechtsgüter eines Dritten einwilligen kann. Dies betrifft vornehmlich die Befugnis der Eltern, als Personensorgeberechtigte gemäß § 1626 Abs. 1 BGB Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihres Kindes zu gestatten, sofern ihm die natürliche Einsichtsfähigkeit noch fehlt.26 Exemplarisch lassen sich die damit verbundenen juristischen Probleme an dem Beispiel der Beschneidung aufzeigen, deren strafrechtliche Würdigung in den letzten Jahren kontrovers diskutiert wird.27 Während die Beschneidung eines Jungen in der Regel darin besteht, seine Vorhaut teilweise oder vollständig zu entfernen (sogenannte Zirkumzision),28 werden bei Mädchen verschiedene Formen der Beschneidung praktiziert. Bei der Klitoridektomie werden die Klitorisvorhaut und/oder der äußerlich sichtbare Teil der Klitoris selbst amputiert, bei der Exzision außerdem die kleinen Schamlippen entfernt und gegebenenfalls die großen Schamlippen beschnitten. Den schwerstwiegenden Eingriff stellt die sogenannte Infibulation dar, bei der die Vaginalöffnung durch einen Verschluss der beschnittenen und zusammengefügten Schamlippen verengt wird.29 Es bleibt festzuhalten, dass die Beschneidung weiblicher Genitalien einen deutlich invasiveren Eingriff bedeutet als die Zirkumzision. Häufig ist insoweit daher von Genitalverstümmelung die Rede.30 26 BGHSt 12, 379 (382); BayObLG JR 1961, 72 (73); Hardtung, MünchKommStGB, § 228 Rdn. 10; H. J. Hirsch, LK11, § 228 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 228 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 41; Paeffgen, NK, § 228 Rdn. 17; Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 179; Kindhäuser, AT, § 12 Rdn. 18; Roxin, Strafrecht AT I, § 13 Rdn. 92; Amelung, ZStW 104 (1992), 821 (828 f.); Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (940). Zur Thematik ferner allgemein Kern, NJW 1994, 753 (754 ff.), am Beispiel von HIV-Antikörpertests Lesch, NJW 1989, 2309 (2310 ff.), am Beispiel von Schwangerschaftsabbrüchen Minderjähriger OLG Hamm NJW 1998, 3424; AG Celle NJW 1987, 2307 (2308 ff.); AG Schlüchtern NJW 1998, 832 (832 f.). 27 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115; Herzberg, JZ 2009, 332; ders., ZIS 2010, 471; Jerouschek, NStZ 2008, 313; Putzke, NJW 2008, 1568; ders., MedR 2008, 268; ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669; Rosenke, ZRP 2001, 377 mit Erwiderung Möller, ZRP 2002, 186; Schwarz, JZ 2008, 1125; Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824; ders., FamRZ 2007, 692. Zur asylrechtlichen Bedeutung drohender Genitalverstümmelung VGH Kassel NVwZ-RR 2006, 504; Bumke, NVwZ 2002, 423. 28 Zur Beschneidungspraxis im Judentum und im Islam Jerouschek, NStZ 2008, 313 (315). 29 World Health Organization, Eliminating Female genital mutilation, S. 4; vgl. ferner Rosenke, ZRP 2001, 377 (377); Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (824) mit leicht anderer Begriffsverwendung. 30 Vgl. z. B. BT-Drucks. 16/1391. Zur Thematik siehe außerdem die parlamentarischen Vorgänge unter BT-Drucks. 13/8281, 13/9335, 13/9401, 13/10682, 14/6682,
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Die Beschneidung von Jungen und Mädchen unterscheidet sich außer in der Schwere des Eingriffs in dessen jeweiligen Folgen. Bei Zirkumzisionen treten selten Komplikationen auf,31 die sich zumeist auf postoperative Nachblutungen oder Wundinfektionen beschränken,32 wenngleich sie ebenso Spätfolgen wie eine Meatusstenose, d. h. eine Verengung der Harnröhrenöffnung, nach sich ziehen können.33 Ansonsten werden Zirkumzisionen sogar hygienische und gesundheitliche Vorteile zugeschrieben; unter anderem soll sich das Risiko einer Infektion mit Geschlechtskrankheiten verringern.34 Die Beschneidung weiblicher Genitalien ruft hingegen oftmals schwere körperliche und seelische Probleme hervor, unter anderem chronische Schmerzen, Infektionen, Inkontinenz, Unfruchtbarkeit, geminderte Freude am Geschlechtsverkehr sowie psychologische Nachwirkungen wie Depressionen und Angstzustände. Außerdem erhöhen sich die Risiken für die Kinder der Beschnittenen, während oder unmittelbar nach der Geburt zu versterben, um 15% (bei vorangegangener Klitoridektomie), 32% (bei Exzision) bzw. 55% (bei Infibulation).35 Schließlich weisen die Zirkumzision und die Beschneidung weiblicher Genitalien verschiedene kulturelle Hintergründe auf. So beruht die im Judentum (dort als Brit Mila bezeichnet) und im Islam (arabisch hitân) nach wie vor weit verbreitete Zirkumzision auf religiösen Quellen.36 Im Judentum symbolisiert die Beschneidung den Bund zwischen dem männlichen Kind und Gott und soll am achten Lebenstag des Neugeborenen durchgeführt werden.37 Die islamischen 16/3542, 16/3842 und 16/4152 sowie die Gesetzentwürfe bzw. Gesetzesanträge in Teil 1 Fn. 136 f. 31 Angaben aus dem medizinischen Schrifttum gehen von 0,2 bis ca. 6% aus, vgl. Riccabona, Harnröhrenfistel nach Zirkumzision, S. 318 (318); Stehr/Schuster/Dietz/ Joppich, KlinPädiatr 2001, 50 (53). Eine Übersicht zu möglichen Komplikationen findet sich bei Riccabona, Harnröhrenfistel nach Zirkumzision, S. 318 (318 ff.); Stehr/ Schuster/Dietz/Joppich, KlinPädiatr 2001, 50 (53 f.); vgl. auch Putzke, MedR 2008, 268 (269); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (676 ff.). 32 Stark, Harnröhrenfistel nach Zirkumzision, S. 343 (343); Stehr/Schuster/Dietz/ Joppich, KlinPädiatr 2001, 50 (53). 33 Riccabona, Harnröhrenfistel nach Zirkumzision, S. 318 (319 f.); Stehr/Schuster/ Dietz/Joppich, KlinPädiatr 2001, 50 (53). 34 Putzke, MedR 2008, 268 (270). 35 World Health Organization, Eliminating Female genital mutilation, S. 11; BTDrucks. 13/9335, S. 5; Rosenke, ZRP 2001, 377 (377 f.); Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (824). 36 Zur Beschneidung im Judentum Schwarz, JZ 2008, 1125 (1126); zu ihrer Geschichte allgemein Jerouschek, NStZ 2008, 313 (313 ff.); eingehend Gollaher, Das verletzte Geschlecht, S. 13 ff. Zu nichtreligiösen Hintergründen der Beschneidung FatehMoghadam, RW 2010, 115 (117 ff.). 37 Genesis 17, 10 bis 14: „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden [. . .] Ein Unbeschnittener,
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Rechtsschulen sehen die Beschneidung zum Teil gleichfalls als verpflichtend an, zum Teil handelt es sich hierbei nur um eine Empfehlung.38 Der Brauch, weibliche Genitalien zu beschneiden, lässt sich den religiösen Schriften indes nicht entnehmen,39 wenngleich einige islamische Rechtsschulen sie trotzdem befürworten oder sogar als verbindlich erachten.40 Die Beschneidung hat hier also primär einen kulturellen, nicht aber zwingend einen religiösen Hintergrund. Weltweit sind ca. 130 Millionen Frauen von dieser Tradition betroffen, die heutzutage vor allem noch patriarchalische Gesellschaften in Nordafrika praktizieren.41 In Deutschland gehen Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen von ca. 30.000 Betroffenen aus.42 bb) Beschneidung als Körperverletzung In Deutschland erfüllen Beschneidungen den Tatbestand der Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB. Wird das Operationsbesteck auch in der Hand eines approbierten Arztes als gefährliches Werkzeug erachtet, kommt außerdem die Qualifikation der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB in Betracht.43 Der Überlegung, die Zirkumzision als sozialadäquat und somit tatbestandslos anzusehen,44 steht jedenfalls die zwar geringe, gleichwohl nicht zu vernachlässigende Komplikationsrate entgegen, die mit der Beschneidung wie mit jedem chirurgischen Eingriff einhergeht.45 Ein Rückgriff auf die bei ärztlichen Heileingriffen in der Literatur befürwortete Einschränkung des Tatbestandes46 scheidet jedenfalls dann aus, wenn – wie zumeist – die Zirkum-
eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen.“ 38 Zwar enthält sich der Koran einer ausdrücklichen Stellungnahme zur Beschneidung. Jedoch überliefert die Hadith-Sammlung von Muslim in dem Buch der Reinheit folgende Aussage des Propheten Mohammeds: „five are the acts of Fitra: circumcision, shaving the pubes, cutting the nails, plucking the hair under the armpits and clipping the moustache“ (Sahih Muslim, Buch 2, Nr. 495); zur Bedeutung der Zirkumzision für den Islam auch Zähle, AöR 134 (2009), 434 (445). 39 World Health Organization, Eliminating Female genital mutilation, S. 5; BTDrucks. 16/1391, S. 1; Rohe, Der Islam, S. 208. Zur kulturellen Einbettung Rosenke, ZRP 2001, 377 (377). 40 Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (826 f.); Zähle, AöR 134 (2009), 434 (442 f.). 41 BT-Drucks. 16/1391, S. 1 und S. 4 f.; World Health Organization, Eliminating Female genital mutilation, S. 5 f. 42 BT-Drucks. 16/1391, S. 2. 43 So generell Jerouschek, NStZ 2008, 313 (317); Putzke, in: Festschrift Herzberg, S. 669 (681 f.); zustimmend Herzberg, JZ 2009, 332 (332). 44 Rohe, Der Islam, S. 208; hierzu tendierend Zähle, AöR 134 (2009), 434 (453). 45 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (122); Putzke, MedR 2008, 268 (269); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (679 ff.).
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zision aus religiösen Gründen und ohne medizinische Indikation vorgenommen wird. Bei der Beschneidung weiblicher Genitalien ist je nach den Umständen des Einzelfalls darüber hinaus wegen des Verlusts der Fortpflanzungsfähigkeit oder einer erheblichen und dauernden Entstellung des Opfers von einer schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 3 StGB auszugehen.47 Dass der beschnittene Bereich in der Regel durch Kleidung bedeckt wird, steht dem nicht entgegen. Nachteilige Veränderungen des Äußeren verwirklichen selbst dann die Erfolgsqualifikation, wenn sie nur in bestimmten Situationen, beispielsweise bei sexuellen Aktivitäten, zu bemerken sind.48 Zudem kann die Beschneidung bei Frauen eine rohe Misshandlung von Schutzbefohlenen beinhalten und demzufolge nach § 225 Abs. 1 StGB zu ahnden sein. Einen eigenständigen Straftatbestand für die Genitalverstümmelung enthält das deutsche Strafrecht ungeachtet zunehmender Forderungen49 nicht. Einige Staaten haben sie dagegen ausdrücklich unter Strafe gestellt. Dazu zählen Belgien, Dänemark, Spanien, Kanada und die USA, aber auch viele afrikanische Länder, in denen traditionell Beschneidungen stattfinden, z. B. Ägypten, Äthiopien, Kenia, Niger und Sudan.50 Die nationalen Maßnahmen werden durch eine Reihe von internationalen Vereinbarungen und Erklärungen ergänzt, welche die Genitalverstümmelung untersagen.51 cc) Einwilligung der Eltern in die Beschneidung Wie bei sämtlichen sonstigen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit scheidet eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung aus, wenn die verletzte Person 46 Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 223 Rdn. 32; Lackner/Kühl, § 223 Rdn. 8; Lilie, LK11, Vor § 223 Rdn. 3. Zum Streitstand Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 223 Rdn. 28 ff.; Joecks, MünchKomm-StGB, § 223 Rdn. 41 ff.; Lilie, LK11, Vor § 223 Rdn. 3 ff.; Paeffgen, NK, § 228 Rdn. 56 ff. 47 Ausführlich zur Strafbarkeit der Genitalverstümmelung Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (824 ff.); vgl. auch BT-Drucks. 13/8281, S. 12 f. und 14 f.; 14/6682, S. 10 f.; 16/1391, S. 2; a. A. in Bezug auf § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB Fischer, § 223 Rdn. 6d. Nach Rosenke, ZRP 2001, 377 (378) soll § 226 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB gegeben sein; zustimmend Möller, ZRP 2002, 186 (186); zu Recht kritisch Hahn, ZRP 2010, 37 (38). 48 Eschelbach, BeckOK-StGB, § 226 Rdn. 23; Hardtung, MünchKomm-StGB, § 226 Rdn. 32; kritisch Hagemeier/Bülte, JZ 2010, 406 (407). 49 Siehe die Gesetzesinitiativen und Stimmen aus dem Schrifttum in Teil 1 Fn. 136 f. Aus dem Schrifttum etwa Rosenke, ZRP 2001, 377 (379), die jedoch die Beschneidung weiblicher Genitalien in gewissem Umfang nach vorheriger Beratung für straffrei erklären will; insoweit zu Recht ablehnend Möller, ZRP 2002, 186 (187). Vgl. ferner BTDrucks. 13/8281, S. 12 f. 50 BT-Drucks. 16/1391, S. 3 ff. 51 Siehe die Übersicht in BT-Drucks. 16/1391, S. 6.
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darin wirksam einwilligt.52 Sofern – wie in der Regel – die beschnittene Person infolge ihres zu geringen Alters noch nicht die notwendige natürliche Einsichtsfähigkeit aufweist,53 bedarf es hierfür der Zustimmung der Eltern als Personensorgeberechtigten gemäß § 1626 Abs. 1 BGB. Allerdings sind der Befugnis der Eltern Grenzen gesetzt, so dass sie nicht beliebig über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder verfügen dürfen. Fraglich bleibt, in welchem Umfang die Eltern wirksam einwilligen können. Nach einer Auffassung im Schrifttum können Eltern eine wirksame Einwilligung lediglich für ärztliche Heilmaßnahmen erteilen, die medizinisch indiziert sind.54 Eingriffe in höchstpersönliche Rechte seien der Fremdbestimmung grundsätzlich entzogen. Hierfür sei daher eine besondere rechtliche Begründung erforderlich, die sich mangels gesetzlicher Regelung und ohne Übertragung der Dispositionsbefugnis nur aus der medizinischen Notwendigkeit ergebe.55 Demnach dürften die Eltern beispielsweise weder in Blut- oder Organspenden noch in Schönheitsoperationen einwilligen. Eine Ausnahme solle für Vorsorgemaßnahmen wie Impfungen gelten.56 Diese strenge, lediglich durch die Zulässigkeit von Vorsorgemaßnahmen etwas aufgeweichte Ansicht gestattete Eltern nicht einmal, ihren Kindern einen Ohrring stechen zu lassen.57 Ebenso wenig dürften die Personensorgeberechtigten in kosmetische Operationen einwilligen, die nicht dem Schönheitswahn geschuldet sind, sondern auf einem verständlichen Anlass beruhen. Dazu gehören Hautverpflanzungen nach Verbrennungen oder die Beseitigung von Fehlbildungen, wie eines sechsten Fingers oder Zehs, aus ästhetischen Gründen, es sei denn, diese Eingriffe wären aufgrund zu befürchtender psychischer Störungen medizinisch indiziert. Das Kriterium der medizinischen Indikation eines Eingriffs wird also den Umständen des Einzelfalls zu wenig gerecht und eignet sich nicht, die Wirk52 Zur Unbeachtlichkeit der Einwilligung bei Sittenwidrigkeit der Tat gemäß § 228 StGB siehe unten Teil 3 Kap. 4 III. 2. 53 Die Rechtsprechung lehnte unter anderem für einen neunjährigen (LG Frankenthal MedR 2005, 243 [244]) und einen zwölfjährigen Jungen (OLG Frankfurt am Main NJW 2007, 3580 [3581] unter Heranziehung der Umstände des konkreten Einzelfalls) die Einwilligungsfähigkeit in ihre Beschneidung ab. Siehe hierzu aus dem Schrifttum Putzke, NJW 2008, 1568 (1569 f.); ders., MedR 2008, 268 (270); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (683 ff.), der Jugendlichen in der Regel zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr die notwendige Einsichtsfähigkeit zuspricht; nach Jerouschek, NStZ 2008, 313 (318) ist die Volljährigkeit des Einwilligenden notwendig; zustimmend Zähle, AöR 134 (2009), 434 (450); hiergegen Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (124 ff.) vor allem unter Verweis auf § 5 RelKErzG. 54 Kern, FamRZ 1981, 738 (739); ders., NJW 1994, 753 (756); ebenso wohl Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 180. 55 Kern, NJW 1994, 753 (758). 56 Kern, NJW 1994, 753 (756). 57 Kern, NJW 1994, 753 (756) hält demzufolge konsequenterweise einen solchen Eingriff allenfalls wegen seiner Geringfügigkeit für nicht strafbar.
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samkeit einer Einwilligung der Eltern in Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder zu begrenzen. Dies verdeutlicht des Weiteren die Vorschrift des § 1631c Satz 1 BGB, wonach die Eltern nicht in die Sterilisation ihres Kindes einwilligen können. Einer solchen ausdrücklichen Regelung bedürfte es nicht, wenn eine Einwilligung der Eltern in die – in der Regel nicht medizinisch indizierte – Sterilisation von vornherein ausgeschlossen wäre. Demgemäß erblicken der Gesetzgeber sowie das zivilrechtliche Schrifttum in der Vorschrift eine Einschränkung des – somit als bestehend vorausgesetzten – Personensorgerechts der Eltern.58 Es bietet sich daher an, primär nicht an medizinische Kriterien, sondern an den eigentlichen Grund anzuknüpfen, der den Eltern gestattet, in Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihres Kindes wirksam einzuwilligen: das Personensorgerecht aus § 1626 Abs. 1 BGB, das die Eltern in eigener Verantwortung zum Wohle des Kindes auszuüben haben (§ 1627 Satz 1 BGB).59 Der Staat bekleidet demgegenüber ein Wächteramt, um die Einhaltung gewisser Mindeststandards zu gewährleisten.60 Zu diesen Mindeststandards zählt das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes, das der Entscheidungsautonomie der Eltern Grenzen setzt61 und unter den Voraussetzungen des § 1666 BGB als Ausprägung des staatlichen Wächteramts62 Maßnahmen des Familiengerichts ermöglicht. Die hierfür notwendige Gefährdung des Kindeswohls erfordert eine gegenwärtige, nicht lediglich abstrakte Gefahr, die bei der weiteren Entwicklung der Dinge mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Schädigung des Kindeswohls befürchten lässt.63 Nach diesen Vorgaben muss wie folgt unterschieden werden: Ist ein ärztlicher Eingriff angezeigt, trifft die Eltern nicht nur ein Recht, sondern im Falle fehlender Behandlungsalternativen sogar die – infolge ihrer Beschützergarantenstellung gegenüber dem Kind gemäß §§ 223 ff., 13 Abs. 1 StGB strafbewehrte – Pflicht zur Einwilligung.64 Bei nicht medizinisch indizierten Maßnahmen verbleibt den
58 BT-Drucks. 11/4528, S. 107; Palandt/Diederichsen, § 1631c Rdn. 1; Huber, MünchKomm-BGB, § 1631c Rdn. 2; Veit, BeckOK-BGB, § 1631c Rdn. 2. 59 Ebenso Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (128 ff.). 60 Palandt/Diederichsen, § 1626 Rdn. 1; Veit, BeckOK-BGB, § 1626 Rdn. 13. 61 Vgl. Palandt/Diederichsen, § 1666 Rdn. 12; Huber, MünchKomm-BGB, § 1626 Rdn. 44 zu ärztlichen Eingriffen. 62 OLG Dresden FamRZ 2003, 1862 (1862); Olzen, MünchKomm-BGB, § 1666 Rdn. 1; Veit, BeckOK-BGB, § 1666 Rdn. 1; Jerouschek, NStZ 2008, 313 (318). 63 BGH FamRZ 1956, 350 (351); NJW 2005, 672 (673); BayObLG FamRZ 1977, 473 (474); OLG Celle FamRZ 2003, 1490 (1491); OLG Dresden FamRZ 2003, 1862 (1863); OLG Jena FamRZ 2006, 280 (281); OLG Karlsruhe NJW 2009, 3521 (3522); Palandt/Diederichsen, § 1666 Rdn. 10; Erman/Michalski, § 1666 Rdn. 6; Olzen, MünchKomm-BGB, § 1666 Rdn. 50; Veit, BeckOK-BGB, § 1666 Rdn. 4; Schwarz, JZ 2008, 1125 (1128). 64 Kern, NJW 1994, 753 (756). Zur Möglichkeit einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung einer Blutentnahme bei Verweigerung durch die Eltern aus religiösen
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Eltern hingegen ein eigenständiges Recht, über Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihres Kindes zu entscheiden.65 Wie weit der den Eltern zukommende Entscheidungsspielraum, welche Maßnahmen im Einzelnen dem Wohl ihres Kindes dienen, reicht und welche Kriterien hierbei von Bedeutung sind, bestimmt sich wiederum nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab der inländischen Rechtsgemeinschaft. Dies gilt zunächst für die Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit ihres Kindes. Das Personensorgerecht umfasst demnach die Zustimmung zu ärztlichen Behandlungen, die zwar nicht medizinisch indiziert sind, sich aber für das Kindeswohl als sinnvoll erweisen können, z. B. Vorsorgeimpfungen66 oder die erwähnten kosmetischen Operationen nach Verbrennungen oder zur Beseitigung von Fehlbildungen.67 Gleiches dürfte für Bluttransfusionen zugunsten Dritter gelten,68 wenngleich hier für die Wirksamkeit der Einwilligung nicht das körperliche, sondern das geistige bzw. seelische Wohl des Kindes streitet. Schließlich können die Eltern auch Eingriffe gestatten, die – wie das Stechen eines Ohrringes69 – infolge ihrer Geringfügigkeit das Kindeswohl nicht erheblich schädigen. Seine Grenze findet das Personensorgerecht jedenfalls bei beträchtlichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit des Kindes, z. B. bei Organspenden.70 Bei der Zirkumzision ist auf Grundlage dieser Erwägungen nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sie eine noch zulässige Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts darstellt. Allein dass die Entfernung der Vorhaut den Genitalbereich betrifft, verleiht der Beschneidung keinen derart höchstpersönlichen Charakter, welcher der Wahrnehmung des Personensorgerechts von vornherein entgegen steht. Außerdem bleibt die Zirkumzision in ihrer Intensität erheblich hinter anderen ärztlichen Eingriffen zurück, bei denen der Gesetzgeber sich zu einer ausdrücklichen Einschränkung oder Regelung des Personensorgerechts veranlasst sah, seien es die Vorschriften zur Sterilisation (§ 1631c BGB), Kastration (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 KastrG), Transplantation (§§ 8 f. TPG) oder klinischen Prüfung von Gründen (Zeugen Jehovas) OLG Celle NJW 1995, 792 (793); zur Strafbarkeit gemäß § 323c StGB OLG Hamm NJW 1968, 212; siehe dazu oben Teil 2 Kap. 2 III. 1. a). 65 Siehe auch Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (131 ff.); kritisch Herzberg, ZIS 2010, 471 (474). 66 Putzke, in: Festschrift Herzberg, S. 669 (692); ebenso Kern, NJW 1994, 753 (756). Im Einzelfall kann gerade das Unterlassen einer Impfung das Kindeswohl gefährden, z. B. bei der Versagung von Impfschutz vor der Reise in ein seuchengefährdetes Gebiet, Palandt/Diederichsen, § 1666 Rdn. 12. 67 Vgl. auch LG Frankenthal MedR 2005, 243 (244); Putzke, in: Festschrift Herzberg, S. 669 (697). 68 Roxin, Strafrecht AT I, § 13 Rdn. 93; Lenckner, ZStW 72 (1960), 446 (460 f.); a. A. Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 181; Bender, ZRP 1997, 353 (355); Deutsch, NJW 1998, 3377 (3380); Kern, FamRZ 1981, 738 (739 f.); ders., NJW 1994, 753 (756). 69 Vgl. Putzke, in: Festschrift Herzberg, S. 669 (696). 70 Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 180; Kern, FamRZ 1981, 738 (739 f.).
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Arzneimitteln (§§ 40 Abs. 4, 41 Abs. 2 AMG). Wegen des geringen, gleichwohl vorhandenen Komplikationsrisikos erweist sich die Einwilligung andererseits ebenso wenig bereits wegen der Geringfügigkeit des Eingriffs als wirksam. Entscheidend ist daher, ob die Zirkumzision zum Wohle des Kindes geschieht. Die möglichen medizinischen Vorteile einer Beschneidung müssen hier außer Betracht bleiben, solange – anders als bei anerkannten Vorsorgeimpfungen – konkrete Zusammenhänge zwischen Beschneidung und Krankheitsrisiken zumindest nicht für die hygienischen Verhältnisse in Deutschland erwiesen sind.71 Ohnehin beträfen Vorteile wie die geringere Ansteckungsgefahr mit Geschlechtskrankheiten häufig erst Personen in einem Alter, welche die notwendige Einsichtsfähigkeit aufwiesen und in der Lage wären, sich eigenverantwortlich einer Zirkumzision zu unterziehen.72 Auf das körperliche Wohl des Kindes kann demnach nicht verwiesen werden, um die Beschneidung von Jungen zu rechtfertigen. Das Wohl des Kindes bemisst sich indes nicht allein nach seinem körperlichen Befinden, sondern auch nach seelischen und geistigen Kriterien. Da der Beschneidung im Judentum und in einigen islamischen Rechtsschulen eine zentrale Position für den Glauben zuteilwird, hat die Entscheidung für oder gegen einen solchen Eingriff eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Hierbei gilt es nicht, das Kind vor einer möglichen Ausgrenzung oder Stigmatisierung zu bewahren; denn dies bedeutete letztlich, sich der religiösen Intoleranz zu beugen.73 Den Ausschlag gibt vielmehr, ob die religiöse Identifikation zum seelischen und geistigen Wohl des Kindes beizutragen vermag.74 Dadurch würden die gesundheitlichen Risiken kompensiert und die Beeinträchtigungen des körperlichen Wohls durch den Eingriff der Zirkumzision aufgewogen. Hiergegen wird vermehrt vorgetragen, das Problem der Zulässigkeit der Zirkumzision auf eine rechtsfreie Ebene zu verlagern.75 Religion und Recht sind jedoch nicht derart kategorisch unvereinbar, wie es solche Bedenken vermuten lassen. Maßgeblich bleibt allein, ob das Recht selbst religiöse Aspekte beachtet, dadurch gewissermaßen verrechtlicht und in den entscheidenden Bewertungsmaßstab der inländischen Rechtsgemeinschaft integriert. Das Bürgerliche Gesetz-
71 Putzke, MedR 2008, 268 (270 f.) m.w. N.; ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (689 f.); ebenso Herzberg, JZ 2009, 332 (334); ders., ZIS 2010, 471 (473); a. A. FatehMoghadam, RW 2010, 115 (135 ff.) unter Betonung des Entscheidungsspielraums der Eltern. 72 Putzke, MedR 2008, 268 (270); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (690); siehe auch Herzberg, ZIS 2010, 471 (473). 73 Ebenso im Ergebnis Putzke, MedR 2008, 268 (272); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (701 ff.). 74 Siehe auch Zähle, AöR 134 (2009), 434 (452). 75 So der Einwand von Putzke, MedR 2008, 268 (272). Vgl. hierzu auch Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (139), der zu Recht betont, dass „eine religiöse Rechtfertigung für die Verletzung des Kindeswohls [. . .] schlechthin ausgeschlossen“ ist.
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buch hat aber die Personensorge den Eltern in eigener Verantwortung übertragen. Zu der Pflicht und dem Recht der Eltern, für die Person ihres minderjährigen Kindes zu sorgen, zählt unter anderem ihr Erziehungsrecht gemäß § 1631 Abs. 1 BGB, das Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich schützt. Die Eltern dürfen ihr Kind also nach ihren eigenen Lebensvorstellungen erziehen, seien sie ethischer, politischer oder – wie § 1 Satz 1 RelKErzG ausdrücklich festhält – religiöser Art.76 Das religiöse Erziehungsrecht erfährt sogar, wie exemplarisch in Art. 7 Abs. 2 GG betreffend die Teilnahme von Kindern am Religionsunterricht zum Ausdruck kommt, einen besonderen Stellenwert.77 Den sorgeberechtigten Eltern steht gemäß den vorstehenden Erwägungen ein gewisser Entscheidungsspielraum zu, auch aus religiöser Motivation Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder zu veranlassen, um deren Wohl zu fördern. Die aus diesen Gründen erfolgende Einwilligung in eine medizinisch nicht indizierte Zirkumzision ist demnach noch wirksam,78 sofern sich die damit einhergehenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit – wie nach wohl derzeitigem Stand der Wissenschaft79 – jedenfalls bei einem klinischen Eingriff tatsächlich als gering erweisen80 und der Religion nach den Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft nach wie vor eine zentrale Bedeutung bei 76 Palandt/Diederichsen, § 1626 Rdn. 1; Huber, MünchKomm-BGB, § 1626 Rdn. 33; Erman/Michalski, § 1626 Rdn. 15; Veit, BeckOK-BGB, § 1626 Rdn. 22; vgl. auch BVerfGE 41, 29 (49). 77 Nach Herzberg, JZ 2009, 332 (335) – siehe auch ders., ZIS 2010, 471 (472) – sind hingegen „Entscheidungen der elterlichen Sorge, die die Religion des Kindes betreffen und von den Grundrechten der Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 4 Abs. 2, 3 GG gedeckt sind, also den Eltern freistehen, von Rechts wegen als kindeswohlneutral zu betrachten“ (Hervorhebung im Original). Art. 7 Abs. 2 GG belege, religiöse Erziehungsanliegen für das Kindeswohl – weder positiv noch negativ – von vornherein berücksichtigen zu dürfen. 78 Ebenso Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (139); Schwarz, JZ 2008, 1125 (1128). Ähnlich Gropp, § 6 Rdn. 231, der jedoch unmittelbar auf die Religionsausübung zurückzugreifen scheint: „allenfalls eine Rechtfertigung im überwiegenden Interesse der Religionsausübung“; vgl. auch Zähle, AöR 134 (2009), 434 (450 ff.); siehe ferner OVG Lüneburg NJW 2003, 3290, wonach die Kosten für die Beschneidung durch den Sozialhilfeträger zu übernehmen seien; Schreiber/Rösch, Verhinderung einer rituellen Zirkumzision durch richterlichen Beschluss, S. 345 (346); Rohe, JZ 2007, 801 (802 Fn. 7). A. A. Staudinger/Coester, § 1666 Rdn. 126; Herzberg, JZ 2009, 332 (338); ders., ZIS 2010, 471 (471); Jerouschek, NStZ 2008, 313 (319); Putzke, NJW 2008, 1568 (1569); ders., MedR 2008, 268 (269 ff.); ders., in: Festschrift Herzberg, S. 669 (697 ff.); H.C. Schmidt, ZStW 121 (2009), 645 (665), der die Zulässigkeit der Zirkumzision als Problem der Religionsfreiheit der Eltern betrachtet (647 und 664); ebenso wohl Maurach/ Schroeder/Maiwald, BT 1, § 8 Rdn. 39; offen gelassen von OLG Frankfurt am Main NJW 2007, 3580 (3581). 79 Siehe Teil 3 Fn. 31. 80 Siehe aber Gollaher, Das verletzte Geschlecht, S. 179 ff. sowie die Bedenken von Jerouschek, NStZ 2008, 313 (316); Putzke, MedR 2008, 268 (269); Stehr/Schuster/ Dietz/Joppich, KlinPädiatr 2001, 50 (54), im Hinblick auf Anhaltspunkte für psychische Auswirkungen der Zirkumzision.
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der Erziehung zukommt. Dies setzt allerdings eine nach ärztlichen Standards (z. B. unter hygienischen Bedingungen) und durch einen approbierten Mediziner durchgeführte Beschneidung voraus, um unnötige Risiken und Komplikationen weitgehend auszuschließen.81 Als unumstritten erweist sich diese Grenzziehung bei der Dispositionsbefugnis der Eltern freilich nicht. Es wäre daher eine ausdrückliche Regelung durch den Gesetzgeber – etwa im Zusammenhang mit den erwähnten Initiativen zur Genitalverstümmelung82 – wünschenswert, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die nicht medizinisch indizierte Zirkumzision zulässig ist. Die Beschneidung weiblicher Genitalien ist hingegen angesichts ihrer gravierenden Gefahren für die körperliche Unversehrtheit selbst bei Durchführung durch einen Arzt nicht mit dem Kindeswohl zu vereinbaren.83 Eine wirksame Einwilligung der Eltern in einen solchen Eingriff scheidet demnach mangels Verfügungsbefugnis von vornherein aus. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Eltern überhaupt auf ihr Recht zur religiösen Erziehung berufen können, da die einzelnen Glaubensgemeinschaften einen solchen Brauch nicht erwähnen bzw. jedenfalls nicht vorschreiben. Dem Ansatz, eine wirksame Einwilligung erst aufgrund der Sittenwidrigkeit der Beschneidung gemäß § 228 StGB abzulehnen,84 ist eine Absage zu erteilen. Zum einen ginge ein solcher Rückgriff ins Leere, wenn der Gesetzgeber den Bedenken der Literatur gegen die Existenzberechtigung der Norm85 tatsächlich eines Tages Rechnung trüge und die Vorschrift aufhöbe. Zum anderen bestehen Bedenken wegen des Wortlauts des § 228 StGB, der ausdrücklich auf die Einwilligung der verletzten Person abstellt und dessen Anwendbarkeit auf die Einwilligung Dritter somit nicht zu Unrecht hinterfragt wird.86 Die Vorschrift kann demzufolge nur bei der Einwilligung der Betroffenen selbst in die Beschneidung ihrer Genitalien herangezogen werden.87
81 LG Frankenthal MedR 2005, 243 (244); Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 (139); Zähle, AöR 134 (2009), 434 (451). 82 Siehe die Nachweise in Teil 1 Fn. 136 f. 83 BGH NJW 2005, 672 (673); OLG Dresden FamRZ 2003, 1862 (1862 f.); OLG Karlsruhe NJW 2009, 3521 (3522); Staudinger/Coester, § 1666 Rdn. 126; eingehend Wüstenberg, FamRZ 2007, 692 (692 ff.). 84 So etwa BT-Drucks. 13/8281, S. 13; Wüstenberg, Der Gynäkologe 2006, 824 (826); vgl. auch Paeffgen, NK, § 228 Rdn. 18: Zwangsbeschneidung „mit dem deutschen Ordre public unvereinbar“. 85 Für eine Abschaffung der Vorschrift plädieren Freund, ZStW 109 (1997), 455 (473) (im Rahmen einer Stellungnahme des Arbeitskreises der Strafrechtslehrer zum Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts); Kargl, JZ 2002, 389 (399); Schmitt, in: Festschrift Maurach, S. 113 (118 ff.); ders., in: Gedächtnisschrift Schröder, S. 263 (266 ff.). Hiergegen Lackner/Kühl, § 228 Rdn. 11; H. J. Hirsch, in: Festschrift Welzel, S. 775 (797 ff.). 86 Hardtung, MünchKomm-StGB, § 228 Rdn. 10.
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2. Sittenwidrigkeit der Tat gemäß § 228 StGB Gemäß § 228 StGB bleibt eine im Einvernehmen mit dem Opfer begangene Körperverletzung88 rechtswidrig, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“. Auch das ausfüllungsbedürftige Merkmal der Sittenwidrigkeit der Tat lässt je nach kulturellem Hintergrund unterschiedliche Beurteilungen zu. Wiederum muss daher der entscheidungserhebliche Maßstab ermittelt werden. Zur näheren Konkretisierung des Merkmals der „guten Sitten“ im Sinne des § 228 StGB wird gewöhnlich auf das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verwiesen.89 Diese Begriffsbestimmung vermag in der heutigen pluralistischen Gesellschaft allerdings nur schwerlich zur Konturierung des Merkmals beizutragen,90 wenngleich der Bundesgerichtshof zuletzt einschränkend festgehalten hat, dass der Begriff der „guten Sitten“ auf seinen rechtlichen Kern zu beschränken sei.91 Zumindest sind allgemeingültige moralische Maßstäbe heranzuziehen, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können.92 Oder in negativer Abgrenzung formuliert: Ein Verstoß gegen die Wertvorstellungen lediglich einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder sogar allein des erkennenden Richters genügt nicht und steht der Rechtfertigung der Körperverletzung nicht entgegen.93 Ebenso wenig schließen umgekehrt die abweichenden Ansichten einzelner kultureller Gruppierungen die Allgemeingültigkeit anerkannter Maßstäbe aus. Ansonsten würde in einer multikulturellen Gesellschaft dem Merkmal der 87 Rosenke, ZRP 2001, 377 (378 f.) will dagegen in diesem Fall den Weg über wirksamkeitsausschließende Willensmängel der Einwilligung beschreiten; zu Recht kritisch Möller, ZRP 2002, 186 (187); Rohe, JZ 2007, 801 (802). 88 Auf andere Rechtsgutsverletzungen kann der Gedanke des § 228 StGB infolge seiner systematischen Stellung nach herrschender Ansicht nicht übertragen werden, BGHSt 4, 88 (93); Hardtung, MünchKomm-StGB, § 228 Rdn. 6; H. J. Hirsch, LK11, § 228 Rdn. 1; Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 18; Roxin, Strafrecht AT I, § 13 Rdn. 70; a. A. Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 116; Geerds, GA 1954, 262 (268). 89 BGHSt 4, 24 (32); 4, 88 (91); 49, 34 (41); BayObLG NJW 1999, 372 (373); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 23; H. J. Hirsch, LK11, § 228 Rdn. 6; Lackner/ Kühl, § 228 Rdn. 10; Wessels/Beulke, Rdn. 377; kritisch Fischer, § 228 Rdn. 11; Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 115. 90 Lackner/Kühl, § 228 Rdn. 11; Paeffgen, NK, § 228 Rdn. 46 ff.; Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 190; Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 115; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, § 228 Rdn. 2; Kühl, in: Festschrift Schroeder, S. 519 (532 f.); ders., JA 2009, 833 (837). 91 BGHSt 49, 166 (169); zustimmend Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 23; Fischer, § 228 Rdn. 11; Stree, NStZ 2005, 40 (41); kritisch Kühl, in: Festschrift Otto, S. 63 (71); ders., JA 2009, 833 (837). 92 BGHSt 49, 34 (41); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 23. 93 BGHSt 49, 34 (41); 49, 166 (169); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 23; Lackner/Kühl, § 228 Rdn. 10; Kühl, in: Festschrift Schroeder, S. 519 (532); Lenckner, JuS 1968, 304 (309); Stree, NStZ 2005, 40 (41).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Sittenwidrigkeit jegliche begrenzende Funktion genommen, welche die Vorschrift des § 228 StGB gerade entfalten soll.94 Die Wirksamkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung bestimmt sich deshalb nach einem einheitlichen Bewertungsmaßstab und nicht nach den kulturellen Anschauungen des Einwilligenden.95 Anhand dieses Bewertungsmaßstabs ist für die Beurteilung im Einzelfall, ob die Tat gegen die guten Sitten verstößt, vornehmlich deren Gewicht, namentlich die Schwere der Körperverletzung und die damit verbundene Leibes- und Lebensgefahr heranzuziehen.96 Außerdem müssen die mit der Tat verfolgten Ziele und Beweggründe berücksichtigt werden;97 dies gilt zumindest dann, wenn sie die an sich vorliegende Sittenwidrigkeit der Körperverletzung zu beseitigen vermögen.98 Insoweit können die kulturelle Motivation der Tat und die Verpflichtung gegenüber Traditionen eine Rolle spielen und die Sittenwidrigkeit geringfügiger Körperverletzungen ausschließen. Es bleibt somit auch hier bei dem aufgezeigten Grundsatz, dass zwar nicht bei dem Bewertungsmaßstab, aber durchaus bei den einzelnen Bewertungsgrundlagen kulturelle Wertvorstellungen zu beachten sind.
IV. Kulturelle Wertvorstellungen als Rechtfertigungsund Entschuldigungsgrund Nach den vorstehenden Überlegungen wirken sich kulturelle Wertvorstellungen bei den Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe lediglich in begrenztem Umfang aus. Vor allem bei der Schutzwürdigkeit von Rechtsgütern sowie bei der Beurteilung der Gebotenheit der Verteidigungshandlung oder der Sittenwidrigkeit der Tat, in die das Opfer einwilligt, ist ein allgemeingültiger Bewertungsmaßstab heranzuziehen. Zwar sind kulturelle, insbesondere religiöse Interessen zu bedenken, wenn Eltern in Ausübung ihres Personensorgerechts zum Wohle ihrer Kinder über Eingriffe in deren körperliche Unversehrtheit entscheiden; dies resultiert aber lediglich aus entsprechenden gesetzlichen Regelungen, die insoweit die Vor94 Vgl. auch Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 115; Fabricius, JuS 1991, 393 (395). 95 A. A. Fabricius, JuS 1991, 393 (395 f.). 96 BGHSt 49, 34 (42); 49, 166 (171 f.); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 24. 97 BGHSt 4, 24 (31); BayObLG NJW 1999, 372 (373); Lackner/Kühl, § 228 Rdn. 10; Paeffgen, NK, § 228 Rdn. 43. 98 BGHSt 49, 166 (171); Eschelbach, BeckOK-StGB, § 228 Rdn. 25; Fischer, § 228 Rdn. 10; H. J. Hirsch, LK11, § 228 Rdn. 9; Mosbacher, JR 2004, 390 (391); zur Thematik ferner Duttge, NJW 2005, 260 (262). Zusammenfassend zur Diskussion um die entscheidungserheblichen Umstände Roxin, Strafrecht AT I, § 13 Rdn. 38 ff.; Wessels/Beulke, Rdn. 377 mit dem zutreffenden Hinweis, dass „nach allen Ansichten die eigenen Moralvorstellungen des Gesetzesanwenders in nicht unproblematischem Ausmaß in die Bewertung ein[fließen]“.
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stellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft mitbestimmen. Da kulturelle Gepflogenheiten einen starken Einfluss auf den Handelnden haben, bleibt jedoch erwägenswert, ihnen im Einzelfall eine rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Wirkung zuzubilligen. 1. Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG a) Grundlagen Einen möglichen Anknüpfungspunkt hierfür gewährt Art. 4 Abs. 1 GG, wonach die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind. Zwar bilden religiöse und weltanschauliche Wertvorstellungen nur einen Teilaspekt der Kultur. Da sie aber viele Menschen wesentlich prägen, könnte über Art. 4 Abs. 1 GG ein nicht unerheblicher Teil kultureller Anschauungen berücksichtigt werden. Ob Art. 4 Abs. 1 GG einen eigenständigen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund darstellt, wird in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutiert. Grundsätzlich ist es dem Strafrecht nicht fremd, sich zur Rechtfertigung einer Tat unmittelbar auf ein Grundrecht zu berufen. Vor allem die Grundrechte der Meinungsäußerungs- (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 GG), der Presse- (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 GG) sowie der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) werden weitgehend als Rechtfertigungsgründe anerkannt.99 Ähnlich ordnen einige die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Rechtfertigungsgrund ein,100 während manche für eine schuldausschließende Wirkung plädieren.101 Andere Stimmen lehnen jeglichen 99 Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 28; für die Kunstfreiheit Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 79/80; Roxin, Strafrecht AT I, § 18 Rdn. 50; zur Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG als Rechtfertigungsgrund BGHSt 44, 34 (41 f.). Allgemein zur Funktion von Grundrechten als Rechtfertigungsgründen H.C. Schmidt, ZStW 121 (2009), 645 (657 ff.). 100 OLG Jena NJW 2006, 1892 (1892 f.); Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 138 f. und 366; H. J. Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, S. 14; Engelhardt, FamRZ 1958, 266 (270); Günther, in: Festschrift Spendel, S. 189 (193 und 200); Peters, in: Festschrift Mayer, S. 257 (276); Radtke, GA 2000, 19 (33 ff.); Ranft, in: Festschrift Schwinge, S. 111 (115 f.); vgl. auch AG Balingen NJW 1982, 1006 (1006): rechtfertigende Pflichtenkollision; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (46 ff.) unter Rückgriff auf die Voraussetzungen des § 34 StGB; in unterschiedlicher Weise differenzierend Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 28 und 32; Bopp, Der Gewissenstäter, S. 238 ff. und 249 ff.; Höcker, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, S. 50 ff., 75; Frisch, GA 2006, 273 (277); ders., in: Festschrift Schroeder, S. 11 (22 ff.). 101 AG Lüneburg StV 1985, 64 (65); Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 120 für Unterlassungsdelikte; Neumann, NK, § 17 Rdn. 46; Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 207; Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 71; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 30; de Figueiredo Dias, in: Festschrift Roxin, S. 531 (542); Herdegen, GA 1986, 97 (103); Müller-Dietz, in: Festschrift Peters, S. 91 (108); Nestler-Tremel, StV 1985, 343 (350); Peters, JZ 1966, 457 (459); Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (630); Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher,
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Einfluss von Art. 4 Abs. 1 GG auf die Strafbarkeit ab und gestehen dem Grundrecht allenfalls Bedeutung für die Strafzumessung zu.102 b) Zum Meinungsstand Zumeist beschränken sich die Ausführungen in Rechtsprechung und Literatur auf die Gewissensfreiheit als Unterfall des Art. 4 Abs. 1 GG. Nach überwiegender Ansicht vermag die Gewissensentscheidung den Täter allenfalls zu entschuldigen, sei es durch eine analoge Anwendung des § 35 StGB,103 eine materielle Analogie zum fehlenden Unrechtsbewusstsein104 oder eine Berufung auf die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens.105 Für den Weg über die Schuld spreche der ungeheure Motivationsdruck, der dem Täter das von der Rechtsordnung erwartete Verhalten erschwere.106 Nicht zu vernachlässigen bleibe, dass die Gewissensentscheidung eines Einzelnen zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen und in Zukunft zur herrschenden Ansicht avancieren könne. Der Staat sei deshalb im Einzelfall gut beraten, auf die Sanktionierung von Gewissenstaten zu verzichten, sofern dies ohne Preisgabe seiner selbst und immanenter Schranken in der Gestalt privater Rechtsgüter möglich erscheine.107 Vermehrt wird für die Ausübung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit allerdings eine rechtfertigende Wirkung erwogen. Zwar dürfe allein der grund-
S. 437 (448). Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 123; ders., in: Festschrift Henkel, S. 171 (197); ders., in: Festschrift Maihofer, S. 389 (411) schließt zwar nicht die Schuld, aber die kriminalrechtliche Verantwortlichkeit des Gewissenstäters aus. 102 LG Dortmund NStZ-RR 1998, 139 (141); Heinitz, ZStW 78 (1966), 615 (632); ebenso Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 119 für Begehungsdelikte; enger Bockelmann, in: Festschrift Welzel, S. 543 (555): keine Berücksichtigung auf Rechtsfolgenebene. 103 So Peters, JZ 1966, 457 (459); kritisch Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 371; Bopp, Der Gewissenstäter, S. 246 f.; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (66); de Figueiredo Dias, in: Festschrift Roxin, S. 531 (543 f.); Frisch, in: Festschrift Schroeder, S. 11 (23 f.). 104 de Figueiredo Dias, in: Festschrift Roxin, S. 531 (545 ff.). 105 So Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 120 für Unterlassungsdelikte; Neumann, NK, § 17 Rdn. 46; Bopp, Der Gewissenstäter, S. 249 ff.; Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (630); Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (448); vgl. ferner Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 60 ff.; Herdegen, GA 1986, 97 (103); Müller-Dietz, in: Festschrift Peters, S. 91 (108); kritisch gegenüber diesen Ansätzen Radtke, GA 2000, 19 (35 ff.). 106 Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 60 f.; Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (631); Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (448 f.); vgl. auch Frisch, GA 2006, 273 (279); Nestler-Tremel, StV 1985, 343 (350); Radtke, GA 2000, 19 (35); Roxin, in: Festschrift Maihofer, S. 389 (408 f.). 107 Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 123; ders., in: Festschrift Maihofer, S. 389 (398 ff.); im Grundsatz zustimmend Frisch, in: Festschrift Schroeder, S. 11 (24 ff.); vgl. des Weiteren BVerfGE 32, 98 (108 f.); BVerfG FamRZ 2006, 1094 (1095): „Sinn staatlichen Strafens“ nicht mehr erfüllt.
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rechtliche Schutz eines Verhaltens nicht dazu verleiten, es von vornherein nicht als rechtswidrige Straftat einzuordnen.108 Grundrechte beträfen in erster Linie das Verhältnis zwischen Staat und Bürger und versuchten vornehmlich, die Freiheiten des Einzelnen gegenüber dem Staat zu gewährleisten. Der verfassungsrechtliche Schutz eines Verhaltens bedeute demzufolge nicht, es im Verhältnis zu anderen Bürgern und im Kollisionsfalle mit deren Grundrechten stets erlauben zu müssen. Vielmehr könnten hier die Grundrechte und die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter des Betroffenen dem unbeschränkten Gebrauch der Grundrechte durch den Handelnden entgegenstehen.109 Allein die Berufung auf ein Grundrecht vermöge daher die Strafbarkeit der fraglichen Tat nicht auszuschließen. Soweit sich aber die Grundrechtsausübung im konkreten Einzelfall im verfassungsrechtlich geschützten Rahmen bewege, d. h. gegenüber den jeweiligen widerstreitenden Interessen den Vorrang genieße, erweise sich die Befolgung des Glaubensgebots als zulässige Verwirklichung des Freiheitsrechtes aus Art. 4 Abs. 1 GG und somit wegen der rechtlichen Verankerung der Glaubensausübung als rechtmäßig.110 c) Stellungnahme Der Vorschlag, Art. 4 Abs. 1 GG generell allenfalls als Entschuldigungsgrund zu betrachten, scheint auf dem die Diskussion dominierenden Bild des Gewissenstäters zu beruhen. Hier ist zu Recht äußerst fraglich, ob das Gewissen des Täters das Unrecht der Tat auszugleichen und als Rechtfertigungsgrund einzugreifen vermag. Schließlich weist die Gewissensentscheidung einen persönlichen Charakter auf, so dass ihr keine überindividuelle Verbindlichkeit zuteilwird.111 Im Falle rechtfertigender Wirkung würde das Gewissen trotz seines Widerspruchs zum geltenden Recht jedoch zum objektiv anerkannten Maßstab, da ge108 So indes Günther, in: Festschrift Spendel, S. 189 (193); Peters, in: Festschrift Mayer, S. 257 (276). 109 Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 138; Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (447 f.); vgl. auch Roxin, in: Festschrift Maihofer, S. 389 (405); einschränkend für durch aktives Tun begangene Straftaten Frisch, in: Festschrift Schroeder, S. 11 (17 ff.), der allerdings bei einer Kollision der Gewissensfreiheit mit nicht zu gewichtigen öffentlichen Interessen bereits einen Unrechtsausschluss erwägt. Beispiele zur Abwägung bei der Gewissenstat bei Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 109 ff. 110 Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 367; Höcker, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, S. 67; Frisch, GA 2006, 273 (277); Radtke, GA 2000, 19 (33 ff.); Ranft, in: Festschrift Schwinge, S. 111 (115 f.); kritisch Müller-Dietz, in: Festschrift Peters, S. 91 (106). 111 Neumann, NK, § 17 Rdn. 45; vgl. auch Müller-Dietz, in: Festschrift Peters, S. 91 (107). Treffend Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rdn. 121; ders., in: Festschrift Maihofer, S. 389 (405): „Das Recht, nicht durch Strafe zum Handeln gegen das eigene Gewissen gezwungen zu werden, fordert nur ein Recht auf Nachsicht, nicht auf Legalisierung des eigenen Standpunktes.“; zustimmend Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (448).
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gen die Gewissenshandlung keine Notwehr zulässig wäre.112 Art. 4 Abs. 1 GG will das Gewissen des Einzelnen aber lediglich respektieren und nicht zur Bedingung für die Gültigkeit jeder einzelnen Vorschrift erklären.113 Ansonsten wäre die Rechtsordnung kaum noch in der Lage, ihre verhaltenslenkende Funktion zu erfüllen.114 Nicht mehr durchzuhalten wäre eine rechtfertigende Wirkung jedenfalls bei der Kollision gegensätzlicher Gewissensentscheidungen, die nicht ohne Widerspruch zugleich zu allgemeingültigen Verhaltensnormen erhoben werden können.115 Der Gewissenstäter kann indessen nicht stellvertretend für jene Fallkonstellationen herangezogen werden, in denen sich der Täter bei Begehung einer Straftat auf seine religiöse oder weltanschauliche Vorstellung beruft. Die Gewissensfreiheit bildet nur eine der verschiedenen Ausprägungen des Art. 4 Abs. 1 GG. Ihre Behandlung als Entschuldigungsgrund schließt daher nicht von vornherein aus, bei den sonstigen Gewährleistungen der Grundrechtsnorm eine Rechtfertigung in Betracht zu ziehen. Den Gewissens- und den Glaubenstäter dennoch und zumeist ohne nähere Begründung gleich zu behandeln,116 mag daran liegen, dass religiös motivierte Taten Assoziationen mit religiösen Fundamentalisten und ihrer häufig eigenwilligen Auslegung göttlicher Gebote hervorrufen. Wer auf diese Weise die ohnehin sehr interpretationsoffenen religiösen Schriften nahezu nach Belieben deutet, um seine Handlungen zu verantworten, handelt letztlich nach eigenem Gutdünken. In solchen Fällen kommt der Verweis auf die religiöse oder weltanschauliche Überzeugung somit einer Gewissensentscheidung gleich, weswegen eine Rechtfertigung des fraglichen Verhaltens trotz seiner religiösen Hintergründe ausscheidet und von vornherein allenfalls ein Entschuldigungsgrund in Betracht kommt. Religiös bzw. weltanschaulich motivierte Handlungen und praktizierte Gewissensentscheidungen sind allerdings nicht stets gleichzusetzen, da zwischen allgemein anerkannten religiösen Geboten und Handlungsrichtlinien einerseits und lediglich subjektiven Gewissensvorgaben oder willkürlicher Interpretation religiöser Schriften andererseits ein wesentlicher Unterschied besteht. Vor allem gängige Rituale und Verhaltensformen zur Bekenntnis des jeweiligen Glaubens (z. B. Gebete, Prozessionen, Ruf des Muezzins) sowie vorgeschriebene Formen der Religionsausübung (z. B. das Schächten von Tieren im Judentum und im 112 Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 50; Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (448); vgl. ferner Roxin, in: Festschrift Maihofer, S. 389 (411). 113 Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 49 f.; Rudolphi, in: Festschrift Welzel, S. 605 (629); kritisch Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 367. 114 Roxin, in: Festschrift Henkel, S. 171 (195 f.); vgl. auch Ebert, Der Überzeugungstäter, S. 46 f.; Heinitz, ZStW 78 (1966), 615 (629); kritisch Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 367. 115 Schlehofer, MünchKomm-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdn. 208. 116 Differenzierend hingegen Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 28 und 32.
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Islam, das Werben für das eigene Bekenntnis) sind kaum mit Gewissenstaten zu vergleichen. Insoweit kann die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG, gegebenenfalls in Verbindung mit dem nach Absatz 2 gewährleisteten Recht auf ungestörte Religionsausübung, im konkreten Einzelfall gebieten, das religiöse Verhalten nicht als objektives Unrecht zu werten. Art. 4 Abs. 1 GG bleibt dann als eigenständiger Rechtfertigungsgrund heranzuziehen, sofern nicht bereits eine restriktive Auslegung des jeweiligen Straftatbestandes im Lichte des Grundrechts möglich ist.117 Die hier vorgeschlagene Differenzierung mag angesichts der bisherigen Fälle aus der Praxis fragwürdig erscheinen, die sich zumeist durch eine extreme religiöse Überzeugung des Täters oder den hohen Stellenwert der verletzten Rechtsgüter auszeichneten. Exemplarisch kann auf den Sachverhalt verwiesen werden, den viele bei der Problematik religiös motivierter Taten als Paradebeispiel nennen dürften: die Weigerung eines Zeugen Jehovas, einer Bluttransfusion für das lebensgefährlich verletzte Kind zuzustimmen.118 In solchen spektakulären Fällen bereitet der Weg über die Rechtswidrigkeit Bedenken, da der objektive Unrechtsgehalt außer Frage steht. Jedoch schützt das Grundgesetz nicht jedes religiöse Gebot uneingeschränkt, das die jeweilige Glaubensgemeinschaft allgemein anerkennt und befolgt. Denn die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wird trotz fehlenden Gesetzesvorbehalts nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre Grenzen in den Grundrechten Dritter und sonstigen Rechtsgütern mit Verfassungsrang.119 Religiöse Gebote müssen daher mitunter zurücktreten, insbesondere wenn sie elementare Werte wie die Menschenwürde und das Recht auf Leben zu verletzen drohen.120 Dies lässt in solchen Konstellationen die Rechtfertigung durch Art. 4 Abs. 1 GG also entfallen, schließt die grundsätzliche Einordnung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund indessen nicht aus. Verdeutlicht sei dies am Ehrenmord als einem anderen Extrembeispiel für unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen. Die Tat soll die Ehre der Familie rehabilitieren und dient damit letztlich der Abwehr eines beeinträchtigten Interesses. Konsequenterweise bliebe das Anliegen des Ehrenmordes demnach auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu prüfen. Zwar scheitert stellvertretend der Rechtfertigungsgrund der Notwehr schon an der fehlenden Notwehrfähigkeit der Familienehre sowie dem fehlenden rechtswidrigen Angriff durch das Verhalten des 117 Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 28; Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 138 und 368; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (45 ff.) unter Heranziehung der Voraussetzungen des § 34 StGB; vgl. auch Radtke, GA 2000, 19 (27 f. und 33 f.). 118 OLG Hamm NJW 1968, 212; vgl. dazu schon Teil 2 Kap. 2 III. 1. a). 119 BVerfGE 32, 98 (107 f.); 52, 223 (246 f.); 108, 282 (297); OLG Jena NJW 2006, 1892 (1892); Dreier/Morlok, Art. 4 Rdn. 115; Radtke, GA 2000, 19 (33). 120 Zur notwendigen Abwägung bei der Gewissenstat Tenckhoff, in: Festschrift Rauscher, S. 437 (450 ff.).
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späteren Opfers; die Rechtfertigung eines Ehrenmordes ist demnach offensichtlich abzulehnen. Dies änderte aber nichts daran, die Abwägung zwischen dem Leben des Opfers und der Familienehre allein im Rahmen der Rechtswidrigkeit erörtern zu können. Auch hier vermag die Absurdität der Rechtfertigung eines Ehrenmörders nicht die grundsätzliche dogmatische Einordnung zu beseitigen. Für die Behandlung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund spricht zudem der Vergleich mit Art. 5 Abs. 3 GG. Die ebenso wie die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit wird als Rechtfertigungsgrund allgemein anerkannt, wenngleich sie nicht jeden Eingriff in fremde Rechtsgüter gestattet.121 Ginge ein Künstler für sein Schaffen buchstäblich über Leichen und opferte er das Leben anderer zugunsten seines Kunstwerkes, zöge niemand in Betracht, die Kunstfreiheit lediglich als Entschuldigungsgrund heranzuziehen, weil der objektive Unrechtsgehalt der künstlerisch motivierten Tat unzweifelhaft feststeht. Vielmehr wäre die Rechtfertigung des Künstlers durch Art. 5 Abs. 3 GG nach wie vor grundsätzlich denkbar; sie bliebe ihm allerdings wegen des offensichtlichen Missverhältnisses der kollidierenden Rechtsgüter und dem Zurücktreten der Kunstfreiheit gegenüber anderen Grundrechten verwehrt. Für das Beispiel der verweigerten Bluttransfusion durch einen Zeugen Jehovas gelangen die vorstehenden Überlegungen zu folgendem Ergebnis: Da bei den Zeugen Jehovas als verbreiteter Glaubensgemeinschaft das Verbot von Bluttransfusionen allgemein anerkannt ist, stellt die Befolgung dieser religiösen Verhaltensregel für den Täter keine Gewissensentscheidung mehr dar, deren Leitlinien ausschließlich er selbst als verbindlich erfährt. Somit kommt die Rechtfertigung des Täters aus Art. 4 Abs. 1 GG grundsätzlich in Betracht. Die Religionsfreiheit kann den Unrechtsgehalt des fraglichen Verhaltens aber nur kompensieren, wenn sie gegenüber kollidierenden Grundrechten und Verfassungswerten nicht zurücktritt. Vorliegend genießt das Recht des Kindes auf Leben den Vorrang gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG, weswegen das religiöse Verbot von Bluttransfusionen keine rechtfertigende Wirkung erfährt.122 Scheidet eine Rechtfertigung des religiös motivierten Verhaltens aus, kommt gegebenenfalls noch ein Verbotsirrtum in Betracht, wenn der Täter irrigerweise von der allgemeinen, auch rechtlichen Verbindlichkeit des von ihm befolgten religiösen Gebots ausgeht. Eine derartige Fehlvorstellung bei der Verweigerung einer Bluttransfusion dürfte jedoch in der Regel durch die notwendige „Gewis121 Roxin, Strafrecht AT I, § 18 Rdn. 52; vgl. etwa BGH NStZ 1998, 408 zum Abspielen von Liedern während einer Demonstration als Verunglimpfung des Staates gemäß § 90a Abs. 1 StGB; LG Mainz NJW 2000, 2220 (2221) zur öffentlichen Aufforderung zu Straftaten durch einen Musiker während eines Konzerts. 122 Auf derselben Abwägung beruht die grundsätzliche Zumutbarkeit im Rahmen des § 323c StGB, die Zustimmung in die Bluttransfusion zu erteilen, OLG Hamm NJW 1968, 212 (214).
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sensanspannung“ zu vermeiden sein. Die Strafe des Täters kann demnach gemäß § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB allenfalls gemildert werden. Offenkundig wird die Notwendigkeit, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund zu klassifizieren, wenn Handlungen der bloßen Religionsausübung dienen und mit ihnen keine wesentlichen Eingriffe in die Grundrechte Dritter oder erhebliche Beeinträchtigungen von verfassungsrechtlich geschützten Werten einhergehen. Untersagten strafrechtliche Normen die elementaren Ausdrucksformen des eigenen Bekenntnisses, z. B. durch Gebete, Prozessionen oder den Ruf des Muezzins, wäre es verfehlt, für das entgegenstehende Verhalten lediglich auf einen Entschuldigungsgrund zurückzugreifen. Denn insoweit kann weder von der Verwirklichung objektiven und strafwürdigen Unrechts die Rede sein, noch muss sich der Gläubige in seiner grundrechtlich geschützten Religionsausübung einem Notwehrrecht Dritter ausgesetzt sehen. In einem solchen Fall hat dementsprechend das OLG Jena vor wenigen Jahren die Religionsfreiheit zutreffend als Rechtfertigungsgrund eingeordnet. Zugrunde lag ein Sachverhalt, in dem der Angeklagte einen ökumenischen Festgottesdienst im Erfurter Dom durch laute Zwischenrufe störte und Flugblätter verteilte, mit denen er für seinen eigenen Glauben warb. Das Gericht verurteilte den Angeklagten wegen Hausfriedensbruchs in Tatmehrheit mit Störung der Religionsausübung. Die an sich mögliche Rechtfertigung aus Art. 4 Abs. 1 GG verneinte das Gericht wegen der entgegenstehenden Grundrechte, unter anderem der Kirchenbesucher auf Glaubensfreiheit sowie des veranstaltenden Domkapitels auf Eigentum nach Art. 14 Abs. 1 GG.123 Dem Ansatz, allgemein anerkannte Formen der Religionsausübung nicht als strafwürdiges Unrecht zu betrachten, entspricht auch die gesetzliche Normierung des Schächtens. Zum Verzehr gedachte Wirbeltiere ohne Betäubung verbluten zu lassen, bereitet ihnen nach wohl herrschender, wenngleich wissenschaftlich nicht restlos geklärter Ansicht länger anhaltende Schmerzen.124 Daher steht je nach den Umständen des Einzelfalls eine Strafbarkeit des Schächtens als Tierquälerei nach § 17 Nr. 2 lit. b TierSchG im Raum.125 Gleichwohl wird dieses Ritual im Judentum und in einigen Rechtsschulen im Islam praktiziert, da beide Glaubensgemeinschaften den Verzehr von Blut untersagen.126 Zu diesem Zweck wurde durch das Erste Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986127 die Regelung des § 4a TierSchG eingeführt. 123
OLG Jena NJW 2006, 1892 (1893). Vgl. hierzu Hirt/Maisack/Moritz, § 4a Rdn. 8 ff. 125 So generell Hirt/Maisack/Moritz, § 4a Rdn. 33; einschränkend Lorz/Metzger, § 4a Rdn. 48; Kraemer, Tierschutz und Strafrecht, S. 201 ff. 126 Zum Hintergrund des Schächtens im Islam AG Balingen NJW 1982, 1006 (1007). 127 BGBl. I, S. 1309. 124
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Nach dessen Absatz 2 Nr. 2 können Ausnahmegenehmigungen für das Schächten warmblütiger Tiere erteilt werden, „als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen“.128 Der Gesetzgeber hat dadurch der Religionsfreiheit unter bestimmten Voraussetzungen den Vorrang gegenüber dem Tierschutz eingeräumt. Die behördliche Genehmigung, warmblütige Tiere ohne Betäubung zu schlachten, rechtfertigt wegen des Postulats der Einheit der Rechtsordnung die durch das Schächten an sich verwirklichte Tat nach § 17 Nr. 2 lit. b TierSchG.129 Weitere Beispiele, um die Rechtfertigung durch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG bei allgemein anerkannten religiösen Verhaltensnormen zu illustrieren, dürften rar sein. Schließlich erweist sich das deutsche Strafrecht insoweit im Wesentlichen als glaubenstolerant, als grundrechtlich geschützte Formen der Religionsausübung nur im Extremfall einen Straftatbestand verwirklichen. Zu denken wäre etwa an eine fiktive Norm, die zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit öffentliche Aufforderungen jeder Art unter Strafe stellte und damit auch Aufrufe zum Gebet durch den Muezzin erfasste. Hier liegt es fern, die Ausübung der Religionsfreiheit als an sich strafwürdiges, allenfalls entschuldigtes Unrecht zu bewerten, so dass gegen den Muezzin Notwehrrechte in Betracht kämen. Sofern eine Auslegung der fraglichen Strafnorm im Lichte der Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht möglich erscheint, verbleibt vielmehr lediglich der Weg über die Rechtswidrigkeit. d) Ergebnis Bei der Qualifizierung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund ist wie folgt zu differenzieren: Verwirklicht der Täter einen Straftatbestand, weil er einer rein individuellen Überzeugung 128 Zur Auslegung der Vorschrift BVerfGE 104, 337 (347 ff.); zur vorherigen Genehmigungspraxis Kraemer, Tierschutz und Strafrecht, S. 204 ff. Ein Gesetzentwurf des Bundesrates vom 24. 3. 2010 (BT-Drucks. 17/1226; bereits in der vorherigen Legislaturperiode am 17. 8. 2007 in den Bundestag eingebracht, BT-Drucks. 16/6233) will die Anforderungen in § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG insoweit erhöhen, als zum einen neben den bisherigen Voraussetzungen „vor, während und nach dem Schächtschnitt bei dem Tier im Vergleich zu dem Schlachten mit der vorgeschriebenen vorherigen Betäubung keine zusätzlichen erheblichen Schmerzen oder Leiden auftreten“ dürfen und zum anderen den Antragsteller die generelle Nachweispflicht trifft. 129 OLG Hamm NStZ 1992, 499 (500); Hirt/Maisack/Moritz, § 4a Rdn. 33; Böse, ZStW 113 (2001), 40 (45). So schon vor Einführung des § 4a TierSchG AG Balingen NJW 1982, 1006 (1006); vgl. ferner H. J. Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, S. 14. Allgemein zur rechtfertigenden Wirkung einer behördlichen Erlaubnis Fischer, Vor § 32 Rdn. 5; Lackner/Kühl, Vor § 32 Rdn. 25; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rdn. 61; Paeffgen, NK, Vor §§ 32 ff. Rdn. 201 ff.; Rönnau, LK, Vor § 32 Rdn. 274; Roxin, Strafrecht AT I, § 17 Rdn. 58 ff.
Kap. 4: Rechtswidrigkeit
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folgt, kann Art. 4 Abs. 1 GG allenfalls als Entschuldigungsgrund herangezogen werden. Die Verbindlichkeit eines derart subjektiven Maßstabs vermag allein die persönliche Vorwerfbarkeit entfallen zu lassen, nicht jedoch den objektiven Unrechtsgehalt der Tat zu beseitigen. Dies gilt insbesondere für Gewissens-, aber ebenso für religiös oder weltanschaulich motivierte Täter, wenn ihre Interpretation religiöser Gebote eigenwillig und zweifelhaft erscheint und sie dadurch ihren Ansichten bloß eine unantastbare Grundlage verleihen wollen. Religiös oder weltanschaulich motivierte Handlungen, die innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaft allgemein anerkannt sind, können hingegen nicht lediglich entschuldigt sein. Solche religiösen Gebote entfalten für die jeweiligen Glaubensangehörigen eine generelle Verbindlichkeit. Ist hier der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG im Wege praktischer Konkordanz der Vorrang gegenüber etwaigen widerstreitenden Grundrechten und verfassungsrechtlich geschützten Werten einzuräumen, liegt bereits objektiv kein strafwürdiges Unrecht mehr vor, dessen Begehung im Wege der Notwehr abgewendet werden dürfte. Vor allem bei grundlegenden Formen der Religionsausübung wie der Kundgabe oder der Praktizierung des eigenen Bekenntnisses sowie bei alltäglichen religiösen Ritualen stellt deshalb die Religions- und Weltanschauungsfreiheit einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund dar. Die hier vertretene Differenzierung bedingt zwar im konkreten Einzelfall Abgrenzungsschwierigkeiten, weil die Grenze zwischen allgemein anerkannten religiösen und weltanschaulichen Praktiken und einer nur subjektiv als verbindlich erfahrenen Gewissensentscheidung mitunter fließend verläuft. Wegen der zahlreichen und vielgestaltigen Konstellationen, in denen die Berufung auf die religiöse oder weltanschauliche Überzeugung möglich erscheint, erweist sich eine undifferenzierte Behandlung aber weder als rechtlich angebracht noch als interessengerecht. In den Extrembeispielen religiöser Fundamentalisten, die das Bild der wissenschaftlichen Diskussion beherrschen, wirkt sich der Streit um die rechtliche Behandlung des Art. 4 Abs. 1 GG allerdings ohnehin nicht aus. Denn auf die insoweit maßgebliche, zulasten des Täters ausgehende Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und den kollidierenden Grundrechten und Verfassungswerten hat die Charakterisierung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund keinen Einfluss. 2. Kulturelle Wertvorstellungen als eigenständiger Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrund? Die Erörterungen zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit als eigenständigem Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund werfen abschließend die Frage auf, ob auch den kulturellen Wertvorstellungen insgesamt eine solche strafrechtsrelevante Funktion zukommt. Schließlich bilden religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse einen zentralen Teil der Kultur. Zudem sind die Übergänge von re-
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
ligiösen Gebräuchen zu sonstigen kulturellen Gepflogenheiten im Einzelfall fließend. Allerdings erscheint die Einführung kultureller Wertvorstellungen als eigenständiger Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund130 bedenklich. Gegen deren Gleichbehandlung mit religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen spricht bereits, dass den letztgenannten Anschauungen infolge ihrer zentralen Stellung für den Einzelnen und ihrem Rekurs auf eine höhere Macht zumeist eine größere Verbindlichkeit zuteilwird. Vor allem ist aber die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Grundrecht in Art. 4 Abs. 1 GG aufgenommen. Kulturelle Wertvorstellungen können dagegen allenfalls mittelbar über Art. 3 Abs. 3 GG als unzulässiges Diskriminierungsmerkmal berücksichtigt werden, wonach niemand wegen „[. . .] seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft [. . .] benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. Es fehlt somit an einem rechtlichen Anknüpfungspunkt, um kulturellen Wertvorstellungen im Allgemeinen eine rechtfertigende oder entschuldigende Wirkung zuzugestehen. Letztlich besteht ebenso wenig ein Bedürfnis, einen solchen ungeschriebenen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund zu kreieren. Die vorliegende Arbeit zeigt genügend Wege für das geltende Recht auf, um die kulturelle Prägung des Täters ausreichend zu würdigen. Außer im Rahmen einiger kulturoffener Tatbestandsmerkmale können die Anschauungen des Täters vornehmlich beim sogleich zu erörternden Unrechtsbewusstsein (siehe Kapitel 5) sowie bei der Strafzumessung (siehe Kapitel 7) berücksichtigt werden. Es ergibt sich daher keine Notwendigkeit, die Liste der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe um eine weitere ungeschriebene Variante zu ergänzen.
V. Zusammenfassung Die Vielgestaltigkeit kultureller Wertvorstellungen kann dazu führen, Schutzwürdigkeit und Stellenwert von Rechtsgütern unterschiedlich zu beurteilen. Dementsprechend ist im Einzelfall streitig, ob ein bestimmtes Verhalten gerechtfertigt erscheint. Da eine gesellschaftliche Multikulturalität nicht zugleich eine rechtliche bedingt und wegen der anzustrebenden Rechtsgleichheit vielmehr ein einheitlicher Bewertungsmaßstab angelegt werden muss, bestimmt sich die Rechtfertigung einer Tat im Wesentlichen nach den Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft. Dies gilt vor allem für die Notwehr- bzw. Notstandsfähigkeit von Rechtsgütern sowie die ethische Gebotenheit einer Verteidigungshandlung. Verkennt der Täter infolge seines kulturellen Hintergrundes die 130 Im Common Law wird unter dem Schlagwort „cultural defense“ vermehrt darüber diskutiert, wie in Strafverfahren die kulturelle Prägung des Angeklagten Beachtung finden muss; hierzu statt vieler Renteln, The Cultural Defense, insbesondere S. 185 ff.; ferner Frischknecht, Kultureller Rabatt, S. 31 ff.; Petersdorf, ZStW 118 (2006), 823.
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mangelnde Rechtfertigung seines Verhaltens, unterliegt er einem Erlaubnisirrtum, der sich allerdings in der Regel als vermeidbar erweist und lediglich die Möglichkeit einer Strafmilderung eröffnet. Kulturelle Unterschiede sind gegebenenfalls nicht nur auf Seiten des Täters, sondern auch auf Seiten des Betroffenen zu verzeichnen. Wer in eine Körperverletzung einwilligt, kann die Tat abweichend von den hierzulande allgemeingültigen moralischen Maßstäben als nicht sittenwidrig im Sinne des § 228 StGB erachten. Gleichwohl bleiben die Anschauungen des Einwilligenden zugunsten eines einheitlichen Bewertungsmaßstabs wiederum außer Betracht. Ähnlich wie bei den kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen erlangen aber die kulturellen Wertvorstellungen der Beteiligten unter Umständen als Bewertungsgrundlagen ihre Bedeutung. Bisweilen lässt sich daher erst infolge der Besonderheiten des Einzelfalls eine Rechtfertigungslage annehmen, wenn beispielsweise zwar nicht nach hiesiger Interpretation, aber nach den Ehrvorstellungen der Beteiligten ein Verhalten einen herabwürdigenden Inhalt aufweist. Zu beachten sind kulturelle Ansichten nicht zuletzt dann, wenn das Gesetz selbst sie als zu würdigenden Umstand vorsieht und in den allgemein gültigen Bewertungsmaßstab einfließen lässt. So kommt den Eltern bei Entscheidungen über das Wohl ihres Kindes ein gewisser Entscheidungsspielraum zu, innerhalb dessen sie – wie etwa bei der Zirkumzision – unter anderem religiöse Aspekte berücksichtigen dürfen. Soweit der Täter aus religiösen oder weltanschaulichen Beweggründen handelt, kann er sich auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Sie stellt allerdings ausschließlich für allgemein anerkannte religiöse und weltanschauliche Gebräuche und Gepflogenheiten einen Rechtfertigungsgrund dar. Deren Ausübung bedeutet kein strafwürdiges Unrecht, soweit die Religions- und Weltanschauungsfreiheit den Vorrang gegenüber widerstreitenden Grundrechten und Verfassungswerten genießt. Lässt sich der Täter hingegen von individuellen Überzeugungen wie seiner eigenen Gewissensentscheidung leiten, kommt Art. 4 Abs. 1 GG allenfalls eine entschuldigende Wirkung zu. Über den Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 1 GG hinaus sind kulturelle Wertvorstellungen nicht als eigenständiger Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund anzuerkennen. Kapitel 5
Unrechtsbewusstsein I. Grundlagen Im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs sind die kulturellen Wertvorstellungen des Täters außer bei der Rechtswidrigkeit vor allem bei dem in § 17 StGB geregelten Unrechtsbewusstsein zu berücksichtigen. Unrechtsbewusstsein bedeu-
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
tet, bei Begehung der Tat um deren Unrechtsgehalt zu wissen. Welche Konsequenzen die Fehlvorstellung des Täters über die rechtliche Untersagung seines Verhaltens (sogenannter Verbotsirrtum) nach sich zieht, war in Rechtsprechung und Literatur lange umstritten. Das Reichsgericht war der Ansicht, Unwissenheit schütze nicht vor Strafe. Der Irrtum über das Verbot einer Handlung war demzufolge unbeachtlich und das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit einer Tat keine Voraussetzung der Strafbarkeit.131 In seiner Grundsatzentscheidung vom 18. März 1952132 wendete sich der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs aber gegen diese Auffassung und schloss sich der vom Schrifttum favorisierten Schuldtheorie an. Der Große Senat betonte, dass Strafe Schuld, d. h. die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat erfordere. Dem Täter werde vorgehalten, sich für das Unrecht entschieden zu haben, obwohl er sich rechtmäßig hätte verhalten können.133 Dies bedeutet indes nicht, sich zum Zeitpunkt der Tat bewusst gegen das Recht und für das Unrecht entscheiden zu müssen. Es bedarf also keines aktuellen Unrechtsbewusstseins, um die Tat schuldhaft zu begehen. Vielmehr genügt nach den Ausführungen des Großen Senats, dass der Täter bei dem ihm zumutbaren Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen um den Unrechtsgehalt seines Verhaltens hätte wissen können (sogenanntes potentielles Unrechtsbewusstsein). Schließlich sei der auf freie, verantwortliche und sittliche Selbstbestimmung angelegte Mensch jederzeit dazu angehalten, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und Unrecht zu vermeiden. Demzufolge müsse sich jeder bei jeglichem Verhalten bewusst machen, ob dieses mit der Rechtsordnung im Einklang stehe. Etwaige Zweifel seien durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Ein Schuldvorwurf bleibe gegen den Täter lediglich dann nicht zu erheben, wenn es ihm trotz der zumutbaren Gewissensanspannung nicht möglich war, sich des Unrechts seiner Tat bewusst zu werden. Ansonsten, d. h. bei einem vermeidbaren Verbotsirrtum, sei die Schuld des Täters lediglich gemindert.134 Die vom Großen Senat für Strafsachen aufgestellten Grundsätze hat der Gesetzgeber durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 1969135 in das Strafgesetzbuch übernommen. § 17 StGB qualifiziert seitdem das Unrechtsbewusstsein als selbstständigen Teil der Schuld. Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, schließt dies den persönlichen Tatvorwurf gemäß § 17 Satz 1 StGB allerdings nur aus, wenn der Täter den Irrtum nicht vermeiden konnte. Da die Rechtsprechung insoweit äußerst hohe Anforde131 132 133 134 135
RGSt 61, 242 (258); 63, 215 (218 f.). BGHSt GrS 2, 194. BGHSt GrS 2, 194 (200). BGHSt GrS 2, 194 (201 f.). BGBl. I, S. 717.
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rungen stellt, ist aber zumindest bei Vorschriften des Kernstrafrechts in der Regel von der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums auszugehen.136 Für diesen Fall sieht § 17 Satz 2 StGB eine fakultative Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vor. Die fehlende Unrechtseinsicht des Täters kann unter anderem auf seiner kulturellen Prägung beruhen, die gelegentlich als typische Ursache für mangelndes Unrechtsbewusstsein genannt wird.137 Die Anschauungen des Täters und die der verletzten Norm zugrunde liegenden Wertvorstellungen unterscheiden sich vor allem dann, wenn der Täter einem anderen Kulturkreis als die jeweilige Rechtsordnung angehört. Solche Differenzen treten zum einen dann zu Tage, wenn der Täter im Ausland agiert, seine Tat jedoch gleichwohl nach den §§ 3 ff. StGB dem deutschen Strafrecht unterfällt. Zum anderen ist ebenso denkbar, dass ein aus einem anderen Kulturkreis stammender Täter im Inland handelt. Das Unrechtsbewusstsein bleibt somit sowohl bei internationalen kulturellen als auch und gerade bei intranationalen kulturellen Konflikten138 besonders zu beachten. Neben der allgemeinen Fragestellung, inwiefern die kulturellen Wertvorstellungen des Täters im Rahmen des Unrechtsbewusstseins zu berücksichtigen sind (siehe sogleich II.), ergibt sich speziell für die Fallgruppe der internationalen kulturellen Konflikte eine zusätzliche Problematik. Hier muss dem Täter nicht erst das Bewusstsein fehlen, inhaltlich gegen die – aus seiner Sicht fremde – Rechtsordnung zu verstoßen. Vielmehr zieht er unter Umständen schon überhaupt nicht in Betracht, irgendeinen Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit der fremden Rechtsordnung gesetzt zu haben. Ob und gegebenenfalls inwieweit sich der Täter des grenzüberschreitenden Charakters seines Verhaltens bewusst sein muss, bedarf näherer Erörterung (siehe dazu III.).
II. Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen 1. Allgemeines Die kulturellen Wertvorstellungen des Täters können sich auf verschiedene Weise auf dessen Unrechtsbewusstsein auswirken. So ist gemäß der üblichen Einteilung der Verbotsirrtümer zum einen denkbar, dass der Täter sein Verhalten entgegen der Rechtsordnung generell für erlaubt hält (sogenannter direkter Verbotsirrtum), weil er beispielsweise das von ihm verletzte Rechtsgut überhaupt nicht als schützenswertes Interesse betrachtet. Vornehmlich die Schutzwürdigkeit nicht höchstpersönlicher Rechtsgüter wird von den einzelnen Kulturen zum Teil höchst
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Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 58. Neumann, NK, § 17 Rdn. 8; vgl. des Weiteren Fischer, § 17 Rdn. 8a; Lackner/ Kühl, § 17 Rdn. 2; Vogel, LK, § 17 Rdn. 100; Lesch, JA 1996, 607 (608). 138 Zur Unterscheidung siehe oben Teil 1 Kap. 1 III. 3. b). 137
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
unterschiedlich bewertet.139 Exemplarisch sind Umweltstraftaten und Korruptionsdelikte zu nennen. Trotz des eintretenden Klimawandels und seiner prognostizierten Auswirkungen dürfte noch nicht jede Rechtsordnung die Umwelt als zu schützendes Gut anerkennen, weswegen ein Angehöriger eines fremden Kulturkreises den Unrechtsgehalt umweltbeeinträchtigender Eingriffe eventuell verkennt. Gleiches gilt bei Zuwendungen an Beamte. In einigen Staaten gehören sie zum Alltag bzw. sogar zum guten Ton und garantieren mitunter erst die zügige Bearbeitung eines Vorganges. Hierzulande stehen sie dagegen als Vorteilsgewährung oder Bestechung gemäß den §§ 333 f. StGB unter Strafe. Zum anderen fehlt dem Täter die Unrechtseinsicht, wenn er zwar um die grundsätzliche rechtliche Missachtung seines Verhaltens weiß, es aber unter den konkreten Umständen irrigerweise für gerechtfertigt hält, weil er entweder an die Existenz eines nicht bestehenden Rechtfertigungsgrundes glaubt oder die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes zu seinen Gunsten überdehnt.140 Ein solcher Erlaubnis- oder indirekter Verbotsirrtum kann gleichfalls auf den unterschiedlichen Stellenwert zurückzuführen sein, der dem verletzten Rechtsgut je nach Kulturkreis zuteilwird. Vor allem bei Kollisionen mit anderen Rechtsgütern und Interessen wird ein Täter aufgrund seiner heimatlichen Anschauungen mitunter zu einer Gewichtung gelangen, die mit der hiesigen Rechtsordnung nicht in Einklang steht.141 Inwiefern sich die kulturellen Wertvorstellungen des Täters auf sein Unrechtsbewusstsein auswirken, wurde in Rechtsprechung (siehe dazu 2.) und Schrifttum (siehe dazu 3.) bislang selten behandelt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema erscheint zunächst auch nicht geboten. Schließlich sind die heimatlichen Anschauungen des Täters lediglich einer von vielen möglichen Gründen, weshalb ihm die Unrechtseinsicht bei Begehung einer Tat fehlen kann. Die allgemeinen Grundsätze zum Unrechtsbewusstsein selbst bleiben von der (hier: kulturellen) Ursache des Verbotsirrtums also unberührt.142 Kulturellen Einflüssen ist daher keine qualitative Relevanz für das Unrechtsbewusstsein zuzugestehen. Infolge der zunehmenden interkulturellen Berührungspunkte im beruflichen wie privaten Alltag lässt sich allerdings ein quantitativer Bedeutungszuwachs verzeichnen, der einen näheren Blick auf die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Rahmen des Unrechtsbewusstseins gebietet.
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Zur Diskussion um universale Rechtsgüter siehe oben Teil 2 Kap. 3 II. Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 1; Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 29; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 6; Neumann, NK, § 17 Rdn. 47; ders., JuS 1993, 793 (796). 141 Siehe dazu schon oben Teil 3 Kap. 4 II. 142 Fischer, § 17 Rdn. 6; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 6; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (206 f. und 210). 140
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
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2. Die Behandlung in der Rechtsprechung In der Rechtsprechung war ein auf den heimatlichen Anschauungen des Täters beruhender Verbotsirrtum nur selten Gegenstand veröffentlichter,143 zudem allesamt nicht höchstrichterlicher Entscheidungen.144 Soweit ersichtlich musste sich erstmals das AG Grevenbroich in seinem Beschluss vom 24. September 1982145 mit der Problematik auseinandersetzen, als zwei türkische Staatsangehörige wegen gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung angeklagt werden sollten. Einer der beiden Angeschuldigten hatte in Deutschland geheiratet, seine Ehefrau lebte aber weiterhin bei ihren Eltern. Die Angeschuldigten fingen deswegen zusammen mit zwei weiteren türkischen Staatsangehörigen die Ehefrau beim Verlassen ihrer Arbeitsstelle ab und brachten sie in die Wohnung eines Freundes des Ehemannes. Dort wurde sie einige Zeit später von der Polizei befreit. Das AG Grevenbroich lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, weil es den Angeschuldigten einen schuldausschließenden Verbotsirrtum zubilligte. Das Gericht beschäftigte sich zunächst ausführlich mit dem türkischen Privatrecht und der Rechtsprechung der türkischen Strafgerichte, die in einem ähnlichen Fall aus dem Jahr 1956 eine Freiheitsberaubung verneinten. Der Ehemann sei nämlich als Oberhaupt der ehelichen Verbindung dazu berechtigt, den gemeinsamen Wohnsitz zu bestimmen. Daraus folgerte das AG Grevenbroich, dass die Angeschuldigten ihre Tat nach den türkischen Rechtsvorstellungen als erlaubt betrachteten.146 Dieser Verbotsirrtum sei unvermeidbar, zumal die Angeschuldigten aus einer ländlichen Gegend stammten und „offenbar einfach strukturiert“ seien. Bei dem angeschuldigten Ehemann komme hinzu, zum Zeitpunkt der Tat erst seit zwei Jahren in Deutschland gelebt zu haben.147 Desgleichen bejahte das LG Mannheim in seinem Urteil vom 3. Mai 1990148 einen unvermeidbaren Verbotsirrtum des Täters infolge seiner kulturellen Wertvorstellungen. Angeklagt war ein pakistanischer Staatsangehöriger und Anhänger der islamischen Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB. Die 49-jährige Nachbarin des Angeklagten klopfte abends um 22.30 Uhr an dessen Tür mit der Bitte, einen Krankenwagen zu rufen, nachdem sie zuvor von ihrem Lebenspartner mit einem Messer in den Rücken
143 Zwei unveröffentlichte Entscheidungen finden sich bei Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (213 f.). 144 Das Phänomen der Ehrenmorde und der Blutrache löst die Rechtsprechung entgegen dem hier vertretenen Ansatz gerade nicht über das Unrechtsbewusstsein; siehe dazu oben Teil 2 Kap. 2 II. 2. b). 145 AG Grevenbroich NJW 1983, 528. 146 AG Grevenbroich NJW 1983, 528 (529). 147 AG Grevenbroich NJW 1983, 528 (529). 148 LG Mannheim NJW 1990, 2212 mit Besprechung Sonnen, JA 1990, 358; zum Sachverhalt siehe bereits Teil 2 Kap. 2 III. 1. c).
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gestochen worden war. Obwohl der Angeklagte, der keinen Telefonanschluss besaß, Blut an ihrem Bein bemerkte, schloss er die Tür und legte sich wieder schlafen. Er befürchtete, in die lautstarken, zum Teil körperlichen Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Freund – einem gemeinsamen, regelmäßig alkoholisierten Nachbarn – hineingezogen zu werden. Zudem empfand der Angeklagte Abscheu und Ekel, da die Hilfesuchende nur mit einem Slip und einem T-Shirt bekleidet war und stark nach Alkohol roch. Die Frau legte sich daraufhin wieder in ihr Bett und verstarb dort eine halbe Stunde später an ihren Stichverletzungen, da auch ihr Lebenspartner sich nicht um sie kümmerte. Das LG Mannheim sprach entgegen der ersten Instanz, die eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verhängte, den Angeklagten frei. Es begründete seine Entscheidung unter anderem mit der fehlenden Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfeleistung, in deren Rahmen Persönlichkeit und Herkunft des Täters zu berücksichtigen seien.149 Darüber hinaus konnte nach Auffassung des Gerichts der Angeklagte nicht bestraft werden, weil er sich in einem (unvermeidbaren) Verbotsirrtum befunden habe. Zum einen kenne das pakistanische Strafgesetzbuch einen dem § 323c StGB vergleichbaren Tatbestand nicht; ebenso wenig enthalte der Koran anders als das Christentum ein Gebot, dem notleidenden Mitmenschen zu helfen.150 Zum anderen zähle der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nicht zum sogenannten Kernunrecht, dessen Kenntnis vorausgesetzt werden könne, sondern sei erst (als § 330c StGB) durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935151 geschaffen worden.152 Das Gericht glaubte daher der Einlassung des Angeklagten, nicht um die Strafbarkeit seines Handelns gewusst zu haben. Selbst wenn sich der Angeklagte trotz der dargestellten Hintergründe sittlich zur Hilfeleistung gehalten fühlte, habe er sich dazu nicht als rechtlich verpflichtet erachten müssen.153 Die Unvermeidbarkeit der mangelnden Unrechtseinsicht des Angeklagten stützte das Gericht auf dessen fehlende Erkundigungspflicht. Deren Anforderungen seien bei einem nicht zum Kernunrecht gehörenden Straftatbestand wie § 323c StGB ohnehin gemindert. Zudem handelte es sich bei dem Angeklagten um einen einfachen Arbeiter und Analphabeten, der zur Tatzeit erst seit gut einem Jahr in Deutschland wohnte. Obwohl er mit einer deutschen Frau verheiratet war, lebte er zur Tatzeit noch in dem ihm zugewiesenen Einzimmerappartement. 149 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2212 f.); vgl. dazu schon oben Teil 2 Kap. 2 III. 1. c) und 2. 150 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213). 151 RGBl. I, S. 839. 152 Zur Entstehungsgeschichte des § 330c, nunmehr § 323c StGB, BGHSt 6, 147 (149 ff.); Spendel, LK11, § 323c Rdn. 1 ff. Zuvor war die unterlassene Hilfeleistung nur bei vorangegangener polizeilicher Aufforderung strafbar (§ 360 Abs. 1 Nr. 10 StGB a. F.). 153 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213).
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Infolge seiner geringen Deutschkenntnisse verkehrte er fast ausschließlich mit Landsleuten und war relativ isoliert. Demzufolge sei nicht anzunehmen, dass sich der Angeklagte jemals in einer Situation befand, die ihm nahe gelegt hätte, sich über die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung in Deutschland zu informieren.154 Nach Auffassung des Gerichts lag demzufolge ein „geradezu klassischer Fall des unvermeidbaren Verbotsirrtums“ 155 vor, weswegen es den Angeklagten freisprach. Während die beiden vorstehenden Entscheidungen jeweils einen intranationalen kulturellen Konflikt zum Gegenstand hatten, setzte sich das OLG München in seinem Beschluss vom 7. August 2006156 mit einem internationalen kulturellen Konflikt auseinander. Angeklagt war ein Geschäftsführer aus Österreich, dessen Verlag verschiedenen Einzelhändlern in Deutschland Ansichtskarten zur „Dokumentation Obersalzberg“ 157 anbot und lieferte, die unter anderem ein Gemälde mit einem farbigen Kopfbild Adolf Hitlers zeigten. Der Angeklagte wurde in erster Instanz wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Geldstrafe verurteilt, weil Abbildungen Hitlers im Einzelfall als derartige Kennzeichen im Sinne des § 86a StGB anzusehen seien.158 In Österreich existiert ein entsprechender Straftatbestand nicht, weswegen der Angeklagte auch nicht um die Strafbarkeit seines Verhaltens nach deutschem Recht wusste. Er legte daher Revision gegen seine erstinstanzliche Verurteilung ein. Das OLG München verwarf die Revision des Angeklagten. In den Gründen setzte es sich unter anderem mit der Frage auseinander, ob dessen Verbotsirrtum vermeidbar war. Allgemein führte das Gericht dazu zunächst aus, das Unrechtsbewusstsein erfordere nicht die Kenntnis der Strafbarkeit. Ob die Unrechtseinsicht fehle, bemesse sich vielmehr nach dem jeweiligen Rechtsgut, das der betreffende Straftatbestand schütze. Einem Verbotsirrtum unterliege deshalb, wer „die vom verwirklichten Straftatbestand umfasste spezifische Rechtsgutsverletzung nicht als Unrecht erkennt“.159 Ein solcher Verbotsirrtum sei unter anderem 154
LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213). LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213). 156 OLG München NStZ 2007, 97. 157 Der Obersalzberg bei Berchtesgaden war das Feriendomizil Adolf Hitlers, das während des NS-Regimes zum zweiten Regierungssitz neben Berlin ausgebaut wurde. Die „Dokumentation Obersalzberg“ ist eine Dauerausstellung des Instituts für Zeitgeschichte in München, welche die Geschichte des Ortes vor allem während der NS-Zeit aufarbeitet und ihre Auswirkungen auf Deutschland und die Welt aufzeigt. 158 Vgl. BGHSt 28, 394 (396); 29, 73 (83); BGH MDR 1965, 923; OLG Celle NJW 1991, 1497 (1497); OLG Rostock NStZ 2002, 320 (320); OLG Schleswig MDR 1978, 333; LG Frankfurt am Main NStZ 1986, 167; NStZ 1999, 356; Steinmetz, MünchKomm-StGB, § 86a Rdn. 9; Bartels/Kollorz, NStZ 2002, 297 (298); kritisch Lackner/ Kühl, § 86a Rdn. 2; a. A. Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 14. 159 OLG München NStZ 2007, 97 (98) unter Verweis auf BGHSt 45, 97 (100 f.); siehe hierzu unten Teil 3 Kap. 5 III. 2. 155
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
dann vermeidbar, wenn der Täter Anlass zur Erkundigung habe und dadurch die Einsicht in sein Unrecht gewinnen könne.160 Diese Möglichkeit bejahte das Gericht im konkreten Fall, da der Verlag des Angeklagten seinen Sitz an der Grenze zu Deutschland habe und dort einen nicht unerheblichen Teil seiner Geschäftstätigkeit ausübe. Vor dem geschichtlichen Hintergrund des Nationalsozialismus sei es dem Angeklagten zumutbar gewesen, sich über die Rechtslage in Deutschland zu informieren. Die Straflosigkeit seines Verhaltens nach österreichischem Recht bleibe insoweit ohne Belang und vermöge nicht die Unvermeidbarkeit seines Verbotsirrtums zu begründen.161 3. Die Behandlung in der Literatur Im Schrifttum haben sich bislang, soweit ersichtlich, lediglich Laubenthal und Baier eingehend mit den Auswirkungen kultureller Wertvorstellungen auf das Unrechtsbewusstsein beschäftigt.162 Sie stellen zunächst fest, dass für die Anwendung des § 17 StGB grundsätzlich unerheblich sei, wie nahe der ausländische Straftäter der inländischen Rechtsordnung stehe und ob er beispielsweise schon seit Jahren in Deutschland lebe oder hier nur seinen Urlaub verbringe.163 Allerdings sei das Unrechtsbewusstsein des Täters umso eher einem Wandel unterworfen, je intensiver sich sein Kontakt mit der für ihn fremden Rechtsordnung gestalte. Insofern müsse bei ausländischen Tätern besonders beachtet werden, das Unrechtsbewusstsein zum entscheidenden Zeitpunkt der Tat zu prüfen. Eine etwaige spätere Verfeinerung des Unrechtsbewusstseins sei hingegen ausschließlich für neue oder noch andauernde Rechtsverstöße bedeutsam.164 Um das Unrechtsbewusstsein eines ausländischen Täters im konkreten Einzelfall zu ermitteln, dürfe nicht allein auf die Gesetzeslage im Heimatstaat des Täters abgestellt werden, da sie durch eine entgegenstehende Rechtspraxis überlagert und durchdrungen sein könne. Dies gelte nicht zuletzt bei Staaten, in denen zwischen geschriebenem Recht und überlieferten gesellschaftlichen Traditionen große Unterschiede bestünden.165 Ergänzend zu diesen Ausführungen darf exemplarisch die Türkei genannt werden, deren Strafgesetze sich stets maßgeblich an europäischen Vorbildern orientierten, während in der Bevölkerung religiös und gesellschaftlich geprägte Rechts- und Moralvorstellungen weit verbreitet blieben.166 Der eigentliche Ursprung eines mangelnden Unrechtsbewusstseins ausländischer Täter lasse sich daher nicht auf ihre fremde Staatsangehörigkeit, son160 161 162 163 164 165
OLG München NStZ 2007, 97 (99). OLG München NStZ 2007, 97 (99). Laubenthal/Baier, GA 2000, 205. Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (206). Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (209). Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (214 f.).
