Kritische Gesamtausgabe: Band 8 Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913) 9783110876970, 9783110171563

A critical edition of the text of the famous lecture on the significance of Protestantism for the genesis of the modern

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German Pages 488 [492] Year 2001

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Table of contents :
Vorwort
Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
1. Die Fragestellung
2. Zum Heidelberger Diskussionskontext
3. Zur werkinternen Entwicklung
4. Reformation und Neuzeit: „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“
5. Luther - neu bewertet: „Luther und die moderne Welt“
6. Im zeitdiagnostischen Vergleich: Texte zu Calvinismus und Luthertum
7. Ernst Troeltschs und Max Webers Auseinandersetzung mit Felix Rachfahl: „Die Kulturbedeutung des Calvinismus“
8. Vom doppelten Ursprung der Moderne: „Renaissance und Reformation“
9. Die Texte im Rückblick
Luther und die moderne Welt (1908)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Calvinismus und Luthertum (1909)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Die Genfer Kalvinfeier (1909)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Calvin and Calvinism (1909)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Die Kulturbedeutung des Calvinismus (1910)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Preface [zu: Protestantism and Progress] (1912)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Renaissance und Reformation (1913)
Editorischer Bericht
Edierter Text
Anhang
Auszug aus: Bericht über die neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart. 17. bis 21. April 1906 (1907)
Biogramme
Literaturverzeichnis
1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur
2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur
Personenregister
Sachregister
Seitenkonkordanz
Gliederung der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
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Kritische Gesamtausgabe: Band 8 Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913)
 9783110876970, 9783110171563

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Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

Ernst Troeltsch I

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Seitenwechsel Hinzufügung des Editors Hinzufügungen des Edierten Textes gegenüber den vorangegangenen Textstufen A und A l Siehe Indices bei Fußnoten Ernst Troeltschs Indices bei Kommentaranmerkungen des Heraus­ gebers Siglen für die Textfassungen in chronologischer Rei­ henfolge Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen Bundesarchiv Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin IHK-Wirtschaftsarchiv München Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe Nachlaß

Alle sonstigen Abkürzungen folgen: Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Auflage, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1 992.

Einleitung

1 . Die Fragestellung Der "Essay" ! "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" ist von Ernst Troeltsch zuerst im Jahre 1 906 in der "Histo­ rischen Zeitschrift" und gleichzeitig als Separatdruck veröffentlicht wor­ den.2 Im Jahre 1 9 1 1 erschien eine überarbeitete Fassung als selbständige Publikation, in der Troeltsch auf die zahlreichen kritischen Stimmen einging, die sich seit der Erstpublikation zu Worte gemeldet hatten. Dieser Text wird hier auf der Grundlage der zweiten Auflage als "Ausgabe letzter Hand" ediert. Aufgenommen wird zusätzlich das Vorwort, das Troeltsch für die englische Übersetzung verfaßt hat, die 1 9 1 2 unter dem Titel "Protestantism and Progress" erschienen ist. Der vorliegende Band versammelt darüber hinaus weitere Texte, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Pro­ blemstellung der "Bedeutung des Protestantismus" entstanden sind, die These von 1 906 teils ausdrücklich modifizieren, teils nachdrücklich unter­ streichen, die Auseinandersetzung mit seinen Kritikern führen und den historischen Kontext erweitern. Es handelt sich dabei um die Aufsätze "Lu­ ther und die moderne Welt" (1 908) , "Calvinismus und Luthertum" (1 909) , "Die Genfer Kalvinfeier" (1 909) , "Calvin and Calvinism" (1 909/1 9 1 0) , "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" (1 9 1 0) und "Renaissance und Re­ formation" (1 9 1 3) . Troeltsch habe mit seiner Auffassung der Reformation "der Pauke ein Loch gemacht"3, lautet ein sinnen fälliges Diktum aus der zeitgenössischen Diskussion. Das Bild von der Pauke zielte dabei auf den Grundton, mit dem Luther und die Reformation im nationalprotestantischen Deutschland der Kaiserzeit als genealogisches Emblem einer spezifisch deutschen Moderne im Schilde geführt und gefeiert wurden. Ein Loch in die Pauke, so die Pointe des Bildes, wurde von Troeltsch geschlagen, indem er in diese starke Deu1

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So bezeichnet Troeltsch selbst seine Abhandlung, s. unten, S. 95. Vgl. den Editorischen Bericht zur "Bedeu tung", unten, S. 1 89. Walther Köhler: Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1 648 (1 908), S. 485.

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Einleitung

tung der Reformation den Riß einer differenzierten historischen Analyse an­ brachte und für eine komplexere systematische theologische und geschichts­ philosophische Betrachtung plädierte. Die "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" löste einen Streit aus, der über die fachwissenschaftliche Debatte der Historiker und Theologen hinaus exem­ plarische Bedeutung für das kulturelle Krisenbewußtsein hatte, wie es im Be­ griff des Historismus seinen wissenschaftstheoretischen Ausdruck fand. Die zahlreichen kritischen Stellungnahmen, die der Publikation des Vortrags 1 906 folgten, dokumentieren das große Echo, das der Vortrag in der wissen­ schaftlichen Ö ffentlichkeit hervorgerufen hat.4 In der Troeltsch eigenen Theoriesprache geht es in der Auseinanderset­ zung um eine Konsequenz des historischen Bewußtseins, von dem er sagte, es erschüttere "die ursprüngliche naive Zuversicht jedes herrschenden Kul­ turtypus und Wertsystems zur Selbstverständlichkeit seiner eigenen Gel­ tung"5. Dieses Urteil aus dem Einleitungsabschnitt der Absolutheitsschrift von 1 902, das sich dort auf die Stellung des Christentums in der Religions­ geschichte bezieht, trifft die Intention, mit der Ernst Troeltsch sich an den intellektuellen Selbstverständigungsdebatten am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beteiligte, die durch Erschütterung von Selbstverständlichkei­ ten des modernen Bewußtseins bestimmt waren. Ein Nukleus dieser De­ batten bildete die Frage der "Entstehung der modernen Welt", für deren Verständnis die Kulturbedeutung der Reformation eine konstitutive Rolle innehatte. In den Festreden aus Anlaß der Reformationsfeierlichkeiten im Jahre 1 883, wie sie etwa der Historiker Heinrich von Treitschke6 oder der Theologe Adolf Harnack7 vortrugen, kam die Selbstverständlichkeit unge­ brochen zum Ausdruck, mit der das protestantische geschichtliche Bewußt­ sein sich in Kontinuität mit der Reformation Martin Luthers darstellte. In Rankes Urteil wurde die Reformation zum "wichtigsten vaterländischen Er­ eigniß"8, und die Rankeschüler fühlten sich dementsprechend betroffen von dem sehr anders lautenden Urteil, mit dem Troeltsch der Diskussion eine neue Richtung gab. Im Hintergrund des geschichtlichen Bewußtseins war den Zeitgenossen das Urteil Hegels präsent, in dem die Kontinuität der Re4

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Vgl. unten, S. 21 f., Anmerkung 1 1 2. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2) , in: KGA 5, S. 1 1 3. Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation (1 883) . Adolf Harnack: Martin Luther i n seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissen­ schaft und Bildung (1 883) . Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte i m Zeitalter der Reformation, 1 . Band, hier zitiert nach der 4. Auflage von 1 867, S. VII.

Die Fragestellung

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formation zur Entstehung der modernen Welt noch nicht in die engeren Schranken des Selbstbewußtseins des deutschen Nationalstaates eingehegt war und in dem die Reformation als "das Prinzip der neuen Zeit" metapho­ risch als die "alles verklärende Sonne" betrachtet wurde, die auf die "Mor­ genröte am Ende des Mittelalters folgt".9 Die Zuversicht in dieses geschichtliche Verständnis der Kontinuität von Reformation, Neuzeit und Moderne wird im Medium des historischen Be­ wußtseins problematisiert in der Nachfrage nach empirisch identifizierbaren religiösen Motiven in der Entstehung der modernen Welt. Troeltsch hatte eine klare Vorstellung davon, welchen Stellenwert die Frage nach der "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der mo­ dernen Welt" in den zeitgenössischen Debatten der Historiker wie der Theo­ logen innehatte. Es ging dabei um Ideenpolitik oder in seinen eigenen Wor­ ten um das Hauptziel "aller Historie", das "Verständnis der Gegenwart" .10 Dieses "letzte Ziel aller Historie"1 1 reicht über die historische Forschung im akademischen Sinne hinaus, weil das Verständnis der Gegenwart die Grund­ lage und Voraussetzung für "das Handeln einer Epoche auf sich selbst" bil­ det, dem "Standort für unser Handeln ihr gegenüber"1 2 die Normen bereit­ stellt. Das für die Epoche normbildende Reformationsverständnis wurde kei­ neswegs exklusiv von den Theologen verwaltet. In der innertheologischen Diskussion nahm die Rezeption der Theologie der Reformatoren, allen vor­ an Martin Luthers, einen wichtigen Platz ein. Die um 1 900 von Kirchen­ historikern und Dogmatikern betriebene Reformationsforschung vollzog sich jedoch in einem zeitgeschichtlichen Kontext, in dem die kulturelle und politische Reformationsdeutung weithin unabhängig von der fachspezifi­ schen theologischen Forschung zum Allgemeingut der Wissenschafts- und Bildungskultur gehörte. Eine herausragende Rolle spielte dabei die Verschmelzung des Freiheits­ pathos der Aufklärung mit dem Bild der Reformation als Befreiung von der Autorität der katholischen Kirche. Troeltsch argumentiert von einem Begriff 9

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Georg Wilhe1m Friedrich HegeI: Vorlesungen über die Philosophie der Welt­ geschichte, 2. Hälfte, Band 4, hier zitiert nach der Ausgabe von 1 968, S. 877. Der Kir­ chenhistoriker Theodor Brieger eröffnete seine Darstellung der Reformations­ geschichte als "Stück aus Deutschlands Weltgeschichte", nun schon in apologetischer Wendung gegen Troeltsch, mit dem Satz: "Die moderne Zeit fängt mit Martin Luther an." Theodor Brieger: Die Reformation (1 9 1 7) , S. 3. U nten, S. 205 . Unten, S. 205 . Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1 907) , S. 1 ..... KGA 6.

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Einleitung

der Aufklärung her, den er bereits 1 897 ausgearbeitet hatte und damals mit dem Satz einleitete: "Die Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigent­ lich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte im Gegen­ satz zu der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur" 13. In dieser nicht durch Kontinuität als vielmehr durch Gegensatz bestimmten Sicht des Verhältnisses von Reformation und Neuzeit urteilt Troeltsch über die "vorbereitende und fördernde Wirkung" der protestanti­ schen Theologie, sie sei "eine Wirkung wider Willen" gewesen. 14 Diese Deu­ tekategorie wird von ihm in der "Bedeutung" durchgehend verwendet. So verwendet Troeltsch häufig Formeln wie die Wirkung sei "mittelbar und un­ gewollt" oder sie sei "mittelbar[ . . . ] und unbewußt[ . . . ]".15 Für das "Verständnis der Gegenwart" als eigentliches Ziel "aller Historie" hat Troeltschs Sichtweise eine besondere Aufmerksamkeit in der zeitgenös­ sischen kulturwissenschaftlichen Diskussion aus mehreren Gründen erlangt. Hier verknüpfte Troeltsch die allgemeinen religionsphilosophischen und re­ ligionsgeschichtlichen Debatten, in denen er prominent mit der Absolut­ heitsschrift Position bezogen hatte, mit der Diskussion um die Diagnose der Gegenwart. Er setzte sich, darin Georg Jellinek folgend und in Ü bereinstim­ mung mit Max Weber, kritisch von der vorherrschenden deutschen national­ protestantischen Geschichtsauffassung ab und wendete den Blick auf die westeuropäischen und nordamerikanischen Entwicklungen des Protestantis­ mus im Prozeß der "Entstehung der modernen Welt". Er verfolgte zugleich, darin von Max Weber unterschieden, das Ziel einer konstruktiven Umbil­ dung der Theologie, die den inneren Leitfaden seiner bisherigen Arbeiten bil­ dete. Die historische Rekonstruktion einer ungebrochenen Kontinuität zur Reformation des 1 6. Jahrhunderts in systematisch bestätigender Absicht sollte durch eine bewußt vollzogene neue historisch-systematische Kon­ struktion der Kulturbedeutung der Reformation abgelöst und in ein differen­ ziertes, gegenwartsspezifisches Kontinuitätsbewußtsein überführt werden. 2. Zum Heidelberger Diskussionskontext Das Jahrzehnt, in dem Troeltsch die Problemstellung seiner bisherigen theo­ logischen und religionsphilosophischen Arbeiten in Richtung auf die euro­ päisch-nordamerikanische Kultur hin konkretisierte, war geprägt von den

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Ernst Troeltsch: Aufklärung (1 897) , S. 225 Ebd., S. 239. Unten, S. 280 und S. 284.

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KGA 3.

Zum Heidelberger Diskussionskontext

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engen wissenschaftlichen und persönlichen Kontakten in Heidelberg, ins­ besondere im Eranos-Kreis, dessen Diskussionen sich um den Wechsel der Perspektive bewegten. Der Eranos-Kreis ist von exemplarischer Bedeutung für die kulturgeschichtlichen Debatten, an denen Troeltsch partizipierte und von denen er in der Entwicklung seiner eigenen Fragestellung geprägt wurde. Im 1904 gegründeten Heidelberger Eranos-Kreis traf sich Troeltsch zu­ sammen mit Weber mit Gelehrten wie dem Neutestamentler Adolf Deiß­ mann, dem Altphilologen Albrecht Dieterich, dem Althistoriker Alfred von Domaszewski, dem Archäologen Friedrich von Duhn, dem Kulturhistoriker Eberhard Gothein, dem Juristen Georg Jellinek, dem Neuhistoriker Erich Marcks, dem Nationalökonomen Karl Rathgen und dem Philosophen Wil­ helm Windelband zum interdisziplinären Austausch über religionswissen­ schaftliche Fragen. 1 6 Die Initiative zur Gründung des Eranos-Kreises war von Adolf Deißmann ausgegangen, der 15 Heidelberger Professoren aufge­ fordert hatte, sich "die Erforschung der Religionen und der Religion"1 7 zum Ziel zu setzen. "Monatlich einmal", so Deißmann in seinen Lebenserinne­ rungen, "trafen wir uns am Sonntagnachmittag bis zum späten Abend in un­ seren Häusern [ . ] zur gemeinsamen Behandlung religionswissenschaft­ licher Fragen [ . ] . Ich habe niemals eine so hochstehende und so ergiebige .