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
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dern auf ihre Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturkreis und die dadurch bedingte Sozialisierung in einer anderen Gesellschaft zurückführen.167 Von der fehlenden Unrechtseinsicht ist die sich anschließende, für die Schuld ausschlaggebende Frage nach der Vermeidbarkeit zu unterscheiden. Die Staatsangehörigkeit erweise sich insoweit wiederum als bedeutungslos, da auch ausländische Täter ihren Verbotsirrtum vermeiden könnten, wenn sie bei Anspannung ihres Gewissens bzw. bei Erfüllung ihrer Erkundigungspflicht das Unrecht ihrer Tat einsähen. Jedoch vermögen sich die heimatlichen Wertvorstellungen auf das Ergebnis der Gewissensanspannung auszuwirken. Das Gewissen erfahre gerade infolge anderer Wertmaßstäbe eine Prägung, die dem Täter die Unrechtseinsicht unter Umständen verschließe. Bestehe in einem solchen Fall keine Erkundigungspflicht des Täters, bleibe ihm die Unvermeidbarkeit seines Verbotsirrtums zuzugestehen.168 Gerade der Umfang der Erkundigungspflicht sei allerdings ein Aspekt, der bei ausländischen Tätern besonderes Augenmerk verdiene. Übernehme ein Ausländer freiwillig eine berufliche oder wirtschaftliche Tätigkeit, bei der spezielle Rechtsregeln zu beachten seien, sei er insoweit nicht anders als ein Inländer zu behandeln. Beispielsweise müsse sich der ausländische Gewerbetreibende oder Gastwirt in gleichem Maße über einschlägige Vorschriften erkundigen wie sein einheimischer Konkurrent.169 Diese Grundsätze ließen sich abseits spezieller beruflicher Aktivitäten generalisieren. Der Eintritt in die deutsche Rechtsgemeinschaft, d. h. ein auf Dauer angelegter Aufenthalt, der über die Durchreise oder einen kurzen Zeitraum hinausgehe, begründe für einen Ausländer die Pflicht, sich über das inländische allgemeine Normengefüge zu informieren. Komme der ausländische Täter seiner Erkundigungspflicht nicht nach, könne dies zwar sein fehlendes Unrechtsbewusstsein zum Zeitpunkt der Tat nicht verhindern. Das in der Missachtung der Erkundigungspflicht liegende Vorverschulden führe aber zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, da keine Simultaneität von Tatbegehung und Erkundigungspflicht erforderlich sei. Etwas anderes gelte nur für einen Täter mit stark divergierender Sozialisation, der sich vor dem inländischen Wertesystem infolge einer so großen Scheu vor dem Fremden derart verschließe, dass ihm die unterlassene Informationsbeschaffung nicht vorzuwerfen sei.170
166 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 48 und 56. Zur Mehrehe E. E. Hirsch, in: Festschrift Schelsky, S. 211 (220 ff.); vgl. zur Blutrache Grünewald, NStZ 2010, 1 (6); Kudlich/Tepe, GA 2008, 92 (96 ff.). 167 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (215); vgl. bereits Timpe, GA 1984, 51 (53 f.). 168 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (220). 169 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (220); ebenso Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 58. 170 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (220 f.).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
4. Stellungnahme a) Kulturelle Wertvorstellungen und Unrechtsbewusstsein Den Ausführungen von Laubenthal und Baier bleibt weitgehend zuzustimmen. Klarstellend sei bemerkt, nicht zwischen deutschen und ausländischen Tätern, sondern zwischen den hierzulande vorherrschenden Wertvorstellungen und den heimatlichen Anschauungen des Täters unterscheiden zu müssen.171 Laubenthal und Baier selbst weisen in diesem Zusammenhang auf die Einbürgerung von Personen hin, die deren eigenes Werte- und Normverständnis unberührt lasse.172 Abweichende Vorstellungen von Recht und Unrecht sind des Weiteren auch bei deutschen Staatsangehörigen denkbar, die im Ausland aufwachsen und daher durch einen anderen Kulturkreis geprägt werden. Umgekehrt können ausländische Staatsangehörige in Deutschland nach dem hiesigen Wertesystem erzogen werden. Maßgeblich sind also allein die kulturellen Wertvorstellungen des Täters; eine ausländische Staatsangehörigkeit dient allenfalls als Indiz für eine abweichende Anschauung. Die heimatlichen Anschauungen des Täters, die mit der inländischen Werteordnung nicht übereinstimmen, bilden allerdings nur einen von vielen möglichen Gründen für die fehlende Unrechtseinsicht. Welche Rechtsfolgen ein kulturell bedingter Verbotsirrtum nach sich zieht, bestimmt sich demnach nach den allgemeinen Grundsätzen zum Unrechtsbewusstsein.173 Der grenz- und kulturübergreifende Charakter einer solchen Fallkonstellation bietet aber hinreichenden Anlass, einzelne Aspekte eingehend zu betrachten. Besonderes Augenmerk verlangen vor allem Begründung und gegebenenfalls Umfang der Erkundigungspflicht des Täters, der mit einer für ihn fremden Rechtsordnung in Kontakt tritt. b) Gegenstand des Unrechtsbewusstseins Näherer Erörterung bedarf zunächst der Gegenstand des Unrechtsbewusstseins. Es bezieht sich nach allgemein anerkannter Auffassung allein auf die rechtliche Würdigung eines Verhaltens, nicht hingegen auf seine ethische Bewertung.174 Zwischen Recht und Moral muss also kategorisch unterschieden werden. Dass der Täter sein Verhalten als moralisch verwerflich erachtet, ist daher weder Vo171
Vgl. schon Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 48. Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (218 f.). 173 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 142. 174 BGHSt GrS 2, 194 (202); 10, 35 (41); OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 60 (61); LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213); Fischer, § 17 Rdn. 3; Heuchemer, BeckOKStGB, § 17 Rdn. 7; Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 9; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 2; Neumann, NK, § 17 Rdn. 12 f.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 4; Vogel, LK, § 17 Rdn. 13; Kindhäuser, AT, § 28 Rdn. 8; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 12; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (207); Neumann, JuS 1993, 793 (794). 172
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
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raussetzung noch Beleg für seine Unrechtseinsicht, sondern indiziert allenfalls – worauf später einzugehen sein wird – die Vermeidbarkeit seines Verbotsirrtums.175 Dem Täter kann das Unrechtsbewusstsein deshalb fehlen, obgleich er sein Handeln als sozialschädlich erachtet. Den Ausschlag gibt, ob er sich rechtlich verpflichtet fühlt, von seinem Tun abzusehen. Dies gilt nicht zuletzt, wenn sich die kulturellen Wertvorstellungen des Täters von denen der inländischen Gesellschaft unterscheiden, wie dies das schon geschilderte Urteil des LG Mannheim vom 3. Mai 1990 belegt.176 Das Gericht billigte dem wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagten pakistanischen Staatsangehörigen und Anhänger der islamischen Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zu. Zwar fühlte sich der Angeklagte eventuell sittlich zur Hilfeleistung gehalten. Da aber das pakistanische Strafgesetzbuch keinen dem § 323c StGB vergleichbaren Tatbestand kenne, musste sich der Angeklagte jedenfalls nicht als rechtlich dazu verpflichtet erachten.177 Bezieht sich somit die Einsicht des Täters nur auf rechtliche Gesichtspunkte, bleibt allerdings umstritten, welcher juristischen Konsequenzen er sich im Einzelnen bewusst sein muss. Nach herrschender Auffassung soll genügen, dass der Täter – wenngleich nicht in rechtstechnischer Beurteilung, doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Bewertung – das Unrechtmäßige seiner Tat erkenne178 oder die als möglich erfasste Begehung von Unrecht billigend in Kauf nehme (sogenanntes bedingtes Unrechtsbewusstsein).179 Der Täter müsse sich also bewusst sein, gegen die durch das verbindliche Recht gesetzte Werteordnung zu verstoßen.180 Hingegen brauche er nicht zu wissen, wie die Rechtsordnung das mit der Tat verwirklichte Unrecht ahnde; insbesondere bedürfe es weder der Kenntnis der einschlägigen Strafvorschrift im Speziellen noch der 175 Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 10; Neumann, NK, § 17 Rdn. 14 und 65; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 4; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 12; Neumann, JuS 1993, 793 (794). 176 Siehe oben Teil 3 Kap. 5 II. 2. 177 LG Mannheim NJW 1990, 2212 (2213). 178 BGHSt GrS 2, 194 (202); 10, 35 (41). 179 BGHSt 4, 1 (4); BGH NStZ 1996, 236 (237); NStZ 1996, 338 (338); OLG Braunschweig NStZ-RR 1998, 251 (252); OLG Düsseldorf MDR 1984, 866; OLG Hamburg GA 1967, 285 (285); Fischer, § 17 Rdn. 5; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 4; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 5; Dölling, JR 2000, 379 (380); Otto, Jura 1990, 645 (648); weiter Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 23; Neumann, NK, § 17 Rdn. 33: der Täter müsse lediglich mit der Möglichkeit rechnen, Unrecht zu tun; a. A. Puppe, in: Festschrift Rudolphi, S. 231 (235 f.); differenzierend Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 34 m.w. N.; Paeffgen, JZ 1978, 738 (745 f.): analoge Anwendung der Regeln über den Verbotsirrtum; vgl. auch Kunz, GA 1983, 457 (468 ff.); Warda, in: Festschrift Welzel, S. 499 (529 ff.). 180 BGHSt 15, 377 (383); 52, 227 (240); OLG Celle NJW 1987, 78 (79); Fischer, § 17 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 4.
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Kenntnis der Strafbarkeit im Allgemeinen.181 Es genüge bereits die Vorstellung, gegen eine privat- oder öffentlich-rechtliche Norm zu verstoßen.182 Ein derart weites Verständnis der Unrechtseinsicht erweist sich aus mehreren Gründen als fraglich. Selbst wenn dem juristischen Laien häufig die Differenzierung zwischen den einzelnen Gerichtsbarkeiten nicht bekannt ist und er vornehmlich Verfahren vor den ordentlichen Gerichten verwechselt, differenziert selbst er danach, welche konkreten gerichtlichen Konsequenzen sein Verhalten nach sich zieht. So stellt es für ihn einen qualitativen Unterschied dar, ob er ausschließlich von dem Betroffenen seines Handelns in eine rechtliche Auseinandersetzung verwickelt wird und gegebenenfalls verklagt zu werden droht, oder ob er sich wegen seines Tuns gegenüber staatlichen Behörden zu verantworten und ein Bußgeld, einen Strafbefehl oder sogar eine öffentliche Anklage zu erwarten hat. Lediglich solche Sanktionen können die notwendige präventive Wirkung entfalten und das Verhalten des Täters eindringlich lenken und leiten. Daher erscheint allein in diesem Fall der persönliche Vorwurf gerechtfertigt, der Täter habe sich bei seiner Missachtung der Rechtsordnung bewusst für das Unrecht entschieden. Zwischen einer „einfachen“, allein von dem Betroffenen selbst gerichtlich zu verfolgenden, und einer staatlich sanktionierten, mit Geldbuße oder Geld- und Freiheitsstrafe bewehrten, Missachtung des Rechts differenzieren zu müssen, wird deutlich, wenn sich das Verbot eines Verhaltens erst aufgrund einer Abwägung widerstreitender Rechtsgüter ergibt. Das Beispiel eines vermeintlichen Aggressiv- oder Defensivnotstandes vermag dies zu veranschaulichen. Hält der Handelnde sich hier infolge eines Rechtsirrtums für gerechtfertigt, obwohl er in Kenntnis aller tatsächlichen Umstände z. B. die Grenzen des Rechtfertigungsgrundes überschreitet, unterliegt er nach allgemeinen Grundsätzen einem Erlaubnis- oder indirekten Verbotsirrtum. Wenn mit der bislang herrschenden Auffassung schon das Bewusstsein um zivil- oder öffentlich-rechtliche Folgen für die Unrechtseinsicht genügen sollte, müsste die Kenntnis des Täters um etwaige zivilrechtliche Schadensersatzansprüche, die selbst bei gerechtfertigtem Verhalten in Betracht kommen (vgl. § 228 Satz 2 BGB für die selbstverschuldete Gefahr sowie § 904 Satz 2 BGB im Generellen),183 ihm die Berufung auf die Verbotsunkenntnis von vornherein verwehren.
181 BGHSt GrS 2, 194 (202); 10, 35 (41); 15, 377 (383); 45, 97 (100 f.); BGH wistra 1986, 218 (218); NStZ 1996, 236 (237); Fischer, § 17 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 17 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 4; Kindhäuser, AT, § 28 Rdn. 8; Dölling, JR 2000, 379 (379). 182 BGHSt 52, 227 (240); Rudolphi, SK-StGB, § 17 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 5; Rengier, AT, § 31 Rdn. 5; vgl. auch RGSt 70, 141 (142); Vogel, LK, § 17 Rdn. 19; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 13; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 41; differenzierend Walter, Kern des Strafrechts, S. 303 f. 183 Zu § 228 BGB Dennhardt, BeckOK-BGB, § 228 Rdn. 12; Palandt/Ellenberger, § 228 Rdn. 9; Grothe, MünchKomm-BGB, § 228 Rdn. 13; Jauernig/Jauernig, § 228
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
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Zudem legt die Vielgestaltigkeit kultureller Wertvorstellungen nahe, zwischen dem Wissen um mögliche rechtliche Schritte durch den Betroffenen selbst und dem Bewusstsein staatlicher Sanktionen zu unterscheiden. Zwar werden insbesondere höchstpersönliche Rechtsgüter zumeist als schutzwürdig anerkannt,184 über die Art und Weise ihrer rechtlichen Gewährleistung muss dagegen kein kulturübergreifender Konsens bestehen. Unterschiede ergeben sich vor allem dann, wenn Rechtsgüter in Widerstreit treten. Exemplarisch darf auf die Kollision von Meinungsfreiheit und Ehre bei herabwürdigenden Äußerungen verwiesen werden. In vielen Staaten wie z. B. in Deutschland sind ehrverletzende Aussagen grundsätzlich strafbar, während sie in anderen Rechtsordnungen, z. B. in Australien und in den Vereinigten Staaten von Amerika,185 lediglich zivilrechtliche Abwehr- oder Unterlassungsansprüche nach sich ziehen. In solchen Fallgestaltungen erscheint es nicht angebracht, für das Unrechtsbewusstsein die Kenntnis des Täters um die (aus seiner Sicht: ausschließlich) zivilrechtliche Bedenklichkeit seines Verhaltens ausreichen zu lassen. Erachtet jemand aufgrund seiner heimatlichen Anschauungen eine verbale und mitunter ehrbeeinträchtigende Auseinandersetzung als eine reine, gegebenenfalls mit Hilfe der Gerichte ausgetragene Privatangelegenheit, ohne hierbei mit staatlichen Sanktionen zu rechnen, kann ihm nicht vorgeworfen werden, sich des Unrechts seiner Tat bewusst gewesen zu sein. Allenfalls bleibt ihm vorzuhalten, sein Verhalten nach seiner eigenen kulturellen Prägung ausgerichtet und sich nicht hinreichend über die Regelungen der von ihm verletzten Rechtsordnung informiert zu haben. Dieses Versäumnis betrifft aber nicht die Unrechtseinsicht, sondern erst den anschließend zu erörternden Gesichtspunkt, ob der Verbotsirrtum vermeidbar war, dem Täter etwa eine Erkundigungspflicht oblag. Eine im Vordringen befindliche Auffassung nimmt daher zu Recht an, dass die Unrechtseinsicht das Bewusstsein des Täters um die staatliche Sanktionierung seines Verhaltens voraussetzt.186 Solche Sanktionen sind neben der Androhung von Geld- und Freiheitsstrafe jedenfalls die Geldbußen des Ordnungswidrigkeitenrechts.187 Für den rechtsunkundigen Bürger stellt es in der Regel keinen UnRdn. 3. Zu § 904 BGB Fritzsche, BeckOK-BGB, § 904 Rdn. 18; Jauernig/Jauernig, § 904 Rdn. 5; Säcker, MünchKomm-BGB, § 904 Rdn. 1. 184 Siehe dazu oben Teil 2 Kap. 3 II. 185 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 307 ff. 186 Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 15; Neumann, NK, § 17 Rdn. 21; ders., JuS 1993, 793 (795); vgl. auch OLG Stuttgart NJW 2006, 2422 (2423), das zwischen der ordnungsrechtlichen und der strafrechtlichen Seite des Verbots privater Sportwettenvermittlung unterscheidet. 187 Neumann, NK, § 17 Rdn. 28; ders., JuS 1993, 793 (795); vgl. ferner OLG Celle NJW 1987, 78 (79); differenzierend OLG Stuttgart NStZ 1993, 344 (345); Momsen, SSW-StGB, § 17 Rdn. 4; enger Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 8; Laubenthal/ Baier, GA 2000, 205 (208); Zabel, GA 2008, 33 (45); im Ergebnis ebenso AG Göttingen NJW 1983, 1209 (1210): Kenntnis der Strafbarkeit erforderlich.
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terschied dar, ob sein Verhalten als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße oder als wenig erhebliche Straftat mit einer Geldstrafe geahndet wird. Des Weiteren belegt die Abschaffung der Übertretungen durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974188 und ihre weitgehende Ersetzung durch Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts, wie fließend die Grenzen zwischen Verwaltungsunrecht und strafbarem Unrecht verlaufen. Nicht ausreichend für die Unrechtseinsicht des Täters dürfte hingegen seine Vorstellung sein, für sein Verhalten lediglich mit Disziplinarmaßnahmen belangt zu werden.189 Solche Rechtsfolgen ermöglicht nämlich erst das spezielle Anstellungsverhältnis zwischen dem Staat und dem Amtsträger oder einem sonstigen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten. Insoweit tritt der Staat deshalb nicht als generell übergeordnete, hoheitliche Institution auf, weswegen Disziplinarmaßnahmen nicht den Rang allgemeiner staatlicher Sanktionen einnehmen.190 c) Kulturoffene Aspekte des Unrechtsbewusstseins aa) Unrechtseinsicht Nach den vorstehenden Überlegungen besitzt der Täter nur dann die notwendige Unrechtseinsicht, wenn er zum Zeitpunkt der Tat um die staatliche Sanktionierbarkeit seines Verhaltens weiß. Er muss sich also der Begehung einer Straftat oder zumindest einer Ordnungswidrigkeit bewusst sein. Ob der insoweit unbedarfte Täter hätte wissen müssen, dass sein Verhalten hoheitliche Sanktionen nach sich zieht, bleibt erst bei der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums zu berücksichtigen, lässt aber die fehlende Unrechtseinsicht selbst unberührt. Ist der Täter nach wie vor durch seine heimatlichen Wertvorstellungen geprägt und unterscheiden sich seine Anschauungen von den inländischen, kann ihm die Einsicht in das begangene Unrecht fehlen. Zwar erscheint dies unbillig, wenn der Täter sich bereits für längere Zeit im Inland aufhält. Es vermag sich dann nämlich auf sein mangelndes Unrechtsbewusstsein zu berufen, wer sich (gegebenenfalls bewusst) isoliert und dem Dialog mit den inländischen kulturellen Gepflogenheiten verschließt. Dies bedeutete eine Privilegierung gegenüber dem integrationswilligen Täter, der infolge seiner Kenntnis des hiesigen Wertegefüges, selbst wenn es nicht mit seinem eigenen übereinstimmt, kaum einem Verbotsirrtum unterliegt. Allerdings wird dem Täter im Rahmen des Unrechtsbewusstseins gerade nicht vorgehalten, sich nicht integriert zu haben. Die persönliche Vorwerfbarkeit 188
BGBl. I, S. 469. Neumann, NK, § 17 Rdn. 29; ders., JuS 1993, 793 (795); vgl. auch Momsen, SSW-StGB, § 17 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 5; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (208). 190 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 12. 189
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einer Tat bestimmt sich allein danach, ob der Täter die Rechtsordnung seines Aufenthaltsstaates sehenden oder jedenfalls nicht blinden Auges verletzt. Wie lange sich der Täter schon im Inland befindet, bleibt unter Umständen jedoch für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums von Bedeutung. Ein Indiz für die Unrechtseinsicht von Angehörigen anderer Kulturkreise bildet vornehmlich die Rechtsordnung des Heimatstaates des Täters. Steht das fragliche Verhalten dort unter Strafe, muss in der Regel von der Verbotskenntnis des Täters ausgegangen werden.191 Allerdings bleibt zumindest zweierlei zu bedenken. Zum einen ist selbst bei hierzulande aufgewachsenen Tätern ein Verbotsirrtum nicht von vornherein ausgeschlossen. Demzufolge verbietet sich ebenso bei Tätern aus einem anderen Kulturkreis, aus dem sanktionsbewehrten Verbot eines Verhaltens in ihrem Heimatstaat zwingend deren Unrechtsbewusstsein abzuleiten. Dies betrifft vor allem Vorschriften des Nebenstrafrechts, bei denen bereits angesichts der Fülle von Normen selbst bei weitgehend übereinstimmenden kulturellen Wertvorstellungen nicht automatisch die Unrechtseinsicht des Täters angenommen werden kann.192 Zum anderen erfährt das Recht nicht in jedem Staat eine derart ausgeprägte Verbindlichkeit wie in Deutschland. In einigen Kulturen nehmen traditionelle Sitten, Anschauungen und Gebräuche einen besonders hohen Stellenwert ein und vermögen das geschriebene Recht gewissermaßen zu derogieren.193 Dominieren gesellschaftliche Regeln derart, dass die entgegenstehenden staatlichen Vorschriften faktisch nicht mehr angewendet werden, darf nicht ohne Weiteres aus der Rechtslage in dem Heimatstaat des Täters dessen Unrechtseinsicht gefolgert werden. Ebenso wenig muss in dem umgekehrten Fall, d. h. wenn die heimatliche Rechtsordnung des Täters keine mit dem hiesigen Recht vergleichbare staatliche Sanktion vorsieht, sogleich ein Verbotsirrtum vorliegen. Das Unrechtsbewusstsein des Täters kann sich auch aus anderen Aspekten ergeben, namentlich den kulturellen, z. B. religiösen oder gesellschaftlichen Anschauungen des Täters. Stimmen sie mit den Wertvorstellungen überein, die in der inländischen Rechtsordnung zum Ausdruck kommen, indiziert dies die Unrechtseinsicht des Täters. Bestehen dagegen Unterschiede, wird wesentlich auf die Integration des Täters in die inländische Rechtsgemeinschaft abzustellen sein. Je länger sich der Täter in Deutschland aufhält und je ausgeprägter seine sozialen Kontakte mit der einhei191
Vgl. BGHSt 46, 279 (287). OLG Stuttgart NJW 2006, 2422 (2423); Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 3.1; Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 81; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 15; Walter, Kern des Strafrechts, S. 320; Timpe, GA 1984, 51 (54); vgl. auch Satzger, Europäisierung des Strafrechts, S. 646 für gemeinschaftsrechtlich beeinflusste Strafvorschriften. 193 Zum Beispiel der Abschaffung der Mehrehe in der Türkei E. E. Hirsch, in: Festschrift Schelsky, S. 211 (220 ff.). 192
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
mischen Gesellschaft sind, sei es am Arbeitsplatz, im Vereinsleben oder im Freundes- und Bekanntenkreis, desto eher wird der Täter um die hiesigen Vorschriften zumindest des Kernstrafrechts wissen. Lebt der Täter stattdessen isoliert oder verbringt er seine Zeit nur unter Angehörigen seines eigenen Kulturkreises, wird er häufig das Unrecht seiner Tat nicht erkennen und sich in einem Verbotsirrtum befinden. bb) Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1) Grundlagen Fehlt dem Täter das notwendige Unrechtsbewusstsein, ergeben sich die Rechtsfolgen aus § 17 StGB. Danach ist entscheidend, ob der Verbotsirrtum vermeidbar war, d. h. ob der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz aller seiner geistigen Erkenntniskräfte und seiner sittlichen Wertvorstellungen zur Unrechtseinsicht hätte gelangen können.194 Angehörige aus anderen Kulturkreisen dürfen dabei nicht ihre heimatlichen Anschauungen zugrunde legen, sondern lediglich die Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft.195 Gelangt der Täter durch die, von der Rechtsprechung bildlich als Gewissensanspannung bezeichnete196 Selbstprüfung zwar nicht zur Unrechtseinsicht, jedoch zu Zweifeln über die staatliche Sanktionierung seines Verhaltens, so hat er diesen Bedenken nachzugehen und sich über die Berechtigung seiner Zweifel zu informieren.197 Als unvermeidbar erweist sich ein Verbotsirrtum demzufolge, wenn der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten die hoheitliche Ahndung seines Tuns von vornherein nicht in Erwägung ziehen muss und ihn demzufolge auch keine Erkundigungspflicht trifft. Außerdem bleibt dem Täter die fehlende Unrechtseinsicht nicht vorzuwerfen, wenn seine Zweifel durch einen unzutreffenden Rechtsrat ausgeräumt werden, auf dessen Richtigkeit er gleichwohl vertrauen darf. Unterliegt der Täter einem solchen unvermeidbaren Verbotsirrtum, handelt er gemäß § 17 Satz 1 StGB ohne Schuld. Ansonsten hat das Gericht immerhin die Möglichkeit, die Strafe gemäß § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB zu mildern.
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BGHSt 4, 1 (5); 4, 236 (243); 9, 164 (172). BGHSt 4, 1 (5). 196 BGHSt GrS 2, 194 (201 f. und 209); 3, 357 (365 f.); 4, 1 (5); 4, 236 (243); 9, 164 (172); 22, 314 (317 f.); kritisch gegenüber dem Begriff der Gewissensanspannung Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 38; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 46; Mattil, ZStW 74 (1962), 201 (213 ff.); Neumann, JuS 1993, 793 (797). 197 BGHSt 4, 1 (5); 4, 236 (243); 9, 164 (172); 21, 18 (20); BayObLG NJW 1980, 1057 (1058); OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2003, 263 (263); Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 36; näher Fischer, § 17 Rdn. 9 ff.; Neumann, NK, § 17 Rdn. 67 ff.; Walter, Kern des Strafrechts, S. 307 ff. 195
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Ob der Täter die fehlende Unrechtseinsicht hätte vermeiden können, bestimmt sich somit nach dem Ergebnis der erforderlichen Gewissensanspannung sowie gegebenenfalls der durch Zweifel ausgelösten Erkundigungspflicht. Die kulturellen Wertvorstellungen des Täters erlangen vornehmlich bei dem ersten Schritt Bedeutung, wenn es zu entscheiden gilt, ob er überhaupt in der Lage war, das Unrecht seines Verhaltens einzusehen [dazu sogleich (2)]. Dagegen werden sich die heimatlichen Anschauungen des Täters kaum auf die Erfüllung seiner Erkundigungspflicht auswirken: Ob ein rechtlicher Rat so objektiv, sorgfältig, pflichtgemäß und verantwortungsbewusst erstellt wurde, dass er die Schuld des Täters trotz inhaltlicher Unrichtigkeit auszuschließen vermag, richtet sich nach objektiven und von den Ansichten des Täters unabhängigen Maßstäben wie z. B. der Zuständigkeit, Unvoreingenommenheit und Sachkunde der Auskunftsperson.198 In Betracht kommt aber, dem Täter aufgrund seiner heimatlichen Anschauungen eine besondere Erkundigungspflicht aufzuerlegen, um vorhersehbare Verbotsirrtümer infolge kultureller Differenzen zu vermeiden [dazu (3)]. (2) Kulturelle Vorstellungen und Gewissensanspannung Für die notwendige Unrechtseinsicht muss der Täter sich nicht wissentlich gegen das Recht und für das Unrecht entscheiden, mit anderen Worten kein aktuelles Unrechtsbewusstsein aufweisen. Vielmehr genügt die Möglichkeit, den Unrechtsgehalt der Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung zu erkennen. Auch das sogenannte potentielle Unrechtsbewusstsein muss sich nach der hier vertretenen Auffassung auf die staatliche Ahndung des fraglichen Verhaltens beziehen. Demnach reicht das bloße Bewusstsein um etwaige zivil- oder öffentlich-rechtliche Konsequenzen zwar nicht aus, um die aktuelle Unrechtseinsicht des Täters zu begründen. Es gibt jedoch Anlass dazu, hoheitliche Sanktionen zu erwägen, und kann eine entsprechende Erkundigungspflicht auslösen. Ansonsten folgt das potentielle Unrechtsbewusstsein weitgehend denselben Kriterien wie die aktuelle Unrechtseinsicht. Starke Indizien stellen wiederum die Rechtslage im Heimatstaat des Täters sowie seine kulturellen Wertvorstellungen dar. Erweist sich danach das betreffende Verhalten als rechtlich zulässig und werden keine Bedenken hinsichtlich seiner Sanktionierbarkeit hervorgerufen, gibt im Wesentlichen die Integration des Täters in die inländische Rechtsgemeinschaft den Ausschlag. Je mehr sich der Täter in das gesellschaftliche Leben eingliedert und je mehr er in Kontakt mit der hiesigen Rechts- und Sittenordnung tritt, desto
198 Vgl. BGHSt 40, 257 (264); OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2003, 263 (263); OLG Stuttgart NJW 2006, 2422 (2423); Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 36; Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 53; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 18; Vogel, LK, § 17 Rdn. 79; Wessels/Beulke, Rdn. 466.
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eher wird er die rechtliche Fragwürdigkeit seines Handelns erkennen und zumindest einer Erkundigungspflicht unterliegen.199 Allerdings kann auch ein von seinen heimatlichen Anschauungen geprägter und von hiesigen Einflüssen isolierter Täter für sein Handeln hoheitliche Sanktionen nach der inländischen, ihm fremden Rechtsordnung in Betracht ziehen. Diesbezügliche Erwägungen dürfte der Täter umso eher anstellen, je mehr er sich der kulturellen Prägung seiner Wertvorstellungen sowie seiner heimatlichen Rechtsordnung bewusst ist. Für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums von Angehörigen anderer Kulturkreise bedeutet dies: Wer seinen kulturellen Anschauungen völlig verhaftet bleibt und sie für allgemein verbindlich erachtet, wird häufig selbst bei der erforderlichen Gewissensanspannung nicht zur Unrechtseinsicht gelangen.200 Wer hingegen um die kulturelle Vielfalt der Menschheit und um die abweichenden Wertvorstellungen anderer Kulturkreise in Bezug auf das durch sein Verhalten betroffene Rechtsgut weiß, wird durch den bewussten Kontakt mit einer anderen Rechtsordnung die hoheitliche Sanktionierung seines Verhaltens bedenken und sich demgemäß in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befinden. Während die Isolation des Täters von hiesigen kulturellen Einflüssen also seiner aktuellen Unrechtseinsicht noch entgegenstehen kann, vermag er damit nicht zwingend dem Vorwurf zu entgehen, um das begangene Unrecht wissen zu müssen. (3) Erkundigungspflicht von Angehörigen anderer Kulturkreise Indes erscheint bedenklich, generell ein potentielles Unrechtsbewusstsein des Täters anzunehmen, wenn er um die bloße Verschiedenheit seines eigenen und des von seinem Verhalten betroffenen Kulturkreises weiß. Dann müsste er bei jeglichem Kontakt mit einer durch andere sittliche Anschauungen geprägten Rechtsordnung erwägen, dass sein Verhalten staatliche Sanktionen nach sich zöge, wenngleich es sich aus seiner Sicht als noch so unverfänglich erweist. Vor allem bei Vorschriften des Nebenstrafrechts bedeutete dies eine Benachteiligung von Angehörigen anderer Kulturkreise gegenüber einheimischen Tätern, denen hier im Einzelfall ein unvermeidbarer Verbotsirrtum zugestanden wird.201 Fraglich ist also, wann die Kenntnis des durch seine heimatlichen Anschauungen geprägten Täters um abweichende Wertvorstellungen in anderen Kulturen eine Erkundigungspflicht auslöst. Als Ausgangspunkt für diesbezügliche Erörte199 Vgl. OLG Köln VRS 54 (1978), 364 (366). Nach Fabricius, JuS 1991, 393 (398) sollen schon bloße Sprachschwierigkeiten die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums begründen, da ansonsten eine Pflicht zum Spracherwerb geschaffen werde, deren Verletzung strafrechtlich sanktioniert würde. Dem steht bereits entgegen, die Information über die Rechtslage durch den Einsatz von Dolmetschern erhalten zu können. 200 Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 60; Valerius, NStZ 2003, 341 (344). 201 Siehe z. B. OLG Oldenburg NJW 1992, 2438; vgl. auch BayObLG NStZ 2000, 148.
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rungen dient die von der ständigen Rechtsprechung herangezogene Definition des potentiellen Unrechtsbewusstseins. Ein Verbotsirrtum bleibt danach vermeidbar, wenn der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz all seiner geistigen Erkenntniskräfte und seiner sittlichen Wertvorstellungen zur Unrechtseinsicht hätte gelangen können.202 Es muss also ein hypothetisches Urteil darüber gefällt werden, ob es dem Täter möglich war, das seinem Handeln entgegenstehende rechtliche Verbot zu erkennen. Eine solche Bewertung darf jedoch als nicht allzu „hypothetisch“ begriffen werden, da theoretisch jeder alle seiner Handlungen kritisch zu hinterfragen und auf staatliche Sanktionen zu überprüfen vermag. Ein solches Verständnis schlösse aber die Unvermeidbarkeit von Verbotsirrtümern faktisch aus und bedeutete im Ergebnis eine Rückkehr zur reichsgerichtlichen Rechtsprechung „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“. Es bedarf also eines begrenzenden Merkmals, um dem Täter nicht sämtliche Wege zur Unrechtseinsicht zum persönlichen Vorwurf zu erheben. Als geeignetes Kriterium erscheint insoweit die Zumutbarkeit der Gewissensanspannung, worauf Rechtsprechung und Literatur in ihren Ausführungen zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums gelegentlich, wenngleich in der Regel lediglich en passant, verweisen.203 Danach müsste sich der Angehörige eines anderen Kulturkreises nur dann vergegenwärtigen, ob die inländische Rechtsordnung sein Verhalten entgegen seinem aktuellen Bewusstsein und seinen kulturellen Wertvorstellungen hoheitlich sanktioniert, wenn ihm dies zugemutet werden darf. Als zumutbar erweist sich eine Gewissensanspannung insbesondere für denjenigen, der bewusst Verbindungen zu einem fremden Staat mit anderem kulturellen Hintergrund knüpft. In diesem Fall kann der Täter mit dem Hinweis auf seine (gegebenenfalls freiwillige) Isolation und die dadurch fortbestehenden kulturellen Differenzen zwar seine fehlende Unrechtseinsicht zum Zeitpunkt der Tat behaupten, nicht aber zwingend deren Vermeidbarkeit. Die Reichweite der Erkundigungspflicht richtet sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls. Wesentlich sind vor allem Intensität und Häufigkeit der Berührungspunkte des Täters mit der fremden Rechtsordnung. Wer sich etwa dauerhaft hierzulande niederlässt, muss sich umfassender über die hiesige Rechtslage informieren als jemand, der gelegentliche und unregelmäßige Kontakte mit dem Inland pflegt. Wer seinen ständigen Aufenthaltsort nach Deutschland verlegt, muss sich zumindest über das Kernstrafrecht und somit über die zentralen Sanktionstatbestände der hiesigen Rechtsordnung erkundigen.204 202
Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 194. Vgl. BGHSt GrS 2, 194 (201 und 209); 9, 164 (172); 21, 18 (21 f.); BayObLG NJW 1980, 1057 (1058); OLG Hamm NJW 2006, 245 (246); Joecks, MünchKommStGB, § 17 Rdn. 43; Wessels/Beulke, Rdn. 466; ausdrücklich indessen Satzger, Europäisierung des Strafrechts, S. 648. 204 Heuchemer, BeckOK-StGB, § 17 Rdn. 35; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 17; Vogel, LK, § 17 Rdn. 101; Lesch, JA 1996, 607 (609); Valerius, NStZ 203
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Hält sich der Angehörige eines fremden Kulturkreises hingegen nicht hierzulande auf, sondern unterhält er lediglich vereinzelte und unregelmäßige Kontakte ins Inland, sind ihm nur wenige Erkundigungspflichten aufzuerlegen. Dies gilt beispielsweise, wenn der einzige Anknüpfungspunkt für die hiesige Rechtsordnung in dem hier belegenen Aufenthaltsort des Kommunikationsteilnehmers des Handelnden besteht. So vermag ein bloßes Telefonat mit einem inländischen Gesprächspartner den Kommunizierenden nicht dazu verpflichten, sich über die hoheitliche Sanktionierbarkeit aller voraussichtlichen Gesprächsinhalte nach deutschem Recht zu informieren. Auch bei einem Rückgriff auf nicht individualisierte Massenkommunikationsmittel, wie z. B. bei frei zugänglichen und daher grundsätzlich weltweit abrufbaren Webseiten, wird dem Betreiber des Internetauftritts kaum zuzumuten sein, Auskünfte über die rechtliche Bewertung seines Online-Angebots in sämtlichen Staaten der Erde einzuholen. Der Handelnde wird sich aber umso mehr über die Rechtslage in einem anderen Staat informieren müssen, je gezielter er dort wirkt und je bewusster er in Berührung mit der fremden Rechtsordnung tritt. Vornehmlich Berufstätige treffen daher besondere Erkundigungspflichten für den Tätigkeitsbereich, auf den ihre geschäftlichen Beziehungen in das Inland zurückzuführen sind.205 Demnach müssen sich beispielsweise gewerbliche Betreiber von Webseiten über die einschlägigen Rechtsvorschriften desjenigen Staates informieren, in dem sie mittels ihres Online-Auftritts gezielt Personen ansprechen und für ihre Produkte werben möchten.206 Aus diesen Gründen ist der oben genannten Entscheidung des OLG München vom 7. August 2006 zuzustimmen, die aus den beruflichen Kontakten eines Geschäftsführers von seinem österreichischen Sitz aus nach Deutschland eine Erkundigungspflicht über die inländische Rechtslage ableitete. Die Straflosigkeit der Verbreitung von Postkarten mit dem Abbild Adolf Hitlers in Österreich vermag demnach zwar die fehlende Unrechtseinsicht des Täters, nicht jedoch die Unvermeidbarkeit seines Verbotsirrtums zu begründen.207 Kulturelle Differenzen betreffen nicht nur die Schutzwürdigkeit eines bestimmten Rechtsguts, sondern auch dessen Stellenwert im Verhältnis zu anderen (vor allem tätereigenen) Interessen. Im Falle einer solchen Kollision erweist sich ein Verbotsirrtum nicht allein deswegen als vermeidbar, weil der Täter das von
2003, 341 (344); zurückhaltend Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 60 ff.; Frischknecht, Kultureller Rabatt, S. 328 ff. 205 Vgl. BGH NStZ 1996, 236 (237); BayObLG NJW 2003, 2253 (2253); NStZ 2003, 270 (271 f.); OLG Düsseldorf wistra 1995, 317 (319); OLG München NStZ 2007, 97 (99); Fischer, § 17 Rdn. 9; Joecks, MünchKomm-StGB, § 17 Rdn. 65; Momsen, SSW-StGB, § 17 Rdn. 52; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 17; Fischer/Waßmer, BB 2002, 969 (972); Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (219 f.); Lesch, JA 1996, 607 (609 f.); Valerius, NStZ 2003, 341 (344). 206 Vgl. dazu bereits Valerius, NStZ 2003, 341 (345). 207 OLG München NStZ 2007, 97 (99).
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ihm beeinträchtigte Rechtsgut als schützenswert anerkennt und um die grundsätzliche hoheitliche Sanktionierbarkeit seiner Verletzung weiß. Räumen seine heimatlichen Anschauungen abweichend von der hiesigen Rechtsordnung einem anderen Interesse den Vorrang ein, kann der Täter diese Beurteilung als zwingend erachten, wenn er seinen Wertvorstellungen verhaftet bleibt. Ist sich der Täter hingegen der kulturellen Einflüsse auf Stellenwert und Rangfolge der widerstreitenden Rechtsgüter bewusst, sind häufig ausreichend Zweifel an dem Unrechtsgehalt seines Verhaltens gegeben, um sich über dessen hoheitliche Sanktionierbarkeit zu informieren. Dargelegt wurden diese Grundsätze schon am Phänomen der Ehrenmorde, auf deren Erörterung ergänzend verwiesen wird.208 Insoweit bedarf die Entscheidung des AG Grevenbroich vom 24. September 1982209 einer kritischen Bemerkung. Das Gericht ging zwar detailliert auf die türkische Rechtslage ein und hielt fest, die durch die Angeschuldigten begangene Freiheitsberaubung zum Nachteil der Ehefrau eines der Angeschuldigten sei zu der damaligen Zeit in der Türkei nicht strafbar gewesen.210 Daraus hätte es aber nicht ohne Weiteres auf die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums der Angeschuldigten schließen dürfen. Die Straflosigkeit nach türkischem Recht bildet lediglich ein starkes Indiz für einen Verbotsirrtum, hat indessen nicht sogleich dessen Unvermeidbarkeit zur Folge. Dazu hätten die Angeschuldigten infolge ihrer heimatlichen Prägung den kulturellen Hintergrund des Vorrangs der Rechte des Ehemannes gegenüber der körperlichen Bewegungsfreiheit seiner Ehefrau verkennen müssen. Das AG Grevenbroich blieb also die Erörterung schuldig, ob den Angeschuldigten bei Einsatz ihrer geistigen Erkenntniskräfte Zweifel an der kulturübergreifenden Allgemeinverbindlichkeit ihrer Abwägung der widerstreitenden Interessen zugunsten des Ehemannes hätten kommen können. Diese Frage darf nicht aus der Perspektive der hiesigen Wertvorstellungen beantwortet werden, sondern muss den kulturellen Hintergrund der Angeschuldigten berücksichtigen. Während die Gesellschaft in Deutschland sich etwa intensiv mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau auseinandergesetzt hat und insoweit sensibilisiert ist, könnte ein solcher Blick den Angeschuldigten infolge ihrer patriarchalischen Erziehung verwehrt bleiben. Ob dies der Fall war, lässt sich den Gründen der besagten Entscheidung nicht entnehmen. Allerdings stammten die beiden Angeschuldigten nach den Feststellungen aus ländlicher Gegend und waren – so das Gericht – „offenbar einfach strukturiert“.211 Außerdem lebte der angeschuldigte Ehemann zum Zeitpunkt der Tat erst seit zwei Jahren in Deutschland.212 Diese Umstände indizieren zumindest, dass die Angeschuldigten sich der 208 209 210 211 212
Siehe oben Teil 2 Kap. 2 II. 3. c) cc). Siehe oben Teil 3 Kap. 5 II. 2. AG Grevenbroich NJW 1983, 528 (529). AG Grevenbroich NJW 1983, 528 (529). AG Grevenbroich NJW 1983, 528 (529).
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kulturellen Prägung und fehlenden Allgemeingültigkeit ihres Familienbildes nicht bewusst waren und sie daher selbst bei einer Gewissensanspannung das begangene Unrecht nicht erkannt hätten. Angesichts ihres wohl auf Dauer angelegten Aufenthalts in Deutschland hätte jedoch eine Pflicht der beiden Angeschuldigten nahe gelegen, sich über die grundlegenden Elemente der hiesigen Rechtsordnung zu informieren, zu denen unter anderem die Diskriminierungsverbote in Art. 3 GG zählen. Insbesondere die Gleichbehandlung von Mann und Frau gehört zu den wesentlichen Inhalten unseres Rechtssystems, weswegen der Verbotsirrtum der Angeschuldigten letztlich als vermeidbar zu bewerten gewesen wäre. d) Ausblick: Kultureller Dialog und Unrechtsbewusstsein Die Internationalisierung und Globalisierung des Alltags bringt nicht nur für den Einzelnen häufige Kontakte mit fremden Kulturen mit sich. Auch auf politischer Ebene finden vermehrt Unterredungen und Verhandlungen zwischen den einzelnen Staaten statt. Sie enden in einer Vielzahl völkerrechtlicher Vereinbarungen, die nicht selten die nationalen Rechtsordnungen und in wachsendem Maße auch das Strafrecht der unterzeichnenden Staaten harmonisieren sollen. Es lässt sich also ein stetig an Geschwindigkeit gewinnender Prozess der Internationalisierung, vornehmlich Europäisierung des Strafrechts diagnostizieren. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die fortschreitende Rechtsvereinheitlichung auf das Unrechtsbewusstsein von Angehörigen anderer Kulturkreise auswirkt. Schon Laubenthal und Baier haben sich dem Thema gewidmet und am Beispiel der Europäisierung des Strafrechts aufgezeigt, dass die fortschreitende Angleichung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vor allem direkte Verbotsirrtümer vermeidet. Angehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union könnten nämlich kaum ihre fehlende Unrechtseinsicht behaupten, da dies zugleich die Unkenntnis ihrer eigenen Rechtsordnung bedeute. Selbst wenn einem ausländischen Täter noch ein Verbotsirrtum zuzugestehen sei, erschwere ihm die Rechtsvereinheitlichung zumindest zunehmend, sich auf die Unvermeidbarkeit ihres Irrtums zu berufen.213 Ob ein interkultureller Austausch im Einzelfall tatsächlich in einer Harmonisierung nationaler Rechtsordnungen endet, ist jedoch von nachgeordneter Bedeutung. Zwar beinhaltet die Änderung der eigenen Rechtsordnung ein nicht unerhebliches Indiz für die Unrechtseinsicht des Täters. Insbesondere umfassende Reformen des heimatlichen Rechtssystems, die – gegebenenfalls gerade wegen der darin zum Ausdruck kommenden Internationalisierung – äußerst umstritten sind und dem Willen der Bevölkerungsmehrheit widersprechen, werden auch und be213
Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (218 f. und 221 ff.).
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sonders von kulturell stark geprägten Menschen registriert.214 Allerdings muss nicht jede Änderung oder Erweiterung der hoheitlichen Sanktionsmöglichkeiten dem Einzelnen bewusst sein. So erfolgt die Europäisierung des Strafrechts meist in kleinen Schritten und teilweise sogar ohne Änderung des geschriebenen Rechts über eine europarechtskonforme Auslegung. Selbst wenn der kulturelle Dialog also nicht zu einer Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen führt, beeinflusst die steigende Anzahl interkultureller Berührungspunkte die Entwicklung und den Inhalt der einzelnen Kulturen und erhöht das Bewusstsein ihrer Angehörigen für andere Wertvorstellungen. Die eigenen Ansichten des Täters müssen sich dadurch freilich nicht ändern. Je weiter der interkulturelle Dialog voranschreitet, umso weniger vermag der Einzelne aber noch einzuwenden, infolge seiner heimatlichen Anschauungen das Unrecht seiner Tat aus Sicht einer fremden, durch andere Wertvorstellungen geprägten Rechtsordnung nicht erkannt zu haben. Ebenso wird der Täter immer seltener auf die Unvermeidbarkeit verbleibender Verbotsirrtümer verweisen können.
III. Grenzüberschreitende Straftaten und Unrechtsbewusstsein 1. Allgemeines Gemäß den vorangegangenen Überlegungen sind die Wertvorstellungen von Angehörigen anderer Kulturkreise im Rahmen des Unrechtsbewusstseins zu berücksichtigen. Unterschiede zu den hierzulande herrschenden Anschauungen treten im Sinne der hier verwendeten Terminologie215 entweder als intranationaler kultureller Konflikt (z. B. wenn sich der einem anderen Kulturkreis entstammende Täter im Inland aufhält) oder als internationaler kultureller Konflikt (z. B. bei Geschäftsbeziehungen des im Ausland lebenden Täters mit inländischen Kunden) auf. In beiden Konstellationen vermag die kulturelle Prägung des Täters seiner Unrechtseinsicht zum Zeitpunkt der Tat entgegenzustehen. Zuweilen muss der Täter aber überhaupt nicht bemerken, mit einer fremden Rechtsordnung in Kontakt zu treten. Weiß er nicht um den grenzüberschreitenden Charakter seiner Handlung und übersieht dadurch deren Bezug zu einem anderen Territorium, zieht er staatliche Sanktionen nach fremdem Recht von vornherein nicht in Betracht. Dies gilt vor allem dann, wenn er keine Bedenken über 214 Exemplarisch sind die zahlreichen Änderungen der letzten Jahre im türkischen Strafrecht (z. B. Einstufung des Sittenmordes als qualifizierten Totschlag, Abschwächung des Art. 301 türkStGB über die Beleidigung unter anderem des Türkentums, nunmehr der türkischen Nation) anzuführen, die mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union erlassen wurden. 215 Siehe oben Teil 1 Kap. 1 III. 3. b).
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den Unrechtsgehalt seines Verhaltens hegt, weil es von der Rechtsordnung seines Aufenthaltsstaates nicht als sozialschädlich bewertet oder zumindest nicht hoheitlich geahndet wird. Ein Beispiel für derartige kulturelle Konflikte, die dem Täter infolge Verkennung ihrer Internationalität verborgen bleiben, bilden Äußerungen gegenüber individualisierten Empfängern über das Internet. So muss ein US-Amerikaner, der dem Teilnehmer eines Internetblogs private E-Mails mit beleidigendem Inhalt zusendet, nicht bemerken, dass sein Gesprächspartner aus Deutschland stammt, wenn dieser eine E-Mail-Adresse mit der allgemeinen Top-Level-Domain „.com“ verwendet. Während in den Vereinigten Staaten bei ehrverletzenden Äußerungen infolge des höheren Stellenwerts der Meinungsfreiheit allenfalls zivilrechtliche Folgen zu befürchten sind,216 kann die – ohne Kenntnis des Handelnden – in Deutschland abgerufene E-Mail nach hiesigem Recht strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Noch unvorhersehbarer erweist sich die Auslandsberührung, wenn der US-amerikanische Schreiber einen Landsmann beleidigt, der sich überraschend gerade in Deutschland aufhält und hier seine E-Mails liest. Den Bezug zu einer fremden Rechtsordnung zu verkennen, setzt indes nicht einmal einen (internationalen) kulturellen Konflikt, also keine unterschiedlichen Anschauungen voraus. Stammt der Verfasser der soeben exemplarisch genannten E-Mail nicht aus den Vereinigten Staaten, sondern aus einem Staat, der wie Deutschland ehrverletzende Äußerungen unter Strafe stellt, weiß er durchaus um den Unrechtsgehalt seiner Nachricht. Gleichwohl zöge er ebenso wenig in Betracht, für sein Verhalten hoheitliche Sanktionen in Deutschland zu erwarten. In beiden Fällen, d. h. unabhängig von der Rechtsordnung des Handlungsstaates des Täters, ist zu erörtern, ob und gegebenenfalls wie sich das fehlende Bewusstsein des Täters, eine andere Rechtsordnung zu verletzen, auf seine Unrechtseinsicht auswirkt. 2. Die Behandlung in der Rechtsprechung Mit einer solchen Konstellation musste sich die Rechtsprechung bislang nur selten auseinandersetzen. Soweit ersichtlich beschäftigte sich lediglich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 19. Mai 1999217 mit dem Problem, ob sich das Unrechtsbewusstsein auf eine bestimmte Rechtsordnung beziehen muss. Angeklagt war ein Genfer Ehepaar, das dem später wegen Betrugs und Kreditbetrugs verurteilten Immobilienkaufmann Schneider und seiner Ehefrau zur Flucht in die Vereinigten Staaten verhalf und ihnen dort ein Versteck beschaffte. Obwohl die Angeklagten zwischenzeitlich erfuhren, dass Schneider in Deutschland von 216
Siehe Teil 2 Fn. 307. BGHSt 45, 97 mit Anmerkungen Börger, NStZ 2000, 31; Dölling, JR 2000, 379; H. E. Müller, NStZ 2002, 356 (361 f.); Neumann, StV 2000, 425. 217
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den Ermittlungsbehörden gesucht wurde, waren sie dem – sich mittlerweile in Miami befindenden – Ehepaar Schneider weiterhin behilflich. Bei einer Befragung durch Polizei und Untersuchungsrichter in Genf leugneten die Angeklagten, den Aufenthaltsort der Eheleute zu kennen. Zwar beschlich den Ehemann zwischenzeitlich ein ungutes Gefühl, weswegen er einen Rechtsanwalt aufsuchte. Der Angeklagte erhielt dort aber die – zutreffende – Information, sich nicht nach Schweizer Recht strafbar gemacht zu haben. Das Landgericht Frankfurt am Main sprach mit Urteil vom 7. Oktober 1998 die Angeklagten vom Vorwurf der Strafvereitelung frei, da ein unvermeidbarer Verbotsirrtum nicht auszuschließen sei. Die Angeklagten hatten sich demnach mit der Auskunft des Schweizer Rechtsanwalts begnügen dürfen. Da sie nicht auf deutschem Boden gehandelt hatten, waren sie nach Ansicht des Landgerichts nicht verpflichtet, sich über die Strafbarkeit ihres Verhaltens nach deutschem Recht zu informieren. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hob der Bundesgerichtshof das Urteil mitsamt seiner Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Der Bundesgerichtshof hielt zunächst mit dem Landgericht fest, dass die Angeklagten durch die Unterstützung Schneiders den Tatbestand der Strafvereitelung (§ 258 StGB) verwirklicht hatten. Zwar handelten die Angeklagten ausschließlich in der Schweiz und in den USA. Das deutsche Strafrecht sei aber anwendbar, wenn im Inland gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB der Erfolg eintrete, eine von deutschen Gerichten zu verhängende Strafe oder Maßnahme zu vereiteln.218 Entgegen der Auffassung des Landgerichts sei den Angeklagten allerdings kein (unvermeidbarer) Verbotsirrtum zuzugestehen. Schließlich fehle das Unrechtsbewusstsein nicht schon dann, wenn der Täter in Unkenntnis seiner Strafbarkeit und des anzuwendenden Strafgesetzes gehandelt habe. Auf die – noch speziellere – Kenntnis der Strafbarkeit nach deutschem Recht komme es demzufolge erst recht nicht an. Vielmehr beurteile sich die fehlende Unrechtseinsicht nach dem Rechtsgut, das der betreffende Straftatbestand schütze. Demgemäß unterliege nur einem Verbotsirrtum, wer die vom verwirklichten Straftatbestand umfasste spezifische Rechtsgutsverletzung nicht als Unrecht erkenne.219 Das Rechtsgut des Tatbestandes der Strafvereitelung bilde die deutsche Strafrechtspflege. Den Angeklagten sei zumindest in laienhafter Vorstellung bewusst gewesen, diese zu beeinträchtigen, indem sie die Strafverfolgung Schneiders er218 BGHSt 45, 97 (100); ebenso BGHSt 44, 52 (56); Altenhain, NK, § 258 Rdn. 5; Cramer, MünchKomm-StGB, § 258 Rdn. 3; Fischer, § 258 Rdn. 2; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 19; Börger, NStZ 2000, 31 (31); Dölling, JR 2000, 379 (379); a. A. Neumann, StV 2000, 425 (426); kritisch auch H. E. Müller, NStZ 2002, 356 (361). 219 BGHSt 45, 97 (100 f.); vgl. ferner BGHSt 15, 377 (383); BGH NStZ 1996, 236 (237); NStZ-RR 1996, 24 (25); OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 60 (61); OLG München NStZ 2007, 97 (98); OLG Stuttgart NStZ 1993, 344 (345).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
heblich verzögerten. Gleichwohl ihre Einsicht in das spezifische Unrecht dieser Rechtsgutsverletzung verneinen zu können, lasse sich dem Urteil des Landgerichts nicht entnehmen.220 Im Gegenteil kenne die heimatliche Rechtsordnung der Angeklagten einen – dem § 258 StGB entsprechenden – Straftatbestand der Strafvereitelung.221 Des Weiteren hätten die Angeklagten ihr Verhalten nicht deswegen für erlaubt halten dürfen, weil sich im konkreten Fall ihr Handeln nicht gegen die Schweizer, sondern die deutschen Ermittlungsbehörden richtete. Es liege auf der Hand, dass eine (hier: die deutsche) Rechtsordnung die Vereitelung der Strafverfolgung durch einen Ausländer gleichfalls ahnde.222 Die Rechtsauskunft des Genfer Anwalts begründe bereits deswegen keinen Verbotsirrtum, weil sie sich lediglich auf das Schweizer, nicht dagegen auf das deutsche Strafrecht und das hiervon geschützte Rechtsgut der deutschen Strafrechtspflege beziehe.223 3. Die Behandlung in der Literatur Das Schrifttum hat bislang ebenso kaum behandelt, ob es dem Täter zu einem Verbotsirrtum gereicht, wenn er nicht darum weiß, eine fremde Rechtsordnung zu verletzen. Ausführlich geht Neumann in seiner Anmerkung zu dem soeben geschilderten Urteil des Bundesgerichtshofs im Fall Schneider224 auf die Fragestellung ein: „Wie ist strafrechtlich die Tatsache zu bewerten, daß die Angeklagten offensichtlich gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, ihr Verhalten an den Tatbeständen des deutschen Strafgesetzes zu messen, sondern es allein auf die strafrechtlichen Normen des Staates ihrer Nationalität wie – zugleich – des Handlungsortes bezogen haben?“ 225 Oder mit anderen Worten: „Wie ist es zu beurteilen, wenn der Handelnde sein Tun nach der von ihm für maßgeblich erachteten Rechtsordnung (zu Recht oder zu Unrecht) für erlaubt hält und nicht auf die Idee kommt, daß eine andere Strafrechtsordnung, die in Bezug auf diese Handlung aber tatsächlich einen Geltungsanspruch erhebt, beurteilungsrelevant sein könnte?“ 226 220
BGHSt 45, 97 (101). Art. 305 Abs. 1 SchwStGB (Begünstigung): „Wer jemanden der Strafverfolgung, dem Strafvollzug oder dem Vollzug einer der in den Artikeln 59–61, 63 und 64 vorgesehenen Massnahmen entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ Der Folgeabsatz Art. 305 Abs. 1bis SchwStGB enthält sogar eine ausdrückliche Regelung mit Auslandsbezug, die allerdings auf unverjährbare Verbrechen beschränkt bleibt: „Ebenso wird bestraft, wer jemanden, der im Ausland wegen eines Verbrechens nach Artikel 101 verfolgt wird oder verurteilt wurde, der dortigen Strafverfolgung oder dem dortigen Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer Massnahme im Sinne der Artikel 59–61, 63 oder 64 entzieht.“ 222 BGHSt 45, 97 (101 f.). 223 BGHSt 45, 97 (102 f.). 224 Neumann, StV 2000, 425. 225 Neumann, StV 2000, 425 (425). 226 Neumann, StV 2000, 425 (426). 221
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
197
Der Bundesgerichtshof versuchte, diese Frage mit den allgemeinen Grundsätzen zum Verbotsirrtum des § 17 StGB zu lösen. Demnach begründe allein die Unkenntnis der Strafbarkeit und des anzuwendenden Strafgesetzes keinen Verbotsirrtum. Diese Aussage beruht laut Neumann auf der, von der wohl noch herrschenden Meinung mitgetragenen Ansicht, dass für die Unrechtseinsicht des Täters nicht das Bewusstsein erforderlich sei, gegen ein sanktionsbewehrtes Verbot zu verstoßen.227 Stattdessen stelle der Bundesgerichtshof auf die „vom verwirklichten Straftatbestand umfaßte spezifische Rechtsgutsverletzung“ 228 ab, die der Täter als Unrecht erkennen müsse. Als ein solches spezifisches Rechtsgut erachte der Bundesgerichtshof die von § 258 StGB geschützte Strafrechtspflege, genauer die „deutsche Strafrechtspflege“.229 Er erweitere damit stillschweigend seine Auffassung von der Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins,230 indem er eine solche Teilbarkeit nicht nur auf die Verletzung qualitativ unterschiedlicher Rechtsgüter beziehe, sondern nun auch auf den Schutz desselben Rechtsguts in verschiedenen Rechtsordnungen anwende, also bestimmte Rechtsgüter mit einem nationalen Index versehe.231 Demnach wäre im vorliegenden Fall allein das Bewusstsein der Angeklagten maßgeblich gewesen, das spezifische Rechtsgut der deutschen Strafrechtspflege zu verletzen. Der Bundesgerichtshof ging daher bloß darauf ein, ob sich die Angeklagten über Existenz oder Regelungsgehalt des § 258 StGB geirrt hatten. Das eigentliche Problem der grenzüberschreitenden Fallkonstellation, nämlich ob die Angeklagten überhaupt erwogen, ihr Verhalten an der deutschen Strafrechtsordnung zu messen, blieb hingegen unerörtert. Indes ist ein Verhalten nicht „an sich“ erlaubt; eine Erlaubnis bezieht sich vielmehr immer auf eine bestimmte Normenordnung. Wie Neumann zutreffend bemerkt, lässt der Bundesgerichtshof also die entscheidende Frage außer Acht, wie ein Irrtum über die Reichweite der deutschen Strafrechtsordnung, und nicht über deren rechtsgutsbezogenen Regelungsgehalt, rechtlich zu bewerten sei.232 Nach herrschender Auffassung bleibt ein Irrtum über die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts unbeachtlich, da die §§ 3 ff. StGB nicht das Unrecht einer Handlung, sondern den Umfang der staatlichen Strafgewalt betreffen.233 Das Kriterium der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts sei eine objektive Strafbarkeits-
227
Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 181 f. BGHSt 45, 97 (101). 229 BGHSt 45, 97 (101); ebenso wohl Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 17 Rdn. 5. 230 Siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 181. 231 Neumann, StV 2000, 425 (425). 232 Neumann, StV 2000, 425 (425 f.). 233 BGHSt 27, 30 (34); Fischer, Vor §§ 3–7 Rdn. 30. 228
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
bedingung, auf die sich der Vorsatz des Handelnden nicht erstrecken müsse.234 Welche Verhaltensweisen Unrecht darstellten, lasse sich aber nach Neumann – zumindest außerhalb eines strafrechtlichen Kernbereichs universell verbindlicher Normen – nur in Relation zu einer spezifischen Rechtsordnung bestimmen. Demgemäß seien die Vorschriften des Strafanwendungsrechts unrechtsrelevant und das Unrechtsbewusstsein notwendigerweise auf eine bestimmte Rechtsordnung bezogen. Zwar könne der Handelnde um die Rechtmäßigkeit seines Handelns am Tatort ebenso wie um dessen Verbot nach einer anderen einschlägigen Rechtsordnung wissen. Wenn er jedoch nicht einmal mit der Möglichkeit rechne, dass sein Verhalten einem bestimmten nationalen Strafrecht unterworfen sei, dann fehle ihm die Einsicht in das – allein von dessen Normen konstituierte – Unrecht seiner Tat, weswegen er sich in einem Verbotsirrtum befinde.235 4. Stellungnahme Der Bundesgerichtshof ließ in seinem Urteil vom 19. Mai 1999236 in der Tat die entscheidende Frage unbeantwortet, wie sich das fehlende Bewusstsein des Täters, eine bestimmte Rechtsordnung zu verletzen, auf seine Strafbarkeit auswirkt. Selbst wenn mit dem Bundesgerichtshof allein die spezifische Rechtsgutsverletzung für die Unrechtseinsicht des Täters maßgeblich wäre, wären diese Grundsätze allenfalls auf wenige andere Straftatbestände übertragbar. Einem Rechtsgut eine nationale Komponente beizumessen, um es dadurch zu einem spezifischen Rechtsgut zu erheben, mag bei der Strafrechtspflege auf den ersten Blick noch plausibel erscheinen; schließlich wird insoweit häufig vom Schutzgut der inländischen Strafrechtspflege gesprochen.237 Vor allem höchstpersönlichen Rechtsgütern fehlt hingegen ein derartiger nationaler Bezug, wie exemplarisch an der Ehre verdeutlicht werden kann. In dem oben angeführten Beispiel, in dem jemand eine ehrverletzende Äußerung per E-Mail versendet, ohne zu wissen,
234 Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 79; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 22; Lackner/Kühl, Vor §§ 3–7 Rdn. 10; Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 452; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 9; Gribbohm, JR 1998, 177 (179); a. A. Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 51 m.w. N. 235 Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 52; Neumann, NK, § 17 Rdn. 20; ders., StV 2000, 425 (426); ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 83 (100); vgl. auch Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 79; Werle/ Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 453; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 9; Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 19; H. E. Müller, NStZ 2002, 356 (361). 236 BGHSt 45, 97. 237 So sind die Straftatbestände des StGB zum Schutz der Strafrechtspflege nach herrschender Auffassung von vornherein nicht anwendbar, wenn nicht die deutsche, sondern die Strafrechtspflege eines anderen Staates betroffen ist, Ambos, MünchKommStGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 84; Lackner/Kühl, Vor §§ 3–7 Rdn. 9.
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dass deren Empfänger aus Deutschland stammt bzw. sich hier auf Geschäftsreise befindet, wird das verletzte Rechtsgut der Ehre nicht allein durch die Anwesenheit des Betroffenen in Deutschland zu einer spezifischen „inländischen Ehre“. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs krankt an dem fehlerhaften Erst-rechtSchluss, aus der für die Unrechtseinsicht nicht notwendigen Kenntnis der Strafbarkeit die ebenso wenig erforderliche – noch speziellere – Kenntnis der Strafbarkeit nach deutschem Recht zu folgern.238 Dadurch vermengt der Bundesgerichtshof zwei verschiedene Aspekte, nämlich den Anwendungsbereich einer Rechtsordnung mit der davon unabhängigen Frage, ob diese ein bestimmtes Verhalten als Unrecht bewertet. Von einer Rechtsordnung kann sich aber lediglich leiten lassen, wer sowohl deren Missachtung des fraglichen Verhaltens als auch deren Anwendbarkeit kennt. Kein Deutscher im Ausland richtet etwa sein Handeln nach seinen heimatlichen Vorschriften aus, wenn er um die Bedenkenlosigkeit seines Tuns nach dem Recht seines Aufenthaltsstaates weiß. Der Vorwurf, sich mit seinem Verhalten in Widerspruch zu einer bestimmten Rechtsordnung zu setzen, darf also allein gegenüber demjenigen erhoben werden, der sich bewusst ist, in den Anwendungsbereich der betreffenden Rechtsordnung zu treten, und sich daher wissentlich für deren Missachtung und Verletzung entscheidet. Ansonsten fehlt es an dem für die Strafbarkeit notwendigen Gesinnungsunwert.239 Bei grenzüberschreitenden Straftaten weist das Unrechtsbewusstsein demnach zwei Anknüpfungspunkte auf: Zum einen muss es sich auf die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts und den darin liegenden Unrechtsgehalt erstrecken, zum anderen auf die Verletzung einer bestimmten Rechtsordnung, anhand deren Maßstab der Handelnde sein Verhalten als Unrecht bewerten kann.240 Gerade hier befindet sich die – von Neumann trefflich aufgezeigte241 – Schwachstelle der Argumentation des Bundesgerichtshofs: Weil dieser die verletzte Rechtsordnung ausschließlich zum Anlass nimmt, das verletzte Rechtsgut zum spezifischen Rechtsgut zu erheben, erscheint die Rechtsordnung als bloßes Anhängsel bzw. bloße Spezifizierung des verletzten Rechtsguts. Indes sind das verletzte Rechtsgut und die verletzte Rechtsordnung zwei eigenständige Bezugspunkte für das Unrechtsbewusstsein. Die Beeinträchtigung eines Rechtsguts als Unrecht zu bewerten, bedeutet also nicht zwingend, sich der Begehung von Unrecht nach einer bestimmten Rechtsordnung bewusst zu sein. Oder mit den Worten Neumanns:
238
So BGHSt 45, 97 (100 f.). Vgl. Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 124 und 592; Valerius, NStZ 2003, 341 (343). 240 Walter, Kern des Strafrechts, S. 307; Neumann, StV 2000, 425 (426); ders., in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 83 (100); ders., in: Festschrift Müller-Dietz, S. 589 (606); Valerius, NStZ 2003, 341 (343). 241 Neumann, StV 2000, 425 (425 f.). 239
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
„Unrecht verkörpert eine Handlung nur relativ zu einer bestimmten Normenordnung: ,Unrecht‘ ist kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff.“ 242 Zu erörtern bleibt nun, welchen Inhalt die Unrechtseinsicht in Bezug auf die Verletzung einer bestimmten Rechtsordnung haben muss. Hier genügt das Bewusstsein des Täters, durch sein Verhalten in den Anwendungsbereich der fraglichen Rechtsordnung zu geraten, also einen völkerrechtlichen Anknüpfungspunkt für das Eingreifen der nationalen Strafgewalt gesetzt zu haben. Es bedarf dagegen nicht der Kenntnis der einzelnen Vorschriften des jeweiligen Strafanwendungsrechts oder ihrer Auslegung. Dies entspricht dem Gegenstand des Unrechtsbewusstseins bei der Verletzung von Rechtsgütern. Auch hier muss der Täter nicht positiv wissen, welche konkrete Norm er verletzt hat. Vielmehr reicht sein sachgedankliches Mitbewusstsein aus, dass sein Handeln gegen eine nicht näher bestimmte, aber mit hoheitlichen Sanktionen bewehrte Vorschrift verstößt. Für mögliche Fehlvorstellungen bedeutet dies: Wer den Bezug zu einer anderen Rechtsordnung bemerkt, sieht in aller Regel ein, sich von deren Verhaltensnormen leiten lassen zu müssen. Der Täter hat somit das notwendige Bewusstsein bezüglich der jeweiligen Rechtsordnung. Ein Verbotsirrtum kommt dann lediglich in Betracht, wenn der Täter etwa infolge seiner kulturellen Wertvorstellungen den in der Verletzung des betroffenen Rechtsguts liegenden Unrechtsgehalt verkennt.243 Nur insoweit kann in den Worten des Bundesgerichtshofs von einem spezifischen Rechtsgut gesprochen werden, nämlich im Sinne seiner konkreten Bedeutung nach den Regeln und den darin verkörperten Anschauungen der jeweiligen Rechtsordnung. Stammt in dem obigen Beispiel hingegen der Versender der ehrverletzenden E-Mail aus einem Staat, der Beleidigungen ebenso hoheitlich sanktioniert, und weiß er ebenfalls um den Standort des Empfängers seiner E-Mail und demzufolge um den Bezug seines Handelns zur Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates seines Kommunikationspartners, weist er die notwendige Einsicht auf, die Verhaltensnormen (der eigenen sowie) der fremden Rechtsordnung zu missachten und dadurch Unrecht zu begehen. Anderes gilt, wenn sich der Täter zum Zeitpunkt seiner Tat nicht bewusst ist, in den Anwendungsbereich einer anderen Rechtsordnung zu gelangen. Hier fehlt ihm die Einsicht, diese Rechtsordnung zu verletzen und nach ihrem Wertegefüge Unrecht zu verwirklichen. Der Handelnde befindet sich demnach in einem Verbotsirrtum, und zwar unabhängig davon, ob er die durch sein Verhalten hervorgerufene Verletzung eines Rechtsguts als Unrecht bewertet. Dem Verfasser einer herabwürdigenden E-Mail fehlt daher das Unrechtsbewusstsein bezüglich der deutschen Rechtsordnung, wenn er nicht weiß, dass die E-Mail in Deutschland abgerufen wird, und ihm deshalb der Bezug zur deutschen Rechtsordnung verborgen bleibt. 242 243
Neumann, in: Festschrift Müller-Dietz, S. 589 (605). Siehe Teil 3 Kap. 5 II.
Kap. 5: Unrechtsbewusstsein
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Während Fehlvorstellungen über den Unrechtsgehalt der Verletzung eines Rechtsguts zumeist vermeidbar sind, wird Verbotsirrtümern in Bezug auf die Verletzung einer anderen Rechtsordnung häufig ihre Unvermeidbarkeit zu bescheinigen sein. Zumindest wenn sich der Täter zum Zeitpunkt der Tat überhaupt nicht bewusst ist, in den Anwendungsbereich einer anderen Rechtsordnung zu gelangen, wird er selbst bei Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen kaum zu der Einsicht gelangen, sein Verhalten an den Maßstäben einer anderen Rechtsordnung ausrichten zu müssen.244 Nach diesen Grundsätzen bleibt, sofern im konkreten Fall das deutsche Strafrecht als anwendbar erachtet wird,245 der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Mai 1999 im Ergebnis weitgehend zuzustimmen. Die beiden Angeklagten waren sich bewusst, das Rechtsgut der Strafrechtspflege zu verletzen, dessen geschützter Inhalt nach dem deutschen Strafgesetzbuch sich von dem entsprechenden Schweizer Schutzgut allenfalls unerheblich unterscheidet. Sie wussten ferner um den Bezug ihres Verhaltens zur deutschen Rechtsordnung, da ihnen die Suche der hiesigen Ermittlungsbehörden nach dem flüchtigen Schneider bekannt war. Zwar sind die Angeklagten unter Umständen gleichwohl davon ausgegangen, sich für ihr Verhalten nicht nach deutschem Recht verantworten zu müssen.246 Dann hätten sich die Angeklagten entgegen der Auffassung des Bundesgerichtshofs durchaus in einem Verbotsirrtum befunden. Die Fehlvorstellung wäre allerdings vermeidbar gewesen, da die Angeklagten bei Anspannung ihrer geistigen Erkenntniskräfte infolge der offenkundigen Anknüpfungspunkte für die Anwendbarkeit deutschen Rechts zu der Einsicht hätten gelangen müssen, auch der deutschen Rechtsordnung unterworfen zu sein; zumindest wären Zweifel hervorgerufen worden, die Erkundigungspflichten auslösen.247 In Betracht kommt daher allenfalls eine fakultative Strafmilderung gemäß § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB.
IV. Zusammenfassung Tätern aus anderen Kulturkreisen kann infolge ihrer heimatlichen Anschauungen zum Zeitpunkt der Tat die Einsicht genommen sein, Unrecht zu begehen. Kulturelle Wertvorstellungen sind indessen nur einer von vielen verschiedenen möglichen Gründen für fehlendes Unrechtsbewusstsein. Der kulturell bedingte
244
Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 52; Valerius, NStZ 2003, 341 (344). Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 218. 246 Der Sachverhalt legt dies infolge des Auskunftsverlangens der Angeklagten bei einem Genfer Rechtsanwalt allein über die Schweizer Rechtslage nahe (vgl. Zabel, GA 2008, 33 [54]), lässt aber klärende Ausführungen diesbezüglich vermissen. 247 Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I, § 21 Rdn. 19; Börger, NStZ 2000, 31 (32); Dölling, JR 2000, 379 (380); H. E. Müller, NStZ 2002, 356 (362). 245
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Verbotsirrtum folgt daher im Wesentlichen den allgemein anerkannten Grundsätzen. Hierbei ist insbesondere zu beachten, dass sich das Unrechtsbewusstsein auf die rechtliche Beurteilung des fraglichen Verhaltens bezieht, nicht hingegen auf dessen moralische Bewertung. Wer sein Handeln als moralisch anstößig empfindet, weist also nicht zwingend die nötige Unrechtseinsicht auf, da er sich gleichwohl nicht für rechtlich verpflichtet halten muss, sein Handeln zu unterlassen. Nach der im Vordringen befindlichen und vorzugswürdigen Auffassung muss sich der Täter nicht bloß bewusst sein, gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. Vielmehr muss er sich darüber hinaus staatlichen Sanktionen ausgesetzt sehen, z. B. in Gestalt einer Geld- bzw. Freiheitsstrafe oder einer Geldbuße. Indizien für das Unrechtsbewusstsein bei interkulturellen Taten sind vornehmlich deren Sanktionierbarkeit im Heimatstaat des Handelnden sowie dessen sonstige kulturellen, z. B. religiös oder gesellschaftlich geprägten Anschauungen. Ergeben sich wesentliche Unterschiede in der Bewertung der Schutzwürdigkeit des durch die Tat verletzten Rechtsguts, so bildet die Integration des Täters in die inländische Rechtsgemeinschaft einen maßgeblichen Anhaltspunkt für bzw. gegen das Vorliegen eines Verbotsirrtums. Ein Verbotsirrtum ist nur dann unvermeidbar, wenn der Täter trotz Einsatz seiner geistigen Erkenntniskräfte und seiner sittlichen Anschauungen nicht in der Lage gewesen wäre, zur Unrechtseinsicht zu gelangen. Je mehr der Handelnde weiß, dass seine Vorstellungen in Bezug auf das verletzte Rechtsgut in besonderem Maße durch das heimatliche Wertesystem geprägt sind, desto eher muss er seine rechtliche Bewertung hinterfragen und sich über die Vereinbarkeit seines Verhaltens mit der betroffenen Rechtsordnung erkundigen. Auf die Unvermeidbarkeit seines Verbotsirrtums kann sich demnach vor allem berufen, wer seinen heimischen Anschauungen strikt verhaftet bleibt und sie als allgemein verbindlich erachtet. Die damit verbundene Privilegierung von Angehörigen anderer Kulturkreise, die sich (gegebenenfalls bewusst) jeglicher Integration von vornherein entziehen, mag ungerechtfertigt erscheinen. Der persönliche Vorwurf begangenen Unrechts besteht jedoch gerade nicht in der – von der Tat unabhängigen – unterlassenen Integration, sondern in dem Bewusstsein des Täters, sich über eine Rechtsordnung hinwegzusetzen. Allerdings trifft jeden – unabhängig von seiner Bindung an eigene Anschauungen – die Pflicht, sich bei Kontakten mit einer fremden Rechtsordnung mit deren Regelungen vertraut zu machen. Wie weit diese Erkundigungspflicht reicht, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls sowie nach dem Kriterium der Zumutbarkeit. Wer sich dauerhaft in einem fremden Staat niederlässt, hat sich allgemein über die wesentlichen Werte einer Rechtsordnung zu informieren. Geschäftsleute mit lediglich einzelnen beruflichen interkulturellen Kontakten trifft hingegen keine generelle, aber eine spezifische Erkundigungspflicht über die grenzüberschreitenden Tätigkeitsgebiete. Führte die Erfüllung dieser Pflicht zur Unrechtseinsicht des Täters oder zumindest zu Zweifeln an dem Unrechtsgehalt
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seines Handelns, deren Bereinigung die Inanspruchnahme weiterer verlässlicher Auskunftsquellen erfordert, erweist sich der Verbotsirrtum als vermeidbar. Die bewusste Missachtung einer Rechtsordnung erfordert die Erkenntnis, sich von ihren Verhaltensnormen leiten lassen zu müssen. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten muss der Täter daher – und zwar unabhängig von etwaigen kulturellen Differenzen – wissen, durch sein Handeln eine bestimmte Rechtsordnung zu berühren. Nur dann bleibt ihm persönlich vorzuwerfen, sich mit seinem Verhalten in Widerspruch zu der fraglichen Rechtsordnung zu setzen. Verletztes Rechtsgut und verletzte Rechtsordnung stellen somit zwei eigenständige Anknüpfungspunkte für das Unrechtsbewusstsein dar. Ein Verbotsirrtum kann demnach nicht bloß darauf beruhen, dass der Täter das staatlich sanktionierte Unrecht seiner Tat (nach den Maßstäben der betroffenen Rechtsordnung) nicht erkennt, sondern auch auf dem fehlenden Bewusstsein, der betroffenen Rechtsordnung zu unterliegen. Das Fehlen der Vorstellung, in den Anwendungsbereich einer bestimmten Rechtsordnung zu gelangen, erweist sich vor allem dann als unvermeidbar, wenn der Täter schon nicht um die tatsächlichen Umstände weiß, an welche die Ausübung der staatlichen Gewalt anknüpft. Erkennt er dagegen den Bezug zu einer Rechtsordnung und hält diese aufgrund eines Rechtsirrtums nicht für einschlägig, ist der Verbotsirrtum in der Regel vermeidbar. Kapitel 6
Strafanwendungsrecht I. Grundlagen 1. Strafanwendungsrecht und kulturelle Konflikte Im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches sind kulturelle Wertvorstellungen schließlich im Rahmen des Strafanwendungsrechts zu berücksichtigen. Wie die Diskussion um den Bezugspunkt des Unrechtsbewusstseins belegt, sind die – auch als internationales Strafrecht248 bezeichneten – Regelungen der §§ 3 ff. StGB für grenzüberschreitende und somit häufig interkulturelle Sachverhalte geradezu prädestiniert.249 In einer stetig zusammenrückenden, wenngleich nicht 248 Zur Vieldeutigkeit und Missverständlichkeit des Begriffs Ambos, MünchKommStGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 5 f.; Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 2; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 2; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 1 ff.; Rengier, AT, § 6 Rdn. 1; Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (305); Gardocki, ZStW 98 (1986), 703; Satzger, Jura 2010, 108 (109). 249 Nach Vogel, GA 2010, 1 (8) beinhaltet der weitreichende Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts „ein erhebliches Potenzial [. . .] strafrechtskultureller Konflikte“.
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
notwendigerweise zusammenwachsenden Welt wird dem Strafanwendungsrecht zunehmend die Aufgabe zuteil, die Hoheitsbereiche souveräner Staaten festzulegen und untereinander zu begrenzen. Das Strafanwendungsrecht bildet einen Bestandteil des Völkerrechts, das nach modernem Verständnis vornehmlich die Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Völkerrechtssubjekten regelt.250 Es ist somit zwar nationales Recht, wird aber durch völkerrechtliche Grundsätze beschränkt.251 Aus seiner völkerrechtlichen Natur resultiert indes zugleich die Abwegigkeit, das Strafanwendungsrecht zur Lösung kultureller Gegensätze heranzuziehen. Seine Funktion, im Zusammenspiel mit den konkurrierenden Strafgewalten anderer Staaten die gegenseitigen Hoheitsbereiche sinnvoll abzustecken, besteht unabhängig davon, ob und gegebenenfalls welche kulturellen Differenzen zwischen den beteiligten Völkerrechtssubjekten existieren. Das Strafanwendungsrecht erweist sich also als kulturfrei, d. h. es löst zwischenstaatliche Konflikte, selbst wenn diese nicht kultureller Natur sind (und in der hier verwendeten Begriffsbestimmung252 keine internationalen kulturellen Konflikte darstellen). Zwar enthält das Strafanwendungsrecht durchaus kulturelle Elemente und bringt in seiner jeweiligen nationalen Ausgestaltung die Überzeugungen des betreffenden Staates zum Ausdruck. Exemplarisch für die Bundesrepublik Deutschland lassen sich insoweit die in § 5 und § 6 StGB aufgelisteten Auslandstaten anführen, für die, unabhängig vom Recht des Tatorts, deutsches Strafrecht gelten soll. Denn die gesetzgeberische Entscheidung, ein Rechtsgut weltweit durch die nationale Strafrechtsordnung schützen zu wollen, ist in aller Regel durch die in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschenden kulturellen Wertvorstellungen erheblich beeinflusst. Dementsprechend erachten andere Kulturen andere Rechtsgüter als global schutzwürdig. Sofern andere Staaten überhaupt auf eine den §§ 5, 6 StGB vergleichbare Regelung zurückgreifen, können sich die darin aufgezählten Angriffsrichtungen deshalb von dem deutschen Katalog unterscheiden.253 Ebenso wenig dürfen die amtliche Überschrift des – bedenklich weiten254 – § 6 StGB 250
StIGHE 5, 71 (89); Schweitzer, Staatsrecht III, Rdn. 7 f. BayObLG NJW 1998, 392 (393); Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 18; Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 12; Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 8; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 121; Derksen, NJW 1997, 1878 (1880); Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (660); Martin, ZRP 1992, 19 (22). 252 Siehe oben Teil 1 Kap. 1 III. 3. b). 253 Das Schweizerische Strafgesetzbuch beschränkt sich beispielsweise auf Straftaten gegen den Staat und die Landesverteidigung (Art. 4 Abs. 1 SchwStGB) sowie gegen Minderjährige, sofern sich der Täter in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird (Art. 5 Abs. 1 SchwStGB). Ähnlich umfassend wie §§ 5, 6 StGB zeigt sich aber der österreichische Katalog von der nationalen Strafgewalt unterstehenden Auslandstaten in § 64 öStGB. 254 Zu Recht kritisch Ambos, MünchKomm-StGB, § 6 Rdn. 3; Werle/Jeßberger, LK, § 3 Rdn. 25; Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 99; Hilgendorf, in: Raum und 251
Kap. 6: Strafanwendungsrecht
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(„Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter“) sowie der in diesem Zusammenhang gebrauchte Begriff des Weltrechtsgrundsatzes255 den Eindruck erwecken, dass jede Kultur weltweit die hier genannten Rechtsgüter als unbedingt schützenswert beurteilt. Der Verweis auf die §§ 5, 6 StGB steht gleichwohl der Unabhängigkeit des Strafanwendungsrechts von kulturellen Wertvorstellungen nicht entgegen. Die besagten Vorschriften bezwecken nämlich gerade eine Ausdehnung der nationalen Strafgewalt „unabhängig vom Recht des Tatorts“ und dienen dadurch dem Schutz inländischer bzw. internationaler Interessen. Für das hier betonte und zunehmend in den Blickpunkt geratende Anliegen, staatliche Hoheitsbereiche gegenseitig abzustecken und zu begrenzen, bleibt die kulturelle Prägung der Kataloge der §§ 5, 6 StGB daher unerheblich. Auch ein Blick auf die Prinzipien des Strafanwendungsrechts zeigt die grundsätzliche Bedeutungslosigkeit heimatlicher Anschauungen für die Reichweite der nationalen Strafrechtsordnung. So knüpft das in § 3 StGB niedergelegte Territorialitätsprinzip256, wonach – entsprechend dem völkerrechtlichen Grundsatz der Souveränität und Gleichheit aller Staaten257 – das deutsche Strafrecht nur für auf eigenem Staatsgebiet begangene Taten gilt, an den Inlandsbegriff an. Maßgeblich ist hierfür nach funktionellem Verständnis die intakte Ordnungsfunktion der Staatsgewalt.258 Des Weiteren verweist das in § 9 StGB kodifizierte Ubiquitätsprinzip259, das den Begehungsort einer Tat konkretisiert, auf den Ort der Handlung bzw. den Ort des Erfolgseintritts und damit gleichfalls auf von kulturellen Vorstellungen nicht beeinflusste Merkmale. Die inländischen Strafvorschriften beanspruchen daher im Wesentlichen unabhängig davon Geltung, ob andere Kulturen das jeweils geschützte Rechtsgut gleichfalls als schutzwürdig ansehen. Das Strafanwendungsrecht erweist sich inRecht, S. 333 (348); vgl. auch Th. Weigend, in: Festschrift Eser, S. 955 (966 ff.); ausführlich zu den einzelnen Katalogdelikten des § 6 StGB mit zum Teil gegenläufigen Ergebnissen Wang, Der universale Strafanspruch des nationalen Staates, S. 127 ff.; Wilhelmi, Das Weltrechtsprinzip im internationalen Privat- und Strafrecht, S. 114 ff. 255 Zur Genese des Weltrechtsgrundsatzes in Deutschland Hilgendorf, in: Raum und Recht, S. 333 (350 ff.); zur völkerrechtlichen Legitimation Ambos, MünchKommStGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 47 ff.; Th. Weigend, in: Festschrift Eser, S. 955 (962 ff.); zur Diskussion um das Weltrechtsprinzip auf dem XVIII. Internationalen Strafrechtskongress der Association Internationale de Droit Pénal 2009 Petrig, ZStW 122 (2010), 59. 256 Zur Begründung Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 125, ausführlich Rdn. 152 ff. 257 Germann, SchwZStrR 69 (1954), 237 (237). 258 BGHSt 30, 1 (4); 32, 293 (297); Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 47; Fischer, Vor §§ 3–7 Rdn. 12; Lackner/Kühl, Vor §§ 3–7 Rdn. 4; Werle/Jeßberger, LK, § 3 Rdn. 20; Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 14; Kindhäuser, AT, § 4 Rdn. 11. 259 Zum Hintergrund Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 246 ff.; Satzger, NStZ 1998, 112 (113).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
sofern als kulturunabhängig. Ebenso wenig gestattet es die Anknüpfung des § 7 StGB an die Staatsangehörigkeit des Opfers bzw. des Täters, kulturelle Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Die Nationalität von Opfer und Täter stellt vielmehr ein formales und von kulturellen Differenzen losgelöstes Kriterium dar, selbst wenn damit häufig unterschiedliche Ansichten über die strafrechtliche Relevanz einzelner Interessen und Rechtsgüter einhergehen. Eine mittelbare Beachtung anderer Anschauungen erfolgt allerdings über den Verweis des § 7 StGB auf das Recht des Tatorts (lex loci). Danach setzt die Anwendung deutschen Strafrechts auf die dort bezeichneten Auslandstaten die Strafbarkeit des Verhaltens am Tatort voraus, worin in der Regel das jeweilige gesellschaftliche Wertegefüge und kulturelle Selbstverständnis zum Ausdruck kommen. Eben dieser Verweis auf die lex loci beinhaltet das grundlegende Problem des Strafanwendungsrechts in einer Zeit, in der sich grenzüberschreitende Sachverhalte rapide häufen und damit kulturelle Kontroversen in Zahl und Intensität zunehmen. Faktisch bleibt das Strafanwendungsrecht trotz seiner eigentlichen Unabhängigkeit von kulturellen Anschauungen dazu berufen, solche internationalen kulturellen Konflikte zu lösen. Es ist daher fraglich, ob und inwieweit hier das Strafanwendungsrecht eine angemessene Regelung bereithält, welche die kulturellen Unterschiede zwischen den beteiligten Staaten in sinnvoller Weise zu beachten vermag. Die Möglichkeit einer solchen „Kulturalisierung des Strafanwendungsrechts“ bildet den Gegenstand der folgenden Ausführungen.
2. Rechtliche Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte a) Distanzdelikte Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor allem dann vor, wenn der Täter auf dem Territorium des einen Staates handelt, sich sein Verhalten jedoch (ebenso) auf das Gebiet eines anderen Staates auswirkt. Eine solche Konstellation, in der Handlungs- und Erfolgsort im Sinne des § 9 StGB auseinanderfallen, erscheint nicht erst im heutigen Zeitalter denkbar. Schon vor Jahrtausenden hätte sich ein Fall zutragen können, in dem sich Grenzposten jeweils von ihrem eigenen Territorium aus gegenseitig beleidigen oder mit Fernwaffen bekriegen bzw. ein mittelbarer Täter über einen unwissenden Boten einen vergifteten kulinarischen Gruß an einen Adressaten in einem anderen Staat überbringen lässt. Freilich haben die Errungenschaften des technischen Fortschritts die Anzahl denkbarer Varianten grenzüberschreitenden Handelns deutlich vergrößert. Insbesondere trägt die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie zu weltweiten Kontakten bei. Sie gestattet zum einen die jederzeitige staatenübergreifende Begehung von Äußerungsdelikten beliebiger Art, zum anderen neue kriminelle Angriffsformen, beispielsweise das Hacken einer auf einem ausländischen Server gespeicherten Webseite, um deren Daten zu löschen oder zu verändern.
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Bei solchen Distanzdelikten, die durch ein Auseinanderfallen von Handlungsund Erfolgsort gekennzeichnet sind, findet das deutsche Strafrecht unabhängig davon Anwendung, ob allein der Handlungsort (§ 9 Abs. 1 Var. 1 StGB) oder ausschließlich der Erfolgsort (§ 9 Abs. 1 Var. 3 StGB) im Inland liegt.260 Diese Regelung lässt sich mit der umfänglichen Gebietshoheit jedes Staates erklären, die sich auf alle Menschen und Sachen im Staatsgebiet erstreckt und somit sämtliche dortigen Geschehnisse und Vorgänge erfasst. Die Gewalt eines Staates wird daher nicht nur dann berührt, wenn eine Handlung auf seinem Territorium vorgenommen wird, sondern auch dann, wenn ein menschliches Verhalten dort Folgen auslöst (sogenannter Auswirkungsgrundsatz).261 Der für die Anwendung deutschen Strafrechts notwendige und von § 3 StGB geforderte Inlandsbezug ist also stets gegeben, wenn die Bundesrepublik den Staat der Handlung des Täters (im Folgenden Handlungsstaat) oder den Staat der dadurch hervorgerufenen Auswirkungen (im Folgenden Erfolgsstaat) darstellt. Enthält das Strafanwendungsrecht des anderen Staates, der von einem grenzüberschreitenden Verhalten betroffen wird, eine dem § 9 Abs. 1 StGB vergleichbare Regelung (vgl. beispielsweise Art. 8 Abs. 1 SchwStGB sowie § 67 Abs. 2 öStGB), können Distanzdelikte im Handlungs- sowie im Erfolgsstaat strafrechtlich belangt werden. Aufgrund dieser Doppelzuständigkeit sieht sich der Täter also unter Umständen einer zweifachen Strafverfolgung ausgesetzt. Das deutsche Strafanwendungsrecht normiert die daraus folgenden Probleme nicht,262 weder durch einen von vornherein erklärten Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch noch durch die Anrechnung einer im Ausland für die jeweilige Tat verhängten und vollzogenen Strafe (siehe z. B. Art. 3 Abs. 2 SchwStGB und § 66 öStGB). Stattdessen begnügen sich die §§ 3 ff. StGB damit, die Reichweite des deutschen Strafrechts einseitig und unabhängig von der Anwendbarkeit anderer nationaler Strafrechtsordnungen zu bestimmen.263 Bisherige Versuche, doppelte Kompetenzen zu vermeiden bzw. eine doppelte Strafverfolgung des Täters zu verhindern,
260 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 3; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 55; Kindhäuser, AT, § 4 Rdn. 8; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 18; Werle/Jeßberger, JuS 2001, 35 (39). 261 Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 28 ff.; Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 16; Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 6; Habscheid/Seidl-Hohenveldern, Artikel „Gebietshoheit“, in: Lexikon des Rechts. Völkerrecht, S. 131 (133); Hobe, Einführung in das Völkerrecht, S. 96; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rdn. 611 ff.; vgl. ferner Lackner/Kühl, § 9 Rdn. 1; enger Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 223; einschränkend bei Fahrlässigkeitstaten Kunig/Uerpmann, Jura 1994, 186 (193): Abhängigkeit von dem Recht des Erfolgsortes. 262 Kritisch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 3 Rdn. 5. 263 Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 5; Fischer, Vor §§ 3–7 Rdn. 1; Lackner/ Kühl, Vor §§ 3–7 Rdn. 1; Kindhäuser, AT, § 4 Rdn. 10. Vgl. hierzu Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 2; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 3 Rdn. 4; ders., NStZ 1998, 112 (112); Werle/Jeßberger, JuS 2001, 35 (36).
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bleiben deshalb internationalen Abkommen vorbehalten.264 Allerdings betont das Schrifttum zunehmend das sogenannte Kompetenzverteilungsprinzip. Danach hat das Strafanwendungsrecht aus Gründen der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit ebenfalls zur Aufgabe, bei grenzüberschreitenden Taten die zuständige unter mehreren konkurrierenden Strafgewalten zu bestimmen, um von vornherein Doppelbestrafungen zu verhindern.265 b) Multiterritoriale Delikte Die Problematik der doppelten Zuständigkeit bzw. der doppelten Strafverfolgung bei Distanzdelikten verschärft sich vor dem Hintergrund der gestiegenen Internationalität und Globalität sowie der rasanten Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften sind inzwischen an internationalen Flughäfen oder in touristisch stark erschlossenen Gebieten erhältlich, so dass darin veröffentlichte Artikel in mehreren Staaten gelesen werden. Gleiches gilt für Ton- und Bildberichte im Rundfunk, die über Satellit und Internet in einer Vielzahl von Staaten ausgestrahlt werden; Live-Übertragungen von auf internationales Interesse stoßenden Veranstaltungen (z. B. sportliche Ereignisse wie Fußballweltmeisterschaften und Olympische Spiele, Unterhaltungsshows wie die alljährliche Oscarverleihung oder politische Großereignisse wie die US-amerikanische Präsidentschaftswahl) nehmen gegebenenfalls sogar hunderte Millionen Zuschauer wahr. Webseiten im Internet schließlich sind – im Regelfall ihrer freien Zugänglichkeit – grundsätzlich weltweit abrufbar. Die zunehmende Bedeutung der Medien und Massenkommunikationsmittel, vor allem die zahlreichen Gelegenheiten, die das Internet zur weltweiten Kontaktaufnahme und zum gegenseitigen Austausch von Nachrichten bietet, lassen Fallgestaltungen zum Alltag werden, in denen der Täter mit einer einzigen Handlung einen Erfolgseintritt nicht nur in einem, sondern in einer Vielzahl fremder Staaten bewirkt und dadurch mehrere nationale Strafrechtsordnungen zugleich berührt. Solche Taten, die neben ihrem Handlungsstaat mehrere (andere) Erfolgsstaaten aufweisen, werden im Folgenden als multiterritoriale Delikte bezeichnet.266 264 Vgl. etwa auf europäischer Ebene die „ne bis in idem“-Regelungen in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) vom 14. 6. 1985 (BGBl. 1993 II, S. 1010) sowie in Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. 11. 1984 (SEV Nr. 117). 265 Fischer, Vor §§ 3–7 Rdn. 3; Lackner/Kühl, Vor §§ 3–7 Rdn. 2; Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 255; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 684; Rengier, AT, § 6 Rdn. 28; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 4 Rdn. 17; kritisch hingegen Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 61; ders., Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 128. 266 Zum Begriff bereits Valerius, Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht, S. 217 (224 ff.).
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Da multiterritoriale Delikte lediglich eine Unterform der Distanzdelikte bilden, sind die Grundsätze für deren rechtliche Behandlung heranzuziehen. Demzufolge ist, wiederum in allen beteiligten Staaten eine vergleichbare Regelung wie in § 9 Abs. 1 StGB unterstellt, bei multiterritorialen Delikten das nationale Strafrecht sowohl des Handlungsstaates als auch jedes Erfolgsstaates anwendbar. Anstatt der Doppelzuständigkeit bei Distanzdelikten wird dadurch eine Mehrfachzuständigkeit der beteiligten Staaten begründet, womit die Möglichkeit einer mehrfachen Strafverfolgung des Täters korrespondiert. Exemplarisch lässt sich diese nicht unbedenkliche Ausgangssituation anhand von Äußerungen auf einer frei zugänglichen Webseite verdeutlichen. Hier liegt es nahe, einen Erfolgsort in jedem Staat anzunehmen, in dem die fraglichen Inhalte abrufbar sind. Dies könnte dazu führen, dass sich der Urheber des Beitrags in zahlreichen Staaten strafbar macht. Da das Strafanwendungsrecht die Wertungen anderer Rechtsordnungen an sich nicht berücksichtigt, gilt dies unabhängig von der strafrechtlichen Lage in anderen Staaten bzw. vor allem in dem Handlungsstaat selbst. Ziehen bereits bei Distanzdelikten kulturelle Unterschiede zwischen Handlungs- und Erfolgsstaat eine unterschiedliche Beurteilung der Strafwürdigkeit des grenzüberschreitenden Verhaltens nach sich, so potenzieren sich bei multiterritorialen Delikten die etwaigen kulturbedingten Kollisionen um ein Vielfaches. Ob in diesem Fall eine uneingeschränkte Anwendung der Grundsätze des Strafanwendungsrechts noch erstrebenswert erscheint, bedarf der näheren Untersuchung (siehe dazu III.). Die sogenannten Inhaltsdelikte, bei denen die Verbreitung des Gegenstandes einer Äußerung per se, also unabhängig von dem hierzu verwendeten Medium, als strafbar erachtet wird,267 begründen ein weiteres Problem für das Strafanwendungsrecht. Wie die Beispiele der Verbreitung pornographischer Schriften (§§ 184 ff. StGB) und der Volksverhetzung (§ 130 StGB) zeigen, sind Äußerungsdelikte oft als abstrakte bzw. abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte ausgestaltet. Abstrakte Gefährdungsdelikte erschöpfen sich in der Regel in der Vornahme einer gesetzlich untersagten Tathandlung, z. B. der Verbreitung einer näher bestimmten Schrift, ohne die Verwirklichung eines tatbestandlichen Erfolgs vorauszusetzen. Es ist daher fraglich, ob eine solche Straftat überhaupt einen „zum Tatbestand gehörende[n] Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB aufweist (vgl. dazu II.). c) Grenzüberschreitende Beteiligung an einer Straftat Neben der Informations- und Kommunikationstechnologie führt auch die gestiegene Mobilität der Menschen, die auf zunehmend erschwinglichen Reise- und 267
Vgl. Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Rdn. 231.
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Fortbewegungsmöglichkeiten sowie wachsendem Interesse an fremden Ländern und Kulturen beruht, zu einer Internationalisierung des Alltags, sei es in privater oder in beruflicher Hinsicht. Insbesondere in der wissenschaftlichen Forschung weist mittlerweile nahezu jeder Fachbereich vermehrt grenzüberschreitende Bezüge auf. Diese Entwicklung wird durch die Vergaberichtlinien für Fördergelder, Drittmittel oder Stipendien unterstützt, die in der Regel eine internationale Komponente des geplanten Projekts voraussetzen oder zumindest als wünschenswert deklarieren. Mit der steigenden Zahl internationaler Kontakte häufen sich die Berührungspunkte mit den Rechtsordnungen anderer Staaten. Dadurch erhöht sich für den Einzelnen die Gefahr, ausländische Strafgesetze zu verletzen. Diese Strafbarkeitsrisiken sind vor allem dann nicht unerheblich, wenn zwischen den beteiligten Staaten große kulturelle Unterschiede existieren, die sich in einer abweichenden strafrechtlichen Bewertung einzelner Verhaltensweisen niederschlagen. Solche Differenzen offenbaren sich unter anderem in Forschungsgebieten, die Geheimnisse der Natur oder des Universums zu ergründen suchen, für deren Erklärung bislang zumeist metaphysische Argumente herangezogen wurden. Gleiches gilt für wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit den Grundlagen und der Entwicklung menschlichen Lebens beschäftigen. In den Augen religiöser Personen maßen sich solche Experimente häufig eine schöpferische Stellung an, die dem Menschen vorenthalten sei. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass selbst Staaten ein und desselben Kulturkreises die Strafwürdigkeit neuer Forschungsvorhaben vornehmlich in der Biomedizin (z. B. in der Genetik oder bei embryonalen Stammzellen) äußerst unterschiedlich beurteilen. Probleme in strafrechtlicher Hinsicht entstehen insbesondere bei internationalen Forschungsprojekten, in die Personen aus mehreren Staaten mit unterschiedlichen Strafvorschriften involviert sind. Insoweit bleibt zunächst auf die in § 9 StGB niedergelegten Grundsätze zur Tatortbestimmung zurückzugreifen. Demnach ist auf das Verhalten des Täters deutsches Strafrecht bereits dann anwendbar, wenn nur der Handlungs- (Abs. 1 Var. 1) oder der Erfolgsort (Abs. 1 Var. 3) im Inland liegt. Nicht erfasst werden hingegen – vorbehaltlich der Regelungen der §§ 5, 6 StGB – reine Auslandstaten, bei denen jemand im Ausland eine Tat begeht, deren Erfolg ausschließlich im Ausland eintritt. Dies betrifft beispielsweise einen Wissenschaftler, der ein akademisches Projekt im Ausland mit der Unterstützung dort ansässiger Kollegen betreibt. Anders soll indes die Situation zu bewerten sein, wenn der Forscher im Ausland auf die Hilfe eines Wissenschaftlers im Inland zurückgreift. Gestaltet sich dessen Beteiligung als derart zentral, dass er – eine Strafbarkeit des Forschungsvorhabens hierzulande vorausgesetzt – als Mittäter einer solchen Tat anzusehen wäre, führt die gemeinschaftliche Vorgehensweise nach herrschender Meinung zu einer gegenseitigen Zurechnung der Tatbeiträge sowie der Handlungsorte.
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Demnach handelt jeder Mittäter im Inland, sobald lediglich einer von ihnen dort tätig wird.268 Für den im Ausland arbeitenden Wissenschaftler bedeutet dies letztlich, sich allein durch die Kooperation mit einem Forscher in Deutschland nach deutschem Strafrecht verantworten zu müssen. Ebenso problematisch erweist sich die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf den Teilnehmer an einem internationalen Projekt. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB befindet sich der Begehungsort der Teilnahme nicht nur am Begehungsort der Tat (Var. 1), sondern darüber hinaus unter anderem an dem Ort, an dem der Teilnehmer selbst gehandelt hat (Var. 2). Demzufolge macht sich bei grenzüberschreitenden Sachverhalten jemand sowohl durch die Teilnahme im Ausland an einer Inlandstat als auch durch die Teilnahme im Inland an einer reinen Auslandstat nach hiesigem Recht strafbar. Ob in der letztgenannten Konstellation die Haupttat am Tatort mit Strafe bedroht wird, bleibt nach der Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB ausdrücklich unerheblich. Den Maßstab für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bildet demnach allein die inländische Beurteilung über die Strafwürdigkeit der im Ausland begangenen „Haupttat“. Infolge der einzelnen Bestimmungen des § 9 StGB sowie der von der herrschenden Meinung befürworteten wechselseitigen Zurechnung der Handlungsorte bei Mittätern ist das deutsche Strafrecht auf zahlreiche grenzüberschreitende Fallgestaltungen anwendbar. Dies führt exemplarisch bei internationalen Gemeinschaftsprojekten zu erheblichen Strafbarkeitsrisiken, und zwar unabhängig davon, ob die Beteiligten im In- oder Ausland tätig werden und ob die Rechtsordnung des ausländischen Staates das wissenschaftliche Vorhaben als strafwürdig erachtet oder für unbedenklich hält.269 Zumindest in jenem Fall dürfte diskussionswürdig sein, inwieweit eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs deutschen Strafrechts im Hinblick auf die zunehmende Internationalisierung des Alltags noch angebracht erscheint bzw. welchen Inlandsbezug ein grenzüberschreitender Sachverhalt aufweisen muss, um die Anwendung inländischen Strafrechts völkerrechtlich zu legitimieren (vgl. dazu IV.).
268 RGSt 11, 20 (23); 13, 337 (339); 57, 144 (145); 75, 385 (386); BGHSt 39, 88 (91); BGH NJW 1991, 2498 (2498); NJW 2002, 3486 (3487); NStZ-RR 2009, 197; KG NJW 1991, 2501 (2502); OLG Karlsruhe NStZ-RR 1998, 314; Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 10; Böse, NK, § 9 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4 und 10; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 7; Lackner/Kühl, § 9 Rdn. 2; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 13; Rengier, AT, § 6 Rdn. 10; Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 36 f.; Hombrecher, JA 2010, 637 (639); Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (411 f.); Rath, JA 2007, 26 (27); Satzger, Jura 2010, 108 (114); a. A. Hoyer, SK-StGB, § 9 Rdn. 5; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 361; Heinrich, in: Festschrift Weber, S. 91 (107). 269 Siehe für die Forschung an embryonalen Stammzellen Valerius, NStZ 2008, 121.
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II. Begehungsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten 1. Problemstellung Die Straftatbestände des Besonderen Teils werden gewöhnlich in verschiedene Kategorien eingeteilt. Unter anderem wird dabei zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten differenziert. Während Verletzungsdelikte eine Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts erfordern, genügt bei den Gefährdungsdelikten bereits die Bedrohung der Integrität des Handlungsobjektes. Je nach der vorausgesetzten Intensität der Gefahr erfolgt dabei eine weitere Untergliederung in konkrete und abstrakte Gefährdungsdelikte. Muss sich das geschützte Rechtsgut im Einzelfall jeweils tatsächlich in Gefahr befinden, liegt ein konkretes Gefährdungsdelikt vor. Bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt hingegen gereicht schon das typischerweise mit einer bestimmten Handlungsweise verbundene Risiko zum Anlass für deren Strafbarkeit; der Eintritt einer konkreten Gefahr erweist sich daher als entbehrlich.270 Des Weiteren wird zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten unterschieden. Tätigkeitsdelikte erschöpfen sich in der Vornahme einer mit Strafe sanktionierten Handlung, unabhängig von etwaigen Folgen für die Außenwelt. Die Verwirklichung von Erfolgsdelikten setzt dagegen den Eintritt normierter, von der Tathandlung räumlich-zeitlich abtrennbarer Auswirkungen voraus.271 Nach allgemeinem Verständnis bleiben lediglich die Verletzungs- und die konkreten Gefährdungsdelikte den Erfolgsdelikten zuzurechnen. Anderes gilt für die abstrakten Gefährdungsdelikte, da mit der von ihnen sanktionierten Tätigkeit nicht notwendigerweise die Verletzung oder Gefährdung des geschützten Rechtsguts einhergeht und das Handeln des Täters keine tatbestandlich erfassten Folgen nach sich ziehen muss.272 Da abstrakte Gefährdungsdelikte demnach keine Erfolgsdelikte sind, erscheint fraglich, ob sie einen „zum Tatbestand gehörende[n] Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB und damit einen Erfolgsort aufweisen. Die herrschende Auffassung im Schrifttum verneint dies, so dass abstrakte Gefährdungsdelikte allein an dem Ort ihrer Handlung (§ 9 Abs. 1 Var. 1 StGB) begangen werden.273 270 Statt vieler Fischer, Vor § 13 Rdn. 19; Kindhäuser, AT, § 8 Rdn. 22; Roxin, AT I, § 10 Rdn. 123 f.; Wessels/Beulke, Rdn. 29. 271 Fischer, Vor § 13 Rdn. 18; Roxin, AT I, § 10 Rdn. 102 f.; Wessels/Beulke, Rdn. 23. 272 Fischer, Vor § 13 Rdn. 19; Heuchemer, BeckOK-StGB, § 13 Rdn. 10; Lackner/ Kühl, Vor § 13 Rdn. 32; Rengier, AT, § 10 Rdn. 11; H. Ostendorf, JuS 1982, 426 (429); a. A. Dannecker, NStZ 1985, 49 (55): abstrakte Gefährdungsdelikte als Erfolgsdelikte; Koriath, GA 2001, 51 (60) sieht dagegen schon die konkreten Gefährdungsdelikte nicht als Erfolgsdelikte an. 273 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 6; Lackner/Kühl, § 9 Rdn. 2; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 257; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 25; Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 46 f.; Körber,
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Wie bereits aufgezeigt, sind abstrakte Gefährdungsdelikte häufig unter den Inhaltsdelikten anzutreffen, die bei dem Rückgriff auf moderne Kommunikationsmittel wie das Internet zudem zumeist als multiterritoriale Delikte in Erscheinung treten. Hier mit der herrschenden Ansicht einen Erfolgsort generell abzulehnen, führte an sich zur fehlenden Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts, wenn die Äußerungen im Ausland erfolgen, und zwar unabhängig von ihrer Wahrnehmbarkeit im Inland. Dies beträfe nicht zuletzt die Verbreitung rechtsradikaler Inhalte auf Webseiten im Internet, da insbesondere die Straftatbestände des § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) sowie des § 130 StGB (Volksverhetzung) abstrakte bzw. abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte darstellen. Eine nahe liegende Reaktion von Anhängern extremistischen Gedankenguts bestünde daher darin, Webseiten mit entsprechenden Inhalten vom Ausland aus zu betreiben, um sich der inländischen Strafjustiz zu entziehen, nach wie vor aber Gleichgesinnte im Inland zu erreichen. Um solche und ähnliche Folgen zu vermeiden, versuchen Rechtsprechung und Literatur zunehmend, den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts auszuweiten. Da dessen Eröffnung einen inländischen Begehungsort voraussetzt, werden im Wesentlichen zwei Wege beschritten: einerseits eine extensive Auslegung des Handlungsortes (dazu 2.), andererseits die Abkehr von der verbreiteten Auffassung, wonach abstrakte Gefährdungsdelikte keinen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB aufweisen (dazu 3.). 2. Extensive Auslegung des Handlungsortes a) Ansatz aus der Rechtsprechung: Urteil des KG vom 16. März 1999 Eine weite Interpretation des Handlungsortes schlug unter anderem das Kammergericht Berlin vor. Mit Urteil vom 16. März 1999274 hatte es über die strafrechtliche Würdigung von Ereignissen zu befinden, die sich während eines Länderspiels der Herren-Fußballnationalmannschaften Polens und Deutschlands am 4. September 1996 in Zabrze (Polen) zutrugen. Vor und während des Spiels kam es im Stadion in einem Block von etwa 500 deutschen Zuschauern zu AusschreiRechtsradikale Propaganda im Internet, S. 148; Barton/Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (322); Breuer, MMR 1998, 141 (142); Clauß, MMR 2001, 232 (232); Cornils, JZ 1999, 394 (395); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (76 f.); Endemann, NJW 1966, 2381 (2383); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875, 1876); ders., ZStW 113 (2001), 650 (662 f.); Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248); Koch, JuS 2002, 123 (125); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (654); Ringel, CR 1997, 302 (303); Roggan, KJ 2001, 337 (339); Satzger, NStZ 1998, 112 (115); ders., Jura 2010, 108 (113); Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (310); Sieber, NJW 1999, 2065 (2068); Werle/Jeßberger, JuS 2001, 35 (39). Ebenso zu Tätigkeitsdelikten KG NJW 2006, 3016 (3017); OLG Köln NStZ 2000, 39 (40); OLG Stuttgart NStZ 2004, 402 (403). 274 KG NJW 1999, 3500.
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tungen und Entgleisungen. Unter anderem erhoben mehrere Personen vor Beginn der Partie beim Abspielen der deutschen Nationalhymne den ausgestreckten rechten Arm zum Hitlergruß und entrollten in Richtung Spielfeld ein zwei auf drei Meter großes Plakat mit der Aufschrift in deutscher Sprache „SchindlerJuden wir grüßen euch“. Nach dem Anpfiff skandierten Zuschauer aus diesem Block Parolen wie „Wir sind in Polen, um Juden zu versohlen“ und „Wir sind wieder einmarschiert“, griffen polnische Fußballanhänger verbal und körperlich an und schossen gezielt mit Signalmunition in andere Zuschauerblöcke.275 Die Szenen wurden von der anwesenden Sendeanstalt live im deutschen Fernsehen übertragen und waren auch in späteren Nachrichtensendungen sowie in Einblendungen bei Interviews zu sehen. Das Strafverfahren vor dem Kammergericht Berlin richtete sich gegen zwei Angeklagte, die überführt werden konnten, den Hitlergruß zu Beginn des Spiels gezeigt zu haben. Während das Amtsgericht Tiergarten die beiden Angeklagten in erster Instanz noch freisprach, schloss das Kammergericht Berlin auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin eine Strafbarkeit wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht aus. Das erstinstanzliche Urteil wurde daher mit seinen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen. Unproblematisch verwirklicht das geschilderte Verhalten jedenfalls den objektiven Tatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Hitlergruß ist als Grußform schon gemäß der Legaldefinition des § 86a Abs. 2 Satz 1 StGB ein Kennzeichen im Sinne der Vorschrift, das sich wegen seines alltäglichen und verbindlich vorgeschriebenen Gebrauchs im Dritten Reich und seines Ursprungs in den nationalsozialistischen Kreisen einer Organisation im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB zuordnen lässt. Indem sie den Gruß vor laufenden Fernsehkameras zeigten, verwendeten die beiden Angeklagten das Kennzeichen öffentlich, d. h. sie ermöglichten einem in Zahl und Zusammensetzung unbestimmten Personenkreis276 dessen (akustische bzw. – wie hier – optische) Wahrnehmung.277 Dass erst die 275 Die Vorfälle lösten große Besorgnis in Politik und Gesellschaft aus. Der Bundestag beschäftigte sich mit den Ereignissen im Rahmen einer Fragestunde am 25. 9. 1996 (Fragen unter BT-Drucks. 13/5565, S. 6, Antworten unter BT-Prot. 13/124, S. 11138 ff. und 11174 f.). Bundeskanzler Helmut Kohl und der Bundesminister des Auswärtigen Klaus Kinkel entschuldigten sich für das Verhalten der angereisten Hooligans beim polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwas´niewski. 276 BayObLG NStZ-RR 2003, 233 (233); OLG Frankfurt am Main NStZ 1999, 356 (357); Fischer, § 86a Rdn. 15; Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 19; Steinmetz, MünchKomm-StGB, § 86a Rdn. 20. 277 BGHSt 23, 267 (269); KG NJW 1999, 3500 (3502); OLG Frankfurt am Main NStZ 1999, 356 (357); Ellbogen, BeckOK-StGB, § 86a Rdn. 7; Fischer, § 86a Rdn. 14; Lackner/Kühl, § 86a Rdn. 4; Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 13; Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 13; Steinmetz, MünchKomm-StGB, § 86a Rdn. 17.
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Übertragung in den Medien den notwendigen Öffentlichkeitsbezug begründete, bleibt ohne Belang, da das Merkmal keinen direkten Kontakt zwischen Täter und Zielgruppe erfordert.278 Die öffentliche Verwendung erfolgte schließlich im Inland im Sinne des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, weil das Geschehen von der anwesenden Fernsehanstalt nach Deutschland gesendet wurde und dort dadurch wahrnehmbar war.279 Erste Schwierigkeiten bereitet hingegen der Vorsatz in Bezug auf die Verwendung des Hitlergrußes „im Inland“. Das Amtsgericht Tiergarten hielt in erster Instanz den erforderlichen, zumindest bedingten Vorsatz der Angeklagten für nicht nachweisbar. Unter anderem führte es aus, die Übertragung derart auffälliger und provokanter Gesten durch die anwesende deutsche Rundfunkanstalt sei zwar nicht unwahrscheinlich. Es bedürfe allerdings zusätzlicher Indizien, um zu beurteilen, ob sich die Angeklagten der Ausstrahlung ihres Verhaltens in Deutschland bewusst waren.280 Das Kammergericht Berlin akzeptierte diesen Ausgangspunkt im Wesentlichen, widersprach der Beweiswürdigung indessen insoweit, als sich der notwendige Vorsatz der beiden Angeklagten aus den konkreten Umständen der Tat ergebe. Zum einen befanden sich die Angeklagten in einem Zuschauerblock, der insgesamt ein auffälliges Verhalten an den Tag legte, sei es durch das Skandieren rechtsradikaler Parolen, den Hitlergruß oder das in Richtung Spielfeld ausgerollte Transparent. Zudem geschahen diese Ereignisse während des Abspielens der deutschen Nationalhymne und somit zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Fernsehkameras noch nicht auf die Fußballpartie als den eigentlichen Grund der Live-Übertragung konzentrierten.281 Den Schwerpunkt der Entscheidung bildeten sodann die Ausführungen zum Strafanwendungsrecht. Beide Instanzen waren sich noch darüber einig, dass das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 86a StGB282 keinen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB aufweise.283 Während das Amtsgericht Tiergarten demzufolge die Anwendbarkeit der Strafvorschrift aber ablehnte, schloss das Kammergericht Berlin trotz des Aufenthalts der Angeklagten im polnischen Staatsgebiet einen inländischen Handlungsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB nicht aus. Es verwies dabei zunächst auf die verbreitete Definition der Handlung in diesem Sinne, die tatbestandsbezogen als eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tä-
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Vgl. Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 13. Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 24. Vgl. zum Inlandsmerkmal auch KG NJW 1999, 3500 (3501). 280 Vgl. KG NJW 1999, 3500 (3500). 281 KG NJW 1999, 3500 (3501). 282 OLG München NStZ 2007, 97 (97); Fischer, § 86a Rdn. 2; Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 2; Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 2; Steinmetz, MünchKomm-StGB, § 86a Rdn. 2; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 86a Rdn. 1. 283 KG NJW 1999, 3500 (3501 und 3502). 279
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
tigkeit zu verstehen sei.284 Daraus folgerte das Kammergericht, für die Begründung eines Tatorts im Inland genüge bereits die lediglich teilweise Verwirklichung des jeweiligen Straftatbestandes, so etwa der Eintritt von Wirkungen, die als Bestandteil der tatbestandlichen Handlungsbeschreibung betrachtet werden müssten.285 Demnach sei das Verwenden im Sinne des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht auf den wahrnehmbaren Gebrauch des jeweiligen Kennzeichens (hier das Zeigen des Hitlergrußes) beschränkt. Vielmehr beziehe das Verwenden als Kundgabehandlung den Bereich mit ein, in dem das Kennzeichen wahrgenommen werden könne. Der Handlungsort beschränke sich demzufolge nicht nur auf den Standort des Handelnden, sondern erfasse zudem den Ort der akustischen bzw. optischen Wahrnehmbarkeit. Daher liege beispielsweise der Handlungsort auch im Inland, wenn im Grenzbereich von ausländischer Seite aus Parolen gerufen werden, die im Inland vernehmbar sind.286 Die Nutzung moderner Übertragungstechniken, die eine Wahrnehmung über große Entfernungen hinweg gestatten, erweitere demzufolge den Wirkungsbereich von Kundgabehandlungen und somit den Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB. Greife ein im Ausland befindlicher Täter auf eine Rundfunk- oder Fernsehübertragung zurück, um die Wahrnehmung eines Kennzeichens im Sinne des § 86a StGB im Inland zu ermöglichen, sei demzufolge ein inländischer Handlungsort gegeben.287 Schließlich müsse unterschieden werden, ob der Täter eine eigens für seine Zwecke hergestellte mediale Verbindung nutze oder die Übertragung an sich anderen Zielen wie der Berichterstattung diene. Im letztgenannten Fall bestimme sich die Reichweite der Tathandlung nach den Modalitäten medialer Verwertung. Dazu zähle außer einer Live-Sendung über das betreffende Ereignis ebenso dessen Einspielung in Interviews, Kommentaren oder Nachrichten. Solche zeitversetzten Verbreitungsformen könnten die Täter gleichermaßen für ihre Zwecke verwenden, indem sie etwa durch ein exzessives provokantes Verhalten die mediale Aufmerksamkeit auf sich zögen.288
284 KG NJW 1999, 3500 (3502). Siehe auch BGHSt 34, 101 (106); OLG Köln NStZ 2000, 39 (40); Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 8; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4; Fischer, § 9 Rdn. 3; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 10; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 18; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 13; Cornils, JZ 1999, 394 (394); Satzger, NStZ 1998, 112 (113). 285 KG NJW 1999, 3500 (3502); ebenso Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4; ähnlich Th. Weigend, ZUM 1994, 133 (133 f.) für das Vorführen bzw. Zugänglichmachen im Sinne des § 184 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB. 286 KG NJW 1999, 3500 (3502); ebenso Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 24; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 86a Rdn. 9; a. A. Ringel, CR 1997, 302 (304). 287 KG NJW 1999, 3500 (3502); ebenso Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 24; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 86a Rdn. 9; Stegbauer, JR 2002, 112 (118). 288 KG NJW 1999, 3500 (3502).
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b) Ansätze aus der Literatur Auch Stimmen im Schrifttum befürworten, den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts über eine extensive Auslegung des Handlungsortes auszuweiten. Den Anlass zu solchen Überlegungen bilden wiederum Inhaltsdelikte im Internet. Aus der anerkannten Definition des Handlungsortes im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB, der überall liege, wo der Täter eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit vornehme,289 folgert unter anderem Cornils zunächst im Einklang mit der herrschenden Auffassung das grundlegende Erfordernis körperlicher Präsenz des Täters am Handlungsort.290 Bei Äußerungsdelikten im Internet soll jedoch zudem ein Handlungsort an dem Standort desjenigen Rechners anzunehmen sein, auf dem der Täter mittels des Internets gezielt und kontrolliert eine Datei speichert.291 Denn der Täter gebe erst mit dieser Speicherung das Geschehen aus der Hand und stelle die Daten zum nicht mehr beherrschbaren Abruf durch Dritte zur Verfügung.292 Allerdings müsse der Täter in der Lage sein, das Geschehen zu steuern. Datenübertragungen, die automatisch erfolgten (z. B. bei Zwischenspeicherung von Daten auf Proxy-Cache-Server) oder durch einen Dritten veranlasst würden (z. B. bei dem Abruf der Webseite des Täters), befänden sich außerhalb seiner Kontrolle und seines Einflusses und könnten ihm daher nicht als Handlung zugerechnet werden.293 3. Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten a) Ansatz aus der Rechtsprechung: Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 (Fall Toeben) Mit einer Kombination der vorstehenden Fallgestaltungen, d. h. mit rechtsextremistischen Inhalten, die über das Internet verbreitet werden, hatte sich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 12. Dezember 2000 zu beschäftigen.294 Angeklagt war ein australischer Staatsbürger, der 1996 in Australien mit Gleichgesinnten das „Adelaide Institute“ gründete. Auf der frei zugänglichen Webseite 289
Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 284. Cornils, JZ 1999, 394 (396); siehe ferner Ambos/Ruegenberg, MünchKommStGB, § 9 Rdn. 29; Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (244); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (652). 291 Cornils, JZ 1999, 394 (397); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (80); ebenso Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4; Eser, in: Festgabe Bundesgerichtshof, S. 3 (24). 292 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 7b. 293 Cornils, JZ 1999, 394 (397); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (80). 294 BGHSt 46, 212. Ausführlich dazu Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, Berlin 2003. 290
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des Instituts veröffentlichte er in englischer Sprache revisionistische Thesen, in denen er, gestützt auf angeblich wissenschaftliche Untersuchungen, den Holocaust an jüdischen Mitbürgern unter der Herrschaft des Nationalsozialismus leugnete.295 Das Landgericht Mannheim vermochte in erster Instanz nicht festzustellen, ob der Angeklagte die betreffenden Inhalte aktiv an Internetnutzer in Deutschland übertragen hatte. Ebenso wenig konnte nachgewiesen werden, dass – abgesehen von den ermittelnden Polizeibeamten – irgendjemand von Deutschland aus auf die Webseite des Adelaide Institute zugegriffen hatte. Das Landgericht Mannheim bewertete daher die Äußerungen des Angeklagten zwar als Beleidigung (der Überlebenden des Holocaust) in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Die ebenfalls tatbestandlich verwirklichte Volksverhetzung führte nach Auffassung des Gerichts jedoch mangels Begehungsortes der Tat im Inland nicht zu einer Verurteilung. Während sich der Handlungsort nach § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB in Australien befinde, sei eine Anknüpfung an den Erfolgsort gemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt wie der Volksverhetzung nicht möglich. Der Bundesgerichtshof war anderer Auffassung und befürwortete entgegen der ersten Instanz eine Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts. Auf die Sachrüge der Staatsanwaltschaft sprach er deshalb den Angeklagten wegen einzelner Beiträge auf der Webseite des Adelaide Institute auch wegen tateinheitlich begangener Volksverhetzung schuldig. Allerdings wurde aufgrund einer erfolgreichen Verfahrensrüge des Angeklagten das Urteil mitsamt den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Mannheim zurückverwiesen. Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs lassen sich in zwei wesentliche Abschnitte unterteilen. Zunächst erörtert er, ob eine Volksverhetzung gemäß § 130 StGB, die der Täter durch vom Ausland aus vorgenommene Veröffentlichungen auf Webseiten im Internet verwirklicht, überhaupt einen inländischen Begehungsort aufweist. Dies bejahend, untersucht der Bundesgerichtshof in einem zweiten Schritt, ob ein völkerrechtlich legitimierender Anknüpfungspunkt vorliegt, der die Anwendung deutschen Strafrechts bei volksverhetzenden Online-Publikationen rechtfertigt [siehe hierzu III. 2. a)]. Als grundlegend für die Lösung des erstgenannten Problems erweist sich das Verständnis des Straftatbestandes des § 130 StGB. Der Bundesgerichtshof ordnet die Vorschrift wegen des Passus „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“, den der Äußerungstatbestand des § 130 Abs. 1 StGB und der Leugnungstatbestand des Abs. 3 enthalten, als abstrakt-konkretes296 bzw. 295 Übersetzte Auszüge aus den Artikeln des Angeklagten bei BGHSt 46, 212 (213 f.).
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potentielles Gefährdungsdelikt ein.297 Damit befindet er sich im Einklang mit weiten Teilen der Literatur, die sich ebenso gegen eine Qualifizierung als konkretes Gefährdungsdelikt ausgesprochen haben und die Volksverhetzung als Unterform eines abstrakten Gefährdungsdeliktes ansehen.298 Die Klassifizierung führt zu der Auseinandersetzung, ob ein abstraktes Gefährdungsdelikt einen Erfolgsort hat. Entgegen der herrschenden Lehre299 schließt der Bundesgerichtshof die Möglichkeit eines Erfolgsortes zumindest bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten nicht aus. Die Auslegung des zum Tatbestand gehörenden Erfolgs im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB orientiere sich nämlich nicht an der Begriffsbildung der allgemeinen Tatbestandslehre, die zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten unterscheide und abstrakte Gefährdungsdelikte zur letztgenannten Gruppe zuordne, sondern am Gesetzeszweck des § 9 StGB. Demnach sei deutsches Strafrecht auch bei Tathandlungen im Ausland anwendbar, die Beeinträchtigungen oder Gefährdungen von Rechtsgütern hervorriefen, welche die betreffende Strafvorschrift vermeiden wolle.300 Für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte bedeute dies, dass ein Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB dort eintrete, „wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann. Bei der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 und Abs. 3 StGB ist das die konkrete Eignung zur Friedensstörung in der Bundesrepublik Deutschland“.301 Dementsprechend bleibe auf die im Internet veröffentlichten Thesen des Angeklagten der Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 und Abs. 3 StGB anwendbar. Da die Webseite des Adelaide Institute jedem Nutzer im Inland ohne Weiteres frei zugänglich sei und wegen des inhaltlichen Bezugs der veröffentlichten Artikel zu Deutschland – trotz ihrer Abfassung in englischer Spra296 Zum Begriff der „abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte“ Schröder, JZ 1967, 522 (522); kritisch gegenüber dieser Bezeichnung Lackner/Kühl, Vor § 13 Rdn. 32; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (672). 297 BGHSt 46, 212 (218). 298 Fischer, § 130 Rdn. 13; Lackner/Kühl, § 130 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/ Sternberg-Lieben, § 130 Rdn. 1a; H. Ostendorf, NK, § 130 Rdn. 5; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 59; Clauß, MMR 2001, 232 (232); Heghmanns, JA 2001, 276 (277); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875); Koch, JuS 2002, 123 (125); Ringel, CR 1997, 302 (305 f.); Werle/Jeßberger, JuS 2001, 35 (39); a. A. Roxin, AT I, § 11 Rdn. 163; Gallas, in: Festschrift Heinitz, S. 171 (182): konkretes Gefährdungsdelikt; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 281; H. J. Hirsch, in: Festschrift Arthur Kaufmann, S. 545 (562): konkretes Gefährlichkeitsdelikt. 299 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 273. 300 BGHSt 46, 212 (220); zustimmend Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (248); siehe zudem KG NJW 2006, 3016 (3016); OLG Stuttgart NStZ 2004, 402 (403); VG Düsseldorf MMR 2005, 794 (796); ebenso zur Verleumdung gemäß § 187 StGB OLG Jena OLGSt StGB § 9 Nr. 3. Vgl. bereits BGHSt 42, 235 (242 f.); Heinrich, GA 1999, 72 (77); a. A. Ringel, CR 1997, 302 (305 f.). 301 BGHSt 46, 212 (221).
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che – gerade hierzulande Leser zum Adressatenkreis zählten und zählen sollten, eigneten sich die Äußerungen, das friedvolle Miteinander von jüdischen Mitbürgern und Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen in Deutschland empfindlich zu stören.302 Bei der durch den Angeklagten begangenen Volksverhetzung handele es sich somit um eine Inlandstat nach § 3 i.V. m. § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB. Für eine solche Interpretation ließen sich weitere Beispiele anführen, in denen „Erfolg“ nicht im Sinne der allgemeinen Tatbestandslehre verstanden werde. Unter anderem werde bei der Frage des Verjährungsbeginns nach § 78a Satz 2 StGB angenommen, der „zum Tatbestand gehörende[r] Erfolg“ trete bei abstrakten Gefährdungsdelikten zeitgleich mit der Begehung der Tat ein, und zwar in Gestalt des geschaffenen Risikos.303 Ähnlich sollen abstrakte Gefährdungsdelikte nach herrschender Auffassung durch Unterlassen begangen werden können,304 obwohl § 13 StGB ebenso einen Erfolg voraussetze, „der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“.305 Angesichts dieser Argumentation spricht viel dafür, dass der Bundesgerichtshof seine Erwägungen bei nächster Gelegenheit auf abstrakte Gefährdungsdelikte übertragen und dort gleichfalls die Möglichkeit eines Erfolgsortes bejahen wird.306 In der Toeben-Entscheidung hat er dies noch ausdrücklich offen gelassen.307 Der nach wie vor entgegenstehenden herrschenden Literatur hält der Bundesgerichtshof zunächst vor, nicht immer hinreichend zwischen rein abstrakten und abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten zu differenzieren. Sie stütze ihre Auffassung primär auf die Änderung des § 9 StGB durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969.308 Seitdem werde der Erfolgsort nicht mehr nur als „Erfolg“, sondern als „der zum Tatbestand gehörende Erfolg“ näher gekennzeichnet. Da der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht zum Tatbe302
BGHSt 46, 212 (219 f.). BGHSt 36, 255 (257); 46, 212 (222); OLG Köln NJW 2000, 598 (599); Dallmeyer, BeckOK-StGB, § 78a Rdn. 4; Lackner/Kühl, § 78a Rdn. 3; Mitsch, MünchKomm-StGB, § 78a Rdn. 6; Schulte, KJ 2001, 341 (341); kritisch gegenüber dem Verweis auf § 78a Satz 2 StGB Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 145. 304 BGHSt 38, 325 (338); BGH NStZ 1997, 545; Freund, MünchKomm-StGB, § 13 Rdn. 214; Heuchemer, BeckOK-StGB, § 13 Rdn. 4; Lackner/Kühl, § 13 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Stree/Bosch, § 13 Rdn. 3; Wohlers, NK, § 13 Rdn. 2; differenzierend Th. Weigend, LK, § 13 Rdn. 15. 305 BGHSt 46, 212 (222); Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (887); Heinrich, GA 1999, 72 (77 f.); Martin, ZRP 1992, 19 (19); Schulte, KJ 2001, 341 (341); Sieber, NJW 1999, 2065 (2068); kritisch Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 145; Heghmanns, JA 2001, 276 (279). 306 Vgl. Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (249). Kritisch gegenüber einer solchen Ausweitung Clauß, MMR 2001, 232 (232); Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (246 f.); grundsätzlich begrüßend dagegen Hörnle, NStZ 2001, 309 (310); Schulte, KJ 2001, 341 (342). 307 BGHSt 46, 212 (221); kritisch Koch, GA 2002, 703 (708). 308 BGBl. I, S. 717. 303
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stand eines abstrakt(-konkret)en Gefährdungsdelikts zähle, scheide nach dem Schrifttum der Ort der Gefährdung als Erfolgsort der Tat aus. Doch beabsichtigte die Gesetzesänderung nicht, den § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB auf Erfolgsdelikte zu begrenzen.309 Vielmehr sollte das Merkmal „der zum Tatbestand gehörende Erfolg“ lediglich die enge Beziehung des Erfolgseintritts zum jeweiligen Straftatbestand klarstellen. Dieses Kriterium sei im konkreten Fall des § 130 Abs. 1 und 3 StGB erfüllt, da hier der Gesetzgeber ausdrücklich die Eignung zur Friedensstörung verlange und damit den zum Tatbestand gehörenden Erfolg selbst bestimmt habe.310 b) Ansätze aus der Literatur aa) Abrufbarkeit von Inhalten als Erfolg Den Weg über eine weite Auslegung des Erfolgsortes im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB beschreiten auch einige Stimmen im Schrifttum. Die ersten Stellungnahmen zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf Internetsachverhalte waren bemerkenswert häufig der Ansicht, bereits die Abrufbarkeit rechtswidriger Inhalte ziehe einen Erfolgsort im Inland nach sich.311 Eine nähere Begründung für diese These findet sich in den Beiträgen allerdings jeweils nicht. bb) Tathandlungserfolg als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB Ausführlich hat sich dagegen Sieber der Interpretation des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB gewidmet. Unter Rekurs vor allem auf die Gesetzgebungsgeschichte zieht er den Schluss, den Erfolg im Sinne der Vorschrift unabhängig von der Einteilung in verschiedene Deliktsgruppen auslegen zu müssen.312 Die durch das 2. StrRG vom 4. Juli 1969 eingefügte Begrenzung auf den „zum Tatbestand gehörende[n]“ Erfolg sollte ausweislich der Gesetzesbegründung313 lediglich klarstellen, dass der Erfolg in enger Beziehung zum Straftatbestand zu stehen habe, ohne irgendeinen Bezug zur Kategorienbildung der allgemeinen strafrechtlichen Tatbestandslehre erkennen zu lassen.314
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So schon Sieber, NJW 1999, 2065 (2069). BGHSt 46, 212 (223). 311 Collardin, CR 1995, 618 (621); Conradi/Schlömer, NStZ 1996, 366 (368). Vgl. für das Merkmal „zugänglich machen“ Beisel/Heinrich, CR 1997, 360 (363); ebenso wohl J. Graf, DRiZ 1999, 281 (282). 312 Sieber, NJW 1999, 2065 (2068 f.). 313 BT-Drucks. V/4095, S. 7 unter Verweis auf BT-Drucks. IV/650, S. 113; vgl. zudem Kielwein, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 4. Bd., Allgemeiner Teil, 38. bis 52. Sitzung, Bonn 1958, S. 20 (38. Sitzung). 314 Sieber, NJW 1999, 2065 (2069). 310
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Der Bundesgerichtshof hat sich in der Toeben-Entscheidung ausdrücklich auf diese Überlegungen berufen,315 allerdings andere Schlussfolgerungen als Sieber daraus gezogen. Während der Bundesgerichtshof die gewonnene Unabhängigkeit von der Begriffsbildung der allgemeinen Tatbestandslehre dazu nutzt, bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort zu postulieren, sieht Sieber einen solchen Ansatz kritisch.316 Stattdessen will er als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB auch den sogenannten Tathandlungserfolg anerkennen,317 der „jede vom Täter verursachte, ihm zurechenbare und im einschlägigen Tatbestand genannte Folge seiner Handlung“ erfasse.318 Exemplarisch verdeutlicht Sieber seine Auffassung an den Merkmalen des Verbreitens und des Zugänglichmachens, die bei Äußerungsdelikten vielfach anzutreffen sind. Das Verbreiten, das die körperliche Weitergabe der Schrift erfordert,319 weise einen Tathandlungserfolg dann auf, wenn unmittelbar infolge der Handlung des Täters ein gegenständliches Exemplar der Schrift ins Inland gelange.320 Da es beim Zugänglichmachen ausreiche, die Kenntnisnahme des Inhalts der Schrift zu ermöglichen,321 sei hier ein Tathandlungserfolg bereits dann begründet, wenn der Täter durch sein Handeln eine solche Gelegenheit zum Zugriff eröffne.322 Werde der Ansatz auf das Kommunikationsmittel Internet übertragen, so begehe der im Ausland handelnde Täter im Inland eine Tat, wenn er Daten mit rechtswidrigen Inhalten gezielt an einen in Deutschland befindlichen Rechner übermittle. Im Ergebnis laufe dies auf eine Differenzierung zwischen sogenannten Push- und Pull-Technologien hinaus. Selbst wenn sich der Täter im Ausland 315
BGHSt 46, 212 (223). Sieber, NJW 1999, 2065 (2068). 317 Sieber, NJW 1999, 2065 (2068 ff.); zustimmend Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 34; Hörnle, NStZ 2001, 309 (310); Vec, NJW 2002, 1535 (1538). 318 Sieber, NJW 1999, 2065 (2070); ähnlich Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 82 ff. unter Ausweitung des Handlungsortes. 319 So die h. M.; statt vieler Fischer, § 184 Rdn. 33; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184b Rdn. 13; Lackner/Kühl, § 74d Rdn. 5; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184b Rdn. 5; Ziegler, BeckOK-StGB, § 184b Rdn. 7; Hilgendorf/Frank/Valerius, Computerund Internetstrafrecht, Rdn. 398, 415. A. A. mittlerweile der BGH mit seinem internetspezifischen Verbreitensbegriff, wonach für das Verbreiten ausreiche, wenn die Datei auf dem Rechner des Internetnutzers ankomme, BGHSt 47, 55 (59). Zu Recht kritisch Fischer, § 184 Rdn. 35; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184b Rdn. 13; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184b Rdn. 5; Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Rdn. 412 ff.; Gercke, MMR 2001, 678 (679 f.); Kudlich, JZ 2002, 310 (311); Lindemann/Wachsmuth, JR 2002, 206 (207 f.). 320 Sieber, NJW 1999, 2065 (2070 f.). 321 Statt vieler Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184 Rdn. 28; Lackner/Kühl, § 184 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184 Rdn. 9; Ziegler, BeckOK-StGB, § 184 Rdn. 6. 322 Sieber, NJW 1999, 2065 (2071). 316
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befinde, liege demnach gleichwohl ein Zugänglichmachen im Inland vor, wenn er die Daten aktiv auf einen hier befindlichen Rechner weiterleite (Push-Technologie). Dagegen sei ein Tathandlungserfolg hierzulande zu verneinen, wenn ein Dritter den jeweiligen Datentransfer veranlasse, die Übertragung der rechtswidrigen Inhalte demzufolge selbst hervorrufe (Pull-Technologie).323 cc) Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten Als weitere Quelle zur Rechtsfindung in der Toeben-Entscheidung diente dem Bundesgerichtshof die vor allem von Martin324 und Heinrich325 vertretene Auffassung, dass auch abstrakte Gefährdungsdelikte einen Erfolgsort aufweisen. Den Erfolg bilde die Gefährdung des durch die jeweilige Strafvorschrift geschützten Rechtsguts, und zwar in demjenigen Gefährdungsgrad, den der Gesetzgeber für die Verwirklichung des betreffenden Straftatbestandes als ausreichend erachte. Während bei konkreten Gefährdungsdelikten die durch ihre Begehung eingetretene konkrete Gefahr als tatbestandlicher Erfolg anerkannt werde,326 bestehe dieser bei abstrakten Gefährdungsdelikten in der abstrakten Gefahr für das geschützte Rechtsgut.327 Einengend wird zum Teil verlangt, die abstrakte Gefahr müsse in eine konkrete Gefahr umschlagen können328 oder es bedürfe einer über die tatbestandliche Handlung hinausgehenden Veränderung der Außenwelt in Gestalt eines tatbestandsmäßigen Zwischenerfolges.329 Für diese Auffassung wird vornehmlich vorgetragen, widersprüchliche Ergebnisse zu vermeiden, wenn sich die abstrakte Gefahr realisiere. Eine Anknüpfung 323 Sieber, NJW 1999, 2065 (2071); zustimmend wohl Fischer, § 9 Rdn. 7a; im Ergebnis ebenso Gercke, ZUM 2002, 283 (287 f.). 324 Martin, ZRP 1992, 19; ausführlich ders., Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 48 ff. 325 Heinrich, GA 1999, 72. 326 BGH NJW 1991, 2498 (2498); BayObLG NJW 1957, 1327 (1328); KG NJW 1991, 2501 (2502); OLG Köln NJW 1968, 954; Ambos/Ruegenberg, MünchKommStGB, § 9 Rdn. 19; Böse, NK, § 9 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 6; Fischer, § 9 Rdn. 4b; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 10; Lackner/ Kühl, § 9 Rdn. 2; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 27; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 24; Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (319); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875); Satzger, NStZ 1998, 112 (114). 327 Rengier, AT, § 6 Rdn. 16; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 102 ff.; Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 87; Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (886); Heinrich, GA 1999, 72 (78 f.); Hombrecher, JA 2010, 637 (640); Martin, ZRP 1992, 19 (20); Rath, JA 2006, 435 (438); Schulte, KJ 2001, 341 (342); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (247); zustimmend wohl Derksen, NJW 1997, 1878 (1880). Kritisch bereits gegenüber dem Begriff der „abstrakten Gefahr“ Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (662 f.). 328 Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 89. 329 Böse, NK, § 9 Rdn. 10; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 10; Hoyer, SK-StGB, § 9 Rdn. 7; vgl. auch Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 7.
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an den Erfolgsort bliebe ansonsten – im Gegensatz zu konkreten Gefährdungsund Verletzungsdelikten – selbst dann verwehrt, wenn das geschützte Rechtsgut tatsächlich verletzt werde. Abstrakte Gefährdungsdelikte stellten losgelöst vom konkreten Einzelfall ein als gefährlich eingestuftes Verhalten generell unter Strafe. Die Vorverlagerung der Strafbarkeit solle also Beeinträchtigungen der jeweiligen Rechtsgüter in besonderem Maße vermeiden, führte nunmehr aber zu einer Einschränkung des beabsichtigten Schutzes.330 4. Stellungnahme Die zahlreichen Ansätze zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf abstrakte Gefährdungsdelikte verdeutlichen den Stellenwert des Problems, die Reichweite der nationalen Strafgewalt sinnvoll und angemessen zu beschränken. Dies gilt hauptsächlich für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte über grenzüberschreitende Kommunikationsmittel. Es verwundert daher nicht, dass anlässlich der Debatte um die Strafbarkeit von Äußerungsdelikten im Internet immer häufiger der Ruf nach einer Reform des deutschen Strafanwendungsrechts zu vernehmen ist.331 Um über die Berechtigung dieser Forderung zu entscheiden, bedarf es zuvor einer eingehenden Auseinandersetzung mit den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten vor allem der Regelung des Handlungs- und Erfolgsortes in § 9 Abs. 1 StGB. a) Zur extensiven Auslegung des Handlungsortes aa) Gemeinsamkeiten der vertretenen Ansätze Der Handlungsort im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB wird gewöhnlich dort angenommen, wo der Täter eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfaltet.332 Dies bleibt nach herrschendem Verständnis allein der Standort des Handelnden bzw. mit anderen Worten der Ort seiner körperlichen Präsenz.333 Wie die einzelnen Ansätze in Rechtsprechung und Literatur belegen, eröffnet die Definition des Handlungsortes jedoch Auslegungsspielräume. Insbesondere wird vorgeschlagen, zum tatbestandsverwirklichenden Verhalten des Tä330 Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 33; Rengier, AT, § 6 Rdn. 17; Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (888); Heinrich, GA 1999, 72 (81); ders., NStZ 2000, 533 (534); siehe des Weiteren Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 121; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1877). 331 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 7d; Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 25; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 175; Derksen, NJW 1997, 1878 (1880 f.); Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (674); Jeßberger, JR 2001, 432 (435); Koch, GA 2002, 703 (708 f.). 332 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 284. 333 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 290.
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ters bestimmte Wirkungen seines Handelns hinzuzurechnen. So begründet vornehmlich für Cornils der Standort desjenigen Rechners, auf dem der Täter mittels des Internets gezielt und kontrolliert eine Datei speichert, einen Handlungsort.334 Das Kammergericht sieht hingegen Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Sinne des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB auch an dem Ort ihrer optischen bzw. akustischen Wahrnehmbarkeit als verwendet an.335 Beiden Ansichten ist zuzugestehen, zu zunächst scheinbar begrüßenswerten Ergebnissen zu gelangen. In dem vom Kammergericht entschiedenen Sachverhalt dürfte die Anwendung des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB auf das Verhalten der beiden Angeklagten dem Rechtsgefühl der meisten Leser entsprechen. Es wirkte seltsam, sich seiner Strafbarkeit allein dadurch zu entziehen, den Hitlergruß vom Ausland aus über eine Live-Übertragung im Fernsehen öffentlich im Inland zu verbreiten anstatt ihn im Inland selbst vorzunehmen. Denn auf diesem Weg kann gleichfalls der von § 86a StGB geschützte demokratische Rechtsstaat sowie der inländische politische Frieden336 gefährdet werden, für den die Wahrnehmbarkeit der Kennzeichenverwendung einen maßgeblichen Faktor bildet. Dementsprechend haben weite Teile des Schrifttums dem Urteil des Kammergerichts zugestimmt.337 Ebenso sympathisch wirkt auf den ersten Blick der Vorschlag Cornils’. In der Tat wäre es unverständlich, wenn ein Täter schlicht dadurch der deutschen Strafgewalt entginge, dass er rechtswidrige Inhalte (wie z. B. volksverhetzende Parolen) nicht von Deutschland aus auf einem im Inland belegenen Server veröffentlichte, sondern zu diesem Zweck jeweils Kurzreisen in das benachbarte Ausland unternähme. Indem auch der vom Täter gezielt und kontrolliert angesprochene Rechner (etwa der Server, auf dem die Inhalte seiner Webseite gespeichert sind) als Ort seiner Handlung bewertet wird, ließe sich ein solches Ergebnis vermeiden. bb) Einwände gegen das Urteil des KG vom 16. März 1999 Erste Bedenken weckt hingegen eine von den einzelnen Ausgangsfällen losgelöste Betrachtung der Ansätze zur Ausweitung des Handlungsortes. Die Auffassung des Kammergerichts dehnte die Reichweite des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB 334
Siehe Teil 3 Fn. 291. Siehe Teil 3 Fn. 287. 336 BayObLG NJW 1988, 2901 (2902); NStZ 2003, 89 (90); OLG Frankfurt am Main NStZ 1999, 356 (357); Fischer, § 86a Rdn. 2; Lackner/Kühl, § 86a Rdn. 1; Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 1; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 86a Rdn. 1. 337 Siehe beispielsweise Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4; Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 24; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, § 86a Rdn. 9; Stegbauer, JR 2002, 182 (188); kritisch dagegen Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Fischer, § 9 Rdn. 4b; Werle/ Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 84; Heinrich, NStZ 2000, 533 (534). 335
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enorm aus, vor allem bei einem Rückgriff auf Medien mit weltweitem Empfangsradius. Würden die vom Kammergericht aufgestellten Grundsätze beispielsweise auf das Internet übertragen,338 fände das deutsche Strafrecht auf jede Person in jedem Staat Anwendung, die auf einer Webseite Kennzeichen hierzulande verfassungswidriger Organisationen zeigte. Da allein an die Wahrnehmbarkeit des jeweiligen Zeichens angeknüpft wird, wäre § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB selbst dann anwendbar, wenn ein nicht in lateinischen Buchstaben verfasster Internetauftritt ein solches Kennzeichen abbildete, dessen Abruf im Inland kaum zu erwarten wäre bzw. jedenfalls nicht den inländischen politischen Frieden gefährdete. Die Ausweitung des Handlungsortes würde somit Verhaltensweisen im Ausland dem deutschen Strafrecht unterwerfen, an die der Gesetzgeber bei Erlass der Norm kaum gedacht haben dürfte. Die durch den Rückgriff auf ein abstraktes Gefährdungsdelikt ohnehin vorverlagerte Strafbarkeit erführe dadurch eine zusätzliche Erweiterung. Seltsam mutet zudem die Folge der Auffassung des Kammergerichts an, eine einzige Handlung könne eine Unzahl von Handlungsorten begründen. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hätten die beiden Angeklagten etwa nicht ausschließlich im Fußballstadion von Zabrze gehandelt, wo sie ihren Arm tatsächlich zum Hitlergruß erhoben, sondern überall dort, wo dieses nationalsozialistische Kennzeichen wahrnehmbar gewesen wäre. Selbst wenn das Fußballspiel lediglich nach Deutschland übertragen worden wäre, hätten die Angeklagten also an jedem Ort gehandelt, an dem gerade ein Fernseher das betreffende Programm wiedergegeben hätte. Bei einer internationalen Übertragung des Spiels, die heutzutage keine Seltenheit mehr darstellt, kämen unzählige weitere Handlungsorte in weiteren Staaten hinzu. Mit den Ausführungen des Kammergerichts ginge aber neben der örtlichen eine zeitliche Aufweichung des Handlungsortes einher. Nach – insoweit nicht zu beanstandender – Ansicht des Gerichts setzt ein mediales Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nicht zwingend eine direkte LiveÜbertragung voraus. Vielmehr genügt ebenso eine zeitversetzte Wiedergabe des Geschehens.339 Diese Überlegung zum Tatbestandsmerkmal „Verwenden“ auch bei der Begründung eines Handlungsortes anzuwenden, hätte zur Folge, dass der Täter an mehreren Orten und darüber hinaus zu unterschiedlichen Zeitpunkten handelte. Die beiden Angeklagten hätten somit durch eine einzige reale Handlung, nämlich das Zeigen des Hitlergrußes, an zahllosen Orten zugleich sowie zu
338 So etwa Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 24; vgl. ferner Stegbauer, JR 2002, 182 (188); Werle/Jeßberger, JuS 2001, 35 (39). Ausdrücklich ablehnend BGHSt 46, 212 (224 f.); Hörnle, NStZ 2001, 309 (310); Kudlich, StV 2001, 397 (398); kritisch auch Eser, in: Festgabe Bundesgerichtshof, S. 3 (23). 339 KG NJW 1999, 3500 (3502); dagegen bereits Heinrich, NStZ 2000, 533 (534); ders., in: Festschrift Weber, S. 91 (105); Walter, JuS 2006, 870 (872).
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verschiedenen Zeiten, namentlich während der Live-Übertragung sowie bei jeder zeitnahen Zusammenfassung der Ereignisse, gehandelt.340 Dieses Ergebnis offenbart den wesentlichen Einwand gegen Ansätze zur Ausweitung des Handlungsortes, nämlich die Überdehnung des natürlichen Wortsinns des Handlungsbegriffs und die unzureichende Unterscheidung zwischen der Handlung als solcher und ihren Folgen.341 So erschöpft sich die Handlung bei § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Verwendung des betreffenden Kennzeichens, d. h. dem Tragen von Abzeichen und Uniformstücken, dem Zeigen von Fahnen, dem Aussprechen einer Parole oder dem Ausüben einer Grußform. Die Wahrnehmbarkeit eines solchen Verhaltens bleibt indes für die Handlungsqualität ohne Belang. Der Hitlergruß stellt beispielsweise selbst dann eine Handlung im strafrechtlichen Sinne dar, wenn das Fußballspiel weder im Fernsehen noch in einem anderen Medium nach Deutschland übertragen worden wäre. Deutlich wird dies bei einer Abwandlung des Ausgangsfalles, in der die beiden Angeklagten nicht nur den Hitlergruß, sondern zudem ein Transparent mit einem ehrverletzenden Werturteil vor den Fernsehkameras gezeigt hätten. In diesem Fall führte nach der Auffassung des Kammergerichts die Wahrnehmbarkeit des Hitlergrußes im Inland zu einem hier belegenen Handlungsort. Die auf demselben medialen Weg erfolgte Kenntnisnahme der beleidigenden Äußerung begründete hingegen nach unstreitiger Ansicht einen Erfolgsort.342 Folgt man dem Kammergericht, müsste also die Wahrnehmbarkeit eines Kennzeichens zur Handlung, die tatsächliche Wahrnehmung einer geschriebenen Äußerung zum Erfolg gezählt werden. Das Kammergericht wendet sich gegen eine konsequente und einengende Auslegung der Handlung mit einem Verweis auf die Diskussion um den Handlungsbegriff.343 Eine Beschränkung der tatbestandlichen Handlung auf den Ort der Erzeugung der Schallwellen entspreche einem überholten naturalistischen Denken und verkenne deren sozialen Sinnzusammenhang.344 Dem ist – ungeachtet der im Einzelnen äußerst umstrittenen Diskussion um den Handlungsbegriff – bereits entgegenzuhalten, dass die soziale Bewertung eines Verhaltens (hier der Verwen-
340 Zu den danach erfassten Fallkonstellationen Valerius, Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht, S. 217 (228 f.). 341 Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 17; Heinrich, NStZ 2000, 533 (534); ders., in: Festschrift Weber, S. 91 (103 f.); Hörnle, NStZ 2001, 309 (310); Velten, in: Festschrift Rudolphi, S. 329 (332 f.); Walter, JuS 2006, 870 (872). 342 Böse, NK, § 9 Rdn. 10; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 20; Hilgendorf, LK, Vor § 185 Rdn. 39; Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 19; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 93; Rengier, AT, § 6 Rdn. 13; Heghmanns, JA 2001, 276 (277); a. A. Ringel, CR 1997, 302 (307). 343 Zusammenfassend hierzu Fischer, Vor § 13 Rdn. 4 ff.; Kindhäuser, AT, § 5 Rdn. 10 ff.; Roxin, AT I, § 8 Rdn. 7 ff.; Wessels/Beulke, Rdn. 85 ff. 344 KG NJW 1999, 3500 (3502).
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dung eines Kennzeichens) zwar ein mögliches Kriterium darstellt, um über seine Handlungsqualität im strafrechtlichen Sinne zu entscheiden. Damit wird aber der soziale Sinnzusammenhang als solcher (hier die Wahrnehmbarkeit der Kennzeichenverwendung) noch nicht selbst zur Handlung erhoben. Außerdem erscheint es fraglich, für die Bestimmung des Handlungsortes nach § 9 Abs. 1 StGB die Debatte um den Handlungsbegriff zu bemühen. Der strafrechtliche Handlungsbegriff hat primär zur Aufgabe, sämtliche für die Strafbarkeit relevanten Verhaltensweisen zu erfassen und zugleich Geschehnisse auszuklammern, die für eine strafrechtliche Beurteilung von vornherein ausscheiden.345 Bei dem schwierigen Unterfangen, eine hierfür geeignete Definition zu finden, bildet einen denkbaren Ansatz, auch die Folgen eines Verhaltens, wie etwa seine Sozialerheblichkeit, zu berücksichtigen. Für die in § 9 Abs. 1 StGB vorgesehene Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsort erweist sich ein weites Verständnis der Handlung unter Rückgriff gerade auf ihre Auswirkungen jedoch als wenig hilfreich, weil dadurch deren Grenzen zum Erfolg verschwimmen. Es liegt daher nahe, die Handlung auf die Tätigkeit als solche zu beschränken und sämtliche strafrechtlich relevanten Folgen zum Erfolg zu zählen.346 cc) Einwände gegen den Ansatz Cornils’ Aus denselben Gründen bleibt ebenso wenig dem Ansatz Cornils’ zu folgen. Anders als die Auslegung durch das Kammergericht führt ihre Auffassung für rechtswidrige Inhalte im Internet zwar lediglich zu zwei anstatt zu unzähligen Handlungsorten, namentlich dem Aufenthaltsort des Täters sowie dem Standort des von ihm gezielt und kontrolliert angesprochenen Rechners. Das deutsche Strafrecht würde demnach bloß auf jene Äußerungen im Internet anwendbar sein, die der Täter entweder von Deutschland aus im Internet veröffentlicht oder auf einem Rechner in Deutschland hinterlegt.347 Selbst diese maßvolle Ausweitung des Handlungsortes vermag aber nicht zu überzeugen. Gegen die Berücksichtigung des Standortes desjenigen Servers, auf den die fraglichen Inhalte durch den Täter übertragen werden, spricht zunächst die Willkürlichkeit des dadurch begründeten Handlungsortes. Das globale Datennetz ermöglicht nicht nur eine sekundenschnelle weltweite Kommunikation, sondern auch eine lokale Ungebundenheit der Rechner, welche die Inhalte der Kommunikation beherbergen. Schließt der Täter einen Vertrag mit einem inländischen Tele345
Roxin, AT I, § 8 Rdn. 4; Wessels/Beulke, Rdn. 92. Vgl. Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 29; Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Heinrich, in: Festschrift Weber, S. 91 (104). 347 Cornils, JZ 1999, 394 (398, weitere Beispiele auf 396 f.); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (83 f.). 346
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kommunikationsunternehmen über die Zurverfügungstellung von Speicherplatz für eine Webseite ab, muss sich der zu diesem Zweck vom Provider bereitgehaltene Server etwa keineswegs im Inland befinden. Der Rechner, den der Täter zur Verbreitung von Inhalten gezielt und kontrolliert anspricht, weist seinen Standort also nicht notwendigerweise in demjenigen Staat auf, in dem der Täter durch den ausgelösten Datentransfer wirkt.348 Würde die Auffassung Cornils’ auf andere Rechtsordnungen übertragen, wäre das Strafrecht eines fremden Staates unter Umständen sogar auf eine Internetkommunikation zwischen Nutzern im Inland anzuwenden, sofern die Datenübertragung über einen Server im Ausland erfolgt. Umgekehrt würde ein Täter, der vom Ausland aus bewusst eine E-Mail mit rechtswidrigen Inhalten an einen deutschen Nutzer versendet, gleichwohl nicht der deutschen Strafgewalt unterliegen, wenn sich der E-Mail-Server des Adressaten nicht im Inland befindet. Da für den vom jeweiligen Provider gewählten Standort des Servers im Wesentlichen wirtschaftliche Erwägungen den Ausschlag geben, würden letztendlich ökonomische Faktoren und Zufälligkeiten über die Anwendbarkeit nationaler Strafrechtsordnungen bestimmen. Neben diesen Einwänden im Speziellen muss dem Ansatz Cornils’ generell attestiert werden, den Handlungsbegriff im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB in einer Weise zu überdehnen, die nicht mehr mit dessen natürlichem Verständnis vereinbar ist. Zwar bleibt dem Internet ein besonderes und mit bisherigen Kommunikationsmitteln nicht vergleichbares Maß an Globalität und Geschwindigkeit zu bescheinigen. In Sekundenbruchteilen von dem heimischen Computer aus Befehle an einen Zielrechner zu übertragen und bestimmte Operationen auszulösen, bedeutet aber nicht, am Ort des Zielrechners zu handeln.349 Ansonsten müsste beispielsweise ein Täter, der vom Inland aus über Satellitenverbindung per Knopfdruck im Ausland einen funkgesteuerten Zündmechanismus auslöst, gleichfalls in beiden Staaten im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB handeln.350 Mit dem Verzicht auf den trennscharfen Anknüpfungspunkt der körperlichen Anwesenheit des Täters am Handlungsort geht die Gefahr einher, den Ort der 348 Vgl. Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 16; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 80; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 141; Heinrich, in: Festschrift Weber, S. 91 (99); Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (666); Koch, GA 2002, 703 (711); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (247 f.), der den Ansatz als „Griff in die historische Mottenkiste“ bezeichnet und auf die überholte, vom Reichsgericht vertretene Theorie der langen Hand verweist. Heinrich, in: Festschrift Weber, S. 91 (100 ff.) bemerkt aber, dass zur damaligen Zeit eine dem heutigen § 9 StGB entsprechende Norm, die beim Begehungsort zwischen Handlung und Erfolg unterscheidet, noch nicht existierte. 349 Kritisch auch BGHSt 46, 212 (224 f.); Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 142; Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (652). 350 Vgl. Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (666), der in diesem Zusammenhang das Beispiel einer auf dem Postamt explodierenden Briefbombe anführt.
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Handlung aufzuweichen und die Grenzen zum Erfolgsort zu verwischen.351 Ebenso wenig verfängt der Einwand, dass bei mehraktigen Delikten Handlungen an verschiedenen Orten erbracht werden können und daher schon nach bislang anerkannten Grundsätzen eine Tat mehrere Handlungsorte (gegebenenfalls in unterschiedlichen Staaten) aufweisen kann.352 Schließlich werden in diesem Fall die verschiedenen Handlungsorte nicht durch eine weite Interpretation ein und derselben Handlung im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB begründet, sondern gerade durch die körperliche Präsenz des Täters an verschiedenen Orten bei verschiedenen tatbestandlichen Handlungen. Für eine Abkehr von dem bisher verbreiteten Handlungsbegriff besteht schließlich keine Notwendigkeit. Denn trotz seiner hohen Übertragungsgeschwindigkeiten lässt sich im Internet ohne Weiteres zwischen der Handlung und ihren Auswirkungen differenzieren. Während sich die Handlung des Täters in seinen Fingerbewegungen und den damit unmittelbar verbundenen Tastatureingaben und Mausklicks am Ort seiner Anwesenheit erschöpft, stellen die dadurch ausgelösten Datenübertragungen zum Zielrechner bereits die Auswirkungen seiner Tätigkeit dar und sind somit als „Erfolg“ seines Verhaltens zu erfassen. Die grenzüberschreitenden Auswirkungen einer Tätigkeit im Internet legitimieren demnach keine extensive Auslegung des für das Strafanwendungsrecht maßgeblichen Handlungsbegriffs. Zwar ermöglicht die digitalisierte Welt von heute, durch geringste Energieentfaltung wie einen Mausklick oder das Betätigen der Enter-Taste schwerwiegende Konsequenzen hervorzurufen. Der Folgenreichtum von Handlungen infolge der zunehmenden Modernisierung rechtfertigt aber keine Ausweitung der Handlung selbst. Vielmehr wird auch im Zeitalter des Internets eine Handlung im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB nur an dem Ort erbracht, an dem der Täter körperlich anwesend ist.353 b) Zum Erfolgsort bei abstrakten Gefährdungsdelikten aa) Gemeinsamkeiten der vertretenen Ansätze und erste Einwände Wird eine extensive Auslegung des Handlungsbegriffs im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB abgelehnt, verbleibt als einzige Alternative, um die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf jene abstrakten Gefährdungsdelikte zu erstrecken, deren 351 Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 142; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (666); Koch, JuS 2002, 123 (127); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (652 f.); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (247); Sieber, NJW 1999, 2065 (2070). Vgl. zum KG bereits die Nachweise in Teil 3 Fn. 341. 352 Cornils, JZ 1999, 394 (397); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (79). 353 Böse, NK, § 9 Rdn. 4; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 79; Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 113; Sieber, NJW 1999, 2065 (2070).
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Tathandlung im Ausland vorgenommen wurde, der Weg über den Erfolgsort. Eine solche Konstruktion wurde vor den Diskussionen um das Internet bereits für grenzüberschreitende Beeinträchtigungen im Umweltstrafrecht erwogen354 und hat in den letzten Jahren kontinuierlich an Anhängern gewonnen.355 Mit der Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs356 dürfte diese Auffassung einen zusätzlichen Schub, wenngleich noch keinen endgültigen Durchbruch erfahren haben. Trotz Unterschiede der insoweit vertretenen Ansätze im Detail sind weitgehende Übereinstimmungen festzustellen. Gemeinsam ist den einzelnen Ansichten vor allem die vertiefte Auseinandersetzung mit dem „zum Tatbestand gehörende[n] Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB. Um bei abstrakten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort anzunehmen, erscheint insbesondere erforderlich, den Erfolg in diesem Sinne abweichend von der herkömmlichen Einteilung in Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte zu interpretieren. Das nach wie vor herrschende Schrifttum lehnt solche Deutungsversuche indes ab. Ein Teil der Literatur verweist auf die Vorschrift des § 5 Nr. 10 StGB, wonach das deutsche Strafrecht für im Ausland begangene Aussagedelikte der §§ 153 ff. StGB gelte, wenn sie ein in Deutschland anhängiges Verfahren betreffen. Wenn auch abstrakte Gefährdungsdelikte einen Erfolg aufwiesen, wäre die Regelung des § 5 Nr. 10 StGB überflüssig.357 Vornehmlich wird jedoch die traditionelle Kategorisierung der Straftatbestände in Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte herangezogen. Demnach liege nahe, dass allein erstgenannte einen Erfolgsort, Tätigkeitsdelikte hingegen bloß einen Handlungsort begründeten. Zu den Erfolgsdelikten gehörten wiederum lediglich Verletzungs- und konkrete Gefährdungsdelikte.358 Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten bilde die Gefährlichkeit des sanktionierten Verhaltens das Motiv des Gesetzgebers, nicht zugleich ein tatbestandliches Merkmal.359 Da es demnach im Einzelfall weder zu einer (konkreten) Gefährdung noch zu einer Verletzung des geschützten Rechtsguts kommen müsse, richte sich 354 Siehe dazu Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 48 ff.; ders., ZRP 1992, 19; vgl. ferner Hecker, ZStW 115 (2003), 880. 355 Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 33; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 102 ff.; Heinrich, GA 1999, 72; Rath, JA 2006, 435 (438); Schulte, KJ 2001, 341 (342); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (247). 356 BGHSt 46, 212; siehe dazu Teil 3 Kap. 6 II. 3. a) sowie unten Teil 3 Kap. 6 III. 2. a). 357 Satzger, NStZ 1998, 112 (116); ders., Jura 2010, 108 (113); zustimmend Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 50; dagegen Rath, JA 2006, 435 (438), welcher der Vorschrift deklaratorischen Charakter zuschreibt. 358 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 272. 359 Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 31; Böse, NK, § 9 Rdn. 11; Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 47; Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (653); H. Ostendorf, JuS 1982, 426 (429); Satzger, NStZ 1998, 112 (114); kritisch Martin, ZRP 1992, 19 (20).
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die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf abstrakte Gefährdungsdelikte von vornherein ausschließlich nach dem Ort ihrer Handlung.360 Der Einwand dränge allerdings nur dann durch, wenn „Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB und im Sinne der Differenzierung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten gleichbedeutend wären. Dies erscheint indes – obwohl von der herrschenden Lehre zumeist stillschweigend vorausgesetzt und nicht näher problematisiert – nicht selbstverständlich: Während die gesetzlich nicht normierte Einteilung in Deliktsgruppen eine verständliche Kategorisierung sämtlicher Straftatbestände zum Ziel hat, bezieht sich die Unterscheidung von Handlungsund Erfolgsort in § 9 Abs. 1 StGB auf das konkrete Problem der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts. Das Strafanwendungsrecht hat indessen einen völkerrechtlichen Charakter, der bei der Interpretation der §§ 3 ff. StGB seine Berücksichtigung findet, aber für die davon unabhängige Bildung von Deliktskategorien ohne jede Bedeutung bleibt. § 9 Abs. 1 StGB bringt durch die Kombination von Handlungs- und Erfolgsort den Willen zum Ausdruck, das deutsche Strafrecht auf sämtliche Taten anzuwenden, die den inländischen Hoheitsbereich betreffen. Dies betrifft zunächst Handlungen des Täters im Inland, die den geltenden Strafvorschriften widersprechen und somit die hoheitliche Ordnungsmacht missachten. Des Weiteren besitzt ein Staat an der Anwendbarkeit seines nationalen Strafrechts ein berechtigtes Interesse, wenn eine Tat Beeinträchtigungen und Gefährdungen von Rechtsgütern auf seinem Hoheitsgebiet hervorruft, die er mit seiner Strafgesetzgebung gerade verhindern und unterbinden möchte. Indem das Ubiquitätsprinzip sowohl auf den Handlungs- als auch auf den Erfolgsort einer Tat abstellt, will es sämtliche Berührungspunkte einer Tat mit der Gebietshoheit eines Staates erfassen. Eine Tat soll also nicht lediglich in ihrer eigentlichen Ausführung durch den Täter, sondern ebenso in den dadurch verursachten Auswirkungen erfasst werden.361 Vor diesem Hintergrund liegt es fern, sich bei der Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB – nicht zuletzt angesichts des völkerrechtlichen Charakters des darin niedergelegten Ubiquitätsprinzips – an der Kategorienbildung der nationalen strafrechtlichen Tatbestandslehre zu orientieren. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort auszuschließen, führte außerdem zu dem kuriosen Ergebnis, dass bei grenzüberschreitenden Taten gerade diejenigen Delikte einen geringeren Anwendungsbereich aufwiesen, welche die Unversehrtheit ihrer Schutzgüter frühzeitig und umfassend gewährleisten sollen. Der Rückgriff des Gesetzgebers auf abstrakte Gefährdungsdelikte bedeutete demnach bei rein inländischen Geschehnissen eine Erweiterung, bei internationalen Sachverhalten hingegen eine Einschränkung des Rechtsgüterschutzes gegen-
360 361
Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 273. Sieber, NJW 1999, 2065 (2069) m.w. N.
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über konkreten Gefährdungs- und Verletzungsdelikten. Dies liefe dem Zweck der Ausgestaltung einer Tat als abstraktes Gefährdungsdelikt zuwider.362 Den im Gesetz mitunter verwendeten Erfolgsbegriff nicht zwingend an die allgemeine Tatbestandslehre anknüpfen zu müssen, verdeutlicht des Weiteren die Dogmatik zu den unechten Unterlassungsdelikten. Obwohl der Wortlaut des § 13 StGB einen „Erfolg“ voraussetzt, „der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“, können nach herrschender Auffassung abstrakte Gefährdungsdelikte durch Unterlassen begangen werden.363 Wer jedoch bei der Interpretation des Erfolgsortes an die Differenzierung zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten anknüpfen will, müsste wegen der weitgehenden wörtlichen Übereinstimmung zwischen § 9 Abs. 1 und § 13 StGB konsequenterweise eine Begehung abstrakter Gefährdungsdelikte durch Unterlassen ebenso ablehnen.364 Insgesamt spricht also viel dafür, bei der Auslegung des Merkmals „der zum Tatbestand gehörende Erfolg“ in § 9 Abs. 1 StGB nicht an die Begriffsbildung der allgemeinen Tatbestandslehre anzuknüpfen.365 Damit bleibt allerdings noch ungeklärt, worin der Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB besteht. bb) Tathandlungserfolg als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB Nach Sieber soll jede Folge einer Handlung, die dem Täter zuzurechnen und im einschlägigen Tatbestand genannt ist, einen Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB darstellen.366 Seine Differenzierung zwischen Push- und Pull-Technologien führt im Ergebnis zu denselben Resultaten wie die Auffassung Cornils’,367 wenngleich mit dem Unterschied, die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts über den Erfolgsort zu begründen.368 Dadurch lässt Sieber die traditionelle Auslegung des Handlungsortes unangetastet und läuft nicht Gefahr, die Grenzen zwischen Handlung und Erfolg zu verwischen. Nach wie vor hängt aber der dadurch gewonnene Erfolgsort vom Zufall ab, wenn der vom Täter adressierte Rechner sich aus verschiedenen Gründen gerade nicht in demjenigen Staat befindet, in dem der Täter an sich wirkt.369 362
Vgl. die Nachweise in Teil 3 Fn. 330. Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 304. 364 Heinrich, GA 1999, 72 (78). So aber lediglich Koch, JuS 2002, 123 (125); H. Ostendorf, JuS 1982, 426 (429). 365 Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 28; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 33; Vassilaki, CR 2001, 262 (262); Velten, in: Festschrift Rudolphi, S. 329 (336); ausführlich Kudlich, StV 2001, 397 (398). Vgl. auch Hörnle, NStZ 2001, 309 (310), welche die Einteilung in Erfolgs- und Gefährdungsdelikte bei Kommunikationsdelikten im Internet als „kein sinnvolles Eingrenzungskriterium für den Aktionsradius deutscher Strafverfolgung“ bezeichnet. 366 Sieber, NJW 1999, 2065 (2070). 367 Siehe dazu Teil 3 Kap. 6 II. 2. b). 368 Kritisch Cornils, JZ 1999, 394 (395 f.); Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248). 369 Vgl. dazu oben Teil 3 Kap. 6 II. 4. a) cc). 363
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Generell erscheint fraglich, ob sich technische Kriterien wie die Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Technologien als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Differenzierungen eignen. Jedenfalls sind § 9 Abs. 1 StGB keinerlei Anhaltspunkte für eine Interpretation nach derartigen Merkmalen zu entnehmen.370 Des Weiteren können sich rechtliche Fragen allgemein nur schwer an technischen Aspekten orientieren, die sich stetig ändern und somit nicht zur Rechtssicherheit beizutragen vermögen. Dies gilt insbesondere für die Kommunikationsdienste des Internets, die einem kontinuierlichen Wandel und Fortschritt unterliegen. Nicht zuletzt bedingen technische Entwicklungen Abgrenzungsprobleme, wie das Beispiel einer Mailing-Liste verdeutlicht: Wer elektronische Nachrichten an die E-Mail-Adresse einer solchen Liste sendet, schickt über den Umweg des zentralen Listen-Servers zwar letztlich dessen Abonnenten die Nachricht zu. Andererseits ließe sich hier ebenso vertreten, dass die einzelnen Mitglieder durch ihren freiwilligen Eintrag in die Liste alle hieran gerichteten Nachrichten selbst abrufen.371 Zudem wird nicht zu Unrecht die – von Sieber selbst zugegebene372 – Abhängigkeit seiner Ansicht von der Fassung des jeweiligen Straftatbestandes kritisiert. Letztlich würde somit die tatbestandliche Handlungsbeschreibung über die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts entscheiden. Der Gesetzgeber wird bei der Formulierung von Strafvorschriften aus dem Besonderen Teil jedoch kaum die Reichweite der nationalen Strafgewalt bedenken, weshalb häufig der Zufall den Ausschlag gebe.373 Vorzugswürdig wäre demgegenüber ein Ansatz, der sich nicht an der gesetzlichen Tathandlung orientiert. In Betracht kommt eine Anknüpfung an die Rechtsgüter, die der jeweilige Tatbestand vor Gefährdungen und Verletzungen schützen will. cc) Mögliche Entfaltung der Gefährlichkeit einer Tat als Erfolg Einen solchen rechtsgutsbezogenen Ansatz hat der Bundesgerichtshof in seiner Toeben-Entscheidung vom 12. Dezember 2000 entwickelt. Danach soll bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten ein Erfolgsort dort gegeben sein, „wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann“.374 Bezogen auf den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 StGB genüge – ebenso wie bei ausschließlich im Inland 370
Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (668). Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 155; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (668); zur Kritik ferner BGHSt 47, 55 (59 f.). 372 Sieber, NJW 1999, 2065 (2070). 373 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 7c; ders., Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (320); vgl. auch Th. Weigend, Unbegrenzte Freiheit oder grenzenlose Strafbarkeit im Internet?, S. 85 (90). 374 BGHSt 46, 212 (221); zustimmend Clauß, MMR 2001, 232 (232); Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (888); Jeßberger, JR 2001, 432 (433). 371
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verbreiteten volksverhetzenden Schriften – die bloße Eignung zur Friedensstörung. Ob eine konkrete Gefahr für den inländischen öffentlichen Frieden eintrete, sei hingegen unerheblich. Die konkrete Eignung erblickt der Bundesgerichtshof in der freien Zugänglichkeit der im Internet veröffentlichten Beiträge sowie deren inhaltlichem Bezug zu Deutschland.375 Diesem Ansatz lässt sich nicht ohne jegliche Skepsis begegnen. Allein wegen der „Informationsmöglichkeiten des Internets“ damit rechnen zu müssen, dass „die Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt werden“,376 nähme dem Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens jegliche eingrenzende Funktion. Dies bedeutete im Ergebnis, bei Veröffentlichungen im Internet die Vorschrift des § 130 Abs. 1, Abs. 3 StGB in ein abstraktes Gefährdungsdelikt umzuwandeln. Zwar verzeichnet das World Wide Web einen hohen Besucherstrom. Allerdings wird schon infolge der unüberschaubaren Anzahl von Webseiten377 im Internet nicht jede Online-Veröffentlichung selbst nur von einem einzigen Nutzer in Deutschland abgerufen oder sogar so häufig gelesen, um für eine Störung des öffentlichen Friedens geeignet zu sein. Eine andere Beurteilung kann sich aus dem Gegenstand der veröffentlichten Inhalte selbst ergeben. Webseiten mit volksverhetzenden Inhalten dürften in der Tat auf ein erhöhtes Interesse stoßen. Nicht erst in den letzten Jahren hat sich das Internet unter Rechtsextremisten zu einem zentralen Kommunikations- und Agitationsmedium entwickelt, das ausgiebig zur Selbstdarstellung und zu Propagandazwecken genutzt wird.378 Ebenso dürfte die Abfassung der Artikel in englischer Sprache kaum verhindern, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen; bei Veröffentlichungen in anderen, nicht derart verbreiteten Sprachen bleibt dies gegebenenfalls abweichend zu bewerten. Im Fall Toeben ist demnach vertretbar, nicht zuletzt wegen des Bekanntheitsgrads des Angeklagten aufgrund seiner revisionistischen Tätigkeit, von einem Abruf der Webseite des in der einschlägigen Szene geläufigen Adelaide Institute auch in Deutschland auszugehen.379 Etwas 375 BGHSt 46, 212 (219 f.); im Ergebnis ähnlich Walter, JuS 2006, 870 (873), der den inländischen Erfolgseintritt einer Auschwitzleugnung im Internet mit Abruf der jeweiligen Webseite bejaht. 376 So BGHSt 46, 212 (219); zustimmend Miebach/Schäfer, MünchKomm-StGB, § 130 Rdn. 20; Jeßberger, JR 2001, 432 (433); kritisch dagegen Koch, JuS 2002, 123 (126); ders., GA 2002, 703 (708); offen gelassen mittlerweile von BGH NStZ 2007, 216 (217). 377 Schätzungen für Februar 2011 belaufen sich auf 284 842 077 Webseiten weltweit; Quelle: The Netcraft Web Server Survey, abrufbar im Internet unter http:// news.netcraft.com/archives/2011/02/15/february-2011-web-server-survey.html (zuletzt abgerufen am 1. 3. 2011). 378 Zu den einzelnen Erscheinungsformen des Missbrauchs des Internets durch rechtsextremistische und rechtsradikale Anbieter Sieber, ZRP 2001, 97 (97 f.); ausführlich Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 3 ff. 379 So im Ergebnis BGHSt 46, 212 (219 f.); kritisch Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 116 ff.; Vassilaki, CR 2001, 262 (264 f.).
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anderes dürfte aber beispielsweise für Äußerungen verirrter Einzelgänger gelten, die ihre Ansichten auf privaten Webseiten oder über Postings in ansonsten unverfänglichen Blogs verbreiten. Unabhängig vom konkreten Einzelfall erscheint allerdings die These des Bundesgerichtshofs, den Erfolgsort dort anzunehmen, „wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann“,380 als zu weitgehend. Lediglich denkbare Folgen eines Verhaltens sind noch keine Auswirkungen, die zugleich einen Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB bedeuteten. Dass bei einer Tätigkeit im Ausland der Handlungsort als Anknüpfungspunkt für die nationale Strafgewalt ausscheidet, darf nicht dazu verleiten, auf das bloße Potential der Handlung, Rechtsgüter im Inland zu gefährden oder zu verletzen, zu verweisen, um gewissermaßen über einen nur theoretischen inländischen Erfolgsort letztlich doch zu einer Anwendung deutschen Strafrechts zu gelangen. Aufgrund des völkerrechtlichen Charakters des Ubiquitätsprinzips bedarf es vielmehr einer zurückhaltenden Interpretation des Erfolgsortes, um die nationale Strafgewalt nicht zu stark auszudehnen. dd) Abrufbarkeit von Inhalten als Erfolg Dieselben Bedenken wie gegen die Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs gelten gegenüber derjenigen Auffassung, wonach schon die bloße Abrufbarkeit von rechtswidrigen Inhalten im Internet einen Erfolgsort im Inland begründe. Zudem ist unter „Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB nicht jede beliebige Auswirkung der täterschaftlichen Handlung zu verstehen. Wie die Einschränkung „zum Tatbestand gehörende“ verdeutlicht, müssen deren Folgen einen Bezug zu der jeweiligen Strafvorschrift und dem von ihr geschützten Rechtsgut aufweisen. Rein physikalische Vorgänge wie die Verursachung oder sogar nur die Ermöglichung eines Datentransfers durch die Abrufbarkeit der veröffentlichten Inhalte genügen nicht.381 ee) Abstrakte Gefahr als Erfolg Zunehmend wird vertreten, bei abstrakten Gefährdungsdelikten gemäß der gesetzgeberischen Ausgestaltung der einschlägigen Strafvorschrift bereits die abstrakte Gefahr für das geschützte Rechtsgut als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB anzusehen.382 Dieser Ansatz befindet sich nicht zuletzt seit seiner weitge380
BGHSt 46, 212 (221). Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1875); ders., ZStW 113 (2001), 650 (660); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (653); Pelz, ZUM 1998, 530 (531); kritisch ferner Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 7a. 382 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 327. 381
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henden Übernahme durch den Bundesgerichtshof in der Toeben-Entscheidung im Vordringen. Hiergegen wird zumeist geltend gemacht, begrifflich nicht zwischen der Handlung und der damit einhergehenden abstrakten Gefahr trennen zu können. So sei beim Straftatbestand der Volksverhetzung die Eignung einer Tat zur Friedensstörung etwa nicht die Folge bzw. der „Erfolg“, sondern eine bloße Eigenschaft der Handlung des Täters.383 Allerdings bleibt eine Differenzierung zwischen der Vornahme einer gefahrenträchtigen Handlung und dem dadurch begründeten Gefahrenpotential durchaus denkbar. Schließlich zeigen die Diskussionen um die teleologische Reduktion abstrakter Gefährdungsdelikte, falls sich jegliche Gefährdung des geschützten Rechtsguts von vornherein ausschließen lässt, dass mit der Ausführung einer abstrakt gefährlichen Handlung nicht zwingend eine abstrakte Gefahr einherzugehen hat.384 Außerdem muss, wie die grenzüberschreitenden Äußerungsdelikte im Internet belegen, die abstrakte Gefahr weder notwendigerweise am Ort der ursächlichen Tätigkeit noch zum Zeitpunkt deren Vornahme eintreten.385 Eine räumlich-zeitliche Trennung zwischen Handlung und abstrakter Gefahr erscheint demnach möglich.386 Begrifflich zwischen abstrakt gefährlicher Handlung und dadurch verursachter abstrakter Gefahr zu unterscheiden, bedeutet indes nicht, die abstrakte Gefahr automatisch als Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB verstehen zu müssen. Auch hier ist bei der Auslegung des Merkmals der völkerrechtliche Charakter des in der Norm niedergelegten Ubiquitätsprinzips zu bedenken. Er fordert eine zurückhaltende Interpretation, die im Folgenden konkretisiert werden soll. c) Zusammenfassung und eigener Ansatz Nach den vorstehenden Ausführungen empfiehlt sich auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten eine enge Auslegung des Handlungsortes und sind Vorschläge zu seiner Ausweitung abzulehnen. Der Handlungsort einer Tat befindet sich ausschließlich dort, wo der Täter eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfaltet, d. h. am Ort seiner körperlichen Präsenz. Entgegen erstem Anschein, der sich auf die nicht angebrachte Heranziehung der Differenzierung der allgemeinen strafrechtlichen Tatbestandslehre zwischen Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten gründet, weisen abstrakte Gefährdungsdelikte nach vorzugswürdiger 383 Böse, NK, § 9 Rdn. 13; Heghmanns, JA 2001, 276 (279); Kudlich, Jura 2001, 305 (308); vgl. auch Klengel/Heckler, CR 2001, 243 (248). 384 Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (887); Heinrich, GA 1999, 72 (79). 385 Vgl. hierzu die Ausführungen des Kammergerichts in seinem Urteil vom 16. 3. 1999 zur multimedialen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB, Teil 3 Kap. 6 II. 2. a). 386 Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 85; Heinrich, GA 1999, 72 (81 f.).
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Auffassung aber einen Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB auf. Fraglich bleibt, worin der Erfolg eines abstrakten Gefährdungsdelikts besteht, an den die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts anknüpfen soll. Die insoweit bisher vorgetragenen Ansätze vermögen nicht zu überzeugen, weil sie zumeist schon potentielle Auswirkungen einer Handlung ausreichen lassen, um sie der nationalen Strafgewalt zu unterwerfen. Zu einer sinn- und maßvollen Interpretation des Erfolgsortes führt die Rückbesinnung auf den völkerrechtlichen Charakter des in § 9 Abs. 1 StGB verankerten Ubiquitätsprinzips. Demnach kann ein Staat seine Strafgewalt zwar nicht nur dann beanspruchen, wenn eine seine Strafgesetze überschreitende Tätigkeit auf seinem Territorium ausgeübt wird, sondern ebenso dann, wenn dort allein ihre Auswirkungen zu bemerken sind. Allerdings darf nach allgemein anerkannter Auffassung ein Staat die Reichweite seines Strafrechts nicht nach Belieben bestimmen, da es gilt, die Souveränität anderer Völkerrechtssubjekte hinreichend zu beachten. Bei der Ausgestaltung seines Strafanwendungsrechts ist der Staat also völkerrechtlichen Grundsätzen unterworfen.387 Demzufolge muss sich die Auslegung des Ubiquitätsprinzips daran orientieren, wann die Völkergemeinschaft den Einsatz der nationalen Strafgewalt für angebracht hält. Nicht jede beliebige im Inland eintretende Folge einer im Ausland vorgenommenen Tätigkeit vermag daher die Anwendung nationalen Strafrechts zu begründen. Erforderlich sind vielmehr Auswirkungen, die ein durch die inländische Strafrechtsordnung geschütztes Rechtsgut entweder tatsächlich beeinträchtigen oder zumindest ernstlich gefährden. Dies wird vornehmlich dann der Fall sein, wenn lediglich der Zufall über die Verletzung des gefährdeten Rechtsguts entscheidet. Unter Rückgriff auf die deutsche strafrechtliche Terminologie, an die bei der angezeigten völkerrechtlichen Interpretation des § 9 Abs. 1 StGB aber nicht unmittelbar angeknüpft werden kann, bedarf es also im Ergebnis einer konkreten Gefährdung des von der jeweiligen Strafvorschrift geschützten Rechtsguts. Hingegen bliebe der völkerrechtliche Nichteinmischungsgrundsatz unzureichend berücksichtigt, wenn ein Staat seine Strafgewalt auch auf Handlungen im Ausland erstrecken wollte, denen bloß eine generelle Gefährlichkeit für Rechtsgüter im Inland anhaftet, ohne dass sich diese in irgendeiner Weise realisiert oder in nahe liegender Weise zu realisieren droht.388 Zudem muss der Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB zum Tatbestand gehören. Für die Bestimmung des Erfolgsortes sind deshalb allein Auswirkungen des 387 Ambos, Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 2; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 121; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 4 Rdn. 2; Mayer, JZ 1952, 609 (609). 388 Vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 7a; Rackow, BeckOK-StGB, § 130 Rdn. 61.2; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 27; Wengler, JZ 1977, 257 (258); ferner Kudlich, StV 2001, 397 (399); a. A. Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, S. 151.