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Vgl. Rainer Mario Lepsius: Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1 904-1 908 (1 984) . Ebd., S. 47. Hierzu wurde eine Erklärung formuliert, die den angesprochenen Pro­ fessoren zur Unterschrift vorlag. Darin heißt es: ,, 1 . Die Unterzeichneten treten zu einer Vereinigung zusammen und behalten sich die Kooptation anderer Mitglieder vor. 2. Die Vereinigung führt den Namen Eranos und erstrebt die Erforschung der Religionen und der Religion. 3. Der Eranos tritt während des akademischen Seme­ sters monatlich einmal an einem Sonntag von 6-1 1 Uhr zusammen bei einem Mit­ glied in regelmäßigem Wechsel zusammen (siel) . 4. Der Hospes erstattet zunächst ein Referat über ein religionswissenschaftliches Thema oder gibt einen Bericht über Ent­ deckungen, Publikationen etc. aus dem Gebiet der Religionswissenschaft und ihrer Grenzdisziplinen. 5. Hieran schließt sich eine in geregelten Formen abzuhaltende Diskussion. 6. Um 1 /2 9 Uhr findet ein einfaches Mahl statt. 7. Nach Tisch Fortset­ zung des wissenschaftlichen Austausches in freierer Weise. 8. Die behandelten The­ mata (ev. mit Skizzierung des Inhalts und der Diskussion) sowie etwaiger sonstiger Notabilia werden in ein Album eingetragen. 9. Die Mitglieder betrachten die Teil­ nahme an den Tagungen als ein Offizium, von dem bloß die triftigsten Gründe dis­ pensieren". Zitiert nach: Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsge­ schichte (1 997), S. 298. Troeltsch, der zu den Erstunterzeichnern gehörte, schrieb hinter seinen Namen: "findet aber zugleich Erweiterung der Themata auf die von je­ dem bearbeiteten Gebiete nötig" (ebd., S. 298) .

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Einleitung

Form akademischen Austauschs und freundschaftlich-geselliger Geistig­ keit wiedererlebt" . 1 8 Marie Luise Gothein führt in der Biographie über ihren Mann aus, daß der Eranos-Kreis "zu Anfang das ganz ausgesprochene Ziel verfolgte, in gegenseitiger Aussprache religions historische Fragen zu unter­ suchen. Die Gründung ging von dem Theologen Deißmann und von Diete­ rich aus, aber man darf wohl sagen, daß sich mühelos die führenden Köpfe der philosophischen Kreise jener Jahre auf diesem Gebiete zusammen­ fanden. [ . . . ] Alle die Männer suchten besonders in den ersten fruchtbaren Jahren des Eranos dem Problem der Religion als dem tiefsten Menschheits­ problem von den verschiedensten Seiten nahezukommen. Und es war ein belebender Umstand, daß fast alle Fakultäten vertreten waren. Von der so­ ziologischen Seite kamen Gothein und Weber an [das] Problem heran, und die Arbeiten Max Webers haben gewiß in der Berührung und Aussprache in diesem Kreise zuerst Wurzel geschlagen, wie in den Vorträgen, die jedesmal der Wirt in seinem Hause hielt, die ersten Resultate niedergelegt wurden."1 9 Auch Troeltsch verweist in seiner Stellungnahme zu Felix Rachfahl auf das soziologische Interesse dieser Zusammenkünfte.2o Dies wird von Marie Luise Gothein bestätigt: "Interessant ist zu beobachten, wie sich allmählich in diesen Jahren bei den führenden Köpfen Heidelbergs, die sich im Eranos zusammenfanden, der Schwerpunkt des Interesses von den religionshistori­ schen Fragen zu den soziologischen verlegte. Freilich Dieterich war tot und Deißmann fort, aber Troeltsch, Jellinek, Gothein waren ganz für die Sozio­ logie gewonnen. In jenen Jahren gerade zeigte sich die geistige Führerschaft Max Webers immer deutlicher. In seiner großangelegten Religionssoziologie gab er gleichsam den Schnittpunkt der beiden Interessenkreise. "21 Laut Protokollbuch des Eranos-Kreises referierte Troeltsch am 1 5. Januar 1 905 auf der 8. Sitzung über den "Zusammenhang des Protestantismus mit dem Mittelalter"22. Troeltsch entwickelte hier pointiert seine These, daß "der Protestantismus in seinem symbolgemäßen u [nd] echten Bestande eine Um­ bildung u [nd] Fortsetzung des Mittelalters"23 sei. In der Diskussion habe Gothein, so der Protokolleintrag, "sich der traditionellen Auffassung" ange­ nommen; Weber habe "geschichtsmethodologische Bedenken" formuliert und "für den Begriff der lex naturae genauere Definitionen" verlangt sowie 18

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Adolf Deißmann: [Selbstbiographie] (1 925) , S. 22 f. Marie Luise Gothein: Eberhard Gothein (1 931), S. 1 48 f. Vgl. unten, S. 1 46. Marie Luise Gothein: Eberhard Gothein (1 931), S. 21 3. Das Protokoll dieser Sitzung ist abgedruckt in: Friedrich Wilhe1m Graf: "endlich große Bücher schreiben" (1 993) , S. 49 f. Ebd., S. 49.

Zum Heidelberger Diskussionskontext

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die " Ü bergänge zur modernen Cultur sehr viel stärker als der Referent" be­ tont.24 Auf der 23. Sitzung am 3. November 1 907 sprach Troeltsch über die "Soziallehren der alten Kirche". 25 Den Diskussionen im Eranos-Kreis voraus liegt die bedeutende Studie von Georg Jellinek über "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte", in der Jellinek bereits 1 895 auf exemplarische Weise die Kulturbedeutung des Religiösen herausgearbeitet hatte. Jellinek sei, so Troeltsch, die "wirkliche er­ leuchtende Entdeckung" gelungen, daß die "Idee der Menschenrechte" aus "puritanisch-religiösen Prinzipien" sich ableite.26 In "Die Protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" führt Weber aus, daß Jellineks Stu­ die grundlegend sei für "die Geschichte der Entstehung und politischen Be­ deutung der ,Gewissensfreiheit"'; ihr verdanke er "die Anregung zur erneu­ ten Beschäftigung mit dem Puritanismus". 27 1 9 1 1 spricht Weber davon, daß ihm "wesentlichste Anregungen" aus Jellineks Arbeiten vermittelt worden seien, etwa "der Nachweis religiöser Einschläge in der Genesis der ,Men­ schenrechte' für die Untersuchung der Tragweite des Religiösen überhaupt auf Gebieten, wo man sie zunächst nicht sucht".28 Bereits 1 904 nennt Troeltsch Jellinek neben Weber als wichtigste Referenz in "praktisch-politi­ schen und staatsrechtlichen Ansichten"29. Jellinek hatte ebenfalls 1 904 im Eranos über "Die religiösen und metaphysischen Grundlagen des Liberalis­ mus" referiert und in seinem Vortrag auf "den ununterbrochenen Zusam­ menhang der politischen Werthaltungen mit den religiösen Grundauffassun­ gen hingewiesen" und den "Einfluß der christlichen Lehre und der alten und mittelalterlichen Kirche auf das Bewußtsein von einer dem Staat gegenüber selbständigen Sphäre des Individuums dargelegt".3o

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Ebd., S. 50. Das Protokollbuch verweist hier auf die entsprechende Publikation Troeltschs im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Band 26, vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial­ politik 26 (1 908) , S. 649-692. Unten, S. 264-266. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 21 , 1 905) , S. 43. So Weber in einer Tischrede bei der Hochzeit von Jellineks Tochter Dora, abgedruckt in: Marianne Weber: Max Weber (1 926), hier zitiert nach der 3. Auflage von 1 984, S. 484, unter dem Titel "Gedenkrede auf Georg Jellinek" auch in: Rene König, Johan­ nes Winckelmann (Hg.) : Max Weber zum Gedächtnis (1 985) , S. 1 5 . Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (1 904), S. 3. Zitiert nach: Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte (1 997), S. 223.

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Einleitung

Wichtig ist auch die frühe Arbeit von Eberhard Gothein über "Die Wirt­ schaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften" von 1892, in der er, so Weber, die "calvinistische Diaspora mit Recht als die ,Pflanzschule der Kapitalwirtschaft' " bezeichnet habeY Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Troeltschs, daß er im "Bannkreis einer so übermächtigen Persönlichkeit wie Max Weber" für seine "soziologische [n] Studien" Gewinn aus der kollegialen Freundschaft mit Weber gezogen habe.32 Zu der Zeit, als die Soziologie für Troeltsch noch eine "neue Art zu sehen" bedeutete, seien, so Troeltsch im Rückblick, für Max Weber diese ihm selbst noch "aufdämmernden Wunder längst Selbstverständlichkeiten" gewesen.33 Die "prinzipielle Erleuchtung der Gestaltung und Bewertung alles Historischen überhaupt" sei der "Punkt" gewesen, so Troeltsch in seinem Nachruf auf Max Weber, wo seine und We­ bers "Forschung sich von selbstständigen Ausgangspunkten her begegneten, und wo meine mehr ideologische Richtung mit seiner mehr soziologischen sich immer neu maß und ausglich".34 Webers Arbeiten seien so mehr dem "rein Tatsächlichen zugewendet [ . . ], und zwar vom Standpunkt und Inter­ esse der Wirtschafts- und der Sozialgeschichte aus"35. Weber hingegen schätzte sehr die "Mitarbeit der Theologen an zahlrei­ chen Problemen der Kulturgeschichte"36, wie er in einem Brief an Ferdinand Tönnies vom 2. März 1 909 berichtete. Nach seinen "Erfahrungen bei eige­ nen Bemühungen in die Psychologie religiöser Faktoren einzudringen, ebenso nach den Erfahrungen bei den lebhaften Debatten zwischen strikt irreligiösen Religionsgelehrten (Dieterich war hier ein Prachtexemplar dieser .

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Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 20, 1 904) , S. 9. Das Zitat findet sich bei Eberhard Gothein: Die Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften (1 892) , S. 674: "Wer den Spuren der kapitalistischen Entwickelung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: Die calvinistische Dia­ spora ist zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit bitterer Resignation dahin aus: ,Die Ketzerei befördert den Handelsgeist.' " Vgl. auch Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 559, wo Weber darauf hinweist, daß Gotheins "hierher gehörige Bemerkungen über ein Jahrzehnt vor Erscheinen meines Aufsatzes gedruckt waren", vgl. auch ebd., S. 560. Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1 923) , S. 1 73 KGA 1 1 . Ebd., S. 9. Ernst Troeltsch: Max Weber als Gelehrter (1 920) , S. 1 KGA 1 1 . Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S. 1 5 KGA 9. Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies, 2. März 1 909, in: Max Weber: Briefe. 1 909-1 9 1 0 (1 994) , S. 69-70, hier S. 70. -+

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Zur werkinternen Entwicklung

Art) und theologisch geschulten in unserem ,Eranos' hier über Fragen der Religionsgeschichte und Religionsvergleichung" schätze er sehr die theo­ logische Kompetenz, die durch "keine noch so eingehende Kenntnis eines Outsiders ersetzbar ist".37 Troeltsch, so führt Weber weiter aus, sei in der "historischen Diskussion" im Eranos-Kreis "stets unbefangener als Diete­ rich" gewesen.38

3. Zur werkinternen Entwicklung In einem Brief an Friedrich von Hügel schreibt Troeltsch von seiner "letz­ ten Arbeit ,Protestantismus' " (gemeint ist die "Bedeutung des Protestantis­ mus") , er habe sich, "aus Anlaß einer Aufforderung, alte und lang gehegte Gedanken vom Herzen geschrieben", von denen er annehme, "daß sie für die Auffassung der Dinge nicht unerheblich" seien.39 Diese Bündelung sei­ ner Fragestellung in der "Bedeutung des Protestantismus" läßt sich in einer differenzierten Rekonstruktion der Entwicklung seiner Fragestellung nach­ zeichnen. Als Troeltsch die Aufgabe zufiel, anstelle von Max Weber den Vortrag vor dem Historikertag in Stuttgart zu halten,4o hatte er gerade seinen Beitrag "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" für das Anfang 1 906 erschienene Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart" abgeschlossen. Zu Beginn des Jahres 1 906 erklärte Troeltsch gegenüber Carl Neumann, daß seine "litterarischen Pläne [ . . . ] jetzt auf eine Religionsphilosophie u [nd] dann auf die Geschichte der Aufklärung"41 gingen. Kurz vor der "Bedeu­ tung des Protestantismus" hatte sich Troeltsch 1 904 dem Thema "Politische Ethik und Christentum" zugewandt. 42 Die Beschäftigung mit konfessions-

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Ebd., S. 70. Ebd., S. 70. Brief Troeltschs an Friedrich von Hügel, 1 4. Mai 1 906, in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 90 1 -1 923 (1 974) , S. 79 KGA 1 8/19. S. hierzu unten, S. 16 f. BriefTroeltschs an Carl Neumann, 2. Januar 1 906, Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 379 1 , Nr. 1 1 (Carl Neumann) KGA 1 8/ 1 9. Zu Troeltschs Plan, eine Ge­ schichte der Aufklärungsbewegung zu schreiben, vgl. unten, S. 1 3 f. Vgl. Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (1 904) KGA 6. Zu weite­ ren thematisch verwandten Texten Troeltschs zählen u. a. seine Beiträge "Religion und Wirtschaft" (1 9 1 3) KGA 1 1 , "Luther und das soziale Problem" (1 9 1 7) KGA 1 1 , "Luther und der Protestantismus" (1 9 1 7) KGA 1 1 , "Protestantismus ->-