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Täterhandelns von Bedeutung, die gerade diejenigen Rechtsgüter im Inland gefährden oder verletzen, welche die jeweilige Strafvorschrift schützt und zu denen sie daher in enger Beziehung steht.389 Unerheblich ist, ob die Gefährdung oder Verletzung zum Tatbestandsmerkmal erhoben wird oder – wie bei abstrakten Gefährdungsdelikten – bereits die Vornahme einer generell als gefährlich beurteilten Handlung unter Strafe steht. In welchem Ausmaß der nationale Gesetzgeber ein Rechtsgut strafrechtlichem Schutz unterstellt, bleibt bei der gebotenen völkerrechtsorientierten Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB ohne Bedeutung. Es muss somit zwischen der Verwirklichung eines Straftatbestandes und seiner Anwendbarkeit gemäß den §§ 3 ff. StGB unterschieden werden. Gewährt der Gesetzgeber einem Rechtsgut einen weitgehenden Schutz mittels eines abstrakten Gefährdungsdelikts, genügt zur Vollendung der Tat zwar bereits die Vornahme der tatbestandlichen Handlung, selbst wenn damit lediglich eine abstrakte Gefahr für das betreffende Rechtsgut einhergeht. Handelt der Täter indes im Ausland, findet die tatbestandlich verwirklichte Vorschrift nur Anwendung, sofern das geschützte Rechtsgut tatsächlich beeinträchtigt oder ernstlich gefährdet wird und daher das Eingreifen der nationalen Strafgewalt berechtigt erscheint. Diese Auslegung belässt schließlich § 5 StGB einen eigenen Anwendungsbereich, wenn die dort aufgelisteten abstrakten Gefährdungsdelikte noch keine derartigen Auswirkungen im Inland entfaltet haben. Umgekehrt gilt: Hat der Gesetzgeber einen Straftatbestand als Erfolgsdelikt ausgestaltet, müssen zu seiner Verwirklichung die tatbestandlichen Rechtsgutsverletzungen eintreten, obwohl für die Anwendung des deutschen Strafrechts schon eine ernstliche Gefährdung des geschützten Rechtsguts genügt hätte. Dass die Ausübung der hoheitlichen Strafgewalt selbst bei Erfolgsdelikten nicht die tatsächliche Verletzung des Schutzguts im Inland voraussetzt, verdeutlichen sowohl die für sich allein ausreichende Anknüpfung an den Ort der Handlung als auch die Möglichkeit, den Versuch eines Erfolgsdeliktes zu sanktionieren.390 Die Entscheidung des Gesetzgebers, welchen strafrechtlichen Schutz er einem Rechtsgut zubilligen möchte, und die Frage, wie weit die nationale Strafgewalt ohne Verstoß gegen das Völkerrecht ausgedehnt werden darf, sind voneinander unabhängig. Wie wären nach diesen Überlegungen die geschilderten Sachverhalte des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs zu beurteilen? Den Hitlergruß während eines im Fernsehen übertragenen Fußballländerspiels in Polen zu zeigen, führt entgegen dem Kammergericht nicht zu einem Handlungsort im Inland; die389 Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 33; Sieber, NJW 1999, 2065 (2069); vgl. auch Martin, ZRP 1992, 19 (20). 390 Zur Diskussion um die Ausweitung des deutschen Strafrechts auf im Ausland begangene Versuchstaten, deren Erfolg in Deutschland eintreten sollte (§ 9 Abs. 1 Var. 4 StGB), aber die noch keine Gefährdung hierzulande verursacht haben, Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 259 f.; Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (384 f.).
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ser befindet sich ausschließlich am Ort der körperlichen Präsenz der beiden Angeklagten. Allerdings weist ein solches Verhalten, obwohl es sich bei dem einschlägigen Straftatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt, überall dort einen Erfolgsort auf, wo es das geschützte Rechtsgut des inländischen politischen Friedens verletzt oder unmittelbar zu verletzen droht. Im Hinblick auf den gewählten Zeitpunkt der Tat während eines in der Regel von vielen Millionen in Deutschland verfolgten Fußballländerspiels liegt die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts in diesem Fall durchaus nahe, wie nicht zuletzt das tatsächlich ausgelöste gewaltige Echo in Politik und Gesellschaft391 indiziert; dies hätte jedoch nähere Ausführungen erfordert. Ähnliches gilt für die Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Die vom Ausland aus vorgenommene Veröffentlichung volksverhetzender Thesen auf einer Webseite vermag zwar keinen Handlungsort, aber einen Erfolgsort im Inland zu begründen. Dazu bedarf es indessen entgegen dem Bundesgerichtshof nicht lediglich der friedensstörenden Eignung der veröffentlichten Äußerungen, sondern einer dadurch tatsächlich verursachten Störung oder zumindest ernstlichen Gefährdung des von § 130 StGB geschützten inländischen öffentlichen Friedens. Dies ist wegen der wohl eher überschaubaren Nutzerzahl einer solchen Webseite und des Überangebots von Onlineauftritten im Internet eher zu bezweifeln, müsste jedenfalls vom Tatgericht genauer dargelegt werden. Allein die freie Zugänglichkeit der rechtswidrigen Inhalte und die daraus resultierende Abrufbarkeit reichen hierfür jedenfalls nicht aus; ebenso wenig genügt der Bezug der Webseite zur unheilvollen Geschichte Deutschlands. Dieses Ergebnis wird nicht jeder begrüßen. Auch das Kammergericht und der Bundesgerichtshof scheinen sich sehr stark an der gewünschten Verurteilung der Angeklagten orientiert zu haben, zumal sie sich beide gegen die jeweilige Vorinstanz sowie – mit recht unterschiedlicher Argumentation – gegen die jeweils vorherrschende Auffassung in der Literatur gewandt haben. Da in beiden Fällen Taten aus dem rechtsextremistischen Milieu den Gegenstand der Strafverfahren bildeten, dürfte es sich um politische Urteile handeln. Die Gerichte waren offenbar darum bestrebt, den Vorwurf zu vermeiden, rechtsradikales Gedankengut nicht ausreichend zu bekämpfen.392 So wäre es der Öffentlichkeit wohl kaum zu 391
Vgl. Teil 3 Fn. 275. Vgl. Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (671 f.); Koch, GA 2002, 703 (707); Vassilaki, CR 2001, 262 (265). Der Bundesgerichtshof hat in dieser Hinsicht schon entsprechende Erfahrungen gemacht. Wenige Jahre zuvor wurde die Aufhebung eines Urteils gegen einen lokalen NPD-Vorsitzenden infolge einer missverständlichen Pressemitteilung als Freispruch gedeutet, was zu einem Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit führte. Die betreffende Entscheidung BGHSt 40, 97 ff. hob das angefochtene Urteil jedoch nur wegen unzureichender Tatsachenfeststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung zurück. Zur Reaktion der Öffentlichkeit und dem Verhalten der Medien Bertram, NJW 1994, 2002; Stegbauer, NStZ 2000, 281 (282). 392
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vermitteln gewesen, im Fall Toeben nicht zu einer Verurteilung wegen Volksverhetzung zu gelangen. Des Weiteren ist ebenso aus kriminalpolitischer Sicht zu bezweifeln, ob die Verurteilung des Angeklagten im Fall Toeben sinnvoll war. Zum einen deuteten die konkreten Umstände des Falles, vor allem das freiwillige Erscheinen bei einem Staatsanwalt in Deutschland, darauf hin, dass der Angeklagte geradezu ein Strafverfahren erstrebte, um durch seine Verurteilung für andere Anhänger des revisionistischen Irrglaubens zum Märtyrer zu werden. Dann hätte das Urteil des Bundesgerichtshofs der Bekämpfung rechtsextremistischer Äußerungen einen Bärendienst erwiesen, indem es die betreffenden Kreise noch enger zusammenrücken ließe. Zum anderen bleibt zu überdenken, ob nicht andere Ansätze, die sich in völkerrechtlicher Zurückhaltung üben, auf Dauer eher zu überzeugen vermögen.393 Im Ausland wurde das Toeben-Urteil jedenfalls nicht wegen der Entschlossenheit des Bundesgerichtshofs im Kampf gegen rechtsextremistische Äußerungen begrüßt. Eher wurde es mit Befremden ob der Einmischung in die Souveränität anderer Staaten aufgenommen. In der Tat entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn die Bekämpfung rechtsextremistischen Gedankenguts und der Weg zu gegenseitigem Respekt ungeachtet der Religion, Hautfarbe und Staatsangehörigkeit anderer Menschen gerade darüber verlaufen soll, die Herrschaftsbereiche und Rechtsordnungen anderer Staaten nicht zu respektieren.
III. Anwendbarkeit mehrerer nationaler Strafrechtsordnungen 1. Problemstellung Vornehmlich die Kommunikationsdienste des Internets zeigen, wie sozialschädliche Verhaltensweisen (etwa rechtswidrige Äußerungen auf Webseiten) die Hoheitsgewalt mehrerer Staaten zugleich betreffen. Es stellt sich deshalb zunehmend die Frage, ob bei multiterritorialen Delikten394 die – mitunter sehr unterschiedlichen – Strafrechtsordnungen aller betroffenen Staaten Anwendung finden sollen. Während bei dem soeben erörterten Aspekt des Begehungsortes bei abstrakten Gefährdungsdelikten eine völkerrechtskonforme, aber von unterschiedlichen kulturellen Wertvorstellungen unabhängige Auslegung des Strafanwendungsrechts vorgenommen wurde, gilt es nunmehr also, die Ausgestaltung der einzelnen nationalen Rechtsordnungen und die ihnen zugrunde liegenden Anschauungen gegebenenfalls zu berücksichtigen. Dieses Problem betrifft nicht nur abstrakte Gefährdungsdelikte, sondern auch konkrete Gefährdungs- oder Erfolgsdelikte wie insbesondere die Beleidigung. 393 394
Vgl. bereits Kudlich, StV 2001, 397 (399). Zur Begriffsbestimmung siehe oben Teil 3 Kap. 6 I. 2. b).
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Beispielsweise ist eine herabsetzende Äußerung in einem frei zugänglichen Internet-Forum überall abrufbar und führt demzufolge zu einer weltweit kundgegebenen Missachtung des Betroffenen.395 Der Urheber der ehrverletzenden Bemerkung könnte sich daher in sämtlichen Staaten, die das Rechtsgut Ehre mit strafrechtlichen Mitteln schützen, wegen Beleidigung oder vergleichbarer Straftatbestände strafbar machen.396 Ähnliches gilt bei der unbefugten Online-Veröffentlichung von Photographien aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich, die – dem § 201a StGB entsprechende Strafvorschriften in den einzelnen Staaten vorausgesetzt (vgl. unter anderem Art. 179quater SchwStGB) – zahlreiche nationale Strafrechtsordnungen zu verletzen droht. Diesen Beispielen scheint auf den ersten Blick der Fall eines vom Handlungsstaat aus in das Internet eingeschleusten Virus zu entsprechen, der auf Rechnern in mehreren Staaten Datenverluste verursacht. Wer den Virus verbreitet, verwirklicht nach deutschem Recht die Strafvorschriften der Datenveränderung (§ 303a StGB) oder sogar der Computersabotage (§ 303b StGB). Allerdings besteht zu der soeben erwähnten Beleidigung bzw. der Publikation von Bildaufnahmen ein wesentlicher Unterschied, auf den noch zurückzukommen sein wird: Während dort jeweils nur ein einziges Rechtsgut beeinträchtigt wird, namentlich die Ehre bzw. der höchstpersönliche Lebensbereich des konkreten Betroffenen, verursacht ein sich verbreitendes Virus in der Regel Schäden und Verletzungen von Rechtsgütern bei verschiedenen Personen. Diese Sachverhalte dokumentieren eine Entwicklung, die zum Teil als Deterritorialisierung des Rechts durch das Internet bezeichnet wird.397 Über lange Zeit hat sich das Territorium eines Staates als entscheidender Faktor zur Bestimmung der Reichweite der eigenen Strafrechtsordnung bewährt und bildeten Ländergrenzen ein trennscharfes Kriterium, um nationale Staatsgewalten zu beschränken. Mit dem Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologie und dem Zuwachs globaler Kontaktmöglichkeiten verlieren staatliche Grenzen jedoch zunehmend an Bedeutung. Vor allem das Internet als völkerverbindendes und grenzüberschreitendes Medium wird nicht selten sogar als eigener virtueller, von staatlichen Territorien losgelöster Raum betrachtet. Diese Beschreibung darf freilich nicht dazu verleiten, das Internet als rechtsfreie Sphäre zu betrachten.398 Sie 395 Zu beleidigenden Äußerungen im Internet Hilgendorf/Frank/Valerius, Computerund Internetstrafrecht, Rdn. 523 ff. 396 Das Problem der weltweiten Strafbarkeit von Beleidigungen im Internet wurde – soweit ersichtlich – erstmals aufgezeigt von Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876) und ZStW 113 (2001), 650 (663); ebenso Breuer, MMR 1998, 141 (142); Clauß, MMR 2001, 232 (232); Heghmanns, JA 2001, 276 (277); Hörnle, NStZ 2001, 309 (310). 397 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 52; Jeßberger, JR 2001, 432 (435); vgl. schon Hoeren, NJW 1998, 2849 (2850 f.). 398 Dazu statt vieler Valerius, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden in den Kommunikationsdiensten des Internet, S. 28; Weingärtner, AfP 2002, 134 (135); aus völkerrechtlicher Sicht Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (288 ff.).
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verdeutlicht aber den wachsenden Diskussionsbedarf, ob im digitalen Zeitalter der Informationsgesellschaft nach wie vor an den bisherigen Auslegungsgrundsätzen des Strafanwendungsrechts festgehalten werden kann. 2. Ansatz aus der Rechtsprechung a) Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 (Fall Toeben) Die soweit ersichtlich bislang einzige, wenngleich kurze Stellungnahme der Rechtsprechung stammt vom Bundesgerichtshof in dem oben geschilderten Urteil vom 12. Dezember 2000 im Fall Toeben.399 Nachdem der Bundesgerichtshof bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB anerkennt, bemerkt er in lediglich zwei Absätzen, bei volksverhetzenden Online-Publikationen für die Anwendung deutschen Strafrechts sei auch ein „völkerrechtlich legitimierender Anknüpfungspunkt“ 400 gegeben. Er resultiere aus dem Gewicht des von § 130 StGB geschützten inländischen Rechtsguts und dessen objektivem besonderem Bezug zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.401 So wolle der Äußerungstatbestand des Absatzes 1 angesichts der Geschichte Deutschlands Teile der inländischen Bevölkerung schon im Vorfeld vor unmittelbaren Verletzungen der Menschenwürde bewahren, um dem Ingangsetzen einer historisch nachgewiesen gefährlichen Eigendynamik entgegenzuwirken. Der besondere Bezug des Leugnungstatbestandes des Absatzes 3 zur Bundesrepublik Deutschland ergebe sich aufgrund der Einzigartigkeit der Verbrechen, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus an den Juden begangen wurden.402 b) Anmerkungen Das erfreuliche Bemühen des Bundesgerichtshofs, verallgemeinerungsfähige Kriterien für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf rechtswidrige In399
Siehe Teil 3 Kap. 6 II. 3. a). BGHSt 46, 212 (224); zustimmend Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 101; Hörnle, NStZ 2001, 309 (310). Vgl. bereits BVerfGE 92, 277 (320 f.); BVerfG NJW 2001, 1848 (1852); BGHSt 27, 30 (32); 34, 334 (336); BGH NStZ 1994, 232 (233); NStZ 1999, 236; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rdn. 606; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876 f.); siehe des Weiteren Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (884). 401 Ähnlich hat der BGH bei einer zivilrechtlichen Unterlassungsklage wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts unter ausdrücklichem Verweis auf die Toeben-Entscheidung die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte angenommen, BGH NJW 2010, 1752 (1753 f.). 402 BGHSt 46, 212 (224); zustimmend Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 102; Barton/ Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (323); Schulte, KJ 2001, 341 (342); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (249); kritisch Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 170; Clauß, MMR 2001, 232 (233); Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (312). 400
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halte im Internet zu finden, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht mehr uneingeschränkt begrüßenswert. Zwar hat der Bundesgerichtshof mit dem Rückgriff auf das Merkmal des völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunktes verdeutlicht, dass es nicht selbstverständlich ist, Veröffentlichungen im Internet der nationalen Strafgewalt zu unterwerfen. Allerdings vermögen die Ausführungen zu dem vorgeschlagenen Korrektiv im Einzelnen nicht zu überzeugen. Dem Bundesgerichtshof bleibt insbesondere entgegenzuhalten, sich maßgeblich von den deutschen Strafvorschriften und den dahinter stehenden nationalen Interessen leiten zu lassen. Deutlich kommt dies in dem Hilfsargument zum Ausdruck, es „soll die Verletzung dieses Rechtsguts [des § 130 StGB] gerade von dieser Strafvorschrift unterbunden werden“.403 Der Schutzzweck eines Straftatbestandes wird aber von dem nationalen Gesetzgeber bestimmt und eignet sich daher nicht zur Interpretation auf gemeinsamer Überzeugung basierender, völkerrechtlich geprägter Regeln. Die Beeinträchtigung des jeweils geschützten Rechtsguts ist zudem bereits erforderlich, damit überhaupt ein „zum Tatbestand gehörende[r] Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB vorliegt. Eine darüber hinaus gehende Einschränkung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts wäre demnach mit dem Kriterium des völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunktes nicht mehr verbunden. Vor diesem Hintergrund geht zudem der Verweis auf die Gewichtigkeit des geschützten Rechtsguts ins Leere. Denn dessen Stellenwert sowie anerkannte Schutzwürdigkeit sind allein auf eine Entscheidung des nationalen Gesetzgebers zurückzuführen.404 Würde der Gesetzgeber etwa zum Schutz des inländischen Friedens die bloße namentliche Erwähnung von Mitgliedern des NS-Regimes bei Strafe verbieten, würde einem solchen Verbot nach der Argumentation des Bundesgerichtshofs eine weltweite Geltung im Internet zuteil. Eine solche Tat beträfe nämlich ebenso den inländischen öffentlichen Frieden in Deutschland und wiese einen besonderen Bezug zum Staatsgebiet der Bundesrepublik auf. Das Beispiel verdeutlicht, wie wenig sich der Stellenwert eines Rechtsguts, den es nach der nationalen Rechtsordnung genießt, als völkerrechtlich legitimierender Anknüpfungspunkt eignet. Dies gilt vor allem dann, wenn die praktizierten Möglichkeiten, ein Rechtsgut zu schützen, zahlreich und in ihrer Vorzugswürdigkeit umstritten sind. So besteht in der Völkergemeinschaft zwar eine seltene Einigkeit darüber, dass sich Massenmorde wie unter dem NS-Regime nicht wiederholen dürfen. Allerdings werden unterschiedliche Wege beschritten, um
403
BGHSt 46, 212 (224). Rackow, BeckOK-StGB, § 130 Rdn. 61.2; Gercke, ZUM 2002, 283 (287); Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (674); Lagodny, JZ 2001, 1198 (1200); Velten, in: Festschrift Rudolphi, S. 329 (342 f.); kritisch auch Clauß, MMR 2001, 232 (233); Koch, GA 2002, 703 (710). 404
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dieses Ziel zu erreichen. Während die meisten Staaten im angloamerikanischen Rechtskreis, vornehmlich Australien und die Vereinigten Staaten von Amerika,405 auf die Selbstregulierung des Marktes der freien Meinungen vertrauen, gehen die kontinentaleuropäischen Staaten wie Deutschland und Frankreich gegen bestimmte Meinungsäußerungen mit strafrechtlichen Mitteln vor. Gleichwohl sind in sämtlichen Staaten nach wie vor Anhänger solchen Gedankenguts zu beklagen. Ein Königsweg zur Bekämpfung rechtsextremistischer Äußerungen und Ansichten existiert demnach nicht. Umso bedenklicher erscheint es, wenn der Bundesgerichtshof den völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt allein aus dem unbestreitbaren Gewicht des inländischen Rechtsguts herleitet. Unzweifelhaft verpflichten die Verbrechen, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus an jüdischen Mitbürgern in Deutschland begangen wurden, die Völkergemeinschaft insgesamt zu einem entschlossenen Einschreiten gegen jegliche Ansätze und Ursprünge diskriminierender und menschenverachtender Bewegungen. Dabei trifft Deutschland als Schauplatz der vergangenen Ereignisse eine besondere Verantwortung, die Wiederholung der Geschichte zu verhindern und sich rechtsextremistischem Gedankengut engagiert entgegenzustellen. Doch wird dieser Verantwortung gerecht, wer eine völkerrechtliche Legitimation für einen nationalen Alleingang zur Erreichung des gemeinsamen Ziels postuliert, obwohl sich die einzelnen Mitglieder der Völkergemeinschaft über den Erfolg versprechenden Weg dorthin nicht einigen können? Sollte man aus der Vergangenheit nicht die Lehre gezogen haben, die eigenen Anschauungen weder zu einem weltweit gültigen Maßstab zu erheben noch anderen Staaten und Völkern in einer respektlosen Bevormundung zu oktroyieren? Des Weiteren bleiben die Konsequenzen des Urteils des Bundesgerichtshofs zu bedenken. Wäre das deutsche Strafrecht selbst auf Inhalte von ausländischen Staatsangehörigen in fremder Sprache, die auf einem Server im Ausland gespeichert sind, grundsätzlich anwendbar, führte dies zu einer Allzuständigkeit der deutschen Justizbehörden zur Überwachung des Internets – unter Zugrundelegung des deutschen Strafrechts als weltweiten Maßstab. Legten ausländische Gerichte ihr nationales Strafanwendungsrecht ähnlich wie der Bundesgerichtshof aus, bildeten andere nationale Strafrechtsordnungen und ihre Wertvorstellungen gleichfalls einen globalen Bewertungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit von Inhalten im Internet. Die Folge wäre, in den Kommunikationsdiensten des Internets 405 Zur fehlenden Strafbarkeit der Äußerungen Toebens nach australischem Recht Hörnle, NStZ 2001, 309 (309 f.). Die darin enthaltene Diffamierung der Juden als ethnischer Gruppe verstieß jedoch gegen den Racial Discrimination Act 1975, weshalb die Human Rights Commission die – später (zivil-)gerichtlich bestätigte – Beseitigung der betreffenden Äußerungen von der Webseite anordnete, Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 182 ff.; Taylor, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Australien, S. 1 (9).
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nur noch veröffentlichen zu dürfen, was mit keiner einzigen nationalen Rechtsordnung im Widerspruch stünde.406 Wer das Internet als modernes Kommunikationsmittel mit zahlreichen Möglichkeiten, aber auch mannigfaltigen Missbrauchsgefahren ohnehin skeptisch beäugt, mag eine solche Einschränkung begrüßen. Er dürfte dabei jedoch die Vielgestaltigkeit der geschützten Rechtsgüter sowie die Unterschiede zwischen den kulturellen Wertvorstellungen und somit letztlich die Reichweite der Entscheidung des Bundesgerichtshofs verkennen.407 Beispielsweise verwirklichte jeder Bademodenhersteller in Deutschland, der Photographien von leicht bekleideten Damen im Internet zeigt, Straftatbestände nach fremden Rechtsordnungen, welche die Verbreitung freizügiger Aufnahmen untersagen. Ebenso wenig dürften Internetnutzer Bilder von sich im Internet veröffentlichen, auf denen sie gerade ein alkoholisches Getränk zu sich nehmen, da einige Staaten den öffentlichen Konsum von Alkohol bei Strafe verbieten. Vorstreiter für Demokratie und Meinungsäußerungsfreiheit müssten darauf verzichten, im Internet Kritik gegen nicht demokratisch legitimierte Regierungen zu üben. Ansonsten liefen sie Gefahr, sich dadurch wegen der Verbreitung von Inhalten, welche die jeweiligen Staaten als schädlich für die nationale Sicherheit und das öffentliche Interesse erachten und daher sanktionieren, strafbar zu machen. Vorgänge in der internationalen Praxis zeigen, wie wenig abwegig eine Übernahme der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch die ausländische Justiz erscheint.408 Bereits 1886 wurde ein US-amerikanischer Staatsbürger in Mexiko verurteilt, weil er einen Mexikaner in einem in den USA publizierten Zeitungsartikel beleidigte. Zur Begründung stützte sich das mexikanische Gericht vornehmlich auf das passive Personalitätsprinzip, zudem auf das Ubiquitätsprinzip, nachdem einige Exemplare der Zeitung in Mexiko erhältlich waren.409 Ähnlich unterfiel nach einer Erklärung des Generalstaatsanwalts von Minnesota vom
406 Satzger, SSW-StGB, § 9 Rdn. 14; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 47; Heghmanns, JA 2001, 276 (280); Jeßberger, JR 2001, 432 (434); Kudlich, StV 2001, 397 (397); Roggan, KJ 2001, 337 (340); Satzger, Jura 2010, 108 (115); Valerius, NStZ 2003, 341 (342); Vec, NJW 2002, 1535 (1536). Zur Thematik ferner Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 140; Cornils, JZ 1999, 394 (395); dies., Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (74); Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (321 f.); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1874); ders., ZStW 113 (2001), 650 (661); Koch, JuS 2002, 123 (124); Sieber, NJW 1999, 2065 (2067); Six, Die Beschimpfung im Internet, S. 313 (329); Weingärtner, AfP 2002, 134. 407 Hierzu etwa Fischer, § 9 Rdn. 8a; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 167; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1874); Ringel, CR 1997, 302 (307); Roggan, KJ 2001, 337 (340); Vec, NJW 2002, 1535 (1536 f.). 408 Einen Überblick über internationale Entscheidungen zu Veröffentlichungen im Internet gewährt Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 117 ff. 409 Fall geschildert in Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 663.
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18. Juli 1995 jede Übermittlung im Internet den dortigen Strafgesetzen.410 Im Jahre 2006 schließlich sorgte eine Satire in einer deutschen Zeitung für Aufsehen, die das polnische Staatsoberhaupt Lech Kaczyn´ski als junge Kartoffel verulkte. Die polnische Regierungspartei PiS beauftragte daraufhin den polnischen Justizminister, den Urheber vor einem internationalen Gericht wegen Verunglimpfung fremder Staatspräsidenten anzuklagen.411 Die Auflistung zeigt, wie kurzsichtig eine generelle Behandlung multiterritorialer Delikte nach den eigenen nationalen Regelungen wäre. Bei der Interpretation des Strafanwendungsrechts bleibt stets zu bedenken, dass die eigene Rechtsordnung nicht die einzige auf der Welt ist. Dies lässt sich insbesondere am Beispiel des Internets veranschaulichen. Seine weltweiten Datenübertragungen können die Territorien sämtlicher Staaten und Strafrechtsordnungen berühren; dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob die veröffentlichten Inhalte in allen, den meisten, nur wenigen oder sogar lediglich einem einzigen der derzeit an die 200 anerkannten Staaten strafbar sind. 3. Begrenzungsvorschläge der Literatur Das strafrechtliche Schrifttum steht einer rein nationalen Betrachtung des Phänomens Internet zu weiten Teilen kritisch gegenüber.412 So wurde der ToebenEntscheidung des Bundesgerichtshofs vorgeworfen, den besonderen Bezug zu Deutschland unzureichend begründet zu haben.413 Vermehrt wurde zudem auf die praktischen Konsequenzen für die Strafverfolgungsbehörden hingewiesen, die nach dem Legalitätsprinzip sämtliche nach deutschem Recht strafbaren Äußerungen im Internet verfolgen müssten.414 Deshalb bezeichneten Stellungnahmen das Urteil unter anderem als „bestenfalls auf den ersten Blick begrüßenswert“,415 „politisch höchst brisanten Weg“ 416 oder sogar als „verheerend“ 417. 410
Kuner, CR 1996, 453 (453); Wortlaut der Stellungnahme bei Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 117. 411 Die Zeit vom 13. 7. 2006, S. 5. 412 Vgl. etwa zur Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs Clauß, MMR 2001, 232 (232); Hörnle, NStZ 2001, 309 (310), die beide das Ergebnis im konkreten Fall jedoch begrüßen; Heghmanns, JA 2001, 276 (280); Koch, JuS 2002, 123 (127); ders., GA 2002, 703 (707); Lagodny, JZ 2001, 1198 (1198); Sieber, ZRP 2001, 97 (100); dem BGH grundsätzlich zustimmend dagegen Jeßberger, JR 2001, 432 (432); Schulte, KJ 2001, 341 (342); Schwarzenegger, sic! 2001, 240 (248). 413 Clauß, MMR 2001, 232 (233). 414 Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 149; Hörnle, NStZ 2001, 309 (310 f.); Lagodny, JZ 2001, 1198 (1199); vgl. auch Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 92; zuvor schon Collardin, CR 1995, 618 (620); Conradi/Schlömer, NStZ 1996, 366 (369); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (654); Park, GA 2001, 23 (27). 415 Heghmanns, JA 2001, 276 (280). 416 Roggan, KJ 2001, 337 (340). 417 Lagodny, JZ 2001, 1198 (1198).
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Unter den vielen kritischen Stimmen finden sich nur wenige, die sich um eine konstruktive Lösung bemühen. Zum Teil wird sogar die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Durchdringung in Abrede gestellt und stattdessen auf eine Regulierung durch die Praxis vertraut. Schließlich hätten die Staatsanwälte aus ermittlungsökonomischen Aspekten weder die Zeit noch das Bestreben, alle nach deutschen Maßstäben strafbaren Inhalte zur Anklage zu bringen.418 Die Entscheidung über die tatsächliche Reichweite der nationalen Strafrechtsordnung den Strafverfolgungsbehörden zu überlassen, ist dem deutschen Recht zwar nicht fremd, wie die Norm des § 153c StPO belegt.419 Allerdings sollte nicht vorschnell auf eine derartige „praktische Lösung“ zurückgegriffen werden. Zum einen führte dies zu einer bedenklichen Abhängigkeit von der jeweiligen Strafverfolgungsbehörde, die ohne allgemeingültige dogmatische Vorgaben das Strafanwendungsrecht nahezu nach Belieben einschränken oder erweitern könnte, wie das Beispiel des erwähnten Generalstaatsanwalts von Minnesota zeigt. Zum anderen erweist sich eine wissenschaftliche Betrachtung des Strafanwendungsrechts als notwendig, um den Spielraum zu bestimmen, der den Strafverfolgungsbehörden im Einklang mit dem Völkerrecht überhaupt zur Verfügung stünde. a) Territorialer Bezug zum Inland Die angestrebte zurückhaltende Anwendung des deutschen Strafrechts versucht die Literatur vielfach durch eine teleologische Reduktion des § 9 Abs. 1 StGB zu erreichen. Hilgendorf schlägt beispielsweise vor, bei sozialschädlichen Verhaltensweisen im Internet das deutsche Strafrecht lediglich dann anzuwenden, wenn die Tat einen besonderen territorialen Bezug zum Inland aufweise.420 Das Erfordernis einer solchen territorialen Spezifizierung entnimmt er der viel zitierten Lotus-Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 7. September 1927.421 Danach bedürfe die strafrechtliche Erfassung von Vorgängen im Ausland eines sinnvollen Anknüpfungspunktes.422 Dieser Ansatz entspricht der völkerrechtlichen „genuine link“-Lehre, wonach ein Staat einen Auslandssach418 Vgl. etwa Schulte, KJ 2001, 341 (342), der aber dem völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt als begrenzendem Korrektiv zustimmt, den er bei der Auschwitzleugnung im Internet als gegeben ansieht. 419 Hierauf verweisend Martin, ZRP 1992, 19 (25) für Umweltstraftaten. Das in § 153c Abs. 3 StPO niedergelegte Opportunitätsprinzip bei Auslandstaten vermag das Problem aber wegen der engen Voraussetzungen der Vorschrift nicht zu beseitigen, Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 115 f.; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 139; Breuer, MMR 1998, 141 (143); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1874); Jeßberger, JR 2001, 432 (434); Koch, JuS 2002, 123 (124); Vec, NJW 2002, 1535 (1536). Zu den Hintergründen der Norm siehe die Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 4. Bd., Allgemeiner Teil, 38. bis 52. Sitzung, Bonn 1958, S. 126 f. (43. Sitzung). 420 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876 f.); ders., ZStW 113 (2001), 650 (670). 421 StIGHE 5, 71. Siehe dazu Kunig/Uerpmann, Jura 1994, 186.
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verhalt ausschließlich dann regeln darf, wenn ein Mindestbezug zu ihm, seinem Territorium oder seinen Staatsangehörigen besteht.423 Der Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs lag die Kollision des türkischen Kohlendampfers Boz-Kourt mit dem namensgebenden französischen Postschiff Lotus zugrunde, die sich in internationalen Gewässern im Mittelmeer ereignete. Durch den Zusammenstoß brach die Boz-Kourt in zwei Teile auseinander und sank. Acht Mitglieder der türkischen Besatzung fanden den Tod. Als die Lotus in Istanbul anlegte, wurde ihr zum Zeitpunkt der Kollision wachhabender Offizier festgenommen und von einem türkischen Gericht zu 80 Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt.424 Gegen seine Verurteilung – und somit letztlich gegen die Ausübung der türkischen Strafgerichtsbarkeit – rief die französische Regierung den Ständigen Internationalen Gerichtshof an. In seiner Entscheidung hob der Gerichtshof hervor, dass es einem Staat grundsätzlich nicht untersagt sei, seine Gerichtsbarkeit auf Auslandstaten zu erstrecken. Er habe lediglich die völkerrechtlichen Regeln zu beachten, die der Ausweitung seiner Gerichtsbarkeit auf Sachverhalte außerhalb seines Staatsgebiets Grenzen setzen.425 Im vorliegenden Fall könne die Türkei ihre Strafgewalt bereits auf das Territorialitätsprinzip stützen, da sich der Tod der Opfer auf dem türkischen Schiff ereignete.426 Damit müsse der tatbestandliche Erfolg der angeklagten fahrlässigen Tötung als auf dem Staatsgebiet der Türkei eingetreten angesehen werden.427 Ein Rückgriff auf das passive Personalitätsprinzip mit der Anknüpfung an die Nationalität der Opfer war demnach nicht erforderlich.428 Der Ansicht Hilgendorfs, für die Anwendung des deutschen Strafrechts einen besonderen territorialen Bezug zum Inland vorauszusetzen, sind einige Stimmen in der Literatur gefolgt.429 Außerdem hat sich der Bundesgerichtshof in der Toe422 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1873) m.w. N.; vgl. ferner Breuer, MMR 1998, 141 (143); Clauß, MMR 2001, 232 (232); Jescheck, in: Festschrift Maurach, S. 579 (580); Velten, in: Festschrift Rudolphi, S. 329 (341 f.). 423 Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 12; Ipsen/Epping/Gloria, § 23 Rdn. 88; vgl. auch die Entscheidung des IGH vom 6. 4. 1955 im Fall Nottebohm, ICJ Reports 1955, S. 4 (23); BVerfG DVBl 2001, 64 (65); Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (293 f.). Zur Anerkennung ausländischer Briefkastenfirmen im Internationalen Gesellschaftsrecht unter Rückgriff auf das „genuine link“-Erfordernis BGH NZG 2005, 44 (44 f.); OLG Düsseldorf NJWRR 1195, 1124 (1125); Kindler, MünchKomm-BGB, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, Rdn. 322 ff.; Mäsch, BeckOK-BGB, Art. 12 EGBGB Rdn. 45; Bungert, ZVglRWiss 93 (1994), 117 (151 ff.). 424 Vgl. StIGHE 5, 71 (80 ff.). 425 StIGHE 5, 71 (90 f.). 426 StIGHE 5, 71 (95). 427 StIGHE 5, 71 (97). 428 StIGHE 5, 71 (95 f.). 429 Böse, NK, § 9 Rdn. 14; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 102; Rengier, AT, § 6 Rdn. 13; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Inter-
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ben-Entscheidung der Sache nach angeschlossen, indem er einen völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt verlangte.430 Jedoch bleibt unklar, mithilfe welcher Merkmale sich der geforderte territoriale Bezug hinreichend konkretisieren ließe. Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens belegt die Argumentation des Bundesgerichtshofs im Fall Toeben, wonach die Einzigartigkeit des unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Holocaust an den jüdischen Mitbürgern den völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt bilde.431 Dadurch gibt letztlich für die Anwendung deutschen Strafrechts den Ausschlag, ob die von dem Angeklagten geleugneten Verbrechen zum einen auf damals deutschem Territorium bzw. von der damaligen deutschen Herrschaftsmacht begangen wurden und zum anderen eine nicht zu übersehende Dimension einnahmen. Da Ausmaß und Unbegreiflichkeit einer Tat allein die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nicht zu begründen vermögen, waren somit für die Annahme eines territorialen Bezugs bzw. völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunktes allein der Ort bzw. die Täter der Verbrechen maßgeblich, welche die volksverhetzenden Äußerungen zum Gegenstand hatten. Würden diese Grundsätze verallgemeinert, dürfte jeder Staat sein nationales Strafrecht auf sämtliche Äußerungen im Internet anwenden, die sich auf aktuelle, vergangene oder auch potentielle zukünftige Geschehnisse auf seinem Territorium beziehen.432 Beispielsweise könnte die Volksrepublik China alle kritischen Online-Stellungnahmen zu ihrer Innen- und Außenpolitik strafrechtlich verfolgen, wenn deren Verbreitung der nationalen Sicherheit oder dem öffentlichen Interesse zuwiderliefe. Des Weiteren wäre es kriegsführenden Staaten möglich, alle insoweit unerwünschten Äußerungen unter Androhung von Strafe weltweit zu untersagen. Der postulierte völkerrechtlich legitimierende Anknüpfungspunkt ist daher nicht bereits in der Beteiligung eines Staates an Vorgängen der Vergangenheit oder Gegenwart zu erblicken. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn die Geschehnisse elementare Menschenrechte verletzen bzw. gräuelvolle Massenmorde an Millionen von Menschen beinhalten. Die besondere Dimension solcher Taten vermag das Bedürfnis für eine Anwendung des nationalen Strafrechts nicht zu steigern, sondern hält gerade zur verstärkten Achtung des völkerrechtlichen Gebots gegenseitiger Rücksichtnahme an.
net, S. 147 und 175; Jeßberger, JR 2001, 432 (435); Koch, JuS 2002, 123 (126 f.); kritisch dagegen Breuer, MMR 1998, 141 (144). 430 BGHSt 46, 212 (224). 431 BGHSt 46, 212 (224); kritisch Fischer, § 9 Rdn. 8a. 432 Vgl. Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1877), der einen speziellen Bezug auf deutsche Sachverhalte oder Personen als Kriterium für die notwendige territoriale Spezifizierung vorschlägt; ebenso Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 136. Kritisch im Hinblick auf die Toeben-Entscheidung des BGH Koch, JuS 2002, 123 (127).
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Da eine Anknüpfung an die örtliche Begebenheit des Bezugspunkts einer fraglichen Äußerung demnach ausscheidet, muss nach Alternativen gesucht werden, um den geforderten territorialen Inlandsbezug zu konkretisieren. Die Literatur stellt zum Teil auf Merkmale in der Person des Täters ab, vornehmlich auf seine Intention, in dem anderen Staat zu wirken.433 Jedoch vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar erscheint es zunächst befremdlich, einen Urheber rechtswidriger Inhalte im Internet nicht zu belangen, wenn er sich mit seinen Äußerungen bewusst in einem anderen Staat Gehör verschaffen möchte. Unbehagen bereitet dies vor allem, wenn er von der Strafbarkeit im Erfolgsstaat weiß und das strafrechtliche Gefälle gegenüber seinem Handlungsstaat wissentlich ausnutzt. Deutschland wird in erster Linie von der Verbreitung rechtsextremistischer Äußerungen betroffen sein, die vom Ausland aus auf Webseiten mit agitatorischen und propagandistischen Inhalten veröffentlicht werden, um hierzulande Anhänger entsprechender Gesinnung zu erreichen. Allerdings lässt sich der Rückgriff auf subjektive Merkmale nicht mit dem völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts vereinbaren. Das Völkerrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Staaten, unter anderem die Reichweite der staatlichen Strafgewalt, sofern sie mit der Gebiets- und Personalhoheit anderer Staaten kollidieren sollte. Da die Abgrenzung der Anwendungsbereiche nationaler Strafrechtsordnungen somit ausschließlich das Rechtsverhältnis zwischen den Völkerrechtssubjekten betrifft, kann es nicht zur Disposition eines einzelnen Bürgers, eines insoweit externen Dritten stehen.434 Subjektive Aspekte wie die Intention des Handelnden müssen hier daher generell außer Betracht bleiben.435 Sie sind erst dann hinreichend zu würdigen, wenn die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts feststeht, beispielsweise im Rahmen des Unrechtsbewusstseins.436 Subjektive Merkmale wie die Intention des Urhebers rechtswidriger Inhalte sind demnach beim Strafanwendungsrecht allenfalls dann zu berücksichtigen, wenn sie sich in objektiven Anhaltspunkten manifestieren.437 Unter anderem 433 Collardin, CR 1995, 618 (621); vgl. ferner Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 253 f.; Conradi/Schlömer, NStZ 1996, 366 (369); Engel, AfP 1996, 220 (226); Six, Die Beschimpfung im Internet, S. 313 (330). 434 Vgl. Valerius, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden in den Kommunikationsdiensten des Internet, S. 147; Spatscheck/Alvermann, wistra 1999, 333 (334). 435 Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 30; vgl. auch Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 165 f.; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876); ders., ZStW 113 (2001), 650 (661); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (654); Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (311); Schulte, KJ 2001, 341 (342). 436 Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 152 f.; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 162; Breuer, MMR 1998, 141 (143); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876); siehe dazu Valerius, NStZ 2003, 341 (342 ff.). 437 So bereits Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1877); zustimmend Koch, JuS 2002, 123 (126 f.); vgl. ferner Hörnle, NStZ 2001, 309 (310).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
wird vorgeschlagen, die territoriale Spezifizierung von Äußerungen im Internet dann anzunehmen, wenn sie in deutscher Sprache veröffentlicht werden.438 Dies erscheint allerdings nur selten und allenfalls als zusätzliches Merkmal hilfreich, da sich Sprachgrenzen in der Regel nicht mit Staatsgrenzen decken. Die Sprache allein vermag deshalb nicht den notwendigen Bezug zu dem Territorium eines bestimmten Landes zu begründen.439 Gleiches gilt für den Vorschlag, bei kommerziellen Seiten auf die Bezahlungsmodalitäten und die genannten Währungen zu verweisen,440 da beispielsweise der Euro gesetzliches Zahlungsmittel in einer Reihe von europäischen Staaten ist. Ferner wäre bei Webseiten denkbar, auf die verwendete Top-Level-Domain abzustellen. Abgesehen von den wenigen allgemeinen und mittlerweile weltweit vergebenen Top-Level-Domains (z. B. „.com“ für Unternehmen oder „.org“ für nichtkommerzielle Organisationen) lässt sich zwar grundsätzlich eine Webseite eindeutig einem Staat zuordnen (z. B. „.de“ für Deutschland oder „.ch“ für die Schweiz). Schwierigkeiten bereitet aber nicht lediglich die allgemein für den europäischen Raum Ende 2005 eingeführte Kennung „.eu“, durch die Inhalte im World Wide Web den derzeit 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zugleich zugewiesen würden. Darüber hinaus gestattet der weltweite Domain-Handel ohne Weiteres die Verwendung ausländischer Top-Level-Domains. Webseiten aus der Fernsehbranche bedienen sich etwa häufig der länderspezifischen Kennung „.tv“, allerdings wegen der gleichlautenden Abkürzung für „television“ und nicht zur Andeutung irgendeiner Beziehung zur pazifischen Inselkette Tuvalu. Ähnlich zweckentfremdet werden die Domains „.fm“ (Mikronesien) im Rundfunkbereich sowie zuletzt „.me“ (Montenegro) für sämtliche Kombinationen mit der englischen Übersetzung des Personalpronomens „mich“. Die Beispiele belegen die Schwierigkeit, wenn nicht sogar Aussichtslosigkeit, geeignete Anhaltspunkte zur näheren Ausgestaltung des territorialen Bezugs zum Inland zu finden. Das Internet ist aufgrund seiner grundlegenden Struktur als weltweites Netzwerk nicht an Staatsgrenzen gebunden, was eine nachträgliche Grenzziehung erschwert, wie die mittlerweile verbreiteten Zweckentfremdungen von Top-Level-Domains zeigen. Ohne handhabbare und konkretisierende Kriterien kann dem Vorschlag des territorialen Bezugs indes nicht das notwendige Maß an Bestimmtheit bescheinigt werden, das eine sinnvolle Abstimmung der 438 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1877); ders., ZStW 113 (2001), 650 (670); zustimmend Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 176; Jeßberger, JR 2001, 432 (435); Koch, JuS 2002, 123 (126 f.). 439 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 49; Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 111; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 163; Breuer, MMR 1998, 141 (144); Rath, JA 2007, 26 (29); Satzger, Jura 2010, 108 (116); Schmahl, AVR 47 (2009), 284 (312). 440 Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 176.
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sich bei multiterritorialen Delikten überschneidenden Bereiche staatlicher Souveränität erforderte.441 Ohnehin legt der völkerrechtliche Charakter des Strafanwendungsrechts eine Abgrenzung nahe, die ebenfalls einen völkerrechtlichen Hintergrund aufweist bzw. von der Staatengemeinschaft anerkannten Grundsätzen folgt. Merkmale wie die Sprache oder technische Besonderheiten des Internets erscheinen daher selbst dann beliebig, wenn sie im Ergebnis eine sinnvolle Begrenzung der nationalen Strafgewalt erreichten. b) Anlehnung an die Anknüpfungspunkte des § 7 StGB Andere Ansätze im Schrifttum erwägen deshalb eine Anknüpfung an geschriebene Regelungen völkerrechtlichen Charakters. Breuer legt etwa den Erfolgsort einschränkend aus, indem sie die nationalitätsbezogenen Voraussetzungen des § 7 StGB heranzieht.442 Schließlich hinge es bei Delikten im Internet vom Zufall ab, ob sie Inlands- oder Auslandstaten darstellten. So sei bei einer frei zugänglichen Beleidigung auf einer Webseite ein inländischer Tatort erst dann gegeben, wenn die ehrverletzenden Inhalte in Deutschland tatsächlich gelesen würden. Ansonsten liege lediglich eine Auslandstat vor. Um der zufälligen Gestaltung des Einzelfalls gerecht zu werden, schlägt Breuer vor, eine Inlandstat im Internet trotz hierzulande belegenen Erfolgsortes nur dann anzunehmen, wenn „sich die Tat gegen einen Deutschen richtet (arg. e § 7 Abs. 1 StGB), der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war bzw. es nach der Tat geworden ist (arg. e § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder der Täter zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und nicht ausgeliefert wird (arg. e § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB)“.443 Der Versuch einer einschränkenden Auslegung des Strafanwendungsrechts unter Anknüpfung an bestehende, in diesem Fall in § 7 StGB niedergelegte völkerrechtliche Prinzipien ist grundsätzlich begrüßenswert. Allerdings erweist sich bereits die grundlegende Annahme als zweifelhaft, dass im Wesentlichen der Zufall über den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts entscheidet. Zumindest bei Äußerungsdelikten im Internet werden jedenfalls in der Regel das die Strafanzeige stellende Opfer und/oder der zuständige Staatsanwalt im Rahmen seiner Ermittlungen die betreffenden Inhalte abrufen. Zudem bleibt der Ansatz eine Erklärung schuldig, warum gerade auf § 7 StGB zurückzugreifen wäre. Ein Rekurs auf dessen Kriterien bedarf, um nicht willkürlich zu erscheinen,444 einer hinreichenden Begründung, da er eine Vermengung 441 Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 168 f.; Breuer, MMR 1998, 141 (144); Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (654); Pelz, ZUM 1998, 530 (531). 442 Breuer, MMR 1998, 141 (143 ff.). 443 Breuer, MMR 1998, 141 (144). 444 Vgl. Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (664); Koch, GA 2002, 703 (711); ebenso kritisch Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 171 f.; Körber,
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verschiedener völkerrechtlicher Prinzipien bedeutet, namentlich des Territorialitätsgrundsatzes im Zusammenhang mit der Ubiquitätstheorie einerseits (§§ 3, 9 Abs. 1 StGB) und des aktiven (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB) und passiven Personalitätsprinzips (§ 7 Abs. 1 StGB) sowie des Grundsatzes der stellvertretenden Strafrechtspflege (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB) andererseits. c) Anwendung des Herkunftslandprinzips Eine andere Auffassung versucht, eine Mehrfachzuständigkeit der nationalen Strafgewalten durch die Anwendung des ehemals im Teledienste-, nunmehr im Telemediengesetz verankerten Herkunftslandprinzips zu verhindern.445 Gemäß § 3 Abs. 1 TMG unterliegen in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassene Diensteanbieter und ihre Telemedien auch dann den Anforderungen des deutschen Rechts, wenn die Telemedien in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der E-Commerce-Richtlinie 446 geschäftsmäßig angeboten oder erbracht werden. Umgekehrt bedeutet dies, dass das deutsche Recht für Diensteanbieter, die sich in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der E-CommerceRichtlinie niedergelassen haben, keine Beachtung findet (vgl. § 3 Abs. 2 TMG). Die Regelung soll nach Spindler ebenso das Strafrecht und vor allem § 9 StGB erfassen.447 Damit bestimmte sich die Strafbarkeit der Diensteanbieter letztlich allein nach der Strafrechtsordnung des Staates ihrer Niederlassung.448 Gegen diese These spricht jedoch § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 TMG (vgl. ferner § 3 Abs. 2 Satz 2 TMG). Danach gelangt das Herkunftslandprinzip nicht zur Anwendung, wenn das innerstaatliche Recht „dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, [. . .] vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient“. Dadurch wird das Strafrecht, wie der Bundesgesetzgeber selbst in der Begründung zum EGG betonte,449 faktisch vollständig vom Regelungsbereich des Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 156; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 150. 445 Spindler, NJW 2002, 921 (925 f.); offen gelassen von Barton/Gercke/Janssen, wistra 2004, 321 (323 f.). 446 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt vom 8. 6. 2000 (ABl. EG Nr. L 178, S. 1), in Deutschland umgesetzt durch das Gesetz über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr (Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz; EGG) vom 14. 12. 2001 (BGBl. I, S. 3721). 447 Spindler, NJW 2002, 921 (926). 448 Kudlich, JA 2002, 798 (799); Satzger, Strafrechtliche Providerhaftung, S. 161 (177); zu möglichen Konsequenzen Kudlich, HRRS 2004, 278 (283 f.). 449 BT-Drucks. 14/6098, S. 20.
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Herkunftslandprinzips ausgenommen.450 Dies entspricht des Weiteren den Vorgaben in Art. 3 Abs. 4 lit. a sublit. i 1. SpStr. der E-Commerce-Richtlinie sowie ihren Erwägungsgründen, wonach Harmonisierungen im Bereich des Strafrechts der Mitgliedstaaten ausdrücklich nicht das Ziel der Richtlinie bildeten.451 Ohnehin wäre eine Geltung des § 3 Abs. 1 TMG für das Strafanwendungsrecht wegen des begrenzten Anwendungsbereichs des Telemediengesetzes wenig ergiebig. Zum einen beschränkt sich die Vorschrift ausschließlich auf geschäftsmäßige Anbieter. Darüber hinaus schlösse die Regelung die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf ausländische Sachverhalte lediglich dann aus, wenn sich der Diensteanbieter in einem anderen Staat innerhalb des Geltungsbereichs der E-Commerce-Richtlinie niederließe (vgl. § 3 Abs. 2 TMG). Das Herkunftslandprinzip beanspruchte also nur für einen kleinen Teil der Internetwelt Beachtung.452 Trotz seiner Bedeutungslosigkeit für das Strafrecht bleibt das Herkunftslandprinzip ein Modell, das für die Bekämpfung der Internetkriminalität im Wege internationaler Abkommen als Vorbild oder zumindest als erster Ausgangspunkt für die Abgrenzung nationaler Zuständigkeiten fungieren könnte. 4. Stellungnahme a) Völkerrechtlicher Nichteinmischungsgrundsatz Bislang vermag noch kein Versuch einer restriktiven Auslegung des Strafanwendungsrechts restlos zu überzeugen. Vor allem konzentrieren sich die einzelnen Ansätze zu sehr auf die konkrete Konstellation „Äußerungsdelikte im Internet“. Solche Straftaten bilden zwar den Großteil der multiterritorialen Delikte, dürfen aber nicht den Blick auf allgemeine, von den Besonderheiten des Internets unabhängige Einschränkungsmöglichkeiten verstellen. In Fortführung der vorstehenden Überlegungen erscheint erwägenswert, sich an den völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts zu erinnern und einen Lösungsvorschlag unter Rekurs auf völkerrechtliche Grundsätze zu entwickeln. Anhaltspunkte hierfür sind der bereits erwähnten Lotus-Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 7. September 1927453 zu entnehmen. Eine ihrer Kernaussagen besteht zunächst darin, dass jeder Staat seine 450 Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 20; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 53; Rath, JA 2007, 26 (28); Satzger, Strafrechtliche Providerhaftung, S. 161 (178 ff.); zurückhaltend Kudlich, HRRS 2004, 278 (281). 451 Erwägungsgrund (8) der E-Commerce-Richtlinie, ABl. EG Nr. L 178, S. 1 (2); vgl. bereits Satzger, CR 2001, 109 (117); kritisch dagegen Kudlich, HRRS 2004, 278 (282). 452 Kudlich, JA 2002, 798 (799). 453 StIGHE 5, 71.
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Strafgewalt durchaus auf Auslandstaten erstrecken darf.454 Dieser Aspekt allein erweist sich allerdings als nur bedingt hilfreich, da sich der Sachverhalt der Lotus-Entscheidung und multiterritoriale Delikte nicht vergleichen lassen. Während sich der Fall Lotus auf hoher See ereignete, weisen multiterritoriale Delikte einen Erfolgsort im Inland mehrerer Staaten auf. In der Lotus-Entscheidung war daher fraglich, unter welchen Voraussetzungen ein Staat sein Strafrecht überhaupt auf Taten anwenden darf, die außerhalb des eigenen Territoriums begangen werden. Bei multiterritorialen Delikten hingegen kann an den inländischen Begehungsort und somit an das Territorialitätsprinzip angeknüpft werden. Diskussionswürdig ist hier also nicht die Begründung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts, sondern deren sinn- und maßvolle Einschränkung. Zu verweisen bleibt deswegen auf diejenigen Aussagen der Lotus-Entscheidung, die einen Anhaltspunkt für eine mögliche Begrenzung der nationalen Strafgewalt bieten. Der Ständige Internationale Gerichtshof hat durch seine Ausführungen, ein Staat dürfe seine Macht grundsätzlich nicht auf fremdem Staatsgebiet ausüben, den völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatz hervorgehoben.455 Sind aber diese Aspekte schon bei Geschehnissen auf hoher See zu berücksichtigen, bei denen lediglich die Nationalität des beteiligten Schiffes sowie seiner Besatzung Berührungspunkte mit der Souveränität anderer Staaten darstellen, muss dies ebenso bei Taten gelten, deren Handlungen auf ausländischem Boden stattfinden und die eine ungleich intensivere Beziehung zur Herrschaftsgewalt eines anderen Staates beinhalten. Hier gleichwohl seine nationale Strafgewalt zu beanspruchen, bedeutet demzufolge unter Umständen eine Missachtung der Souveränität des anderen Staates für Geschehnisse auf dessen Territorium und eine Einmischung in dessen innere Angelegenheiten.456 Der demnach zu wahrende völkerrechtliche Nichteinmischungsgrundsatz bildet eine anerkannte Grenze staatlicher Strafgewalt,457 die in Deutschland als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG den einfachen Gesetzen vorgeht.458
454
StIGHE 5, 71 (90 f.). StIGHE 5, 71 (90); Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 17; ders., Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 2; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 124; Kunig/Uerpmann, Jura 1994, 186 (192). 456 Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 19; ders., Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 3; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (660); Mayer, JZ 1952, 609 (610); vgl. zu § 6 StGB Schönke/Schröder/Eser, Vor §§ 3–9 Rdn. 19 f.; Lackner/Kühl, § 6 Rdn. 1. 457 Vgl. aus deutscher Sicht BVerfGE 63, 343 (369); BGHSt 27, 30 (32); 34, 334 (336); BGH NStZ 1994, 232 (233); Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 20; ders., Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 4. 458 BayObLG NJW 1998, 392 (393); Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 24; Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 14; Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 29; Ambos, Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 5; Holthausen, NJW 1992, 214 (214); Kunig, JuS 1978, 594 (595); Pottmeyer, NStZ 1992, 57 (58). 455
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b) Handlungsort als primärer Anknüpfungspunkt Vor dem Zeitalter des Internets gewährleistete das Territorialitätsprinzip die hinreichende Beachtung des Grundsatzes der Nichteinmischung, da die Staatsgrenzen ein handhabbares Kriterium für die Begründung und Begrenzung der nationalen Strafgewalt waren. Auf welche Taten ein Staat seine Strafrechtsordnung grundsätzlich anwenden durfte, ergab sich aus dem Zusammenspiel mit der Ubiquitätstheorie und der Belegenheit von Handlungs- und Erfolgsort. Ausnahmesituationen, in denen eine Anwendung des nationalen Strafrechts auch auf Auslandstaten gerechtfertigt erschien, wurde durch die Entwicklung weiterer völkerrechtlicher Prinzipien (vgl. in Deutschland die §§ 5 ff. StGB) Rechnung getragen.459 Die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie erweist sich nunmehr jedoch als unabhängig von staatlichen Grenzen. Das Territorialitätsprinzip vermag daher bei multiterritorialen Delikten seine Funktion, nationale Strafgewalten voneinander abzugrenzen und Kompetenzkonflikte zwischen den Staaten von vornherein zu vermeiden oder zumindest zu verringern,460 nicht mehr zu erfüllen. Es bedarf somit neuer Kriterien, um die einstige Trennschärfe wiederherzustellen. Dies gilt zumindest dann, wenn eine Tat weltweit nur das Rechtsgut eines Einzelnen verletzt, wie etwa bei einer herabwürdigenden Äußerung auf einer Webseite oder in sonstigen Kommunikationsdiensten des Internets. Sind aber die Rechtsgüter mehrerer Personen betroffen (z. B. bei einer Virenattacke, die unzählige Rechner in verschiedenen Staaten befällt), spricht nichts dagegen, es bei der traditionellen Anknüpfung an den Territorialitätsgrundsatz unter Zuhilfenahme der Ubiquitätstheorie zu belassen. Schließlich liegt bezogen auf den jeweiligen Einzelfall (z. B. die Infektion eines einzelnen Rechners) überhaupt kein multiterritoriales, sondern ein gewöhnliches Distanzdelikt vor. Soll das aufgezeigte Problem nicht sogleich zum Anlass genommen werden, das Territorialitätsprinzip als maßgeblichen Grundsatz aufzugeben,461 ist nach einem anderen Ausweg zu suchen, um den zu weiten Anwendungsbereich nationaler Strafrechtsordnungen bei multiterritorialen Delikten angemessen zu begrenzen. Da der Inlandsbegriff als Grundlage des Territorialitätsprinzips wenig Spielraum für eine restriktive Interpretation gewährt, bietet sich an, die Vorschrift des § 9 Abs. 1 StGB auf eine denkbare völkerrechtskonforme Auslegung zu überprüfen. Ohnehin führt erst die konsequente Anwendung des Ubiquitätsprinzips auf Äußerungs- und Verbreitungsdelikte im Internet zu einer faktischen Erweiterung
459 Ambos, Internationales Strafrecht, § 2 Rdn. 7; Lagodny, ZStW 101 (1989), 987 (1005). 460 Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 24; Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (324). 461 Angedacht von Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (324).
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des Weltrechtsprinzips auf diese Taten.462 Auf das Weltrechtsprinzip sollte hingegen – wie auf sämtliche anderen Prinzipien der §§ 5 ff. StGB – lediglich ausnahmsweise und bei fürsprechender Interessenabwägung zurückgegriffen werden, um die nationale Strafgewalt auszudehnen. Ein denkbarer Ansatz für eine restriktive Anwendung der Ubiquitätstheorie wäre, bei multiterritorialen Delikten eine Abstufung innerhalb ihrer beiden Anknüpfungspunkte vorzunehmen. Dabei spricht vieles dafür, den Ort der Handlung als gegenüber dem Erfolgsort gewichtigeres Kriterium anzusehen. Schließlich unterfällt die Vornahme einer Tätigkeit unmittelbar der auf dem jeweiligen Territorium herrschenden Staatsgewalt, während die im Ausland dadurch hervorgerufenen Folgen die Gebietshoheit der betroffenen Staaten erst unter Rekurs auf den Auswirkungsgrundsatz463 berühren. Bei der Äußerung bzw. Verbreitung rechtswidriger Inhalte in frei zugänglichen Kommunikationsdiensten des Internets kommt hinzu, dass – sofern nicht eine extensive Auslegung des Handlungsbegriffs in § 9 Abs. 1 StGB befürwortet wird – nur am Ort der körperlichen Präsenz des Täters Handlungs- und Erfolgsort zugleich gegeben sind. Demzufolge erscheint es sinnvoll, den Ort der Handlung als primären Anknüpfungspunkt für die Begründung nationaler Strafgewalt heranzuziehen.464 Bei Inhaltsdelikten im Internet ebenso wie bei sonstigen multiterritorialen Delikten hätte dies die vorrangige Zuständigkeit desjenigen Staates zur Folge, auf dessen Gebiet sich der Täter zum Zeitpunkt der Tat befindet. Ein solcher Ansatz wäre in der Praxis handhabbar, würde Kompetenzkonflikte zwischen den Staaten vermeiden und dem völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatz Rechnung tragen. c) Rekurs auf das Recht des Handlungsortes Allerdings ist damit noch nicht geklärt, ob bei multiterritorialen Delikten eine Anknüpfung an den Erfolgsort von vornherein ausgeschlossen bleibt. Unter Zugrundelegung der hier vertretenen zurückhaltenden Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB, wonach der Erfolgsort eine tatsächliche Verletzung oder zumindest ernstliche Gefährdung der tatbestandlich geschützten Rechtsgüter voraussetzt, steht der Anwendbarkeit des Strafrechts des Erfolgsstaates zunächst nichts entgegen. Es bedarf jedoch eines Kriteriums, das die Internationalität multiterritorialer Delikte und die damit einhergehende Betroffenheit der Strafgewalt mehrerer souveräner Staaten ausreichend zu berücksichtigen weiß.
462 Fischer, § 9 Rdn. 8a; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1878); Koch, JuS 2002, 123 (124); Lagodny, JZ 2001, 1198 (1200); Roggan, KJ 2001, 337 (338 f.); vgl. auch Werle/ Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 91; Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 141. 463 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 261. 464 Vgl. auch Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rdn. 613.
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Denkbar wäre, in Anlehnung an § 7 StGB das deutsche Strafrecht nur dann auf multiterritoriale Delikte anzuwenden, wenn die Tat am Handlungsort mit Strafe bedroht ist bzw. dieser keiner Strafgewalt unterliegt. Dieser Rekurs auf die lex loci dient auch in § 7 StGB der notwendigen Begrenzung des Strafanwendungsrechts. Die Erweiterung der nationalen Strafgewalt auf Auslandstaten erweist sich nämlich beim aktiven (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB)465 sowie beim passiven Personalitätsprinzip (§ 7 Abs. 1 StGB)466 zumindest dann als völkerrechtlich bedenklich, wenn das Recht des Tatorts völlig unbeachtet bliebe.467 Das in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 StGB aufgestellte Erfordernis einer identischen Tatortnorm468 verhindert die Anwendung des deutschen Strafrechts auf Sachverhalte, die der nach dem Territorialitätsgrundsatz zuständige ausländische Staat nicht für strafrechtlich relevant hält.469 Bei der Begrenzung der inländischen Strafgewalt auf multiterritoriale Delikte gewährleistete der Rückgriff auf die Rechtslage am Handlungsort gleichermaßen, die Anerkennung anderer nationaler Strafrechtsordnungen als gesetzgeberische Akte eines unabhängigen und selbstständigen Völkerrechtssubjekts zum Ausdruck zu bringen und den völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatz zu wahren.470 Allerdings bedarf die hier vorgeschlagene Berücksichtigung der Strafbarkeit nach einer anderen Rechtsordnung einer Modifikation. Zum einen kann anders als in § 7 StGB nicht auf die Rechtslage am Tatort insgesamt verwiesen werden, da sich der Erfolgsort bei multiterritorialen Delikten begriffsnotwendig in verschiedenen Staaten befindet und keine eindeutige Anknüpfung an eine bestimmte Rechtsordnung gestattet. Zum anderen gilt es gerade, die nationale Strafgewalt der Erfolgsstaaten zu begrenzen. Anstelle der Strafbarkeit am Tatort bleibt demzufolge die Rechtslage am Handlungsort als maßgebliches Kriterium heranzuziehen.471 465 Kritisch Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 139 ff. und 734; siehe ferner Schröder, JZ 1968, 241 (241). 466 Zur Entwicklung in Deutschland Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 657 ff. 467 Ambos, MünchKomm-StGB, Vor §§ 3–7 Rdn. 37 und 43; ders., Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 40 und 73; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 4 Rdn. 11; Mayer, JZ 1952, 609 (609); Pottmeyer, NStZ 1992, 57 (60); Satzger, Jura 2010, 190 (192); a. A. Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 18; Werle/Jeßberger, LK, Vor § 3 Rdn. 230 und 232; für das aktive Personalitätsprinzip Holthausen, NJW 1992, 214 (215); für das passive Personalitätsprinzip Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 127; Henrich, Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht, S. 194. 468 Hierzu statt vieler Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 151a ff.; Niemöller, NStZ 1993, 171; Rath, JA 2007, 26 (32 ff.); eingehend Scholten, Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB, S. 125 ff. 469 Schönke/Schröder/Eser, § 7 Rdn. 7; Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rdn. 41 und 73; Eser, Internet und internationales Strafrecht, S. 303 (316); Mayer, JZ 1952, 609 (610); Scholten, NStZ 1994, 266 (270). 470 Im Ergebnis ebenso schon Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 173 ff. 471 Siehe bereits Valerius, Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht, S. 217 (233).
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d) Zusammenfassung und Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass multiterritoriale Delikte eine völkerrechtsorientierte Auslegung des Strafanwendungsrechts erfordern. Die nationale Strafgewalt muss vor allem begrenzt werden, um dem Grundsatz der Nichteinmischung in fremde Staatsangelegenheiten Rechnung zu tragen. Möglich erscheint, den Handlungsort zum primären Anknüpfungspunkt zu erheben. Somit wäre bei multiterritorialen Delikten in erster Linie derjenige Staat zuständig, in dem der Täter die auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit vorgenommen hat, d. h. mit anderen Worten körperlich anwesend war. Die Strafrechtsordnung des Erfolgsstaates darf hingegen nur dann angewendet werden, wenn die Tat dort tatbestandlich geschützte Rechtsgüter ernstlich gefährdet oder verletzt und die Tat zudem am Ort der Handlung mit Strafe bedroht ist bzw. der Handlungsort keiner Strafgewalt unterliegt. Die Betonung des Handlungsortes stellt eine praktikable Lösung des Zuständigkeitskonflikts bei multiterritorialen Delikten dar, welche die notwendige völkerrechtliche Zurückhaltung zum Ausdruck bringt. Wegen dieses Anliegens darf das nationale Strafrecht die Grenzen seiner Zuständigkeit auch nicht selbst bestimmen.472 Ebenso erweist sich ein etwaiger Mehraufwand für die Strafverfolgungsorgane durch die Berücksichtigung der Strafbarkeit am Tat- bzw. Handlungsort473 als unbeachtlich. Auf den notwendigen Respekt gegenüber fremden Rechtsordnungen mit gegebenenfalls anderen kulturellen Hintergründen darf nicht mit einem schlichten Verweis auf die höhere Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsbehörden verzichtet werden. Der hier unterbreitete Vorschlag enthält schließlich eine gangbare Lösung für diejenige Fallkonstellation, in der ein Verhalten an den Erfolgsorten sowie am Handlungsort mit Strafe bedroht ist. Stellt beispielsweise der Handlungsstaat die Beleidigung ebenfalls wie Deutschland unter Strafe, bleiben die §§ 185 ff. StGB selbst dann anwendbar, wenn sich Täter und Opfer einer herabwürdigenden Aussage im Ausland befinden und sich der Bezug zum Inland in der Kenntnisnahme der Äußerung erschöpft.474 Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erscheint hier nicht von vornherein als unangebracht, da die ehrverletzende Äußerung im Inland wahrgenommen werden kann. Es bedeutet einen nicht unerheblichen Unterschied, ob jemand einen anderen unter vier Augen oder vor sämtlichen Nutzern des Internets beleidigt. Der völkerrechtliche Nichteinmischungsgrundsatz wird zunächst gewährleistet, indem aufgrund des Erfordernisses der identischen Tatortnorm die eigenen Strafgesetze nur dann zum Zuge kommen, wenn 472
So aber Koch, GA 2002, 703 (712). Koch, GA 2002, 703 (712). 474 Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (665); aufgegriffen von Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 157; Leupold/Bachmann/Pelz, MMR 2000, 648 (653). 473
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sie denjenigen des Handlungsstaates entsprechen. Dadurch wird also weder die deutsche noch irgendeine andere nationale Rechtsordnung zum weltweit verbindlichen Maßstab für Delikte im Internet erhoben. Begründet die Strafbarkeit im Handlungsstaat die Anwendbarkeit des inländischen Strafrechts, bildet der Handlungsort den primären Anknüpfungspunkt. Strafverfolgungsbehörden aus anderen Staaten dürfen demnach lediglich zurückhaltend tätig werden, um nicht die Souveränität des Handlungsstaates zu missachten. Vor diesem völkerrechtlichen Hintergrund muss auch das Legalitätsprinzip restriktiv ausgelegt werden. Ohnehin ist ein uneingeschränkter Rückgriff auf diesen Grundsatz fraglich, wenn weder Täter noch Opfer einen Bezug zum Inland aufweisen und die Aburteilung einer Straftat daher vorrangig einem anderen Staat obliegt. Die primäre Zuständigkeit des Handlungsstaates hat also nicht bloß Auswirkungen auf die (materielle) Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts anderer Staaten, sondern ebenso auf die (formelle) Ermittlungspflicht ihrer Strafverfolgungsbehörden. Dies gilt generell für Fälle einer Mehrfachzuständigkeit, ohne für die spezielle Situation des § 185 StGB ergänzend auf dessen Charakter als absolutes Antragsdelikt (§ 194 Abs. 1 Satz 1 StGB) verweisen zu müssen, der einer Strafverfolgung bei Äußerungen unter Personen im Ausland von vornherein häufig entgegenstehen dürfte. Bei der Strafbarkeit von Internetdelikten in erster Linie an den Handlungsort anzuknüpfen, ermöglicht zwar den Urhebern rechtswidriger Inhalte, sich bewusst in Staaten zu begeben, die bei der Bekämpfung sozialschädlicher Äußerungen auf den Einsatz strafrechtlicher Mittel verzichten oder nur zurückhaltend davon Gebrauch machen.475 Beispielsweise wäre nach dem hier vorgeschlagenen Ansatz das deutsche Strafrecht nicht auf rechtsextremistische Propaganda im Internet anwendbar, wenn der Heimatstaat des Handelnden – wie im Fall Toeben – solche Aussagen nicht mit Strafe sanktioniert. Dies ruft unter Umständen die Gefahr eines „Äußerungstourismus“ hervor. Doch stellt dies ein schon von anderen Rechtsgütern und außerhalb des Internets bekanntes Problem dar, das stets bei einem unterschiedlichen strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern in den betroffenen Staaten auftritt. Exemplarisch kann dies am Schwangerschaftsabbruch oder an der Sterbehilfe verdeutlicht werden, bei denen Personen aus Deutschland die liberaleren Regelungen in Nachbarstaaten ausnutzen.476 Um einen „Äußerungstourismus“ zu vermeiden, müssen vielmehr gemeinsame internationale Maßnah475 Vgl. bereits Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (665), der in diesem Zusammenhang von „Strafbarkeitsoasen“ spricht; kritisch deshalb Lehle, Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet, S. 151. Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 232 ff. will zu diesem Zweck das aktive Personalitätsprinzip auf Kommunikationsdelikte im Internet erweitern; zur Kritik am aktiven Personalitätsprinzip siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 465 und 467. 476 Zur Gefahr eines „Sterbetourismus“ Hilgendorf, Sterbehilfe in Europa, S. 39 (41); Janssen, KJ 2003, 103.
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men verabschiedet werden.477 Ein koordiniertes Vorgehen der Staatengemeinschaft mag einen langen und beschwerlichen Weg bedeuten, der gegebenenfalls wenig Erfolg verspricht, falls erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten und ihren Kulturen existieren.478 Er bleibt aber der Alternative nationaler Alleingänge vorzuziehen.
IV. Beteiligung an grenzüberschreitenden Straftaten 1. Allgemeines Die beiden voranstehenden Abschnitte haben gezeigt, dass vornehmlich die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie die einzelnen Staaten näher zusammenrücken lässt und für das Handeln des Einzelnen, z. B. bei Äußerungen im Internet, vermehrt Berührungspunkte zu anderen hoheitlichen Strafgewalten eröffnet. Eine kritische Betrachtung des Strafanwendungsrechts legen jedoch auch die gestiegene Mobilität der Menschen sowie die Internationalisierung und Globalisierung des beruflichen Lebens nahe. Insbesondere die zunehmend zu verzeichnenden Formen intensiver internationaler Kooperation begründen Schnittstellen zu anderen nationalen Strafrechtsordnungen. Vor allem bei naturwissenschaftlichen Forschungsprojekten zählt eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Wissenschaftlern mittlerweile zum Alltag. Gleichwohl sind nach wie vor die jeweiligen nationalen Regelungen zu beachten, die sich bei ethisch umstrittenen Bereichen mitunter erheblich unterscheiden.
477 Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 34; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 52; Cornils, Die territorialen Grenzen der Strafgerichtsbarkeit und Internet, S. 71 (84); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1878); Koch, JuS 2002, 123 (127); ders., GA 2002, 703 (713); Sieber, ZRP 2001, 97 (102); vgl. ferner Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 103; Jeßberger, JR 2001, 432 (435); Rath, JA 2007, 26 (29). 478 Kritisch etwa Vec, NJW 2002, 1535 (1539). Vgl. beispielsweise die gescheiterten Verhandlungen um die Einbeziehung der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts in den Grundtext des Übereinkommens über Computerkriminalität (Convention on Cybercrime, SEV Nr. 185) des Europarates. Deren Bekämpfung wurde sodann Gegenstand des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art vom 28. 1. 2003 (SEV Nr. 189); zu dessen Regelungen Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 207 ff.; kritisch Kugelmann, DuD 2003, 345 (346 f.). Das Zusatzprotokoll trat in den ersten Staaten zum 1. 3. 2006 in Kraft. Am 28. 11. 2008 haben sich indessen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf einen Rahmenbeschluss zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (ABl. EU Nr. L 328, S. 55 ff.) geeinigt. Danach sollen die Mitgliedstaaten unter anderem das öffentliche Billigen, Leugnen und Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe stellen; siehe hierzu S. Weber, ZRP 2008, 21.
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Bleiben die Anwendungsbereiche der einzelnen Rechtsordnungen im Einzelnen unklar, führt dies für die Beteiligten eines Forschungsvorhabens zu nicht näher bestimmbaren Strafbarkeitsrisiken. Exemplarisch für diese Entwicklung sei auf die Forschung an embryonalen Stammzellen verwiesen, über deren rechtliche Behandlung in den einzelnen Staaten, selbst innerhalb der Europäischen Union, kontrovers diskutiert wird.479 In Deutschland war die Zulässigkeit der embryonalen Stammzellforschung zuletzt in den Jahren 2006 bis 2008 Gegenstand von Gesetzentwürfen.480 Bei deren Beratung wurde unter anderem über die Beseitigung von Strafbarkeitsrisiken bei der Beteiligung an grenzüberschreitenden Forschungsvorhaben debattiert.481 Anders als Äußerungen im Internet sind internationale Forschungsvorhaben dadurch gekennzeichnet, dass nicht schon die Handlungen des Einzelnen zwingend Auswirkungen auf die Territorien anderer Staaten nach sich ziehen. Den grenzüberschreitenden Bezug erhalten diese Projekte vielmehr durch die Beteiligung von Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet eines anderen Staates handeln und dadurch Berührungspunkte zu dessen nationaler Rechtsordnung herstellen. Das Strafbarkeitsrisiko des Einzelnen ergibt sich daher nicht aus den unmittelbaren Folgen seines Tuns für das ausländische Territorium, sondern erst aufgrund der Zurechnung des Verhaltens der im Ausland agierenden Personen. 2. Grenzüberschreitende Täterschaft a) Grundlagen Den Tatort von Tätern bestimmt § 9 Abs. 1 StGB. Danach ist eine Tat „an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg
479 Eingehend zur Strafbarkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen in anderen Staaten Taupitz, Rechtliche Regelung der Embryonenforschung im internationalen Vergleich, S. 7 ff. 480 Vgl. zunächst den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 18. 1. 2006, BT-Drucks. 16/383; der von der Fraktion der FDP vorgetragene Entwurf war identisch mit dem in der 15. Legislaturperiode eingebrachten, damals aber nicht mehr beratenen Gesetzentwurf vom 1. 6. 2005, BT-Drucks. 15/5584. Siehe außerdem die verschiedenen Gesetzentwürfe in BT-Drucks. 16/7981 bis 7984 vom 5. bzw. 6. 2. 2008 sowie den Antrag vom 6. 2. 2008, BT-Drucks. 16/7985. Schließlich wurde der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 6. 2. 2008, BT-Drucks. 16/7981, verabschiedet und am 14. 8. 2008 ausgefertigt (BGBl. I, S. 1708). 481 Hierzu bereits Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 154 ff.; Dahs/Müssig, Rechtliche Stellungnahme zur Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen im In- und Ausland, S. 18 ff; Eser/Koch, Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen im In- und Ausland, S. 84 ff.; Dahs/Müssig, MedR 2003, 617 (619 ff.); Hilgendorf, ZRP 2006, 22 (24); Schwarz, MedR 2003, 158 (163); Taupitz, JZ 2007, 113 (119); Valerius, NStZ 2008, 121 (122 ff.).
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eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte“. Beim vollendeten Begehungsdelikt durch aktives Tun befindet sich der Tatort demnach sowohl am Handlungs- (Var. 1) als auch am Erfolgsort (Var. 3) der Tat. Bei Delikten mit grenzüberschreitender Beteiligung kann demnach jeder Täter nach deutschem Strafrecht belangt werden, wenn allein der Erfolg seiner Tat im Inland liegt (§ 9 Abs. 1 Var. 3 StGB). Um unerwünschte Gefährdungen oder Verletzungen schützenswerter Rechtsgüter auf seinem Territorium zu unterbinden, darf ein Staat das hierfür verantwortliche Verhalten mit strafrechtlichen Mitteln ahnden, selbst wenn es im Ausland vorgenommen wird. Jeder Beitrag eines Allein-, Mit- oder mittelbaren Täters, der entsprechende Folgen hervorruft, zieht also einen Erfolgsort nach sich. Allerdings darf der Auswirkungsgrundsatz nicht grenzenlos verstanden werden. Einschränkungen sind beispielsweise bei der erörterten Konstellation eines multiterritorialen Delikts angebracht, bei dem sich die Anknüpfung an den Erfolgsort nicht mehr zur gegenseitigen Be- und Abgrenzung nationaler Strafgewalten eignet. Ebenso wenig ruft grundsätzlich die Anknüpfung des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB an den Ort der Handlung der Tat Bedenken hervor. Wer sich im Geltungsbereich einer Rechtsordnung befindet, ist in seinem Verhalten der herrschenden Staatsgewalt unterworfen. Widerspricht eine Tätigkeit den Verboten oder Geboten einer Rechtsordnung, darf sie Sanktionen bis hin zur Kriminalstrafe vorsehen. Dies gilt unabhängig davon, ob Auswirkungen des geahndeten Verhaltens, wie der tatbestandliche Erfolg einer Straftat, im Inland oder ausschließlich im Ausland eintreten. In diesen beiden Konstellationen einer Inlandstat hat es keinen Einfluss auf die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts, ob und gegebenenfalls wo sich sonstige Personen an der Tat beteiligt haben. Unerheblich bleibt also, ob dem Täter, der entweder im Inland handelt oder hier einen Erfolg bewirkt, weitere Beteiligte zur Seite standen und ob diese im In- oder Ausland gehandelt haben. Dies verwundert nicht, da es fernliegend erscheint, die Anwendbarkeit einer Strafrechtsordnung anders zu beurteilen, weil ein Täter nicht allein handelte, sondern von anderen Personen unterstützt wurde. Doch wie verhält es sich in dem umgekehrten Fall einer reinen Auslandstat des Täters, d. h. wenn er selbst nur im Ausland handelt und dadurch einen strafrechtlich relevanten Erfolgseintritt allein im Ausland hervorruft? Hier erweist sich als problematisch, ob dem Täter die Beteiligung weiterer Personen zum Nachteil gereichen und ihm der inländische Handlungsort seines Komplizen, seines Tatmittlers oder eines Teilnehmers an der Tat vorgeworfen werden soll. Für diese Situation enthält § 9 Abs. 1 StGB keine Regelung. Der Wortlaut der Norm stellt lediglich darauf ab, an welchem Ort „der Täter“ gehandelt hat, und entbehrt somit ausdrücklicher Vorgaben für den Fall der Begehung einer Straftat durch mehrere Beteiligte. Des Weiteren fehlt eine dem § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB
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entsprechende Regelung, die für die Bestimmung des Teilnahmeorts unter anderem auf den Ort der Haupttat und dadurch letztlich auf den Handlungsort der Täter verweist. Bei den Beteiligungsformen der mittelbaren sowie der Mittäterschaft ist jedoch denkbar, dem Täter neben der Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen durch sein Werkzeug oder durch sonstige Mittäter auch deren Handlungsort zuzurechnen. b) Mittäterschaft aa) Herrschende Auffassung Eine solche Zurechnung kommt zunächst bei der Mittäterschaft in Betracht. Die Vorstellung gemeinschaftlicher grenzüberschreitender Straftaten ruft insbesondere Assoziationen mit international tätigen Banden organisierter Kriminalität oder mafiaähnlichen Vereinigungen hervor, die mit Betäubungsmitteln oder Menschen handeln oder Kraftfahrzeuge verschieben. Bei solchen Sachverhalten dürfte das Rechtsgefühl einer wechselseitigen Zurechnung der Handlungsorte kaum abgeneigt sein. Schließlich sind den gemeinschaftlich agierenden Mittätern bereits ihre jeweiligen tatbestandsverwirklichenden Handlungen zuzurechnen, da sie durch ihr arbeitsteiliges Zusammenwirken wie eine einzige Person auftreten. Daher scheinen ebenso wenig Einwände dagegen zu bestehen, dass sie an jedem Ort tätig werden, an dem einer von ihnen gehandelt hat. Dementsprechend bejahen Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend eine gegenseitige Zurechnung der Handlungsorte bei Mittätern.482 Stellvertretend führte der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 4. Dezember 1992483 aus, bei der Mittäterschaft sei die Tat an jedem Ort begangen, an dem auch nur einer der Mittäter gehandelt habe.484 Ausreichend seien sogar (tatortbegründende) Tatbeiträge eines Mittäters, die sich auf Vorbereitungshandlungen beschränkten.485 Eine gesonderte (und somit gegebenenfalls unterschiedliche Behandlung der Mittäter hervorrufende) Tatortbestimmung widerspräche dem Grundsatz wechselseitiger Zurechnung, der auf der gemeinschaftlichen Tatbegehung im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB beruhe. Der gemeinschaftliche Angriff auf das geschützte Rechtsgut gehe von jedem Ort aus, an dem einer der Mittäter seinen Tatbeitrag geleistet und damit im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB gehandelt habe. Da sich jeder
482
Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 268. BGHSt 39, 88. 484 BGHSt 39, 88 (91). 485 BGHSt 39, 88 (91); ebenso schon RGSt 57, 144 (145); ferner BGH NStZ-RR 2009, 197; mit Einschränkungen Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 36 f.; a. A. Hoyer, SK-StGB, § 9 Rdn. 5; kritisch auch Burchard, HRRS 2010, 132 (143); Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (410 f.). 483
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Mittäter den Tatbeitrag des anderen zurechnen lassen müsse, könne für die Tatortbestimmung nichts anderes gelten.486 Der Entscheidung lag ein Versicherungsbetrug gemäß § 265 StGB in der Fassung vor dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26. Januar 1998487 zugrunde. Zwei Mittäter begaben sich mit zwei Pkws von Deutschland aus nach Belgien, um dort einen Pkw in Brand zu setzen und die Versicherungssumme zu erlangen. Da der angeklagte Mittäter den versicherten Pkw allein anzündete, erschöpfte sich der Tatbeitrag seiner Mittäterin darin, einen der beiden Pkws von Deutschland nach Belgien zu fahren. Dabei blieb offen, ob es sich um den angezündeten oder den anderen Wagen handelte, mit dem der Angeklagte nach der Tat wieder nach Deutschland zurückkehrte, um sich ein Alibi zu verschaffen. Für die Mittäterin zog nach Auffassung des Bundesgerichtshofs aber schon die Fahrt zur belgischen Grenze einen Handlungsort im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB im Inland nach sich,488 der dem Angeklagten zuzurechnen sei.489 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen die anderen Entscheidungen, die sich bislang mit dem Problem der wechselseitigen Zurechnung von Handlungsorten bei Mittätern beschäftigten. Im Einzelnen ging es hierbei um Landesverrat490 und um Betrug491. Den Sachverhalten ist gemein, sozialinadäquate Verhaltensweisen zu betreffen, über deren Strafwürdigkeit unter den meisten nationalen Strafrechtsordnungen Einigkeit bestehen dürfte. Als dementsprechend gering wurde offenbar der notwendige Argumentationsbedarf für das gefundene Ergebnis angesehen. Die für eine wechselseitige Zurechnung des Handlungsortes bei Mittätern vorgetragene Begründung blieb daher jeweils sehr kurz und verwies lediglich formelhaft auf die bei der Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen vorgenommene Zurechnung.492
486
BGHSt 39, 88 (91). BGBl. I, S. 164. 488 BGHSt 39, 88 (90) unter Verweis auf Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 36 f. 489 Der Bundesgerichtshof nahm einen Handlungsort des angeklagten Mittäters jedoch bereits deswegen an, weil er sich mit seiner Mittäterin in Deutschland zum später durchgeführten Versicherungsbetrug verabredet hatte. Handlung im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB sei neben der tatbestandsmäßigen Tätigkeit selbst und ihrem Versuch nämlich jede Vorbereitungshandlung, sofern sie selbstständig mit einer Strafsanktion bedroht werde, BGHSt 39, 88 (89); siehe ferner BGHSt 34, 101 (106). Die Verabredung zum Versicherungsbetrug war damals aufgrund des Verbrechenscharakters des § 265 StGB a. F. nach § 30 Abs. 2 StGB strafbar, BGHSt 39, 88 (89). 490 RGSt 13, 337. 491 RGSt 57, 144. 492 RGSt 13, 337 (339); 57, 144 (145). 487
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bb) Stellungnahme (1) Auslegung des § 9 Abs. 1 StGB Fraglich erscheint zunächst, ob sich die von der herrschenden Auffassung vertretene wechselseitige Zurechnung der Handlungsorte von Mittätern überhaupt mit § 9 StGB vereinbaren lässt. Leise Zweifel entstehen zunächst angesichts des Wortlauts des Absatzes 1, nach dessen Var. 1 die Tat „an jedem Ort begangen [ist], an dem der Täter gehandelt hat“.493 Dies mag zu der Annahme verleiten, bei gemeinschaftlichem Handeln mehrerer Täter sei auf den (jeweiligen) Täter abzustellen und eine gegenseitige Zurechnung somit ausgeschlossen. Wollte das Gesetz eine solche Zurechnung gestatten, wäre die Verwendung des Plurals („der oder die Täter“) oder eines unbestimmten Artikels („ein Täter“) angezeigt. Der Wortlaut könnte also dergestalt interpretiert werden, als wolle der Gesetzgeber eine wechselseitige Zurechnung des Handlungsortes bei Mittätern ausschließen. Weitaus näher liegt allerdings die Annahme, dass der Gesetzgeber eine Zurechnung des Handlungsortes bei Mittätern überhaupt nicht bedacht hat. Schließlich enthält die konkrete Wahl von Form und Bestimmtheit eines Artikels alles andere als ein aussagekräftiges Indiz. Auch bei der Auslegung von Strafvorschriften des Besonderen Teils darf allein aus der Verwendung des Plurals nicht geschlossen werden, einen Tatbestand erst bei einer Mehrzahl von Tatobjekten etc. als verwirklicht anzusehen.494 Eine gegenseitige Zurechnung bereits wegen der Formulierung „der Täter“ ausschließen zu wollen, vermag demnach nicht zu überzeugen. Außerdem bliebe eine gegenseitige Zurechnung der Handlungsorte bei Mittätern selbst bei wortwörtlicher Anwendung des § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB auf den (jeweiligen) Täter nach wie vor über das Merkmal „gehandelt“ möglich, wenn dem einzelnen Mittäter das Verhalten seines Komplizen als eigenes Handeln zugerechnet würde. Des Weiteren spricht § 9 Abs. 2 StGB dafür, bei § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB eine wechselseitige Zurechnung des Handlungsortes unter Mittätern nicht auszuschließen.495 Ansonsten beginge zwar der im Ausland tätige Gehilfe eines im Inland handelnden Täters seine Teilnahme im Inland, weil der Teilnahmeort gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB an den Begehungs- und somit auch an den Handlungsort der Tat anknüpft. Der im Ausland tätig gewordene Mittäter hingegen unterfiele trotz seines größeren Tatbeitrags mangels gegenseitiger Zurechnung der Handlungsorte nicht dem deutschen Strafrecht. Es wäre ein Wertungswider493
Hervorhebung durch den Verfasser. BGHSt 46, 146 (150 f.) zum Begriff „Zahlungskarten“ in § 152a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Vgl. des Weiteren RGSt 55, 101 (102); BGH NJW 1995, 1686 (1687) zu § 180a Abs. 1 Nr. 1 StGB („diese [Personen]“); OLG Düsseldorf NJW 1993, 869 zu § 125 Abs. 1 Nr. 1 StGB („Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen“). 495 So schon Böse, NK, § 9 Rdn. 5. 494
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spruch, einen Beteiligten zu privilegieren, weil sein Tatanteil über eine bloße Teilnahme hinausgeht und einen täterschaftlichen Beitrag darstellt. (2) Folgen der wechselseitigen Zurechnung Gleichwohl erscheint in Anbetracht der in Zahl und Gestalt wachsenden Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die von § 9 StGB eröffnete Möglichkeit einer wechselseitigen Zurechnung des Handlungsortes unter Mittätern zunehmend fraglich. Bedenken entstehen vor allem, wenn es sich nicht um eine unstreitig kriminelle Art der internationalen Kooperation handelt, sondern um Verhaltensweisen, deren Strafwürdigkeit die Staatengemeinschaft nicht einheitlich bewertet. Exemplarisch kann die Strafbarkeit wegen betrügerischer Machenschaften herangezogen werden, da die nationalen Betrugsstrafvorschriften eine unterschiedliche Reichweite aufweisen. Versenden etwa ein Franzose und ein Deutscher496 entsprechend ihrem gemeinsamen Tatplan von ihrem jeweiligen Heimatort aus offensichtlich betrügerische Schreiben an ausschließlich französische Adressaten, um rechtswidrige Vermögensvorteile zu erlangen, so würde sich auch der französische Staatsangehörige nach deutschem Recht strafbar machen. Unbeachtlich bliebe, dass er in eigener Person ausschließlich in Frankreich handelt sowie allein dort der „Erfolg“ eintritt, den der Betrugstatbestand des Art. 313-1 Code pénal wegen der darin betonten Eigenverantwortlichkeit des Opfers überhaupt nicht erfasst.497 Der französische Staatsbürger wäre dem aus seiner Sicht engeren deutschen Strafrecht allein deshalb unterworfen, weil er einen Komplizen hat, der von Deutschland aus tätig wird. Eine kritische Reflexion der wechselseitigen Zurechnung des Handlungsortes bei Mittätern erscheint umso mehr von Nöten, wenn in der Staatengemeinschaft nicht einmal über die generelle Sozialschädlichkeit einer Verhaltensweise Einigkeit besteht. Ein Paradebeispiel hierfür bildet die Forschung an embryonalen Stammzellen. Da mit der Gewinnung embryonaler Stammzellen nach bisherigem Stand der Forschung die Vernichtung menschlicher Embryonen untrennbar einhergeht, wird sie in Deutschland wohl überwiegend als ethisch verwerfliche Verletzung der Menschenwürde des Embryos angesehen. Deshalb wird die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland als Verwendung embryonaler Stammzellen im Sinne des § 4 Abs. 1 StZG, strafbewehrt nach § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StZG, grundsätzlich untersagt und bedarf zu ihrer Zulässigkeit der behördlichen Genehmigung. In anderen Staaten hingegen, auch in Mitgliedstaa-
496 Die Staatsangehörigkeit der Beteiligten ist für die Auslegung des § 9 StGB freilich ohne Bedeutung. Auf sie wird lediglich aus Gründen der Veranschaulichung zurückgegriffen. 497 Siehe dazu Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, S. 80 ff.
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ten der Europäischen Union, wird die Forschung an embryonalen Stammzellen als ethisch unbedenklich erachtet und daher uneingeschränkt gestattet.498 Bei einem derart erheblichen Strafbarkeitsgefälle zwischen den einzelnen Staaten bleibt bei einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit besonders fraglich, ob infolge einer wechselseitigen Zurechnung von Handlungsorten das deutsche Strafrecht auf Personen Anwendung finden soll, die weder deutschen Boden betreten noch hierzulande einen zum Tatbestand gehörenden Erfolg bewirken. Anknüpfungspunkt für ihre Strafbarkeit wäre nämlich ausschließlich die Zusammenarbeit mit einer Person, die ihre – lediglich aus deutscher Sicht strafwürdige – Tätigkeit im Inland entfaltet. Um dies an dem Beispiel eines internationalen Forschungsvorhabens an embryonalen Stammzellen zu verdeutlichen:499 Wer an einem solchen Projekt mit einem Forscher aus Deutschland zusammenarbeitet, hätte sich allein wegen dessen täterschaftlicher Beteiligung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 StZG a. F. strafbar gemacht, unabhängig davon, ob sein Handlungsstaat die Forschung an embryonalen Stammzellen als ethisch und rechtlich unbedenklich erachtet. Die damit verbundene Ausweitung des Anwendungsbereichs des deutschen Strafrechts bedeutete letztlich, die ausländischen Rechtsmaßstäbe völlig außer Acht zu lassen. Dies erscheint umso fragwürdiger, je geringer der Bezug des im Ausland agierenden „Täters“ – gegebenenfalls nur vermittelt durch den inländischen Handlungsort eines anderen Beteiligten – zur deutschen Staatsgewalt ist und je kontroverser die Strafwürdigkeit des in Frage stehenden Verhaltens beurteilt wird. Der Gesetzgeber hat auf die mit der früheren Regelung im Stammzellgesetz verbundenen Strafbarkeitsrisiken erfreulicherweise durch das Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 14. August 2008500 reagiert und diese weitgehend durch eine Änderung des § 13 Abs. 1 Satz 1 StZG beseitigt. Nach dessen Nr. 2 müssen sich nunmehr die verwendeten embryonalen Stammzellen im Inland befinden, was jegliche (Inlands- oder Auslands-)Beteiligung an Forschungsprojekten im Ausland von der Strafbarkeit ausschließen dürfte. Wer die Gesetzesänderung nicht zu begrüßen vermag, müsste konsequenterweise in der umgekehrten Konstellation die Strafbarkeit eines Deutschen nach ausländischem Recht akzeptieren, in der eine Handlung nach deutschem Recht keinen Straftatbestand verwirklicht, nach ausländischem Recht indes als strafbar bewertet wird: Ein deutscher Journalist schreibt in einer Zeitschrift, die bloß in Deutschland vertrieben wird, einen kritischen Artikel zur Politik der chinesischen Regierung. Seine Informationen stammen von einer in China wohnenden Kontaktperson, die maßgebliche Teile des Berichts selbst verfasst hat und als Co-Au498 499 500
Siehe Teil 3 Fn. 479. Zur Problematik bereits Valerius, NStZ 2008, 121. BGBl. I, S. 1708.
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tor des Beitrags genannt wird.501 Hier die Handlungsorte der Beteiligten wechselseitig zuzurechnen, hätte die Anwendbarkeit des chinesischen Strafrechts auf den deutschen Journalisten zur Folge. Zwar hat er in eigener Person weder in China gehandelt noch dürfte es dort infolge der Veröffentlichung des Artikels allein in Deutschland zu einem Erfolgseintritt gekommen sein. Da aber die Kontaktperson ihren mittäterschaftlichen Beitrag in China erbracht hat, wäre für den deutschen Journalisten ebenso ein Handlungsort auf chinesischem Territorium gegeben und daher chinesisches Strafrecht anwendbar. Der Strafbarkeit stünde dabei nicht entgegen, dass er nach deutschem Recht keinen Straftatbestand verwirklicht hat bzw. hierzulande sogar das (aus unserer Sicht) elementare Grundrecht der Pressefreiheit für ihn streitet. Nach herrschender Auffassung findet gleichwohl das deutsche Strafrecht bereits dann auf sämtliche Mittäter einer Tat Anwendung, wenn lediglich ein einziger von ihnen im Inland im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB gehandelt hat. Unerheblich ist, in welchem Staat der Erfolgsort der arbeitsteilig begangenen Tat und die Handlungsorte der übrigen Mittäter liegen. Dieses Ergebnis ähnelt der Situation bei den multiterritorialen Delikten: Während bei multiterritorialen Delikten mehrere Erfolgsorte gegeben sind, obwohl der Täter nur in einem einzigen Staat gehandelt hat, begründet eine grenzüberschreitende Mittäterschaft eine Vielzahl von Handlungsorten, selbst wenn der Erfolg ausschließlich in einem einzigen Staat eintritt. Auch hier kommt es somit zur Anwendbarkeit einer Vielzahl nationaler Strafrechtsordnungen, deren Berechtigung es nicht zuletzt vor dem völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts zu hinterfragen gilt. (3) Rechtfertigung der wechselseitigen Zurechnung von Handlungsorten Die erläuterten Folgen gebieten eine Neubetrachtung der wechselseitigen Zurechnung bei Mittätern. Deren eigentlicher Anwendungsbereich beschränkt sich auf die von den einzelnen Mittätern verwirklichten objektiven Tatbestandsmerkmale. Da die (eine) gemeinschaftlich begangene Tat infolge der arbeitsteiligen Vorgehensweise der Mittäter allein durch die Gesamtschau der einzelnen Tatbeiträge verwirklicht wird, müssen diese jedem der Mitwirkenden voll zugerechnet werden.502 Keinem der Mittäter darf also zugutekommen, in eigener Person nicht die vollständige Strafvorschrift erfüllt zu haben. Hingegen ist die Zurechnung von (mehreren) Handlungsorten nicht notwendig, da jeder Mittäter schon einen eigenen Handlungsort dort aufweist, wo er seinen auf die Tatbestandsverwirklichung gerichteten Tatbeitrag erbringt.
501
Beispiel nach Valerius, NStZ 2008, 121 (123). Statt vieler Kindhäuser, AT, § 40 Rdn. 2; Roxin, AT II, § 25 Rdn. 188; Wessels/ Beulke, Rdn. 526. 502
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Ein Grund für eine solche Zurechnung, die generell die Handlungsorte sämtlicher Mittäter erfasst, ist nicht ersichtlich. Die wechselseitige Zurechnung verfolgt – wie etwa bei den einzelnen Tatbeiträgen oder bei der Frage des Versuchsbeginns503 – stets das Anliegen, dass die funktionelle Rollenverteilung der Mittäter nicht zu einer unterschiedlichen strafrechtlichen Beurteilung ihres Verhaltens, insbesondere zur ungerechtfertigten Straflosigkeit eines einzelnen Mittäters führen darf. Für die Anwendbarkeit einer nationalen Strafrechtsordnung stehen indes schon der Handlungsort des jeweiligen Mittäters sowie der gemeinsame Erfolgsort als Anknüpfungspunkte zur Verfügung. Einer gegenseitigen Zurechnung der Handlungsorte bedarf es daher zumindest dann nicht, wenn das mittäterschaftliche Verhalten und der dadurch bewirkte tatbestandliche Erfolg in allen betroffenen Staaten als strafbar angesehen werden. Dann ginge mit der wechselseitigen Zurechnung der Handlungsorte lediglich einher, die bei einer grenzüberschreitenden Komplizenschaft existierende Vielzahl internationaler Handlungsorte zusätzlich zu erhöhen. Dadurch würde indessen jeder einzelne Mittäter zusätzlichen nationalen Strafgewalten unterworfen, was im Hinblick auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichteinmischung nicht unbedenklich erscheint. Von Bedeutung wäre die gegenseitige Zurechnung von Handlungsorten letztlich nur, wenn die gemeinschaftlich begangene Tat sowohl am Erfolgsort als auch an einigen der international belegenen Handlungsorte strafrechtlich nicht relevant wäre. Ohne eine wechselseitige Zurechnung der Handlungsorte wären sodann ausschließlich diejenigen Mittäter strafbar, deren Handlungsstaat das gemeinsame Verhalten unter Strafe stellte; alle anderen Mittäter blieben hingegen straflos. Somit bildete letztlich das Strafbarkeitsgefälle zwischen den einzelnen betroffenen Staaten diejenige Situation, in der sich eine wechselseitige Zurechnung der Handlungsorte maßgeblich auswirkte. Hier dem eigenen nationalen Strafrecht zur Anwendung zu verhelfen, hieße aber, sich bewusst über die jedem Staat selbst obliegende strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens hinwegzusetzen und die gebotene völkerrechtliche Zurückhaltung vermissen zu lassen. Im Ergebnis würde demnach bei Taten, die in grenzüberschreitender Mittäterschaft begangen werden, der Staat mit den restriktivsten Regeln den strafrechtlichen Bewertungsmaßstab bestimmen. (4) Restriktive Interpretation des § 9 StGB Nach allem spricht vieles dafür, von der Zurechnung von Handlungsorten bei Mittätern Abstand zu nehmen. Dies führte allerdings zu dem bereits aufgezeigten Widerspruch zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB. Demnach begingen 503 Dazu statt vieler Beckemper, BeckOK-StGB, § 22 Rdn. 52 ff.; Kindhäuser, AT, § 40 Rdn. 14 f.; Wessels/Beulke, Rdn. 611.
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Gehilfen ihre Teilnahme nicht lediglich am Ort des Erfolgseintritts der Tat sowie an ihrem eigenen Handlungsort, sondern ebenso an dem Handlungsort des unterstützten Täters, Mittäter trotz ihrer größeren Nähe zur Tat gleichwohl nicht. Der konsequenten Lösung, auf die Zurechnung der Handlungsorte von Mittätern zu verzichten sowie im Rahmen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB als Begehungsort der Tat allein deren Erfolgsort anzusehen, steht indes der Wortlaut der Vorschrift mit ihrer Anknüpfung an § 9 Abs. 1 StGB entgegen. Denkbar erscheint daher allenfalls eine entsprechend restriktive Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB. Es stellt sich die Frage, wie die wechselseitige Zurechnung von Handlungsorten bei Mittätern eingeschränkt werden und eine sich daran orientierende Interpretation des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB aussehen könnte. Werden die Parallelen zwischen der grenzüberschreitenden Beteiligung (ein Erfolgsort/mehrere Handlungsorte) und den multiterritorialen Delikten (ein Handlungsort/mehrere Erfolgsorte) betont, liegt zunächst nahe, primär an den Erfolgsort anzuknüpfen. Er verkörpert hier den stärksten Bezugspunkt für die Anwendung nationalen Strafrechts, da sich hier die Auswirkungen der einzelnen, an verschiedenen Handlungsorten vorgenommenen Tatbeiträge vereinen. Anwendbar ist somit, was den bisherigen allgemeinen Grundsätzen entspricht, zumindest das Strafrecht desjenigen Staates, auf dessen Territorium der Erfolg des gemeinschaftlichen Handelns eintritt. Bei einer Anknüpfung an die Belegenheit der Handlungsorte wäre demgegenüber Zurückhaltung geboten. Zwar bleibt nach wie vor ohne Weiteres möglich, das nationale Strafrecht auf diejenigen Beteiligten anzuwenden, die in eigener Person eine Handlung im Inland vornehmen und dadurch gegen die dort geltenden Rechtsvorschriften verstoßen. Soll dagegen der Bezug zum inländischen Territorium allein durch den Rückgriff auf den Handlungsort eines (anderen) Täters begründet werden, gebietet der völkerrechtliche Nichteinmischungsgrundsatz eine zurückhaltende Auslegung des Strafanwendungsrechts. Der notwendige Respekt vor der selbstständigen Entscheidung eines anderen Staates, über die Strafwürdigkeit von bestimmten Verhaltensweisen zu befinden, kann – ähnlich wie bei den multiterritorialen Delikten504 – beispielsweise bezeugt werden, indem das Recht des Tatorts (lex loci) durch das Erfordernis einer identischen Tatortnorm berücksichtigt wird. Handelt ein Beteiligter lediglich infolge des inländischen Handlungsortes eines anderen Täters im Inland, so findet die hiesige Strafrechtsordnung demnach nur dann Anwendung, wenn die Tat auch am Ort des Erfolgseintritts mit Strafe bedroht ist bzw. dieser keiner Strafgewalt unterliegt. Dadurch würde die Anzahl der anwendbaren nationalen Strafrechtsordnungen auf in grenzüberschreitender Beteiligung begangene Taten maß- und sinnvoll beschränkt. 504
Siehe Teil 3 Kap. 6 III. 4.
Kap. 6: Strafanwendungsrecht
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Eine derart zurückhaltende wechselseitige Zurechnung von Handlungsorten bei Mittätern sowie die entsprechend restriktive Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB bei Teilnehmern birgt wiederum die Gefahr in sich, dass Täter das Strafbarkeitsgefälle zwischen einzelnen Staaten gezielt ausnutzen. Dies stellt allerdings die notwendige Folge der Souveränität der einzelnen Staaten und ihrer selbstständigen Bestimmung als strafwürdig erachteter Verhaltensweisen dar. Die eigenen abweichenden Wertvorstellungen den in einem anderen Staat handelnden Personen und somit letztlich dem anderen Staat selbst zu oktroyieren, indem der Anwendungsbereich der eigenen Strafgewalt ausgedehnt wird, erscheint aus völkerrechtlicher Sicht mehr als bedenklich. Es fehlt an der notwendigen Legitimation für die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts, wenn weder ein Erfolgseintritt noch ein Handeln des jeweiligen Beteiligten im Inland vorliegt. Um die eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Überzeugungen in die Behandlung internationaler Sachverhalte einfließen zu lassen, muss der einzelne Staat daher den völkerrechtlichen Weg diplomatischer Verhandlungen und internationaler Abkommen beschreiten. c) Mittelbare Täterschaft Ähnliche Überlegungen wie bei der Mittäterschaft gelten für die mittelbare Täterschaft. Hier befürwortet die herrschende Auffassung gleichfalls, dem mittelbaren Täter den „Handlungsort“ seines Werkzeugs zuzurechnen.505 Dies kann wiederum auf einen Vergleich mit § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB gestützt werden, wonach der Anstifter seine Teilnahme unter anderem am Handlungsort des zur Tat bestimmten Haupttäters begeht. Es wäre widersprüchlich, für den mittelbaren Täter trotz seines größeren Tatbeitrags keinen Handlungsort an demjenigen Ort anzunehmen, an dem sein Werkzeug eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit verübt. Relevant wird die Problematik ausschließlich bei denjenigen grenzüberschreitenden Konstellationen, in denen nur der „Handlungsort“ des Werkzeugs im Inland liegt, im Ausland hingegen sowohl der mittelbare Täter auf sein Werkzeug einwirkt als auch der Erfolg der Tat eintritt. Ein erdachtes Beispiel für ein solches wohl eher selten anzutreffendes Szenario: Der im Ausland lebende mittelbare Täter überreicht seinem ihn besuchenden Neffen eine Tafel Schokolade. Er
505 BGH wistra 1991, 135; OLG Schleswig wistra 1998, 30 (31); Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 10; Böse, NK, § 9 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4 und 10; Fischer, § 9 Rdn. 3a; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 7; Lackner/Kühl, § 9 Rdn. 2; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 14 f.; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 361; Rengier, AT, § 6 Rdn. 10; Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 38; Hombrecher, JA 2010, 637 (639); Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (412 f.); Rath, JA 2007, 26 (27); Satzger, Jura 2010, 108 (114); a. A. Hoyer, SK-StGB, § 9 Rdn. 5; Heinrich, in: Festschrift Weber, S. 91 (107).
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
trägt ihm auf, die Schokolade nach seiner Rückkehr ins inländische Zuhause an eine gemeinsame, im Ausland lebende Verwandte zuzusenden, die sich über dieses Geschenk sehr freuen werde. Der Neffe folgt den Anweisungen des Täters, weiß dabei aber nicht um das tödliche Gift, das die Schokolade enthält. Ob es in diesen Fällen angebracht erscheint, dem mittelbaren Täter den Handlungsort seines Werkzeugs zuzurechnen, muss erneut in Anbetracht von Sinn und Zweck der Zurechnung bei der mittelbaren Täterschaft hinterfragt werden. Die Zurechnung der Tatbeiträge des Tatmittlers soll hier wiederum gewährleisten, dass der das Gesamtgeschehen lenkende mittelbare Täter für die von ihm veranlasste Tatbestandsverwirklichung zur Verantwortung gezogen wird.506 Es darf dem mittelbaren Täter infolge seiner Irrtumsherrschaft über den Tatmittler nicht zugutekommen, sich hierfür eines menschlichen Werkzeugs bedient zu haben. Ohne die demnach gebotene Zurechnung könnten weder der Tatmittler (wegen des für ihn charakteristischen Strafbarkeitsmangels) noch der mittelbare Täter (mangels Verwirklichung des Tatbestandes in eigener Person) strafrechtlich belangt werden. Insofern bedarf es der Zurechnung der Verwirklichung objektiver Tatbestandsmerkmale durch den Tatmittler, um dem mittelbaren Täter überhaupt die (eine) von ihm initiierte Tat anzulasten. Eine Zurechnung des (weiteren) Handlungsortes des Tatmittlers erweist sich indes nicht als erforderlich. Schließlich hat der mittelbare Täter bereits am Ort der Einwirkung auf sein menschliches Werkzeug einen eigenen Handlungsort.507 Es ruft demnach Bedenken hervor, den Handlungsort des Tatmittlers dem mittelbaren Täter zuzurechnen, anstatt ausschließlich auf dessen eigenen Handlungsort abzustellen, an dem er das die Tatbestandsverwirklichung verursachende Geschehen in Gang setzt. Dem Verzicht auf die Zurechnung des Handlungsortes des Tatmittlers steht allerdings de lege lata erneut die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB entgegen. Ansonsten würde der mittelbare Täter trotz seiner größeren Nähe zur Tat gegenüber dem Anstifter ungerechtfertigt privilegiert, für den der Ort der Teilnahme nach dem unmissverständlichen Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB unter anderem am Handlungsort des Täters der Haupttat liegt. Wie bei der Mittäterschaft508 erscheint jedoch möglich und angezeigt, die Zurechnung des Handlungsortes des Tatmittlers restriktiv zu handhaben, wenn zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen der von der Tat betroffenen Staaten insoweit rele506
Statt vieler Kindhäuser, AT, § 39 Rdn. 5 f.; Wessels/Beulke, Rdn. 535. OLG Schleswig wistra 1998, 30 (31); Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 10; Böse, NK, § 9 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 4 und 10; Fischer, § 9 Rdn. 3a; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 7; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 14; Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 37; a. A. Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (413); kritisch auch Burchard, HRRS 2010, 132 (144). 508 Siehe Teil 3 Kap. 6 IV. 2. b) bb). 507
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vante Unterschiede bestehen. Befinden sich der Handlungsort des mittelbaren Täters sowie der Erfolgsort der Tat im Ausland und ist lediglich der Handlungsort des Tatmittlers im Inland belegen, so stellt der inländische Begehungsort den schwächsten Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts auf den mittelbaren Täter dar. Aus völkerrechtlicher Perspektive wäre es daher zumindest dann bedenklich, das inländische Strafrecht nicht nur auf den (in der Regel straffreien) Tatmittler, sondern ebenso auf den mittelbaren Täter anzuwenden, wenn dessen Verhalten von der ausländischen Rechtsordnung nicht als strafwürdig angesehen wird. Um den Grundsatz der Nichteinmischung in fremde Staatsangelegenheiten zu wahren, muss auch bei der mittelbaren Täterschaft in völkerrechtskonformer Auslegung auf das Recht des Erfolgsortes zurückgegriffen werden. 3. Grenzüberschreitende Teilnahme a) Grundlagen Die Ausführungen zur Zurechnung der Handlungsorte bei der Mittäterschaft sowie bei der mittelbaren Täterschaft legen nahe, die Reichweite des Strafanwendungsrechts bei grenzüberschreitenden Formen der Teilnahme gleichfalls einem kritischen Blick zu unterziehen. Nach der einschlägigen Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB wird die Teilnahme am Begehungsort der Tat begangen sowie „an jedem Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem nach seiner Vorstellung die Tat begangen werden sollte“. § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB enthält damit offenkundige Anleihen bei der Normierung des Begehungsortes der Tat in § 9 Abs. 1 StGB. Eine strukturell völlig parallele, inhaltlich gleichwohl identische Formulierung wäre erreicht worden, indem der Begehungsort der Tat erst als dritte Variante eingefügt worden wäre: „an jedem Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem die Tat begangen ist oder nach der [seiner] Vorstellung des Teilnehmers die Tat begangen werden sollte“. Die geänderte Anordnung verdeutlicht, dass der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB – eingeführt durch das 2. StrRG vom 4. Juli 1969509 – anstatt an den Erfolgsort der Tat wie in Absatz 1 an deren Begehungsort allgemein anknüpft und diesen gewissermaßen als Erfolgsort der Teilnahme betrachtet. Im Wesentlichen wird die damit einhergehende Vielzahl von Begehungsorten für die Teilnahme aus dem Grundsatz der Akzessorietät gefolgert. Die beiden Teilnahmeformen der Anstiftung und der Beihilfe leiten ihren Unrechtsgehalt vom Unrecht der Haupttat ab, weswegen die Strafbarkeit einer Teilnahmehandlung eine (vor509
BGBl. I, S. 717.
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
sätzlich begangene und rechtswidrige) Haupttat voraussetzt510 [siehe dazu sogleich b)]. Der Grundsatz der Akzessorietät der Teilnahme erfährt in § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB allerdings eine Durchbrechung.511 Danach macht sich der im Inland handelnde Teilnehmer an einer (reinen) Auslandstat selbst dann nach deutschem Recht strafbar, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. Auf die Strafbarkeit des hierzulande tätigen Teilnehmers wirkt sich also nicht aus, ob die Haupttat an ihrem ausländischen Tatort eine (vorsätzlich begangene und rechtswidrige) Straftat darstellt, aus der sich das Unrecht der Teilnahme erst akzessorisch ableiten könnte. Die nicht nur aus diesem Grund in ihrer Existenzberechtigung umstrittene Vorschrift bewirkt eine weitere Ausdehnung der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts [siehe dazu c)]. b) Zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB führt nach verbreiteter Zählung zu insgesamt zehn verschiedenen Begehungsorten der Teilnahme. Im Einzelnen handelt es sich hierbei zunächst um (1) den Handlungsort nach Var. 2 und (2) den Unterlassungsort der Teilnahme nach Var. 3, ferner gemäß Var. 1 i.V. m. Abs. 1 um (3) den tatsächlichen Handlungs-, (4) Unterlassungs- und (5) Erfolgsort der Tat sowie den Ort, an dem (6) nach Vorstellung des Täters der Erfolg eintreten soll. Teilnahmeorte sind nach Var. 4 außerdem der vom Teilnehmer vorgestellte – nicht notwendig mit dem tatsächlichen Begehungsort der Tat übereinstimmende – (7) Handlungs-, (8) Unterlassungs- und (9) Erfolgsort der Tat und schließlich (10) derjenige Ort, an dem der Teilnehmer meint, dass nach Vorstellung des Täters der Erfolg eintreten sollte.512 Zwar liegen in Bezug auf ein und dieselbe Tat niemals alle zehn Begehungsorte der Teilnahme zugleich vor, weil sich insbesondere Handlungs- und Unterlassungsort begrifflich gegenseitig ausschließen. Die Zahl der möglichen Anknüpfungspunkte für die nationalen Strafgewalten bleibt gleichwohl beachtlich, zumal eine Tat mitunter mehrere Handlungs- oder Erfolgsorte aufweist. Die Fülle an Begehungsorten der Teilnahme erscheint zumindest dann nicht unproblematisch, wenn die Staatengemeinschaft die Strafwürdigkeit eines be510
Statt vieler Roxin, AT II, § 26 Rdn. 2 ff.; Wessels/Beulke, Rdn. 551. Ambos/Ruegenberg, MünchKomm-StGB, § 9 Rdn. 39; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 13; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 49; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 360; Gribbohm, JR 1998, 177 (178); a. A. H. Jung, JZ 1979, 325 (328), der in der Vorschrift eine reine Tatortregelung erblickt; Satzger, Jura 2010, 108 (115); hiergegen Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 50; Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (392 f.). 512 von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 9 Rdn. 12; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rdn. 17; Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 359; Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (386 f.); vgl. auch die Übersicht bei Rath, JA 2006, 435 (436). 511
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stimmten Verhaltens uneinheitlich bewertet und der völkerrechtliche Grundsatz der Nichteinmischung in fremde Staatsangelegenheiten wiederum seine Beachtung verlangt. Wie schon bei der Mittäterschaft sowie der mittelbaren Täterschaft bereitet Bedenken, neben dem Erfolgsort der Tat sowie dem Handlungsort des jeweiligen Beteiligten (hier: des Teilnehmers) noch auf den Handlungsort anderer Beteiligter (hier: des Haupttäters) abzustellen. Dies gilt vor allem dann, wenn allein der – gegebenenfalls nur vermeintliche – Handlungsort des Täters im Inland liegt und somit unter Umständen ein Irrtum des Teilnehmers den einzigen Anknüpfungspunkt für eine nationale Strafgewalt bietet.513 Ob als Begehungsort der Teilnahme berechtigterweise auch der Handlungsort des Haupttäters angesehen wird, bestimmt sich maßgeblich nach dem Sinn und Zweck des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB. Die Regelung beruht auf dem Gedanken der Akzessorietät, wonach sich der Unrechtsgehalt der beiden Teilnahmeformen Anstiftung und Beihilfe aus dem Unrecht der Haupttat ableitet. Demnach setzt die Strafbarkeit wegen Teilnahme eine (zumindest vorsätzlich begangene und rechtswidrige) Straftat voraus. Diese Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat überträgt § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB auf ihren Begehungsort mit der Folge, dass eine Teilnahme an jedem Begehungsort der Tat geschieht. Allerdings ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, worauf sich diese Ausdehnung der Akzessorietät auf den Begehungsort stützen lässt. Um den Unrechtsgehalt der Teilnahme zu begründen, genügt vielmehr der Verweis auf eine (vorsätzlich begangene und rechtswidrige) Haupttat. Die insoweit grundsätzlich fehlende Bedeutung des Begehungsortes der Haupttat verdeutlicht nicht zuletzt die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB. Da es sich hiernach bei der Haupttat um eine reine Auslandstat handeln kann, erfordert die Strafbarkeit der Teilnahme also nicht deren inländischen Begehungsort. Der Unrechtsgehalt einer Tat – und somit letztlich der Teilnahme – erweist sich demnach als unabhängig von ihrem Begehungsort und ergibt sich allein aus dem verwirklichten Unrecht. Wo die Teilnahme selbst begangen wird, bleibt deshalb nach allgemeinen Grundsätzen und ohne strikten Rückgriff auf die Begehungsorte der Haupttat zu ermitteln. Demnach bietet sich vor allem an, an die Teilnahmehandlung selbst sowie an die dadurch letzten Endes herbeigeführte (tatsächliche bzw. versuchte) Gefährdung oder Verletzung eines geschützten Rechtsguts anzuknüpfen, d. h. an den (tatsächlichen bzw. vorgesehenen) Erfolgsort einer Tat. Nicht notwendig erscheint hingegen, dem Teilnehmer auch denjenigen Ort als Begehungsort zuzurechnen, an dem der Täter selbst seine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfaltet. Jedenfalls handelt es sich hierbei um den schwächsten Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts auf den Teilnehmer. 513
Kritisch bereits Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 359.
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Den Handlungsort des Haupttäters nicht zugleich als Begehungsort der Teilnahme zu betrachten, wirkt sich lediglich dann auf die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts aus, wenn sich nur der Handlungsort des Haupttäters im Inland befindet, der Erfolgsort der Tat sowie die sonstigen Begehungsorte der Teilnahme dagegen jeweils auf ausländischem Territorium liegen. Gerade in dieser Konstellation besteht indes kaum ein Bedürfnis für den Gebrauch der inländischen Strafgewalt. Schließlich existieren mit dem Handlungsort des Teilnehmers und dem Ort des Erfolgseintritts zwei prominente Anknüpfungspunkte für die Anwendbarkeit anderer Strafrechtsordnungen. Dies gilt zunächst, wenn auch das ausländische Recht die Tat als strafrechtlich relevant bewertet; insoweit ist es nicht notwendig, neben der ausländischen zusätzlich die inländische Strafrechtsordnung anzuwenden. Erst recht erweist sich die Anknüpfung der nationalen Strafgewalt an den Handlungsort des Haupttäters aber als bedenklich, wenn die Tat an den ausländischen Begehungsorten der Teilnahme als nicht strafwürdig beurteilt wird. Exemplarisch kann dies wiederum an der grenzüberschreitenden Forschung mit embryonalen Stammzellen verdeutlicht werden:514 Ein Wissenschaftler forscht in Großbritannien an embryonalen Stammzellen. Er bedient sich dabei des wissenschaftlichen Rates eines Kollegen in Deutschland, der dadurch wesentlich in das Projekt eingebunden wird. Außerdem unterstützt ein Laborassistent das Forschungsvorhaben von Großbritannien aus, indem er dem Wissenschaftler vor Ort zuarbeitet. Bevor das Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 14. August 2008515 die Strafvorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 1 StZG auf die Verwendung embryonaler Stammzellen im Inland beschränkte, hätte sich der Laborassistent wegen Beihilfe zur nicht genehmigten Verwendung embryonaler Stammzellen gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 StZG a. F., § 27 StGB strafbar gemacht. Der einzige Grund für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf den ausschließlich im Ausland agierenden Assistenten wäre, dass einer der (Mit-)Täter im Inland tätig wurde und dessen Handlungsort wegen § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB ebenfalls für den Gehilfen einen Begehungsort darstellt. Nach britischem Recht hätte sich der Laborassistent hingegen nicht strafbar gemacht. Hier die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf den Teilnehmer allein über den Handlungsort eines Haupttäters zu begründen, würde dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichteinmischung wiederum nicht gerecht. Um eine unangemessene Ausdehnung der nationalen Strafgewalt zu verhindern, empfiehlt sich daher eine völkerrechtskonforme Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB unter Anknüpfung an das Recht der übrigen Teilnahmeorte. Kann ein inländischer Be-
514 515
Vgl. Valerius, NStZ 2008, 121 (124). BGBl. I, S. 1708.
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gehungsort der Teilnahme nur auf den Handlungsort eines Täters zurückgeführt werden, setzt demnach die Anwendbarkeit inländischen Strafrechts auf den Teilnehmer voraus, dass die Tat auch an dem Erfolgsort der Tat oder an dem Handlungsort des Teilnehmers mit Strafe bedroht wird oder diese keiner Strafgewalt unterliegen.516 c) Zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB Die gebotene Neubetrachtung des Strafanwendungsrechts bei grenzüberschreitenden Taten muss schließlich die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB umfassen, die gerade für eine besondere internationale Konstellation geschaffen wurde. Danach gilt für im Inland handelnde Teilnehmer einer Auslandstat selbst dann das deutsche Strafrecht, wenn die Tat nach dem Recht des ausländischen Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. Die Norm war schon bei ihrer Einführung durch das 2. StrRG vom 4. Juli 1969517 umstritten.518 Bei der Diskussion sind zwei verschiedene Aspekte zu trennen. Zum einen regelt § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB die Akzessorietät der Teilnahme. Der erforderliche Unrechtsgehalt der Haupttat, aus dem sich der Unrechtsgehalt der Teilnahme erst ableitet, ergibt sich nämlich bei einer reinen Auslandstat weder nach inländischem Recht – mangels Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts – noch nach ausländischem Recht, wenn die Tat dort nicht mit Strafe bedroht ist. Demzufolge durchbricht die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB die Akzessorietät der Teilnahme,519 unabhängig davon, ob die Bewertung der Tat nach der inländischen Rechtsordnung520 oder nach ausländischem Recht521 den akzessorischen Bezugspunkt der Teilnahme bildet. Zum anderen besteht in Anbetracht der weitreichenden Folgen des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB Streit über seine rechtspolitische Notwendigkeit. Danach würde sich 516
Vgl. bereits Valerius, NStZ 2008, 121 (124). BGBl. I, S. 717. 518 Kritisch Bockelmann, befürwortend dagegen Lange und Fritz, differenzierend Welzel, allesamt in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (Teil 3 Fn. 419), S. 126; vgl. des Weiteren Schröder, ZStW 61 (1942), 57 (78 ff.). H. Jung, JZ 1979, 325 (326) bezeichnet die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB als „vorläufigen Schlußstrich unter eine Kontroverse [. . .], die als eine Art ,Dauerbrenner‘ des internationalen Strafrechts gelten kann“. 519 Siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 511. 520 So die hM: RGSt 14, 124 (128); JW 1936, 2655; Baldus und Welzel, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (Teil 3 Fn. 419), S. 126; Böse, NK, § 9 Rdn. 20; Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 48; Bergmann, Der Begehungsort im internationalen Strafrecht, S. 45; Gribbohm, JR 1998, 177 (177); Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (401 f.); Schröder, ZStW 61 (1942), 57 (78 ff.); Walter, JuS 2006, 870 (871). 521 Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (Teil 3 Fn. 419), S. 126; ebenso wohl Schwalm, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (Teil 3 Fn. 419), S. 126. 517
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unter anderem der ausländische Teilnehmer nach deutschem Recht strafbar machen, wenn er sich von Deutschland aus an einer „Tat“ in seiner Heimat beteiligt, die dort als nicht sozialschädlich angesehen bzw. zumindest nicht strafrechtlich geahndet wird.522 Ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Täters erscheint es generell bedenklich, einen Teilnehmer im Inland für die Anstiftung oder Beihilfe zu einer „Tat“ zu bestrafen, die Ausländer im Einklang mit den Regeln ihres Heimatstaates und in dessen Territorium begehen.523 In einer solchen Situation kann der Teilnehmer lediglich darauf hoffen, dass die Strafverfolgungsbehörden auf die verfahrensrechtliche Regelung des § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zurückgreifen.524 Verschiedentlich werden daher Einschränkungen der Vorschrift vorgeschlagen. So wird zum Teil befürwortet, das deutsche Strafrecht nur dann anzuwenden, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist.525 Nach anderer Auffassung soll § 23 Abs. 2 StGB analog angewendet werden, um es den Gerichten zu ermöglichen, die Strafe des im Inland handelnden Teilnehmers an einer am Tatort straflosen Auslandstat zu mildern.526 In jüngerer Zeit zeigte exemplarisch die Debatte um das Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002527 die nach wie vor bestehende Diskussionswürdigkeit der Regelung. Im Rahmen der Gesetzgebungsvorarbeiten schlug der federführende Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung in seiner Empfehlung vom 23. April 2002528 vor, die Strafvorschrift des § 13 StZG um einen Absatz 3 zu erweitern, wonach § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB keine Anwendung auf die Strafbarkeit nach § 13 Abs. 1 und 3 StZG finde.529 Dadurch sollte verhindert werden, dass
522
Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 51. Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 51; vgl. auch Oehler, Internationales Strafrecht, Rdn. 360; verteidigend Böse, NK, § 9 Rdn. 21; Satzger, Jura 2010, 108 (115). Beispiele für Anwendungsfälle des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB nennen Krapp, Distanzdelikt und Distanzteilnahme im internationalen Strafrecht, S. 151 ff.; Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (390 f.). 524 Werle/Jeßberger, LK, § 9 Rdn. 52. 525 Welzel, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission (Teil 3 Fn. 419), S. 127; vgl. ferner Krapp, Distanzdelikt und Distanzteilnahme im internationalen Strafrecht, S. 167; H. Jung, JZ 1979, 325 (332). 526 Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379 (403 ff.); kritisch Böse, NK, § 9 Rdn. 21. 527 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (BGBl. I, S. 2277), in Kraft getreten am 1. 7. 2002. 528 BT-Drucks. 14/8846. 529 BT-Drucks. 14/8846, S. 9. Diesen Ansatz griff der Gesetzentwurf der Fraktion der FDP vom 1. 6. 2005 zur Änderung des Stammzellgesetzes (BT-Drucks. 15/5584) wieder auf, der inhaltsgleich in der darauffolgenden Legislaturperiode am 18. 1. 2006 erneut eingebracht wurde (BT-Drucks. 16/383). 523
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„die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen generell gefährdet wäre. Deutsche Wissenschaftler könnten sich in allen Fällen strafbar machen, in denen sie sich von Deutschland aus in irgendeiner Form an Forschungsarbeiten beteiligen, bei denen die Forscher im Ausland mit menschlichen embryonalen Stammzellen forschen, die nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht eingeführt und verwendet werden dürfen.“ 530
Ohne einen Ausschluss des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB wäre in der Tat auf jede Gehilfentätigkeit (z. B. die telefonische Erteilung wissenschaftlichen Rates) zu einem ausländischen Forschungsvorhaben mit embryonalen Stammzellen die Vorschrift des § 13 Abs. 1 StZG a. F. anwendbar gewesen. Dies gälte selbst dann, wenn das wissenschaftliche Projekt am Ort der Forschung uneingeschränkt erlaubt oder sogar als durch staatliche Mittel förderungswürdig531 angesehen würde.532 Diese Einschätzung wurde in der parlamentarischen Beratung vom 25. April 2002533 geteilt. Darüber hinaus bemerkte die Bundestagsabgeordnete von Renesse, dass die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB zu einer unterschiedlichen Bewertung ähnlicher Sachverhalte führe: „Ein deutscher Wissenschaftler, der in Boston Stammzelllinien kreiert – das heißt, der Embryonen dafür tötet – bleibt straflos und kann in Deutschland in Anwesenheit von Staatsanwälten darüber berichten, ohne rechtliche Folgen befürchten zu müssen. [. . .] Ein Professor, der einen Mitarbeiter ins Ausland schickt, ist wegen Anstiftung einer Straftat möglicherweise strafbar [. . .]. Fährt dieser Professor mit seinem Assistenten nach Boston und führt ihn an Ort und Stelle in seine Arbeit ein, bleiben beide straflos. Wenn der Professor seine Anweisungen von einer Telefonzelle aus drei Schritte hinter der deutschen Grenze – beispielsweise in Dänemark oder Frankreich – gibt, dann interessiert sich auch dafür kein Staatsanwalt.“ 534
Diese Rechtslage bezeichnete von Renesse im Folgenden als „offensichtlichen Blödsinn“ und „juristische[n] Firlefanz“.535 Gleichwohl regte sie mit weiteren Abgeordneten in einem – letztlich erfolgreichen – Änderungsantrag vom 24. April 2002536 an, von der Einfügung des § 13 Abs. 3 StZG zur Beseitigung der Folgen des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB abzusehen. Stattdessen sollte die nach eigenen Wor530
BT-Drucks. 14/8846, S. 14. Nach Art. 6 Abs. 3 des Beschlusses Nr. 1982/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. 12. 2006 über das Siebte Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007 bis 2013), ABl. EU Nr. L 412, S. 1 ff. soll die Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen innerhalb der Europäischen Union gefördert werden. 532 Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rdn. 14; kritisch zur Anwendbarkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB aus grundrechtlicher Sicht Schwarz, MedR 2003, 158 (161 ff.). 533 BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23209 D ff. 534 BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23210 D f. 535 BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23211 A. 536 BT-Drucks. 14/8876. 531
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
ten „verquere Rechtslage“ 537 beibehalten werden, deren Beseitigung dem kommenden Bundestag durch eine Änderung des § 9 StGB angeraten wurde.538 Ein solches gesetzgeberisches Vorgehen lässt sich kaum als sinnvoll bezeichnen. Zwar beruht die umfassende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei grenzüberschreitenden Sachverhalten durchaus in erster Linie auf § 9 StGB. Selbst wenn § 13 StZG demzufolge nicht als Ausgangspunkt der Problematik bezeichnet werden kann, so war er aber jedenfalls deren Auslöser für den konkreten Fall internationaler Projekte im Bereich der embryonalen Stammzellforschung. Sehenden Auges eine Regelung zu verabschieden, die nach eigenen Angaben ungewollte Strafbarkeitsrisiken begründet, und lediglich auf die Möglichkeit deren späterer Beseitigung durch eine Überarbeitung des § 9 StGB zu verweisen, erscheint nicht als verantwortungsvoller Umgang mit der legislativen Gewalt. Dies gilt nicht zuletzt, als die Risiken durch die diskutierte Einfügung des § 13 Abs. 3 StZG ohne Weiteres vermeidbar waren.539 Die insoweit unsichere Gesetzeslage wurde stattdessen erst durch das schon erwähnte Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 14. August 2008540 beseitigt. Losgelöst von der parlamentarischen Debatte um das Stammzellgesetz, die häufig anderen Regeln folgt als ein rechtswissenschaftlicher Diskurs, und jenseits jeder Partei- und Interessenpolitik bleibt zumindest festzuhalten, dass der Gesetzgeber selbst die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB für nicht unproblematisch hielt. Diese Bedenken gewinnen an Gewicht, wenn wiederum der völkerrechtliche Charakter des Strafanwendungsrechts betont wird. Aufgrund des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB wird nämlich jemand als Teilnehmer bestraft, obwohl er sich nach den Vorschriften des Begehungsortes der „Tat“ regelkonform verhält. Die nationalen Wertvorstellungen erfahren dadurch gegenüber den betroffenen ausländischen Strafrechtsordnungen ein deutliches Übergewicht. Um den kulturellen und gesellschaftlichen Anschauungen anderer Völkerrechtssubjekte den gebührenden Respekt zu erweisen, ist eine größere Zurückhaltung bei der Anwendbarkeit des eigenen Strafrechts angezeigt. Die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB erscheint nicht nur aus völkerrechtlicher Sicht, sondern auch in Anbetracht der Strafbarkeitsrisiken, die dem Einzelnen dadurch aufgebürdet werden,541 zunehmend fraglich. Bei stark voneinander abweichenden Strafvorschriften sind sogar Situationen denkbar, in denen der Teilnehmer eines grenzüberschreitenden Verhaltens nicht anders kann als eine der betroffenen Strafrechtsordnungen zu verletzen. Folgendes Beispiel soll das
537 538 539 540 541
BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23210 D. BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23211 A f. Kritisch bereits Valerius, NStZ 2008, 121 (125). BGBl. I, S. 1708. Zur Forschung an embryonalen Stammzellen Schwarz, MedR 2003, 158 (163).
Kap. 6: Strafanwendungsrecht
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Dilemma des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB veranschaulichen:542 Eine Person liegt schwer, jedoch nicht tödlich verletzt in einem bewaldeten Grenzgebiet auf ausländischem Territorium. Ihr Begleiter ruft den zufällig auf der anderen Seite des Grenzzauns im Inland spazierenden Hausarzt des Verletzten herbei, um ihn nach einem Schmerzmittel zu fragen. Der Arzt trägt ein entsprechendes Medikament bei sich, das aber wegen seiner Nebenwirkungen bei der ihm bekannten Konstitution des Verletzten mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führt. In Kenntnis dieses Risikos besteht der Verletzte auf die Aushändigung des Schmerzmittels, damit sein Begleiter es ihm verabreicht. Weigert sich der Arzt, dem Begleiter des Verletzten das Schmerzmittel zu übergeben, macht er sich im ausländischen Nachbarstaat unter Umständen wegen Körperverletzung durch Unterlassen strafbar, wenn dessen Rechtsordnung dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten einen hohen Stellenwert einräumt und seinem Wunsch nach Schmerzlinderung selbst in Anbetracht der möglichen tödlichen Nebenfolgen den Vorrang einräumt. Überreicht der Arzt jedoch dem Begleiter des Verletzten das Medikament, steht eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zur (zumindest versuchten) Tötung auf Verlangen nach inländischem Recht im Raum, wenn es Maßnahmen der Sterbehilfe als weitgehend strafbar erachtet und eine dem § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB entsprechende Regelung enthält. Der Arzt würde sich also in einer rechtlichen Zwickmühle befinden und in jedem Fall einen Straftatbestand der betroffenen Rechtsordnungen verwirklichen, unabhängig davon, ob er dem Wunsch des Verletzten entspricht oder nicht.543
V. Zusammenfassung In einem Zeitalter, das stetig nach neuen grenzüberschreitenden Informationsund Kommunikationswegen sucht und in dem das private und berufliche Interesse des Einzelnen an fremden Staaten und Kulturen wächst, verlieren Staatsgrenzen an Bedeutung. Der Besuch anderer Länder zählt mittlerweile zum Alltag. Das Internet gestattet seinen Nutzern, problemlos Kontakte rund um den Globus zu knüpfen. Da Handlungen des Einzelnen dadurch zahlreiche Schnittstellen mit den Rechtsordnungen anderer Staaten aufweisen, gewinnt das Strafanwendungsrecht zunehmend an Relevanz. Exemplarisch belegen dies Äußerungsdelikte im Internet und Formen der internationalen Kooperation, sei es im Geschäftsverkehr oder in der Forschung. Wie die kontroverse Diskussion um das Stammzellgesetz zeigt, geben insbesondere ethisch umstrittene und demzufolge in den einzelnen Staaten äußerst unterschiedlich geregelte Themen Anlass, die Reichweite des Anwendungsbereichs des deutschen Strafrechts zu überdenken. 542
Entnommen aus Valerius, NStZ 2008, 121 (124). Böse, NK, Vor § 3 Rdn. 49 und § 9 Rdn. 5 will den über die ausländische Norm vermittelten Zwang im deutschen Recht als entschuldigenden Notstand berücksichtigen. 543
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Teil 3: Kulturelle Wertvorstellungen im Allgemeinen Teil des StGB
Stärkere Berücksichtigung als bislang verlangt dabei der völkerrechtliche Charakter des Strafanwendungsrechts. Dem für das Völkerrecht elementaren Grundsatz der Nichteinmischung lässt sich entnehmen, bei grenzüberschreitenden Sachverhalten die Souveränität der anderen betroffenen Staaten beachten zu müssen. Dies kann bei multiterritorialen Delikten, die zwar nur einen einzigen Handlungsort, aber Erfolgsorte in einer Vielzahl von Staaten aufweisen, durch einen Rekurs auf die Rechtsordnung des Handlungsstaates geschehen, der in erster Linie über die Aburteilung des Verhaltens entscheiden sollte. Das Strafrecht der Erfolgsstaaten findet demgegenüber allein dann Anwendung, wenn die Tat am Handlungsort mit Strafe bedroht ist oder dieser keiner Strafgewalt unterliegt. Ebenso erscheint eine zurückhaltende Auslegung des Strafanwendungsrechts in bestimmten Konstellationen der grenzüberschreitenden Beteiligung geboten. Insbesondere sollte auf die Zurechnung von Handlungsorten unter Mittätern bzw. des Tatmittlers gegenüber dem mittelbaren Täter verzichtet werden. Um einen Widerspruch mit der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB zu vermeiden, bleibt jedoch de lege lata lediglich eine völkerrechtskonforme Auslegung unter Rückgriff auf das Recht des Erfolgsortes möglich. Demnach setzt die Anwendung des inländischen Strafrechts auf einen im Ausland handelnden Täter und bei fehlendem inländischen Erfolgsort voraus, dass die Tat auch an ihrem Erfolgsort mit Strafe bedroht ist oder dieser keiner Strafgewalt unterliegt. De lege ferenda wäre eine Eingrenzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StGB auf den (tatsächlichen oder vorgestellten) Erfolgsort der Tat wünschenswert, was sodann ein Absehen von der Zurechnung von Handlungsorten bei Mittätern sowie zwischen Tatmittler und mittelbarem Täter ermöglichte. Zwar stellt sich das Strafanwendungsrecht, vor allem durch die maßgebliche Anknüpfung an das Territorialitätsprinzip, als grundsätzlich unabhängig von kulturellen Wertvorstellungen dar. Allerdings zeigen gerade die – nicht selten kulturell bedingten – Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Strafrechtsordnungen die Prädestinierung des Strafanwendungsrechts, internationale kulturelle Konflikte zu lösen. Deutlich kommt dies in dem Verweis auf die lex loci zum Ausdruck, wodurch die Wertungen einer anderen Rechtsordnung mit gegebenenfalls anderem kulturellen Hintergrund Beachtung finden. Jedenfalls wenn mit der hier vorgeschlagenen restriktiven Auslegung zunehmend auf das Recht ausländischer Begehungsorte zurückgegriffen wird, erweist sich das Strafanwendungsrecht als ein Rechtsinstitut, das mittelbar die Anschauungen anderer Kulturen berücksichtigt. Ob die notwendige Reflexion über das Strafanwendungsrecht über diese Ansätze hinaus eine grundsätzliche Neukonzeption und -regelung der §§ 3 ff. StGB erfordert, ist damit noch nicht entschieden. Abgesehen von den weitgehenden Katalogen der §§ 5, 6 StGB kann die angezeigte zurückhaltende Handhabung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts zumeist über eine restriktive und völkerrechtskonforme Auslegung erreicht werden. Jedenfalls bedarf es einer Inter-
Kap. 6: Strafanwendungsrecht
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pretation, die sich losgelöst von dem konkreten Sachverhalt um Allgemeingültigkeit bemüht. Brisante Angelegenheiten wie volksverhetzende Äußerungen im Internet oder ethisch umstrittene Themen wie die Forschung an embryonalen Stammzellen führen ansonsten zu Entscheidungen oder Regelungen, die merklich vom Rechtsgefühl im jeweiligen Einzelfall beeinflusst werden. Bei der Suche nach allgemeinen Grundsätzen für das Strafanwendungsrecht bleibt Neutralität bezüglich der kulturellen Wertvorstellungen anderer Staaten anzumahnen. Wer nicht zu akzeptieren vermag, ein grenzüberschreitendes Verhalten aufgrund einer restriktiven Anwendung des deutschen Strafrechts ungeahndet zu lassen, muss konsequenterweise im umgekehrten Fall die Strafbarkeit von allein in Deutschland handelnden Personen nach ausländischem Recht hinnehmen, auch wenn sie sich nach deutschem Recht nicht strafbar gemacht haben. Die hier vorgeschlagene enge Interpretation des Strafanwendungsrechts heißt nicht, fremde Rechtsordnungen selbst dann gutzuheißen, wenn diese den eigenen Wertvorstellungen zum Teil gravierend widersprechen. Es bedeutet lediglich, dass eine extensive Auslegung des Strafanwendungsrechts nicht den vorzugswürdigen Weg darstellt, um die eigenen Anschauungen anderen Staaten nahezubringen. Zu diesem Zweck sollte vielmehr der internationale politische Diskurs gesucht werden, selbst wenn dies einen weitaus langwierigen und nicht zwingend Erfolg versprechenden Prozess nach sich zieht. Der notwendige Respekt vor anderen Völkerrechtssubjekten und fremden Kulturen gebietet aber, etwaige Strafbarkeitsgefälle oder -oasen infolge unterschiedlicher nationaler Rechtsordnungen hinzunehmen anstatt in einem nationalen Alleingang das eigene Strafanwendungsrecht auszudehnen und die eigenen Wertvorstellungen anderen Staaten zu oktroyieren.
Teil 4
Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat Kapitel 7
Strafzumessung I. Grundlagen Wie in den vorstehenden Kapiteln aufgezeigt, sind die kulturellen Wertvorstellungen des Täters, die ihn zur Begehung einer Tat veranlassen bzw. bei der Tatausführung beherrschen, auf verschiedene Weise für seine Strafbarkeit von Bedeutung: Die Anschauungen des Täters sind bei kulturoffenen Tatbestandsmerkmalen mitunter bereits auf Tatbestandsebene oder ansonsten im Rahmen von Rechtfertigungsgründen sowie des Unrechtsbewusstseins zu beachten. Trotz dieser im Grundsatz mannigfaltigen Einflussnahme scheitert die Strafbarkeit des Täters allerdings nur selten allein an seiner kulturellen Prägung. Wirken sich die kulturellen Hintergründe der Tat nicht auf die Strafbarkeit selbst aus, können sie jedoch für die Rechtsfolgenbestimmung relevant sein. In diese Richtung weist schon der vermeidbare Verbotsirrtum, der gemäß § 17 Satz 2 StGB eine fakultative Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorsieht. Jenseits solcher Regelungen stellen die Anschauungen des Täters ein mögliches Kriterium für die Strafzumessung dar. Demnach bleibt – mit Ausnahme der absoluten Strafdrohung lebenslanger Freiheitsstrafe bei Mord und Völkermord – die kulturelle Prägung des Täters bei der Festlegung des konkreten Strafmaßes zu berücksichtigen. Die Grundlage der Strafzumessung bildet „die Schuld des Täters“. Diese ebenso knappe wie unbestimmte Formulierung des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB lässt offen, was sich konkret hinter dem Schuldbegriff verbirgt.1 Immerhin zählt § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB ausdrücklich und verbindlich, wenngleich nicht abschließend („namentlich“) einige Umstände auf, die für die Strafzumessung in Betracht kommen. Einzelne der hier genannten Faktoren wie z. B. das Vorleben, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters und dessen Nachtatverhalten zeigen dabei, 1 Zusammenfassend zur daran anknüpfenden Kritik in der Literatur Streng, NK, § 46 Rdn. 19 ff. m.w. N.
Kap. 7: Strafzumessung
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dass sich die Strafzumessung nicht allein nach dem Grad der persönlichen Vorwerfbarkeit bestimmt. Sie ist zwar Voraussetzung für die schuldhafte Begehung der Tat und – wie die Regelung des § 17 Satz 2 StGB zum vermeidbaren Verbotsirrtum exemplarisch belegt – auch auf der Rechtsfolgenseite zu beachten. Es gilt aber zwischen der Strafbegründungsschuld (im Sinne des dreigliedrigen Tatbestandsaufbaus) und der Strafzumessungsschuld (im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) zu unterscheiden.2 Für die Strafzumessungsschuld sind nicht zuletzt die kulturellen Anschauungen des Täters von Bedeutung. In diesem Zusammenhang bietet sich an zu erörtern, ob und wie der formale Aspekt der Ausländereigenschaft auf der Rechtsfolgenseite berücksichtigt wird. Schließlich fallen fremde Staatsangehörigkeit und Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturkreis häufig zusammen, auch wenn mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit ebenso wenig zwingend eine andere kulturelle Wertvorstellung einhergeht wie die inländische Staatsangehörigkeit eine Übereinstimmung mit den hiesigen Anschauungen garantiert. Insgesamt bleibt vorab zu diesem Problemkreis zu bemerken, dass trotz der zahlreichen Entscheidungen einige Fragestellungen noch nicht abschließend geklärt sind.3
II. Kulturelle Anschauungen als Strafzumessungsgrund 1. Allgemeines Die kulturellen Wertvorstellungen des Täters können sich auf verschiedene Weise in den Umständen der Tat niederschlagen. Dies gilt einerseits für die Wahl des Tatmittels und die konkrete Tatausführung sowie andererseits für die innere Einstellung des Täters und seine mit der Tat verfolgten Ziele. Manche Beweggründe wie Stolz, Ehre, wirtschaftliches Fortkommen und gesellschaftliches Ansehen mögen Angehörige des einen Kulturkreises bei ihrer Tat eher beherrschen, für Personen mit anderem kulturellen Hintergrund hingegen gewöhnlich von untergeordneter Bedeutung sein. Unter Umständen geben die Wertvorstellungen des Täters sogar den Ausschlag, ob eine Tat überhaupt begangen wird. Während hierzulande Individualismus und Selbstbestimmung ein enormer Stellenwert zuteilwird und daher beispielsweise Eltern ihre Kinder nur selten zur Ehe eines nicht selbst gewählten Partners nötigen, ist ein solches Verhalten bei Angehörigen anderer Kulturen, vornehmlich patriarchalisch geprägter Gesellschaften noch weit verbreitet. Neben der Zwangsheirat bilden die Ehrenmorde ein weiteres Paradebeispiel für die 2 Lackner/Kühl, § 46 Rdn. 23; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 9a; Streng, NK, § 46 Rdn. 22. 3 Streng, NK, § 46 Rdn. 145.
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Teil 4: Kulturelle Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
kulturelle Abhängigkeit der Tatbegehung. Hier gibt ein Verhalten den Anlass zur Tötung, das sich nach den in Deutschland vorherrschenden Anschauungen zumeist als unbedenklich erweist, von dem kulturellen Umfeld des späteren Opfers jedoch als Verletzung der Familienehre empfunden wird und gegebenenfalls den Tod des jeweiligen Familienmitglieds verlangt.4 Auf aus hiesiger Sicht ebenso wenig nachvollziehbaren Ehranschauungen beruhen des Weiteren die vor allem in Bangladesch verbreiteten Säureattentate.5 Hierbei schüttet der Täter ätzende Flüssigkeiten auf den Körper des zumeist jungen weiblichen Opfers, häufig als Reaktion auf die Kränkung seiner Ehre, etwa durch einen vom späteren Opfer bzw. dessen Eltern abgelehnten Heiratsantrag. Das Opfer wird durch den Anschlag erheblich entstellt, verliert nicht selten sein Augenlicht und verstirbt zum Teil sogar an den unmittelbaren Folgen der Tat. Die Überlebenden werden in der Regel zu Außenseitern der Gesellschaft, leiden oftmals unter Depressionen und unterliegen einer erhöhten Suizidgefahr. Den vielgestaltigen kulturellen Einflüssen auf Beweggründe, Entschluss und Ausführung einer Tat entspricht ein nicht minder breites Spektrum an Faktoren, die bei der Strafzumessung zu beachten sind (siehe sogleich 2.). Soweit ein kulturgeprägter Umstand auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen bleibt, ist dies auf verschiedene Weise möglich (siehe dazu 3.). 2. Einzelne Strafzumessungsfaktoren a) Fremde Staatsangehörigkeit Ungeachtet der Auswirkungen kultureller Wertvorstellungen auf die inneren und äußeren Umstände einer Tat könnte erwogen werden, bereits die kulturellen Anschauungen selbst zum Strafzumessungsfaktor zu erheben. Jedenfalls hat die Rechtsprechung gelegentlich die fremde Staatsangehörigkeit als solche, die Täter aus anderen Kulturen häufig aufweisen, bei der Rechtsfolgenbestimmung herangezogen. Vor allem bei Asylbewerbern haben einige Gerichte deren Ausländereigenschaft strafschärfend gewürdigt. Durch ihre Tatbeteiligung missbrauchten diese das Gastrecht, das ihnen Deutschland gewähre, obwohl sie außerdem tat4 Zur Bewertung solcher Beweggründe als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB siehe oben Teil 2 Kap. 2 II. 2. 5 Nach Angaben der Acid Survivors Foundation (ASF), einer 1999 mit Unterstützung unter anderem von UNICEF gegründeten Hilfsorganisation in Bangladesch, wurden zwischen 2000 und 2010 insgesamt 2.976 Opfer von Säureattentaten in Bangladesch verzeichnet, ungeachtet einer eher hoch einzuschätzenden Dunkelziffer. Allein 2002 waren 490 (überlebende) Personen von einem solchen Anschlag betroffen. Durch den im selben Jahr eingeführten „Acid Crime Control Act“ konnte die Anzahl der Opfer merklich verringert werden: 2003 wurden 411, 2004 325, 2005 272, 2006 221, 2007 192, 2008 179, 2009 150 und 2010 schließlich 153 Opfer von Säureattentaten dokumentiert, http://www.acidsurvivors.org/statistics.html (1. 3. 2011).
Kap. 7: Strafzumessung
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sächliche und finanzielle Unterstützung von ihrem Gastgeberland (oftmals verkürzt als Gastland bezeichnet) erhielten.6 Die Rechtsmittelgerichte 7 und das Schrifttum8 erteilen solchen Ansätzen zu Recht eine eindeutige Absage. In seinem Beschluss vom 16. März 1993 führt der Bundesgerichtshof stellvertretend aus, dass der nachteiligen Berücksichtigung der Ausländereigenschaft zwar nicht das absolute Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 GG entgegenstehe, dessen Aufzählung differenzierungsfeindlicher Anknüpfungspunkte gerade nicht die Staatsangehörigkeit nenne.9 Jedoch sei die Staatsangehörigkeit des Täters für die Bewertung der (Strafzumessungs-)Schuld grundsätzlich ohne Bedeutung. Den Ausländer treffe auch keine – gegenüber dem Inländer gesteigerte – Pflicht, sich in dem gastgebenden Land straffrei zu verhalten. Der letztgenannte Aspekt verdient eine nähere Betrachtung. Zunächst bleibt festzuhalten, nicht an den Verstoß gegen die Strafgesetze selbst anknüpfen zu dürfen, um die Ausländereigenschaft des Täters strafschärfend zu würdigen. Vielmehr gelten die Strafgesetze für alle Rechtsunterworfenen in gleichem Umfang und ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Täters. Es existiert also keine – 6 So Strafzumessungen von Strafkammern, zitiert bei BGH NJW 1972, 2191; StV 1991, 105; StV 1991, 557; NStZ 1993, 337 (337); OLG Karlsruhe NJW 1974, 2061 (2062); vgl. ferner RG JW 1932, 2995 (2997). Exemplarisch die bei BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 12 angeführte Begründung des Landgerichts: „Und schließlich hat der Angeklagte die Tat in einem Gastland begangen, welches ihm angesichts gewisser Schwierigkeiten in seinem Heimatland Zuflucht gewährt hatte.“ 7 BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 12; BGH NJW 1972, 2191; MDR/Dallinger 1973, 369; MDR/Holtz 1976, 986; StV 1981, 123; StV 1987, 20; StV 1991, 105; StV 1991, 557; NStZ 1993, 337 (337); NStZ-RR 2006, 137; OLG Bremen StV 1994, 130 (130); OLG Celle NJW 1953, 1603 (1603 f.); OLG Düsseldorf StV 1995, 526 (527); NJW 1996, 66 (67); OLG Karlsruhe NJW 1974, 2061 (2062). 8 Fischer, § 46 Rdn. 43; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 33; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 36; Streng, NK, § 46 Rdn. 151; Theune, LK, § 46 Rdn. 186; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rdn. 347; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 570; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 77 f.; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 127 f.; Hilger, JZ 1982, 773; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (3); Ventzke, StV 1997, 184 (184). 9 BGH NStZ 1993, 337 (337) unter Verweis auf BVerfGE 51, 1 (30); Maunz/Dürig/ Dürig/Scholz, Art. 3 III Rdn. 80; Dreier/Heun, Art. 3 Rdn. 130; Jarass/Pieroth/Jarass, Art. 3 Rdn. 127; von Mangoldt/Klein/Starck/Starck, Art. 3 Rdn. 395. A. A. BGHSt 43, 233 (234); BGH NJW 1972, 2191; StV 1981, 123; StV 1987, 20; StV 1991, 557; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 12; OLG Celle NJW 1953, 1603 (1603); OLG Düsseldorf NJW 1996, 66 (67); OLG Karlsruhe NJW 1974, 2061 (2062); Eschelbach, SSW-StGB, § 46 Rdn. 149; Lackner/Kühl, § 46 Rdn. 36b; Schönke/Schröder/ Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 36. Der denkbare Verweis auf das allgemeine Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG – vgl. BGH NJW 1972, 2191; OLG Celle NJW 1953, 1603 (1603); OLG Karlsruhe NJW 1974, 2061 (2062); Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408 (1408); ders., StV 1986, 83 (86) – hilft nur bedingt weiter, da er nicht die Auseinandersetzung erspart, ob die Bewertung der Ausländereigenschaft als straferhöhender Umstand willkürlich ist oder nicht.
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Teil 4: Kulturelle Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
mit den Worten des Bundesgerichtshofs – „gesteigerte“ 10 Pflicht der Gesetzestreue für den ausländischen Mitbürger. Ebenso wenig entsteht aber eine zusätzliche Pflicht aus seinem Aufenthalt in einem fremden Land als dessen Gast. Der Missbrauch des Gastrechts mag als Unhöflichkeit oder Taktlosigkeit empfunden werden. Solche Bewertungen bewegen sich indes außerhalb des Rechts und können keine Pflicht begründen, deren Verletzung sich bei der Strafzumessung nachteilig für den Täter auswirkt. Ansonsten müsste Touristen, die während ihres Auslandsurlaubs nach dortigem Recht Straftaten begehen (z. B. durch den strafbaren Ankauf von Markenproduktimitaten), ihre Staatsangehörigkeit gleichfalls nachteilig angerechnet werden. Der absehbare Einwand, Touristen seien der Wirtschaft ihres Urlaubslandes zuträglich, während Asylbewerber gegebenenfalls von ihrem Gastgeberstaat noch finanzielle Zuwendungen erhielten, wäre äußerst gewagt, da er fiskalische Elemente zum ausschlaggebenden Punkt für die Strafzumessung erhöbe. Etwas anderes gilt gegebenenfalls, wenn sich ein ausländischer Staatsangehöriger um seinen Gaststatus in der Absicht bemüht, Straftaten in dem Gastgeberland zu begehen.11 Zu denken wäre etwa an einen Täter, der sich als Mitglied einer kriminellen oder terroristischen Organisation in das Ausland begibt, um dort Racheakte oder Anschläge und Attentate zu verüben. In diesen Fällen ist zu erwägen, den „Missbrauch des Gastrechts“ als Strafzumessungsfaktor zum Nachteil des Täters heranzuziehen. Anknüpfungspunkt wäre allerdings dann weder die Staatsangehörigkeit als formaler Aspekt noch der Missbrauch des Gastrechts als solcher, sondern allein die Vorgehensweise des Täters in ihrer Gesamtheit, in der seine gesteigerte kriminelle Energie zum Ausdruck kommt.12 Vergleichen lässt sich dies mit Delikten ohne jeglichen Auslandsbezug, bei denen sich der Täter erst das Vertrauen des Opfers erschleicht, um die spätere Tatausführung überhaupt zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Somit sind weder die Ausländereigenschaft als solche noch der – gegebenenfalls asylrechtlich relevante – Missbrauch des Gastrechts zuungunsten des Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Ebenso wenig bilden die Staatsangehörigkeit des Täters oder sein Gaststatus einen strafmildernden Umstand.13 Sie können sich allenfalls mittelbar auswirken, indem sie die Tat in einer für die Strafzumessungsschuld erheblichen Weise prägen.14 10
BGH NStZ 1993, 337 (337). BGH NStZ 1993, 337 (337); vgl. auch BGH MDR/Dallinger 1973, 369; NStZ 1982, 112; StV 1991, 105; Fischer, § 46 Rdn. 43; Theune, LK, § 46 Rdn. 189. 12 Ebenso Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (6). 13 BGH NStZ 2006, 35 (35); BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ausländer 4 zum Status als Asylbewerber; Baumeister, Ehrenmorde, S. 172; Ventzke, StV 1997, 184 (184). 14 BGH NStZ 1993, 337 (337); Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 33; Lackner/ Kühl, § 46 Rdn. 36b; Streng, NK, § 46 Rdn. 151; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Pra11
Kap. 7: Strafzumessung
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b) Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis Es bleibt denkbar, den in der Rechtsprechung gelegentlich vertretenen Ansatz, die Ausländereigenschaft als solche zum Nachteil des Täters heranzuziehen, auf die Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis zu übertragen. Anstelle des Missbrauchs des Gastrechts durch den ausländischen Staatsangehörigen ließe sich etwa auf die fehlende Integrationsbereitschaft des Täters verweisen, um dessen kulturelle Identität als straferhöhenden Umstand zu behandeln. Derartigen Überlegungen wäre wiederum entgegenzuhalten, dass es allenfalls eine Frage der Höflichkeit und des gegenseitigen Respekts ist, sich nicht völlig den Wertvorstellungen seines Gastgeberlandes zu verschließen und eine gewisse Bereitschaft zur Integration zu zeigen. Eine Pflicht dieses Inhalts, deren Missachtung zu einer höheren Ahndung jeglichen strafrechtlich relevanten Verhaltens führte, existiert indessen nicht. Die Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis als solche hat demnach für die Strafzumessung keine Bedeutung. Auswirkungen auf das Strafmaß – sowohl zugunsten als auch zulasten des Täters – kann ihr erst zugesprochen werden, wenn sie sich in strafzumessungsrelevanten Umständen der Tat niederschlägt. Anders als bei der Ausländereigenschaft des Täters ergibt sich dieses Ergebnis in der Regel bereits aus dem absoluten Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 3 GG. Der kulturelle Hintergrund eines Menschen wird dort zwar nicht in seiner Gesamtheit genannt. Mit den differenzierungsfeindlichen Merkmalen der Sprache, der Heimat und der Herkunft, des Glaubens sowie der religiösen und politischen Anschauungen finden sich in der Vorschrift aber wesentliche Kriterien für die kulturelle Zugehörigkeit wieder. Demnach schließen schon die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus, die kulturelle Zugehörigkeit des Täters als straferhöhendes Merkmal heranzuziehen. Ebenso wenig stellt der kulturelle Hintergrund der Tat als solcher einen Strafmilderungsgrund dar.15 c) Kulturbedingte Abweichungen in der Bewertung des Tatunrechts Nach den vorstehenden Erörterungen sind weder die ausländische Staatsangehörigkeit noch die Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis als solche Strafzumessungsfaktoren. Allerdings können sich die kulturellen Wertvorstellungen des Täters auf strafzumessungsrelevante Umstände der konkreten Tat auswirken und somit mittelbar auf der Rechtsfolgenseite zu beachten sein. Die sowohl in ihrer praktischen Häufigkeit als auch in ihrer rechtswissenschaftlichen Diskussion bedeutendste Konstellation dürfte hierbei sein, dass sich der Täter infolge xis der Strafzumessung, Rdn. 347; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 570; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (5 ff.). 15 BGH NStZ-RR 1997, 1; NStZ-RR 1998, 298 (298); NStZ 2007, 697; NStZ 2009, 689.
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Teil 4: Kulturelle Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
seiner heimatlichen Anschauungen überhaupt nicht bzw. nicht in vollem Ausmaß des Unrechts seiner Tat bewusst ist. Verkennt der Täter zum Zeitpunkt der Tat, Unrecht zu begehen, befindet er sich in einem Verbotsirrtum.16 Der seltene Fall dessen Unvermeidbarkeit führt gemäß § 17 Satz 1 StGB zum Wegfall der Schuld und dadurch zur Straflosigkeit des Täters. Im Regelfall der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums wirkt sich die Fehlvorstellung des Täters hingegen allenfalls auf die Höhe seiner Strafe aus: § 17 Satz 2 StGB eröffnet dem Tatgericht den Weg zu einer fakultativen Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB. Macht das Gericht von dem gesetzlichen Milderungsgrund des § 17 Satz 2 StGB keinen Gebrauch, bleiben die Anschauungen des Täters im Rahmen der Strafzumessung gemäß § 46 StGB zu berücksichtigen. Gleiches gilt, wenn der Täter zwar weiß, Unrecht zu begehen, aber einer Fehlvorstellung in Bezug auf das Ausmaß des verwirklichten Unrechts unterliegt und etwa ein Kardinalverbrechen als Kavaliersdelikt bewertet.17 Ebenso wie beim Verbotsirrtum bilden die kulturellen Wertvorstellungen des Täters lediglich eine von vielen möglichen Ursachen, weswegen er den Unrechtsgehalt seiner Tat verkennt. Insofern besteht kein Unterschied zu einem nach inländischen Anschauungen aufgewachsenen Täter, der aus anderen Gründen das Unrecht seiner Tat nicht bzw. nicht in seiner völligen Dimension begreift. Als entscheidend für die Strafzumessungsschuld erweist sich demnach nicht, warum der Täter das Unrecht seiner Tat anders bewertet, sondern allein, ob er sich der Beurteilung seines Verhaltens als Unrecht bewusst ist oder nicht. Es mag einem Täter infolge seiner kulturellen Prägung gelegentlich erschwert sein, die Wertungen der hiesigen Strafgesetze zu verstehen oder nachzuvollziehen. Für die Strafzumessung erhalten diese Probleme jedoch nur dann Bedeutung, wenn sie tatsächlich eine unzutreffende Bewertung des Unrechtsgehalts der konkreten Tat hervorrufen. Unbeachtlich sind andere kulturelle Wertvorstellungen vor allem dann, wenn sich der Täter über das Ausmaß des durch seine Tat verwirklichten Unrechts durchaus im Klaren war, diese Bewertung aufgrund seiner Anschauungen aber nicht zu teilen weiß. Vielmehr bleibt einem Täter aus einem anderen Kulturkreis vorzuhalten, sich trotz längeren Inlandsaufenthalts nicht mit den hiesigen Rechtsvorstellungen vertraut gemacht zu haben.18 Ansonsten müssten auch inländische Täter milder bestraft werden, wenn sie die Strafbarkeit bzw. den gesetzlich vorgesehenen Strafrahmen für ein bestimmtes Verhalten für unangebracht hielten. 16 Zu den Auswirkungen kultureller Wertvorstellungen auf das Unrechtsbewusstsein siehe oben Teil 3 Kap. 5 II. 17 Siehe hierzu etwa Bock, HRRS 2010, 92 (97). 18 BGH NStZ-RR 1997, 1; NStZ-RR 2007, 86 (87); BayObLG NJW 1964, 364 (365); Fischer, § 46 Rdn. 43a; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 46; Schönke/ Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 36; Streng, NK, § 46 Rdn. 150; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 569; Schnorr von Carolsfeld, in: Festschrift Bruns, S. 271 (287).
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Insbesondere Kavaliersdelikte wie Steuerhinterziehung im kleinen Stil, das Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Urheberrechtsverletzungen in Filesharing-Börsen im Internet müssten dann vielfach mit geringerer Strafe geahndet werden. Dies ließe sich jedenfalls nicht mit dem präventiven Strafgedanken vereinbaren, Täter und Allgemeinheit zur Befolgung der Rechtsordnung anzuhalten. Eine Strafmilderung kommt in diesen Fällen daher bloß in Betracht, wenn es dem Täter infolge seiner kulturellen Prägung erschwert wird, die inländische Rechtsordnung als verbindlich zu erachten und sich normgemäß zu verhalten [siehe dazu sogleich d)]. Bei einem bewussten Verstoß gegen ein Strafgesetz dürfen die Vorstellungen des Täters erst recht nicht berücksichtigt werden, wenn sogar die Rechtsordnung seines Heimatstaates ein solches Verhalten – gegebenenfalls entgegen vorherrschenden moralischen und gesellschaftlichen Anschauungen – unter Strafe stellt.19 Dem Täter ist dann in der Regel bekannt, dass selbst in seinem eigenen Land seine Wertvorstellungen umstritten sind und sein daran orientiertes Verhalten sogar vom heimatlichen Gesetzgeber als Unrecht angesehen wird. Einem Täter, der gleichwohl unbeirrt entsprechende Strafvorschriften missachtet, kann nur mit großer Zurückhaltung eine Strafmilderung wegen seiner kulturellen Prägung gewährt werden.20 Der umgekehrte Fall, in dem der Täter seinem Verhalten infolge seiner heimatlichen Anschauungen einen größeren Unrechtsgehalt beimisst als die hiesige Rechtsordnung, wirkt sich nicht auf die Rechtsfolgenseite der Tat aus. Zwar wird hier vereinzelt ein strafschärfender Umstand unter Anknüpfung an Grundsätze des internationalen Privatrechts befürwortet, weil die Annahme einer höheren Strafbarkeit ein Mehr an Schuld bedeute.21 Allerdings zieht das deutsche Strafrecht Irrtümer des Täters über das Unrecht seiner Tat ausschließlich zu seinen Gunsten, nicht hingegen zu seinen Lasten heran. Dies gilt vor allem für den Grundsatz der Straflosigkeit des Wahndelikts, bei dem der Täter sein Verhalten irrigerweise für strafbar hält.22 19 BGH NStZ 1996, 80; NStZ-RR 1998, 298 (298); NStZ-RR/Pfister 1999, 359 Nr. 62; NStZ-RR 2007, 86 (87); Fischer, § 46 Rdn. 43a; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 46; Lackner/Kühl, § 46 Rdn. 36b; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 36; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rdn. 347. 20 BGH NStZ 1996, 80. 21 Grundmann, NJW 1985, 1251 (1255) mit Erwiderung Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408 f. sowie StV 1986, 83 und Replik Grundmann, NJW 1987, 2129 (insbesondere 2130 f.). Vorangegangen war ein Beitrag von Friedrich-Christian Schroeder in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 10. 1983, S. 12, mit dem Titel „Strafen zum Heimattarif? Probleme der Strafzumessung bei Ausländern“, in dem er sich bei geringerer Strafempfindlichkeit des Täters infolge eines höheren Strafniveaus in dessen Heimatstaat für die Verhängung einer höheren Strafe aussprach. Zur Thematik auch Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (16 f.). 22 Streng, NK, § 46 Rdn. 149; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 569; ders., JZ 1993, 109 (115).
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Ansonsten würde zudem das inländische Wertegefüge, wie es in den Strafgesetzen zum Ausdruck kommt, als Bewertungsmaßstab für sozialschädliches Verhalten in Frage gestellt.23 Das gewissermaßen „überschießende“ Unrechtsempfinden des Täters als straferhöhenden Faktor zu behandeln, bedeutete nämlich zugleich, seine subjektiven Anschauungen zur allgemeinen Richtschnur zu erheben. Ebenso wenig lässt sich mit der Maßgeblichkeit der hiesigen Strafgesetze vereinbaren, höhere Strafrahmen der heimatlichen Rechtsordnung des Täters für die fragliche Tat zu seinem Nachteil in der Strafzumessung zu berücksichtigen.24 d) Erschwerte Normbefolgung Ein fehlendes oder mangelndes Unrechtsbewusstsein des Täters hat zur Folge, dass ihn das Ge- bzw. Verbot der verletzten Norm nicht in dem vorgesehenen Maße erreicht. Der ihm gegenüber erhobene Vorwurf, gegen ein Strafgesetz verstoßen zu haben, wiegt daher weniger schwer. Allerdings setzt die erschwerte Normbefolgung nicht zwingend die fehlende oder verringerte Unrechtseinsicht des Täters voraus. Vielmehr kann jemandem, obwohl er sich des von ihm begangenen Unrechts völlig bewusst ist, infolge seiner kulturellen Prägung erschwert sein, die ihm bekannte Strafvorschrift zu beachten.25 Dies betrifft vor allem Angehörige von Kulturen, die nicht nur dem Recht, sondern auch sonstigen kulturellen und gesellschaftlichen Normen einen verbindlichen Charakter zusprechen. Die Rechtsprechung hatte mehrmals über Sachverhalte zu befinden, bei denen dem Täter infolge seiner kulturellen Wertvorstellungen die Befolgung entgegenstehender Normen schwerer fiel 26 bzw. er eine geringere Hemmschwelle überwinden musste.27 Beispielsweise berücksichtigte der Bundesgerichtshof bei einer Vergewaltigung der Ehefrau durch ihren Ehemann dessen Anschauungen strafmildernd, weil Täter und Opfer aus einem Kulturkreis stammten, in dem von der Ehefrau Unterordnung und Gehorsam erwartet werden.28 Ebenso wenig beanstandete der Bundesgerichtshof eine Entscheidung, die den religiösen Hintergrund eines Jesiden, eines Angehörigen einer kurdischen monotheistischen Religion, zu seinen Gunsten heranzog. Er übte unter dem Erwartungsdruck seiner gläubigen
23 Vgl. Streng, NK, § 46 Rdn. 149; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 74 und 79 f.; Streng, JZ 1993, 109 (115). 24 BGH NStZ-RR 1996, 71; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 36; NestlerTremel, NJW 1986, 1408 (1408); ders., StV 1986, 83 (86). 25 Fischer, § 46 Rdn. 43a; Baumeister, Ehrenmorde, S. 171 f. 26 BGH NStZ 1996, 80; NStZ-RR 1997, 1. Vgl. des Weiteren BGH NStZ 1982, 115 (115 f.): der in der Türkei auf dem Land aufgewachsene Täter war aufgrund seiner Erziehung und seiner kulturellen Prägung nicht in der Lage, sich von seinem Wertegefüge zu distanzieren. 27 BGH StV 2002, 20 (20); NStZ-RR 2007, 137 (138). 28 BGH StV 2002, 20 (20).
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Familie mit seiner Zwangsverlobten gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr aus, um den Beweis für ihre Heiratswilligkeit zu erbringen.29 Auch insoweit bilden die kulturellen Vorstellungen des Täters nur einen von vielen möglichen Faktoren, die ihm ein normgerechtes Verhalten erschweren. Sonstige Ursachen sind etwa persönliche Not oder Provokationen durch das spätere Opfer, vor allem aber das Gewissen des Einzelnen. Die durch die – bei weitem nicht abschließende – Aufzählung gegebenenfalls geweckten Assoziationen mit Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen verdeutlichen, dass die Strafzumessung zwar den letzten und wohl am häufigsten angewendeten, nicht jedoch den einzigen Weg darstellt, den Widerstreit zwischen rechtlichen Verhaltensregeln und kultureller Überzeugung zu beachten. In extremen Konfliktfällen ist bereits die Strafbarkeit des durch seine heimatlichen Anschauungen geprägten Täters ausgeschlossen. Im Rahmen der Strafzumessung bleibt lediglich zu erörtern, ob und in welchem Umfang es dem jeweiligen Täter infolge seiner kulturellen Prägung erschwert war, die inländischen Rechtsgebote zu befolgen. Exemplarisch soll dies am Gewissenstäter dargelegt werden. Hier spricht das Gewissen des Täters für eine Strafmilderung, wenn die Tat auf einer achtbaren, durch ernste innere Auseinandersetzung gewonnenen Entscheidung beruht.30 Für den Gewissenstäter gilt dann ein allgemeines Wohlwollensgebot,31 das generalpräventive Gesichtspunkte zurücktreten lässt und eine Orientierung des Strafmaßes an der gesetzlichen Mindeststrafe gebietet.32 In einem solchen Fall kann dem Täter grundsätzlich ebenso wenig nachteilig angerechnet werden, hartnäckig oder uneinsichtig an seinem Entschluss festzuhalten, weil dies vielmehr dessen Ernstlichkeit unterstreicht.33 Zwar schließt dies im Einzelfall nicht aus, dem Täter vorzuhalten, bewusst die Werteordnung der Allgemeinheit zu missachten. So soll sich straferhöhend auswirken, wenn sich der Täter in besonders gemeinschaftsschädlicher und nachhal-
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BGH NStZ-RR 2007, 137 (138). BayObLG JZ 1976, 530 (531 f.); OLG Bremen NJW 1963, 1932 (1934); OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 90 (91); zur Thematik ferner Bopp, Der Gewissenstäter, S. 252 ff. Nach H. J. Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, S. 26 zieht die Gewissensentscheidung des Täters analog §§ 17 Satz 2 und 21 StGB eine fakultative Strafmilderung über § 49 Abs. 1 StGB nach sich. 31 BVerfGE 23, 127 (134); OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 90 (91); OLG Hamm NJW 1980, 2425 (2425). 32 BayObLG NJW 1980, 2425 (2425); NJW 1992, 191; OLG Bremen StV 1996, 378 (381); OLG Koblenz NStZ-RR 1997, 149 (151); OLG Köln NJW 1970, 67 (68); AG Dannenberg NStZ-RR 2006, 385 (386); einschränkend Theune, LK, § 46 Rdn. 111 auf Gewissenstäter, welche die Erfüllung eines Gebots verweigern. 33 BayObLG JZ 1976, 530 (532); vgl. ferner BGH StV 2001, 505 (506); OLG Köln NJW 1966, 1326 (1326); Theune, LK, § 46 Rdn. 106. 30
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tiger Weise über das geltende Recht hinwegsetzt.34 Es darf aber nicht versucht werden, den Gewissenstäter durch eine übermäßig harte Strafe zu zwingen, seine Gewissensentscheidung über jede zumutbare Opfergrenze hinaus weiter zu verfechten.35 Jedenfalls wirken sich die Wertvorstellungen des Täters nur auf seine individuelle Schuld aus und sind nicht als objektiver Wert auf der Rechtsfolgenseite zu beachten. Auch hier bleiben für die Strafzumessung die inländischen Anschauungen verbindlich.36 e) Strafzumessungsfaktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB Die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB listet Umstände auf, die zugunsten sowie zulasten des Täters bei der Strafzumessung herangezogen werden. Der nicht abschließende Katalog der Norm („namentlich“) nennt unter anderem subjektive Kriterien wie die Beweggründe und Ziele des Täters sowie seine Tatgesinnung, zudem objektive Gesichtspunkte wie die Art und die (verschuldeten) Auswirkungen der Tat sowie Vorleben und Nachtatverhalten und die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Wenngleich objektive Aspekte einer Tat im Einzelfall durchaus kulturelle Berührungspunkte aufweisen, wirken sich die Anschauungen des Täters doch zumeist auf die subjektiven Strafzumessungsfaktoren aus. Möglich erscheint insbesondere, dass der Täter gemäß seinen Anschauungen aus einer bestimmten Motivation heraus handelt bzw. mit seiner Tat Zwecke verfolgt, die einem nach den Wertvorstellungen der inländischen Gesellschaft aufgewachsenen Täter nachteilig angerechnet würden. Bei solchen kulturellen Unterschieden stellt sich wiederum die Frage nach dem einschlägigen Maßstab, um die Strafzumessungsschuld zu beurteilen. Ein rein nach inländischen Anschauungen bestimmtes Strafmaß birgt die Gefahr, es dem Täter kaum vermitteln zu können, beispielsweise wenn der Täter nach dem Wertegefüge seines eigenen Kulturkreises aus billigenswerten Motiven oder zu hehren Zwecken handelt. Um die spezialpräventive Wirkung der Strafe nicht zu mindern, wäre demnach erwägenswert, die Vorstellungen des Täters für die Rechtsfolgenseite heranzuziehen. Außerdem haben die Ausführungen zum Unrechtsbewusstsein37 sowie zur erschwerten Normbefolgung38 gezeigt, das Tatver-
34 BayObLG MDR 1966, 693 (694); JZ 1976, 530 (532); OLG Bremen NJW 1963, 1932 (1934); vgl. zudem BGHSt 8, 162 (163) zum Überzeugungstäter; OLG Köln NJW 1966, 1326 (1326). 35 BVerfGE 23, 127 (134); OLG Koblenz NStZ-RR 1997, 149 (151); Höcker, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht, S. 98. 36 BGH NStZ 1996, 80; bei Pfister, NStZ-RR 1999, 353 (359 Nr. 62); StV 2002, 20 (20); NStZ-RR 2007, 137 (138); Fischer, § 46 Rdn. 43a. 37 Vgl. oben Teil 3 Kap. 5 II. 38 Vgl. oben Teil 4 Kap. 7 II. 2. d).
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halten für eine gerechte Strafzumessung bisweilen aus anderer kultureller Perspektive betrachten zu müssen und nicht ausschließlich die inländischen Anschauungen heranziehen zu dürfen. Für die Maßgeblichkeit der hiesigen Wertvorstellungen lässt sich hingegen vortragen, ansonsten ihre Verbindlichkeit als Bewertungskriterium für die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens zu untergraben. Ein Strafmaß, das allein der kulturellen Prägung des Täters folgt, vermag ihn gegebenenfalls in seinen Vorstellungen noch zu bestätigen, selbst wenn diese den grundlegenden Wertentscheidungen der inländischen Rechtsordnung widersprächen. Annehmbar erscheint daher eine differenzierte Betrachtung: Den Ausgangspunkt für die Strafzumessung bilden die hiesigen kulturellen Wertvorstellungen. Ob die Beweggründe oder Ziele des Täters zu seinen Gunsten oder zu seinen Lasten zu berücksichtigen sind, bemisst sich somit allein nach den inländischen Anschauungen. Dies garantiert zunächst Rechtssicherheit, da für Angehörige sowohl der eigenen als auch einer fremden Kultur ein einheitlicher Bewertungsmaßstab gilt. Zudem wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung und in das darin zum Ausdruck kommende Wertegefüge gestärkt. Indes darf nicht völlig außer Acht bleiben, wie der Täter infolge seiner kulturellen Prägung seine Beweggründe oder seine Ziele bewertet. Auf Grundlage des durch Rückgriff auf die inländischen Wertvorstellungen gefundenen Strafmaßes wirkt sich demnach zu seinen Gunsten aus, seine Motivation als billig oder das verfolgte Anliegen als ehrenwert zu befinden. Allerdings muss der Täter verkannt haben, wie seine Beweggründe und Ziele nach hiesigen Anschauungen beurteilt werden. Wer sich hingegen bewusst von Motiven oder Absichten, um deren Missbilligung durch die inländische Rechtsgemeinschaft er weiß, zu einem strafbaren Verhalten bewegen lässt, kann keine Nachsicht erwarten. Sieht der Täter umgekehrt seine Motive und Ziele als strafwürdiger als die hiesige Rechtsgemeinschaft an, darf dies nicht zu seinen Lasten berücksichtigt werden. Auch hier gilt der Grundsatz, rein rechtliche Irrtümer des Täters über die Strafbarkeit oder Strafwürdigkeit seines Verhaltens nicht zu seinem Nachteil anzurechnen. Ohnehin wäre es wenig konsequent und der Integration des Täters hinderlich, in einer solchen Konstellation nicht ausschließlich die inländischen Wertmaßstäbe anzuwenden und dem Täter bereits das bloße Andersdenken anzukreiden. Die kulturelle Prägung des Täters vermag indes nicht nur subjektive Umstände wie seine Beweggründe und Ziele beeinflussen, sondern ebenso objektive Strafzumessungsfaktoren wie die Ausführung der Tat und ihre Auswirkungen. So musste sich der Bundesgerichtshof mit einem Sachverhalt befassen, in dem einem aus Liberia stammenden Angeklagten negativ angerechnet wurde, dass er offensichtlich davon ausgegangen sei, aufgrund seiner schwarzafrikanischen Herkunft von Europäern nicht identifiziert und daher für seine Tat nicht zur Rechen-
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schaft gezogen zu werden.39 Diesen Strafzumessungserwägungen hat der Bundesgerichtshof zu Recht eine Absage erteilt. Das bloße Ausnutzen des natürlichen, dem Täter nicht vorwerfbaren äußeren Erscheinungsbildes sei keine Verschleierungshandlung (wie z. B. eine Maskierung oder eine sonstige Veränderung des Aussehens), welche die Art der Ausführung im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB präge.40 Generell ist bei allen Strafzumessungsfaktoren zu bedenken, die kulturelle Zugehörigkeit des Täters lediglich dann zu seinen Gunsten oder Lasten beachten zu können, wenn sie sich in objektiv messbaren und kulturunabhängigen Umständen niederschlägt. Dem Täter gereicht etwa zum Nachteil, wenn er – gemäß den Gepflogenheiten unter Kriminellen seines Heimatlandes – Straftaten eher als Mitglied einer Bande anstatt als Einzelgänger begeht oder wenn er bei jeder kriminellen Handlung eine Waffe bei sich trägt. Diese Umstände bestimmen nämlich ungeachtet des kulturellen Hintergrundes die konkrete Gestalt der Tatausführung. Hingegen dürfen sich Äußerlichkeiten wie Haut- und Haarfarbe oder besondere Gesichtsmerkmale – mögen sie gleichwohl für die Ausführung der Tat von Bedeutung sein – bereits deswegen nicht auf die Strafzumessung auswirken, da gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG niemand wegen seiner Rasse benachteiligt werden darf. Interkulturelle Berührungspunkte, die sich nicht bei der Ausführung der Tat, sondern bei ihren Auswirkungen zeigen, sind ebenso nach diesen Grundsätzen zu beurteilen. Den Bundesgerichtshof beschäftigte unter anderem die Strafzumessung eines Landgerichts, das einem wegen (versuchten) Bandendiebstahls angeklagten ausländischen Asylbewerber anlastete, durch seine Tat zur Diskreditierung der Asylbewerber und vor allem der tatsächlich politisch Verfolgten in Deutschland beigetragen zu haben.41 Diese Überlegungen hat der Bundesgerichtshof zu Recht wegen des fehlenden Zusammenhangs zwischen Tatfolge und Tat verworfen. Zwar bleiben im Rahmen der Strafzumessung durchaus Tatfolgen zu berücksichtigen, die mit dem strafbaren Verhalten in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen und außerhalb des eigentlichen Tatbereichs liegen. Allerdings müssen die Auswirkungen zum einen geeignet sein, das Bild der Tat zu prägen, und zum anderen in den Schutzbereich der jeweiligen strafrechtlichen Norm fallen. Beides war in dem anhängigen Fall eines Eigentumsdelikts nicht gegeben.42 39
BGH NStZ 2000, 586. BGH NStZ 2000, 586; zustimmend Streng, NK, § 46 Rdn. 151; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 570. 41 BGH NStZ 1993, 337 (337); siehe des Weiteren OLG Bremen StV 1994, 130 (130). 42 BGH NStZ 1993, 337 (337 f.); vgl. auch OLG Bremen StV 1994, 130 (130); Fischer, § 46 Rdn. 43; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (8). 40
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Jedoch verbietet sich die Anrechnung einer etwaigen Beeinträchtigung des Rufs von Asylbewerbern in Deutschland bereits aus einem anderen Gesichtspunkt, der in der Entscheidung letztlich offen gelassen werden konnte. Der Bundesgerichtshof deutete an, diese Folge schon deswegen nicht als Auswirkung der Tat im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB zu behandeln, weil deren wesentliche Ursache eine in Teilen der Bevölkerung zu verzeichnende Ausländerfeindlichkeit und fehlende Differenzierungsbereitschaft sei, die der Angeklagte nicht zu verantworten habe.43 Dieser Ansatz weist in die zutreffende Richtung. Schließlich kann eine größere Personengruppe durch das kriminelle Verhalten eines einzelnen Mitglieds nur dann in Misskredit gebracht werden, wenn von ihr ein bestimmtes Meinungsbild in der Öffentlichkeit vorherrscht. Die Ursache ihrer Diskreditierung ist somit das negative Ansehen in der Bevölkerung und nicht die Tat als solche. Die gegenteilige Auffassung führte im Ergebnis dazu, dass Täter allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu in der Bevölkerung geringgeschätzten oder als kriminalitätsanfällig angesehenen Personengruppen höhere Strafen zu erwarten hätten. Dies begründete aber einen Teufelskreis: Täter aus der betreffenden Gruppe würden schärfer bestraft und durch das höhere Strafmaß in der Öffentlichkeit immer mehr als Kriminelle oder sogar Schwerverbrecher eingestuft. Dies verringerte das Ansehen der Gruppe noch weiter. Angehörige dieses Umfeldes trügen durch weitere Taten dann wiederum umso mehr zu seiner Diskreditierung bei, weswegen ihre Straferwartung weiterhin zunähme. f) Erwägungen außerhalb der Schuld Es existieren zahlreiche kulturelle Schnittpunkte, die das Gesamtbild einer Tat bestimmen und nach den vorstehenden Erwägungen die Höhe der Strafe beeinflussen. Dazu zählen unter anderem die Beweggründe oder Ziele des durch seine heimatlichen Anschauungen geprägten Täters oder die äußeren Umstände und Konsequenzen einer Tat. Für die Strafzumessung können jedoch nicht nur die Folgen einer Tat, sondern auch die Folgen der dafür verhängten Strafe von Bedeutung sein. So wird diskutiert, ob die Strafempfindlichkeit des Täters oder etwaige ausländerrechtliche Konsequenzen seiner Verurteilung wie z. B. seine Ausweisung bei der Strafzumessung zu beachten sind. Neben diesen den jeweiligen Täter selbst betreffenden Faktoren wird des Weiteren erwogen, generalpräventive Aspekte in Bezug auf sonstige Angehörige aus dem Kulturkreis oder Heimatstaat des Täters in das Strafmaß einfließen zu lassen.
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BGH NStZ 1993, 337 (337); ebenso OLG Bremen StV 1994, 130 (130).
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Teil 4: Kulturelle Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
aa) Strafempfindlichkeit Vielfach wird in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten, bei der Strafzumessung die Wirkungen des Strafausspruchs auf den Täter beachten zu müssen. Ein gerechter Schuldausgleich müsse demnach das dem Täter jeweils zugefügte individuelle Strafleiden berücksichtigen. Da eine Freiheitsstrafe den Täter je nach dessen persönlichen Eigenschaften und Umständen unterschiedlich hart treffe, variiere ebenso die Höhe der schuldangemessenen Strafe nach dem Grad dieser sogenannten Strafempfindlichkeit des Täters44 und werde gegebenenfalls sogar die Wahl des Strafrahmens beeinflusst.45 Gerade auf ausländische Täter entfalte eine Freiheitsstrafe mitunter außergewöhnliche Wirkungen, da sie unter Verständigungsproblemen, abweichenden Lebensgewohnheiten und erschwerten Kontakten zu Familienangehörigen in ihrem Heimatstaat litten.46 Nach herrschender Auffassung ist dann die Verhängung einer niedrigeren Strafe besonders in Betracht zu ziehen. Gegen eine Einbeziehung der Strafempfindlichkeit bei der Bestimmung der schuldangemessenen Strafe sprechen jedoch gewichtige Gründe, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit bzw. dem kulturellen Hintergrund des Täters gelten. Wären die Auswirkungen der Freiheitsstrafe auf den Einzelnen Bestandteil eines gerechten Schuldausgleichs, müsste konsequenterweise etwa eine sämtlichen Klischees entsprechende, äußerst strafempfindliche Milliardärstochter für ein und dieselbe Tat deutlich niedriger bestraft werden als ein desillusionierter harter und am Existenzminimum lebender Arbeiter, dem auch die Schattenseiten des Lebens nur allzu gut vertraut sind. Die Folge wäre eine zu starke Orientierung an den individuellen Besonderheiten des Täters. Dies ließe sich aber nicht mehr mit der Aufgabe der Strafzumessung vereinbaren, die strafrechtlich bewehrten Normen und die darin zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft zu bestätigen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Allgemeinverbindlichkeit der Strafgesetze würde durch derart divergierende Strafaussprüche alles andere als bestärkt.47 Zutreffend erscheint daher, die Strafempfindlichkeit nicht als Teil der Schuldangemessenheit der Strafe zu betrachten, sondern lediglich als peripheren Umstand anzusehen, der im Rahmen der gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB zu berücksichtigenden spezialpräventiven Wirkungen Bedeutung erlangt. Ohnehin kann die individuelle Härte der Freiheitsstrafe durch den Rückgriff auf andere Formen des Strafvollzugs gemildert werden, ohne sich sogleich auf die Höhe des Strafmaßes niederschlagen zu müssen. Ähnlich verhält es sich bei der Bemessung der Geld44 45 46 47
BGHSt 7, 28 (31); 44, 125 (125 f.). BGHSt 44, 125 (126); StV 1989, 152 (152). Vgl. BGHSt 43, 233 (234); BGH NStZ 1997, 77; NJW 1999, 369 (370). Streng, NK, § 46 Rdn. 28 f.