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Einleitung

geschichtlichen Fragestellungen reicht weiter zurück, sie bestimmt von An­ fang an das Forschungsprogramm Troeltschs. In der Schrift "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsge­ schichte" von 1 902 skizziert Troeltsch ein theologisches Programm, in dem die "Sache" selbst, das heißt die "religiös-ethische Ideen- und Lebenswelt selbst", zu Wort kommen solle.43 Diese Aufgabenstellung habe, so Troeltsch im Rückblick, von Anfang an seine wissenschaftliche Arbeit geleitet. Es sei ihm um "eine allgemeine Entwicklungsgeschichte des religiösen Geistes auf der Grundlage seiner Verwurzelung im allgemeinen Leben und die beson­ dere Stellung und Beurteilung des Christentums in dieser universalen Ent­ wicklung"44 gegangen. Zwar habe er sich die Aufgabe gestellt, "diese Ent­ wicklung zuerst am Christentum selbst im engeren Zusammenhange der bloß europäischen Kulturgeschichte auszuweisen, um dann damit dessen charakteristische gegenwärtige Situation möglichst klar und vorurteilslos zu begreifen", praktisch habe sich in seiner Arbeit doch erwiesen, daß es unum­ gänglich gewesen sei, diese Fragestellung zu verengen.45 Es habe ihn beson­ ders "die Entstehung der modernen Lage und ihrer Probleme" gereizt, "was ja zugleich auf den Kampf und die Auseinandersetzung der wesentlich über­ lieferten religiösen Mächte mit den neuen, in der Philosophie vor allem sich ausdrückenden Geistesmächten führte".46 Troeltschs "historische [ . . ] Studien"47 begannen mit seiner Erstlings­ schrift "Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon", in der er, wie er 1 902 selbstbewußt ausführt, den "Begriff des sittlichen Na­ turgesetzes oder der lex naturae"48 erstmalig in der neueren Theologie ent­ deckt habe. Mit diesem "Grund- und Stammbegriff der christlich-kirch­ lichen Lehre" sei es der mittelalterlichen Theologie gelungen, die "ganze weltliche Ethik in Staat, Gesellschaft, Recht und Wirtschaft von hier aus mit .

und Sittlichkeit" (1 9 1 7) KGA 1 1 und "Ernste Gedanken zum Reformations-Jubi­ läum" (1 9 1 7) KGA 1 1 . Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2) , in: KGA 5, S. 239. Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1 923), S. 1 68 KGA 1 1 . Ebd., S. 1 68 f. Ebd., S. 1 69. Ebd., S. 1 70. Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte (1 901), S. 21 KGA 4. "Unabhängig" von ihm habe Wilhelm Dilthey "den gleichen Begriff mit vollkommen übereinstimmenden Ergebnissen behandelt" (S. 21 f.) . Vgl. Wilhelm Dilthey: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhun­ dert (1 892/1 893) . -+

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dem mosaisch-christlichen Gesetz in innere Verbindung" zu bringen und die "spezifisch kirchliche Ethik an diesen Begriff" anzulehnen.49 Erst diese "Gleichung" habe das "Christentum zu einem Cultursystem" gemacht.5o Die "christliche Idee" lasse sich als eine einheitliche Idee nur begreifen, so­ lange "sie in ihrer reinen Innerlichkeit bei sich selber bleibt".51 Wenn die christliche Idee aus dieser Innerlichkeit heraustrete, entstehe ein "Oscillieren zwischen dem rein religiösen Ideal" und den "innerweltlichen Idealen einer Beherrschung [ . . . ] der natürlichen Welt".52 Die "christliche Ethik", so Troeltsch in seinem Vortrag "Politische Ethik und Christentum" von 1 904, sei demnach keine "christliche politische Ethik", sondern es könne nur um den "Beitrag der christlichen Ethik zur politischen Ethik" gehen. 53 Die Hauptwir­ kung des christlichen Ideals auf den Staat sieht Troeltsch darin, daß das Chri­ stentum als "Religion der Persönlichkeit und als Religion der Fügung in die Ordnungen Gottes" der "politisch-sittlichen Idee" die "unbedingte Schätzung der Persönlichkeit und die pietätvolle Selbstbescheidung" mitgegeben habe.54 Es herrsche, so Troeltsch in einem Brief an Carl Neumann, ein "tiefe [r] Gegensatz zwischen einer aus dem religiös-ethischen Gedanken kommen­ den Menschheitsverfassung und allem, was die natürlichen Lebensbedingun­ gen der Menschheitsverfassung liefern. Hier ist eine tiefe Kluft zwischen Welt einerseits und Gottesreich, platonischem Staat usw. andererseits, die immer nur ein Komprorniß überbrückt, die aber zum Schicksal des irdischen Lebens gehört". 55 Dieses "Ganze" bedürfe, so beschreibt Troeltsch 1 901 in der Seeberg­ Rezension das aus diesen Thesen resultierende Forschungsvorhaben, "drin49

Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte (1 901), S. 22 f. KGA 4. Ebd., S. 25. Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (1 904) , S. 36 KGA 6. Ebd., S. 36. Vgl. auch Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (1 902) , S. 1 67 (GS II, S. 657 f.) KGA 1 0: Das "Sittliche" wird hier als etwas "Vielspältiges" verstanden, genauer als "Polarität der religiösen und der humanen Sittlichkeit". Zwar müsse sich eine "Vereinheitlichung [ . . . ] immer von der religiös sittlichen Idee aus herstellen" (S. 1 68, im Original hervorgehoben, GS 11, S. 658) , diese "allseitige durchgeführte [ . . . ] Einordnung der humanen Zwecke in den christlich-sittlichen" gehe aber nicht "glatt auf und kann nichtglatt aufgehen. Es bleibt immer eine bloße Vermittelung zwischen den beiden Polen, sie werden nie zur Deckung gebracht, und die wirkliche Sittlichkeit des Lebens oszilliert daher von dem einen zum andern." (S. 1 70, GS 11, S. 66 1). Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (1 904), S. 35. Ebd., S. 36. Brief Troeltschs an Carl Neumann, Juni 1 908, in: Carl Neumann: Zum Tode von Ernst Troeltsch (1 923) , S. 1 65 KGA 1 8/ 1 9 . -+

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ge nd einer dogmengeschichtlichen [ ] Monographie", die "theologische, juristische, nationalökonomische und philosophische Kenntnisse" ver­ einige.56 In den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" wird er rückblickend davon sprechen, daß die "Soziallehren" die "Ausführung des Programms" darstellten, das er in der Seeberg-Rezension "entworfen" habeY Zugespitzt wurde dieses Forschungsprogramm vor allem auf die "Frage", von "wann denn überhaupt die moderne geistige Gesamtlage datiere", von wann sich die "Durchsetzung einer autonomen weltlichen Bildung und Kul­ tur gegen die theologisch gebundene" datieren lasse. 58 Eine erste Antwort gibt Troeltsch in seinen Beiträgen zur "Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche" "Aufklärung" (1 897) , "Deismus" (1 898) und "Mo­ ralisten, englische" (1 903 ) . Hier wird klar formuliert, daß die moderne Welt erst mit der Aufklärung, deren Grundlage im 1 7. Jahrhundert liege und die im 1 8. Jahrhundert ihre Blüte hätte, begonnen habe. 59 Die Aufklärung sei zwar von einem "einzigartigen Selbstständigkeitsgefühl" erfüllt gewesen und habe der "endlich mündig gewordenen Vernunft eine nie geahnte weltver­ bessernde Wirkung" zugetraut.60 Jedoch sei die Aufklärung "ein durch und durch historisch bestimmtes Erzeugnis bestimmter Verhältnisse und La­ gen"61 . So seien etwa die "allgemeinen Menschenrechte der Religions- und Gewissensfreiheit" als eine Hauptwirkung der Aufklärung nicht lediglich als "Erzeugnis eines subjektiven Rationalismus" zu betrachten, sondern gingen vielmehr historisch auf den "reformatorischen religiösen [ . ] sowie auf den germanischen rechtlichen Individualismus" zurück.62 Hier zeigt sich Troeltschs kulturgeschichtliches Denken, das einerseits der Umformung der christlichen Überlieferung im Übergang zur Neuzeit nachgeht und die Auf­ klärung als "die erste umfassende und prinzipielle Opposition gegen die dua­ listisch-supranaturalistische Gestalt der Religion"63 begreift, andererseits danach fragt, welche prägende Kraft das Christentum für die Gegenwarts. . .

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Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Lehrbuch der D ogmengeschichte (1 90 1), S. 25 KGA 4 . Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 9 5 0 KGA 9 . Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1 923) , S . 1 69 KGA 1 1 . Vgl. Ernst Troeltsch: Aufklärung (1 897) , S. 225 KGA 3. Ebd., S. 225. Ebd., S. 225. Ebd., S. 227. Troeltsch verweist hier u. a. bereits auf Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1 895) . Ebd., S . 225. -+

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kultur besitzt. Troeltschs Ansatz basiert auf der Spannung zwischen der Fremdheit des Christentums gegenüber der modernen Welt und der gleich­ zeitigen Auffassung, daß die bestimmenden Grundlagen der Moderne we­ sentlich der christlichen Tradition entstammten. Dieses gegenwartsdiagnostische Interesse, die Frage nach der kulturellen Relevanz protestantischen Christentums in der Moderne, leitet die konfes­ sionsgeschichtlichen Arbeiten Troeltschs. Christliche Ideengeschichte unter Einbeziehung der materialen historischen Prozesse wird damit zu dem Ver­ such, die "eigentliche innere, religiöse und organisatorische Entwicklung des Protestantismus darzustellen", ohne dabei die Berührung "mit der Literatur, der Philosophie und der Gesellschaft" zu verlieren.64 Die für dieses neue Verständnis der Dogmengeschichte nötigen kirchen­ geschichtlichen, sozialgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Studien sind eingegangen in die beiden großen Abhandlungen "Protestantisches Chri­ stentum und Kirche in der Neuzeit" von 1 906 und die seit 1 908 im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienenen "Die Soziallehren der christlichen Kirchen", die 1 9 1 2 zusammengefaßt und erweitert eigen­ ständig als "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" er­ schienen sind. Troeltschs historisches Forschungsprogramm spiegelt sich auch in meh­ reren nicht realisierten Publikationsvorhaben wider, die seit den 1 890er Jah­ ren von ihm geplant waren. Troeltsch wurde bereits 1 89 1 , als er noch Pri­ vatdozent in Göttingen war, vom Sieb eck-Verlag als Autor für die Reihe "Grundriss der theologischen Wissenschaften" gewonnen.65 Troeltsch sollte den Band "Geschichte der protestantischen Theologie" bearbeiten; als Ab­ gabedatum wurde der Januar 1 895 festgelegt. Troeltsch, der in Briefen der neunziger Jahre mehrmals auf seine kontinuierliche Arbeit am "Grundriss" zu sprechen kommt,66 bekam 1 898 von den Historikern Georg von Below und Friedrich Meinecke zudem das Angebot, für das von ihnen herausgege­ bene "Handbuch der mittelalterlichen u [nd] neuzeitlichen Geschichte" den Band "Aufklärungsbewegung" zu übernehmen, wie Troeltsch seinem Haus-

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Unten, S. 304. Vgl. den von Troeltsch mit Datum vom 9. Juli 1 89 1 unterschriebenen "Verlagsvertrag über die Mitherausgabe eines Grundrisses der theologischen Wissenschaften", Ver­ lagsarchiv J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , Tübingen. Vgl. etwa Brief Troeltschs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 29. Juni 1 899, Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (paul Siebeck) , Tübingen -- KGA 1 8/19. Troeltsch führt darin aus, daß seine Beiträge für die "Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche" Teile des "Grundrisses" seien, "der überhaupt niemals ruht".

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Einleitung

verleger Paul Siebeck am 1 9. November 1 898 mitteilte.67 Troeltsch fühlte sich "durch diese Aufforderung der Profanhistoriker sehr geehrt"68, wollte aber ohne Rücksprache mit Siebeck nichts unternehmen. Troeltsch einigte sich mit von Below und Meinecke im weiteren Verlauf darauf, den Band "Ge­ schichte der Aufklärungsbewegung" zu übernehmen, allerdings ließ er sich zehn Jahre Bearbeitungszeit einräumen.69 Vom "Grundriss" rückte Troeltsch in der Folgezeit jedoch wieder ab; er beabsichtige, so Troeltsch in einem Brief an Paul Wernle, seine "Gesch[ichte] d[er] Theologie nicht als Grundriß, son­ dern als Lehrbuch zu schreiben u[nd] sie nicht als Geschichte der Ge­ samttheologie zu behandeln, sondern mindestens vorläufig als Geschichte der neueren Theologie von der Aufklärung ab"70. Er könne, so erläuterte Troeltsch in einem ausführlichen Schreiben an Paul Siebeck seine Distanz zum "Grundriss", "den Stoff der Geschichte der Theologie in einem Grund­ risse nicht bewältigen"71 . Dieses "Thema" sei "allmählich" seine "Haupt­ arbeit" geworden, insbesondere sei "die Geschichte der neueren Theologie etwa das was man neuere Dogmengeschichte seit 1 800 nennen könnte" zum "Kern" seiner "ganzen Arbeit" geworden.72 Diese Arbeit, sein "eigent­ liches Hauptbuch", wolle er in ,,2 Bänden publiciren", selbstverständlich bei 67