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strafe, bei der sich die individuelle Leistungsfähigkeit des Täters allein auf die Höhe und nicht auf die Anzahl der Tagessätze auswirkt.48 Vor der Bestimmung des Ausmaßes, in dem eine besondere Strafempfindlichkeit des Täters zu seinen Gunsten angerechnet wird, muss freilich geklärt werden, wann bei ausländischen Tätern bzw. Angehörigen eines anderen Kulturkreises ein solcher Schritt überhaupt in Betracht kommt. Auch hier bietet die ausländische Staatsangehörigkeit als solche keinen Anlass, eine besondere Strafempfindlichkeit anzunehmen oder eine Strafmilderung zu erwägen.49 Ebenso wenig darf die Zugehörigkeit zu einem fremden Kulturkreis herangezogen werden, zumal dem in aller Regel schon Art. 3 Abs. 3 GG entgegensteht. Entscheidend sind also wiederum nicht die kulturelle Herkunft oder Prägung des Täters als solche. Maßgeblich bleibt vielmehr, ob sie sich im konkreten Fall auf den jeweiligen Strafzumessungsfaktor – vorliegend die Strafempfindlichkeit des Täters – ausgewirkt haben. Zu denken wäre insoweit an abweichende Lebensgewohnheiten des kulturell geprägten Täters oder an infolge der Distanz zum Heimatstaat erschwerte familiäre Kontakte, außerdem an Verständigungsprobleme, die allerdings mit der Zeit abnehmen.50 Jedoch gehen solche Umstände nicht zwingend mit der fremden Staatsangehörigkeit bzw. der Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturkreis einher. Vor allem wenn der Täter seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt hat und seit vielen Jahren hier lebt51 bzw. sozial integriert ist und engen Kontakt zur deutschen Bevölkerung pflegt,52 bleibt er gewöhnlich nicht anders zu behandeln als der inländische bzw. einheimische Täter. Eine Strafempfindlichkeit darf also nicht vorschnell angenommen, sondern nur zurückhaltend als mildernder Umstand bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.53 Gleiches gilt zulasten des Täters im Hinblick auf eine etwaige Überstellung in sein Heimatland. So ermöglichen internationale Übereinkommen54 48
Streng, NK, § 46 Rdn. 29. BGHSt 43, 233 (234); BGH NStZ 1997, 77; NJW 1999, 369 (370); NStZ 2006, 35 (35); NStZ-RR 2010, 337 (338); ebenso Eschelbach, SSW-StGB, § 46 Rdn. 149; Fischer, § 46 Rdn. 43b; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 46 und 72; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 46 Rdn. 56; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 54; Theune, LK, § 46 Rdn. 17; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rdn. 416; Krais, Blutrache und Strafrecht, S. 132; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (21); Laubenthal, NStZ 1998, 349 (350). 50 BGHSt 43, 233 (234); BGH NStZ 1997, 77; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 72. 51 Vgl. z. B. BGH NStZ 1997, 77; NJW 1999, 369 (370); NStZ 2006, 35 (35); Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rdn. 416. 52 BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ausländer 2. 53 Vgl. Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 78 f. 54 Insbesondere das Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. 3. 1983 (SEV Nr. 112), das auch 18 nichteuropäische Staaten ratifi49
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einem ausländischen Täter, mit seiner Zustimmung sowie dem Einverständnis der zuständigen Behörden der beteiligten Staaten die Freiheitsstrafe in seinem Heimatland zu verbüßen. Eine solche Entscheidung ergeht aber erst nach der rechtskräftigen Verurteilung des Täters, weshalb das Ob der Überstellung lediglich eine Vermutung bleibt. Selbst wenn sich hier in der Praxis gewisse Grundsätze eingespielt haben, welche die Entscheidung in einem gewissen Rahmen vorhersehbar erscheinen lassen,55 bildet selbst die wahrscheinliche Überstellung des Täters in sein Heimatland eine zu unsichere Prognose, auf die eine Strafzumessung zum Nachteil des Täters nicht gestützt werden darf.56 Entgegenstehenden Überlegungen in der Rechtsprechung57 und im Schrifttum58, eine Strafmilderung infolge besonderer Strafempfindlichkeit des Täters nicht in Betracht zu ziehen, wenn er es in der Hand hat, in sein Heimatland überstellt zu werden, muss daher eine Absage erteilt werden. Gegen einen solchen Ansatz spricht schließlich, von dem Täter ein aktives Verhalten zu verlangen, nämlich seine Zustimmung zur Überstellung, um einer Verschärfung der Strafe bei Verbüßung im Inland infolge seiner Strafempfindlichkeit zu entgehen. bb) Ausländerrechtliche Konsequenzen Ein weiteres Problemfeld der Strafzumessung bilden ausländerrechtliche Konsequenzen für den Täter infolge seiner Verurteilung. Nach § 53 AufenthG ist ein Ausländer bei der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe einer bestimmten (bei einigen Straftaten herabgesetzten) Höhe zwingend auszuweisen, sofern er nicht den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG genießt. Des Weiteren enthält § 54 AufenthG Fallgruppen, in denen zwar nicht unumstößlich, aber in der Regel die Ausweisung des straffälligen Ausländers erfolgt. Die Verurteilung des ausländischen Täters begründet also unter Umständen Nachteile für ihn, die ein wegen der gleichen Tat zu der gleichen Strafe verurteilter inländischer Täter nicht zu befürchten hat. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit die außerstrafrechtlichen Folgen Eingang in die Strafzumessung finden. Die Rechtsprechung zeigt sich insoweit recht zurückhaltend. Vor allem lehnt sie es grundsätzlich ab, ausländerrechtliche Konsequenzen wie die drohende ziert haben (Stand: 1. 3. 2011). Deutschland hat das Übereinkommen am 31. 10. 1991 ratifiziert (BGBl. II 1992, S. 98). 55 Zur Handhabung in der Praxis BGHSt 43, 233 (235 f.). 56 Streng, NK, § 46 Rdn. 147; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 567; Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 72; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (21 f.); Laubenthal, NStZ 1998, 349 (350); Weider, StV 1998, 68 (68 ff.); kritisch ferner Ventzke, StV 1997, 184 (186). 57 BGHSt 43, 233 (234 ff.); BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ausländer 2; BGH NStZ 1997, 79; NStZ 2006, 35 (35). 58 Fischer, § 46 Rdn. 43b; Theune, LK, § 46 Rdn. 17.
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Ausweisung als bestimmenden und somit im Urteil anzugebenden Strafzumessungsgrund anzusehen.59 Sofern die Ausweisung nicht zwingend vorgeschrieben sei, berücksichtigten die Ausländerbehörden ohnehin etwaige Härten im Rahmen ihres gerichtlich überprüfbaren Ermessens im Ausweisungsverfahren.60 Lediglich wenn ein Strafausspruch zwingend die Ausweisung des ausländischen Täters zur Folge habe, müsse sich der Tatrichter ausdrücklich mit einer Strafmilderung auseinandersetzen.61 Der restriktiven Handhabung der Rechtsprechung ist im Ergebnis zuzustimmen. Außerstrafrechtliche Folgen bei der Festsetzung des Strafmaßes heranzuziehen, bedeutete, die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu unterlaufen, an den Ausspruch bestimmter Strafen bestimmte Rechtsfolgen wie beispielsweise die Ausweisung des Täters anzuknüpfen. Durch eine milde Strafzumessung die Voraussetzungen für ein Einschreiten anderer Behörden entfallen zu lassen, stellte zudem jedenfalls dann einen Eingriff in deren Zuständigkeitsbereich dar, wenn die Behörden einen Ermessensspielraum haben und demzufolge selbst besondere Härten für den Betroffenen bedenken können. Die Anrechnung außerstrafrechtlicher Folgen erweist sich auch aus einem weiteren Gesichtspunkt als nicht unproblematisch. Anders als bei der Strafempfindlichkeit entfällt bei den außerstrafrechtlichen Folgen die besondere Härte der Strafe vollständig, wenn zugunsten des Täters die Strafe unter die für ihn kritische Strafgrenze verringert wird. So hat das konkrete Strafmaß auf die Strafempfindlichkeit als solche keinen Einfluss; vielmehr wirkt für den strafempfindlichen Täter jede Freiheitsstrafe unabhängig von ihrer Höhe jeweils härter als für den nicht strafempfindlichen Täter, weswegen der Strafausspruch durch eine Milderung nicht insgesamt an Härte verliert. Anders ist es dagegen, wenn die Strafe wegen drohender außerstrafrechtlicher Konsequenzen gemildert werden soll, die lediglich ab einer bestimmten Höhe der Freiheitsstrafe eintreten. Wird hier das erforderliche Strafmaß unterschritten, erhält der Täter eine Strafmilderung, die nicht durch eine besondere Härte ausgeglichen wird. Er erfährt somit trotz oder gerade wegen der ihm drohenden außerstrafrechtlichen Konsequenzen eine Privilegierung.62 59 BGH NStZ 1996, 595; NStZ 1997, 77; NJW 1999, 369 (370); NStZ 2000, 297 (298); NStZ-RR 2000, 79 (80); NStZ 2002, 196 (196); NStZ-RR 2004, 11 (11); OLG Stuttgart StV 2000, 82 (82); kritisch Nitz, StraFo 2002, 316 (317); Ventzke, StV 1997, 184 (185 f.). 60 BGH NStZ 1997, 77; NJW 1999, 369 (370); NStZ 2002, 196 (196); NStZ-RR 2004, 11 (11); Fischer, § 46 Rdn. 43c. 61 BGH NStZ 1999, 240 (240); NJW 2010, 2677 (2678); OLG Stuttgart StV 2000, 82 (82); Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 46; von Heintschel-Heinegg, BeckOKStGB, § 46 Rdn. 46; einschränkend BGH NStZ 1997, 77; Fischer, § 46 Rdn. 43c; a. A. BGH NStZ-RR 2004, 11 (11). 62 Vgl. Streng, NK, § 46 Rdn. 143; ders., NStZ 1988, 485 (485) zur strafmildernden Auswirkung beamtenrechtlicher Disziplinarmaßnahmen. Eingehend zur Kritik an der
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Um eine Strafmilderung wegen derartiger mittelbarer Straftatfolgen zu rechtfertigen, darf demzufolge nicht auf einen etwaigen Härteausgleich abgestellt werden. Anstatt einen solchen repressiven Ansatz heranzuziehen, bleibt allenfalls denkbar, sich auf spezialpräventive Erwägungen zu berufen. Denn ein Täter könnte sich allein wegen der drohenden außerstrafrechtlichen Konsequenzen, denen er nur infolge der Strafmilderung noch entgeht, in Zukunft zu einem normgetreuen Verhalten in der Gesellschaft veranlasst sehen. Mögliche außerstrafrechtliche Folgen wie die Ausweisung des Täters ließen also zwar nicht die Strafe selbst härter erscheinen, verstärkten allerdings die damit verbundene Warnung vor der Begehung weiterer Straftaten und erhöhten die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr des Täters in die Legalität. Ob der verhängten Freiheitsstrafe (in Verbindung mit den zusätzlich drohenden außerstrafrechtlichen Konsequenzen) eine solche Wirkung auf den Täter zukommt, wäre jeweils eine Frage des konkreten Einzelfalls. Dabei darf nicht übersehen werden, dass drohende außerstrafrechtliche Konsequenzen den Täter zumindest einmal nicht von der Begehung einer Straftat abgehalten haben. Rechtsfolgen außerhalb des Strafrechts, die an die Verhängung eines bestimmten Strafmaßes geknüpft sind, wirken sich demnach lediglich im Ausnahmefall aus. Für die drohende Ausweisung des Täters entspricht dies im Ergebnis der Ansicht des Bundesgerichtshofs. Indessen verhält er sich widersprüchlich, wenn er in anderen Fällen außerstrafrechtlicher Konsequenzen, namentlich bei disziplinarrechtlichen Folgen, weitaus großzügiger mit der Annahme strafmildernder Umstände verfährt. So hat der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden, zwingende beamten- oder soldatenrechtliche Maßnahmen bei der Strafzumessung nicht unberücksichtigt lassen zu dürfen. Zur Begründung seiner Ansicht verweist er auf § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB, wonach unter anderem die zu erwartenden Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu beachten seien.63 Darüber hinaus wurde wiederholt nahe gelegt, allein im Hinblick auf in Betracht kommende disziplinarrechtliche Folgen einen minder schweren Fall zu erwägen.64 Diese Rechtsprechung vermag nach den vorstehenden Erwägungen nicht zu überzeugen. Jedenfalls ist sie nicht mit der zur Anrechnung möglicher ausländerrechtlicher Konsequenzen vertretenen Linie vereinbar. Wenn der Bundesgerichtshof vom Tatrichter verlangt, in seinen Gründen zur Strafzumessung Folgen wie Beachtung mittelbarer Straftatfolgen Mestek-Schmülling, Mittelbare Straftatfolgen, S. 71 ff.; Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen, S. 53 ff. 63 BGHSt 32, 68 (79); 35, 148 (150); BGH NStZ 1982, 507; NStZ 1985, 215; StV 1991, 106 (107); NStZ-RR 1997, 195; NJW 1998, 3068 (3068); NStZ-RR 2010, 39; kritisch Streng, NK, § 46 Rdn. 143 f.; ders., NStZ 1988, 485 (485 f.). 64 Vgl. BGHSt 35, 148 (149 f.); BGH NJW 1998, 3068 (3068); kritisch Streng, NK, § 46 Rdn. 144; Nicolaus, Die Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen, S. 109 ff.; Streng, NStZ 1988, 485 (485 ff.).
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die Beendigung des Dienstverhältnisses oder damit einhergehende finanzielle Einbußen zu erörtern,65 müsste dies konsequenterweise ebenso für ausländerrechtliche Folgen wie eine drohende Ausweisung gelten.66 Im Ergebnis führt dies zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung ausländischer Täter bzw. zu einer Privilegierung von verbeamteten und sonstigen in einem Sonderverhältnis mit dem Staat stehenden Tätern. Diesbezüglich bleibt also eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung geboten. cc) Generalpräventive Erwägungen Ein letzter Umstand außerhalb der Schuld des Täters, den die Tatgerichte bei Straftaten mit interkulturellen Berührungspunkten im Rahmen der Strafzumessung gelegentlich heranziehen, sind generalpräventive Gesichtspunkte. Das Landgericht Frankfurt am Main67 hatte bei einem Heroinhandel durch ausländische Drogendealer den gesetzlichen Strafrahmen weitgehend ausgeschöpft und eine Freiheitsstrafe von neun Jahren verhängt, nicht zuletzt um andere potentielle tatgeneigte, insbesondere ausländische Täter durch das Risiko einer hohen Straferwartung abzuschrecken. Das Urteil war von dem Anliegen getragen, ausländischen Drogenhändlern den Anreiz zu nehmen, den Heroinhandel nach Deutschland zu verlagern, weil sie in ihren Heimatländern besonders harte Strafen zu erwarten haben. Ähnlich hat das Landgericht Duisburg68 in einem weiteren Fall aus dem Betäubungsmittelmilieu seine Strafzumessung damit begründet, eine abschreckende Wirkung auf ausländische Staatsangehörige zu entfalten. Diese sollen nicht in Deutschland Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz in der Hoffnung begehen, hier deutlich milder als in ihrem Heimatland bestraft zu werden. Trotz der zumindest auf den ersten Blick identischen Erwägungen kam der Bundesgerichtshof in den Revisionen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zunächst blieben in seinem Urteil vom 16. September 1981 die generalpräventiven Erwägungen des Landgerichts Frankfurt am Main unbeanstandet.69 Allerdings stellte der Bundesgerichtshof klar, die Ausführungen des Landgerichts nicht so verstehen zu dürfen, dass die Täter wegen ihrer Ausländereigenschaft härter bestraft worden seien.70 Das Tatgericht habe dies aber beachtet, wie aus der Ver65 BGHSt 32, 68 (79); BGH StV 1991, 106 (107); NJW 1998, 3068 (3068); NStZRR 2010, 39. 66 Streng, NK, § 46 Rdn. 148; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 568; Nitz, StraFo 2002, 316 (318); Ventzke, StV 1997, 184 (185). 67 Urteil vom 15. 10. 1980, Az. 88/90 Js 12180/79, zitiert bei BGH NStZ 1982, 112. 68 Urteil vom 16. 6. 1995, Az. 52 KLs 50 Js 104/95 – 19/95, zitiert bei BGH NStZRR 1996, 71. 69 BGH NStZ 1982, 112 mit kritischer Anmerkung Wolfslast = BGH JZ 1982, 771 mit kritischen Anmerkungen Köhler und Hilger. 70 Siehe dazu oben Teil 4 Kap. 7 II. 2. a).
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wendung des (oben durch Kursivdruck hervorgehobenen) Wortes „insbesondere“ hervorgehe, wonach für alle Drogenhändler ungeachtet ihrer Nationalität derselbe Maßstab anzulegen sei.71 Vermutlich infolge dieser sprachlichen Feinheit hat der Bundesgerichtshof die ähnlich gelagerten Strafzumessungserwägungen des Landgerichts Duisburg mit Beschluss vom 15. November 1995 verworfen.72 Das Tatgericht bezog sich zumindest dem Wortlaut seiner generalpräventiven Erwägungen nach nämlich ausschließlich auf ausländische Staatsangehörige. Dies führte letztendlich zu dem – sowohl vom Generalbundesanwalt als auch vom Bundesgerichtshof zu Recht beanstandeten – Ergebnis, ausländische Staatsangehörige allein deshalb schwerer zu bestrafen als inländische Täter, weil dieselbe Tat in ihrem Heimatland mit einer deutlich höheren Strafe geahndet wird.73 Nach dem Bundesgerichtshof bedeute seine Entscheidung indessen keine Abkehr von seinem Urteil vom 16. September 1981, in dem sich die Erörterungen des Landgerichts auf alle Drogenhändler ungeachtet ihrer Nationalität bezögen. Derartige generalpräventive Erwägungen seien also nicht von vornherein ausgeschlossen.74 Unumstritten bleiben diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus gutem Grunde nicht. Zum einen darf anerkannterweise allein aus generalpräventiven Aspekten die schuldangemessene Strafe nicht überschritten werden;75 ohnehin ist eine Straferhöhung zur Abschreckung grundsätzlich lediglich dann gerechtfertigt, wenn bereits eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme der abgeurteilten oder ähnlicher Straftaten festgestellt wurde.76 Zum anderen wird dem Bundesgerichtshof vor allem vorgeworfen, den Wortlaut der Tatgerichte über die Grenze des Zulässigen hinaus zu strapazieren.77 Dieser Einwand erscheint in Anbetracht der auf das Wörtchen „insbesondere“ fixierten Argumentation des Bundesgerichtshofs verständlich. Allerdings kann an sich durchaus danach differenziert werden, ob generalpräventive Erwägungen allein für ausländische Staatsangehörige oder unterschiedslos für alle Täter ungeachtet ihrer Nationalität gelten sollen. Eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Tätern setzt jedoch nicht voraus, formale Aspekte wie die Staatsangehörigkeit oder die kulturelle Zugehörigkeit heranzuziehen. Vielmehr vermag ebenso 71
BGH NStZ 1982, 112. BGH NStZ-RR 1996, 71. Jedoch rügte der Bundesgerichtshof nur die Begründung des Tatgerichts und ließ dessen Urteil letztlich bestehen, da der Strafausspruch nicht auf den beanstandeten Erwägungen beruhte. 73 BGH NStZ-RR 1996, 71; Lackner/Kühl, § 46 Rdn. 36b. 74 BGH NStZ-RR 1996, 71. 75 BGHSt 28, 318 (326); 34, 150 (151); 36, 1 (20); BGH NStZ 1983, 501; NStZ 1984, 409; StV 1984, 71; NStZ 1986, 358; NStZ 1997, 336 (337); Fischer, § 46 Rdn. 19; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 28; Theune, LK, § 46 Rdn. 25. 76 BGH NStZ 1982, 463; NStZ 1983, 501; NStZ 1984, 409; NStZ 1986, 358. 77 Wolfslast, NStZ 1982, 112 (112). 72
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der Rückgriff auf andere Unterscheidungsmerkmale faktisch zur willkürlichen Benachteiligung einer Personengruppe zu führen. Vorliegend stützten sich die generalpräventiven Erwägungen auf die zu erwartenden Strafen in dem Heimatland des Täters. Dadurch wird zwar nicht unmittelbar an seine Nationalität oder kulturelle Zugehörigkeit angeknüpft. Tatsächlich sind aber infolge dieses Differenzierungskriteriums in der Regel gerade solche Täter betroffen. Die dadurch begründete faktische Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Tätern bedarf ebenso eines sachlichen Grundes wie ein rein formales Abstellen auf persönliche Eigenschaften wie die Staatsangehörigkeit des Täters. Ein solcher sachlicher Grund erscheint hier mehr als fraglich. Insbesondere bleibt zu bedenken, dass der Bundesgerichtshof der, hier tatsächlich gerade gegebenen,78 Anknüpfung an die Nationalität des Täters als straferhöhenden Umstand eine ausdrückliche und eindeutige Absage erteilt hat.79 Dem Anliegen, Täter aus dem Ausland davor abzuschrecken, ihre Tätigkeitsbereiche nach Deutschland zu verlagern, kommt eine solche Maßgeblichkeit nicht zu. Schließlich wird die Aussicht auf eine strengere Bestrafung im Inland den Täter kaum von kriminellen Verhaltensweisen abhalten, wenn sie in ihrer Heimat nach wie vor mit deutlich höheren Strafen zu rechnen haben.80 Einer zu starken Angleichung des zu erwartenden Strafmaßes stünde wiederum entgegen, nicht mehr die Schuld als Grundlage für die Strafzumessung heranzuziehen.81 3. Rechtsfolgen a) Strafrahmenwahl und Strafzumessung im Einzelnen Die vorstehenden Ausführungen zeigen auf, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen kulturbedingte Charakteristika der Tat oder des Täters überhaupt im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Fraglich ist sodann, wie sich diese Faktoren auf der Rechtsfolgenseite im Einzelnen auswirken. Hierbei können sich strafzumessungsrelevante Umstände nicht erst in der Bestimmung des konkreten Strafmaßes niederschlagen, sondern bereits in der Wahl des einschlägigen Strafrahmens. Der Tatrichter darf allerdings nur dann zwischen verschiedenen Strafrahmen wählen, wenn entweder ein vertypter gesetzlicher Strafschärfungs- oder Strafmilderungsgrund (z. B. beim vermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 Satz 2 StGB) 78 Zu Recht kritisch Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, S. 68; Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (8 ff.); Wolfslast, NStZ 1982, 112 (112): „auch formal kaum noch haltbare Verschleierungstaktik“. 79 Siehe die Nachweise in Teil 4 Fn. 7. 80 Vgl. auch Wolfslast, NStZ 1982, 112 (112 f.). 81 Streng, NK, § 46 Rdn. 152; ders., Strafrechtliche Sanktionen, Rdn. 571; ders., JZ 1993, 109 (115 f.).
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in Betracht kommt oder wenn das Gesetz eine Strafänderung bei besonders oder minder schweren Fällen vorsieht. Außerhalb von Regelbeispielen darf auf solche unbenannte Strafänderungen nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich dann zurückgegriffen werden, wenn das gesamte Tatbild aufgrund einer Gesamtwertung aller objektiven und subjektiven Umstände sowie der Persönlichkeit des Täters vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, dass die Anwendung des höheren bzw. niedrigeren Strafrahmens geboten erscheint.82 Auf einen unbenannten besonders oder minder schweren Fall darf demnach nicht bei jeglichem kulturellen Berührungspunkt voreilig zurückgegriffen werden. Vielmehr müssen die kulturellen Hintergründe die Tat prägen und ihr ein anderes Gesamtbild verleihen. Die Rechtsprechung hat demgemäß bislang lediglich zurückhaltend von unbenannten Strafänderungen Gebrauch gemacht. Ein Beispiel hierfür bildet der bereits erwähnte Fall einer Vergewaltigung einer türkischen Ehefrau durch ihren Ehemann. Weil der Täter aus einem anderen, islamisch geprägten Kulturkreis stammte und trotz seines ungefähr 30 Jahre langen Aufenthalts in Deutschland dem dortigen Rollenverständnis verhaftet blieb, das von der Ehefrau Unterordnung und Gehorsam erwartet, billigte der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Landgerichts, einen minder schweren Fall der Vergewaltigung anzunehmen.83 In einem weiteren Fall einer Vergewaltigung zum Beweis der Heiratswilligkeit des Opfers84 nahm das Tatgericht eine Geiselnahme in einem minder schweren Fall (§ 239b Abs. 2 i.V. m. § 239a Abs. 2 StGB) an. Außerdem legte es bei der Vergewaltigung trotz Verwirklichung des Regelbeispiels des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB den Regelstrafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB zu Grunde. Diese vom Bundesgerichtshof nicht beanstandete Gesamtwürdigung beruhte allerdings nicht allein auf dem großen Erwartungsdruck der Familie, unter dem der Täter infolge seines kulturellen Hintergrundes stand, weswegen er zur Begehung der Tat insgesamt eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte. Vielmehr wurde zu seinen Gunsten darüber hinaus berücksichtigt, dass er nicht vorbestraft war, durch ein weitgehendes Geständnis dem Opfer eine weitere Vernehmung ersparte sowie Reue und Einsicht in sein Fehlverhalten zeigte, für das er sich beim Opfer entschuldigte.85 Aufgrund dieser Gesamtbetrachtung befand der Bundesgerichtshof die über den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung zwar für niedrig, aber noch für einen gerechten Schuldausgleich, der im Beurteilungsrahmen des Tatrichters liege.86 82 BGHSt 28, 318 (319); 29, 319 (322); BGH NStZ 1981, 391 (391); NStZ-RR 1998, 298 (298); StV 2002, 20 (20); Fischer, § 46 Rdn. 84; von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 46 Rdn. 14; Theune, LK, Vor §§ 46–50 Rdn. 15. 83 BGH StV 2002, 20; vgl. dazu oben Teil 4 Kap. 7 II. 2. d). 84 BGH NStZ-RR 2007, 137; siehe schon oben Teil 4 Kap. 7 II. 2. d). 85 BGH NStZ-RR 2007, 137 (137). 86 BGH NStZ-RR 2007, 137 (138).
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Ähnlich hat das LG Osnabrück im Wesentlichen wegen des soziokulturellen Hintergrundes von Tat und Täter einen minder schweren Fall des (versuchten) Totschlags gemäß § 213 StGB angenommen.87 Der aus Albanien stammende Angeklagte verletzte einen Landsmann schwer mit einem Messer, nachdem dieser dem Täter am Vorabend gegenüber angekündigt hatte, er werde „seine Mutter bumsen und ihm neun Kugeln aus seiner Pistole verpassen“.88 Diese Ehrverletzung berechtigte den Täter nach dessen heimatlichen Wertvorstellungen, derer er sich während seines kurzen Aufenthalts in Deutschland noch nicht entledigen konnte, zur Tötung des Beleidigers. Obwohl die Tat auch nach albanischem Recht strafbar war, erschien dem Gericht die Handlungsweise des Täters „nach den gegebenen Umständen menschlich nicht unverständlich, was zu einer Minderung seiner Schuld führ[e]“.89 Zudem verziehen sich Angeklagter und Opfer im Gerichtssaal gegenseitig.90 Sofern vertypte und unbenannte Strafmilderungsgründe zusammentreffen, gilt das Doppelverwertungsverbot des § 50 StGB. Danach dürfen strafmildernde Umstände nur einmal berücksichtigt werden. Von praktischer Bedeutung ist dies insbesondere, wenn die kulturellen Hintergründe des Täters einen vermeidbaren Verbotsirrtum bedingen. Macht hier das Tatgericht von der fakultativen Strafmilderung gemäß § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB Gebrauch, darf die fehlende Unrechtseinsicht des Täters nicht nochmals zu seinem Vorteil gereichen, indem sie – allein oder zusammen mit weiteren strafmildernden Umständen – einen unbenannten minder schweren Fall begründet. Führt ein vertypter Strafmilderungsgrund zur Anwendung eines geringeren Strafrahmens, schließt dies allerdings nicht völlig aus, dass er nochmalige Beachtung bei der Bestimmung des konkreten Strafmaßes findet. Zwar darf der Strafmilderungsgrund als solcher nicht mehr zugunsten des Täters angerechnet werden, jedoch Art und Ausmaß des strafmildernden Umstandes.91 Nimmt das Tatgericht etwa einen vermeidbaren Verbotsirrtum zum Anlass für eine Strafmilderung nach § 17 Satz 2 i.V. m. § 49 Abs. 1 StGB, hat dies daher nicht zur Folge, im Rahmen der Strafzumessung den Grad der Vermeidbarkeit der fehlenden Unrechtseinsicht des Täters nicht mehr zu seinen Gunsten heranziehen zu dürfen.92
87
LG Osnabrück StV 1994, 430. LG Osnabrück StV 1994, 430 (430). 89 LG Osnabrück StV 1994, 430 (431); kritisch Joerden/Weinreich, Zur Strafzumessung bei Taten von Ausländern, S. 1 (20). 90 LG Osnabrück StV 1994, 430 (431). 91 BGHSt 26, 311 (311 f.); BGH NStZ 1992, 538; NStZ-RR 1998, 295 (295); von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 49 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 49 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 49. 92 Theune, LK, § 46 Rdn. 112. 88
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b) Strafaussetzung zur Bewährung Die kulturbedingten Umstände der Tat und die heimatlichen Wertvorstellungen des Täters wirken sich nicht nur auf die Wahl des Strafrahmens sowie die Festsetzung des konkreten Strafmaßes aus. Darüber hinaus sind kulturelle Hintergründe gegebenenfalls bei der Aussetzung der Vollstreckung einer Strafe zur Bewährung zu berücksichtigen. Dies gilt sowohl bei der anfänglichen Strafaussetzung nach § 56 StGB als auch bei der Aussetzung des Restes einer zeitigen bzw. lebenslangen Freiheitsstrafe nach §§ 57, 57a StGB. Allerdings dürfen sich die Staatsangehörigkeit und die kulturelle Zugehörigkeit des Täters als solche wiederum nicht auf die Aussetzung einer Strafe auf Bewährung auswirken. Relevant wird der kulturelle Hintergrund des Täters erst dann, wenn er Umstände beeinflusst, die bei der Strafaussetzung zu beachten sind. Im Wesentlichen darf hier auf die Ausführungen zur Strafzumessung verwiesen werden,93 da sich die maßgebenden Kriterien überschneiden. So gibt es zwischen den nach § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB zu beachtenden Umständen und den in § 46 Abs. 2 StGB genannten Strafzumessungsfaktoren einige Gemeinsamkeiten (vor allem das Vorleben und Nachtatverhalten des Täters), wenngleich bei der Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB spezialpräventive Aspekte im Vordergrund stehen. Ähnlich verhält es sich für die Kriterien, die nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB (i.V. m. § 57a Abs. 1 Satz 2 StGB) über die Aussetzung des Restes einer zeitigen bzw. lebenslangen Freiheitsstrafe entscheiden. Des Weiteren kann die besondere Schwere der Schuld im Sinne des § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB im Zusammenhang mit kulturgeprägten Straftaten relevant sein. Stellt das Tatgericht bei Verurteilung des Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe die besondere Schwere der Schuld des Täters fest, schließt dies die vorzeitige Aussetzung der weiteren Strafvollstreckung nach fünfzehn Jahren aus. Da es sich bei der Schuld im Sinne des § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB im Grunde um die Strafzumessungsschuld des § 46 StGB handelt,94 bleiben insoweit nach Maßgabe der vorstehenden Erörterungen ebenso die kulturellen Hintergründe im Rahmen der Strafzumessung weitgehend heranzuziehen. Allzu viele Anwendungsfälle zur besonderen Schwere der Schuld mit interkulturellem Hintergrund existieren nicht, da mit Ausnahme einiger Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch in §§ 6 ff. VStGB lediglich der Mord auf die absolute Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe zurückgreift (§ 211 Abs. 1 StGB). Bedeutung entfaltet die besondere Schwere der Schuld vor allem bei den sogenannten Ehrenmorden, die in der Regel einen Mord aus niedrigen Beweg93
Siehe Teil 4 Kap. 7 II. 2. BGHSt 42, 226 (228); BGH NStZ-RR 2001, 296; Dünkel, NK, § 57a Rdn. 8; Lackner/Kühl, § 57a Rdn. 3b; Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 57a Rdn. 5; vgl. auch BVerfG NJW 1995, 3244 (3245). 94
Kap. 7: Strafzumessung
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gründen darstellen.95 Allerdings begründet allein die Verwirklichung des Mordmerkmals „(sonst) aus niedrigen Beweggründen“ nicht die besondere Schwere der Schuld des Täters. Nach dem Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB dürfen vielmehr Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes nicht im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden.96 Erforderlich sind daher besonders verwerfliche Umstände, die über das Mordmerkmal selbst hinausgehen.97 Eine derart gesteigerte Verwerflichkeit ergibt sich beispielsweise aus den Umständen der Tatausführung,98 der Tötung mehrerer Menschen99 oder der Verwirklichung mehrerer Mordmerkmale.100 Verdeutlicht werden kann dies an einem Aufsehen erregenden Verfahren vor dem Schwurgericht München im Herbst 2007: Ein aus dem Irak stammender Kurde tötete im Oktober 2006 seine 24-jährige Ehefrau, von der er erst wenige Stunden zuvor geschieden wurde. Die Scheidung der sieben Jahre zuvor im Irak arrangierten Ehe wurde auf Betreiben des Opfers vollzogen. Der Täter versetzte seiner ehemaligen Ehefrau vor den Augen des gemeinsamen, zur Tatzeit fünfjährigen Sohnes zwölf wuchtige Messerstiche in Kopf und Oberkörper, übergoss sie mit Benzin und zündete sie bei lebendigem Leib an. Die Frau verstarb wenig später im Krankenhaus.101 Vor Gericht gab der Täter seine Tat bereitwillig zu, jedoch nicht aus Reue, sondern aus Stolz über sein Verhalten. Er berief sich unter anderem auf die Forderung seines Schwiegervaters, dessen Tochter zu töten. Für die deutschen Gesetze, die Frauen Rechte gewähren, zeigte der Angeklagte während der Hauptverhandlung kein Verständnis. In seinem Schlusswort erklärte er ausdrücklich, die Tat nicht zu bereuen und bereit zu sein, sie wieder zu begehen. Das Gericht verurteilte den Angeklagten am 11. Oktober 2007 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe und bejahte die besondere Schwere der Schuld. Es folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Verteidiger plädierte zwar ebenfalls auf lebenslange Haft, sah aber wegen des „kulturellen Hintergrundes“ der Tat keine besondere Schwere der Schuld.102 95
Hierzu siehe oben Teil 2 Kap. 2 II. BGHSt 37, 153 (154); BGH NStZ 2001, 85; Fischer, § 46 Rdn. 76; Franke, MünchKomm-StGB, § 46 Rdn. 83; Lackner/Kühl, § 46 Rdn. 45; Schönke/Schröder/ Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 45; Streng, NK, § 46 Rdn. 125. 97 BGHSt 42, 226 (229); BGH NStZ 1999, 501 (502); Dünkel, NK, § 57a Rdn. 12; Groß, MünchKomm-StGB, § 57a Rdn. 19. 98 BGHSt 39, 121 (125); 40, 360 (370). 99 BVerfG NJW 1995, 3244 (3245); BGHSt 39, 121 (125); 40, 360 (370). 100 BVerfG NJW 1995, 3244 (3245); BGHSt 39, 121 (125); 40, 360 (370); BGH NStZ 1999, 501 (502); NStZ-RR 2001, 296; NStZ 2003, 146 (148). 101 Frankfurter Rundschau vom 12. 10. 2007, S. 6; Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 2007, S. 33. 102 Zum Prozessverlauf unter anderem Süddeutsche Zeitung vom 5. 10. 2007, S. 53, vom 11. 10. 2007, S. 53, und vom 12. 10. 2007, S. 51. 96
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Teil 4: Kulturelle Wertvorstellungen auf der Rechtsfolgenseite der Tat
III. Zusammenfassung Kulturelle Wertvorstellungen des Täters sind außer bei der Strafbarkeit auch im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Allerdings stellen weder die Zugehörigkeit des Täters zu einem anderen Kulturkreis noch seine Nationalität als solche einen straferhöhenden oder strafmildernden Umstand dar. Vielmehr müssen sie die Tat in einer für die Strafzumessungsschuld relevanten Weise geprägt haben. Insofern erweist sich der kulturelle Hintergrund des Täters lediglich als eine von vielen möglichen Ursachen, die das konkrete Strafmaß mitbestimmen. In Betracht kommen neben den in § 46 Abs. 2 StGB genannten Strafzumessungsfaktoren (hier vor allem die Beweggründe und Ziele des Täters sowie die Auswirkungen der Tat) vornehmlich das Verkennen des Unrechtsgehalts durch den Täter sowie eine ihm infolge seiner kulturellen Wertvorstellungen erschwerte Normbefolgung. Darüber hinaus erlangen in engen Grenzen Umstände außerhalb der Schuld des Täters wie dessen Strafempfindlichkeit oder etwaige ausländerrechtliche Konsequenzen ihre Bedeutung. Im konkreten Einzelfall ist jeweils eine differenzierte Betrachtung von Nöten, die insbesondere jegliche verdeckte Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit oder kulturelle Zugehörigkeit des Täters ausschließt. Exemplarisch sei dies an dem Täter erläutert, der infolge seiner heimatlichen Anschauungen den Unrechtsgehalt einer Tat aus Sicht der inländischen Wertegemeinschaft verkennt. Eine Strafmilderung bzw. -erhöhung darf hier nicht auf den Wertvorstellungen des Täters als solchen beruhen, sondern nur auf deren konkreten Auswirkungen auf sein Unrechtsbewusstsein. Hält der Täter infolge seiner kulturellen Prägung sein Verhalten für ein geringeres Unrecht, kann dies strafmildernd zu seinen Gunsten herangezogen werden. Erachtet im umgekehrten Fall der Täter seine Tat für ein größeres Unrecht als dies in der nationalen Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, steht einer strafschärfenden Anrechnung jedoch deren Eigenschaft als verbindlicher Bewertungsmaßstab für sozialschädliches Verhalten entgegen. Die inländische Rechtsordnung bleibt auch bei den Beweggründen des Täters als Strafzumessungsfaktor im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB der primäre Anknüpfungspunkt. Ob der Täter seine Motivation als ehren- oder billigenswert empfindet, erweist sich demzufolge insoweit als unerheblich, als für die Strafzumessung zunächst die hiesigen kulturellen Wertvorstellungen den Ausschlag geben. Auf dieser Grundlage müssen die Beweggründe ungeachtet ihrer Bewertung durch den Täter nachteilig angerechnet werden, wenn sie hierzulande gewöhnlich als strafschärfendes Kriterium erachtet werden. Dass sich der Täter dieser negativen Beurteilung durch die inländische Wertegemeinschaft nicht bewusst war, muss aber anschließend zugunsten des Täters beachtet werden. In der Rechtsprechung sind einige Entscheidungen zur Strafzumessung bei interkulturellen Sachverhalten zu verzeichnen, die noch keine einheitliche Linie ergeben. Einerseits besteht zu Recht Einigkeit darüber, formale Kriterien wie die
Kap. 7: Strafzumessung
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Ausländereigenschaft des Täters für die Strafzumessung nicht heranzuziehen. Andererseits bedeuten die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur Erhöhung des Strafmaßes aus generalpräventiven Gründen im Ergebnis zwar keine formale Benachteiligung ausländischer Staatsangehöriger, indessen deren faktische Diskriminierung. Widersprüche zeigen sich zudem bei Strafzumessungserwägungen außerhalb der Schuld des Täters. Hier zeigt sich der Bundesgerichtshof bei der Bemühung der Strafempfindlichkeit ausländischer Täter zuweilen recht großzügig. Außerstrafrechtliche Konsequenzen wie die drohende Ausweisung werden hingegen – anders als disziplinarrechtliche Folgen für verurteilte Beamte – nur zurückhaltend berücksichtigt.
Teil 5
Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht Kapitel 8
Bestandsaufnahme I. Einleitung Der vorstehende Hauptteil der Arbeit beschäftigte sich damit, wie sich die kulturellen Anschauungen des Täters im Einzelnen auf die Anwendung des geltenden Rechts auswirken, sei es bei den Strafbarkeitsvoraussetzungen selbst oder auf der Rechtsfolgenseite bei der Strafzumessung. Im Folgenden befasst sich die Arbeit mit der Fragestellung, ob und gegebenenfalls wie das Strafrecht kulturelle Wertvorstellungen als solche schützen und zum Rechtsgut einer Norm erheben darf. Zumindest mittelbar erfolgt ein derartiger Schutz durch Straftatbestände, welche die Missachtung oder Verunglimpfung einer kulturellen Wertvorstellung bestrafen, sofern dadurch ein anderes Rechtsgut wie der öffentliche Frieden (vgl. beispielsweise § 166 Abs. 1 und 2 StGB) verletzt wird. Eine besondere Aktualität erfährt die Thematik durch die zunehmenden Kontakte mit Angehörigen anderer Kulturen im privaten und beruflichen Alltag. Insbesondere der wachsende Bevölkerungsanteil von Bürgern mit Migrationshintergrund und die gestiegenen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten ziehen zahlreiche Berührungspunkte verschiedener, mitunter diametral gegenüberstehender gesellschaftlicher Anschauungen nach sich. Bemerkungen über kulturelle Wertvorstellungen und Eigenheiten bergen indes ein enormes Konfliktpotential und können sogar dann erhebliche Folgen nach sich ziehen, wenn sie nicht von feindlicher Gesinnung getragen sind. Denn die Angehörigen der betroffenen Kultur folgen zum Teil nicht bloß anderen Anschauungen, sondern reagieren auch anders auf Bemerkungen über ihre Wertvorstellungen. Vor allem Menschen, die mit großer Überzeugung bestimmte Werte, Vorstellungen oder Ideale vertreten, setzen sich schwer mit kritischen Kommentaren oder abweichenden Auffassungen auseinander.
Kap. 8: Bestandsaufnahme
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1. Karikaturen des Propheten Mohammed in europäischen Tageszeitungen Eindrucksvoll belegt wird diese problematische Ausgangssituation durch die Ereignisse um die Karikaturen des Propheten Mohammed, welche die dänische Tageszeitung Jyllands-Posten am 30. September 2005 unter der Überschrift „Muhammeds ansigt“ („Das Gesicht Mohammeds“) veröffentlichte. Darin wird Mohammed unter anderem mit Turban gezeigt, in dem sich eine Bombe mit brennender Lunte befindet. In einer weiteren Karikatur verwehrt der Prophet Selbstmordattentätern den Zugang zum Paradies, weil dort die Jungfrauen ausgegangen seien. Eine andere Zeichnung bildet einen Schüler namens Mohammed Valbyskole vor einer Tafel ab, auf der in persischen Lettern steht: „Die Redaktion von Jyllands-Posten ist eine Bande reaktionärer Provokateure“. Eine letzte Karikatur scheint die Reaktionen auf die Veröffentlichung bereits erahnt zu haben und zeigt Mohammed mit einem Blatt Papier in der Hand, wie er zwei mit Bombe und Säbel bewaffnete und heranstürmende Araber mit den Worten abhält: „Beruhigt Euch Leute, es ist nur eine Zeichnung von einem Dänen aus dem Südwesten Dänemarks.“ Hintergrund der Publikation war, dass der dänische Schriftsteller und Journalist Kåre Bluitgen keine Zeichner für sein Kinderbuch „Der Koran und das Leben des Propheten Mohammed“ finden konnte, da diese Angst vor etwaigen Vergeltungsmaßnahmen islamischer Extremisten hatten.1 Schließlich sind in vielen islamgeprägten Staaten Abbildungen von Allah und Mohammed verboten. Daraufhin sprach die Tageszeitung Jyllands-Posten 40 dänische Karikaturisten auf Zeichnungen von Mohammed an. Sie wollte damit nach eigenen Angaben prüfen, wie viel Selbstzensur sich die Zeichner auferlegten. Zwölf Karikaturen wurden letztlich in der Ausgabe vom 30. September 2005 abgedruckt. Größere Reaktionen auf die Veröffentlichung blieben zunächst aus. In Dänemark erstatteten Vertreter dänischer islamischer Organisationen zwar am 27. Oktober 2005 Strafanzeige gegen Jyllands-Posten wegen Blasphemie gemäß § 140 des dänischen Strafgesetzbuches, weil sie den mit den Karikaturen zusammen veröffentlichten Kommentar als von der Strafvorschrift sanktionierte Verhöhnung und Verspottung des Islam betrachteten. Die Staatsanwaltschaft Viborg stellte das Verfahren am 6. Januar 2006 aber ein. Der Direktor der dänischen Staatsanwaltschaft bestätigte am 15. März 2006 die Entscheidung mit eingehender Begründung. Im Ausland wurde von den veröffentlichten Karikaturen zunächst keine Notiz genommen, obwohl die ägyptische Wochenzeitung El Fagr („Morgendämmerung“) in ihrer Ausgabe vom 17. Oktober 2005 sechs der Karikaturen nachgedruckt hatte, eine sogar auf der Titelseite. 1 Das Buch wurde letzten Endes im Januar 2006 mit den Bildern eines anonymen Illustrators veröffentlicht.
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
Aufsehen erregten die Karikaturen erst, als dänische Imame sie in eine selbst angefertigte Broschüre aufnahmen, die sie während einer Reise durch einige islamische Staaten im November und Dezember 2005 sowohl Vertretern der Arabischen Liga als auch muslimischen Geistlichen überreichten. Das insgesamt 42-seitige Dossier enthielt über die zwölf im Jyllands-Posten veröffentlichten Karikaturen hinaus weitere drei Abbildungen, die als besonders beleidigend empfunden wurden. Eine Zeichnung zeigte etwa einen Muslim, der während seines Gebetes von einem Hund bestiegen wird. Darüber hinaus enthielt das Dossier einen unscharfen Schwarz-Weiß-Abdruck eines Fotos von einem Menschen mit Schweineohren, das als ein reales Abbild Mohammeds bezeichnet wurde. Später wurde entdeckt, dass es sich dabei um die Reproduktion eines Farbfotos einer Nachrichtenagentur von einem Teilnehmer an einem französischen Schweinequieken-Wettbewerb handelte. Nach Angaben der Imame wurden ihnen die Abbildungen sowie die gefälschte Photographie anonym zugesendet. Die Abbildungen in dem Dossier wurden in der islamischen Welt als Affront empfunden und lösten ein weites Spektrum an Reaktionen aus. Unter anderem kam es zu friedlichen Demonstrationen gegen die Karikaturen und zu Boykottaufrufen gegen dänische Waren oder teils generell gegen europäische Produkte, nachdem Zeitungen außerhalb Dänemarks die Abbildungen anlässlich des Karikaturenstreits ebenso verbreitet hatten. In vielen islamischen Ländern wurden bei Kundgebungen aber auch Flaggen europäischer Staaten verbrannt. Schließlich wurde in Gaza am 31. Januar 2006 ein Büro der Europäischen Union, in Jakarta am 3. Februar 2006 eine dänische Botschaft gestürmt, in Damaskus (4. Februar 2006) und in Beirut (5. Februar 2006) Botschaften sogar in Brand gesetzt. In Teheran wurden die österreichische (6. Februar 2006) und die französische (10. Februar 2006) Botschaft attackiert. Zur Bandbreite der Reaktionen gehörten ferner falsche Bombenalarme in dänischen Redaktionsgebäuden und Drohungen mit Entführungen von Staatsangehörigen derjenigen Staaten, in denen Zeitungen die Abbildungen veröffentlicht hatten. Außerdem forderten schiitische Demonstranten im Irak, eine Fatwa2 gegen die dänischen Karikaturisten zu erlassen, die deren Ermordung gestatte. Der Karikaturenstreit gipfelte in einzelnen gewalttätigen Auseinandersetzungen und kör-
2 Fatwas sind Rechtsgutachten, die islamische Rechtsgelehrte (Muftis) zu speziellen Themen und aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit dem Islam anfertigen. Einen zweifelhaften Bekanntheitsgrad erlangten Fatwas in der westlichen Welt, als am 14. Februar 1989 das iranische Staatsoberhaupt Ajatollah Ruhollah Chomeini den – 2008 zum Ritter geschlagenen – britischen Schriftsteller Salman Rushdie in einer Fatwa zum Tode verurteilte. Dessen Buch „Die Satanischen Verse“ enthielt zahlreiche Anspielungen auf den Islam, den Propheten Mohammed und den Koran, die als Beleidigungen empfunden wurden. In der islamischen Welt war die Gültigkeit der Fatwa aufgrund ihres Inhalts allerdings umstritten. Auf der Islamischen Konferenz im März 1989 widersprachen sodann sämtliche Mitgliedstaaten außer dem Iran der Fatwa Chomeinis.
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perlichen Übergriffen. Vor allem in Nigeria kam es zu tödlichen Ausschreitungen zwischen Muslimen und Christen. Völlig abgeschlossen scheint der Karikaturenstreit bis heute noch nicht zu sein. Die dänische Polizei nahm am 12. Februar 2008, nahezu zweieinhalb Jahre nach der erstmaligen Publikation der umstrittenen Zeichnungen, einen Dänen marokkanischer Herkunft sowie zwei Tunesier in Århus fest, die eines Mordanschlags auf Kurt Westergaard, Urheber der Karikatur von Mohammed mit einer Bombe in seinem Turban, verdächtigt wurden. Die führenden dänischen Zeitungen reagierten auf die Aufdeckung des Attentats, indem sie Westergaards Zeichnung erneut veröffentlichten. Am 2. Juni 2008 verloren schließlich bei einem Selbstmordattentat vor dem Gelände der dänischen Botschaft in Islamabad sechs pakistanische Zivilisten ihr Leben. Als Motiv gab die Terrororganisation al-Qaida in ihrem Bekennerschreiben die Mohammed-Karikaturen an. Am 1. Januar 2010 konnte die dänische Polizei einen erneuten Angriff auf Westergaard in dessen Haus verhindern, Ende 2010 wurden Anschlagspläne auf das Pressezentrum am Kopenhagener Rathausplatz aufgedeckt, in dem sich auch die Redaktion der Jyllands-Posten befindet. Es dürfte verfehlt sein, den Zeichnern und verantwortlichen Redakteuren der Zeitung allein wegen der Publikation der fraglichen Zeichnungen irgendwelche Ressentiments gegenüber dem islamischen Glauben nachzusagen. Es bleibt aber zumindest der Vorwurf eines mangelnden Verständnisses und fehlenden Einfühlungsvermögens in das Innenleben von Angehörigen eines anderen Kulturkreises; es sei denn, den Verantwortlichen solle nachgesagt werden, bewusst die Gefühle vieler Muslime verletzt oder die Verletzung zumindest in Kauf genommen zu haben. Zudem lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob die ohne aktuellen Anlass erfolgte Veröffentlichung der Karikaturen überhaupt einen seriösen Hintergrund hatte oder ob damit etwa nur Heiterkeit auf Kosten von Minderheiten ausgelöst werden sollte, gegebenenfalls in Zeiten der Kommerzialisierung der Medien verbunden mit der Hoffnung auf eine Steigerung der Auflage und des Umsatzes. Die Vorgänge haben jedenfalls gezeigt, dass auch unbedachte Äußerungen über kulturelle Wertvorstellungen gewaltige Folgen nach sich ziehen können. 2. Ausstrahlung der Zeichentrickserie „Popetown“ Dass kulturbedingte Kontroversen ebenso im christlichen Bereich auftreten, offenbarte die Debatte um die deutsche Erstausstrahlung der Fernsehserie „Popetown“. Die animierte Sitcom schildert in zehn 24-minütigen Folgen die erfundenen Erlebnisse des Protagonisten Pater Nicholas im Vatikan. Weitere Hauptcharaktere sind der Papst, der als exzentrisch und infantil dargestellt wird, zwei nicht immer bedächtig vorgehende Schwestern und drei Kardinäle, von denen einer korrupt ist und unter anderem Waisenkinder in die Sklaverei verkauft. Ursprüng-
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
lich gab der britische Fernsehsender BBC die Serie in Auftrag, der sie jedoch aus Furcht vor Protesten der katholischen Kirche niemals sendete. Schließlich kam es am 8. Juni 2005 zur weltweiten Erstausstrahlung der Serie auf dem neuseeländischen Musiksender C4, begleitet von den Aufrufen katholischer Bischöfe, alle Fernseh- und Radiosender der CanWest-Gruppe, zu der C4 gehört, zu boykottieren. Im deutschsprachigen Raum ging die Serie am 3. Mai 2006 auf dem Musikkanal MTV auf Sendung. Auch die Premiere in Deutschland zog Proteste nach sich. Auslöser war eine Anzeigenkampagne von MTV, mit welcher der Sender wenige Tage vor dem Karfreitag 2006 für „Popetown“ warb. Das umstrittene Motiv zeigte unter dem Titel „Lachen statt rumhängen“ einen vom Kreuz herabgestiegenen Jesus, der amüsiert vor einem Fernseher sitzt. Daraufhin sprachen sich mehrere Politiker und Kleriker gegen einen Start der Serie aus und riefen Werbekunden des Senders zum Rückzug ihrer finanziellen Unterstützung auf. Die Ausstrahlung der Serie konnte indessen selbst durch gerichtliche Schritte und Eilanträge nicht verhindert werden. Die Geschehnisse hinterließen einen zweifelhaften Nachgeschmack. Zwar verliefen sämtliche Proteste friedlich und fanden ihren Höhepunkt in Gegeninitiativen im Internet und den erwähnten Boykottaufrufen. Allerdings meldeten sich nicht wenige mit Bedenken zu Wort, die zu den Mohammed-Karikaturen wenige Monate zuvor noch geschwiegen hatten bzw. damals als Fürstreiter der Pressefreiheit aufgetreten waren. Außerdem war Gegenstand der Empörung an sich die Serie als solche, von der die meisten Teilnehmer an der öffentlichen Debatte jedoch keine einzige Folge gesehen hatten. Ihre Entrüstung bezog sich anscheinend nur auf das umstrittene Anzeigenmotiv. Alsbald nach Ausstrahlung der ersten Folge verloren jedenfalls viele Zuschauer ihr – erst durch die Diskussionen und den dadurch ausgelösten öffentlichen Hype gewecktes – Interesse an der Sendung und die Debatte um „Popetown“ verebbte zügig. 3. Problemlage Die Mohammed-Karikaturen und die Zeichentrickserie „Popetown“ sind lediglich einzelne Geschehnisse der letzten Jahre, denen eine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zuteilwurde. Aber auch jenseits solcher medialen Ereignisse, nicht zuletzt im privaten Alltag, lassen sich Handlungen und Taten registrieren, in denen fehlender Respekt, Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Angehörigen anderer Kulturkreise und fremden kulturellen Wertvorstellungen zum Ausdruck kommen. Die Geschichte der Menschheit ist durchsät mit Vorfällen der Unterdrückung und Vernichtung einzelner Bevölkerungsgruppen, der aggressiven Verbreitung der eigenen Kultur und Religion ohne Rücksicht auf lokale Bräuche und Anschauungen, mit Bürgerkriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Nationen. Treibende Beweggründe für diese Geschehnisse
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waren in der Regel abweichende äußere oder innere Merkmale der Menschen, seien es eine andere Hautfarbe, eine andere Abstammung, ein anderes Geschlecht, ein anderer Stand oder eine andere Religion. Der Mensch mag aus der Vergangenheit, vor allem aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, gelernt und seine Konsequenzen gezogen haben. Beispielsweise darf in Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“. Die praktische Umsetzung dieser Grundsätze bereitet jedoch nach wie vor erhebliche Probleme. Selbst wenn hier der Gesellschaft gute Fortschritte attestiert werden sollten, bleibt die historisch belegte und vermutlich nicht zu beseitigende Neigung des Menschen, sich anhand äußerer oder innerer Eigenschaften von Mitmenschen unterscheiden und sich gegebenenfalls von diesen distanzieren zu wollen. Solche Eigenschaften, die eine Abgrenzung seiner selbst von anderen Menschen und Bevölkerungsgruppen gestatten, sind in aufgeklärten Zivilisationen allerdings rar geworden. Kann zur Differenzierung nicht mehr an das angeknüpft werden, was oder wie der Mensch ist, erfolgt daher ein Rückgriff auf das, was der Mensch geschaffen hat, d. h. seine Tradition, seine Geschichte, seine technischen Entdeckungen und ethischen Errungenschaften, seine Wertvorstellungen und seine Lebenshaltung, kurzum: seine Kultur. Zwar verwendet die vorliegende Arbeit den Begriff „Kultur“ in einem wertneutralen Sinn.3 Die nicht von juristischen Überlegungen geleitete Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Die Kultur bildet gewissermaßen die letzte Bastion des (nicht völlig) aufgeklärten Menschen, die es ihm erlaubt, sich als besser, zivilisierter und als den Mitmenschen und Angehörigen einer anderen Kultur überlegen zu betrachten. Vor diesem Hintergrund dürfte etwa zu erklären sein, weswegen in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren so oft der – als solcher kaum durch Einheitlichkeit geprägte – abendländische Kulturkreis betont wird. Dadurch erscheint auch verständlich, dass viele Menschen blindlings und uneingeschränkt an ihrer eigenen Kultur festhalten und jeglichen Einfluss anderer Kulturen von vornherein kritisch sehen oder sogar als Übel empfinden. Aus dieser Haltung resultiert ein großes Konfliktpotential bei dem Aufeinandertreffen von Angehörigen verschiedener Kulturen. Die möglichen Konflikte äußern sich zum einen in Straftaten, die durch das Bestreben motiviert sind, kulturelle Unterschiede zu diskriminieren. Hier wird allerdings schon nach geltendem Recht die Motivation des Täters im Rahmen der Strafzumessung zu seinen Lasten berücksichtigt.4 Der gesetzgeberische Hand-
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Siehe oben Teil 1 Kap. 1 I. 2. b). Schönke/Schröder/Stree/Kinzig, § 46 Rdn. 13; Keiser, ZRP 2010, 46 (48).
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lungsbedarf auf der Rechtsfolgenseite dürfte daher allenfalls gering sein.5 Jedoch rufen selbst unbedachte Äußerungen über fremde Kulturen mitunter erhebliche Reaktionen und gewalttätige Übergriffe hervor. Die hohe Empfindlichkeit der Beteiligten und das große Missverständnispotential bei kulturbezogenen Bemerkungen lassen sich zudem bewusst ausnutzen, um Angehörige anderer Kulturen zu provozieren, ein Klima der Intoleranz zu fördern oder zu begünstigen oder um Unfrieden in der Bevölkerung zu stiften. Der Gesetzgeber steht somit vor der Aufgabe, auf die zunehmenden kulturellen Konflikte und die damit einhergehenden Gefahren zu reagieren. Zur Bewältigung dieser gesellschaftlichen Herausforderung bleibt unter anderem zu diskutieren, ob der Rückgriff auf das Strafrecht, etwa zum Schutz kultureller Wertvorstellungen, zulässig, ratsam oder sogar erforderlich ist. Können ein friedliches Miteinander der Kulturen und gegenseitige Toleranz mit den Mitteln des Strafrechts bewirkt werden?
II. Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das deutsche Strafrecht 1. Allgemeines Zunächst bietet sich eine kurze Bestandsaufnahme an, inwieweit das deutsche Strafrecht bereits Tatbestände enthält, die kulturelle Wertvorstellungen schützen. Die Analyse bedarf freilich einer einleitenden Klarstellung. Wird der Kulturbegriff wie hier nämlich weit verstanden, offenbart nahezu jede Vorschrift insoweit einen kulturellen Hintergrund, als sich die Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Rechtsguts nach gesellschaftlichen Anschauungen richtet. Welche Gebote und Verbote das materielle Strafrecht enthält, bestimmt sich demzufolge nach den kulturellen Wertvorstellungen, die der jeweiligen Rechtsordnung zugrunde liegen. Einige Straftatbestände weisen hingegen einen besonders ausgeprägten Bezug zu kulturellen Wertvorstellungen auf. Während der Schutz vieler Rechtsgüter wie beispielsweise Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Vermögen nahezu allgemeine Anerkennung erfährt, wenngleich bei deren Inhalt und Stellenwert kulturelle Unterschiede bestehen,6 kommt anderen Interessen nicht aus jeder kulturellen Perspektive eine strafrechtliche Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit zu. Exemplarisch darf auf die in den letzten Jahren geführte Diskussion um die Zulässigkeit und 5 Ein Gesetzentwurf des Bundesrates aus jüngerer Zeit (BT-Drucks. 16/10123) sah aber vor, menschenverachtende, rassistische und fremdenfeindliche Ziele ausdrücklich als Strafzumessungsfaktoren in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB aufzunehmen; vgl. dazu Bittmann, DRiZ 2007, 323 (325 f.); Stegbauer, NJ 2008, 108; zur Diskussion ferner Keiser, ZRP 2010, 46 (48 f.); Tolmein, ZRP 2001, 315. 6 Zur Diskussion siehe oben Teil 2 Kap. 3 II.
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Strafbarkeit der embryonalen Stammzellforschung verwiesen werden.7 Bedenken hiergegen hegten lediglich die Katholische und die Evangelische Kirche, während aus Sicht des Judentums, des Islam und des Buddhismus keine religiösen Einwände gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen bestanden.8 Die wachsende Multikulturalität gibt somit zunehmenden Anlass, die Berechtigung von Strafvorschriften im Einzelfall zu hinterfragen. Darüber hinaus existieren vor allem Vorschriften, die bestimmte, dem stetigen Wandel unterworfene moralische Anschauungen durch einen Rückgriff auf das Strafrecht bewahren wollen. Ihr Schutz kann zum einen unmittelbar geschehen, indem die jeweilige Wertvorstellung etwa als „Sittlichkeitsempfinden der Allgemeinheit“ zum Rechtsgut einer Norm erhoben wird. Zum anderen ist ein mittelbarer Schutz dergestalt denkbar, dass vordergründig auf ein anderes Schutzgut abgestellt wird, Existenz und Ausgestaltung der Norm letztlich jedoch durch den gesellschaftlichen Hintergrund bestimmt werden. Ein Blick auf die deutsche Strafrechtsordnung offenbart zwar bloß noch wenige Tatbestände, die einen Angriff auf eine kulturelle Wertvorstellung als solche sanktionieren.9 Indessen gibt es einige Vorschriften, die ersichtlich auf gesellschaftlichen Anschauungen beruhen und diese nach wie vor indirekt schützen, wenngleich sie an ein anderes Rechtsgut anzuknüpfen scheinen. Die Konstruktion des mittelbaren Schutzes von Sitte und Moral bleibt dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes geschuldet.10 Auf das Strafrecht, das ein friedliches und freiheitliches Zusammenleben ermöglichen und zugleich die Grundrechte des Einzelnen gewährleisten soll,11 darf demnach lediglich zurückgegriffen werden, um Rechtsgüter vor Verletzung und Gefährdung zu bewahren.12 Zwar sind der Rechtsgutsbegriff und seine Bedeutung für die Gesetzgebung im Einzel7
Siehe hierzu die Nachweise in Teil 3 Fn. 479 ff. Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission zur Stammzellforschung vom 19. 6. 2002, S. 23 ff., im Internet abrufbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/ downloads/Stammzell.pdf (1. 3. 2011). 9 Vgl. Gutmann, Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?, S. 295 (303) speziell zur christlichen Imprägnierung des Strafrechts. 10 Hassemer/Neumann, NK, Vor § 1 Rdn. 108; Roxin, Strafrecht AT I, § 2. Zur Entstehung des Rechtsgüterprinzips Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 15 ff.; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (25 ff.). Zur wiederbelebten Diskussion um die Rechtsgutstheorie statt vieler Hefendehl, GA 2002, 21; ders., GA 2007, 1 (1 ff.); von Hirsch, GA 2002, 2; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (33 ff.); Wohlers, GA 2002, 15; ferner die Beiträge in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden 2003. Zur Geschichte des Rechtsgutsbegriffs Rönnau, JuS 2009, 209 (210). 11 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 7 f. 12 Statt vieler Hassemer/Neumann, NK, Vor § 1 Rdn. 109 m.w. N.; Hefendehl, MünchKomm-StGB, Einl. Rdn. 26; Baumann, Kleine Streitschriften, S. 201 f.; Hassemer, in: Festschrift E. A. Wolff, S. 101 (110); Rönnau, JuS 2009, 209 (209); vgl. schon von Liszt, ZStW 8 (1888), 133 (151). 8
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nen umstritten.13 Nach weitgehend anerkannter Auffassung legitimiert die moralische Verwerflichkeit eines Verhaltens als solche aber keinen Rückgriff auf das Strafrecht;14 das Bundesverfassungsgericht hat allerdings ausdrücklich offen gelassen, ob Strafnormen verfassungsrechtlich zu beanstanden sind, wenn sie allein in Moralvorstellungen gründen.15 Ebenso wenig dient das Strafrecht dem Zweck, den Einzelnen vor negativen Empfindungen zu bewahren; ein Aspekt, der nicht zuletzt in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, zu deren friedlichem und freiheitlichem Zusammenleben nur die gegenseitige Toleranz den Weg bereiten dürfte, immer größere Bedeutung erfährt.16 Exemplarisch darf die Funktion des Rechtsgüterschutzprinzips an der Liberalisierung des Sexualstrafrechts durch das 1. StrRG vom 25. Juni 196917 sowie das 4. StrRG vom 23. November 197318 aufgezeigt werden. Die Reformgesetze hoben die Strafbarkeit der Homosexualität (§ 175 StGB a. F.), der widernatürlichen Unzucht mit Tieren (§ 175b StGB a. F.), des Ehebruchs (§ 172 StGB a. F.), der Kuppelei (§ 180 StGB) sowie das absolute Verbreitungsverbot pornographischer (damals noch „unzüchtiger“) Schriften (§ 184 StGB a. F.) auf bzw. lockerten sie zumindest. Zur Rechtfertigung dieser Strafvorschriften konnte nämlich nicht mehr auf die breite gesellschaftliche Missbilligung solcher Verhaltensweisen verwiesen werden. Es bedurfte vielmehr greifbarer Rechtsgüter, die dadurch verletzt oder gefährdet werden. Das gesetzgeberische Umdenken kam nicht zuletzt in der neuen amtlichen Überschrift des 13. Abschnitts zum Ausdruck, die von „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umbenannt wurde.19 13 Siehe BVerfGE 120, 224 (241 f.); Hassemer/Neumann, NK, Vor § 1 Rdn. 116 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 2 ff., insbesondere Rdn. 3 m.w. N.; Stratenwerth, in: Festschrift Lenckner, S. 377 (378 ff.) m.w. N. Zur Notwendigkeit einer Klärung des Begriffs bereits von Liszt, ZStW 8 (1888), 133 (134 ff.). 14 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 17; Baumann, Kleine Streitschriften, S. 201 ff.: „Der Staat ist nicht der Erzeuger sittlichen Verhaltens, er kann auch nicht der Erzwinger der Einhaltung göttlicher oder sittlicher Gebote sein“ (204, Hervorhebung im Original); Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, S. 38 f.; Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (329); Köhler, NJW 1985, 2389 (2390); Roxin, in: Symposium Schünemann, S. 135 (141); aus verfassungsrechtlicher Sicht Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, S. 35 ff., exemplarisch S. 38: „Pietät, guter Geschmack, Konvention sind keine tauglichen Grundrechtsschranken“; a. A. Stratenwerth, in: Festschrift Lenckner, S. 377 (386 f.) unter Betonung der Verhinderung des Normbruchs selbst als Zweck des strafrechtlichen Schutzes; dagegen Hefendehl, GA 2007, 1 (7). 15 BVerfGE 120, 224 (248); kritisch Hassemer, BVerfGE 120, 224 (264 f.); Hörnle, NJW 2008, 2085 (2088). 16 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 26; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 346 f.; Roxin, in: Symposium Schünemann, S. 135 (141 f.). 17 BGBl. I, S. 645. 18 BGBl. I, S. 1725. 19 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 18; Schumann, in: Festschrift Lenckner, S. 565 (568).
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Vor dem Hintergrund des Rechtsgüterprinzips und der Erkenntnis, weder moralische und sittliche Anschauungen noch die Gefühle des Einzelnen durch das Strafrecht schützen zu können, erweisen sich einige Tatbestände im deutschen Strafrecht als bedenklich. Eine umfassende Analyse soll an dieser Stelle nicht erfolgen; insoweit darf vor allem auf die Habilitationsschriften von Hörnle20 und Hefendehl21 verwiesen werden, die sich mit dem Thema allgemein bzw. mit der Berechtigung einzelner Strafvorschriften im Speziellen auseinandergesetzt haben. Es bleibt hier bei einem kurzen Überblick über Straftatbestände, deren Legitimation nicht zuletzt im multikulturellen Kontext fragwürdig erscheint. Eingehend ist hierbei die Vorschrift des § 166 StGB zu untersuchen, die angesichts der zunehmenden interkulturellen Konflikte in Zukunft einen Bedeutungszuwachs erfahren dürfte. 2. Straftatbestände zum Schutz kultureller Wertvorstellungen a) Moralische Anschauungen und sittliche Werte Trotz der weitgehenden Liberalisierung enthalten vornehmlich die Delikte des 12. und 13. Abschnitts des Besonderen Teils, d. h. die Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie (§§ 169 bis 173 StGB) sowie gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g StGB), nach wie vor Straftatbestände, die der Bewahrung bestimmter sittlicher Anschauungen dienen. Dies gilt insbesondere für die Straftatbestände der Doppelehe (§ 172 StGB) und des Beischlafs zwischen Verwandten (§ 173 StGB), die ihre Existenz den bestehenden Moralvorstellungen verdanken. Deren Fortbestand bedarf allerdings eines schutzbedürftigen Interesses, um dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes Rechnung zu tragen. Die Legitimation des § 172 StGB erscheint daher zweifelhaft. Die Norm schützt nach herrschender Meinung die auf dem Grundsatz der Einehe beruhende staatliche Eheordnung.22 Dieses Rechtsgut ist indes äußerst abhängig von den moralischen Vorstellungen der hiesigen Gesellschaft.23 Andere Kulturen ge20 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, Frankfurt am Main 2005; vgl. auch dies., Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 ff. 21 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, Köln u. a. 2002. 22 Dippel, LK, § 172 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 172 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 172 Rdn. 1; Ritscher, MünchKomm-StGB, § 172 Rdn. 2; a. A. Frommel, NK, § 172 Rdn. 2: Individual- und Allgemeininteresse an der Sicherung der wechselseitigen Rechtsansprüche der Ehegatten; kritisch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 450. 23 Frommel, NK, § 172 Rdn. 1: „alte kirchenrechtliche Tradition“; Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (324): „Norm zum Schutz kultureller Identität“. Zur Geschichte der Strafbarkeit der Doppelehe Dippel, LK, § 172 Rdn. 1.
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statten polyandrische und polygyne Ehegemeinschaften, bei denen eine Frau mehrere Ehemänner bzw. ein Mann mehrere Ehefrauen haben darf. Der nahe liegende Einwand, die Polygynie beruhe häufig auf einem mit der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht vereinbaren Verständnis der Stellung der Frau,24 vermag schon deswegen die Vorschrift des § 172 StGB nicht zu rechtfertigen, weil die Norm jegliche Form der Mehrehe untersagt.25 Indem der Straftatbestand lediglich ein bestimmtes Bild der Ehe schützt, beruht er also wesentlich auf den darin zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen, die vor Beeinträchtigungen bewahrt werden sollen. Die kulturelle Abhängigkeit der Norm weckt Bedenken, ob sie tatsächlich einem schützenswerten Rechtsgut dient und ausreichend legitimiert werden kann.26 Wie schwierig sich zuweilen die Suche nach einem Rechtsgut für Strafvorschriften gestaltet, denen in der Gesellschaft allgemein akzeptierte moralische Anschauungen zugrunde liegen, belegt eindrucksvoll der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008 zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB.27 Als Rechtsgüter des § 173 StGB werden im Hinblick auf die systematische Stellung der Norm im Zwölften Abschnitt des Besonderen Teils Ehe und Familie,28 ferner die Vermeidung genetischer Schädigungen von durch Inzest gezeugten Kindern29 sowie der Schutz vor Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses durch ältere Familienangehörige zum Nachteil insbesondere von minderjährigen Verwandten30 genannt. Alle drei Schutzgüter erweisen sich bei näherer Betrachtung als problematisch. Vor allem beim Geschwisterinzest gemäß § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, über den das Bundesverfassungsgericht 24 Kritisch hierzu Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (323). 25 Strafbar ist aber nur, eine weitere Ehe zu schließen. Die Fortführung einer bereits bestehenden Mehrehe bleibt hingegen zulässig, StA München I NStZ 1996, 436; Dippel, LK, § 172 Rdn. 8; Fischer, § 172 Rdn. 4; Frommel, NK, § 172 Rdn. 3; Lackner/ Kühl, § 172 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 172 Rdn. 4. 26 Kritisch gegenüber der Existenzberechtigung der Norm Ritscher, MünchKommStGB, § 172 Rdn. 2. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 452 schlägt vor, den Tatbestand auf Handlungen ohne Wissen bzw. gegen den Willen der betroffenen Ehepartner zu begrenzen. 27 BVerfGE 120, 224 mit abweichender Meinung Hassemer, BVerfGE 120, 224 (255 ff.) und kritischen Besprechungen Hörnle, NJW 2008, 2085 ff.; Roxin, StV 2009, 544; Thurn, KJ 2009, 74 ff.; Zabel, JR 2008, 453 ff.; Ziethen, NStZ 2008, 617 f. 28 BVerfGE 120, 224 (243 ff.); BGHSt 39, 326 (329); BGH NJW 1952, 671 (672); Lackner/Kühl, § 173 Rdn. 1; Ritscher, MünchKomm-StGB, § 173 Rdn. 2; Ziegler, BeckOK-StGB, § 173 Rdn. 2; Dippel, NStZ 1994, 182 (182 f.); Ziethen, NStZ 2008, 617 (617 f.); ebenso BT-Drucks. VI/1552, S. 14; VI/3521, S. 17 (jeweils 4. StrRG). 29 BT-Drucks. VI/1552, S. 14; VI/3521, S. 17; vgl. dazu Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 100 ff.; H. Jung, in: Festschrift Leferenz, S. 311 (313 ff.). 30 BVerfGE 120, 224 (246 f.); vgl. ferner Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (73); H. Jung, in: Festschrift Leferenz, S. 311 (316).
Kap. 8: Bestandsaufnahme
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zu befinden hatte, scheidet der letztgenannte Gesichtspunkt in aller Regel aus.31 Ohnehin wäre der Schutz vor dem Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses oder generell der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ausreichend durch die §§ 174 ff. StGB gewahrt.32 Auf den Schutz von Ehe und Familie darf ebenso wenig generell verwiesen werden. An die Ehe anzuknüpfen, kommt bereits deswegen nicht in Betracht, weil der Täter überhaupt nicht verheiratet sein muss, um den Tatbestand zu verwirklichen. Das Interesse, unerwünschte Auswirkungen eines inzestuösen Verhaltens auf die Familie zu vermeiden, bildet schon aufgrund der Ausgestaltung des § 173 StGB kein denkbares Schutzgut. Der familiäre Zusammenhalt wäre nämlich außer durch den Beischlaf, d. h. den Geschlechtsverkehr im engeren Sinne, auch durch andere Formen sexueller Handlungen gestört.33 Außerdem bliebe unverständlich, warum sich die Vorschrift lediglich auf leibliche Abkömmlinge und Geschwister bezieht, Stief-, Pflege- und Adoptivkinder sowie andere nahestehende Verwandte wie Neffen und Nichten hingegen nicht erfasst.34 Zur Legitimation des § 173 StGB verbleibt deshalb allein die Gefahr, erbkranken Nachwuchs zu zeugen.35 Dann handelte es sich bei der Vorschrift indessen um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das zumindest bei sicherem Ausschluss der zu verhindernden Gefahr, z. B. bei Fortpflanzungsunfähigkeit eines Geschlechtspartners oder bei der Praktizierung sicherer Verhütungsmethoden, eine teleologische Reduktion nahe legte.36 Der Rückgriff auf ein solches eugenisches Anliegen erscheint jedoch darüber hinaus generell fragwürdig. Mangels gegenwärtigen Rechtsgutsträgers bedeutete dies nämlich, die Geburt eines Kindes mit Mitteln 31
Roxin, StV 2009, 544 (546 f.). Dippel, LK, § 173 Rdn. 17; Ritscher, MünchKomm-StGB, § 173 Rdn. 4; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 454 f.; Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (74); Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); H. Jung, in: Festschrift Leferenz, S. 311 (321); Zabel, JR 2008, 453 (455 f.); a. A. BVerfGE 120, 224 (247). 33 Hassemer, BVerfGE 120, 224 (262); Fischer, § 173 Rdn. 3a; Schönke/Schröder/ Lenckner/Bosch, § 173 Rdn. 3; Ritscher, MünchKomm-StGB, § 173 Rdn. 5; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 454; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 116 f.; Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); verteidigend BVerfGE 120, 224 (249 f.). 34 Hassemer, BVerfGE 120, 224 (262); Ritscher, MünchKomm-StGB, § 173 Rdn. 5; Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 43; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 454; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 116; Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (72); Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); Roxin, StV 2009, 544 (546) mit weiteren Kritikpunkten; Zabel, JR 2008, 453 (456); verteidigend BVerfGE 120, 224 (250). 35 Zur wissenschaftlichen Untersuchung dieser These BVerfGE 120, 224 (247 f.); Dippel, LK, § 173 Rdn. 12; H. Jung, in: Festschrift Leferenz, S. 311 (313 ff.). 36 Vgl. Dippel, LK, § 173 Rdn. 12; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 455; Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); Schroeder, ZRP 1971, 14 (21); Thurn, KJ 2009, 74 (78). Zu einer denkbaren verfassungskonformen Restriktion auf Grundlage des Rechtsguts des institutionellen Familienschutzes Frommel, NK, § 173 Rdn. 3. 32
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des Strafrechts verhindern zu wollen, weil es möglicherweise Erbschäden aufweist; dies stellte einen dem deutschen Strafrecht nicht bekannten und äußerst bedenklichen Fremdkörper dar.37 Nach alledem ist zu konstatieren, dass die Strafvorschrift des § 173 StGB nicht nur maßgeblich auf den kulturellen Wertvorstellungen der hiesigen Gesellschaft beruht,38 sondern nach wie vor ausschließlich deren Schutz bezweckt.39 Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht die Strafnorm des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB unter mehrmaligem Verweis auf den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers40 und anhand einer Gesamtbetrachtung der vorstehenden Schutzziele nicht für verfassungswidrig erklärt.41 Gerade diese Kombination verschiedener Schutzzwecke zur Rechtfertigung der Vorschrift erscheint aber mehr als fragwürdig. Sieht sich nämlich keines der genannten Rechtsgüter allein in der Lage, die Norm zu legitimieren, kann nicht nach Belieben jeweils bloß auf eines von ihnen zurückgegriffen werden, um die vorgetragenen Kritikpunkte zu entkräften.42 Ansonsten hätte dies das kuriose Ergebnis zur Folge, durch die Berufung auf mehrere – für sich jeweils nicht genügende – Schutzzwecke eine Norm weiter und widersprüchlicher fassen zu dürfen als wenn die Norm lediglich ein 37 Hassemer, BVerfGE 120, 224 (258 f.); Fischer, § 173 Rdn. 5; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 455 f.; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 107 f.; Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (75); Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); Hörnle, NJW 2008, 2085 (2087); Roxin, StV 2009, 544 (547); Thurn, KJ 2009, 74 (77 f.). 38 Vgl. Frommel, NK, § 173 Rdn. 1; Ellbogen, ZRP 2006, 190 (191); zur kulturellen Verwurzelung des Inzesttabus Dippel, LK, § 173 Rdn. 4 ff. 39 Dippel, LK, § 173 Rdn. 14; Ritscher, MünchKomm-StGB, § 173 Rdn. 6: „Relikt, das althergebrachte moralische Vorstellungen in das Strafrecht inkorporiert und ein weithin als anstößig empfundenes Verhalten dem staatlichen Strafanspruch unterwirft“; Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, S. 67 f.; Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192); Thurn, KJ 2009, 74 (79 f.); kritisch auch Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 173 Rdn. 1. 40 BVerfGE 120, 224 (245, 248, 250 und 251); kritisch die abweichende Meinung von Hassemer, BVerfGE 120, 224 (255): „eine so verunglückte Strafdrohung passieren zu lassen, segnet schwere Fehler und Versäumnisse des Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab und überdehnt den legislativen Spielraum im Strafrecht auf Kosten der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts“. 41 BVerfGE 120, 224 (243 ff., insbesondere 248 f.): „Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist“; kritisch Hassemer, BVerfGE 120, 224 (255 ff., vor allem 257 f. und 264 f.); Hörnle, NJW 2008, 2085 (2088); Zabel, JR 2008, 453 (455); Ziethen, NStZ 2008, 617 (617); a. A. schon zuvor Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 132: Verfassungswidrigkeit des § 173 StGB. 42 Vgl. Fischer, § 173 Rdn. 7; Roxin, StV 2009, 544 (548); Ziethen, NStZ 2008, 617 (617): „Die Senatsmehrheit hätte ihr Ergebnis daher nicht in der Breite, sondern vorzugswürdiger Weise in der Tiefe verankern sollen.“; ferner Kühl, JA 2009, 833 (838) zu den vorgetragenen familienschädlichen Wirkungen: „Wenn eine Kette so stark ist wie ihre schwächsten Glieder, so ist diese Begründungskette insgesamt nicht sehr stark.“
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einziges, dafür anerkanntes Rechtsgut schützte. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts reicht demnach nicht aus, um die Vorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB zu rechtfertigen. Jedenfalls bei einem konsequent am Prinzip des Rechtsgüterschutzes orientierten Strafrecht lässt sich der Tatbestand des Beischlafs zwischen Verwandten nicht legitimieren.43 b) Schutz vor unerwünschter Konfrontation Ein weiteres Motiv für den Einsatz strafrechtlicher Mittel bildet das Ziel, den Einzelnen vor Konfrontationen mit Verhaltensweisen zu bewahren, die nicht den vorherrschenden sittlichen Anschauungen entsprechen. Zum Ausdruck kommt dieses Anliegen vornehmlich in den §§ 183, 183a StGB, die exhibitionistische Handlungen und die Erregung öffentlichen Ärgernisses durch sexuelle Handlungen unter Strafe stellen. Auch hier genügt zur Legitimation der Vorschriften nicht der Verweis auf allgemeine Moralvorstellungen.44 Einen möglichen Ansatz für die Existenzberechtigung der Normen gewährt der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen. Hierzu gehört unter anderem, nicht gegen seinen Willen bestimmte Vorgänge zur Kenntnis nehmen zu müssen, sondern insoweit in Ruhe gelassen zu werden.45 Bei den genannten sexualbezogenen Vorgängen kommt als geschütztes Rechtsgut in Form eines Individualinteresses das Recht des Opfers auf sexuelle Selbstbestimmung in Betracht.46 Allerdings erweist sich der Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung mangels Körperkontakts und mangels aktiver Rolle des Opfers lediglich als gering.47 Allein das Bestreben, als belästigend empfundene sexuelle Vorgänge nicht wahrnehmen zu müssen, rechtfertigt aber keinen uneingeschränkten Rückgriff auf 43 Für eine Aufhebung der Norm Dippel, LK, § 173 Rdn. 17; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 457; Al-Zand/Siebenhüner, KritV 2006, 68 (80); Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192); H. Jung, in: Festschrift Leferenz, S. 311 (321); Roxin, StV 2009, 544 (550); Thurn, KJ 2009, 74 (83); Zabel, JR 2008, 453 (457); kritisch ferner Fischer, § 173 Rdn. 3 ff.; Klöpper, Das Verhältnis von § 173 StGB zu Art. 6 Abs. 1 GG, S. 123 ff.; Roxin, in: Symposium Schünemann, S. 135 (143); Ziethen, NStZ 2008, 617 (618); a. A. Frommel, NK, § 173 Rdn. 8. 44 So jedoch zu § 183a StGB BGHSt 4, 303 (304): „Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Allgemeinheit in geschlechtlicher Beziehung“; ebenso BGHSt 11, 282 (284); Lackner/Kühl, § 183a Rdn. 1; kritisch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 457. 45 BGH MDR/Dallinger 1974, 546; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 183 Rdn. 1 und § 183a Rdn. 1; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 183 Rdn. 1 und § 183a Rdn. 1; Ziegler, BeckOK-StGB, § 183 Rdn. 2 und § 183a Rdn. 2; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 149 f.; Sick/Renzikowski, in: Festschrift Schroeder, S. 603 (613); vgl. des Weiteren Laufhütte/Roggenbuck, LK, § 183 Rdn. 1 und § 183a Rdn. 1; Graalmann-Scheerer, GA 1995, 349 (354). 46 Fischer, § 183 Rdn. 2; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 183 Rdn. 2; Ziegler, BeckOK-StGB, § 183 Rdn. 2; Fischer, GA 1989, 445 (458); a. A. Lackner/Kühl, § 183 Rdn. 1: psychische und körperliche Integrität. 47 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 461.
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eine Strafvorschrift. Es bedarf vielmehr einer Abwägung mit dem Recht des Täters, seinerseits die von ihm gewünschten Verhaltensweisen zu praktizieren. Dem Interesse des Betroffenen darf selbst bei sexuellen Handlungen nicht automatisch der Vorrang eingeräumt werden, weil dadurch letztlich wiederum ausschließlich die allgemeinen Moralvorstellungen über die Existenzberechtigung der betreffenden Normen entschieden. Daher besteht vor allem dann für eine Strafvorschrift kein Bedürfnis, wenn der Einzelne ohne Weiteres in der Lage ist, sich den fraglichen Geschehnissen zu entziehen.48 Nach diesen Maßstäben dürfte die Strafbarkeit exhibitionistischer Handlungen, bei denen der Täter die Wahrnehmung durch eine andere Person gerade erstrebt49 und somit deren Recht auf sexuelle Selbstbestimmung bewusst tangiert, noch zu legitimieren sein.50 Fraglich bleibt hingegen der Fortbestand des § 183a StGB, bei dem die Ärgernis erregenden Handlungen öffentlich vorgenommen werden und der Einzelne deshalb der unerwünschten Konfrontation in der Regel problemlos ausweichen kann.51 c) Schutz vor Schriften mit unerwünschten Inhalten Das Strafgesetzbuch enthält eine Reihe sogenannter Äußerungsdelikte, die bestimmte Kommunikationsinhalte als solche unter Strafe stellen. Dazu zählen einerseits Vorschriften wie das Verbreiten von Propagandamitteln bzw. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß §§ 86 f. StGB oder die Volksverhetzung nach § 130 StGB, die Angriffe gegen den Staat oder auf einzelne Personengruppen bereits im Vorfeld unterbinden wollen. Zu dieser Kategorie gehört des Weiteren der noch ausführlich zu besprechende Straftatbestand der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB). Darüber hinaus wird andererseits die Verbreitung von Schriften untersagt, die sich zwar nicht gegen die Demokratie, einzelne Bevölkerungsteile oder sonstige Angriffsobjekte und -opfer richten, deren Inhalt jedoch per se als bedenklich empfunden wird. Ein solches Verbreitungsverbot gilt beispielsweise für pornographische Schriften (§§ 184 ff. StGB) sowie für Gewaltdarstellungen (§ 131 StGB). 48
Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 150 f. OLG Düsseldorf NJW 1977, 262; NStZ 1998, 412 (413); Hörnle, MünchKommStGB, § 183 Rdn. 7; Laufhütte/Roggenbuck, LK, § 183 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 183 Rdn. 3; Laubenthal, Sexualstraftaten, Rdn. 531. Zu Ursachen und Wirkungen exhibitionistischer Handlungen Sander, Zur Beurteilung exhibitionistischer Handlungen, S. 26 ff.; ders., ZRP 1997, 447 (448 ff.). 50 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 29; einschränkend Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 461 f. auf bedrohliche exhibitionistische Handlungen. Für eine Abschaffung der Norm plädiert Sander, ZRP 1997, 447 (450). 51 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 183a Rdn. 1; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 459; kritisch gegenüber der Existenzberechtigung der Norm auch Fischer, § 183a Rdn. 2 f.; Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 30; ders., in: Symposium Schünemann, S. 135 (142); Sick/Renzikowski, in: Festschrift Schroeder, S. 603 (613). 49
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Vor allem anhand der Gesetzgebungsgeschichte der §§ 184 ff. StGB lässt sich der Wandel in der Rechtsgutslehre eindrucksvoll belegen. Stützte sich das Verbot unzüchtiger Schriften zunächst auf die in der Gesellschaft herrschende Moral, bedurfte der Straftatbestand seit der Hinwendung zu einem Rechtsgüterstrafrecht52 eines neuen Legitimationsansatzes. Bei kinder- und jugendpornographischen Schriften nach §§ 184b, 184c StGB kann maßgeblich auf den Schutz der Darsteller verwiesen werden.53 Insoweit besteht über die Existenzberechtigung dieser Vorschriften im Grundsatz und ungeachtet einzelner Kritikpunkte54 somit Einigkeit. Problematisch erweist sich aber das durch § 184a StGB statuierte absolute Verbreitungsverbot der Gewalt- und Tierpornographie. Die Vorschrift dient nach herrschender Auffassung in erster Linie dem Schutz Dritter vor Gewalttätigkeiten, zu denen sich Konsumenten gewaltpornographischer Erzeugnisse veranlasst sähen, sowie dem Schutz von Jugendlichen vor negativen Einflüssen auf ihre sexuelle Entwicklung.55 Da die postulierten Zusammenhänge kaum durch empirische Studien zu belegen sind,56 sehen einige Stimmen die Vorschrift von vornherein kritisch.57 Jedenfalls dürften die beiden Erklärungsansätze ungeeignet sein, das Verbot der Tierpornographie zu rechtfertigen. Denn etwaige Nachahmungstaten bedeuteten zumeist keine strafbaren Delikte, da die Unzucht mit Tieren nicht (mehr) unter Strafe steht.58 Außerdem dürften sich Jugendliche kaum für 52 Vgl. hierzu Schumann, in: Festschrift Lenckner, S. 565 (568 ff.); ausdrücklich BGHSt 23, 40 (43 f.), wonach es nicht Aufgabe des Strafrechts sei, „auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern [. . .] die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen“. 53 BGHSt 45, 41 (43); OLG Koblenz NJW 1979, 1467 (1468); Fischer, § 184b Rdn. 2; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184b Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 184b Rdn. 1; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184b Rdn. 1; Ziegler, BeckOK-StGB, § 184b Rdn. 2; zur Problematik Schroeder, ZRP 1990, 299 (299 f.). 54 Vgl. zur Kritik an der Strafbarkeit des Besitzes gemäß § 184b Abs. 4 Satz 2 StGB Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184b Rdn. 29; Lackner/Kühl, § 184b Rdn. 8; Schönke/ Schröder/Perron/Eisele, § 184b Rdn. 15; Duttge/Hörnle/Renzikowski, NJW 2004, 1065 (1070); Schroeder, ZRP 1990, 299 (300 f.); verteidigend Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 313 f. 55 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184a Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 184a Rdn. 1; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184a Rdn. 1; ausführlich zur Rechtsgutsdiskussion zu § 184a StGB Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 410 ff. 56 Zu den Befunden entsprechender wissenschaftlicher Untersuchungen Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 410 ff. Allerdings hat der Gesetzgeber einen Einschätzungsspielraum, weshalb er seine legislative Tätigkeit nicht an einen wissenschaftlichempirischen Nachweis knüpfen muss, BVerfGE 83, 130 (140 ff.). 57 Fischer, § 184a Rdn. 6 f.; befürwortend hingegen Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184a Rdn. 1; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 446 f. 58 Fischer, § 184a Rdn. 8; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184a Rdn. 2; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 431; vgl. ferner Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 151; Beisel, ZUM 1996, 859 (860). Der Tatbestand der widernatürlichen Un-
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
solche Darstellungen interessieren.59 Da demnach das absolute Verbreitungsverbot für tierpornographische Schriften lediglich dem Schutz von sittlichen Wertvorstellungen und der Bewahrung von Sexualtabus dient, plädieren einige Stimmen in der Literatur nicht zu Unrecht für die Abschaffung des Verbots.60 Verschiedene Rechtsgüter liegen schließlich dem Verbreitungsverbot einfacher pornographischer Schriften in § 184 StGB zugrunde, die nicht die von den §§ 184a bis 184c StGB erfassten Inhalte aufweisen. Nachdem sich das Verbreitungsverbot einfacher pornographischer Schriften nicht mehr mit sittlichen Vorstellungen der Gesellschaft begründen lässt, bedarf die Vorschrift zu ihrer Legitimation anderer Rechtsgüter. Hierfür werden unter anderem der Jugendschutz (vornehmlich Nr. 1 bis 5 und 7), der Schutz Einzelner, auch erwachsener Personen, vor ungewollter Konfrontation (insbesondere Nr. 6) sowie die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 9) herangezogen.61 Vor allem die letzten beiden Erwägungen stoßen im Schrifttum auf weitgehende Ablehnung. Zum einen ist kein Bedürfnis ersichtlich, den Einzelnen gerade vor der Konfrontation mit sexuellen Darstellungen besonders zu schützen.62 Zum anderen können außenpolitische Gefahren allein kaum die Kriminalisierung eines im Inland an sich straflosen Verhaltens rechtfertigen.63 Generell werden im Schrifttum daher zahlreiche Bedenken zwar nicht gegen die grundsätzliche Existenzberechtigung der Norm, jedoch gegen die Reichweite ihrer Verbote im Einzelnen erhoben.64 zucht mit Tieren in § 175b StGB a. F. wurde durch das 1. StrRG vom 25. 6. 1969 (BGBl. I, S. 645) aufgehoben. Der Tatbestand der Tierquälerei in § 17 Nr. 2 TierSchG setzt „erhebliche Schmerzen oder Leiden“ voraus und ist somit nicht bei jeder sexuellen Handlung mit Tieren verwirklicht; kritisch gegenüber dem § 17 TierSchG als Norm, die selbst wiederum nur Gefühle schütze, Fischer, GA 1989, 445 (459). 59 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184a Rdn. 2; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184a Rdn. 1; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 432; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 151. 60 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184a Rdn. 2; Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 331 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 433; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 151; Beisel, ZUM 1996, 859 (861); kritisch auch Fischer, § 184a Rdn. 8. 61 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184 Rdn. 1 ff.; Lackner/Kühl, § 184 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, § 184 Rdn. 3; Ziegler, BeckOK-StGB, § 184 Rdn. 2; ausführlich Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 433 ff.; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 71 ff. 62 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184 Rdn. 8; Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 231 f.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 437 ff.; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 265 ff. Zur Kritik an dem Schutz vor ungewollter Konfrontation siehe bereits Teil 5 Kap. 8 II. 2. b). 63 Fischer, § 184 Rdn. 22; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 184 Rdn. 9 weist darauf hin, dass dadurch ausländische Sexualordnungen, die auf anderen, gegebenenfalls fundamentalistisch-religiösen Moralvorstellungen basieren, die Strafbarkeit im Inland bestimmten; kritisch ferner Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 236 ff.; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 285 ff.