Vgl. Brief Troeitschs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 1 9 . November 1 898, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen KGA 1 8/1 9. Ebd. Vgl. Brief Friedrich Meineckes an den Verlag R. Oldenbourg, 6. Januar 1 899, IHK-WA München, F 5 / v 4. Meinecke schreibt weiter, daß sie, um Troeltschs "aus­ gezeichnete u. gerade für dieses Thema besonders gerüstete Kunst zu gewinnen, dar­ auf eingehen müßten". Oldenbourg erklärte sich mit der langen Bearbeitungsfrist einverstanden (vgl. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Friedrich Meinecke, 1 3. Januar 1 899, IHK-WA München, F 5 / v 4) . Am selben Tag schickte er Troeltsch einen entsprechenden Verlagsvertrag (vgl. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 1 3. Januar 1 899, IHK-WA München, F 5 / v 4) . Troeltsch, der nach 1 908 (dem vorgesehenen Publikationszeitpunkt) von Oldenbourg mehrmals an das "Handbuch" erinnert wurde, ist spätestens 1 9 1 3 von seinem Vertrag zurückgetreten. Vgl. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Georg von Below, 29 . Januar 1 9 1 3, IHK-WA München, F 5 / v 5: "Herr Prof. Tröltsch hat uns seinerzeit gebeten, von seinem Vertrag zurücktreten zu dürfen, scheidet also aus der Zahl der Mitarbeiter aus." Brief Troeltschs an Paul Wernle, 1 8. März 1 901 , Universitätsbibliothek Basel, NL Paul Wernle, III B 1 83, auch in: Friedrich Wilhe1m Graf: Ernst Troeltsch. Briefe und Karten an Paul Wernle (1 995) , S. 1 1 2 f. KGA 1 8/ 1 9 . Brief Troeltschs a n den Verlag J . c. B . Mohr (paul Siebeck) , 1 . August 1 90 1 , Verlags­ archiv J. c. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen KGA 1 8/19. Ebd. ->-

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Siebeck.73 Das Projekt bei Oldenbourg wolle er bis zum Abschluß des ersten Bandes ruhen lassen. Das zweibändige "Handbuch" versteht er als "eine Art Fortsetzung von Harnacks Dogmengeschichte": "Ich will ein großes prinzi­ pielles Werk schaffen, das Eigentümlichkeit u[nd] Wesen der neueren Theo­ logie im Zusammenhang mit der Culturgeschichte auseinandersetzt u [nd] diese gegen die gesamte alte seit der Entstehung des altchristlichen Dogmas kontrastirt. Das ist der Kerngedanke aller meiner Arbeiten u[nd] den will ich nun in einer großen Arbeit historisch auseinandersetzen."74 4. Reformation und Neuzeit: "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" Die Einladung, auf dem IX. Deutschen Historikertag in Stuttgart über "die­ ses Thema"75 einen Vortrag zu halten, gab Ernst Troeltsch zum ersten Mal die Gelegenheit, vor der repräsentativen Ö ffentlichkeit der Historikerzunft aufzutreten und als Theologe seine historische Kompetenz in einer aktuellen Diskussion unter Beweis zu stellen, die insbesondere durch historisch arbei­ tende Nationalökonomen in Gang gesetzt worden war. Das Thema des Vor­ trages war offenkundig zugeschnitten auf Max Webers Studie über "Die Pro­ testantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus", deren erster Teil im November 1 904 erschienen war.76 Weber hatte in seiner Untersuchung da­ von gesprochen, daß "der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande" sei, sich "die Bedeutung, welche religiöse Bewußt­ seinsinhalte auf die Lebensführung" hätten, "so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist".77 Schon vor Webers Untersuchung befaßten sich die Nationalökonomen Lujo Brentano78 und Werner Sombart79 mit der glei­ chen Problemstellung.

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Ebd. Ebd. Unten, S. 201 . Auf der Titelseite von Band 20 des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" ist das Jahr 1 905 angegeben. Der zweite Teil (Band 21) wurde im Juni 1 905 ausgelie­ fert. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 2 1 , 1 905), S. 1 1 0. Vgl. etwa Lujo Brentano: Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte (1 90 1). Vgl. v. a. Werner Sombarts "Der moderne Kapitalismus", 1. Band (1 902) , z. B. S. 380 f.: "Daß der Protestantismus, zum al in seinen Spielarten des Calvinismus und Quäkertums, die Entwicklung des Kapitalismus wesentlich gefördert hat, ist eine zu

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Einleitung

In dieser Diskussion ging es um die für das historische Verständnis der Moderne repräsentative Rolle des Kapitalismus und die Rekonstruktion vor allem der religiösen Faktoren, welche die Genese des modernen Kapitalis­ mus mit der Vorgeschichte zu verbinden erlaubten. Das besondere Interesse, mit dem diese durch die Suche nach Elementen geschichtlicher Kontinuität bestimmte Problemstellung sich der Religion - in erster Linie dem ge­ schichtlichen Christentum - zuwandte, war nicht zuletzt durch die Ausein­ andersetzung mit der materialistischen, vor allem marxistischen Geschichts­ deutung bestimmt. Die Nationalökonomen suchten eine Brücke gleichsam nach rückwärts zu schlagen, um auf diesem Wege den Modernitätsanspruch des Kapitalismus wie der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt in den Zusammenhang der europäisch-nordamerikanischen Kultur zu integrieren und dadurch die nicht zu übersehenden Brüche in deren spezifisch moder­ nen Ausprägung differenzierter wahrnehmen zu können. Ernst Troeltsch hat das ihm gestellte Thema denn auch dementsprechend präzisiert und den "anspruchsvollen, unser Dasein ungebührlich verallgemeinernden" Begriff der "modernen Welt" zugespitzt auf den "Begriff der modernen europäisch­ amerikanischen Kultur". so Die Anfrage an Troeltsch, den Weber zugedachten Vortrag zu überneh­ men, resultierte insofern aus einer Diskussionslage, in der die Frage nach der Rolle der religiösen Herkunftsmächte für die Herausbildung der Moderne aktuell präsent war und darum der Beitrag eines Theologen, der sich als für diese Problemstellung kompetent und offen erwiesen hatte, nahelag. Max Weber hat in diesem Sinne in einem Schreiben an den Präsidenten des Historikertages, Georg von Below, vom 23. August 1 905 ausdrücklich auf Ernst Troeltsch verwiesen.B I So war es nur folgerichtig, daß Weber von Be­ low Troeltsch als Redner an seiner Stelle vorschlug. Er bat jedoch von Below,

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bekannte Thatsache, als daß sie des weiteren begründet zu werden brauchte. Wenn jedoch jemand [ . . . ] einwenden wollte: die protestantischen Religionssysteme seien zunächst vielmehr Wirkung als Ursache des modern-kapitalistischen Geistes, so wird man ihm schwer die Irrtümlichkeit seiner Auffassung darthun können, es sei denn mit Hilfe eines empirischen Nachweises konkret-historischer Zusammenhänge". Unten, S. 208. Vgl. Brief Max Webers an Georg von Below, 23. August 1 905, GStA Berlin, HA I, Rep. 92, NL Max Weber, Nr. 30, Bd. 4, BI. 1 30. Auszüge des Briefes sind abgedruckt in der maschinenschriftlichen Dissertation von Hans Cymorek: Georg von Below. Politische Geschichtswissenschaft in einer Zeit des Umbruchs, Diss. masch. Univ. Berlin, 1 995. Dem Autor sei für diesen Hinweis herzlich gedankt. Die Passage wurde in die gedruckte Fassung der Dissertation "Georg von Below und die deutsche Ge­ schichtswissenschaft um 1 900" (1 998) nicht übernommen.

"Die Bedeutung des Protestantismus"

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"Tröltsch nicht zu schreiben, dass ich ihn in Vorschlag gebracht habe"82. We­ ber begründete in diesem Brief ausführlich sein Zurücktreten zugunsten des Freundes: "Tr. 's vortreffliche Leistung (bei Hinneberg)83 mag in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurück­ gehen, (vielleicht noch mehr, als er weiss) - aber er ist der theologische Fach­ mann und beherrscht damit das Entscheidende: die massgebende Idee. Hat nun der Fachmann eine umfassende Leistung vorgelegt, so soll er sie m. E. vor der Oeffentlichkeit vertreten. Es würde sich sonderbar ausnehmen, wenn ich das jetzt täte. Zudem hat Tr. natürlich eine Fülle von Dingen geleistet, (Ana­ lyse Luthers, Calvins) , die ich so absolut garnicht hätte leisten können, weil mir die Kenntnisse dazu fehlen. Also ist er der Berufenere, und ich denke er wird sich auch sehr gern dazu bereit finden lassen, wenn ich ihm ausrede, dass ich ihm ein ,Opfer' durch mein Zurücktreten bringe."84 Webers Vorschlag fiel bei von Below auf fruchtbaren Boden, hatte er ja schon früh Kontakt mit dem historisch arbeitenden Troeltsch. Georg von Below war auch "der erste und lange Zeit einzige"85 Fachgelehrte, so Max Weber, der sich mit den historischen Thesen Sombarts auseinandergesetzt habe. Georg von Below hatte selbst 1 903 auf dem VII. Historikertag in Hei­ delberg, bei dem Troeltsch zum Ortsausschuß gehörte, der den Historiker­ tag vorbereitete, ein Referat über "Die Entstehung des modernen Kapitalis­ mus" gehalten, an das sich eine heftige Debatte über Sombarts Thesen zur Genese des modernen Kapitalismus anschloß.86 Als Organisator des Histo­ rikerkongresses in Stuttgart konnte von Below damit eigene Forschungsin­ teressen in den Mittelpunkt stellen. Innerhalb dieser komplexen Problemstellung steht für Troeltsch nicht die historisch-soziologische Erinnerung religiöser Motive in der Genese der

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Ebd. Weber bezieht sich auf Troeltschs Beitrag "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" aus der von Paul Hinneberg herausgegebenen "Die Kultur der Ge­ genwart" von 1 906, die in Teilen bereits 1 905 ausgeliefert wurde. Ein Sonderdruck von Troeltschs Beitrag mit der gedruckten Jahresangabe 1 905 aus Max Webers Bi­ bliothek ist überliefert. Brief Max Webers an Georg von Below, 23. August 1 905. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (1 904, Band 20) , S. 20. Gemeint ist von Belows Rezension von Sombarts "Der moderne Ka­ pitalismus", die von Below 1 903 unter dem Titel "Die Entstehung des modernen Ka­ pitalismus" in der "Historischen Zeitschrift" publizierte. Vgl. Bericht über die siebente Versammlung deutscher Historiker zu Heidelberg (1 903) . Vgl. hierzu auch Friedrich Wilhe1m Graf: Die "kompetentesten" Gesprächs­ partner? (1 995) , S. 221 .

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Einleitung

Moderne im Vordergrund, sondern die Modernitätsfähigkeit der Religion, genauer: des geschichtlichen Christentums, wie er sie in der Frage nach der "Zusammenbestehbarkeit"87 von Christentum und moderner Wissenschaft auf eine charakteristische Formel gebracht hatte und die in das Programm einer "Umdenkung des ganzen religiösen Bestandes"88 mündete. Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt stellte für den Theologen Troeltsch deswegen ein Thema dar, das mit einem großen Fragezeichen versehen ist. Sein Vortrag hatte denn auch nicht die Erwartung erfüllt, die "Bedeutung des Protestantismus" affirmativ zu bestätigen. Vielmehr hatte Troeltsch das ihm übertragene Thema metho­ disch und inhaltlich nach dem gleichen Muster kritisch behandelt wie zuvor die theologische und religionsphilosophische Fragestellung, die sich um die Verortung der Theologie, des Christentums, der Religion im Kontext der Moderne versammelt. Im Vorwort bemerkt Troeltsch, in dem Vortrag, wie er auf dem Histori­ kertag gehalten worden sei, "waren seinerzeit die Anfangs- und Schlußpar­ tien stark verkürzt"89. Aus dem Protokoll des Vortrags geht hervor, daß Troeltsch im mündlichen Vortrag sogleich mit der Unterscheidung von Alt­ und Neuprotestantismus eingesetzt hatte.9o Für die "Gesamtanschauung" aber seien "natürlich Anfang und Ende nicht zu entbehren".91 In der Tat ist es diese "Gesamtanschauung", in deren Zusammenhang die Behandlung des Themas vor den Historikern mit seiner bisherigen Problemstellung steht. Denn um die "geschichtliche [ . . ] Gesamtanschauung" ging es ihm auch in der Absolutheitsschrift, aber um eine solche, die eine "gründliche Verände­ rung der Gesamtlage, den modernen historischen Horizont und das mo­ derne genetische Denken, zur Voraussetzung" habe.92 Das auf die historische Methode verpflichtete geschichtliche Denken, wie es den Standard moderner Wissenschaft bildet,93 muß sich seines konstruie­ renden Charakters bewußt sein und bleiben. Daran erinnert Troeltsch einlei.

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Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegen­ strömungen (1 893/1 894), S. 495 (GS 11, S. 229) -- KGA 1 0. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2) , in: KGA 5, S. 243. Unten, S. 203. Vgl. unten den Anhang S. 375. Unten, S. 203. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2), in: KGA 5, S. 243. Vgl. Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (1 900) -- KGA 1 0. ,

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te nd mit dem oben bereits zitierten Diktum, das "stillschweigend befolgte Hauptziel aller Historie" sei "das Verständnis der Gegenwart".94 Darum ist es der historischen Forschung geboten, explizit darauf zu reflektieren, daß die Bildung geschichtlicher Allgemeinbegriffe eine "Konstruktion" sei, zu­ mal dann, wenn die Historie "als einheitliche Wissenschaft von bestimmter Bedeutung für das Ganze unserer Erkenntnis sich empfindet".95 Wenn Troeltsch das Verständnis der Gegenwart als das "letzte Ziel aller Historie" darin bestimmt sieht, daß sie die "Gesamtlebenserfahrung unseres Geschlechtes" sei, dann nimmt die "Historie" als "einheitliche Wissen­ schaft" in der Moderne auf ihre Weise die Funktion wahr, die in der Theolo­ gie zuvor die Dogmatik innehatte.96 Troeltsch läßt diesen Zusammenhang zumindest anklingen, wenn er lapidar feststellt: "Stillschweigend arbeitet jede geschichtliche Forschung mit diesem Koeffizienten"97 und dabei einen Ausdruck verwendet, mit dem er von der Dogmatik sagte, sie sei "der stille Koeffizient [ . . . ] , der das Zusammenbestehen einer weltlichen Bildung mit der religiösen Wahrheit ermöglicht"98. Ging es Troeltsch zunächst um eine "volle theoretische Klarheit über die Lage der christlichen Ideenwelt"99, so hält sich der "Konstruktionsversuch", den er den Historikern vorträgt, an die Historie in einem "streng erfahrungs­ mäßigen", in einem "empirischen Sinne"l OO , sie will mit "Tatsachenur­ tei1[en]" argumentieren, nicht mit "Geltungsurteilen"lOl . Es geht um "die Darlegung des Kausalzusammenhanges zwischen Protestantismus und mo­ derner Welt", um die "tatsächliche Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Kultur, ihre religiösen Elemente einbegriffen".lo2 Troeltsch grenzt seine Darstellung explizit ab von einer normativen Behaup­ tung der Bedeutung und setzt sich damit der Kritik nicht nur aus den Reihen der Theologie aus, sondern auch aus dem Kreis der Historiker, die sich dem Erbe Rankes verpflichtet wissen. 103

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Unten, S. 206. Unten, S. 205 f. Unten, S. 205. Unten, S. 205. Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon (1891), S. 3 --+ KGA 1 . Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/ 1 9 1 2), in: KGA 5, S. 244. Unten, S. 306f. Unten, S. 3 1 4. Unten, S. 3 1 4 f. Vgl. etwa die Kritik von Max Lenz in: Luthers weltgeschichtliche Stellung (1 9 1 7) .