Kap. 8: Bestandsaufnahme
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Eine den Pornographieverboten in Ausgestaltung und Rechtsgutsfrage ähnliche Vorschrift ist § 131 StGB. Der Straftatbestand untersagt unter bestimmten Umständen die Verbreitung von Schriften, die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen schildern. Häufig wird zur Legitimation der Vorschrift das Rechtsgut des öffentlichen Friedens herangezogen.65 Andere Stimmen betonen – ähnlich wie bei der Diskussion um das Rechtsgut des § 184a StGB – den mit der Norm bezweckten Jugendschutz und den Schutz vor möglichen Nachahmungstaten.66 In jüngerer Zeit rückte anhand der durch die Amokläufe von Erfurt am 26. April 2002, von Emsdetten am 20. November 2006 sowie von Winnenden am 11. März 2009 ausgelösten Debatte um die sogenannten Killerspiele, d. h. Computerspiele, deren Ziel in der Tötung virtueller Gegner besteht, der letzte Gesichtspunkt in den Vordergrund. Studien, die Zusammenhänge zwischen dem Konsum von Gewaltdarstellungen und der Begehung von Gewalttätigkeiten untersuchen, ergeben insoweit bislang ein unvollständiges und mitunter widersprüchliches Bild.67 Fest steht bislang nur, dass das verbreitete Bemühen in Politik und Gesellschaft, unter Ausblendung des sozialen Umfeldes des Täters eine allgemeingültige und monokausale Erklärung für Amokläufe zu finden,68 den komplexen Hintergründen solcher Taten nicht gerecht wird.69 In solchen Versuchen dürften häufig wiederum lediglich die eigenen moralischen Vorstellungen zu Tage treten. 64 Fischer, § 184 Rdn. 3a; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 438 und 444 f.; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, S. 364 ff.; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 39 ff. 65 Krauß, LK, § 131 Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 131 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, § 131 Rdn. 1; kritisch Fischer, § 131 Rdn. 2. Eingehend zur Rechtsgutsdiskussion des § 131 StGB Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 386 ff. 66 Miebach/Schäfer, MünchKomm-StGB, § 131 Rdn. 1 f.; Rackow, BeckOK-StGB, § 131 Rdn. 5; ähnlich Hörnle, in: Festschrift Schwind, S. 337 (346 ff.). A. A. Fischer, § 131 Rdn. 3; H. Ostendorf, NK, § 131 Rdn. 3, welche die Legitimation der Norm jeweils allein in dem Schutz des Einzelnen vor Gewalttaten erblicken. 67 Krauß, LK, § 131 Rdn. 4 f.; H. Ostendorf, NK, § 131 Rdn. 6; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 389 ff.; dies., in: Festschrift Schwind, S. 337 (338 ff.); Köhne, KritV 2005, 244 (245 ff.); Th. Weigend, in: Festschrift Herrmann, S. 35 (36 ff.). Zur Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers BVerfGE 83, 130 (140 ff.) (zu § 184 StGB); Krauß, LK, § 131 Rdn. 10; Miebach/Schäfer, MünchKomm-StGB, § 131 Rdn. 4; zurückhaltend Erdemir, K&R 2008, 223 (224); Hörnle, in: Festschrift Schwind, S. 337 (340); Th. Weigend, in: Festschrift Herrmann, S. 35 (42 f.); kritisch E. Gerhardt, NJW 1975, 375 (376 f.); ebenso Köhne, KritV 2005, 244 (245 ff.), der die Norm für verfassungswidrig hält und für ihre ersatzlose Streichung plädiert (253 f.); vgl. ders., GA 2004, 180 (187) und ZRP 2009, 155 (156). 68 Vgl. etwa den Gesetzesantrag des Freistaates Bayern vom 2. 2. 2007 mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Jugendschutzes (JuSchVerbG, BR-Drucks. 76/07), der unter anderem vorschlägt, einen § 131a StGB über „Virtuelle Killerspiele“ einzuführen; kritisch Rackow, BeckOK-StGB, § 131 Rdn. 5.1; Erdemir, K&R 2008, 223 (225 f. und 228); Höynck/Pfeiffer, ZRP 2007, 91 (92); Köhne, ZRP 2009, 155 (156). 69 H. Ostendorf, NK, § 131 Rdn. 6; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 389 m.w. N.; Erdemir, K&R 2008, 223 (224).
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
d) Schutz von Religion und Pietät Einen nicht verschleierten Zusammenhang mit kulturellen Errungenschaften weisen die Delikte der §§ 166 bis 168 StGB auf. Sie beziehen sich bereits nach der Überschrift des Elften Abschnitts des Besonderen Teils auf Religion und Weltanschauung,70 wenngleich § 167a (Störung einer Bestattungsfeier) und § 168 StGB (Störung der Totenruhe) nicht zwingend eines religiösen oder weltanschaulichen Kontextes bedürfen. Als von § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen)71 und § 167 StGB (Störung der Religionsausübung)72 geschütztes Rechtsgut gilt zwar im Allgemeinen der öffentliche Frieden.73 Darunter versteht die herrschende Meinung einen Zustand, in dem einerseits objektiv Rechtssicherheit herrscht und die Bevölkerung frei von Furcht gemeinsam leben kann. Andererseits müssen die Bürger auch subjektiv das Bewusstsein haben, sich in einem solchen rechtssicheren Zustand zu befinden und auf dessen Bestand vertrauen zu können.74 Eine nähere Analyse der Normen lässt diese Auffassung jedoch fragwürdig erscheinen. Beispielsweise dürften die in § 167 StGB beschriebenen Situationen entgegen der darin enthaltenen gesetzlichen Vermutung75 im Allgemeinen nicht geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Schon der Störung eines Gottesdienstes oder einer gottesdienstlichen Handlung gemäß Absatz 1 Nr. 1 wird kaum ein solches Potential zuzuschreiben sein, da das Verhalten des Täters in der Regel nur den Personenkreis der anwesenden Gemeinde betrifft.76 Zudem sieht sich der einzelne Täter einer zum gemeinsamen Gottesdienst zusammengekommenen Menschenmenge gegenüber, die ihn weniger als Bedrohung, sondern eher als ungebührliches Ärgernis empfindet. Einen ebenso geringen, wenn nicht sogar kleineren Bezug zum öffentlichen Frieden weist Absatz 1 Nr. 2 auf, der die Verübung beschimpfenden Unfugs an einem Ort unter Strafe stellt, der dem Gottes70 Beispiele zum strafrechtlichen Schutz von Religion und Pietät in anderen Staaten bei Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht, S. 723 (784 f.). 71 OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364); OLG Köln NJW 1982, 657 (658); Dippel, LK, § 166 Rdn. 6; Herzog, NK, § 166 Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 1; Schönke/ Schröder/Lenckner/Bosch, Vor §§ 166 ff. Rdn. 2; Eser, HdbStKirchR Bd. 2, S. 1019 (1027); a. A. Fischer, NStZ 1988, 159 (162 ff.); allgemein zur Rechtsgutsdiskussion Dippel, LK, § 166 Rdn. 9 ff.; Fischer, GA 1989, 445 (456 ff.); Stumpf, GA 2004, 104 (106 ff.). 72 Dippel, LK, § 167 Rdn. 5; Herzog, NK, § 167 Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 167 Rdn. 1; kritisch Hörnle, MünchKomm-StGB, § 167 Rdn. 1. 73 Zur geschichtlichen Entwicklung des Friedensschutzes Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, S. 6 ff. 74 Dippel, LK, § 166 Rdn. 59; Herzog, NK, § 166 Rdn. 13. 75 Dippel, LK, § 167 Rdn. 4; Herzog, NK, § 167 Rdn. 1; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 357. 76 Etwas anderes gilt möglicherweise dann, wenn – wie im Fall des OLG Jena NJW 2006, 1892 – die Störung während eines im Fernsehen übertragenen Festgottesdienstes erfolgt.
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dienst einer Religionsgesellschaft oder einer entsprechenden Feier einer Weltanschauungsvereinigung (Absatz 2) gewidmet ist. Hier muss die Tathandlung weder in Gegenwart der gläubigen Gemeinde vorgenommen noch von ihr bemerkt werden; vielmehr genügt die bloße Erkennbarkeit der Tat.77 Es wird daher nicht zu Unrecht bemängelt, dass bei § 167 StGB die Anstößigkeit der Tat im Vordergrund steht und nicht die potentielle Gefährdung des öffentlichen Friedens.78 § 167a und § 168 StGB hingegen schützen nach herrschender Meinung das – nicht notwendigerweise religiös oder weltanschaulich geprägte – Pietätsempfinden.79 Ob damit nun eher die allgemeinen Respektvorstellungen in der Bevölkerung oder die Gefühle des Einzelnen gemeint sind, erweist sich insofern als unerheblich, als beide Ansätze vor dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes kaum bestehen. Gleichwohl sprechen sich lediglich wenige Stimmen konsequent dafür aus, die Vorschriften abzuschaffen80 oder über einen Rechtsgutswechsel nachzudenken.81 Diese Zurückhaltung dürfte auf der in der Gesellschaft uneingeschränkten Akzeptanz und scheinbaren Selbstverständlichkeit der strafrechtlichen Verbotsnormen der §§ 167a, 168 StGB beruhen. Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener gemäß § 189 StGB. Während früher zumeist das Pietätsgefühl der Angehörigen des Verstorbenen82 und/oder der Allgemeinheit als Rechtsgut der Vorschrift erachtet wurde,83 erfährt diese Ansicht mittlerweile wegen der fehlenden Tauglichkeit des Pietätsgefühls als strafrechtliches Schutzgut zunehmend 77 Dippel, LK, § 167 Rdn. 22; Fischer, § 167 Rdn. 8; Herzog, NK, § 167 Rdn. 15; Valerius, BeckOK-StGB, § 167 Rdn. 9. 78 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 167 Rdn. 2; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 358 ff.; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 85 ff., 95. Für eine Streichung der Norm Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (248). 79 Herzog, NK, § 167a Rdn. 1 und § 168 Rdn. 2; Lackner/Kühl, § 167a Rdn. 1 und § 168 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, Vor §§ 166 ff. Rdn. 2. 80 So uneingeschränkt zu § 167a StGB Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 367; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 97; Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (248). Für eine weitgehende Abschaffung des § 168 StGB Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 384 f.; vgl. dies., MünchKomm-StGB, § 168 Rdn. 1 ff.; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 105 ff.; für eine völlige Entfernung des § 168 StGB Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (248). 81 Beispielsweise erscheint überlegenswert, auf einen fortbestehenden Geltungsanspruch des Verstorbenen abzustellen, Hörnle, MünchKomm-StGB, § 168 Rdn. 2; Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 31; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 369; vgl. auch BGHSt 50, 80 (89); Fischer, § 168 Rdn. 2; Herzog, NK, § 168 Rdn. 2; Lackner/Kühl, § 168 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, Vor §§ 166 ff. Rdn. 2. 82 Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 25 Rdn. 38; Geppert, Jura 1983, 580 (590). 83 OLG Düsseldorf NJW 1967, 1142 (1143); Lackner/Kühl, § 189 Rdn. 1; Rüping, GA 1977, 299 (304 f.); zusammenfassend zur Rechtsgutsdiskussion Fischer, § 189 Rdn. 2 f.; Hilgendorf, LK, § 189 Rdn. 1 f.; Regge, MünchKomm-StGB, § 189 Rdn. 1 ff.
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
Kritik.84 Es scheint sich vielmehr allmählich die Auffassung durchzusetzen, dass die Strafvorschrift des § 189 StGB eines objektivierbaren Rechtsguts unter Anerkennung eines postmortalen Persönlichkeitsschutzes bedarf, sei es in Gestalt der fortbestehenden Ehre des Verstorbenen85 oder eines gegenüber der Ehre eingeschränkten Persönlichkeitsrechts eigener Art.86
III. Insbesondere: Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB) Die sowohl in rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen als auch in Politik und Gesellschaft meistdiskutierte Norm des Elften Abschnitts des Besonderen Teils stellt die Strafvorschrift des § 166 StGB dar. Ihr Tatbestand droht für die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe an. Absatz 1 setzt neben der namensgebenden Beschimpfung des Inhalts eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses zunächst einen gewissen Öffentlichkeitsbezug voraus, indem Beschimpfungen nur erfasst sind, wenn sie öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB geschehen. Zudem müssen sie geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. § 166 Abs. 2 StGB erweitert die Angriffsobjekte der Beschimpfung auf im Inland bestehende Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen sowie ihre Einrichtungen und Gebräuche. Im folgenden Kapitel soll am Beispiel des § 166 StGB aufgezeigt werden, ob und gegebenenfalls inwieweit der Rückgriff auf Strafvorschriften angezeigt ist, um kulturelle Wertvorstellungen zu schützen. Es bietet sich daher an, die Norm vorab etwas detaillierter zu betrachten. 1. Tatobjekte Das Tatobjekt des § 166 Abs. 1 StGB bildet das Bekenntnis, d. h. ein Werteund Normengefüge, das der Bekennende für sich als absolut gültig und verbindlich erfährt, so dass er sein Leben danach ausrichtet. Bloße Meinungen oder gegebenenfalls Überzeugungen zu einer bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Frage reichen nicht aus.87 Geschützt wird hierbei nicht das Bekenntnis als 84
Hilgendorf, LK, § 189 Rdn. 1; Zaczyk, NK, § 189 Rdn. 3. Hilgendorf, LK, § 189 Rdn. 2; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 143; ders., in: Festschrift E. A. Wolff, S. 125 (142 f.); vgl. ferner Buschmann, NJW 1970, 2081 (2084 f.). 86 Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 189 Rdn. 1; Regge, MünchKomm-StGB, § 189 Rdn. 11; Sinn, SSW-StGB, § 189 Rdn. 1. 87 Fischer, § 166 Rdn. 4; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 8. 85
Kap. 8: Bestandsaufnahme
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Vorgang, also der Akt des Bekennens, sondern der Inhalt des Bekenntnisses.88 Die Beschimpfung kann sich auf das Bekenntnis in seiner Gesamtheit sowie auf – aus Sicht des Bekennenden89 – zentrale und essentielle Aussagen des Bekenntnisses beziehen.90 Da zu dem wesentlichen Inhalt eines religiösen Bekenntnisses in der Regel die Existenz und Anerkennung von Gott (bzw. von mehreren Göttern) zählt, vermögen insbesondere blasphemische Äußerungen die Vorschrift des § 166 Abs. 1 StGB zu verwirklichen.91 Im Einzelfall lassen sich religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse zwar nur schwer unterscheiden. Allerdings schützt § 166 StGB beide Bekenntnisse gleichermaßen, weshalb sich eine genaue Abgrenzung als entbehrlich erweist. Ein religiöses Bekenntnis kennzeichnet der bereits erwähnte Gottesbezug, d. h. der Glauben an einen Gott oder an mehrere höhere göttliche Wesen als letzten Weltgrund. Weltanschauliche Bekenntnisse hingegen befassen sich allgemein mit dem tieferen Verständnis der Welt und der Stellung des Menschen hierin.92 Beispiele für weltanschauliche Bekenntnisse sind der humanitäre Idealismus und die Existenzphilosophie.93 Geschützt werden aber ebenso Weltanschauungen, deren zentraler Inhalt darin besteht, die Existenz eines Gottes oder eines sonstigen überirdischen Wesens als Erklärung für die Welt abzulehnen. Auch der Atheismus ist demnach ein weltanschauliches Bekenntnis im Sinne des § 166 Abs. 1 StGB.94 Absatz 2 der Vorschrift dient dem institutionellen Schutz inländischer Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen, welche die gemeinschaftliche Pflege und Umsetzung ihres jeweiligen Bekenntnisses betreiben.95 Dazu zählen vornehmlich die im Gesetz exemplarisch genannten Kirchen (z. B. die großen christlichen oder orthodoxen Kirchen) sowie die Gemeinden der großen 88 Dippel, LK, § 166 Rdn. 16; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 4; Valerius, BeckOK-StGB, § 166 Rdn. 4. 89 Dippel, LK, § 166 Rdn. 18; Herzog, NK, § 166 Rdn. 6; Hörnle, MünchKommStGB, § 166 Rdn. 14; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 4. 90 Dippel, LK, § 166 Rdn. 17; Herzog, NK, § 166 Rdn. 3; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 4; Zipf, NJW 1969, 1944 (1944 f.); weiter gehend Eser, HdbStKirchR Bd. 2, S. 1019 (1028). 91 Herzog, NK, § 166 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 4; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 166 Rdn. 5; Valerius, BeckOK-StGB, § 166 Rdn. 4.1. Zur Vereinbarkeit der Strafbarkeit der Blasphemie mit der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK vgl. EGMR ÖJZ 1997, 714 (716 f.) – Wingrove/GB; NJW 2006, 3263 – I.A./ Türkei; NVwZ 2007, 314 – Aydin Tatlav/Türkei; siehe dazu Frenz/Casimir-van den Broek, ZUM 2007, 815. 92 Dippel, LK, § 166 Rdn. 22; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 7 f.; Lackner/ Kühl, § 166 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 5 f. 93 Dippel, LK, § 166 Rdn. 22; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 6, jeweils mit weiteren Beispielen. 94 Dippel, LK, § 166 Rdn. 22. 95 Dippel, LK, § 166 Rdn. 69 und 90; Valerius, BeckOK-StGB, § 166 Rdn. 5 f.
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
Weltreligionen (z. B. die jüdische, moslemische, buddhistische und hinduistische Gemeinde).96 Nicht erfasst werden Organisationen, die lediglich einzelne Zwecke, beispielsweise karitative (z. B. Caritas) oder politische (z. B. Parteien) Ziele verfolgen, selbst wenn dies aus religiöser oder weltanschaulicher Motivation geschieht.97 Nicht zuletzt infolge der dadurch begründeten Abgrenzungsschwierigkeiten bleibt im Einzelfall äußerst umstritten, ob eine Gruppierung eine Religionsgemeinschaft bzw. Weltanschauungsvereinigung darstellt und ein mögliches Angriffsobjekt des § 166 Abs. 2 StGB bildet.98 Vor Beschimpfungen geschützt werden außer den Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen als Institutionen auch ihre Einrichtungen und Gebräuche. Unter Einrichtungen sind Ordnungen und Formen zu verstehen, welche die Verantwortlichen für die innere und äußere Verfassung der Vereinigung sowie für die Ausübung ihres Bekenntnisses geschaffen haben.99 Dazu zählen in den christlichen Kirchen z. B. das Abendmahl100 und das Leiden Christi,101 in den jüdischen Gemeinden das Laubhüttenfest.102 Gebräuche sind die von der religiösen oder weltanschaulichen Vereinigung allgemein, d. h. nicht nur lokal oder von Einzelnen praktizierten tatsächlichen Übungen,103 wie etwa die Reliquienverehrung in den katholischen und orthodoxen Kirchen.104
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Eingehend Dippel, LK, § 166 Rdn. 81 ff. Dippel, LK, § 166 Rdn. 89; Fischer, § 166 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Lenckner/ Bosch, § 166 Rdn. 15. 98 Dies gilt vor allem für die Scientology-Bewegung. Einige Gerichte erkennen sie als Kirche bzw. Weltanschauungsgemeinschaft an – so OVG Hamburg NVwZ 1995, 498 (499 f.); LG Hamburg (Z) NJW 1988, 2617 (2617) –, andere Gerichte wiederum betrachten sie als wirtschaftliche Organisation – BAG NJW 1996, 143 (146 ff.); vgl. des Weiteren BVerwG NJW 1985, 393 (395 f.); ebenso Fischer, § 166 Rdn. 7; Schöch, in: Festschrift Müller-Dietz, S. 803 (814 ff.); kritisch Hilgendorf, SSW-StGB, § 166 Rdn. 8; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 9. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang offen gelassen, ob sich Scientology auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann, BVerfG NJW 2002, 2227 (2228); NJW 2002, 3458 (3459). 99 Dippel, LK, § 166 Rdn. 93; Fischer, § 166 Rdn. 8; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 12; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 17/18. 100 RGSt 5, 354 (357); OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364). 101 OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (239); LG Göttingen NJW 1985, 1652 (1653); a. A. Fischer, § 166 Rdn. 10. 102 RGSt 47, 142. Zu Erscheinungsformen von Einrichtungen im Sinne des § 166 Abs. 2 StGB in der multikulturellen Gesellschaft Dippel, LK, § 166 Rdn. 95; Fischer, § 166 Rdn. 10. 103 Dippel, LK, § 166 Rdn. 97; Herzog, NK, § 166 Rdn. 19; Hörnle, MünchKommStGB, § 166 Rdn. 13; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 19. 104 RGSt 22, 238 (239); 24, 12 (16). Beispiele für Gebräuche nichtchristlicher Religionsgemeinschaften bei Dippel, LK, § 166 Rdn. 98; Fischer, § 166 Rdn. 11. 97
Kap. 8: Bestandsaufnahme
337
2. Tathandlung Die Tathandlung beider Absätze des § 166 StGB stellt das Beschimpfen der soeben beschriebenen Angriffsobjekte dar. Dies setzt eine Kundgabe von Missachtung – sei es durch eine Tatsachenaussage oder durch ein Werturteil105 – voraus, die sich nach Form oder Inhalt als besonders verletzend erweist.106 Selbst scharfe und deutliche Kritik verwirklicht den Tatbestand deshalb noch nicht, erst recht nicht die bloße Negation oder Ablehnung eines Bekenntnisses bzw. einer religiösen oder weltanschaulichen Institution.107 Welche Äußerung nach diesen Maßstäben einen beschimpfenden Charakter enthält, richtet sich nach dem Urteil eines unbefangenen und auf religiöse und weltanschauliche Toleranz bedachten Dritten.108 Die Rechtsprechung hat den Tatbestand beispielsweise bejaht für das Motiv eines an ein Kreuz genagelten Schweins auf einem T-Shirt,109 den Aufdruck „Koran“ auf Toilettenpapier110 oder die Verhöhnung der unbefleckten Empfängnis Marias in dem Rock-Comical „Maria-Syndrom“. Hier wird die jungfräuliche Novizin Ann-Marie auf der Toilette schwanger, weil sich Spermareste ihres masturbierenden Cousins John auf der Toilettenbrille befinden.111 Das Beschimpfen muss öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB erfolgen. Öffentlich geschieht eine solche Äußerung, wenn sie von einem größeren, nach Zahl und Zusammensetzung unbestimmten und nicht durch persönliche Beziehungen verbundenen Personenkreis zur Kenntnis genommen werden kann.112 Die Verbreitung einer Schrift setzt deren körperliche Weitergabe voraus, welche die Schrift ihrer Substanz nach einem größeren, nach Anzahl und Individualität nicht mehr bestimmbaren Personenkreis zugäng-
105 OLG Köln NJW 1982, 657 (658); Dippel, LK, § 166 Rdn. 26; Hilgendorf, SSWStGB, § 166 Rdn. 16; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 16; Schönke/Schröder/ Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 9. 106 OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364); OLG Köln NJW 1982, 657 (658); OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (239); LG Bochum NJW 1989, 727 (728); LG Frankfurt am Main NJW 1982, 658 (659); Dippel, LK, § 166 Rdn. 26; Herzog, NK, § 166 Rdn. 7; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 166 Rdn. 11. 107 OLG Köln NJW 1982, 657 (658); Dippel, LK, § 166 Rdn. 27; Fischer, § 166 Rdn. 12; Herzog, NK, § 166 Rdn. 8; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 9; Valerius, BeckOK-StGB, § 166 Rdn. 9. 108 OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364); OLG Köln NJW 1982, 657 (658); OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (239); LG Bochum NJW 1989, 727 (728); LG Frankfurt am Main NJW 1982, 658 (659); Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 16; Schönke/ Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 9; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 166 Rdn. 12; Steinbach, JR 2006, 495 (499); Stumpf, GA 2004, 104 (108). 109 OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238. 110 AG Lüdinghausen vom 23. 2. 2006, Az. 7 Ls 540 Js 1309/05 31/05. 111 OVG Koblenz NJW 1997, 1174 (1175 f.). 112 OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (240); Dippel, LK, § 166 Rdn. 43; Herzog, NK, § 166 Rdn. 10; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 20.
338
Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
lich machen soll.113 Allerdings muss der Täter den Adressatenkreis nicht unmittelbar ansprechen. Vielmehr genügt unter Umständen bereits die Kundgabe einer beschimpfenden Äußerung gegenüber einer einzelnen Person, vor allem einem Anhänger des betroffenen Bekenntnisses, sofern nach den konkreten Umständen mit der Weitergabe der Äußerung und ihrem Bekanntwerden in einer breiten Öffentlichkeit zu rechnen bleibt.114 Jedenfalls darf die Beschimpfung nicht lediglich in einem kleinen Kreis verweilen, sondern muss nach außen in die Allgemeinheit getragen werden. Schließlich muss die Beschimpfung in einer Weise geschehen, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Der öffentliche Frieden bezeichnet einen Zustand, in dem objektiv Rechtssicherheit herrscht und die Bevölkerung frei von Furcht gemeinsam leben kann sowie subjektiv die Bürger das Bewusstsein haben, sich in einem solchen rechtssicheren Zustand zu befinden und auf dessen Bestand vertrauen zu können.115 Um sich zur Störung des öffentlichen Friedens zu eignen, muss eine Äußerung in der Lage sein, das Vertrauen der Betroffenen in die Respektierung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu beeinträchtigen oder bei Dritten die Intoleranz gegenüber Anhängern des beschimpften Bekenntnisses zu fördern.116 Das Schutzgut des öffentlichen Friedens117 muss jedoch nicht verletzt, der öffentliche Frieden also nicht tatsächlich gestört sein. Ebenso wenig setzt der Straftatbestand des § 166 StGB nach herrschender Auffassung dessen konkrete Gefährdung voraus, die sich nur durch Zufall nicht in einer tatsächlichen Störung realisiert.118 Andererseits genügt wiederum nicht die bloß abstrakte Gefahr, den öffentlichen Frieden zu stören. Vielmehr muss die Beschimpfung unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls hierzu konkret geeignet sein.119 Die Vorschrift stellt somit ein sogenanntes potentielles Gefährdungsdelikt dar, also letzten Endes eine Kombination aus abstraktem und konkretem Gefährdungsdelikt.120 113 OLG Köln NJW 1982, 657 (658); Dippel, LK, § 166 Rdn. 53 f.; Herzog, NK, § 166 Rdn. 12. 114 OLG Köln NJW 1982, 657 (657); Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 12. 115 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 74. 116 OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (365); OLG Köln NJW 1982, 657 (657); OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (240); Dippel, LK, § 166 Rdn. 63 ff.; Herzog, NK, § 166 Rdn. 14 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 12. 117 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 71. 118 OLG Köln NJW 1982, 657 (657); Fischer, § 166 Rdn. 14; a. A. Dippel, LK, § 166 Rdn. 62. 119 OLG Köln NJW 1982, 657 (657); Herzog, NK, § 166 Rdn. 1. 120 Herzog, NK, § 166 Rdn. 1; Lackner/Kühl, § 166 Rdn. 6 i.V. m. § 126 Rdn. 4; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 166 Rdn. 12. Teilweise wird die Bezeichnung abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt verwendet; vgl. zu dem insoweit gleichlautenden § 130 StGB
Kap. 9: Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht?
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3. Bedeutung der Vorschrift Infolge des hohen kulturellen Konfliktpotentials wird die Vorschrift des § 166 StGB die Strafverfolgungsbehörden in Zukunft aller Voraussicht nach häufiger als bislang beschäftigen.121 Religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse sind zwar nicht mit kulturellen Wertvorstellungen gleichzusetzen, aber nach wie vor prägende Bestandteile und zentraler Aspekt der meisten Kulturen. Der Straftatbestand des § 166 StGB kann demnach für viele kulturelle Konflikte grundsätzlich in Betracht gezogen werden. Die Reaktionen hierzulande auf die Zeichentrickserie „Popetown“ 122 dürften lediglich erste Vorboten auf weitere, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu befürchtende öffentliche Auseinandersetzungen sein. Die Karikaturen des Propheten Mohammed123 haben dabei gezeigt, welches Ausmaß und welche Intensität kulturelle Kontroversen mitunter erreichen. Ob mit der prognostizierten wachsenden Bedeutung des § 166 StGB auch deutlich mehr Verurteilungen einhergehen werden, erscheint indes eher fraglich. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist deutlich enger als es die Betroffenen erwarten, die sich durch die fraglichen Äußerungen in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen. Daher bildet die Norm in regelmäßigen Abständen den Gegenstand von Änderungsvorschlägen aus Politik und Gesellschaft, die sich zumeist für eine Ausweitung der Norm aussprechen. Ob diesen Forderungen angesichts der Ausführungen in diesem Kapitel beizupflichten bleibt oder ob berechtigte Bedenken gegenüber der Vorschrift des § 166 StGB bestehen, wird im abschließenden Kapitel 9 untersucht. Kapitel 9
Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht? I. Der Ruf nach Strafrecht 1. Allheilmittel „Strafrecht“ Nicht selten erklingt bei gesellschaftlichen Herausforderungen der Ruf nach dem Strafgesetzgeber. Vor allem in den letzten Jahrzehnten lässt sich ein zunehmender Rückgriff auf das vermeintliche Allheilmittel „Strafrecht“ beobachten, BGHSt 46, 212 (218); zur Kritik an der Terminologie siehe die Nachweise in Teil 3 Fn. 296. 121 Zur Rückkehr der Gotteslästerung angesichts zunehmender kultureller Auseinandersetzungen vornehmlich muslimischen Ursprungs Wils, Gotteslästerung, insbesondere S. 15 ff., 39 ff. 122 Siehe Teil 5 Kap. 8 I. 2. 123 Siehe Teil 5 Kap. 8 I. 1.
340
Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
was nicht zuletzt wegen dessen „ultima ratio“-Funktion Bedenken weckt.124 Entsprechende Überlegungen betreffen häufig unliebsame Äußerungen, denen sich die Gesellschaft nicht anders als durch eine Ausweitung des strafrechtlich sanktionierten Bereichs zu erwehren glaubt. Unter anderem bei § 166 StGB sind regelmäßig derartige Diskussionen zu verzeichnen. Zuletzt gab es nach der Ausstrahlung der Zeichentrickserie „Popetown“ und der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen öffentliche Wortmeldungen, die dafür plädierten, den Anwendungsbereich der Norm zu erweitern. Sie mündeten in einem dem Bundesrat zugeleiteten, schließlich jedoch nicht beratenen Gesetzesantrag des Freistaates Bayern vom 1. Oktober 2007.125 Solche Bestrebungen stellen keine Neuheit dar und wurden schon Jahre zuvor, noch fernab der aktuellen kulturellen Konflikte, wiederholt erwogen und zum Teil in den Gesetzgebungsorganen eingebracht.126 Allerdings gab es auch vereinzelte Gegenströmungen, die den mittelbaren Schutz religiöser Bekenntnisse für überholt hielten und den Straftatbestand des § 166 StGB völlig abschaffen wollten.127 Die Norm zählt also zu den umstrittenen Vorschriften des Strafgesetzbuches, was zu einem näheren Blick auf ihre juristische Berechtigung veranlasst. 2. Das Beispiel des § 166 StGB a) Gesetzgebungsgeschichte Der Straftatbestand der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen war bereits in der Urfassung des heutigen Strafgesetzbuches vom 15. Mai 1871128 als § 166 StGB enthalten, damals noch ohne amtliche Überschrift sowie in einer deutlich weiteren Fassung:
124 Statt vieler Hassemer, Absehbare Entwicklungen in Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 17 (19): Strafrecht „nicht mehr als ultima, sondern als prima oder gar sola ratio“; Hilgendorf/Frank/Valerius, Die deutsche Strafrechtsentwicklung, S. 258 (369). 125 BR-Drucks. 683/07; siehe dazu sogleich Teil 5 Kap. 9 I. 2. c) aa) und II. 2. b) bb). 126 Vgl. die im Bundesrat gescheiterten Gesetzesanträge des Freistaates Bayern vom 11. 8. 1986 (BR-Drucks. 367/86) sowie vom 14. 5. 1998 (BR-Drucks. 460/98), ferner den im Bundestag eingebrachten, aber abgelehnten Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU vom 7. 11. 2000 (BT-Drucks. 14/4558; weitgehend inhaltsgleich zuvor der Gesetzentwurf vom 7. 5. 1998 in BT-Drucks. 13/10666, welcher der Diskontinuität unterfiel). 127 Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 27. 7. 1995 (BT-Drucks. 13/2087). Kritisch des Weiteren die Kleine Anfrage der Fraktion vom 13. 11. 2006 (BTDrucks. 16/3407; Antwort der Bundesregierung vom 27. 11. 2006 in BT-Drucks. 16/ 3579). 128 RGBl. S. 127.
Kap. 9: Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht?
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Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Aeußerungen Gott lästert, ein Aergerniß gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft.
Bleibt die dritte Tatbestandsvariante des Verüben beschimpfenden Unfugs außer Acht, die sich inzwischen in § 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB wiederfindet, lassen sich die beiden Angriffsobjekte, namentlich Gott (als Vorläufer des Bekenntnisses im heutigen § 166 Abs. 1 StGB) und die Kirchen und Religionsgesellschaften (vgl. § 166 Abs. 2 StGB), zwar erkennen. Jedoch verwirklichte eine öffentliche Beschimpfung schon dann den Tatbestand, wenn darin eine Gotteslästerung lag. Dementsprechend wird die Vorschrift noch heute als „Gotteslästerungsparagraph“ bezeichnet. Strafbar waren also blasphemische Äußerungen als solche, unabhängig davon, ob sie geeignet waren, den öffentlichen Frieden zu stören und das Vertrauen der Bevölkerung in die Respektierung ihrer Religion zu mindern. Die Vorschrift erfuhr eine erstmalige, wenngleich marginale Änderung durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953.129 Es ersetzte den Passus „eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft“ – in Einklang mit Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV – durch die Formulierung „eine andere im Staate bestehende Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts“. Seine heutige Gestalt erlangte § 166 StGB sodann im Wesentlichen durch das 1. StrRG vom 25. Juni 1969.130 Außer der Erweiterung der Norm auf Weltanschauungsvereinigungen wurde vor allem das heute noch gültige Merkmal der Friedensstörung eingefügt. Beschimpfende Äußerungen sind seitdem nicht mehr allein bei einem blasphemischen Inhalt strafbar, sondern wenn sie ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis betreffen und geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Spätere Änderungen der Vorschrift beinhalteten lediglich eine Reaktion auf neue technische Verbreitungswege von Äußerungen. So erweiterte das 4. StrRG vom 23. November 1973131 – bei sämtlichen Inhaltsdelikten – die aufgezählten Verbreitungsträger „Schriften, Tonträger, Abbildungen oder Darstellungen“ um die „Bildträger“, bevor das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974132 die Verweisung auf den zeitgleich eingefügten allgemeinen Schriftenbegriff in § 11 Abs. 3 StGB mit sich brachte. Letzterer wurde wiederum durch das Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz; IuKDG) vom 129 130 131 132
BGBl. I, S. 735. BGBl. I, S. 645. BGBl. I, S. 1725. BGBl. I, S. 469.
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
22. Juli 1997133 auf Datenspeicher erstreckt, um den durch die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie in Vielfalt und Umfang gestiegenen Nutzungs- und Verbreitungsmöglichkeiten Rechnung zu tragen. b) Geschütztes Rechtsgut Eng verknüpft mit der konkreten Ausgestaltung des § 166 StGB ist die Frage nach dem geschützten Rechtsgut. Die ursprüngliche Fassung der Vorschrift, welche die Gotteslästerung als solche bestrafte, diente letzten Endes der Verteidigung Gottes und verfolgte somit einen aus heutiger Perspektive eigentümlichen Zweck. Er erklärte sich durch den Verweis auf die Tradition und die epochenüberschreitende Existenz der Strafnorm in zahlreichen Rechtsordnungen, die nicht zuletzt aus Furcht vor dem Zorn Gottes die Blasphemie als mitunter schwerstes Verbrechen ahndeten.134 Diese Vorstellung wandelte sich in der Neuzeit nur langsam. Erst im Laufe der Reformbemühungen der 1960er Jahre, die das Strafrecht von den noch bestehenden irrationalen Zügen befreien wollten und seine Funktion betonten, die Gesellschaft und ihre Rechtsgüter zu schützen, setzte sich beim Gesetzgeber die Abkehr von der Überzeugung durch, dass Gott eines Schutzes durch eine weltliche Strafvorschrift bedürfe.135 Die neue Orientierung am Rechtsgüterschutzprinzip erforderte, den Schutzzweck des § 166 StGB zu überdenken und zu überarbeiten. Dabei war nicht unumstritten, was zum neuen Schutzgut der Norm erhoben werden sollte.136 Der Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches E 1962 wollte den Tatbestand der Gotteslästerung in einem neuen § 187 StGB beibehalten sowie die Beschimpfung von Religionsgesellschaften in § 188 StGB regeln. Die Vorschriften sollten nunmehr allerdings an die Geeignetheit der Äußerung anknüpfen, das allgemeine religiöse Empfinden bzw. das Empfinden der Angehörigen der beschimpften Religionsgesellschaft zu verletzen. Bei öffentlichen Äußerungen über Gott sollten demnach Grenzen eingehalten werden, welche die Rücksicht auf das religiöse Empfinden gebietet.137 Der aus der Mitte der Strafrechtswissenschaftler stammende Alternativ-Entwurf stand diesem Ansatz kritisch gegenüber. Generell wollte er Straftaten mit 133
BGBl. I, S. 1870. Zur historischen Entwicklung des Straftatbestandes der Bekenntnisbeschimpfung Dippel, LK, Vor § 166 Rdn. 7 ff.; Kesel, Religionsdelikte, S. 4 ff.; J. Müller, Religion und Strafrecht, S. 73 ff.; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 4 ff.; Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (411 ff.). 135 BT-Drucks. IV/650, S. 343; BT-Drucks. V/4094, S. 28. 136 Vorschläge, den Tatbestand im Zuge der Reform zu streichen, konnten sich nicht durchsetzen, BT-Prot. V/230, S. 12782 f.; vgl. auch Maihofer, Die Gotteslästerung, S. 171 (183 f. und 187 ff.). 137 BT-Drucks. IV/650, S. 343. 134
Kap. 9: Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht?
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religiösem und weltanschaulichem Bezug derart weitgehend beschränken, dass es hierfür keines eigenständigen Abschnittes mehr im Strafgesetzbuch bedurft hätte: „So hoch die Verfasser des Alternativ-Entwurfs [. . .] die Bedeutung religiöser und weltanschaulicher Kräfte einschätzen, so wenig scheint es ihnen in einer lebendigen und demokratischen Gesellschaft doch angemessen oder gar im Interesse von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu liegen, für geistige Auseinandersetzungen Strafrecht und Strafrichter zu bemühen“.138
Die letzten Endes durch das 1. StrRG vom 25. Juni 1969 Gesetz gewordene Fassung lässt sich auf einen Vorschlag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zurückführen. Unter Anknüpfung an die Tatbestände der §§ 126, 130 StGB erhielt die Vorschrift des § 166 StGB das noch heute gültige Tatbestandsmerkmal der Geeignetheit, den öffentlichen Frieden zu stören. Dementsprechend soll die Norm nicht das religiöse Empfinden des Einzelnen, sondern den öffentlichen Frieden schützen, d. h. das Gefühl der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens in seiner Ausprägung durch den Toleranzgedanken. Die sachliche Diskussion über religiöse oder weltanschauliche Fragen wird also nicht unter Strafe gestellt. Vielmehr soll nur der grobe Missbrauch der geistigen Auseinandersetzung verhindert und die Fairness im gebotenen Umfange gewährleistet werden.139 c) Änderungsbestrebungen Die 1969 vorgenommene Umgestaltung, vor allem die Eignung der Beschimpfung, den öffentlichen Frieden zu stören, blieb in der Folgezeit nicht unumstritten. Daher war der seitdem im Wesentlichen unveränderte Straftatbestand des § 166 StGB Gegenstand zahlreicher Änderungsvorschläge, die allerdings keine Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen fanden. Angedacht wurden dabei sowohl die Ausdehnung der bestehenden Norm als auch ihre völlige Abschaffung. Für einen erweiterten Anwendungsbereich der Vorschrift sprachen sich regelmäßig wiederkehrende Gesetzesanträge des Freistaates Bayern im Bundesrat sowie ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag aus; für die Streichung der Vorschrift plädierte hingegen ein Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. aa) Vorschläge einer Erweiterung des § 166 StGB Einen ersten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes ausschließlich zu § 166 StGB brachte der Freistaat Bayern am 11. August 1986 im Bundesrat 138 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches BT. Sexualdelikte usw., S. 77. Zum Widerstreit der verschiedenen Ansätze Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (235). 139 BT-Drucks. V/4094, S. 29. Dies entspricht der heute vorherrschenden Deutung der Norm; siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 71.
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
ein.140 Der Vorschlag sah vor, in beiden Absätzen die Worte „in einer Weise“ sowie „die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ zu streichen. Auf das Erfordernis der Geeignetheit der beschimpfenden Äußerung zur Friedensstörung sollte also vollständig verzichtet werden. Der Anwendungsbereich der Norm sei durch ihre Auslegung durch Rechtsprechung und Schrifttum in einer Weise eingeengt, die den Schutz religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen nicht mehr hinreichend gewährleiste.141 Zwar sei der Tatbestand verwirklicht, wenn die Betroffenen veranlasst werden könnten, die Respektierung ihres Glaubens im Wege der Selbsthilfe durchzusetzen. Anderes gelte aber, wenn betroffene Bürger ihre Empörung und ihren Unmut über beschimpfende und verletzende Äußerungen und Darstellungen lediglich durch öffentliche Proteste oder Strafanzeigen gegen die Urheber der Beschimpfung zum Ausdruck brächten. Da Übergriffe, die Ausübung von Repressalien sowie friedensstörende Demonstrationen von Anhängern religiöser Bekenntnisse, vornehmlich der großen christlichen Kirchen nicht zu erwarten seien, blieben ihre religiösen und innersten Empfindungen selbst vor tiefgreifenden Verletzungen ungeschützt.142 Auslöser für die Änderungsbestrebungen waren laut der Begründung des Gesetzesantrags Angriffe auf christliche Bekenntnisse, die an Schärfe und Intensität zugenommen hätten. Demnach ließen einige Spielfilme und Bühnenstücke jegliches Maß an Toleranz und Achtung gegenüber der religiösen Überzeugung anderer vermissen. Zudem seien vermehrt mündliche und schriftliche Verhöhnungen von Glaubensgrundsätzen zu verzeichnen und stellten angeblich witzige Bemerkungen biblische Begebenheiten in einen obszönen Kontext.143 In solchen Fällen eine Strafverfolgung unter Verweis auf die fehlende Störung des öffentlichen Friedens abzulehnen, stoße bei Bürgern und kirchlichen Stellen auf Unverständnis. Sie wiesen zu Recht darauf hin, dass ihnen der Rückgriff auf friedensstörende Mittel nicht zuzumuten sei, um Schutz vor gröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle zu genießen.144 Es sei aber jeder verpflichtet, bei der Erörterung von Dingen, die anderen heilig seien, in der Form Maß zu halten und andere in der Ausübung ihrer Religion nicht zu stören. Werde diese Pflicht gröblich verletzt, so sei nach allgemeinem Rechtsempfinden eine staatliche Strafe geboten.145 Der Staat dürfe sich nicht darauf beschränken, lediglich das äußere friedliche Zusammenleben von Men140 BR-Drucks. 367/86; kritisch Eser, HdbStKirchR Bd. 2, S. 1019 (1043); Fischer, NStZ 1988, 159. 141 BR-Drucks. 367/86, S. 3; kritisch Fischer, NStZ 1988, 159 (159 ff.). 142 BR-Drucks. 367/86, S. 3 f. 143 BR-Drucks. 367/86, S. 4. 144 BR-Drucks. 367/86, S. 4. 145 BR-Drucks. 367/86, S. 5 in enger Anlehnung an die Begründung des Regierungsentwurfs eines Strafgesetzbuches E 1962 BT-Drucks. IV/650, S. 342, der in § 187 StGB-E noch die Gotteslästerung als solche unter Strafe stellen wollte.
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schen unterschiedlicher Bekenntnisse zu schützen.146 Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit stünden dem ebenso wenig entgegen. Dem Staat bleibe es nämlich nicht verwehrt, für ein Klima religiöser und weltanschaulicher Toleranz Sorge zu tragen, demzufolge einen Maßstab der Toleranz für diesbezügliche Auseinandersetzungen zu bestimmen und die Beachtung des Toleranzgebotes mittels einer Strafvorschrift durchzusetzen.147 Einen inhaltlich mit dem Entwurf vom 11. August 1986 identischen Gesetzesantrag brachte der Freistaat Bayern am 14. Mai 1998 in den Bundesrat ein.148 Auch hier sollten wiederum in beiden Absätzen des § 166 StGB die Worte „in einer Weise“ sowie „die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ gestrichen werden. Es sei nicht länger hinnehmbar, dass Erzeugnisse, die den Glauben anderer in verwerflicher Weise verhöhnen, faktisch ohne strafrechtliches Risiko verbreitet werden könnten. Der dadurch bedingten Vergiftung des geistigen Klimas müsse durch eine Reform des § 166 StGB entgegengewirkt werden.149 Im Übrigen verweist die Begründung des Gesetzesantrags unter weitgehender inhaltlicher, vielfach sogar wortwörtlicher Übereinstimmung auf die in Schärfe und Intensität zunehmenden Angriffe auf christliche Bekenntnisse, namentlich durch Spielfilme, Bühnenstücke sowie Verhöhnungen in Wort und Schrift, nunmehr zudem unter Zuhilfenahme neuer Kommunikationstechnologie wie des Internets.150 Ferner wird unter anderem wiederholt, es stieße bei Bürgern und kirchlichen Stellen auf Unverständnis, in solchen Fällen eine Strafverfolgung unter Verweis auf die fehlende Störung des öffentlichen Friedens abzulehnen; verletze jemand aber gröblich seine Pflicht, bei der Erörterung von Dingen, die anderen heilig sind, in der Form Maß zu halten, sei nach allgemeinem Rechtsempfinden eine staatliche Strafe geboten.151 Der größte Unterschied zum Gesetzesantrag vom 11. August 1986 besteht letztlich darin, dass die Ausführungen zum Verhältnis zwischen Meinungsäußerungs- bzw. Kunstfreiheit und Toleranzgebot in dem Entwurf vom 14. Mai 1998 fehlen. Nahezu zeitgleich brachten am 7. Mai 1998 Abgeordnete der Fraktion der CDU/CSU einen ähnlichen Gesetzentwurf in den Bundestag ein.152 Anliegen des Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes (Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen gemäß § 166 StGB) war allein die Änderung besagter Vorschrift. Dies sollte wiederum durch einen Verzicht auf das Merkmal der Eignung zur Störung des öf146 147 148 149 150 151 152
BR-Drucks. 367/86, S. BR-Drucks. 367/86, S. BR-Drucks. 460/98. BR-Drucks. 460/98, S. BR-Drucks. 460/98, S. BR-Drucks. 460/98, S. BT-Drucks. 13/10666.
5. 5 ff. 3. 2; kritisch Fischer, § 166 Rdn. 2b. 2.
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fentlichen Friedens erreicht werden, indem in beiden Absätzen des § 166 StGB die Worte „in einer Weise“ sowie „die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ gestrichen würden. In Abweichung von den vorstehenden, insoweit identischen Entwürfen des Freistaates Bayern sollte die Norm jedoch durch die Einfügung eines Absatzes 3 zu einem absoluten Antragsdelikt umgestaltet werden. Auch dieser Entwurf bediente sich in großen Teilen bei dem Gesetzesantrag des Freistaates Bayern von 1986. Weite Passagen, etwa zu den fehlenden gewalttätigen Reaktionen bei Anhängern der christlichen Kirchen153 oder zu den in Schärfe und Intensität zunehmenden Angriffen sowie zur Betroffenheit und Empörung der Bürger und kirchlichen Stellen,154 wurden sogar wortwörtlich übernommen. Ebenso wurden die Ausführungen zur Gebotenheit staatlicher Strafe bei gröblicher Verletzung des Toleranzgebotes und zum Verhältnis der Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit zu Art. 4 GG wiederholt.155 Außer diesen erneut vorgetragenen Gesichtspunkten weist die Begründung des Gesetzentwurfs vom 7. Mai 1998 noch ein längeres Zitat aus dem zweiten Teilband des Lehrbuchs von Maurach/Schroeder/Maiwald zum Besonderen Teil auf, in dem sich die Autoren kritisch gegenüber der Friedensstörungsklausel und ihrer Entwicklung als „Instrument für die Beseitigung des Tatbestandes“ des § 166 StGB äußern.156 Darüber hinaus werden zwei Beispiele für Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit genannt, welche die in Schärfe und Intensität zunehmenden Angriffe dokumentieren sollen: Zum einen wird auf die „Heiligsprechung“ eines Homosexuellen durch eine ehemalige Prostituierte im papstähnlichen Kleid bei einer Demonstration am 23. Juni 1996 gegen den Papstbesuch in Berlin, zum anderen auf Nacktaufnahmen auf dem Vierungsaltar des Kölner Doms am 19. Juli 1996 verwiesen.157 Wegen des Endes der 13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages unterfiel der Gesetzentwurf der Diskontinuität. Am 7. November 2000 wurde er nochmals und weitgehend inhalts- und wortlautgleich in den Bundestag eingebracht,158 dieses Mal von der gesamten Fraktion der CDU/CSU. Die einzige Abweichung von dem Entwurf vom 7. Mai 1998 bestand – abgesehen von der Umstellung auf die neue Orthographie anlässlich der Rechtschreibreform von 1996 – in der Streichung des absoluten Antragserfordernisses in Absatz 3. Dadurch war die nunmehr vorgeschlagene Änderung des § 166 StGB wiederum identisch mit den Vorschlägen des Freistaates Bayern von 1986 und 1998. 153
BT-Drucks. 13/10666, S. 4. BT-Drucks. 13/10666, S. 4 f. 155 BT-Drucks. 13/10666, S. 5. 156 BT-Drucks. 13/10666, S. 4 unter Verweis auf Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 2, § 61 Rdn. 15. 157 BT-Drucks. 13/10666, S. 4. 158 BT-Drucks. 14/4558. 154
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Der Gesetzentwurf wurde am 25. April 2002 im Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.159 Dies entsprach der Empfehlung des federführenden Rechtsausschusses, der sich mit derselben Stimmverteilung am 27. Februar 2002 gegen den Gesetzentwurf aussprach.160 In den Beratungen trug die CDU/CSU-Fraktion vor, dass der christliche Glaube nicht vor Verunglimpfung geschützt sei, während bei beschimpfenden Äußerungen gegenüber anderen Religionen wie dem jüdischen oder dem muslimischen Bekenntnis der öffentliche Frieden in Deutschland gefährdet und damit der Straftatbestand erfüllt sei.161 Die FDP-Fraktion stimmte zwar grundsätzlich dem Anliegen der Unionsfraktion zu, enthielt sich aber der Stimme, „da eine echte rechtliche Verbesserung der Situation derzeit nicht ersichtlich sei“.162 Die übrigen Fraktionen sahen keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. So hielt es die SPD-Fraktion nicht für rechtspolitisch notwendig, den Glauben als solchen durch die Pönalisierung von Schmähkritik zu schützen, da das Strafrecht nicht der ethisch-moralischen Bevormundung diene. Aufgabe des Religionsstrafrechts sei allein die Gewährleistung des öffentlichen Friedens.163 Ähnlich wendete sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen einen besonderen strafrechtlichen Schutz von Religionsgemeinschaften, den andere soziale Gruppen nicht genössen. Ausreichend sei der strafrechtliche Schutz des Einzelnen, wenn die Beschimpfung ihn selbst betreffe und ihn schmähe, beleidige oder verächtlich mache.164 Die Fraktion der PDS hielt schließlich das Strafrecht generell nicht für ein geeignetes Mittel, um für Toleranz zu werben.165 Das jüngste Bemühen um eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 166 StGB stammt wiederum vom Freistaat Bayern. Sein am 1. Oktober 2007 in den Bundesrat eingebrachter Gesetzesantrag166 weicht von den bisherigen Änderungsvorschlägen ab und richtet sein Augenmerk auf die Tathandlung der Vorschrift. An die Stelle des Beschimpfens soll danach das Herabwürdigen oder Verspotten treten. Demgemäß wäre auch die amtliche Überschrift in „Herabwürdigen von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ umzubenennen. Die Friedensschutzklausel soll zwar beibehalten, jedoch Gegenstand einer gesetzlichen Auslegungshilfe in einem neu einzufügenden Absatz 3 werden. Danach wäre eine Tat „bereits dann zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet, wenn nach den Umständen zu besorgen ist, der Angriff werde 159 160 161 162 163 164 165 166
BT-Prot. 14/233 vom 25. 4. 2002, S. 23241 C. BT-Drucks. 14/8379. BT-Drucks. 14/8379, S. 4. BT-Drucks. 14/8379, S. 4. BT-Drucks. 14/8379, S. 3 f. BT-Drucks. 14/8379, S. 4. BT-Drucks. 14/8379, S. 4. BR-Drucks. 683/07.
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das Vertrauen in die Fortdauer des Friedenszustandes erschüttern. Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn die Tat das Vertrauen der Betroffenen in die Achtung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung beeinträchtigen oder bei Dritten die Bereitschaft zu Intoleranz gegenüber dem Bekenntnis, der Religionsgesellschaft oder der Weltanschauungsvereinigung fördern kann.“ 167 Die Begründung des Anliegens entspricht im Wesentlichen abermals den Argumentationsansätzen der früheren Gesetzesanträge und eingebrachten Gesetzentwürfe.168 In der neuen Fassung des § 166 StGB solle zudem der Wille des Staates, seiner Schutzaufgabe effektiv zu entsprechen, unmissverständlich zum Ausdruck kommen.169 Indem die bisherige Tathandlung des Beschimpfens durch das Begriffspaar „herabwürdigen oder verspotten“ ersetzt werde, würde – entsprechend des als Vorbild dienenden § 188 öStGB – die Zielrichtung der Vorschrift schärfer konturiert. Erfasst würden Handlungen, die das Bekenntnis bzw. die Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung entweder als der Achtung unwert bzw. unwürdig darstellten oder auf verwerfliche Weise ins Lächerliche zögen. Die damit verbundene Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschrift führe wegen des Merkmals der Eignung zur Friedensstörung sowie der im Einzelfall notwendigen Abwägung mit den Grundrechten der Meinungsund Kunstfreiheit zu keiner Überdehnung der Strafbarkeit.170 Die Auslegungshilfe in dem neu einzufügenden Absatz 3 solle die Rechtsanwendung erleichtern. Sie stelle im Einklang mit der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum klar, zur Verwirklichung des § 166 StGB weder eine tatsächlich eingetretene Störung des öffentlichen Friedens noch die konkrete Gefahr einer solchen zu benötigen. Vielmehr genügten bereits berechtigte Gründe für die Befürchtung, dass der Angriff das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern werde.171 Allerdings beachtete die Rechtspraxis diese Auslegungsgrundsätze nicht immer hinreichend, was gegebenenfalls ein völliges Unverständnis in der Rechtsgemeinschaft und ein Gefühl der Ohnmacht bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen hervorriefe.172 bb) Vorschläge einer Streichung des § 166 StGB Neben den regelmäßig unterbreiteten Vorschlägen, den Anwendungsbereich des § 166 StGB zu erweitern, sind gelegentlich auch gegenteilige Bestrebungen 167
BR-Drucks. 683/07, S. 1 des Entwurfs. BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs. 169 BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs. 170 BR-Drucks. 683/07, S. 3 f. des Entwurfs. 171 BR-Drucks. 683/07, S. 4 des Entwurfs; siehe ferner die Nachweise in Teil 5 Fn. 116. 172 BR-Drucks. 683/07, S. 4 des Entwurfs. 168
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zu verzeichnen, die sich für eine Aufhebung der Norm aussprechen. Die geschilderten Stellungnahmen vor allem der Fraktionen der PDS und von Bündnis 90/ Die Grünen173 bei den Beratungen des Gesetzentwurfs der CDU/CSU-Fraktion vom 7. November 2000 lassen erkennen, dass der Einsatz strafrechtlicher Mittel zum (selbst nur mittelbaren) Schutz von Religionsgemeinschaften und zur Förderung des Toleranzgebotes nicht unumstritten ist. Ebenso vermag eine Kleine Anfrage einiger Abgeordneten und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 13. November 2006174 in ihren Vorbemerkungen eine gewisse Skepsis gegenüber dem Straftatbestand des § 166 StGB nicht zu verbergen. Anlass der Anfrage waren die Absetzung der Mozart-Oper Idomeneo durch die Deutsche Oper Berlin Ende September 2006 sowie die anhaltende Diskussion um die Mohammed-Karikaturen. Gemäß der Anfrage gelte die Vorschrift vielen als Relikt vergangener Tage, da sich der Gesetzgeber im Zeitalter der Aufklärung prinzipiell von der Strafbarkeit der Blasphemie verabschiedet habe. Zudem wird auf nachteilige Folgen für Künstler und Kreative verwiesen. So seien Künstler der „Stunksitzung“, einer kabarettistischen Sitzung während des Kölner Karnevals, mehrfach durch Verfahren nach § 166 StGB in ihren Aktivitäten beschränkt und Opfer von Strafverfolgungsmaßnahmen geworden. Zuletzt habe der ausstrahlende Fernsehsender eine Papstsatire im Februar 2006175 aufgrund einer Strafanzeige aus der Aufzeichnung herausgeschnitten.176 Die kritischen Stimmen mündeten bislang ein einziges Mal in einem entsprechenden Gesetzentwurf, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 27. Juli 1995177 in den Bundestag einbrachte. Der Entwurf, der sich ausschließlich mit der Strafvorschrift des § 166 StGB befasste, schlug dessen ersatzlose Streichung vor. In einer lebendigen und demokratischen Gesellschaft sei es weder angemessen noch liege es im Interesse der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, für geistige Auseinandersetzungen das Strafrecht und die Strafgerichte zu bemühen. Vielmehr gewährleisteten bereits die Anwendung der allgemeinen Strafbestimmungen gegen Individual- und Kollektivbeleidigung, in Extremfällen auch die Strafbarkeit wegen Volksverhetzung, den Anhängern von Religionsgemeinschaften einen ausreichenden Schutz gegen beschämende Kritik. Der Grundsatz, dass das Strafrecht ultima ratio bei der Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte bleiben müsse, werde daher nicht berücksichtigt.178 173
Jeweils BT-Drucks. 14/8379, S. 4. BT-Drucks. 16/3407. 175 Ein Sketch handelte von Papst Benedikt XVI. und dem Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner, die als Homosexuelle im Bett gespielt wurden. Auf die Strafanzeige einer Privatperson leitete die Kölner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen § 166 StGB ein, das im März 2006 eingestellt wurde. 176 BT-Drucks. 16/3407, S. 1. 177 BT-Drucks. 13/2087. 178 BT-Drucks. 13/2087, S. 3. 174
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Nach Ausführungen zur Geschichte des § 166 StGB listet die Begründung einige bedeutende Künstler auf, die wegen ihrer kirchenkritischen Haltung in der Vergangenheit angeklagt wurden. Zudem wird auf aktuelle Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen und Strafverfahren wegen künstlerischer Darbietungen unter expliziter Nennung eines Verfahrens aus dem Jahre 1994 gegen Künstler der Kölner Stunksitzung verwiesen. Außerdem bemängeln die Entwurfsverfasser, Beschimpfungen und Entgleisungen in anderen, etwa gesellschaftspolitischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereichen in gleicher Weise unter Strafe stellen zu müssen, wenn Ziel des § 166 StGB wirklich nur die Erhaltung des öffentlichen Friedens wäre.179 Schließlich sei der Tatbestand des § 166 StGB nicht in der Lage, Verletzungen der Meinungs- und Kunstfreiheit zu unterbinden. Zwar gebe es bloß wenige Verurteilungen wegen Straftaten, die sich auf die Verunglimpfung von Religion und Weltanschauung bezögen. Jedoch halte bereits die Furcht vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit all seinen Konsequenzen die Menschen von der Wahrnehmung ihrer verfassungsgemäß garantierten Rechte ab und gebe daher genügend Anlass, die Vorschrift abzuschaffen.180
II. Stellungnahme 1. Bemerkenswertes zu den Änderungsvorschlägen Sofern ein Gesetzentwurf nicht wegen Diskontinuität verfällt, lässt sich eher selten beobachten, dass er in regelmäßigen Zeitabständen erneut und im Wesentlichen unverändert in die Gesetzgebungsorgane eingebracht wird. Der wiederholte Vorschlag einer Erweiterung der Strafvorschrift des § 166 StGB verwundert auf den ersten Blick umso mehr, als er mit der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung nicht konform geht. Zumindest sprechen der stetige Rückgang der Personen christlicher Religionszugehörigkeit in Deutschland und die gleichzeitige Zunahme des konfessionsfreien Bevölkerungsanteils181 kaum für einen Be179
BT-Drucks. 13/2087, S. 3. BT-Drucks. 13/2087, S. 3 f. Zum „chilling effect“ auch EGMR NJW 2006, 3263 (3265) – I.A./Türkei; NVwZ 2007, 314 (316) – Aydin Tatlav/Türkei; HRRS 2008, Nr. 1000 Rdn. 51 – Vajnai/Ungarn; BVerfGE 43, 130 (136); Frowein, EuGRZ 2008, 117 (117 f.); Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873 (876). 181 Der Anteil der Katholiken an der deutschen Bevölkerung hat sich seit dem Jahr 1970 (44,6%) andauernd verringert (2005: 31%, Hochrechnung für 2010: 29,4%). Einen noch größeren Mitgliederschwund erlebte die Evangelische Kirche, der 1970 49,0% und 2005 30,8% der Bevölkerung angehörten (Hochrechnung für 2010: ebenfalls 29,4%). Ein Teil des Rückgangs bleibt freilich auf die Wiedervereinigung zurückzuführen, da der christliche Bevölkerungsanteil in den neuen Bundesländern deutlich geringer war (Katholiken 1987: 42,9%, 1990: 35,4%; Evangelische Kirche 1987: 41,6%, 1990: 36,9%). Doch lässt sich generell ein enormer Zuwachs des konfessionsfreien Anteils der Bevölkerung verzeichnen, der 1970 lediglich 3,9% ausmachte, 2005 180
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deutungsgewinn religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse bzw. von Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen. Demzufolge dürften religionskritische Äußerungen nur noch bei einem kontinuierlich geringer werdenden Teil der Bevölkerung den Wunsch nach einem strafrechtlichen Einschreiten wecken. Eine mögliche Erklärung für die häufige Einbringung derartiger Vorschläge liegt in der Bedienung der eigenen Klientel und Wählerschaft. Sämtliche Gesetzentwürfe, die auf eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 166 StGB abzielten, stammten von den christlichen Volksparteien: Die beiden Entwürfe im Bundestag brachte die CDU/CSU-Fraktion ein, die Gesetzesanträge im Bundesrat aus den Jahren 1986, 1998 und 2007 der Freistaat Bayern und somit letzten Endes die in Bayern zu diesem Zeitpunkt mit absoluter Mehrheit regierende CSU. Die demnach zu vermutende wahltaktische Motivation der Änderungsvorschläge unterstreicht ein Blick auf deren zeitliche Entstehung. So wurden die Gesetzesanträge des Freistaates Bayern vom 11. August 1986 und vom 14. Mai 1998 jeweils im unmittelbaren Vorfeld von Landtagswahlen in Bayern eingebracht, die am 12. Oktober 1986 bzw. am 13. September 1998 stattfanden. Dem jüngsten Entwurf vom 1. Oktober 2007 folgte die Kommunalwahl am 2. März 2008, der wegweisende Bedeutung für die anschließenden Landtagswahlen am 28. September 2008 zugesprochen wurde, da just zur Zeit der Einbringung des Gesetzesantrags der bayerische Ministerpräsident und Parteivorsitzende der CSU Edmund Stoiber seine Ämter an seine Nachfolger übertragen hatte. Auch bei dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 7. Mai 1998 bleibt eine auffällige Nähe zur Bundestagswahl am 27. September 1998 zu bemerken. Zudem hatte der Gesetzentwurf bereits infolge des bevorstehenden Endes der 13. Legislaturperiode und der damit einhergehenden Diskontinuität keine reelle Chance auf eine rechtzeitige Verabschiedung. Von den fünf eingebrachten Änderungsvorschlägen steht also allein der Entwurf vom 7. November 2000 nicht in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer Wahl. Dass dieser Umstand nicht wahlpolitischem Kalkül, sondern dem Zufall geschuldet sein soll, dürfte angesichts dessen zu postulierender Häufigkeit kaum anzunehmen sein. Weitere Zweifel kommen in Anbetracht der vorgetragenen Hintergründe der Entwürfe auf, die jeweils schon einige Zeit zurücklagen. Die CDU/CSU-Fraktion verweist etwa in ihrem Gesetzentwurf vom Mai 1998 auf zwei Geschehnisse aus dem Sommer 1996.182 Der Gesetzesantrag mit 32,5% hingegen den größten Bevölkerungsanteil bildete (Hochrechnung für 2010: 34,8%), alle Angaben aus Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, Religionszugehörigkeit, Deutschland 1970–2010. 182 BT-Drucks. 13/10666, S. 4. Da bei der Wiedereinbringung des Gesetzentwurfs im November 2000 die Begründung unverändert blieb, wurde nunmehr auf über vier Jahre
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des Freistaates Bayern vom Oktober 2007 beruft sich zwar lapidar auf „Angriffe namentlich auf christliche Bekenntnisse [. . .] in der jüngeren Vergangenheit“.183 Offensichtlich hat er jedoch die Mohammed-Karikaturen184 und die Zeichentrickserie „Popetown“ im Sinn,185 die sich in der ersten Jahreshälfte 2006 ereigneten, gegebenenfalls noch die Welttournee der US-amerikanischen Sängerin Madonna im Sommer 2006, die ein Lied während ihrer Konzerte mit Dornenkrone am Kreuz vortrug. Es kann indessen kaum erklärt werden, weswegen die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs, dessen Begründung mit den vorherigen Entwürfen in Inhalt und Wortlaut weitgehend übereinstimmt, zwei bzw. anderthalb Jahren in Anspruch nehmen soll.186 Gerade die weitgehende Identität ihrer Begründungen bedeutet einen weiteren Kritikpunkt an den Änderungsvorschlägen. Wenn deren Urheber zwischen dem ersten Entwurf von 1986 und dem jüngsten Entwurf von 2007 ihre Ausführungen bloß durch ein längeres Zitat aus einem strafrechtlichen Lehrbuch ergänzen,187 die zudem auf eine Veröffentlichung von Joseph Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., und somit einen Stellvertreter der katholischen Kirche verweist, spricht dies weder für die gebotene Neutralität noch für die notwendige gesetzgeberische Sorgfalt. Schließlich ist eine Spanne von 21 Jahren für eine gesellschaftspolitische Frage wie die Sanktionierung religionskritischer Äußerungen ein sehr langer Zeitraum. Die Wiedereinbringung eines früheren Gesetzentwurfs sollte demnach eines Bezugs auf zwischenzeitliche gesellschaftliche Entwicklungen nicht entbehren. Gerade der Entwurf vom Oktober 2007 lässt gleichwohl jegliche aktuelle Bezugnahme schmerzlich vermissen. Dabei wäre gerade hier eine Stellungnahme der Entwurfsverfasser zu den neuen rechtlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen durch die zunehmende Interkulturalität, verdeutlicht durch die Geschehnisse um die Mohammed-Karikaturen, wünschenswert gewesen. Indes scheint der Karikaturenstreit lediglich ein willkommezuvor geschehene Ereignisse als „Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit“ (BTDrucks. 14/4558, S. 3) verwiesen. 183 BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs; ähnlich schon BR-Drucks. 460/98, S. 2: „Angriffe namentlich auf christliche Bekenntnisse [. . .] in den letzten Jahren“ sowie BTDrucks. 13/10666, S. 4 und BT-Drucks. 14/4558, S. 3: „in der jüngeren Vergangenheit [. . .] Angriffe insbesondere auf christliche Bekenntnisse“. 184 Vielsagend wäre der Gesetzesantrag, wenn die Entwurfsurheber den Karikaturenstreit, der bislang das an Dauer und Intensität unübertroffene Paradebeispiel aktueller interkultureller Konflikte mit religiösem Hintergrund verkörpert, wirklich nicht bedachten und vielmehr ausweislich ihrer Begründung namentlich den Schutz christlicher Bekenntnisse beabsichtigten. 185 Vgl. Montag, DRiZ 2007, 72. 186 Zu den möglichen Motiven des Gesetzentwurfs Lüderssen, in: Festschrift Trechsel, S. 631 (632); vgl. ferner J. Müller, Religion und Strafrecht, S. 93. 187 So die in den Bundestag eingebrachten Entwürfe von 1998 und 2000, die eine Randnummer aus dem Lehrbuch von Maurach/Schroeder/Maiwald zum Besonderen Teil 2 zitierten, BT-Drucks. 13/10666, S. 4; BT-Drucks. 14/4558, S. 3.
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ner Anlass, nicht aber der eigentliche Beweggrund für den jüngsten Gesetzentwurf gewesen zu sein. Es bestehen also genügend Gründe, den sich wiederholenden Entwürfen eher skeptisch gegenüber zu treten. Trotzdem bedarf es einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die juristische Notwendigkeit einer Strafvorschrift gegen religions- oder weltanschauungsbeschimpfende Äußerungen. Wegen des rechtsgutsorientierten Charakters, durch den sich das Strafrecht seit seiner Reform Ende der 1960er Jahre auszeichnet, gestaltet sich hierbei bereits die Suche nach einem schützenswerten Rechtsgut für einen Straftatbestand wie § 166 StGB nicht unproblematisch.188 Nicht nur deshalb werden zahlreiche Zweifel an der generellen Berechtigung der Vorschrift geäußert.189 2. Rechtsgut und Ausgestaltung des § 166 StGB a) Bisherige Fassungen der Vorschrift aa) Gott als schützenswertes Rechtsgut Unstreitig ist inzwischen, dass die Vorschrift des § 166 StGB trotz ihrer religiös-weltanschaulichen Tatobjekte weder die Religion noch Gott als deren zentralen Bestandteil zum Rechtsgut hat. Allerdings war der Schutz Gottes über Jahrhunderte das Anliegen weltlicher Normen, die blasphemische Äußerungen sanktionierten.190 Auch § 166 StGB stellte zunächst gotteslästernde Äußerungen als solche unter Strafe, sofern sie öffentlich erfolgten und beschimpfender Natur waren.191 Da die ursprüngliche Fassung von 1871 keine weiteren Merkmale wie insbesondere die heutige Friedensschutzklausel enthielt, bildete Gott selbst das Schutzgut der Norm.
188 Kritisch gegenüber dem öffentlichen Frieden als Rechtsgut des § 166 StGB (zur nach wie vor h. M. siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 71) Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 351 ff.; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 73 ff.; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 105 ff.; Fischer, GA 1989, 445 (450 ff.); generell kritisch gegenüber diesem Rechtsgut Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 47 ff.; ders., in: Symposium Schünemann, S. 135 (143); eingehend Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 340 ff.; J. Müller, Religion und Strafrecht, S. 88 ff. 189 Siehe etwa Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 1; Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 360; Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, S. 635; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 356; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 78; Fischer, NStZ 1988, 159 (165); ders., GA 1989, 445 (467 f.); Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (248); Montag, DRiZ 2007, 72; Steinke, KJ 2008, 451 (457). 190 Zur Geschichte der Strafbarkeit der Blasphemie generell siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 134. 191 Zur Geschichte des § 166 StGB siehe oben Teil 5 Kap. 9 I. 2. a).
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Das Ziel derartiger Strafvorschriften war die Verteidigung Gottes. Aus Furcht vor dessen Zorn ordneten nicht wenige Rechtsordnungen die Blasphemie als Kardinalverbrechen ein, auf dessen Begehung häufig die Verurteilung zum Tode stand. Ein prominentes Beispiel findet sich im österreichischen Strafgesetzbuch von 1768 (Constitutio Criminalis Theresiana), das die Gotteslästerung in Art. 56 § 1 als das erste und ärgste aller Laster bezeichnete. Gotteslästerungen im höchsten Grad wurden nach Art. 56 § 9 mit dem Verbrennen bei lebendigem Leib bestraft, dem das Ausreißen bzw. Abschneiden der Zunge (bei lästernden Äußerungen) bzw. Abhacken der Hand (bei tätlichen Schmähungen) voranging. Die drastischen Strafen dürfen nicht über die kritischen Stimmen hinwegtäuschen, welche die Strafbarkeit der Blasphemie nicht erst in den letzten Jahrzehnten begleiteten. So betrachtete bereits der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus die Beleidigung der Götter als deren eigene Angelegenheit.192 In eine ähnliche Richtung ging der Begründer des modernen deutschen Strafrechts Paul Johann Anselm von Feuerbach mit dem wohl bekanntesten Zitat zu dieser Thematik: „Dass die Gottheit injuriirt werde, ist unmöglich; dass sie wegen Ehrenbeleidigungen sich an Menschen räche, undenkbar; dass sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnt werden müsse, Thorheit.“ 193
In der Tat erscheint schon fernab jeder juristischen Überlegung diskussionswürdig, ob der Schutz Gottes durch eine irdische Norm überhaupt in seinem Sinne liegt. Kein gläubiger Mensch wird bezweifeln, dass sich Gott lästernden Äußerungen gegenüber selbst zu behaupten weiß. Auch wenn es sich bei der Gotteslästerung um ein Delikt handelt, das die Zehn Gebote selbst untersagen,194 handelt es sich dabei – neben dem Gebot, sich keinen anderen Göttern zu unterwerfen195 – um das einzige Gebot, dessen Verletzung ausdrücklich von Gott selbst geahndet wird. Insofern droht der Mensch mit dem Erlass einer irdischen Strafnorm seinen Verantwortungsbereich zu überschreiten und gegebenenfalls den Willen Gottes sogar zu missachten.196 192
Tacitus, Annalen, Buch 1, 73 a. E.: „deorum iniurias dis curae“. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 303, S. 488 f. Nach Feuerbach konnte eine strafbare Gotteslästerung aber durch einen schmähenden Angriff auf Gegenstände religiöser Anbetung oder Verehrung begangen werden, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 304 ff., S. 492 ff. 194 Exodus 20, 7: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“. 195 Exodus 20, 5–6: „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.“ 196 Zur (fehlenden) Notwendigkeit aus theologischer Sicht, eine Gotteslästerung durch den Staat ahnden zu lassen, Schilling, Gotteslästerung strafbar?, S. 62 ff. 193
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Wird gleichwohl eine Reaktion der menschlichen Gemeinschaft auf gotteslästernde Äußerungen für notwendig erachtet, ist fraglich, ob dies den Rückgriff auf staatliche Gesetze erfordert. Um die Ehre Gottes zu verteidigen bzw. sich den Folgen seines Zorns zu entziehen, sind das aktive und öffentliche Eintreten für Gott sowie gesellschaftliche Sanktionen innerhalb der christlichen Gemeinde ein deutlich probateres Mittel. Das eigene Nichtstun der Gläubigen und der Verweis auf den (Straf-)Gesetzgeber werden diesen Anforderungen kaum gerecht. Dies gilt insbesondere in einer Zeit, in welcher der konfessionslose bzw. nichtgläubige Anteil an der Bevölkerung stetig wächst und die Strafgesetze nicht mehr als Ausdruck einer einheitlichen gläubigen Gesellschaft angesehen werden können. Ungeachtet solcher Erwägungen, aufgrund derer ein Eingriff des weltlichen Strafgesetzgebers für gottes- oder religionskritische Äußerungen von vornherein fraglich erscheint, stehen nicht zuletzt strafrechtstheoretische Überlegungen dem Schutz Gottes oder von Religionen durch eine Strafnorm entgegen. Nach der modernen Strafrechtslehre muss Anknüpfungspunkt für einen Straftatbestand stets ein greifbares Rechtsgut sein. Die Berufung auf metaphysische Anschauungen, die einem wissenschaftlichen Nachweis und somit einer Entscheidbarkeit durch das Recht entzogen bleiben, vermag demnach die Existenz einer Strafvorschrift nicht mehr zu rechtfertigen.197 Dementsprechend hat das 1. StrRG vom 25. Juni 1969198 die Strafbarkeit der Gotteslästerung als solche aufgehoben und die Friedensschutzklausel in den Tatbestand des § 166 StGB aufgenommen, um der Vorschrift zu einem strafrechtlichen Schutzgut zu verhelfen. bb) Religiöse Gefühle Allerdings war bei den Beratungen über die Umgestaltung des § 166 StGB umstritten, welches Rechtsgut die Vorschrift nunmehr schützen sollte.199 Die unter anderem vom Regierungsentwurf E 1962 verfolgte Konzeption, an das religiöse Empfinden des Einzelnen bzw. der Allgemeinheit anzuknüpfen, ist aus mehreren Gesichtspunkten problematisch. Das Empfinden eignet sich ebenso wenig wie sonstige Gefühle als strafrechtliches Schutzgut, da sie sich bloß schwer erfassen lassen. Sie tragen deshalb kaum dazu bei, der jeweiligen Strafvorschrift Konturen zu verleihen. Ob ein Verhalten im konkreten Einzelfall einen Straftatbestand verwirklicht, hinge im Wesentlichen von der Interpretation des erkennenden Fachgerichts ab. Die damit einhergehende fehlende Vorhersehbarkeit des Verfahrensausgangs führte jedoch zu einer nicht mehr hinzunehmenden Rechtsunsicherheit 197 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 341; Wils, Gotteslästerung, S. 178 f. und 190 ff.; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 114; Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (241). 198 BGBl. I, S. 645. 199 Siehe hierzu schon Teil 5 Kap. 9 I. 2. b).
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und begründete außerdem die Gefahr einer uferlosen Ausweitung der Strafbarkeit.200 Ohnehin bestehen in Anbetracht des Rechtsgüterschutzprinzips grundsätzliche Bedenken, Gefühle oder sonstige Vorgänge der menschlichen Innenwelt zum Gegenstand staatlicher Regelungen zu erheben. Ein objektiv manifestierter und messbarer Eintritt einer Gefährdung oder Schädigung eines greifbaren Rechtsguts bleibt insoweit nämlich nicht festzustellen. Religiöse und weltanschauliche Angelegenheiten sind zudem einer naturwissenschaftlichen Verifizierung von vornherein nicht zugänglich. Im Zuge der Strafrechtsreformen Ende der 1960er Jahre wurde daher deutlich, dass das Strafrecht nur sozialschädliche, nicht aber lediglich unsittliche oder gefühlsverletzende Handlungen bestrafen darf.201 Selbst die Befürworter einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 166 StGB lehnen demzufolge die Rechtsgutsfähigkeit religiöser Gefühle ab.202 Vor allem in einer multikulturellen Gesellschaft liegt der Schlüssel zu einem friedlichen und freiheitlichen Zusammenleben nicht in dem zunehmenden Rückgriff auf staatliche Verbote, sondern in der Vermittlung gegenseitiger Toleranz, auch und gerade gegenüber den religiösen Anschauungen anderer Kulturen. Ein weiterer wesentlicher Einwand gegen die Erhebung religiöser und weltanschaulicher Gefühle zum Schutzgut einer Strafvorschrift beruht auf der Säkularisierung unserer rechtsstaatlichen Demokratie. Ein weltanschaulich neutraler Staat (vgl. Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV) ist nicht dazu berechtigt, Sanktionen unmittelbar an die Verletzung religiöser und weltanschaulicher Inhalte oder darauf beruhender subjektiver Empfindungen zu knüpfen.203 Zwar muss der Staat dem Einzelnen einen Betätigungsraum sichern, in dem sich seine Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann, und ihn vor Angriffen oder Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen schützen.204 Dies bedeutet indes nicht, die Religion als solche sowie einzelne Gläubige bzw. Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen vor kritischen Bemerkungen zu bewahren.205 200 Hilgendorf, in: Religions- und Weltanschauungsrecht, Rdn. 459; Stumpf, GA 2004, 104 (106 f.). Vgl. des Weiteren Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 18; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 128; Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (420 f.). 201 Fischer, GA 1989, 445 (458). 202 BR-Drucks. 367/86, S. 6; BT-Drucks. 13/10666, S. 5; BT-Drucks. 14/4558, S. 4. 203 Fischer, § 166 Rdn. 2; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 1; Eser, HdbStKirchR Bd. 2, S. 1019 (1026); Hilgendorf, in: Religions- und Weltanschauungsrecht, Rdn. 459; Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (243); Steinbach, JR 2006, 495 (496). 204 BVerfGE 41, 29 (49); 93, 1 (16); Rohe, Der Islam, S. 86; Stumpf, GA 2004, 104 (104). 205 Herzog, NK, § 166 Rdn. 1; Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 353; Ott, NStZ 1986, 365 (365). Zur fehlenden Eigenschaft von Religionen und Weltanschauungen als kollektive Rechtsgüter siehe auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 341 ff.
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Letztlich wäre fraglich, warum ausschließlich religiöse und weltanschauliche Gefühle strafrechtlichen Schutz erfahren sollen, sonstige, z. B. gesellschaftspolitische oder soziale Empfindungen hingegen nicht, selbst wenn sie für ihren Träger von noch so großer Bedeutung sind.206 Zu denken wäre beispielsweise an „ökologische Gefühle“, die bei engagierten und überzeugten Umweltschützern in Anbetracht des prognostizierten Klimawandels eine ähnlich zentrale Stellung wie das religiöse und weltanschauliche Empfinden bei einem Gläubigen einnehmen. Eine Sonderbehandlung religiöser Gefühle lässt sich zumindest nicht mit dem Rückgriff auf Gott oder die Religion begründen, die als strafrechtliches Schutzgut gerade ausscheiden. cc) Öffentlicher Frieden Wenn als Rechtsgut des § 166 StGB sowohl ein metaphysischer Bezugspunkt wie Gott oder der Glauben selbst als auch das religiöse Empfinden oder ein sonstiger Vorgang aus der Innenwelt ausscheiden, kommt nur der Schutz eines objektivierbaren Interesses in Betracht. Denkbar bleiben entweder ein Rechtsgut des Einzelnen [siehe unten b) cc)] oder ein überindividuelles Schutzgut, sei es ein verbindlicher Handlungswert wie die gegenseitige Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Fragen [siehe unten b) dd)] oder ein allgemeines Interesse wie der öffentliche Frieden. Den letztgenannten Weg beschreitet die seit 1969 geltende Fassung des § 166 StGB. Sie setzt ausdrücklich die Eignung der beschimpfenden Äußerung voraus, den öffentlichen Frieden zu stören. Dadurch wird nach herrschender Meinung der öffentliche Frieden zum Schutzgut der Vorschrift.207 Er besteht aus einer objektiven und einer subjektiven Komponente. Objektiv wird damit ein Zustand der Rechtssicherheit beschrieben, in dem die Bevölkerung tatsächlich frei von Furcht leben kann. Subjektiv muss sich die Bevölkerung bewusst sein, sich in einem solchen rechtssicheren Zustand zu befinden und auf dessen Bestand vertrauen zu können.208 Diese Interpretation wirft allerdings im Hinblick auf die Suche nach einem schutzfähigen Rechtsgut Fragen auf. Dies gilt vor allem für die subjektive Komponente des öffentlichen Friedens, sich in einem beständigen Zustand der Rechtssicherheit zu befinden und auf gegenseitigen Respekt und Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten zu vertrauen. Der Verweis auf derartige 206 Kritisch etwa BT-Drucks. 13/2087, S. 3; Montag, DRiZ 2007, 72; vgl. des Weiteren Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 1; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 347 ff.; Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 110; Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (238 f.); Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, S. 315 (327). 207 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 71. 208 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 74.
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subjektive Empfindungen bedeutete, wiederum in die Nähe des grundsätzlich abzulehnenden Schutzes persönlicher Empfindungen zu geraten.209 Darüber hinaus ist es problematisch, das Vertrauen der Bevölkerung als durchaus realen sozialpsychologischen Zustand zu messen, um über die Eignung einer Äußerung, den öffentlichen Frieden zu stören, zu entscheiden.210 Ohnehin ließen sich mit Fischer die Gefühle der einzelnen Bürger nicht schlicht zu einem Gesamtgefühl der Allgemeinheit addieren, das sich vielmehr als Illusion entpuppe.211 Das subjektive Element des öffentlichen Friedens bleibe demzufolge allenfalls als normativer Begriff zu verstehen, der sich an einem (insbesondere in einer multikulturellen Gesellschaft: vermeintlichen) Wertekonsens der Gesellschaft orientiere.212 Dann aber umschreibe der öffentliche Frieden nur das, „was alle wollen sollen“, und erweise sich nicht als Rechtsgut, sondern als bloßer Maßstab für die Strafwürdigkeit des jeweiligen Verhaltens.213 Es erscheint daher ratsam, die objektive Komponente des öffentlichen Friedens zu betonen.214 Jedoch offenbart der demnach erforderliche Zustand der Rechtssicherheit und gegenseitigen Toleranz eine enorme Unschärfe.215 Ob eine Äußerung den Zustand religiöser und weltanschaulicher Rechtssicherheit verletzt, ergibt sich nämlich aus einer Wertung, die je nach Betrachter unterschiedlich ausfällt. Was der eine noch als vielleicht unangebrachte, nach Inhalt und Form gleichwohl hinzunehmende Bemerkung erachtet, mag ein anderer als eindeutige Überschreitung der vorgegebenen Grenzen und Ausdruck religiöser bzw. weltanschaulicher Intoleranz ansehen. Es fehlen also trennscharfe Abgrenzungskriterien, die dem Schutzgut des öffentlichen Friedens die notwendige Kontur verleihen. 209 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 285; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 105. Siehe auch BVerfGE 124, 300 (334) zum Rechtsgut des öffentlichen Friedens bei § 130 Abs. 4 StGB, wonach der „Schutz vor subjektiver Beunruhigung“ oder „die Wahrung von [. . .] sozialen oder ethischen Anschauungen“ keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertige; hierzu Hörnle, JZ 2010, 310 (312 f.). 210 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 22; dies., Grob anstößiges Verhalten, S. 102 ff. 211 Fischer, NStZ 1988, 159 (161 und 163); ders., GA 1989, 445 (451 f.). 212 Fischer, NStZ 1988, 159 (163 f.); ders., GA 1989, 445 (451). 213 Fischer, NStZ 1988, 159 (163); zustimmend Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 105 f. 214 Ähnlich Stumpf, GA 2004, 104 (109 ff.), der den öffentlichen Frieden als staatliches Kulturinteresse versteht, da Religionen und Weltanschauungen Teil der Verfassungskultur seien; ferner Waldhoff, S. D 161 ff. Vgl. auch BVerfGE 124, 300 (335) mit seinem Verständnis des öffentlichen Friedens als „Gewährleistung von Friedlichkeit“. 215 Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 22; Steinke, KJ 2008, 451 (453 f.). Fischer geht darüber sogar hinaus, indem er der objektiven Komponente des öffentlichen Friedens völlig die Berechtigung abspricht. Diese Ansicht basiert auf seinem Verständnis der Komponente als öffentliche Sicherheit, beschränkt auf den strafrechtlichen Bereich, und somit letzten Endes als Gesamtheit aller Strafnormen, Fischer, NStZ 1988, 159 (163 f.); ders., GA 1989, 445 (451); vgl. ferner Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 93 f.; Renzikowski, in: Gedächtnisschrift Meurer, S. 179 (187).
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Die Problematik offenbart sich ebenso in den Kriterien, welche die Rechtsprechung mitunter zur Subsumtion unter die Friedensschutzklausel heranzieht. Nach allgemeinen Grundsätzen eignet sich eine Äußerung dann, den öffentlichen Frieden zu stören, wenn sie das Vertrauen der Betroffenen in die Respektierung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen beeinträchtigen oder bei Dritten die Intoleranz gegenüber Anhängern des beschimpften Bekenntnisses fördern kann.216 Aufgrund dieses Ausgangspunkts stellen die Tatgerichte mitunter auf die Zusammensetzung des angesprochenen Empfängerkreises ab. Beispielsweise wurde die Eignung eines Artikels zur Störung des öffentlichen Friedens schon deshalb verneint, weil er in einer generell als kritisch angesehenen Zeitung veröffentlicht wurde, bei deren Leser keine erkennbare Gefahr der Förderung von Intoleranz bestehe.217 Umgekehrt wurde einer Äußerung friedensstörendes Potential beigemessen, wenn sie an zu Feindseligkeiten neigenden Personen gerichtet war.218 Der Rückgriff auf den konkreten Adressatenkreis, um das mögliche Maß der durch eine Äußerung geförderten Intoleranz zu bestimmen, ist nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, die vertrauensbeeinträchtigende Wirkung einer Bemerkung an den konkreten Betroffenen zu bemessen. Freilich erscheint allgemein anerkannt, den beschimpfenden Charakter einer Äußerung nicht nach der Reaktion der Anhänger des angegriffenen Bekenntnisses selbst zu beurteilen, sondern nach dem objektiven Urteil eines auf religiöse Toleranz bedachten Dritten.219 Gleichwohl zeigen Stellungnahmen aus der Rechtsprechung220 und der Politik221, wie nahe es liegt, die Sicht der Betroffenen zu berücksichtigen. Dies 216
Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 116. OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364) mit begrüßender Anmerkung Ott, kritisch dagegen Katholnigg, NStZ 1986, 555. Vgl. des Weiteren LG Bochum NJW 1989, 727 (728): Flugblatt an Studierende; LG Frankfurt am Main NJW 1982, 658 (659): Leser eines Satiremagazins; kritisch Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 22. 218 OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (241): Anhänger einer Punk-Band als Adressat; deutlich LG Göttingen NJW 1985, 1652 (1653): „daß solche Leute angesprochen werden sollten, die vornehmlich in Schlagworten zu denken bereit und in der Lage und außerdem für primitivierende Überzeugungsbildung aufgeschlossen sind. [. . .] Es werden von ihnen Haß und Verachtung geweckt oder gefördert, die bei dem erörterten zielbewußt angesprochenen Personenkreis mangels Fähigkeit oder Bereitschaft zu geistiger Auseinandersetzung leicht in strafbar feindselige Aktionen umschlagen können.“ 219 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 108. 220 Vgl. OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 238 (241): „Der Protest vieler Tausender katholischer Christen gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens [. . .] ist ein Indiz dafür, daß es zu einer Störung des öffentlichen Rechtsfriedens gekommen ist, daß die Protestierenden befürchten, vom Staat nicht mehr vor derart bösartigen Beschimpfungen ihres Bekenntnisinhalts geschützt zu werden.“ Zumindest missverständlich LG Düsseldorf NStZ 1982, 290 (291): „Dem katholischen Bevölkerungsteil kann nicht angesonnen werden, eine derartige Schmähung seines Glaubens hinzunehmen.“ 221 Die Änderungsvorschläge haben vielfach behauptet, das friedensstörende Potential einer Äußerung hänge davon ab, ob die Betroffenen zu gewalttätiger Selbsthilfe bereit seien, BR-Drucks. 367/86, S. 3 f.; BR-Drucks. 460/98, S. 2; BT-Drucks. 13/10666, 217
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bedeutete letztlich, von persönlichen Kriterien wie der Empfindlichkeit, Kritikfähigkeit und Gewaltbereitschaft der betroffenen Religions- oder Weltanschauungsangehörigen abhängig zu sein. Die gegen derartige Ansätze vorgetragenen berechtigten Einwände222 vermögen angesichts der Gefahr einer solchen Missdeutung kaum zu beruhigen. Zudem setzt der Wortlaut des § 166 StGB lediglich das friedensstörende Potential einer Äußerung voraus, ohne hierfür einen Bewertungsmaßstab vorzugeben. Einen weiteren Kritikpunkt an der objektiven Komponente der Friedensschutzklausel enthält das damit verbundene quantitative Korrektiv. Ob eine Äußerung den Zustand der Rechtssicherheit beeinträchtigt, bestimmt sich nach dem Konfliktpotential einer Äußerung, das mittelbar auch von der Mitgliederzahl der beschimpften Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung abhängt. Zwar besteht im Schrifttum Einigkeit darüber, dass einerseits der Begriff des Bekenntnisses im Sinne des Absatzes 1 auch das Bekenntnis eines Einzelnen erfasst223 sowie andererseits Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen im Sinne des Absatzes 2 keiner größeren Zahl von Mitgliedern bedürfen.224 Soweit ersichtlich war aber erst in einem einzigen Urteil, erlassen vom AG Lüdinghausen am 23. Februar 2006,225 mit dem Koran eine andere Religionsgesellschaft als die beiden christlichen Großkirchen der Bezugspunkt einer beschimpfenden Äußerung.226 Religiösen und weltanschaulichen Minderheiten wird demnach nicht derselbe Schutz zuteil wie den beiden christlichen Großkirchen. Die Sanktionierung religions- und weltanschauungskritischer Äußerungen schränkte demnach letztlich die Meinungsäußerungsfreiheit zugunsten von Mehrheiten ein. In einer Demokratie, deren Pluralismus nicht zuletzt dem Schutz von Minderheiten dient, stellt dies keine unbedenkliche Diagnose dar.
S. 4; BT-Drucks. 14/4558, S. 3; BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs; vgl. ferner BTDrucks. 14/8379, S. 4; Bosbach, DRiZ 2007, 73. 222 Fischer, NStZ 1988, 159 (164); vgl. ferner Beisel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 352; Bützler, Zur Verletzung weltanschaulicher und religiöser Bekenntnisse im deutschen Recht, S. 387 (394); Lüderssen, in: Festschrift Trechsel, S. 631 (642); Steinbach, JR 2006, 495 (499). 223 Dippel, LK, § 166 Rdn. 24; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 6; Fischer, GA 1989, 445 (467); Zipf, NJW 1969, 1944 (1944). 224 Dippel, LK, § 166 Rdn. 70; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 10; Schönke/ Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 20. 225 Az. 7 Ls 540 Js 1309/05 31/05, unveröffentlicht. 226 Vgl. Dippel, LK, § 166 Rdn. 24; Hilgendorf, SSW-StGB, § 166 Rdn. 19; Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 23; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, § 166 Rdn. 12 und 20, wonach eine Äußerung bei bloß wenigen Betroffenen nicht zur Friedensstörung geeignet sei; Schmitz, Straftaten gegen Religion und Weltanschauung, S. 71 f.; Bosbach, DRiZ 2007, 73. Ebenso kritisch Fischer, § 166 Rdn. 2b mit der Bewertung, dass „§ 166 in der Praxis seit jeher kaum dem Schutz der Häretiker vor der Mehrheit gedient hat, sondern dem Schutz der Mehrheit vor ihnen“; siehe des Weiteren Rudolphi/Rogall, SKStGB, § 166 Rdn. 18; Rottleuthner, Wie säkular ist die Bundesrepublik?, S. 13 (35).