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Einleitung

Troeltsch verwendet die Reflexion auf den konstruktiven Charakter seiner Ausführungen explizit als methodisches Prinzip. Das macht den eigentüm­ lichen Reiz seiner Darstellung aus. So arbeitet er heraus, daß die "Eigenart" dessen, was an der Kultur modern sei, nur in negativen Bestimmungen erfol­ gen könne, nur die "Abhebung gegen die vorangehenden Perioden", der "Gegensatz gegen das Bisherige" ermögliche eine Konturierung des Spezi­ fischen der modernen Kultur, die im übrigen "ja einen großen Teil der älte­ ren Mächte fortsetzt".104 Unter diesem Gesichtspunkt werden die Grundelemente der vorneuzeit­ lichen Kultur ex negativo beschrieben, deren wichtigstes Grundmerkmal "eine Autoritätskultur im höchsten Grade"l OS gewesen sei. Und entsprechend gilt von der Unterscheidung zwischen ,,Alt- und Neuprotestantismus", sie sei für "jede rein historische Betrachtung und insbesondere für unsere Frage­ stellung" zwingend. 1 06 Eine solche Auffassung sei aber "erst vom Stand­ punkt des Neuprotestantismus aus möglich"l07. Diese Standortgebundenheit des historischen Urteils fungiert gleichsam als Arbeitgeber der historischen Forschung. Urteile vom "Standpunkt" der modernen Kultur oder des Neuprotestantismus sind deswegen anfechtbar und der Kritik ausgesetzt. Ihr kann nur mit historischen Sachverhalten und Tatsachenzusammenhängen begegnet werden, die das Urteil untermauern und belegen. Genau darum ist es Troeltsch hier wie in seinen in der gleichen Zeit entstandenen großen Arbeiten zu tun. Dabei verfolgt Troeltsch eine doppelte Strategie, die in diesem Vortrag be­ sonders klar und deutlich hervortritt und diesem Text darum auch eine be­ sondere Wirkung in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Position beschert hat. Auf der einen Seite zeichnet Troeltsch die historischen Spuren nach, die die Neuartigkeit der modernen Kultur gegenüber dem mittelalterlichen Ka­ tholizismus und dem Altprotestantismus verdeutlichen. Das daraus folgende historische Urteil lautet dann: "Ein großer Teil der Grundlagen der moder­ nen Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ist völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden"108. Entsprechend gilt: "Aus der kirchlichen Kultur des Protestantismus kann kein direkter Weg in die kir­ chenfreie moderne Kultur führen. "109 Die kirchliche Kultur nach dem Zer­ brechen der Alleinherrschaft der katholischen Kirche prägte das 1 6. und 1 04 1 05 1 06 1 07 1 08 1 09

Unten, S. Unten, S. Unten, S. Unten, S. Unten, S. Unten, S.

208. 209. 226. 23 1 . 223. 232 f.

"Die Bedeutung des Protestantismus"

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1 7. Jahrhundert, für das Troeltsch den historischen Begriff "das konfessio­ nelle Zeitalter" einführt, das "nicht mehr Mittelalter", aber "auch nicht Neu­ zeit" sei; aus dessen Kämpfen "ist die moderne Welt entstanden". 1 1 0 Auf der anderen Seite hebt Troeltsch darauf ab, daß "der moderne Indivi­ dualismus und Rationalismus" nicht nur aus Kritik und Emanzipation sich gebildet habe, sondern seine "tiefste [n] Wurzeln in einer Metaphysik und Ethik" habe, "die durch das Christentum [ . ] in die Seele unserer ganzen Kultur eingesenkt ist". 111 Im Ergebnis sieht er die moderne Kultur qualifi­ ziert durch "eine ungeheure Ausbreitung und Intensität des Freiheits- und Persönlichkeitsgedankens", von dem der Theologe und Kulturtheoretiker sagen kann: "Wir erblicken darin ihren besten Gehalt".1 1 2 Die Diskontinuitätsthese macht den Weg frei für eine differenzierte histo­ rische Analyse der Beteiligung des Protestantismus an der Hervorbringung der modernen Kultur bei gleichzeitiger kritischer Erhebung der unabhängig davon sich bildenden Autonomie. Damit wird der Horizont für eine Auffas­ sung des Protestantismus freigesetzt, in der die wesentlichen jüdischen und christlichen Motive in den Blick treten, mit denen der Neuprotestantismus in der Moderne jenen religiösen "Personalismus" repräsentiert, der eine "auf die Geschichte sich stützende, aber sie nicht dogmatisch verhärtende Ü ber­ zeugungs- und Gewissensreligion" als "die der modernen individualisti­ schen Kultur gleichartige und entsprechende Religiosität" verkörpert. 1 1 3 Für die bereits 1 909 von seinem Verleger erbetene Neuauflage, die 1 9 1 1 erschien, hat Troeltsch den Text bearbeitet und vermehrt. 1 1 4 Das Verhältnis der zweiten zur ersten Auflage stellt sich folgendermaßen dar: Den Haupt­ anteil des vermehrten Textes nehmen Auseinandersetzungen mit den zahl­ reichen kritischen Stellungnahmen zur "Bedeutung des Protestantismus" in Aufsätzen und Kritiken ein. Außer den von Troeltsch ausdrücklich zitierten Kritiken sind bis zum Zeitpunkt der Neuauflage weitere Rezensionen er­ schienen.1 1 5 Die Kritiken befassen sich vorwiegend mit historischen Sach. .

1 10 111 1 12 113 114 115

Unten, S. 247. Unten, S. 22 1 f. Unten, S. 31 5. Unten, S. 3 1 4. S. hierzu den Editorischen Bericht zur "Bedeutung des Protestantismus", unten, S. 1 89-1 97. Neben der anonymen Rezension in der "Deutschen Rundschau" 1 30 Oanuar, Februar, März 1 907) , S. 477, und der mit N. P. unterzeichneten Besprechung im "Historischen Jahrbuch" 28 (1 907), S. 1 9 1 f., vgl. auch S. 1 38, sind hier v. a. folgende Besprechungen zu nennen: Karl Beth: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 908) , Theodor Brieger: Bemerkungen zu

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Einleitung

verhalten, wie sie von Troeltsch dargestellt und für seine Fragestellung ver­ wendet worden sind. Darauf ist Troeltsch explizit in ausführlichen Fußnoten eingegangen. 1 1 6 Die Troeltsch leitende Fragestellung selbst ist in den Kriti­ ken meist nur implizit präsent. Im Text selbst hat Troeltsch die Kritiken inhaltlich in zahlreichen Er­ weiterungen und in Korrekturen seines historischen Urteils berücksichtigt. Einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung bildet das historische Profil der Askese und der religiösen Bewegungen des Täuferturns wie überhaupt der protestantischen Sekten, aus denen Troeltsch seine Auffassung der modernen Askese gebildet hat, sowie deren Beziehung zu den katholischen asketischen Traditionen. Hier hat Troeltsch zahlreiche Veränderungen und Erweiterungen des Textes vorgenommen, die teils der differenzierteren Be­ schreibung dienen, teils auch zur Korrektur des historischen Urteils.1 1 7 Wei­ ter hat Troeltsch sozialgeschichtliche Zusammenhänge noch stärker material herausgearbeitet und präzisiert wie z. B. die Rolle des Zivilrechts oder die Entwicklung der Bevölkerung. 1 1 8 Diese Ergänzungen und Korrekturen zeigen, wie sehr Troeltsch an der auch im Detail historischen Tragfähigkeit seiner insgesamt systematisch gedachten Konstruktion der Entstehung der modernen Welt gelegen ist. Dem Gesamtkonzept der "Bedeutung des Protestantismus" ist schließlich ein längerer Zusatz am Ende des Textes gewidmet. Die erste Auflage endete mit dem kurzen Schlußsatz: "Nur auf die Darlegung des Kausalzusammen­ hanges kam es meiner Untersuchung an. " 1 1 9 In der zweiten Auflage fügt

116 117 118 119

Troeltsch' Vortrag über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" (1 906) , Gottfried Buschbell: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906), Ernst von Dob­ schütz: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entste­ hung der modernen Welt (1 908) , Erwin Gros: Christentum und Kultur (1 907/1 908) , Ferdinand Kattenbusch: Reformation und Aufklärung in ihrer Bedeutung für die Ge­ genwart (1 906), Walther Köhler: Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1 648 (1 908), Kar! Löschhorn: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestan­ tismus für die Entstehung der modernen Welt (1 908) , R [Martin Rade] : [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906) , H. Schuster: [Rez.] Die Kultur der Gegenwart, Teil 1 , Abteilung 4; Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906) und Julius Websky: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestan­ tismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906) . Vgl. unten, S. 2 1 6 f., S. 228-230, S. 242 f. und S. 269. Vgl. vor allem S. 226-232, S. 267-269, S. 283-286 und S. 289. Vgl. S . 253-257 und S. 280-282. U nten, S. 3 1 4.

"Luther und die moderne Welt"

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Troeltsch eine ausführliche Erklärung 1 20 darüber an, in welchem Verhältnis die historischen Ergebnisse zu der "Auffassung der religiösen Lage der mo­ dernen Welt"121 stehen und welche Folgerungen aus der besonderen Kon­ stellation, aus der das Zusammenwirken von Protestantismus und Moderne hervorgegangen ist, für die Zukunft der modernen Kultur gezogen werden können. Darin deutet Troeltsch an, wie er den Zusammenhang der "Bedeu­ tung des Protestantismus" mit seiner systematischen Fragestellung verstan­ den wissen will. In dem Vorwort, das Troeltsch für die englische Übersetzung verfaßt hat, die 1 9 1 2 unter dem Titel "Protestantism and Progress" erschien,122 stellt er sich den englischen Lesern vor mit der Absicht, die Beziehung der "Bedeu­ tung des Protestantismus" zu seinem Werk im Ganzen zu skizzieren. Diese kurze Selbstrepräsentation ist deswegen aufschlußreich, weil Troeltsch hier die strikt historischen Untersuchungen des Buches als Basis verstanden wis­ sen will für die weiter ausgreifenden Interessen seiner Arbeit, die religiösen Ideen des Christentums in eine Form umzubilden, die sowohl der Absolut­ heit religiöser Überzeugung gerecht wird wie zugleich fähig ist zur Harmonie mit den wertvollen Elementen des modernen Geistes. Das Vorwort wendet sich entsprechend dem Verlagsprogramm an eine theologische Leserschaft. Die englische Ü bersetzung erschien im Londoner Verlag Williams & Norgate in der Reihe "Crown Theological Library", deren Selbstbeschreibung, wie dem Verlagsprospekt zu entnehmen ist, jedem Autor der Reihe zugesteht, "to express his deepest convictions with absolute freedom - a freedom which is the only ultimate security of truth" 1 23. In dieser Reihe wurden überwiegend Übersetzungen von Titeln deutschsprachiger Autoren aus dem Spektrum der liberalen Theologie publiziert, so mehrere Schriften von Adolf Harnack so­ wie Arbeiten von Wilhelm Herrmann, Otto Pfleiderer, Wilhelm Bousset u. a.

5. Luther - neu bewertet: "Luther und die moderne Welt" Die Abhandlung "Luther und die moderne Welt" ist aus einem Vortrag her­ vorgegangen, den Ernst Troeltsch im November 1 907 in einer religions­ geschichtlichen Vortragsreihe in München gehalten hat. 1 24 In einer Nachbe1 20 1 21 1 22 1 23 1 24

Unten, S. 3 1 4. U nten, S. 3 1 4. Vgl. hierzu den Editorischen Bericht zu "Preface [zu: Protestantism and Progress]", unten, S. 3 1 7-3 1 9. A catalogue of Williams & Norgate's publications (1 9 1 2) , S. 36. S. hierzu den Editorischen Bericht zu "Luther und die moderne Welt", unten, S. 53-55.

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Einleitung

merkung ordnet Troeltsch den Text seiner Darstellung "Protestantisches Christentum und Neuzeit" aus dem Jahre 1 906 sowie dem Vortrag über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" zu. Die dem Charakter eines gemeinverständlichen öffendichen Vortrags ent­ sprechende Darstellung steht im Zusammenhang mit der Thematik von Pro­ testantismus und Neuzeit, mit der Troeltsch in diesen Jahren befaßt war. In dem Beitrag zur "Kultur der Gegenwart" hatte Troeltsch von einem "Dop­ pelcharakter" des Protestantismus gesprochen, als einer "religiösen Neubil­ dung" und als eines "Bahnbrechers und [ . . ] Hervorbringers der modernen Welt". 1 25 In der Nachbemerkung teilt Troeltsch mit, daß er dort die gegen­ über der "Kontinuität des Protestantismus mit der abendländischen Kirche des Mittelalters" angekündigte "positive Seite", nämlich " ,das Neue im Pro­ testantismus' '', nicht genügend beachtet habe.1 26 In der Erstauflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" hatte Troeltsch "das Neue, [ . . ] das der Protestantismus gebracht" habe und durch das er "zu einem Teil der Schöpfer der modernen Welt" geworden sei, auf gerade zwei Druckseiten abgehandelt. 1 27 In dem Vortrag "Luther und die moderne Welt" nimmt Troeltsch nun ausdrücklich zu diesem "Neuen" bei Luther Stellung, wobei er sich jetzt ganz auf die "religiöse Neubildung" konzen­ triert. Der hier edierte Text ist insofern auch mehr als eine Gelegenheits­ schrift. Denn Troeltsch teilt auch mit, er habe dafür "jetzt wesentlich kla­ rere Formulierungen gefunden" als in seinem "Stuttgarter Vortrage".128 Troeltsch nimmt hier die Gelegenheit wahr, um seine Auffassung der Theo­ logie Luthers zu entwickeln und sie auf die Frage nach der "Bedeutung und Leistungsfähigkeit des Protestantismus"129 hin auszulegen. Zielrichtung der Frage ist, "wie weit er Zukunfts kräfte in sich hat, wie weit wir ihm unsere lei­ tenden Gedanken entnehmen können und wie weit wir etwa über ihn hin­ ausgehen müssen"1 30. Diese Frage wird von Troeltsch explizit auf die Bedeutung der Person und der Theologie Luthers bezogen, im Unterschied zu der Gesamtheit von Pro­ testantismus bzw. Luthertum im 1 6. und frühen 1 7. Jahrhundert. In diesem .

.

1 25 1 26 1 27

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1 906), 254 KGA 7. Unten, S. 95. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1 906) , S . 266 (2. Auflage 1 909, S . 454) , vgl. ebd., S . 266-268 (wesentlich erweitert i n der 2. Auflage, S. 45�72) KGA 7. Unten, S. 95. U nten, S. 62. Unten, S. 62. s.





1 28 1 29 1 30

"Luther und die moderne Welt"

25

Rückgang auf Luther selbst liegt die besondere Pointe dieses Vortrags. Im Verhältnis dazu treten die historischen, kulturwissenschaftlichen Perspek­ tiven, wie sie Troeltsch vor den Historikern in der "Bedeutung des Pro­ testantismus" entfaltet hat, zurück. Doch verfolgt Troeltsch auch hier die Zielrichtung, "inwiefern der Protestantismus dem religiösen Leben der Ge­ genwart als Grundlage und Nährboden für die weitere absehbare Zukunft dienen könne"! 3 ! . Troeltsch hinterfragt hier die von ihm formulierte scharfe historische Trennungslinie zwischen dem Altprotestantismus und dem Neuprotestan­ tismus und geht auf Luther selbst ein. Er interpretiert dessen Theologie systematisch, indem er "hinter die Einzelformulierungen" bei Luther, die auf das Konto des Altprotestantismus zu verbuchen sind, "auf das Ganze der religiösen Grundstellung" Luthers zurückgeht, um das "herauszuholen, was über die altprotestantische kirchliche Rechtgläubigkeit und konfessio­ nelle Kultur hinüberreicht in die Gegenwart".!32 So erfüllt er die in der Kri­ tik geäußerte Erwartung, das "Neue" bei Luther positiver zu würdigen. Die­ ses Vorgehen entspricht methodisch der sogenannten Lutherrenaissance, die sich in Auseinandersetzung mit seiner Deutung Luthers und des Prote­ stantismus im Gefolge der Lutherforschungen des Berliner Kirchenhistori­ kers Kar! Holl zu formieren begann.1 33 Darin liegt das besondere Gewicht, das diesem Text in der innertheologischen Auseinandersetzung der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zukommt. Im Unterschied zu den Tendenzen der späteren Lutherrenaissance, die den ursprünglichen Luther gegen seine moderne Rezeption in Stellung bringt, nimmt Troeltsch aber den Faden der "Wandelung des Lutherbildes" ausdrücklich auf, weil sich in diesem historischen Wandel zeige, "was die großen fortwirkenden religiösen Grundzüge sind". 1 34 In der Entwicklung der Linien auf die Zukunfts fähigkeit des Protestantismus hin tritt der Ge­ gensatz zum Katholizismus völlig zurück gegenüber der bei Luther aufge­ deckten gemeinsamen Wurzel der Grundzüge im Gottesgedanken. In Aufnahme seiner Ausführungen zu Luther in der "Kultur der Gegen­ wart" rekonstruiert Troeltsch diese Grundzüge in vier "Grundgedanke[n] Luthers" t 35 als "Glaubensreligion" im Gegensatz zur "Sakramentsreli-

1 31 1 32 1 33 1 34 1 35

U nten, S. 25. U nten, S. 69. Zu Kar! Holl vgl. die Texte in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band 1 (1 92 1). U nten, S. 69. U nten, S. 70.

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Einleitung

gion"1 36, womit "die Religion in die Sphäre des Gedankens und des Geistes versetzt"137 werde; als "religiöser Individualismus" im Gegensatz zur "kirch­ lichen Autoritätsreligion",1 38 der mit der Freiheit des Gewissens "in der Tat das Wesentliche ist"139; als "Gesinnungsethik", der "schärfste Gegensatz ge­ gen die Gesetzesethik des katholischen Beichtstuhls";14o und als "Weltoffen­ heit", die "den Sonderbezirk guter Werke in der Askese überflüssig und unmöglich"141 mache. Diese "vier großen Gedanken"142 werden jetzt von ihm auf eine "gemein­ same Wurzel"1 43 zurückgeführt. Troeltsch erklärt sich ausdrücklich dazu, wie diese vier Grundgedanken rekonstruiert werden. Sie mußten "sehr tief hervorgeholt werden aus den unausgesprochenen Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten", sie seien bei Luther "mit vielen andersartigen Ge­ danken verbunden" und "von ihm selbst niemals auch nur soweit bestimmt und erkannt worden". 1 44 Diese gemeinsame Wurzel sei "Luthers eigentümlicher Gottesge­ danke"1 45. Damit begründet Troeltsch die These: "Wenn die Religion und die Erlösung in Gedanken von Gott gefunden wird, dann muß auch der Ge­ danke von Gott ein neuer sein. "1 46 Troeltsch setzt sich hier in direkten Gegen­ satz zu der von Albrecht Ritschl bestimmten Lutherdeutung. Denn mit dem Gedanken von Gott wird die Ebene der Metaphysik betreten oder jedenfalls die Ebene der auf das subjektive Erleben und die unmittelbare Erfahrung abhebenden zeitgenössischen liberalen Theologie verlassen.147 Wenn Troeltsch zugespitzt von der "Glaubens religion als Reduktion der Religion auf Gedanken"148 spricht, fügt er allerdings gleich hinzu, daß "Lu­ ther weit davon entfernt" gewesen sei, diese Gedanken so zu formulieren,

1 36 1 37

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1 39

1 40

141 1 42 1 43 1 44 1 45 1 46 1 47

Unten, S. 70. Unten, S. 7 1 . Unten, S. 73. Unten, S. 74. Unten, S. 74 f. (im Original teilweise hervorgehoben) . Unten, S. 76 f. (im Original teilweise hervorgehoben) . Unten, S. 77. Unten, S. 77 (im Original hervorgehoben) . Unten, S. 77. Unten, S. 77 (im Original teilweise hervorgehoben) . Unten, S. 77. Das ist der wesentliche Punkt in Troeltschs Auseinandersetzung mit Wilhelm Herr­ mann in seinem Aufsatz "Grundprobleme der Ethik" (1 902) KGA 1 0. Unten, S. 83. -+

1 48

"Luther und die moderne Welt"

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daß sie "in dem inneren Zuge seines Gottesgedankens"149 lägen. Im Blick auf die bei Luther zentrale Rolle der heilsgeschichtlich vorgestellten Abfolge von Gesetz und Evangelium kann Troeltsch deren theologische Begründung in die These fassen: "Die wahre Ordnung zwischen Gott und Mensch ist von Hause aus die Gnadenordnung", von der gelte, sie sei "das Normale, das was sein S0l1".1 50 Wenn Luther daran gehindert gewesen sei, diesem inneren Zug seines Gottesgedankens konsequent Raum zu geben, dann deswegen, weil "die großen Gedanken [ . . . ] in den Banden des Mythos" lägen, in "eine my­ thische Form" gebunden seien.151 In diesem Text liegt also in prägnanter Kürze das theologische Konzept vor, das Troeltsch bei seiner historischen Bestimmung der Bedeutung des Protestantismus für die Moderne leitet. Von dieser konstruktiven Sicht des "Neuen" gilt deswegen, daß diese Grundgedanken "in ihrer Konsequenz erst unter dem Einflusse des modernen Lebens heraus gestaltet worden" seien. 1 52 Die geschichtliche Kontinuität ist daher eine Geschichte permanen­ ter Krisen. Krise des Protestantismus heißt: in der Entwicklung dieser Grundgedanken habe sich die "Ergreifung des religiösen Objekts selbst" ab­ gelöst von den Vorstellungen Luthers, indem "Glaubensreligion, Individua­ lismus, Gesinnungsethik und Weltoffenheit sich auf einen weiteren und um­ fassenderen, unfertigeren religiösen Stoff ausdehnten".1 53 Dieser Prozeß, den Troeltsch mit der Kritik des Mythos verbindet, wird bei ihm, so könnte man formulieren, als eine Entmythologisierung vor dem Programm Ent­ mythologisierung analysiert. Die innere Kontinuität in diesem krisenhaften Prozeß identifiziert Troeltsch in dem Punkt, in dem Tradition und Moderne "am meisten aber auch am unbewußtesten sich durchdrungen hatten", im "Gottesbegriff" . 1 54 Es klingt wie ein Hinweis auf seine eigene, in Bildung be­ findliche theologische und religionsphilosophische Position, wenn Troeltsch hier feststellt, der Gottesbegriff wurde dabei "allzuwenig weiter verfolgt"1 55. Darauf ziele jedoch letztlich "das Ausgleichungsstreben der Vermittler, der modernen Theologen"1 56, die darum ihren konstruktiven Beitrag zur Kul­ turwissenschaft der Moderne zu leisten haben.

1 49

1 50 1 51 1 52 1 53 1 54 1 55 1 56

Unten, S. Unten, S. U nten, S. Unten, S. U nten, S. U nten, S. U nten, S. Unten, S.

83. 80. 83. 77 und S. 83. 92. 93. 93. 94.

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Einleitung

6. Im zeitdiagnostischen Vergleich: Texte zu Calvinismus und Luthertum Die Texte "Calvinismus und Luthertum"1 57, "Die Genfer Kalvinfeier"1 58 und "Calvin and Calvinism"159 sind der Beitrag von Ernst Troeltsch zu dem Gedenken an den400 . Geburtstag des Genfer Reformators Johannes Calvin am 9. Juli 1 90 9. Die "Christliche Welt" veranstaltete in der Nummer 28 vom 8. Juli 1 90 9 eine "Calvin-Nummer". Sie vereint vorwiegend Beiträge von Kirchenhisto­ rikern. Vertreten sind u. a. der Leipziger Theodor Brieger, der Zürcher Paul Wernle, der Bonner Karl Sell und der Berliner Karl HoIl.1 6o Als letzter Bei­ trag ist in dieser Calvin-Nummer von Ernst Troeltsch der erste, kürzere Teil von "Calvinismus und Luthertum" gedruckt worden; der Hauptteil erschien erst in der folgenden Nummer 29 der "Christlichen Welt" vom 1 5. Juli. Die von Friedrich Naumann herausgegebene Wochenschrift "Die Hilfe" ver­ öffentlichte in ihrer Ausgabe vom 1 1 . Juli 1 90 9 im "Beiblatt" als einzigen auf das Calvinjubiläum bezogenen Beitrag "Die Genfer Kalvinfeier" von Ernst Troeltsch. Der Aufsatz "Calvin and Calvinism" erschien in "The Hibbert Journal. Quarterly Review of Religion, Theology, and Philosophy" im ersten Heft des Jahrgangs 1 90 9/1 9 10 . Er ist darin der einzige Calvin gewidmete Artikel. In beiden Artikeln der deutschen Publikationsorgane "Die Christliche Welt" und "Die Hilfe" arbeitet Troeltsch sehr pointiert die zeitdiagnosti­ schen und gegenwartspraktischen Intentionen seiner Deutung des Verhält­ nisses von Luthertum und Calvinismus heraus. Den Lesern der Zeitschrift "Die Christliche Welt", die von ihren Anfängen her im deutschen Luthertum beheimatet war, wird das Fazit aus der unterschiedlichen Stellung von Luthertum und Calvinismus in der Moderne im Ergebnis so präsentiert: Im Luthertum, "bei uns", bleibe "die Kirche an der Schürze des Staates", sie "stärkt den Ordnungssinn und die Ergebung", so daß "im Grunde nur die Konservativen" noch "Verständnis für religiöse und kirchliche Dinge" hät­ ten.161 Der Calvinismus dagegen habe in den Krisen der Moderne "den Pro­ testantismus gerettet" und für ihn sei "heute noch ein lebendigerer Fort­ schritt und ein engerer Zusammenhang mit den modernen politisch-sozialen 1 57 1 58 1 59 1 60

161

Unten, S. 1 01-1 07. Unten, S. 1 1 1-1 1 7. Unten, S. 1 26-1 41 . Vgl. Theodor Brieger: Calvins Bedeutung für den Protestantismus des sechszehnten Jahrhunderts (1 909), Paul Wernle: Zur Ehre Gottes (1 909) , Kar! Seil: Calvin und der Reformkatholizismus (1 909) , Kar! Holl: Calvins Briefe (1 909) . Unten, S. 1 07.