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b) Reformgedanken aa) Streichung der Friedensschutzklausel Angesichts der vorstehenden Kritikpunkte an dem Rechtsgut und Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Friedens verwundert es zunächst nicht, dass der Großteil der in die Gesetzgebungsorgane eingebrachten Änderungsvorschläge für einen Verzicht auf die Friedensschutzklausel plädierte. So bemängelten die Entwürfe aus den Jahren 1986, (zweimal) 1998 und 2000 die Abhängigkeit der Norm von den möglichen Reaktionen der Angehörigen des beschimpften Bekenntnisses. Demnach reichten öffentliche Proteste und das Begehr strafgerichtlicher Verfolgung nicht aus, um einer Äußerung die notwendige Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens zu verleihen. Übergriffe, die Ausübung von Repressalien sowie friedensstörende Demonstrationen seien von Anhängern religiöser Bekenntnisse, insbesondere der großen christlichen Kirchen indessen nicht zu erwarten. Ihre religiösen und innersten Empfindungen blieben demnach selbst vor tiefgreifenden Verletzungen ungeschützt.227 Die Begründung verdeutlicht allerdings das Ziel dieser Vorschläge, nicht etwa die Kritikpunkte an der derzeitigen Ausgestaltung des § 166 StGB zu beseitigen. Vielmehr soll der Anwendungsbereich der Vorschrift ausgedehnt werden, weil nach deren aktueller Auslegung der Schutz religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen nicht mehr hinreichend gewährleistet sei.228 Die ersatzlose Streichung der Friedensschutzklausel brächte die Gefahr mit sich, im Wesentlichen zur früheren Rechtslage zurückzukehren und unter anderem bereits die öffentliche Gotteslästerung als solche mit Strafe zu sanktionieren. Da der Glaube an Gott den zentralen Bestandteil jeder Religion bildet, bedeutete seine Beschimpfung in der Regel die Beschimpfung des jeweiligen Bekenntnisses.229 Ob in der Praxis allein die Tathandlung des Beschimpfens als notwendiges Korrektiv ausreicht,230 dürfte angesichts des damit einhergehenden Auslegungsspielraums fraglich sein. Die einzigen beachtlichen Unterschiede zur ursprünglichen Fassung des § 166 StGB von 1871 blieben dann, zum einen auch sonstige religiöse Bekenntnisinhalte außer Gott zu erfassen sowie die 1969 eingeführte Gleichstellung von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen beizubehalten und ebenso weltanschauliche Überzeugungen zu schützen. 227
BR-Drucks. 367/86, S. 4; BT-Drucks. 13/10666, S. 4; BT-Drucks. 14/4558, S. 3. BR-Drucks. 367/86, S. 3; BT-Drucks. 13/10666, S. 4; BT-Drucks. 14/4558, S. 3. Kritisch gegenüber den Erweiterungsvorschlägen Fischer, § 166 Rdn. 2b und 14a; Heller/Goldbeck, ZUM 2007, 628 (640); Lüderssen, in: Festschrift Trechsel, S. 631 (635 ff.); Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (419); ders., Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, S. 31 (45); Renzikowski, in: Gedächtnisschrift Meurer, S. 179 (188). 229 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 91. 230 So will Fischer die von der Praxis bei der Friedensschutzklausel angesprochenen Aspekte bei der Intensität der Beschimpfung berücksichtigen, Fischer, § 166 Rdn. 14a; vgl. auch Dippel, LK, § 166 Rdn. 31; Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (418). 228
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Zugleich ginge mit dem beabsichtigten Verzicht auf die Friedensschutzklausel ein Wechsel des von § 166 StGB geschützten Rechtsguts einher. Die Urheber der Entwürfe bemerkten diesbezüglich zunächst, dass Schutzgut der geänderten Vorschrift „nicht nur der öffentliche Friede sei[n], sondern die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter“.231 Strafbar sei demnach die grobe Verletzung des Toleranzgebotes bei der Erörterung religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten. Mittelbar werde dadurch das religiöse Empfinden geschützt, wodurch ein geistiges Klima der gegenseitigen Intoleranz verhindert werden solle.232 Diese Ausführungen zum geschützten Rechtsgut erweisen sich jedoch zum Teil als unzutreffend. Denn der Verzicht auf die Friedensschutzklausel schließt den öffentlichen Frieden als Schutzgut der Norm von vornherein aus. Da er in den übrigen Tatbestandsmerkmalen nicht zum Ausdruck kommt, bleibt seine Gefährdung oder Beeinträchtigung bei der Anwendung der Norm außer Betracht.233 Nach den Entwurfsverfassern kommen somit als mögliche Rechtsgüter des § 166 StGB noch das Toleranzgebot bei der Erörterung religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten bzw. das angestrebte Klima gegenseitiger Toleranz in Frage. Allerdings ist zwischen dem Toleranzgebot als solchem und dem angestrebten Klima gegenseitiger Toleranz zu unterscheiden. Die Urheber der Änderungsvorschläge differenzieren insoweit nicht und nennen beide Interessen in einem Atemzug. Wer aber das Klima der Toleranz zum Schutzgut erhebt, vermag auch Handlungen unter Strafe zu stellen, die als solche nicht intolerant sind, gleichwohl einen solchen Anschein hervorrufen und schon dadurch ein tolerantes Klima gefährden. Ähnlich genügt nach aktueller Auslegung des § 166 StGB für die Eignung einer Äußerung, den öffentlichen Frieden zu stören, bereits die Gefahr, Intoleranz zu fördern.234 Der Schutz eines toleranten Klimas führte also letztlich dazu, wiederum persönliche Eigenschaften der Betroffenen, nunmehr in Gestalt ihrer Neigung zur Intoleranz, mittelbar bei der Auslegung der Norm zu berücksichtigen. Als potentielles Rechtsgut des geänderten § 166 StGB verbleibt somit die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter unter Wahrung eines Toleranzgebotes bei der Erörterung religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten. Eine solche Konzeption erscheint zwar nicht von vornherein ausgeschlossen und vermag gegebenenfalls zur notwendigen Objektivierung des 231
BR-Drucks. 367/86, S. 7; BR-Drucks. 460/98, S. 3. BR-Drucks. 367/86, S. 7; BR-Drucks. 460/98, S. 3; BT-Drucks. 13/10666, S. 6; BT-Drucks. 14/4558, S. 4. 233 Siehe sodann BT-Drucks. 13/10666, S. 6 und BT-Drucks. 14/4558, S. 4, wonach Schutzgut der Vorschrift „nicht mehr [Hervorhebung durch den Verfasser] der öffentliche Friede sei[n], sondern die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Toleranzgebotes“. 234 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 116. 232
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Rechtsguts beizutragen. Der Begriff der „Toleranz“ erweist sich indes als äußerst vieldeutig235 und eignet sich nicht in jeder möglichen Interpretation als strafrechtliches Schutzgut. Die Befürworter eines Verzichts auf die Friedensschutzklausel begreifen Toleranz ersichtlich allein aus der Sicht der Anhänger des beschimpften Bekenntnisses. So seien ihre religiösen und innersten Empfindungen selbst vor tiefgreifenden Verletzungen nicht geschützt.236 Ferner wiesen sie „zu Recht“ darauf hin, ihnen könne nicht zugemutet werden, zu friedensstörenden Mitteln zu greifen, um Schutz vor gröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle zu genießen.237 Der häufige Rückgriff auf das religiöse Empfinden der Betroffenen verdeutlicht, dass Toleranz hier nicht als gegenseitiges Prinzip, sondern als einseitige Rücksichtnahme gegenüber den Gefühlen der Angehörigen religiöser Bekenntnisse verstanden wird.238 Zumindest in dieser Variante stellt Toleranz kein taugliches Schutzgut einer strafrechtlichen Norm dar. Gefühle des Einzelnen lassen sich nicht einfach dadurch zum Schutzgut erheben, indem ein – lediglich scheinbar objektives – Toleranzgebot formuliert wird, das gerade diese Gefühle zum Gegenstand hat. Die vorgetragene Achtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter sowie das Toleranzgebot bei der Erörterung religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten entpuppen sich aus diesem Blickwinkel als nichts anderes als ein Deckmantel für den Schutz religiösen Empfindens. Religiöse Gefühle werden also sogar unmittelbar und nicht nur mittelbar geschützt, wie die Entwürfe annehmen.239 Ein solches Rechtsgut ist aber nach den oben dargelegten Bedenken abzulehnen.240 bb) Gesetzliche Auslegungshilfe für den öffentlichen Frieden Der jüngste Gesetzesantrag des Freistaates Bayern zur Änderung des § 166 StGB vom Oktober 2007 verzichtet auf die Streichung der Friedensschutzklausel. Stattdessen soll § 166 StGB um einen Absatz 3 erweitert werden, der dem Rechtsanwender zwar keine Legaldefinition,241 jedoch eine „gesetzliche Auslegungshilfe“ 242 an die Hand gebe. Darüber hinaus sieht der Entwurf vor, die Tathandlung des Beschimpfens durch die neuen Tatmodalitäten des Herabwürdigens 235
Vgl. dazu Renzikowski, in: Gedächtnisschrift Meurer, S. 179 (181 ff.). BR-Drucks. 367/86, S. 4; BT-Drucks. 13/10666, S. 4; BT-Drucks. 14/4558, S. 3. 237 BR-Drucks. 367/86, S. 4; BR-Drucks. 460/98, S. 2; BT-Drucks. 13/10666, S. 5; BT-Drucks. 14/4558, S. 3; vgl. ferner BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs. 238 Kritisch ebenso Fischer, NStZ 1988, 159 (164 f.); Lüderssen, in: Festschrift Trechsel, S. 631 (640). 239 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 232. 240 Siehe Teil 5 Kap. 9 II. 2. a) bb). 241 BR-Drucks. 683/07, S. 4 des Entwurfs. 242 BR-Drucks. 683/07, S. 1. 236
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und des Verspottens zu ersetzen. Dementsprechend soll § 166 StGB nunmehr die amtliche Überschrift „Herabwürdigen von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ erhalten. Indem der Änderungsvorschlag an der Friedensschutzklausel und somit an dem Rechtsgut des öffentlichen Friedens festhält, erübrigen sich Ausführungen zur soeben aufgezeigten Problematik. Allerdings trägt der Entwurf nicht dazu bei, dem Rechtsgut die nach wie vor fehlende Kontur zu verleihen und den Anwendungsbereich der Norm unabhängiger von den persönlichen Eigenschaften der Betroffenen zu gestalten. Vielmehr weist die vorgesehene Auslegungshilfe in dem neu einzufügenden Absatz 3 in die entgegengesetzte Richtung. Demnach ist eine Tat „bereits dann zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet, wenn nach den Umständen zu besorgen ist, der Angriff werde das Vertrauen in die Fortdauer des Friedenszustandes erschüttern. Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn die Tat das Vertrauen der Betroffenen in die Achtung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung beeinträchtigen oder bei Dritten die Bereitschaft zur Intoleranz gegenüber dem Bekenntnis, der Religionsgesellschaft oder der Weltanschauungsvereinigung fördern kann.“ Indem der Entwurf das „Vertrauen in die Fortdauer des Friedenszustandes“ (Satz 1) bzw. das „Vertrauen der Betroffenen in die Achtung ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung“ (Satz 2) in den Vordergrund stellt, betont er gerade die subjektive Komponente des öffentlichen Friedens. Dies geht mit dem Ziel der Urheber des Antrags einher, eindeutig zum Ausdruck zu bringen, dass die Strafbarkeit schon dann eintrete, wenn die Anhänger des herabgewürdigten Bekenntnisses befürchten müssten, vom Staat nicht mehr vor bösartigen Angriffen auf ihren Bekenntnisinhalt geschützt zu werden.243 Auf das objektive Element des öffentlichen Friedens in Gestalt des tatsächlichen Zustands von Rechtssicherheit und eines gemeinsamen Lebens frei von Furcht geht der Entwurf hingegen in der vorgesehenen Auslegungshilfe nur mit dem Hinweis auf die Förderung der Bereitschaft Dritter zur Intoleranz am Ende von Satz 2, in der Begründung hierzu überhaupt nicht ein.244 Infolge dieser Schwerpunktsetzung bedeutete die Realisierung des Entwurfs, der Empfindlichkeit der Angehörigen des herabgewürdigten Bekenntnisses als Auslegungsfaktor bei der Geeignetheit einer Äußerung, den öffentlichen Frieden zu stören, ein größeres Gewicht als bisher einzuräumen. Die zunehmende Abhängigkeit von einem solchen subjektiven Kriterium erhöhte aber die Rechtsunsicherheit im Vergleich zur bestehenden Fassung, die sich wegen des Rückgriffs unter anderem auf persönliche Eigenschaften wie die Empfindlichkeit oder die Gewaltbereitschaft der Betroffenen ohnehin nicht durch eine feste Kontur aus-
243 244
BR-Drucks. 683/07, S. 3 des Entwurfs. Vgl. BR-Drucks. 683/07, S. 4 des Entwurfs.
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zeichnet. Bereits aus diesem Grund bleibt der Vorschlag einer solchen Neufassung abzulehnen.245 Generell krankt der Entwurf wie seine Vorgänger daran, die angestrebte Toleranz nicht als gegenseitiges Prinzip, sondern als einseitige Rücksichtnahme gegenüber den Betroffenen religions- und weltanschauungskritischer Äußerungen zu begreifen. Dies verdeutlicht die Begründung des Entwurfs, die lediglich die Argumente zu den vorherigen Änderungsvorschlägen knapp zusammenfasst und wiederum die Reaktionen der Betroffenen sowie deren Schutz vor gröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle erwähnt.246 Ob und inwieweit in einer pluralistischen Gesellschaft ein offener Meinungsaustausch gerade erwünscht ist und daher auch den Betroffenen grundsätzlich Toleranz abverlangt, wird nicht erörtert. Stattdessen begnügt sich der Gesetzesantrag mit dem simplen Hinweis auf die Grundrechte der Meinungs- und Kunstfreiheit, die bei der Abwägung im Einzelfall zu berücksichtigen seien und der Überdehnung der Strafbarkeit entgegenstünden.247 Das hier anklingende Verständnis der Meinungs- und Kunstfreiheit als Grenze für religions- und weltanschauungskritische Äußerungen übersähe, dass die Meinungsfreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft den Grundsatz, die Strafbarkeit unliebsamer Äußerungen hingegen die Ausnahme bildet. Weitere Bedenken bereitet die geplante Ausweitung des Anwendungsbereichs der Vorschrift, indem das Beschimpfen durch die Tatmodalitäten des Herabwürdigens und des Verspottens ersetzt werden soll. Zwar erscheint es noch vertretbar, das Herabwürdigen als neue Tathandlung aufzunehmen. Die vom Entwurf vorgeschlagene Definition, wonach jede Äußerung strafrechtlich von Bedeutung sein soll, die ein Bekenntnis bzw. eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft als der Achtung unwert bzw. unwürdig darstellt,248 ginge jedoch zu weit. Vor allem gegenüber Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, wäre eine restriktive Auslegung erforderlich, um die inhaltliche Auseinandersetzung nicht zu gefährden. Anhaltspunkte hierfür könnten etwa der Behandlung der Schmähkritik bei Ehrverletzungen im öffentlichen Diskurs entnommen werden. Das Verspotten eignet sich schließlich überhaupt nicht als Tathandlung des § 166 StGB. Hiergegen spricht bereits die Unbestimmtheit des Merkmals, das nach den Verfassern des Entwurfs verwirklicht wäre, wenn „das Bekenntnis, die Religionsgesellschaft oder die Weltanschauungsvereinigung auf verwerfliche Weise ins Lächerliche gezogen werden“.249 Wann eine Äußerung etwas ins Lächerliche zieht, und dies noch auf verwerfliche Weise, ist für den Rechtsunter245 246 247 248 249
Ebenso kritisch Steinke, KJ 2008, 451 (457). BR-Drucks. 683/07, S. 2 des Entwurfs. BR-Drucks. 683/07, S. 3 f. des Entwurfs. BR-Drucks. 683/07, S. 3 des Entwurfs. BR-Drucks. 683/07, S. 3 des Entwurfs.
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worfenen kaum vorhersehbar und hängt maßgeblich von der Beurteilung des erkennenden Gerichts ab. Die Folge wäre eine nicht zu rechtfertigende Rechtsunsicherheit, die dazu führte, dass zulässige Äußerungen infolge der unklaren Rechtslage ebenso unterblieben. Bei der praktischen Umsetzung der vorgeschlagenen Neufassung wäre zudem eine Auslegung der Norm zulasten von Minderheiten zu befürchten.250 Nach alledem bleibt der jüngste Gesetzesantrag zur Änderung des § 166 StGB vom Oktober 2007 gleichfalls abzulehnen. cc) Personalisiertes Rechtsgut Ein anderer Ansatz bei der Suche nach einem Rechtsgut und einer neuen Fassung des § 166 StGB besteht darin, den Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung zu personalisieren und beleidigungsähnlich auszugestalten. So sieht Pawlik als einzigen Weg, dem Delikt noch zu seiner Existenzberechtigung zu verhelfen, es als Straftat gegen die Person zu formulieren.251 Dies erscheine möglich, da die Achtungswürdigkeit einer Person von ihren Handlungsmaximen und ihren sonstigen höherstufigen Persönlichkeitsprägungen nicht zu trennen sei. Wer also die Normen, an denen ein anderer sein Leben ausrichte, ins Lächerliche ziehe, verspotte diesen selbst. Wer darüber hinaus beschimpfe, was einem anderen heilig sei, beschimpfe diesen selbst und nicht allein dessen Bekenntnis.252 Mit anderen Worten: „Dem anderen gebührt Respekt nicht nur in dem, was er hat, sondern auch in dem, was er ist: in seinem Status als selbstzweckhafte Person, die sich zwar in Handlungen objektiviert [. . .], aber nicht in ihren Handlungen aufgeht“.253 Demnach sei die Bekenntnisbeschimpfung ein beleidigungsähnliches Delikt, bei dem der Täter die Lebensgrundlage der Angehörigen des angegriffenen Bekenntnisses nicht mit dem notwendigen Mindestmaß an Fairness behandele.254 Die Berechtigung als selbstständige Norm erfahre ein derart verstandener § 166 StGB, weil das Beleidigungsstrafrecht im engeren Sinne in erster Linie abfällige Äußerungen über individuelle Besonderheiten des Betroffenen erfasse, nicht jedoch die religiöse oder weltanschauliche Grundhaltung, durch die sich der Einzelne in eine bestehende Gesinnungsgemeinschaft einordne. Außerdem richteten sich Angriffe auf Bekenntnisse zumeist gegen die Glaubensgesellschaf250
Fischer, § 166 Rdn. 12. Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (419). 252 Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (421); ders., Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, S. 31 (49); ähnlich schon Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 139 f.; vgl. ferner Stratenwerth, in: Festschrift Lenckner, S. 377 (386); kritisch Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, S. 297 f.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 350 ff.; Steinke, KJ 2008, 451 (455). 253 Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (426), Hervorhebungen im Original. 254 Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (421). 251
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ten selbst und nicht gegen ihre einzelnen Mitglieder. Ein Schutz des Individuums vor Ehrverletzungen nach den §§ 185 ff. StGB komme daher in der Regel nicht in Betracht.255 Dass die Beschimpfung von Bekenntnissen demnach unter Strafe gestellt werden dürfe, bedeute allerdings nicht, sie unter Strafe stellen zu müssen. Derartige Straftatbestände zählten ebenso wenig wie ein extensiver Beleidigungsschutz zum Kernbestand eines modernen, säkularen Strafrechts und seien vielmehr verzichtbar.256 Gegen eine individuelle Ausgestaltung des Rechtsguts des § 166 StGB spricht, nicht allein wegen der Bedeutung von Religion und Weltanschauung für den Einzelnen schon jede Beschimpfung eines Bekenntnisses als Angriff auf den Einzelnen interpretieren zu können. Vor allem wenn sich eine Äußerung nicht gegen das Bekenntnis, sondern gegen eine Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung richtet, geht mit ihr nicht automatisch eine Missachtung jedes ihrer Mitglieder einher. Da sich die Auslegung einer Äußerung nach dem objektiven Empfängerhorizont und nicht nach der Sicht des Betroffenen bestimmt, gilt dies selbst dann nicht, wenn sich der Einzelne vollständig mit seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung identifiziert und jeden Angriff auf sein Bekenntnis persönlich nimmt. Daher ist wie folgt zu differenzieren: Soweit sich einer besonders verletzenden Bemerkung tatsächlich die Missachtung eines Einzelnen entnehmen lässt, sich also eine Beschimpfung sowohl gegen ein Bekenntnis als auch gegen die Bekennenden bzw. sowohl gegen eine Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung als auch gegen ihre Mitglieder wendet, sind (ebenso) die Ehrverletzungsdelikte einschlägig. Hält man den Schutz des einzelnen Ehrträgers hier für unzureichend, wenn er lediglich mittelbar unter einer Kollektivbezeichnung beleidigt wird, muss generell für eine Änderung deren Voraussetzungen plädiert werden; für den Rückgriff auf einen Sondertatbestand ausschließlich bei Äußerungen mit einem religions- oder weltanschauungsbezogenen Inhalt gibt es kein Bedürfnis. Bei dem Rekurs auf ein personalisiertes Rechtsgut wäre nämlich wiederum unbeachtlich, welchen Stellenwert Religion und Weltanschauung im gesellschaftlichen Leben einnehmen; entscheidend bleibt allein, worin der Einzelne seine Erfüllung und seine persönliche Identifikation findet. Richtet sich eine Bemerkung hingegen nicht gegen den Einzelnen, besteht weder die Notwendigkeit noch die Berechtigung, an ihn anzuknüpfen, um ein von mehreren geteiltes Bekenntnis oder eine Gemeinschaft mit mehreren Mitgliedern zu schützen. Verneint man die Möglichkeit, einem Bekenntnis als solchem oder einer Religionsgesellschaft bzw. Weltanschauungsvereinigung ein überindividuelles Rechtsgut wie beispielsweise den öffentlichen Frieden zuzusprechen, muss 255 Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (422 f.); ders., Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, S. 31 (52). 256 Pawlik, in: Festschrift Küper, S. 411 (427).
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
vielmehr daraus geschlossen werden, sie überhaupt nicht mit strafrechtlichen Mitteln schützen zu können. dd) Religiöse und weltanschauliche Toleranz als Schutzgut? (1) Gebot der Toleranz im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme Da demnach nicht sinnvoll erscheint, auf ein Individualinteresse der Angehörigen des beschimpften Bekenntnisses abzustellen, verbleibt lediglich der Rückgriff auf ein hinreichend objektiviertes Rechtsgut der Allgemeinheit. Unter Anknüpfung an die Begründung der zahlreichen Erweiterungsvorschläge des § 166 StGB und unter Fortführung der dazu abgegebenen Stellungnahme257 ist zu erwägen, das Toleranzgebot bei der Erörterung religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten zum Schutzgut der Vorschrift zu erheben. Der Begriff der Toleranz bringt den Vorteil mit sich, einen objektiven Maßstab für die Diskussion in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu gewähren, der nicht zuletzt unabhängig von der Mitgliederzahl der betroffenen Religionsgesellschaft bzw. Weltanschauungsvereinigung Geltung erfährt. Wie bereits ausgeführt, darf Toleranz in diesem Zusammenhang indes nicht als einseitige Rücksichtnahme auf einen anderen definiert werden. Dies hätte zur Folge, allein das zu bewahren, worauf Rücksicht genommen werden soll. Der Rückgriff auf ein strafrechtlich bewehrtes Gebot der Toleranz würde demnach bloß verschleiern, dass die dadurch geschützten Interessen des Einzelnen das eigentliche Rechtsgut der jeweiligen Strafvorschrift verkörpern. So bedeutete etwa die von den Änderungsvorschlägen befürwortete Toleranz, verstanden als Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle der Angehörigen des beschimpften Bekenntnisses, letztlich nur, wiederum die bloße Verletzung religiösen Empfindens zu bestrafen. Um überhaupt als strafrechtliches Schutzgut in Betracht zu kommen, muss Toleranz demnach als etwas Gegenseitiges verstanden werden, d. h. als rücksichtsvoller Umgang bei dem notwendigen Ausgleich zwischen verschiedenen kollidierenden Interessen. Für die Vorschrift des § 166 StGB bedeutete dies, weder das religiöse Empfinden der Angehörigen des beschimpften Bekenntnisses einerseits noch die Interessen des Beschimpfenden andererseits zu schützen. Rechtsgut wäre vielmehr eine Handlungsmaxime, die es bei dem Aufeinandertreffen der widerstreitenden Interessen zu beachten gilt und die auf Dauer ein friedliches und tolerantes Zusammenleben gewährleisten soll.258 Bei einem in diesem Sinne 257
Siehe oben Teil 5 Kap. 9 II. 2. b) aa) und bb). Ähnlich Fischer, § 166 Rdn. 2a, der „die Verpflichtung zu einem gesellschaftsverträglichen Mindestmaß an verhaltensleitender [Hervorhebung im Original] Toleranz [. . .] sowie ein Verbot [. . .], soziale Gruppen mit abweichenden Bekenntnissen in aggres258
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interpretierten Toleranzbegriff wären beschimpfende Äußerungen demzufolge lediglich dann strafbar, wenn sie den vorgegebenen Rahmen für den Diskurs über religiöse und weltanschauliche Angelegenheiten verließen. Fraglich ist nun, ob und gegebenenfalls wie sich ein solches Gebot gegenseitiger Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Fragen259 und somit auch die Leitlinien für den im Grundsatz offenen Meinungsaustausch näher bestimmen lassen.260 Wer auf die Sicht der Angehörigen der beschimpften Bekenntnisse bzw. Religionen und Weltanschauungen abstellt, gelangt zu einer niedrigen Strafbarkeitsschwelle, weil die Betroffenen einer beschimpfenden Äußerung naturgemäß das Maß der erforderlichen Toleranz zu ihren Gunsten verschieben werden. Auf diesem Weg ließe sich sogar die Strafbarkeit blasphemischer oder religionskritischer Bemerkungen erwägen. Jedenfalls würde dadurch wiederum die Empfindlichkeit der Anhänger des betroffenen Bekenntnisses als subjektives Kriterium berücksichtigt, obwohl es sich bei dem Toleranzgebot um ein überindividuelles Rechtsgut handelt. Ebenso wenig vermag aber die Perspektive des Beschimpfenden den Ausschlag zu geben, da dadurch dessen – im Einzelfall vielgestaltigen – Interessen einseitig bei der Bestimmung der Reichweite des Rechtsguts bevorzugt würden. Es empfiehlt sich deshalb, das Toleranzgebot unabhängig von den Interessen der Beteiligten zu konkretisieren. In einer demokratischen Gesellschaft bietet sich für die Regulierung des Meinungsaustauschs eine pluralistische Betrachtungsweise an. Demnach setzt der strafrechtliche Schutz einer Vorschrift wie des § 166 StGB erst dann ein, wenn die betreffende Äußerung selbst unter Beachtung des in einem pluralistischen Staat unentbehrlichen Meinungsaustauschs die anerkannten Grenzen überschreitet. So könnte in Anknüpfung an die Grundsätze zur Schmähkritik261 das Toleranzgebot in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten als beeinträchtigt angesehen werden, wenn es der Äußerung allein auf die Verletzung des Bekenntnisses oder der sonstigen Tatobjekte ankommt und eine inhaltliche Auseinandersetzung völlig in den Hintergrund tritt. In diesem Fall trägt eine Bemerkung nicht mehr dazu bei, den freien Meinungsaustausch zu fördern, und muss demnach nicht von rechtlichen Folgen freigestellt werden. siver, letztlich Gewalt fördernder Weise auszugrenzen“, als Schutzgut der Vorschrift begreift, um ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft zu ermöglichen. 259 Zum Verfassungsrang des Toleranzgebots in der pluralistischen Gesellschaft BVerfGE 32, 98 (109); 41, 29 (51); 47, 46 (77); 52, 223 (251); zum Toleranzprinzip bei Meinungsfreiheit und Ehrenschutz Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873 (876 ff.). 260 Kritisch daher Hilgendorf, in: Religions- und Weltanschauungsrecht, Rdn. 474; Lüderssen, in: Festschrift Trechsel, S. 631 (639); Renzikowski, in: Gedächtnisschrift Meurer, S. 179 (187). 261 Siehe hierzu BVerfGE 82, 272 (284); 93, 266 (294); NJW 2003, 3760 (3760); NStZ 2006, 31 (31); BayObLG NJW 2000, 3079 (3080); KG NJW 2003, 685 (687); Fischer, § 193 Rdn. 18; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 193 Rdn. 16; Valerius, BeckOK-StGB, § 193 Rdn. 34.
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Die Anknüpfung an pluralistische Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft hätte zum einen den Vorteil, allgemeinverbindliche Kriterien zum objektiven Maßstab des Meinungsaustauschs zu erklären, die sich losgelöst von der im Einzelnen diskutierten Materie ergäben. Dies verringerte die Gefahr, allein wegen der Brisanz der jeweiligen Thematik die Meinungsäußerungsfreiheit als die freiheitlich-demokratische Grundordnung schlechthin konstituierendes Grundrecht262 voreilig einzuschränken. Vielmehr bildete gerade die Gewährleistung der ständigen geistigen Auseinandersetzung die Richtschnur, um das objektive Toleranzgebot in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu ermitteln. Die Orientierung an dem pluralistischen Element stellte zudem sicher, Toleranz nicht einseitig als bloße Rücksichtnahme auf die Gefühle der von religionsund weltanschauungskritischen Äußerungen Betroffenen zu verstehen. Dies unterstriche die Bedeutung des Toleranzgebots als gegenseitiges Prinzip, bei dem Urheber und Betroffener einer kritischen Bemerkung aufeinander Rücksicht nehmen und sich dem freien und offenen Austausch von Meinungen gegenüber selbst bei solchen Themen aufgeschlossen zeigen, welche die persönliche Überzeugung des Einzelnen tangieren.263 Dadurch würde zum einen verhindert, persönliche Eigenschaften wie die Empfindlichkeit oder mangelnde Kritikfähigkeit der Angehörigen einer Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung bei der Auslegung des § 166 StGB zu beachten. Zugleich würde allen Beteiligten verdeutlicht, allein Art und Weise einer Beschimpfung zum Anlass für deren strafrechtliche Verfolgung zu nehmen, nicht hingegen den Inhalt der Kritik wegen ihres religiösen oder weltanschaulichen Bezugs.264 Einen objektiven pluralistischen Maßstab heranzuziehen, ermöglichte nicht zuletzt, Äußerungen unabhängig von der im Einzelfall betroffenen Religions- oder 262 BVerfGE 7, 198 (208); 20, 56 (97); vgl. ferner EGMR NJW 2006, 3263 (3264) – I.A./Türkei; NVwZ 2007, 314 (315) – Aydin Tatlav/Türkei: „Die Freiheit der Meinungsäußerung ist einer der wesentlichen Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft, eine der wichtigsten Voraussetzungen für ihren Fortschritt und die Entfaltung einer jeden Person“; siehe ebenso EGMR NJW 1999, 1315 (1316) – Fressoz und Roire/ Frankreich; NVwZ 2007, 313 (313) – Odabasi und Koçak/Türkei. 263 Vgl. EGMR NVwZ 2007, 314 (315) – Aydin Tatlav/Türkei: „Pluralismus, Toleranz und offene Geisteshaltung kennzeichnen eine ,demokratische Gesellschaft‘ [. . .], und die, welche die Freiheit ausüben, ihre Religion zu bekennen, ob sie nun zur religiösen Mehrheit oder zu einer religiösen Minderheit gehören, können vernünftigerweise nicht erwarten, das geschützt gegen jede Kritik zu tun. Sie müssen die Ablehnung ihrer religiösen Vorstellungen durch andere und selbst die Verkündung von Lehren tolerieren und hinnehmen, die ihren Glauben anfeinden“; siehe des Weiteren EGMR NJW 2006, 3263 (3264) – I.A./Türkei. 264 Deutlich Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, S. 11 (25): „Es bedarf gerade angesichts der mittlerweile inflationär gewordenen Rede davon, man sei durch bestimmte Vorgänge oder Ereignisse in seinen Gefühlen, seiner Ehre, seiner religiösen Überzeugung oder was oder wem auch immer gekränkt oder verletzt, der Erinnerung daran, daß niemand einen Anspruch darauf hat, bestimmte ihm lästige oder widerwärtige Dinge nicht zu sehen oder zur Kenntnis nehmen zu müssen.“
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Weltanschauungsgemeinschaft strafrechtlich zu bewerten. Über die Strafbarkeit einer Beschimpfung entschiede demnach ausschließlich die Verletzung des gegenseitigen Toleranzgebots. Erheblich wäre dagegen weder, ob die Angehörigen der Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung friedlich wären oder zu Gewalttätigkeiten neigten, noch ob die Äußerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten beträfe, deren Mitgliederzahl für eine Störung des öffentlichen Friedens von vornherein zu gering erschiene. Der dadurch eingeleitete Funktionswechsel des § 166 StGB vom aufgezeigten faktischen Schutz nur von Mehrheiten hin zum mittelbaren Schutz ebenso von Minderheiten wäre gerade in einer pluralistischen Demokratie von enormer Bedeutung und könnte der Strafnorm eine neue Berechtigung verleihen. (2) Rückgriff auf das Strafrecht zur Bekämpfung unliebsamer Äußerungen? All dies setzt jedoch voraus, in einem demokratisch-pluralistischen Staat überhaupt einzelne Äußerungen mit den Mitteln des Strafrechts ahnden zu dürfen. Generell erscheint es nicht unproblematisch, dem freien Kampf der Meinungen hoheitliche und gegebenenfalls strafrechtlich bewehrte Grenzen aufzuzeigen. Vielmehr obliegt es der Gesellschaft, in einer couragierten und engagierten Auseinandersetzung eine Äußerung als in Inhalt oder Form ihres Vortrags unliebsam zu disqualifizieren. Ein Rückgriff auf das Strafrecht birgt zudem die Gefahr in sich, außer den als strafwürdig erachteten Äußerungen auch willkommene und dem Meinungsaustausch förderliche Beiträge zu unterbinden. Schließlich vermag allein die Furcht vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit seinen sämtlichen rechtlichen und außerrechtlichen Konsequenzen den Einzelnen von der Beteiligung an der öffentlichen Diskussion abzuhalten.265 Dementsprechend sind jedenfalls Strafvorschriften, welche die Beschneidung der Meinungsfreiheit mit dem Schutz von Rechtsgütern der Allgemeinheit begründen, ein nicht unumstrittener Fremdkörper in einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung.266 Dies gilt außer für die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen gemäß § 166 StGB unter anderem für die Volksverhetzung gemäß § 130 StGB, dort vor allem für die Strafbarkeit der Auschwitzleugnung nach Absatz 3267 sowie für die Billi265
Siehe bereits die Nachweise in Teil 5 Fn. 180. Dazu statt vieler Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, S. 35 ff. und 65 ff. 267 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rdn. 41 f. unter Verweis auf den Symbolcharakter des Gesetzes; Beisel, NJW 1995, 997 (1000); Kühl, Auschwitz-Leugnen als strafbare Volksverhetzung?, S. 103 ff. (insbesondere 113 ff.). Zur Diskussion Fischer, § 130 Rdn. 24 ff.; H. Ostendorf, NK, § 130 Rdn. 8, der Äußerungsdelikte als „Thermometer für den Wert ,freie Meinungsäußerung‘“ erachtet und bemerkt, dass „die strafrechtliche Verfolgung häufig ein Alibiersatz für die fehlende politische Auseinandersetzung“ sei; von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, S. 208 ff.; Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, S. 73 ff.; Körber, Rechtsradikale Propaganda im Internet, S. 86 ff.; Wandres, Die 266
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Teil 5: Schutz kultureller Wertvorstellungen durch das Strafrecht
gung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft in Absatz 4.268 Darüber hinaus wird teilweise sogar der Schutz von Individualrechtsgütern in Frage gestellt; einzelne Stimmen ziehen etwa aus den vorstehenden Gründen die Berechtigung der Ehrverletzungsdelikte der §§ 185 ff. StGB in Zweifel.269 Die strafrechtliche Realität in Deutschland sieht aber nach wie vor anders aus, wie die genannten Normen sowie weitere ähnliche Strafvorschriften belegen. Vornehmlich das im Ersten Abschnitt des Besonderen Teils kodifizierte Staatsschutzstrafrecht belegt das Konzept der wehrhaften Demokratie, das der Gesetzgeber verfolgt270 und in dessen Rahmen er mitunter das Strafrecht bemüht.271 Schutzgut der Vorschriften der §§ 80 ff. StGB ist die durch das Grundgesetz konkretisierte freiheitlich-demokratische Grundordnung.272 Das wohl größte Augenmerk in Wissenschaft und Praxis wird hierbei dem Delikt des § 86a StGB zuteil, der das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bestraft, um die verfassungsmäßige Ordnung sowie den politischen Frieden in der Bundesrepublik Deutschland zu schützen und schon den Anschein einer Wiederbelebung verfassungswidriger Organisationen zu unterbinden.273 Das dadurch Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 275 ff.; Bertram, NJW 2005, 1476 (1477 f.); Brugger, AöR 128 (2003), 372 (396 ff.); Köhler, NJW 1985, 2389 ff.; H. Ostendorf, NJW 1985, 1062 ff.; rechtsvergleichend Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 142 ff. Zu europäischen Gesetzgebungsbemühungen siehe Teil 3 Fn. 478; zur Vereinbarkeit der strafrechtlichen Bewehrung der Holocaust-Leugnung mit Art. 10 EMRK EGMR NJW 2004, 3691 (3692 f.) – Garaudy/Frankreich; vgl. ferner EGMR HRRS 2006, Nr. 655 Rdn. 40 ff. – Witzsch/Deutschland. 268 Nach BVerfGE 124, 300 (321 ff.) handelt es sich bei § 130 Abs. 4 StGB nicht um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, sondern um ein „Sonderrecht zur Abwehr von speziell solchen Rechtsgutverletzungen, die sich aus der Äußerung einer bestimmten Meinung, nämlich der Gutheißung der nationalsozialistischen Gewaltund Willkürherrschaft, ergeben“ (326). Für Bestimmungen, die solchen Äußerungen Grenzen setzten, sei Art. 5 Abs. 1 und 2 GG jedoch eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent (327 f.); zustimmend Degenhart, JZ 2010, 306 (310); siehe auch Lepsius, Jura 2010, 527 (532 f.). 269 Kargl, in: Festschrift E. A. Wolff, S. 189 (223); Kubiciel/Winter, ZStW 113 (2001), 305; vgl. ferner den Gesetzentwurf der Fraktion Die Grünen vom 3. 11. 1987, BT-Drucks. 11/1040, S. 7, der ihr Bestreben ankündigt, die Beleidigung nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. 270 Vgl. dazu Laufhütte/Kuschel, LK, Vor § 80 Rdn. 21 ff.; Thiel, Die „wehrhafte Demokratie“ als verfassungsrechtliche Grundentscheidung, S. 1 ff. 271 Eingehend zur Geschichte des Staatsschutzstrafrechts in Deutschland Schroeder, Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, S. 7 ff. 272 Laufhütte/Kuschel, LK, Vor § 80 Rdn. 20. 273 BGHSt 25, 30 (33); 25, 128 (130); 47, 354 (358); 51, 244 (246); BGH NJW 2005, 3223 (3225); Laufhütte/Kuschel, LK, § 86a Rdn. 1; Schönke/Schröder/SternbergLieben, § 86a Rdn. 1. Zum problematischen Rechtsgut der Vorschrift Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 267 ff.; kritisch gegenüber der Geeignetheit der Norm zum Schutz vor propagandistischer Verbreitung verfassungsfeindlichen Gedankenguts Deiters, Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das Strafrecht, S. 291 (325): „rechtspolitisch verfehlt“.
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errichtete „kommunikative Tabu“ 274 erfasst infolge der undifferenzierten Ausgestaltung der Norm indes ureigenste demokratische Bewegungen und Kundgebungen. Es bedurfte daher einer tatbestandlichen Restriktion durch die Rechtsprechung.275 Zwar wäre es ein Zeichen einer vom Volk vorbehaltlos getragenen pluralistischen Demokratie, wenn ein Rückgriff auf solche Vorschriften nicht notwendig erschiene. Kann von einer solchen Verinnerlichung und Durchsetzungskraft des demokratischen Prinzips jedoch (noch) nicht ausgegangen werden, obliegt es dem Gesetzgeber zu bestimmen, ob eine Auseinandersetzung unter Rückgriff auf das Strafrecht oder mit rein politischen Mitteln erfolgt.276 Für § 166 StGB im Speziellen haben vor allem die gravierenden Reaktionen und gewalttätigen Auseinandersetzungen im Karikaturenstreit277 vermehrt die Frage aufgeworfen, ob sich der Gesetzgeber hier wirklich guten Gewissens zurückziehen und einen so gewichtigen Aspekt allein der gesellschaftlichen Diskussion überlassen darf.278 Aussagekräftige Indikatoren dafür, wie nahe eine Bevölkerung dem Idealbild der selbstregulierenden Gesellschaft kommt bzw. wie entfernt sie sich noch davon befindet, bilden ihre Haltung und ihr Bewusstsein gegenüber ihren eigenen Freiheiten und den damit verbundenen Pflichten. Insbesondere bei religionskritischen Äußerungen in den Medien wie den Mohammed-Karikaturen bleibt indes zu beobachten, dass die Diskussion zumeist auf eine schlichte Gegenüberstellung der Pressefreiheit einerseits und religiöser Gefühle andererseits reduziert wird, als wäre eine derartige Vereinfachung der Gleichung in der Lage, jegliche aufgebrachte oder erboste Reaktion zu vermeiden und das friedliche Zusammenleben wieder zu sichern. Die Zuspitzung auf einen solchen Konflikt vermittelt den Eindruck, Pressefreiheit und religiöse Gefühle seien von vornherein nicht miteinander zu vereinbaren und eine Gesellschaft vermöge nicht beide Interessen zugleich zu schützen, sondern müsse sich für eine auf Kosten der anderen entscheiden. 274 BVerfG NJW 2006, 3050 (3051); NJW 2009, 2805 (2806). Zweifelnd an der Existenzberechtigung der Vorschrift als reine Gefühlsschutznorm Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 276 ff.; kritisch auch Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 4. Vgl. außerdem EGMR HRRS 2008, Nr. 1000 – Vajnai/Ungarn, der das strafrechtliche Verbot Ungarns, den roten Stern als kommunistisches Propagandasymbol zu verwenden, wegen der Vieldeutigkeit des Symbols als Verletzung des Art. 10 EMRK betrachtete. 275 BGHSt 51, 244 (246 ff.) mit kritischer, im Ergebnis zustimmender Anmerkung Schroeder, JZ 2007, 851 f.; Ellbogen, BeckOK-StGB, § 86a Rdn. 9; Lackner/Kühl, § 86a Rdn. 4; Paeffgen, NK, § 86a Rdn. 14; Stegbauer, NStZ 2008, 73 (75). 276 BGH NJW 2005, 3223 (3225); vgl. zu § 86a StGB BVerfG NJW 2006, 3050 (3051); NJW 2006, 3052 (3052 f.). 277 Siehe oben Teil 5 Kap. 8 I. 1. 278 Vgl. etwa Hilgendorf, in: Religions- und Weltanschauungsrecht, Rdn. 477; J. Müller, Religion und Strafrecht, S. 90 f.; Waldhoff, S. D 169; Voßkuhle, EuGRZ 2010, 537 (542 f.); ferner Eser, HdbStKirchR Bd. 2, S. 1019 (1045); zur denkbaren Zielrichtung des § 166 StGB, gewalttätigen Übergriffen vorzubeugen, Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 344 ff.
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Indes existiert kein derartiger unlösbarer Widerspruch, welcher der Suche nach einem rücksichtsvollen und gemeinsamen Weg von vornherein entgegensteht. Die Pressefreiheit stellt ein für die pluralistische Gesellschaft unabdingbares Gut dar. Gerade wegen ihrer Bedeutung gilt es aber, sie sorgsam auszuüben, damit sie ihren Beitrag zur Meinungsbildung leisten kann.279 Vor diesem Hintergrund war nicht zuletzt der Wiederabdruck der umstrittenen Zeichnungen durch einige Presseorgane während des bereits entfachten Karikaturenstreits nicht unbedenklich. Häufig entstand der Eindruck, es ginge hierbei nur um das simple Beharren auf seinen Freiheiten und nicht um einen sachlichen Beitrag zur Diskussion mit dem nötigen Fingerspitzengefühl, zu dem die Medien infolge ihrer zentralen Stellung im öffentlichen Meinungsaustausch angehalten sind.280 Weitere Bedenken erweckt in diesem Zusammenhang die wachsende Kommerzialisierung von Presse und Medien. Schwerpunktsetzung und Aufmachung der täglichen Berichterstattung vornehmlich in Erzeugnissen des Boulevardjournalismus belegen, wie sehr bei der Pressearbeit finanzielle Aspekte in den Vordergrund rücken. Heutzutage entscheiden bei Presseorganen vielfach ökonomische Anliegen wie Auflagensteigerung und Gewinnmaximierung über die Auswahl und Veröffentlichung von Artikeln und Beiträgen. Journalistische Pflichten und verantwortungsvolle Zurückhaltung sowie sorgsame Berichterstattung scheinen hingegen bei heiklen Themen zunehmend zurück zu stehen. Es wird vernachlässigt, dass Freiheit auch Verantwortung erfordert. Beim Karikaturenstreit hätte deshalb nicht primär debattiert werden sollen, ob Presseorgane religionskritische Äußerungen verbreiten dürfen. Einschränkungen der Pressefreiheit müssen unzweifelhaft wegen ihres Stellenwerts möglichst gering gehalten werden und allein die Veröffentlichung unliebsamer Meinungen vermag den Ruf nach einer staatlichen Legitimierung nicht zu rechtfertigen. Im Vordergrund hätte vielmehr die Frage gestanden, ob die Medien solche religionskritische Äußerungen verbreiten müssen. Diese Diskussion, die durch die simple Gegenüberstellung von
279 Vgl. etwa Art. 10 Abs. 2 EMRK: „Die Ausübung dieser Freiheiten [gemeint sind die Meinungsäußerungs-, Informations- und Mitteilungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK] ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden“; hierzu EGMR ÖJZ 1995, 154 (156) – Otto-Preminger-Institut/Österreich; NJW 2006, 3263 (3264) – I.A./Türkei; NVwZ 2007, 314 (315) – Aydin Tatlav/Türkei; Heller/Goldbeck, ZUM 2007, 628 (632 f. und 641), die für eine medienethische freiwillige Selbstregulierung plädieren (637 ff.), dem das Verhalten des Presserats im Karikaturenstreit nicht gerecht geworden sei (639 f.). – Ziffer 10 (Religion, Weltanschauung, Sitte) des Pressekodexes in der Fassung vom 3. 12. 2008 lautet: „Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen.“ Nach Ziffer 12 (Diskriminierungen) darf niemand „wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.“ 280 Vgl. Heller/Goldbeck, ZUM 2007, 628 (641): „Nicht der nacheifernde Abdruck der Karikaturen, sondern der medienethisch reflektierte Verzicht hierauf wäre dem Stellenwert der Pressefreiheit gerecht geworden.“
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Pressefreiheit und religiösen Gefühlen unterbunden zu werden droht, muss dringend geführt werden.281 ee) Zwischenergebnis Für einen Straftatbestand wie § 166 StGB, der das Beschimpfen von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen sanktioniert, gestaltet sich die Suche nach einem Rechtsgut äußerst schwierig. Als problematisch erweist sich vor allem, die Norm unabhängig von der Empfindlichkeit der Angehörigen des jeweiligen Bekenntnisses zu gestalten, um letztlich nicht doch wieder das religiöse oder weltanschauliche Empfinden des Einzelnen zu schützen, das als Rechtsgut gerade ausscheidet. Des Weiteren sollten die Gewaltbereitschaft der Betroffenen oder ihr genereller Umgang mit kritischen Äußerungen sowie die Zahl der Anhänger einer Religion oder Weltanschauung außer Betracht bleiben, um eine Gleichbehandlung sämtlicher Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen zu gewährleisten. Das derzeitige Rechtsgut des öffentlichen Friedens ist daher berechtigter Kritik ausgesetzt und gibt Anlass, die Existenzberechtigung des § 166 StGB zu hinterfragen. Findet sich kein anderes Rechtsgut, das die Vorschrift zu legitimieren weiß, wäre sie konsequenterweise aufzuheben. Das Rechtsgut der Norm müsste insbesondere von subjektiven Merkmalen unabhängig sein. Selbst wenn religiöse und weltanschauliche Überzeugungen aufgrund ihres zentralen Stellenwerts für einen Großteil der Bevölkerung erst den Grund für einen strafrechtlichen Schutz vor beschimpfenden Äußerungen bilden, bedeutet dies nicht, die Vorstellungen der Betroffenen ebenso bei der Ausgestaltung und Interpretation der Norm berücksichtigen zu müssen. Da die Vorschrift des § 166 StGB eine Beschränkung des freien Meinungsaustauschs beinhaltet, bietet sich als Rechtsgut ein Gebot gegenseitiger Toleranz an, bei dem Urheber und Betroffener einer kritischen Bemerkung aufeinander Rücksicht nähmen. Der Maßstab hierfür wäre – unabhängig von der diskutierten Materie religiöser und weltanschaulicher Angelegenheiten – eine Perspektive, die der pluralistischen Gesellschaft Rechnung trüge. Äußerungen wären demzufolge nur dann strafwürdig, wenn sie allein auf die Verletzung des Bekenntnisses oder der sonstigen Tatobjekte abzielten, die inhaltliche Auseinandersetzung also völlig in den Hintergrund treten ließen und dadurch den freien Meinungsaustausch weder förderten noch gewährleisteten. Ein pluralistisch verstandenes Toleranzgebot betonte einerseits, dass der freie und offene Meinungsaustausch auch in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten erwünscht sei, riefe aber andererseits allgemeingültige Vorgaben für 281 Siehe beispielsweise Heller/Goldbeck, ZUM 2007, 628 (insbesondere 637 ff.) zur Diskussion um die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen.
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die öffentliche Diskussion in Erinnerung. Zudem würden Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unabhängig von der Anzahl oder Empfindlichkeit ihrer Anhänger geschützt, wodurch zugleich das religiöse und weltanschauliche Neutralitätsgebot gewahrt bliebe. Dadurch vollzöge die Norm einen Funktionenwechsel weg vom faktischen Mehrheits- hin zum Minderheitenschutz, der ihr gerade in einer pluralistischen Demokratie zu neuer Existenzberechtigung verhelfen könnte. Nach wie vor erführen allerdings religiöse und weltanschauliche Angelegenheiten gegenüber sonstigen für den Einzelnen zentralen Bereichen, zum Beispiel gesellschaftspolitischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Themen, eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung. Dies bleibt der Haupteinwand gegen die Beibehaltung der Strafvorschrift des § 166 StGB. c) Folgen für die Auslegung des § 166 StGB Als mögliches Rechtsgut des § 166 StGB ein Gebot gegenseitiger Toleranz in pluralistischer Ausprägung anzusehen, wirft die Frage nach der Vereinbarkeit mit der derzeitigen Ausgestaltung der Vorschrift auf. Es ist zu untersuchen, ob der geltende Wortlaut einen solchen Rechtsgutswechsel, gegebenenfalls bei geänderter Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale gestattete oder ob es einer Änderung des Normtextes bedürfe. Unproblematisch erweist sich zunächst die Tathandlung des Beschimpfens. Hierfür bedarf es nach derzeitigem Verständnis der Kundgabe von Missachtung, die nach Form oder Inhalt besonders verletzend erscheint.282 Zumindest bei restriktiver Interpretation gewährleistet das Merkmal, dass auch scharfe und deutliche Kritik zulässig bleibt und Meinungs- und Kunstfreiheit nicht von vornherein außerordentlich eingeschränkt werden. Mit dem Wechsel des Rechtsguts vom öffentlichen Frieden hin zu einem pluralistisch verstandenen Gebot gegenseitiger Toleranz ginge lediglich einher, bei der Auslegung einer Äußerung vermehrt die Bedeutung des freien und offenen Meinungsaustauschs für eine demokratische Gesellschaft zu berücksichtigen. Dies gilt selbst bei der Diskussion von Themen, die wie Religion und Weltanschauung für den Einzelnen häufig den Mittelpunkt seines Lebens bilden. Um eine vorschnelle Beschneidung der Meinungsfreiheit zu verhindern und ihrem Stellenwert gerecht zu werden, wären daher im konkreten Einzelfall zunächst – wie bei den anderen Äußerungsdelikten – alle Auslegungsvarianten der jeweiligen religions- bzw. weltanschauungskritischen Bemerkung zu ermitteln. Eine Strafbarkeit nach § 166 StGB käme nur dann in Betracht, wenn sämtliche Interpretationen eine Beschimpfung beinhalteten und somit den Tatbestand der Vorschrift verwirklichten. Ergäbe sich demnach eine tatbestandliche Äußerung, bedürfte es einer fallbezogenen Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und 282
Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 106.
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dem sie einschränkenden Rechtsgut, um beide in praktischer Konkordanz weitmöglich zu gewährleisten.283 Ob eine Äußerung nach diesen Maßstäben einen beschimpfenden Charakter beinhaltete, richtete sich im Wesentlichen wie bisher nach dem Urteil eines unbefangenen Dritten, der auf religiöse und weltanschauliche Toleranz bedacht wäre.284 Hierbei wäre allerdings zu beachten, Toleranz nicht mit einseitiger Rücksichtnahme auf religiöse oder weltanschauliche Gefühle gleichzusetzen, sondern als gegenseitiges Prinzip zu verstehen, das sich um einen Ausgleich der Interessen von Betroffenen und Urhebern einer Äußerung bemühte. Die Grenze zur Beschimpfung wäre demnach beispielsweise überschritten, wenn eine Äußerung sich in einem persönlichen Angriff auf ein Bekenntnis bzw. auf eine Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung erschöpfte und deshalb gerade nicht mehr der offenen Diskussion um religiöse und weltanschauliche Angelegenheiten diente. Die dadurch errichtete hohe Schwelle für die Strafbarkeit religions- bzw. weltanschauungskritischer Äußerungen führte zwar dazu, dass sich die jährlichen Verurteilungszahlen für § 166 StGB – trotz eines vermutlich regen Anzeigeverhaltens bei der Betroffenheit religiöser Gefühle – weiterhin allenfalls im niedrigen zweistelligen Bereich bewegten.285 So dürfte der Straftatbestand selbst bei den folgenreichen Mohammed-Karikaturen in der Regel bereits wegen der vielgestaltigen Interpretationsmöglichkeiten der einzelnen Abbildungen bzw. sogar bei eindeutig beschimpfenden Zeichnungen infolge der restriktiven Auslegung der Norm im Lichte der Pressefreiheit abzulehnen sein.286 Die wenigen Verurtei283 Vgl. Hörnle, MünchKomm-StGB, § 166 Rdn. 15; zur gleichgelagerten Diskussion bei § 90a StGB BVerfGE 69, 257 (269 f.); BVerfG NJW 1999, 204 (205); BGH NStZ 2002, 592 (592 f.); Fischer, § 90a Rdn. 14; Laufhütte/Kuschel, LK, § 90a Rdn. 23 ff.; Steinmetz, MünchKomm-StGB, § 90a Rdn. 19 f.; Valerius, BeckOK-StGB, § 90a Rdn. 13 f.; allgemein BVerfGE 93, 266 (295 ff.). 284 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 108. 285 In den letzten Jahren wurden 22 (2005), 19 (2006), 9 (2007), 13 (2008) bzw. 17 (2009) Aburteilungen registriert, Straftaten wegen Störung der Religionsausübung gemäß § 167 StGB infolge fehlender getrennter Ausweisung in den Strafverfolgungsstatistiken eingeschlossen, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 3, Strafverfolgung, 2005 bis 2009; die Zahlen betreffen das frühere Bundesgebiet einschließlich Berlin. 286 Aus strafrechtlicher Sicht fragwürdig erscheint vor allem die Darstellung des Propheten Mohammed, dessen Turban durch eine Bombe mit brennender Zündschnur ersetzt wurde. Steinbach, JR 2006, 495 (496 ff.) hält die Karikatur für strafbar, weil dadurch Mohammed und aufgrund dessen religionsstellvertretender Funktion der Islam insgesamt mit dem Terrorismus gleichgestellt würde; ebenso wohl Heller/Goldbeck, ZUM 2007, 628 (634). Indes kann die Zeichnung gleichfalls als Kritik an denjenigen Terroristen interpretiert werden, die sich für ihre Taten auf den Propheten berufen, dessen Lehre somit ein Gewalttaten begründendes Missbrauchspotential aufweise. Bei dieser Deutung – vgl. Ekardt/Zager, NJ 2007, 145 (149 f.); ferner Waldhoff, S. D 165; ablehnend Steinbach, JR 2006, 495 (498) – käme eine Strafbarkeit gemäß § 166 StGB
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lungen pro Jahr erschienen aber jedenfalls mit Blick auf die Neuausrichtung der Vorschrift an dem pluralistisch verstandenen Gebot gegenseitiger Toleranz unbedenklich. Denn der Straftatbestand soll von vornherein lediglich in Extremfällen von Äußerungen verwirklicht sein, die jegliche Rücksichtnahme in religiösen und weltanschaulichen Fragen vermissen lassen. Dieses Erfordernis gewinnt zunehmend an Bedeutung vor der realen Entwicklung Deutschlands und anderer europäischer Staaten zu einer multikulturellen Gesellschaft, in der Reibungspunkte zahlreich sind und Quellen der Diskriminierung und Intoleranz entstehen. Gerade bei religions- und weltanschauungskritischen Äußerungen würde der damit einhergehende Bedeutungswandel der Norm deutlich, die infolge der Verschiebung der religiösen Bevölkerungsanteile nicht mehr allein der christlichen Mehrheit diente, sondern ebenso und gerade – und dies ist ein wesentlicher Aspekt der pluralistischen Gesellschaft – dem mittelbaren Schutz religiöser und weltanschaulicher Minderheiten.287 Der für die Beurteilung des beschimpfenden Charakters maßgeblichen Drittperspektive stünde nicht entgegen, nach wie vor aus der Sicht der Betroffenen zu entscheiden, welche Aussagen ihres religiösen Glaubens oder ihrer weltanschaulichen Überzeugung so essentiell wären, um als Bekenntnis im Sinne des § 166 Abs. 1 StGB qualifiziert zu werden.288 Ob Außenstehende diese Ansicht teilen, bliebe grundsätzlich unbeachtlich; ansonsten bestünde vor allem bei wenig verbreiteten religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen die Gefahr, die Anschauungen der Mehrheit über die Reichweite des mittelbaren Schutzes für religiöse und weltanschauliche Minderheiten bestimmen zu lassen.289 Allerdings ermöglichte der gewählte Blickwinkel den Angehörigen einer Religion oder Weltanschauung nicht, jedem Bestandteil ihrer Überzeugung nach Belieben zentrale Bedeutung zu verleihen, um dadurch jegliche religions- oder weltanschauungsbezogene Diskussion in den Anwendungsbereich des § 166 StGB zu ziehen. Ob ein bestimmter religiöser oder weltanschaulicher Inhalt den für ein Bekenntnis erforderlichen Stellenwert aufwiese, müsste daher für den objektiven und auf Toleranz bedachten Dritten zumindest nachvollziehbar sein. Nach der derzeitigen Fassung des § 166 StGB muss die Beschimpfung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB erfolgen. An dem Öffentlichkeitsbezug könnte unverändert festgehalten werden, wenn annicht in Betracht. Zur Problematik der Auslegung von Zeichnungen siehe von Becker, NJW 2005, 559 (561 f.) zum Gotteslästerungsprozess gegen den Künstler George Grosz im Jahre 1930. 287 Renzikowski, in: Gedächtnisschrift Meurer, S. 179 (188), der in der Pluralität den einzig legitimen Schutzzweck des § 166 StGB sieht; vgl. auch Steinbach, JR 2006, 495 (496); kritisch Fischer, § 166 Rdn. 2. 288 Siehe die Nachweise in Teil 5 Fn. 89. 289 Dippel, LK, § 166 Rdn. 18.
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stelle des öffentlichen Friedens das Toleranzgebot zum Rechtsgut der Vorschrift erklärt würde. Schließlich verfolgte die Norm dann gerade das Ziel, den offenen und der Gesellschaft dienlichen Meinungsaustausch auch in zentralen wie beispielsweise religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten zugleich zu regulieren und zu gewährleisten. Der Kampf der Meinungen findet aber in erster Linie in der Öffentlichkeit statt, weshalb eine Beschränkung des § 166 StGB auf öffentliche oder in Schriften verbreitete Äußerungen unbedenklich erscheint. Beschimpfungen im Privatbereich vermögen hingegen das gegenseitige Toleranzgebot als allgemeines Rechtsgut nicht zu tangieren. Insoweit genügt der Schutz der individuellen Rechtsgüter des Betroffenen, den vornehmlich die Ehrverletzungsdelikte der §§ 185 ff. StGB hinreichend gewähren. Schwierig gestaltete sich die Interpretation der Friedensschutzklausel. Eine Abkehr von dem öffentlichen Frieden als Rechtsgut der Norm zöge unmittelbar die Frage nach sich, ob weiterhin die beschimpfende Äußerung geeignet sein müsse, den öffentlichen Frieden zu stören. Ein ersatzloser Verzicht auf das Merkmal kommt indes nicht in Betracht, da damit die Gefahr einer Rückkehr zur Strafbarkeit der reinen Blasphemie einherginge. Ob allein der Hinweis auf das Schutzgut des pluralistisch zu begreifenden Toleranzgebots und die demnach gebotene zurückhaltende Auslegung der übrigen Tatbestandsmerkmale die Gefahr einer aus diesem Blickwinkel vorschnellen und extensiven Anwendung der Strafvorschrift ausräumte, ist jedoch fraglich.290 Es empfiehlt sich daher, entweder das Kriterium der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens – trotz des Verlusts seiner rechtsgutsbegründenden Bedeutung – beizubehalten oder auf ein vergleichbares Tatbestandsmerkmal zurückzugreifen. Bei einem Rechtsgutswechsel ohne Änderung der Norm wäre die Friedensschutzklausel künftig allein als einschränkende Voraussetzung zu verstehen. Demnach überschritten Verletzungen des Gebots gegenseitiger Toleranz erst dann die Schwelle zur Strafbarkeit, wenn sie zugleich eine Störung des öffentlichen Friedens befürchten ließen. Um hier einen gleichwertigen, am gegenseitigen Toleranzgebot ausgerichteten Schutz vor beschimpfenden Äußerungen zu gewährleisten, dürften bei dessen Auslegung persönliche Kriterien wie die Empfindlichkeit, Gewaltbereitschaft oder Anzahl der Betroffenen auch nicht mittelbar berücksichtigt werden. Zudem böte sich an, auf die subjektive Komponente des öffentlichen Friedens in Zukunft zu verzichten.291 Ob der somit verbleibende Zustand der Rechtssicherheit und gegenseitigen Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Fragen durch eine beschimpfende Äußerung gestört werden kann, entschiede sich wiederum aus der Sicht eines objektiven und auf Toleranz bedachten Dritten.
290 291
Vgl. oben Teil 5 Kap. 9 II. 2. b) aa). Vgl. bereits oben Teil 5 Kap. 9 II. 2. a) cc).
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Es lässt sich demnach festhalten, dass sich die derzeitige Ausgestaltung des § 166 StGB mit dem Rechtsgut eines gegenseitigen Toleranzgebots bei daran orientierter Auslegung noch vereinbaren ließe. Ebenso wenig bestünde Änderungsbedarf bei der Einordnung der Vorschrift im Elften Abschnitt des Besonderen Teils der „Straftaten, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen“ sowie bei der amtlichen Überschrift der Norm „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“. Die offizielle Ausweisung eines solchen Religionsstrafrechts in den §§ 166 ff. StGB ist durchaus nicht unumstritten.292 Allein der Rechtsgutswechsel wird die insoweit geführte Diskussion aber nicht mit neuen Argumenten bereichern, da § 166 StGB schon nach derzeit herrschender Meinung den öffentlichen Frieden und nicht unmittelbar die in Bezug genommene Religion bzw. Weltanschauung schützt.
III. Zusammenfassung Rechtsgut und Existenzberechtigung des § 166 StGB sind äußerst umstritten. Die Vorschrift legt wegen der tatbestandlich vorausgesetzten Eignung der religions- bzw. weltanschauungskritischen Beschimpfung nahe, den öffentlichen Frieden zu schützen. Eine solche Interpretation hätte jedoch zur Folge, religiöse und weltanschauliche Minderheiten infolge ihres lediglich geringen Potentials für friedensstörende Maßnahmen von vornherein aus dem Anwendungsbereich des § 166 StGB auszuklammern. Die Vorschrift schützte daher letztlich nur religiöse und weltanschauliche Mehrheiten bzw. Großvereinigungen. Um an der Norm überhaupt festhalten zu können, bedarf es deshalb einer Neuinterpretation. Aktuelle Begebenheiten wie der Karikaturenstreit sowie die multikulturelle Entwicklung der Gesellschaft mit der einhergehenden Zunahme kultureller Reibungspunkte weisen zwar darauf hin, dass das Ziel nach wie vor in der Gewährleistung eines friedlichen Zusammenlebens besteht. Allerdings gilt es zu vermeiden, den Anwendungsbereich der Vorschrift von persönlichen Kriterien wie der Gewaltbereitschaft des betroffenen Bevölkerungsteils abhängig zu machen. Um zudem die Presse- und Meinungsfreiheit hinreichend zu berücksichtigen, wäre überlegenswert, die gegenseitige Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Fragen – verstanden nicht als tatsächlicher Zustand, sondern als pluralistische Handlungsmaxime – zum Schutzgut zu erheben. Dies unterstützte nicht zuletzt den in einer Demokratie grundlegenden Minderheitenschutz, da auch und gerade im Umgang mit religiösen und weltanschaulichen Minderheiten gegenseitige Toleranz zu üben ist. Eine derartige Neuorientierung der Vorschrift 292 Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, S. 232 (248); vgl. des Weiteren den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches BT. Sexualdelikte usw., S. 76 ff.
Kap. 9: Sicherung von Toleranz durch das Strafrecht?
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wäre ohne Änderung des § 166 StGB möglich, eine entsprechend angepasste Auslegung seiner einzelnen Tatbestandsmerkmale vorausgesetzt. Toleranz in diesem Sinne bleibt, entgegen einigen in den letzten Jahrzehnten vorgeschlagenen Gesetzentwürfen, als gegenseitig zu begreifen. Sie setzt Rücksichtnahme seitens derjenigen voraus, die Religions- und Weltanschauungskritik üben wollen. Ebenso müssen aber die Betroffenen bereit sein, kritische Äußerungen hinzunehmen, selbst wenn sie sich dadurch in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen. Das während des Karikaturenstreits wiederholt postulierte Gegenüber von Pressefreiheit und religiösen Gefühlen darf nicht den Eindruck vermitteln, als handele es sich hierbei um miteinander unvereinbare Positionen, die jeweils nur auf Kosten der anderen zu verwirklichen seien.
Teil 6
Zusammenfassung Berührungen mit anderen Kulturen zählen heutzutage zum privaten und beruflichen Alltag. Hierfür sorgen einerseits eine ansteigende Multikulturalität der Bevölkerung im Inland sowie andererseits vermehrte Begegnungen mit Angehörigen anderer Kulturen im Ausland, sei es vor Ort durch eine wachsende Mobilität und geographische Flexibilität der Menschen oder durch die erleichterte Kontaktaufnahme über fortschrittliche Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa die einzelnen Dienste des Internets. Allerdings verlaufen nicht sämtliche Aufeinandertreffen von Angehörigen verschiedener Kulturen friedlich und harmonisch. Zahlreiche Ereignisse in den letzten Jahren – seien es die weltweite Unruhen hervorrufenden Mohammed-Karikaturen einer dänischen Tageszeitung oder auch das Phänomen der Ehrenmorde – belegen, wie verschiedenartig zum Teil die einzelnen Kulturen sind und welche gewaltigen Konflikte aufgrund der unterschiedlichen Wertvorstellungen entstehen können. Sie zu verringern und zu entschärfen ist eine der wesentlichen aktuellen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Mit der kulturellen Vielfalt geht ebenso einher, dass Straftaten zunehmend einen anderen kulturellen Hintergrund aufweisen oder durch die besonderen Anschauungen der Beteiligten geprägt werden. Für das Strafrecht stellt sich daher die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich die kulturellen Wertvorstellungen auf die Beurteilung einer Tat auszuwirken vermögen. Bei der Untersuchung dieser Problematik empfiehlt sich wegen der Vielgestaltigkeit der insoweit möglichen Fallgestaltungen, zwischen verschiedenen Konstellationen zu unterscheiden. Eine denkbare Differenzierung orientiert sich danach, ob sich ein interkultureller Sachverhalt ausschließlich in einem einzigen Staat abspielt (sogenannter intranationaler kultureller Konflikt) oder ob er ein grenzüberschreitendes Element beinhaltet (sogenannter internationaler kultureller Konflikt). Ein intranationaler kultureller Konflikt liegt etwa dann vor, wenn ein Angehöriger eines fremden Kulturkreises in Deutschland eine Handlung vornimmt, die er aufgrund seiner heimatlichen Anschauungen anders als die inländische Rechtsordnung als unbedenklich bewertet. Ein Beispiel für einen internationalen kulturellen Konflikt bilden Veröffentlichungen im Internet, deren Strafbarkeit in dem Heimatstaat ihres Anbieters anders beurteilt wird als nach hiesigem Recht. Kulturelle Wertvorstellungen sind bei der Strafbarkeit einer Tat auf verschiedene Weise zu beachten. Auf der Tatbestandsebene orientieren sich zunächst ein-
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zelne Merkmale an gesellschaftlichen Anschauungen und können deshalb im konkreten Einzelfall kulturelle Wertvorstellungen durchaus berücksichtigen. Exemplarisch sei hierfür auf die niedrigen Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB verwiesen: Ob eine bestimmte Tötung aus einem besonders verwerflichen Motiv geschieht, wird von Kultur zu Kultur bisweilen unterschiedlich bewertet. So erscheint bei dem Paradebeispiel der Ehrenmorde nach den Anschauungen einiger patriarchalischer Gesellschaften der Tod des eigenen Familienmitglieds unter Umständen als einziges oder sogar gebotenes Mittel, die Familienehre wiederherzustellen. Auf der Grundlage der hiesigen Wertvorstellungen erweist sich hingegen die Motivation des Täters in der Regel als niedrig. Denn das Vorverhalten des späteren Opfers – wie etwa die Auswahl eines der Familie nicht genehmen Lebenspartners oder die Übernahme eines westlichen Lebensstils – stellt dessen höchstpersönlichen Entschluss dar und gibt keinen Anlass, sich zum Richter über das Leben des Opfers zu erheben. In derartigen Konstellationen muss nicht zuletzt aus Gründen der Rechtsgleichheit ein einheitlicher Maßstab angelegt werden, der sich aus den Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft ergibt. Die kulturellen Hintergründe der Tat fließen aber in die Bewertung der Tat mit ein und spielen dadurch gegebenenfalls eine entscheidende Rolle. Verdeutlicht sei dies wiederum am Beispiel des Ehrenmordes: Die Ehrvorstellungen einiger patriarchalischer Gesellschaften sind zwar für den anzulegenden Bewertungsmaßstab ohne jegliche Bedeutung; ob der Täter die westliche Lebensweise des späteren Opfers als ausreichenden Tötungsanlass ansieht, bleibt demnach außer Betracht. Mitunter beeinflussen solche Anschauungen allerdings die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und versetzen den Täter in eine Situation, in der er – nach den maßgeblichen Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft – nicht aus niedrigen Beweggründen handelt. Dies gilt beispielsweise dann, wenn sich der Täter nicht durch ein derartiges Ehrverständnis zur Tat motivieren lässt, sondern durch den erheblichen Druck, den sein Umfeld auf ihn ausübt. Hier darf dem Täter nicht vorgehalten werden, dass seine Zwangssituation nur aufgrund seines kulturellen Milieus entstanden sei. Die Bewertungsgrundlage steht also kulturellen Einflüssen offen, weshalb es sich anbietet, die niedrigen Beweggründe als „kulturoffenes Tatbestandsmerkmal“ zu bezeichnen. Als kulturabhängig können sich außer Tatbestandsmerkmalen auch Rechtsgüter erweisen. Wenngleich schon einige Ansätze eines interkulturellen Strafrechts bestehen und viele, vornehmlich höchstpersönliche Rechtsgüter im Grundsatz eine universale Gültigkeit erfahren, existieren doch erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Stellenwerts und der Ausgestaltung eines Rechtsguts. So herrschen verschiedene kulturelle Ansichten, wie sich „Ehre“ im Einzelnen definiert und wer Träger dieses Rechtsguts ist (z. B. Kollektive wie Familien). Trotzdem geben insoweit wiederum die Vorstellungen der inländischen Rechtsgemeinschaft den Ausschlag. Die Familienehre wird selbst dann nicht von den §§ 185 ff. StGB ge-
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schützt, wenn sich der Sachverhalt in einem kulturellen Umfeld abspielt, das ein solches Rechtsgut anerkennt. Die kulturellen Wertvorstellungen wirken sich lediglich bei den zu beurteilenden Umständen des Einzelfalls aus, insbesondere bei der Auslegung einer konkreten Äußerung. Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit sind ebenso allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe anzulegen. Ob eine Notwehr- oder Notstandssituation vorliegt bzw. ob eine bestimmte Verteidigungshandlung sich als zulässig erweist, bleibt demnach wiederum nach den Anschauungen der inländischen Rechtsgemeinschaft zu bestimmen. Gleiches gilt für die Behandlung von Rechtfertigungsgründen, die nicht der Verteidigung von Rechtsgütern dienen, sondern auf dem fehlenden Interesse des Rechtsgutsinhabers beruhen. Ebenso wenig sind bei der Frage, ob eine Körperverletzung, in die der Betroffene einwilligt, gegen die guten Sitten verstößt, die Anschauungen des konkreten Verletzten heranzuziehen. Die kulturellen Wertvorstellungen erfahren aber für die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens wiederum als Bewertungsgrundlage Bedeutung, unter anderem bei der zuletzt höchst umstrittenen Einwilligung der Eltern in die Zirkumzision ihres Sohnes. Hier gestattet es das elterliche Erziehungsprivileg, solche kulturellen Hintergründe zu berücksichtigen, und streitet demnach für die Wirksamkeit der erteilten Einwilligung. Im Rahmen der Schuld weiß das Unrechtsbewusstsein die kulturellen Wertvorstellungen des Täters am ehesten zu beachten. Allerdings bilden sie nur eine von vielen möglichen Ursachen für die fehlende Unrechtseinsicht, weswegen nach wie vor die allgemeinen Grundsätze zum Unrechtsbewusstsein zur Anwendung gelangen. Bei kulturellen Differenzen dergestalt, dass ein Verhalten hierzulande strafbar ist, nach den Anschauungen einer anderen Kultur hingegen als unbedenklich angesehen wird, wird dem durch diese Vorstellungen geprägten Täter oftmals das Unrechtsbewusstsein fehlen. Auch die von der Rechtsprechung geforderte Gewissensanspannung führt in diesem Fall häufig nicht zur Unrechtseinsicht. Gleichwohl muss sich der Verbotsirrtum des Täters nicht als unvermeidbar erweisen. Vielmehr begründet der Kontakt mit anderen Rechtsordnungen eine Erkundigungspflicht; insbesondere wer sich dauerhaft im Inland niederlässt, muss sich über die wesentlichen Grundlagen der hiesigen Rechtsordnung informieren. Verdeutlicht sei dies am Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe bei dem Phänomen der Ehrenmorde. Hier setzt die Unrechtseinsicht das Bewusstsein des Täters voraus, seiner Tat aufgrund seiner Motivation einen erhöhten Unrechtsgehalt zu verleihen. Vornehmlich Täter, die ihren kulturellen Anschauungen strikt verhaftet bleiben, können sich demnach in einem Verbotsirrtum befinden. Da jedoch das Selbstbestimmungsrecht des Individuums zu den wesentlichen Grundlagen der inländischen Rechtsgemeinschaft zählt, über die sich jeder mit Eintritt in die hiesige Rechtsordnung zu erkundigen hat, bliebe die fehlende Unrechtseinsicht in der Regel vermeidbar. Immerhin wird dem Gericht dadurch der Weg
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zu einer fakultativen Strafmilderung nach §§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB eröffnet, der eine flexible Handhabung des jeweiligen Einzelfalls gestattet. Bei der Fallgruppe der internationalen kulturellen Konflikte ist zudem das Strafanwendungsrecht zunehmend zur Regelung interkultureller Spannungen berufen. Als erste Fallgruppe gibt insoweit die weltweite Verbreitung von Kommunikationsinhalten Anlass, die bisherigen Grundsätze zum Strafanwendungsrecht kritisch zu betrachten. Insbesondere das Internet erlaubt jedem Nutzer, Dateien rund um den Globus zum Abruf zur Verfügung zu stellen. Der Urheber dieser Inhalte muss sich daher unter Umständen nicht bloß in dem Staat seiner Handlung wegen des hier belegenen Handlungsortes verantworten, sondern auch in sämtlichen anderen Staaten, sofern der mögliche Abruf dort einen Erfolgsort begründet. Ob an diesem Ergebnis uneingeschränkt festgehalten werden darf, erscheint bei derartigen multiterritorialen Delikten, die zwar lediglich einen Handlungsort, aber eine Unmenge von Erfolgsorten aufweisen, vor allem dann problematisch, wenn sich das Verhalten des Täters am Handlungsort als überhaupt nicht strafbar erweist. Hier gleichwohl das eigene Strafrecht anzuwenden, bedeutete eine Oktroyierung der eigenen Wertvorstellungen, die sich mit dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichteinmischung kaum vereinbaren lässt. Die zweite Fallgruppe, in der die Reichweite des Strafanwendungsrechts überprüft werden muss, bildet die Beteiligung an grenzüberschreitenden Taten. Eine internationale Zusammenarbeit gehört heutzutage zum beruflichen Alltag, bereitet indessen gegebenenfalls Probleme, wenn die Rechtsordnungen der betroffenen Staaten nicht übereinstimmen. Als Beispiel darf auf internationale wissenschaftliche Projekte wie Vorhaben der umstrittenen Forschung an embryonalen Stammzellen verwiesen werden, denen die einzelnen Staaten unterschiedliche rechtliche Grenzen ziehen. Nach den bisherigen Grundsätzen sind vornehmlich dem Mittäter außer den Handlungen seines Komplizen darüber hinaus dessen einzelne Handlungsorte zuzurechnen. Dies hat zur Folge, dass auf jeden Mittäter bereits dann deutsches Strafrecht Anwendung findet, wenn nur einer von ihnen einen Handlungsort in Deutschland aufweist. Ob der Erfolgsort der gemeinschaftlich begangenen Tat sowie alle sonstigen Handlungsorte sich im Ausland befinden, bleibt ebenso gleichgültig wie eine etwaige Straflosigkeit des Verhaltens an den ausländischen Begehungsorten. Um die nationale Strafgewalt in solchen Konstellationen auf ein sinnvolles Maß zurückzuführen, empfiehlt sich eine Besinnung auf den völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts. Bei multiterritorialen Delikten bietet sich wegen der Fülle von Erfolgsorten an, den Handlungsort des Täters als primären Anknüpfungspunkt zu begreifen und die Strafbarkeit im Handlungsstaat als maßgebliches Kriterium zu erachten. Das deutsche Strafrecht wäre demnach lediglich dann auf multiterritoriale Delikte anzuwenden, wenn die Tat auch am Ort der Handlung mit Strafe bedroht ist bzw. der Handlungsort keiner Strafgewalt unter-
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liegt. Umgekehrt begründet eine grenzüberschreitend zusammenarbeitende Personenmehrheit in der Regel einen einzigen Erfolgsort, aber mehrere international belegene Handlungsorte. Demzufolge sollte hier das nationale Strafrecht (auf die allein im Ausland handelnden Täter) ausschließlich dann anwendbar sein, wenn die Tat am Erfolgsort mit Strafe bedroht ist bzw. dieser keiner Strafbarkeit unterliegt. Ähnlich wäre bei § 9 Abs. 2 Satz 1 StGB eine teleologische Reduktion für den im Ausland handelnden Teilnehmer zu überdenken. Letztlich können sich die kulturellen Wertvorstellungen bei der Strafzumessung auswirken. Zwar bildet die kulturelle Zugehörigkeit als solche weder einen straferhöhenden noch einen strafmildernden Umstand. Die Anschauungen des Täters bleiben jedoch nach den allgemeinen Grundsätzen zur Strafzumessung für die Strafzumessungsschuld von Bedeutung. Demnach muss für die Bewertung einzelner Faktoren (z. B. die Beurteilung der Motivation des Täters) einerseits ein einheitlicher Maßstab angelegt werden. Andererseits sind die strafzumessungsrelevanten Umstände kulturellen Einflüssen nicht von vornherein verschlossen. So vermag die Prägung des Täters durch seine heimatlichen Anschauungen ihm die Einsicht in den (vollständigen) Unrechtsgehalt seiner Tat zu erschweren und dadurch mittelbar die Strafzumessung zu beeinflussen. Nicht nur der Karikaturenstreit hat das große Konfliktpotential zwischen den einzelnen Kulturen offenbart. Angesichts der enormen Bedeutung von kulturellen Wertvorstellungen für den Einzelnen stellt sich die Frage, inwiefern der Gesetzgeber solche Anschauungen mit den Mitteln des Strafrechts vor Beeinträchtigungen bewahren darf. Beispielsweise wurde anlässlich der Mohammed-Karikaturen gefordert, den Straftatbestand der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen gemäß § 166 StGB zu verschärfen. Allerdings steht das Rechtsgüterschutzprinzip einem Schutz von Wertvorstellungen als solchen entgegen. Die Vorschrift des § 166 StGB kann also allenfalls mittelbar religiöse Wertvorstellungen oder Gefühle schützen, bedarf aber dazu eines greifbaren Rechtsguts. Der Rückgriff auf den öffentlichen Frieden, den die herrschende Meinung bislang als Schutzgut der Norm ansieht, erscheint zweifelhaft, da er kaum näher zu bestimmen ist und zudem religiösen und weltanschaulichen Minderheiten nicht denselben Schutz gewährt wie verbreiteten Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen. Bei einer konsequenten Anwendung des Rechtsgüterschutzprinzips spricht daher viel für eine Aufhebung des § 166 StGB oder für die Suche nach einem anderen Rechtsgut, das die Norm zu legitimieren vermag. Ein denkbarer Ansatz liegt hier darin, das Gebot gegenseitiger Toleranz in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten zum Schutzgut zu erheben. Dies setzt freilich voraus, in einer pluralistischen Demokratie überhaupt gutzuheißen, strafrechtliche Mittel zum Schutz gegen unliebsame Äußerungen heranzuziehen, anstatt diese Aufgabe der gesellschaftlichen Diskussion zu übertragen. Generell bleibt anlässlich der Unter-
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suchung zum Thema „Kultur und Strafrecht“ zu bemerken, dass die Begrenzung der Arbeit auf strafrechtliche Aspekte nicht den Blick auf andere Möglichkeiten verschleiern darf, um kulturellen Konflikten zu begegnen. Der häufig gepriesene Rückgriff auf das Allheilmittel „Strafrecht“ erweist sich in der Regel als ungeeignet, um dieser Herausforderung gerecht zu werden. Vielmehr sind Politik und Gesellschaft gefordert, in erster Linie andere Wege zu finden, die eine friedliche Koexistenz verschiedener Kulturen gewährleisten und den interkulturellen Dialog fördern.
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Sachverzeichnis Äußerungsdelikte 209, 213, 217, 222, 258, 328, 341 Ahmadiyya 110, 175, 181 Äußerungstourismus 261 Aufenthaltsgesetz 302 Ausstrahlungswirkung 109 Auswirkungsgrundsatz 207, 258, 264 Begehungsort – bei abstrakten Gefährdungsdelikten 212 ff. – der Teilnahme 275 – Erfolgsort siehe Erfolgsort – Handlungsort siehe Handlungsort Beischlaf zwischen Verwandten 323 – Rechtsgut 324 – Verfassungsmäßigkeit 324 ff. Beleidigung 116, 242, 372 – Auslegung von Äußerungen 132 ff. – mittelbare ~ 125 – öffentlich 137 – öffentliche Meinung 136 – Sexual- 125 – und Multikulturalität 131 f. – von Personengemeinschaften 126 f. Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen 52, 57, 328, 332, 334 ff., 340 ff., 371 – Änderungsbestrebungen 343 ff. – Bedeutung 339 – Bekenntnis 334 – Beschimpfen 337, 376 – Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens siehe öffentlicher Frieden – Gesetzgebungsgeschichte 340 ff. – öffentlich 337, 378
– Rechtsgut 332, 342 f. – Rechtsgut in früheren Fassungen 353 ff. Beschneidung 56, 149 ff., siehe auch Genitalverstümmelung – Folgen 150 – Hintergründe 149 ff. – rechtliche Behandlung 151 ff. besondere Schwere der Schuld 310 Bestechungsdelikte 114, 174 Bewertungsgrundlage 91 – niedrige Beweggründe 88 ff. – Rechtfertigungsgründe 143 – Unterlassene Hilfeleistung 112 Bewertungsmaßstab 90 – Einwilligung 155 – niedrige Beweggründe 83 ff. – Rechtfertigungsgründe 142 – Unterlassene Hilfeleistung 112 Bibel 108, 150, 354 Blasphemie siehe Gotteslästerung Blutrache 61, 70, 77, 88, 121 böswillig 115 Burka 47 chilling effect 350 Computersabotage 242 cultural defense 170 Datenveränderung 242 Deterritorialisierung des Rechts 242 Distanzdelikte 206 ff., 257 Doppelehe 323 – Rechtsgut 323 Doppelverwertungsverbot – des § 46 Abs. 3 StGB 311 – des § 50 StGB 309 Duell 68, 124
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Sachverzeichnis
Ehebruch 126, 141 Ehre 56 – als notwehrfähiges Rechtsgut 141 – Familienehre 35, 55, 61, 68, 95, 127, 129 – in arabischen Staaten 63 f. – in der Türkei 127 – in Deutschland 124 ff. – von Personengemeinschaften 126 f. Ehrenmorde 34, 53, 54, 56, 60 ff., 88, 121, 144, 165, 287, 310 – Begriff 61 – Motive 63 – rechtliche Beurteilung in arabischen Staaten 70 f. – rechtliche Beurteilung in Deutschland 66 ff., 72 ff. – Rechtsfolgenlösung 104 Ehrverletzungsdelikte siehe Beleidigung Einwilligung 56, 140, 147 ff. – Bewertungsmaßstab 155 – Dispositionsbefugnis 147 – durch die Eltern 152 f. – in ärztliche Heilmaßnahmen 153 – Sittenwidrigkeit der Tat 159 f. Erfolgsdelikte 212, 231 Erfolgsort 206, 264 – als primärer Anknüpfungspunkt 272 – bei abstrakten Gefährdungsdelikten 215, 217 ff. – Tathandlungserfolg 221, 233 – völkerrechtskonforme Auslegung 238 f. Erlaubnisirrtum 146, 174 Erlaubnistatbestandsirrtum 146 Erregung öffentlichen Ärgernisses 327 Erwartungshaltung 88, 308 Evangelischer Brüderverein 108 Exhibitionistische Handlungen 327 Familienrat 88, 93 Fatwa 316
Gefährdungsdelikte – abstrakte ~ 209, 212, 231 – konkrete ~ 212, 231 – potentielle ~ 219, 338 Genitalverstümmelung 53, 149, 152, 158 genuine link 248 Gesinnungsmerkmale 115 Gesundbeter-Entscheidung 108 ff., 112 Gewaltdarstellung 328 – Rechtsgut 331 Gewissensfreiheit 140, 161 – als Entschuldigungsgrund 163 – Strafmilderung 295 Glaubensfreiheit 40, 43, 140, 161 – als Entschuldigungsgrund 163 – als Rechtfertigungsgrund 56 f., 165 – Ausstrahlungswirkung 109 Gotteslästerung 315, 341, 353 Gotteslästerungsparagraph 341 Grenzüberschreitende Beteiligung 209 ff., 262 ff. – Mittäterschaft 265 ff. – mittelbare Täterschaft 273 ff. – Täterschaft 263 ff. – Teilnahme 275 ff. Grundrechte, als Rechtfertigungsgrund 161 Habgier 85, 86 Handlungsort 206, 264 – als primärer Anknüpfungspunkt 258 – bei Mittätern 267 – bei mittelbaren Tätern 273 – extensive Auslegung 213 ff. Herkunftslandprinzip 254 identische Tatortnorm 259, 272 Idomeneo 349 Informationsfreiheit 48 Inhaltsdelikte siehe Äußerungsdelikte interkulturelles Strafrecht 117 ff. Internationaler Strafgerichtshof 118 Inzest-Entscheidung 324 ff.
Sachverzeichnis Jesidentum 294 Jyllands-Posten 315 Kampf der Kulturen 33, 36 Karikaturenstreit 52, 315 ff., 339, 340, 349, 352, 373, 377 Kompetenzverteilungsprinzip 208 Kopftuch-Urteil 43 ff. Kopftuchverbot 43 Koran 49, 62, 111, 176, 360 Kruzifix-Beschluss 40 ff. Kultur – Begriff 27 ff. – und Recht 38 – Vielgestaltigkeit 33 ff. – Wertfreiheit 36 f. kulturelle Konflikte – internationale ~ 55, 57, 177, 193 – intranationale ~ 54, 57, 177, 193 kulturelle Wertvorstellungen 32 – als Entschuldigungsgrund 169 f. – als Rechtfertigungsgrund 169 f. – als Rechtsgut 57, 314 Kulturkreise 33 ff. kulturoffene Tatbestandsmerkmale 60, 91, 111, 132, 142, 286 kulturoffenes Rechtsgut 117, 131 Kulturrelativismus 119 Kunstfreiheit 376 – als Rechtfertigungsgrund 166 Legalitätsprinzip 247, 261 lex loci 206, 259, 272, 284 Lissabon-Urteil 59 Lotus-Entscheidung 248, 255 Meinungsfreiheit 360, 371, 376, 380 Mohammed-Karikaturen siehe Karikaturenstreit Moscheen 39 multiterritoriale Delikte 208 f., 213, 241, 256, 257, 264, 270, 272
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niedrige Beweggründe 53, 56, 60, 67 – Bedeutungskenntnis 79, 93 – Bewertungsgrundlage 88 ff. – Bewertungsmaßstab 83 ff. – Ehrenmorde 68 f. – Erwartungshaltung 88 – Gesamtwürdigung 60, 67, 75 – Motivationsbeherrschungspotential 82, 94 – Motivbündel 88 – subjektive Seite 92 ff. – und Multikulturalität 87 – Unrechtsbewusstsein 95 ff. – Verfassungsmäßigkeit 87 Notstand 139 – Erforderlichkeit 143 f. – Interessenabwägung 144 – Notstandshandlung 143 ff. – Notstandslage 140 ff. Notwehr 139 – Angriff 141 – Erforderlichkeit 143 f. – Gebotenheit 144 – Notwehrhandlung 143 ff. – Notwehrlage 140 ff. öffentlicher Frieden – als Rechtsgut 314, 331, 332, 357 ff. – Auslegung der Friedensschutzklausel 359, 379 – Begriffsbestimmung 332, 338 – Störung 235 Parabolantenne 48 Personalitätsprinzip – aktives ~ 254, 259 – passives ~ 246, 249, 254, 259 Personensorgerecht 106, 154 Pietätsempfinden 333 pluralistische Gesellschaft 360, 365, 369, 374, 378
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Sachverzeichnis
Popetown 52, 317 f., 339, 340, 352 Pornographie siehe Verbreitung pornographischer Schriften Pressefreiheit 373, 377, 380 Pull-Technologie 223, 233 Push-Technologie 223, 233 Rechtsevolution 118 Rechtsfolgenlösung 99 ff. Rechtsgemeinschaft, inländische 77, 85, 90, 93, 102, 130, 143, 145, 155, 186 – Ermittlung der Vorstellungen 87, 159 Rechtsgüterschutzprinzip 321, 342, 356 Rechtsgut – Gefühle des Einzelnen 58, 323 – Gott 353 ff. – kulturelle Wertvorstellungen 314 – kulturoffenes ~ 117, 131 – Moralvorstellungen 323 ff. – öffentlicher Frieden 314, 331, 332, 357 ff. – Pietätsempfinden 333 – religiöse Gefühle 355 ff. – Religion und Pietät 332 ff. – Schutz vor unerwünschten Inhalten 328 ff. – Schutz vor unerwünschter Konfrontation 327 f. – Toleranz 368 ff. – universales ~ 117 Religionsausübung, Recht auf ungestörte 165, 167 Rom-Statut 118 rücksichtslos 115 Säureattentate 288 Schächten 39, 167 Schmähkritik 365, 369 Schriftenbegriff 341 Schwangerschaftsabbruch 123 Scientology 336
Selbstbestimmungsrecht 110, 113 spezifische Rechtsgutsverletzung 195, 198 Staatsschutzstrafrecht 372 Stammzellforschung 34, 123, 210, 263, 268 Stammzellgesetz 269, 278, 280 stellvertretende Strafrechtspflege 254 Störung der Religionsausübung 332 – Rechtsgut 332 Störung der Totenruhe 332 – Rechtsgut 333 Störung einer Bestattungsfeier 332 – Rechtsgut 333 Strafänderungsgründe – unbenannte ~ 308 – vertypte gesetzliche ~ 307 Strafanwendungsrecht – Berücksichtigung subjektiver Merkmale 251 – Grenzüberschreitende Beteiligung siehe Grenzüberschreitende Beteiligung – Irrtum 197 – völkerrechtlicher Charakter 204 Strafaussetzung zur Bewährung – anfängliche ~ 310 – besondere Schwere der Schuld 310 – des Restes einer Freiheitsstrafe 310 Strafbarkeitsoasen 285 Strafbegründungsschuld 287 Strafzumessung 57, 286 ff. – Ausländereigenschaft 288 ff. – ausländerrechtliche Konsequenzen 302 ff. – Ausnutzen des natürlichen Erscheinungsbildes 298 – Bewertung des Tatunrechts 291 ff. – Bewertungsmaßstab 296 – Diskreditierung der Asylbewerber 298 – disziplinarrechtliche Folgen 304 – erschwerte Normbefolgung 294 ff. – Faktoren des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB 296 ff.
Sachverzeichnis – generalpräventive Erwägungen 305 ff. – Gewissenstäter 295 – kulturelle Anschauungen 287 ff. – kulturelle Zugehörigkeit 291 – mittelbare Straftatfolgen 304 – Staatsangehörigkeit 288 ff. – Strafempfindlichkeit 300 ff. – Überzeugungstäter 296 Strafzumessungsschuld 287 Stunksitzung 349, 350 Tätigkeitsdelikte 212, 231 Tatbestandsirrtum 135 Tathandlungserfolg 221, 233 Teilnahme – Akzessorietät 276, 279 – an Auslandstaten 279 – Begehungsort 275 – Durchbrechung der Akzessorietät 279 Telemediengesetz 254 territorialer Bezug 248 Territorialitätsprinzip 205, 249, 256, 257, 259, 284 Toeben-Urteil 53, 55, 217 ff., 243 Toleranz 339 – als Rechtsgut 368 ff. – Begriff 363, 368 – Gebot der ~ 345 – Gegenseitigkeit 368 Übiquitätsprinzip 205, 232, 236, 238, 246, 254, 257 Uberzeugungstäter 296 – teleologische Reduktion 248 ultima ratio 340 Unrechtsbewusstsein 57, 171 ff., 251, 294 – aktuelles ~ 96, 172, 187 – bei grenzüberschreitenden Straftaten 193 ff. – Gegenstand 180 ff. – Gewissensanspannung 97, 186, 187 – kulturelle Wertvorstellungen 173 f.
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– niedrige Beweggründe 95 ff. – potentielles ~ 96, 172, 187 – spezifische Rechtsgutsverletzung 195, 198 – Teilbarkeit 97 ff., 197 – Zumutbarkeit der Gewissensanspannung 189 Unterlassene Hilfeleistung 60, 106 ff., 175 – Bewertungsgrundlage 112 – Bewertungsmaßstab 112 – Erforderlichkeit 107 – Zumutbarkeit 106, 107, 109, 111, 113 Verbotsirrtum 57, 96, 292 – direkter ~ 173 – Erkundigungspflicht 176, 179, 187, 188 ff. – indirekter ~ 146, 174 – Vermeidbarkeit 96, 173, 179, 186 ff., 201 – Vermeidbarkeit bei indirekten Verbotsirrtümern 146 Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen 328 Verbreitung pornographischer Schriften 209, 328 – Rechtsgut 329 f. Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen 242 Verletzungsdelikte 212, 231 Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener 333 – Rechtsgut 333 Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen 177, 213, 214, 328, 372 völkerrechtlich legitimierender Anknüpfungspunkt 243, 250 völkerrechtlicher Nichteinmischungsgrundsatz 238, 255, 259, 271, 277
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Sachverzeichnis
völkerrechtskonforme Auslegung 238, 257, 275, 278, 284 Völkerstrafgesetzbuch 310 Völkerstrafrecht 117 Volksverhetzung 53, 209, 213, 218, 234, 243, 328, 371
wehrhafte Demokratie 372 Weltrechtsgrundsatz 205 Zehn Gebote 354 Zeugen Jehovas 106, 165 Zwangsheirat 52, 287