Texte zu Calvinismus und Luthertum

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Entwicklungen" charakteristisch . 1 62 Als Folie für dieses religionspolitische Urteil dient Troeltsch dabei die Figur des niederländischen Theologen und Politikers Abraham Kuyper1 63, dessen politisch-theologisches "Manifest"1 64 Troeltsch intensiv in seiner Calvinismusdeutung in den "Soziallehren" als Beleg für die Genealogie des gegenwärtigen Standes der Unterschiede von Calvinismus und Luthertum verwendet 1 6s. Der Kontext, in dem Troeltsch der gebildeten Leserschaft der "Christ­ lichen Welt" diese ideenpolitische Botschaft nahe zu bringen sucht, wird deutlich im Vergleich mit den Urteilen, mit denen Theodor Brieger den er­ sten Beitrag des Calvin gewidmeten Heftes einleitet. Bei Brieger ist zu lesen, daß Calvin "in so mancher Beziehung tief, tief ins Mittelalter zurücksinkt"; Brieger verweist auf "unevangelische Züge seines Systems" und malt den Vergleich von Luthertum und Calvinismus so aus: "Luther lieben wir" we­ gen seiner "Persönlichkeit", die durch "Offenheit", "Treuherzigkeit", "Gut­ mütigkeit", "frischen Humor" charakterisiert sei.1 66 In Erinnerung an Cal­ vins "harten" Charakter, der von "Rücksichtslosigkeit" gekennzeichnet sei und "keine Spur von Liebe" zeige, durchdringe uns "die heimliche Freude, daß wir nicht in Genf unter seinem Regiment gestanden haben" . 1 67 In diesen Urteilen klingt das konfessionstypische Sentiment der "deutschen" gegen­ über der "angelsächsischen" Kultur an, zu dem Troeltschs theologische, ins kulturgeschichtlich-politische Feld erweiterte Darstellung des Calvinismus als Träger der modernen politischen Kultur den Kontrast bildet. Den Lesern der liberalen Wochenschrift "Die Hilfe" wird der Unterschied zwischen dem deutschen Luthertum und dem amerikanischen und eng­ lischen Calvinismus mit der Frage nahegebracht, warum der Calvinismus als "eine Tochterkirche des Luthertums" dieses "so weit überflügelt hat" . 1 68 Die Aktualität der Frage wird den Lesern an dem Bericht eines "deutsche [n] Kir­ chenfürst[en] "169 verdeutlicht, der anläßlich einer Reise nach England von 1 62 1 63 1 64

1 65 1 66 1 67 1 68 1 69

Unten, S. 1 07. Vgl. unten, S. 1 02. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), S. 703 und S. 732 ...... KGA 9. Gemeint ist Abraham Kuyper: Reformation wider Re­ volution (1 904) . Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 770-773 ...... KGA 9 . Theodor Brieger: Calvins Bedeutung für den Protestantismus des sechszehnten Jahrhunderts (1 909) , Sp. 649 f. Ebd. , Sp. 650. Unten, S. 1 1 1 . Unten, S. 1 1 1 .

30

Einleitung

seinen englischen Wirtsleuten erfuhr, der liberale badische Politiker Theodor Barth habe kürzlich in demselben Fremdenzimmer übernachtet. Der liberale Politiker als Gast im Hause eines Geistlichen: Was in Deutschland nicht vor­ stellbar, in England aber möglich ist, illustriert den Unterschied der politi­ schen Kulturen. Die "kalvinistischen Dissenter" seien die "Hauptstützen des Liberalismus" in EnglandPO Für "Die Hilfe" verfaßte Troeltsch deshalb eine Version der Unterschiede zwischen den Konfessionskulturen, die auf den "heutige[n] Kalvinismus" zuläuft, der "republikanische oder demokrati­ sche Folgerungen" seiner Kirchenverfassung entwickelt habe, die "auf eng­ lischem und amerikanischem Verfassungs boden mit dem Ideal des Frei­ kirchentums" zusammengewachsen seien.171 Der moderne Calvinismus sei teils "prinzipiell liberal", wie das Exempel der amerikanischen Denominatio­ nen oder der englischen Dissenter zeige, teils "formell liberal und sachlich konservativ", wie das Beispiel Kuypers in den Niederlanden lehre. l 72 Die Calvinfeier wird von Troeltsch zum Anlaß genommen, die liberalen Leser zu ermahnen, daß die "Bedeutung der religiösen Kräfte auch von dem Politiker und Volks freunde nicht übersehen werden" 1 73 dürfe. Es sei nicht generell so, daß alle religiösen Kräfte immer "der Reaktion zugute kom­ men", wie in Deutschland, und die "liberale Interessenwelt keinerlei Anhalt" an ihnen finde.1 74 Damit verbindet Troeltsch den religionspolitischen Rat­ schlag an die Liberalen, "der Liberalismus könnte viele ethische und Ge­ sinnungskräfte gewinnen, wenn er sich hier das Vorbild des Kalvinismus überlegte", statt sich dem "Kampf gegen das Christentum" zu widmenps Die heiden Zeitschriftenbeiträge zum Calvinjahr stehen in engem Zusam­ menhang mit der gleichzeitigen Konzeption und Ausarbeitung des Kapitels über den Protestantismus für die "Soziallehren". 1 76 Das wird explizit be­ zeugt durch den aus dem gleichen Jahr stammenden englischen Beitrag "Cal­ vin and Calvinism" für das Londoner "Hibbert Journal". Der Text ist eine elegante, teilweise freie Ü bersetzung von Teilen des Textes, wie er von Troeltsch 1 9 1 2 in den "Soziallehren" veröffentlicht worden ist. 1 77 Der Cal1 70 171 1 72 1 73 1 74 1 75 1 76

Unten, S. 1 1 1 . Unten, S. 1 1 5 f. Unten, S. 1 1 6. Unten, S. 1 1 6. Unten, S. 1 1 6. Unten, S. 1 1 7. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 670 f. KGA 9: Die "Internationalität des Calvinismus" habe sich "erst kürzlich bei dem Genfer Jubiläum" gezeigt. S. dazu den Editorischen Bericht zu "Calvin and Calvinism", unten, S. 1 20-1 24. ---+

1 77

"Die Kulturbedeutung des Calvinismus"

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vinismus, der i n "Die Kalvinfeier" als "Tochterkirche des Luthertums"178 und in den "Soziallehren" als "Tochterreligion des Luthertums"1 79 bezeich­ net wird, tritt hier mit dem einleitenden Satz auf die Bühne "Calvinism stands to Lutheranism as daughter to mother"1 80. Der im "Hibbert Journal" veröffentlichte englische Text stimmt mit dem Text der "Soziallehren" über weite Strecken überein. Er enthält kürzere und längere Passagen, die in den "Soziallehren" nicht zu lesen sind. Nicht enthalten sind vorwiegend die detaillierten Untersuchungen zur historischen Entwicklung vom Alt- zum Neucalvinismus, die in den "Soziallehren" ausführlich ausgebreitet werden. Troeltsch legt dem englischen gelehrten Publikum statt dessen in konzen­ trierter Form die Grundstrukturen des Vergleichs zwischen Calvinismus und Luthertum vor mit dem Ziel, vor den Lesern das Bild eines Calvinismus ent­ stehen zu lassen, "the peculiar characteristics of which were, beyond all, so fruitfully unfolded in the political and social life of Western Europe"1 81 .

7. Ernst Troeltschs und Max Webers Auseinandersetzung mit Felix Rachfahl: "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" Troeltschs Aufsatz "Die Kulturbedeutung des Calvinismus", der 19 10 in der "Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" er­ schien, ist eine Replik auf den 1909 ebenfalls in der "Internationalen Wo­ chenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" veröffentlichten Aufsatz "Kalvinismus und Kapitalismus" des in Kiel lehrenden Historikers Felix Rachfahl. In diesem Aufsatz hatte sich Rachfahl gegen Troeltschs Beiträge "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" und "Die Bedeu­ tung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" sowie Max Webers "Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" gewendet. Gegen diese "Kollektiv-Verurteilung"1 82 wehrten sich sowohl Troeltsch als auch Weber mit eigenen Beiträgen. Die Debatte wird wegen ihrer exemplarischen Bedeutung für das Geflecht von wissenschaftlichem Diskurs und persönlichen Animositäten im folgenden ausführlicher rekon­ struiert. Die Hauptpunkte der Kritik Rachfahls betreffen vor allem das Ver­ hältnis der Positionen von Weber und Troeltsch, Webers Thesen vom "kapi1 78 1

79

Unten, s. 1 1 1 . Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), S. 609 KGA 9. Unten, S. 1 26 (im Original teilweise hervorgehoben) . Unten, S. 1 41 . Unten, S. 1 46. -+

1 80 1 81 1 82

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Einleitung

talistischen Geist" und die Verwendung des Askese-Begriffs bei Weber und Troeltsch. Die Debatte befaßt sich mit vielen historischen Einzelfragen, be­ wegt sich jedoch letztlich um die prinzipielle Fragestellung der Bedeutung religiöser Motive in der Genese der Moderne. Rachfahl unternahm es in seiner Kritik, die, so Rachfahl, von Max Weber begründete "Annahme", daß "aus der spezifisch kalvinischen Berufsethik der Geist des modernen Kapitalismus hervorgegangen ist", vom "Stand­ punkte des Historikers aus auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen". 1 83 Auf diese Kritik antwortete zuerst Max Weber 1 9 1 0 im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" mit seiner Replik "Antikritisches zum ,Geist' des Kapita­ lismus" und dann Troeltsch ebenfalls 1 9 1 0 in der "Internationalen Wochen­ schrift" mit seinem Aufsatz "Die Kulturbedeutung des Calvinismus". 1 84 Rachfahl antwortete beiden noch im gleichen Jahr ebenfalls in der "Inter­ nationalen Wochenschrift" mit dem Beitrag "Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus". Weber beendete diese hitzige Debatte 1 9 1 0 wiederum im "Archiv" mit seinem Aufsatz "Antikritisches Schlußwort zum ,Geist des Kapitalismus"'. Troeltsch kommt in den "Soziallehren" von 1 9 1 2 mehrfach auf die Debatte zu sprechen. 1 85 Rachfahl beginnt seine Kritik mit der Bemerkung, daß "Webers Theorie", wie er sie in der Abhandlung "Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" von 1 904/1 905 entwickelt habe, "reicher Beifall" und "unge­ teilte Zustimmung" zuteil geworden sei. 1 86 Ernst Troeltsch, auf dessen Ar­ beiten "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" und "Die Bedeutung des " sich Protestantismus" sich Rachfahl bezieht, habe sich als erster Weber angeschlossen. 1 87 Daneben nennt Rachfahl den Kulturhisto­ riker Eberhard Gothein, den Kirchenhistoriker Hans von Schubert sowie

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1 84 1 85

Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 2 1 7 f. In seinem zweiten Aufsatz "Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus" (1 9 1 0) gibt Rachfahl an, daß das Schlußkapitel von "Kalvinismus und Kapitalismus" (1 909) (hier Sp. 1 350-1 366) nicht Troeltsch gewidmet sei, um ihn darin "zur Zielscheibe irgendwelcher Angriffe zu machen", sondern er habe "darin lediglich auf Wunsch der Redaktion im Anschluß an meine Kritik der Weberschen Theorie aus Anlaß des Kalvin-Jubiläums eine allge­ meine Charakteristik der geschichtlichen Bedeutung Kalvins und seines Werkes ge­ geben" (Sp. 699) . Vgl. hierzu den Editorischen Bericht zu "Die Kulturbedeutung des Calvinismus", un­ ten, S. 1 43 f. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 646, S . 650 f., S . 656, S . 704 f., S . 7 1 5, S . 7 1 8 f., S . 7 8 7 und S . 9 5 8 KGA 9. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 2 1 7 f. Vgl. ebd., Sp. 1 2 1 8. -+

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den Nationalökonomen Gerhart von Schulze-Gaevernitz. 1 88 Diesen Theo­ rieansatz bezeichnet Rachfahl im weiteren Verlauf seines Aufsatzes als "Troeltsch-Webersche[ . . ] These"189. Sowohl Weber als auch Troeltsch ver­ wahrten sich in ihren Reaktionen dagegen, als "eine gemeinsame wissen­ schaftliche Firma"1 9o bzw. als "Kollektivität"191 aufgefaßt zu werden. Weber behauptet in seiner Replik auf Rachfahl eine weitgehende Unabhängigkeit seiner und Troeltschs Arbeiten. Mit Ausnahme des Sektenbegriffs192 hätte Troeltsch seine "Resultate [ . ] überhaupt nicht benötigt": "Seine Resultate könnten richtig sein, auch wenn die meinigen falsch wären und umge­ kehrt."1 93 Troeltsch möchte ebenso seine und Webers "wissenschaftliche Arbeit von einander trennen, da wir beide sehr verschiedene Gegenstände und sehr verschiedene Erkenntnisziele haben"1 94. Troeltsch geht jedoch auf die "Kollektivpolemik"195 insofern ein, als er in seiner Antwort auf Rachfahl auf die enge wissenschaftliche Kooperation im Heidelberger Eranos-Kreis verweist: "Nun hat in der Tat eine besonders glücklich sich ergänzende Ar­ beitsgemeinschaft in Heidelberg eine Anzahl von Gelehrten zu verwandten wissenschaftlichen Neigungen und Problemstellungen geführt. Sie verknüp­ fen sich in dem Interesse an soziologischen Problemen."196 In seiner Antwort auf Rachfahl hebt Troeltsch hervor, seine Fragestel­ lung sei eingebettet in das allgemeinere Problem, "das Verhältnis des rea­ len, wirtschaftlich-sozialen ,Unterbaues' der neuzeitlichen Entwicklung zu ihrem ideologischen wissenschaftlich-ethisch-religiösen , Ü berbau' klar zu machen"197. Max Webers Arbeit gehe "von einer rein wirtschaftsgeschicht.

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Vgl. ebd., Sp. 1 2 1 8 und Sp. 1 294. Vgl. hierzu unten, S. 1 46, Anmerkung 1 . Weber äu­ ßert sich hierzu in seinem Beitrag "Antikritisches Schlußwort zum ,Geist des Kapita­ lismus' " (1 9 1 0) , S. 558-560. Ebd., Sp. 1 327. Als "Weber-Troeltsch'sche These" fand diese Formel Eingang in die zeitgenössische Rezeption, vgl. etwa Georg Klingenburg: Das Verhältnis Calvins zu Butzer untersucht auf Grund der wirtschaftlichen Bedeutung beider Reformatoren (1 9 1 2) , S. 94. Unten, S. 1 47. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 76. Vgl. unten, S. 1 48, Anmerkung 3. Vgl. Max Weber: "Kirchen" und "Sekten" in Nordamerika (1 906). In der "Bedeutung" verweist Troeltsch auf diesen Aufsatz, vgl. unten, S. 284. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 77. Unten, S. 1 47. Unten, S. 1 47. Unten, S. 1 46. Zum Eranos-Kreis s. oben, S. 4-9. Unten, S. 1 47.

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lichen Fragestellung aus und behandelt hier gerade das große Problem, wie weit wirtschaftliche und soziale Erscheinungen ihrerseits in einem konkreten Fall etwa selbst schon ideell beeinflußt und durchwirkt sind, ehe sie rückwir­ kend wieder das ideologische Element unter ihren Bann bringen"1 98. Webers "Spezialfall", der Aufweis, daß "die innere religiös-ethische Verfassung des Calvinismus bedeutsam" in die "Richtung" des "modernen Kapitalismus" gewirkt und mithin den "bürgerlich-puritanischen Kapitalismus, vor allem Englands und Amerikas, wesentlich mitbestimmt habe", sei, so Troeltsch, "auch nach Rachfahls Kritik [ . ] glänzend gelungen".199 Das "Ganze" hält Troeltsch "für ein Meisterstück historisch-genetischer Analyse".2oo Seine eigenen "Untersuchungen" hingegen hätten "ein völlig anderes Stoffgebiet und ein völlig anderes Erkenntnisziel": "Es sind wesentlich religionsge­ schichtliche Untersuchungen, wenn sie naturgemäß auch freilich die Abhän­ gigkeiten des religiösen Elementes von den realen Lebensbedingungen wie umgekehrt die Wirkung jener auf diese sich zum Gegenstand machen müs­ sen."201 Explizit beschreibt Troeltsch seine "Aufgabe und Erkenntnisziele" als "Darstellung des religiösen Elementes des Protestantismus und seiner Stellung zu den kulturgeschichtlichen Umgebungs zusammenhängen": "Be­ deutung und Wirkung des religiösen Zentrums positiv und negativ zu zei­ gen, war meine Aufgabe".202 Wenn Weber und Sombart "das Wesen des Ka­ pitalismus aufdecken wollen und dazu die religiös-ethischen Elemente nur heranziehen", so wolle er selbst "umgekehrt die Bedeutung des Kapitalis­ mus für die calvinistische Entwickelung klar machen".203 Ausgehend von diesem religionsgeschichtlichen Ansatz, in dem das theo­ logische Interesse Troeltschs sich artikuliert, habe er "gegenüber landläufi­ gen Ü berschätzungen der Kulturwirkungen des Protestantismus diese in ihrer Abhängigkeit und in ihrer Begrenzung nachzuweisen gesucht, anderer­ seits aber auch wieder ihre positive Wirkung hervorgehoben, wo sie meines Erachtens unleugbar zu Tage liegt''204. Er habe in diesen Forschungen so­ wohl von den "allgemeinen methodologischen Ergebnissen Webers gelernt" als auch "seinen sachlichen Ergebnissen betreffs des Calvinismus nicht aus . .

1 98 1 99 2 00 20 1 202 203

U nten, S. 1 48. Unten, S. 1 48 f. U nten, S. 1 49 f. Unten, S. 1 50. Unten, S. 1 50. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), S. 715 KGA 9. Unten, S. 1 50. -+

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dem Wege gehen" können; diese habe er "ohne jeden Anspruch auf selb­ ständige wissenschaftliche Förderung der Erkenntnis dieser Zusammen­ hänge" übernommen.2os In ihrer Abwehr, als eine "gemeinsame Firma" aufzutreten, verweisen Troeltsch und Weber auf die voneinander unabhängigen Entstehungspro­ zesse ihrer Forschungen. So gibt Weber 1 9 1 0 an, daß er bereits "vor 1 2 Jah­ ren" seine "Arbeiten über diese Dinge" im "Kolleg" vorgetragen habe, die er dann in der "Protestantischen Ethik" formuliert habe, und er führt aus, daß Troeltsch "auf völlig eignen Wegen ebenfalls schon lange vorher dem ihn interessierenden Thema nachging".206 In einer längeren Fußnote in den "Soziallehren" betont Troeltsch, daß sein Projekt unabhängig von Max Weber entstanden sei.207 Seine "Untersuchungen", so Troeltsch explizit, "gehen [ ] nicht von denen Webers aus". 208 Er verweist auf eigene Beiträge, die vor Webers Beiträgen liegen, in denen er, wie in der Rezension von Rein­ hold Seebergs "Dogmengeschichte", schon 1 901 das "Programm" skizziert habe, das mit den "Soziallehren" ausgeführt worden sei; Webers "Arbeit" ­ Troeltsch meint ehe "Protestantische Ethik", deren erster Teil 1 904 erschie­ nen ist - sei dagegen "erst seit 1 903 erschienen''.209 Seit seiner Erstlings­ schrift "Vernunft und O ffenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon" zögen sich seine "Untersuchungen über die Bedeutung der Lex naturae" durch eine "Reihe von Arbeiten hindurch".210 Weber, der seit den späten 1 890er Jahren mit Troeltsch freundschaftlich verkehrte,21 1 knüpft in seiner ersten Nennung des Troeltschschen CEuvres an dessen Untersuchungen zum Begriff der lex naturae an. Im ersten Teil der "Protestantischen Ethik" verweist Weber auf Troeltschs Seeberg-Rezension, wo Troeltsch darauf hingewiesen habe, daß bei den meisten "theologischen Schriftsteller[n]" der "Begriff der lex naturae' " noch nicht genügend klar . . .

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Unten, S. 1 50. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 77. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), S. 950 f. ---.. KGA 9. Ebd. , S. 950. Ebd., S. 950. Ebd., S. 950. Belege dazu bei Friedrich Wilhe1m Graf: Fachmenschenfreundschaft (1 988), S. 3 1 532 1 . In seinem Nachruf "Max Weber" von 1 920 berichtet Troeltsch, daß er "Jahre lang in täglichem Verkehr die unendlich anregende Kraft dieses Mannes" erfahren habe und sich bewußt sei, daß er "einen großen Teil meines Wissens und Könnens ihm zu verdanken" habe (S. 1 f. KGA 1 1 ). -+

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Einleitung

analysiert sei.212 Er habe bestimmte Gesichtspunkte in seiner Abhandlung "nur andeutungsweise behandelt, weil hoffentlich E. Tröltsch in seinem Bei­ trag zu dem Hinnebergschen Sammelwerke auf diese Dinge Oex naturae etc.) [ . . ] eingehen und sie dann, als Fachmann, natürlich besser erledigen wird als ich beim besten Willen könnte"213. Weber war im Detail über Troeltschs Forschungen unterrichtet und bezog nicht nur seine Arbeiten darauf, son­ dern es läßt sich auch eine gegenseitige Abstimmung der Arbeitsvorhaben behaupten. Hätte er, so führt Weber aus, seinen "Aufsatz fortgesetzt, so würde ich die Aufgabe gehabt haben, große Teile des jetzt von Tröltsch be­ arbeiteten Gebiets mitzubehandeln. Ich würde das, als Nicht-Theologe, sicherlich niemals in der Art haben durchführen können, wie es durch Tröltsch geschehen ist."214 In diesem Sinne weist auch Troeltsch darauf hin, daß der "persönliche Austausch der Gedanken und die Zufälligkeit der persönlichen Nähe eine gewisse Bedeutung" hätten, "die denn auch in den Arbeiten selbst erkennbar" werde.215 Weber argumentiert analog. Er gibt Rachfahl gerne zu, daß Troeltsch "wie durch andre Schriftsteller, so auch durch einzelne Bemerkungen meiner Auf­ sätze zum Ü berdenken mancher seiner Probleme unter ökonomisch-sozio­ logischen Gesichtspunkten mit angeregt wurde, wie er dies gelegentlich aus­ gesprochen hat"216. Selbstbewußter drückt Weber dies in einem Brief an Georg von Below aus, in dem er schreibt, daß Troeltschs "vortreffliche Lei­ stung (bei Hinneberg) [ . . ] in sehr vielen Punkten auf Anregung aus unseren Gesprächen und meine Aufsätze zurückgehen"217 möge. Es handele sich bei dieser Aneignung, so Weber weiter an Rachfahl, aber nicht um die " ,Ueber­ nahrne' einer ,Theorie' des Einen durch den Andern, sondern einfach die Sache: der Umstand, daß Jeder, der diese Zusammenhänge überhaupt einmal sieht, zu einer ähnlichen Betrachtungsweise gelangen muß, ist es, welcher dazu geführt hat, daß allerdings die Resultate Tröltschs auf seinem weit um­ fassenderen Problemgebiete derartige sind, daß die wesentlichen Züge des.

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Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 20, 1 904), S. 41 . Ebd. (Band 2 1 , 1 905), S. 4. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 77 f. Unten, S. 1 47. Spuren dieses intensiven freundschaftlichen Dialogs werden deut­ lich, wenn Troeltsch etwa in den "Soziallehren" darauf hinweist, daß Weber ihn auf bestimmte historische Sachverhalte "gesprächsweise" hingewiesen habe. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S. 79, vgl. auch S. 251 - KGA 9. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 77. Brief Max Webers an Georg von Below, 23. August 1 905.

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sen, was ich für mein Problem ausgeführt habe, sich recht gut als Ergänzung einfügen lassen"21 8. Troeltsch sieht in den "Soziallehren" seine "Darstel­ lung" nun "endgültig [ . ] in die bekannten Untersuchungen Max Webers" einmünden.21 9 Zwar seien Webers Untersuchungen zum " ,asketischen Pro­ testantismus' " vielfach vorbereitet durch Matthias Schneckenburger und Albrecht Ritschl,22o auf diesen Begriff wäre er "allerdings ohne Weber nicht in größerer Klarheit gekommen"221 . Weber hat abschließend in seiner letz­ ten Replik auf Rachfahl zu den "Beziehungen zwischen den Arbeiten von Troeltsch und mir" erklärt, ,, 1 . daß und warum keiner von uns für die Leistung des anderen verantwortlich ist; 2. daß für die ,Thesen', welche Troeltsch vertritt, meine ,These' kein Beweisgrund ist und umgekehrt: jeder von uns könnte für seine Aufstellungen völlig Recht haben, auch wenn der andere mit den seinigen gänzlich fehlgehen sollte; - ferner 3. daß die Resul­ tate meiner Arbeiten aber allerdings eine mit Troeltsch's Ergebnissen sehr gut zusammenstimmende Ergänzung dieser letzteren darstellen, von welcher demgemäß 4. Troeltsch referierend Notiz genommen hat, wobei ihm 5. in einigen für ihn gänzlich unwesentlichen Einzelpunkten kleine Irrtümer un­ tergelaufen sind".222 Weber führt zu Troeltschs fehlerhafter Wiedergabe sei­ ner Position an, daß dieser sich "durch die kecke Sicherheit von Rachfahls Auftreten den Eindruck beibringen" habe lassen, "als hätte ich doch wohl irgend etwas zur Begründung meiner Ansichten erst ,nachgeholt'223. Sehr zur Wonne Rachfahls, versteht sich, der sich, ganz nach seiner Manier, natür­ lich nunmehr statt anderen Beweises aufihn als Kronzeugen beruft."224 We­ ber widerspricht hier energisch: ,.Alles, was in meiner Antikritik gesagt ist," habe "ganz ebenso deutlich schon in meinen Aufsätzen gestanden".225 Weber unterstellt Troeltsch jedoch keine Absicht; Troeltsch habe Rachfahl "für wenigstens partiell zuverlässig" gehalten und seinen Aufsatz nicht mehr . .

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21 8 21 9 220

22 1 22 2 22 3 224 22 5

Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S . 1 77. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 9 5 0 -+ KGA 9 . Vgl. ebd., S. 950: "Man braucht übrigens die Werke dieser beiden hervorragend scharfsinnigen und kenntnisreichen Gelehrten nur genau zu studieren, um auf den Begriff geführt zu werden." Ebd., S. 950. Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 563. Unten, S. 1 52. Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0), S. 559. Vgl. Felix Rachfahl: Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus (1 9 1 0) , Sp. 697. Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 559.

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Einleitung

"von A bis Z" durchgesehen.226 Ebenso widerspricht Weber wiederholt Troeltschs Ansicht, Webers Forschungen seien erst durch Werner Sombarts "Der moderne Kapitalismus" von 1 902 veranlaßt worden.227 Weber erinnert an seine "ausdrückliche Bemerkung" in seiner Abhandlung "Die protestan­ tische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus", wo er seine Beziehung zu Sombart expliziert.228 Troeltsch hat daraufhin in der zweiten Auflage der "Bedeutung des Protestantismus" von 1 9 1 1 die entsprechende Passage ge­ ändert.229 Felix Rachfahls Angriffe gegen Weber und Troeltsch erscheinen beiden in ihrer grundsätzlichen Zielrichtung unverständlich. Troeltsch, der in den "Soziallehren" mehrmals auf Rachfahls Studie "Wilhelm von Oranien und der Niederländische Aufstand" von 1 906/1 907 hinweist, äußert dort sein Unverständnis darüber, daß Rachfahl "seine Kritik nicht als Mitarbeit an der Erleuchtung eines doch auch von ihm selbst anerkannten Problems" formu­ liere, "sondern als literarisches Skandälchen, wie es den Redaktionen man­ cher Zeitschriften erwünscht ist, und manchen Autoren als geistreich er­ scheint".23o Rachfahl habe "nicht die Ruhe, die Zusammenhänge zunächst einmal auf sich wirken zu lassen und zu analysieren, sondern schlägt gleich bei der ersten Umrißerfassung los, weil ihm etliche damit wirklich oder scheinbar nicht übereinstimmenden Tatsachen einfallen"231 . Rachfahl selbst hat in seiner Replik auf Webers und Troeltschs Kritiken den "Zweck" seiner Kritik so bestimmt: Die "Aufrichtung einer Warnungs­ tafel, damit die ,Weber-Troeltsch'sche These' (als solche wird sie doch trotz des Einspruches beider auch weiterhin gelten) nicht unbesehen akzeptiert werde, und damit sie nicht noch mehr Verwirrung anrichte, wie bisher, sei es, daß der eigentliche Urheber daran unschuldig ist oder nicht".232 In "erster Linie"233, so Troeltsch, richte sich Rachfahls Kritik gegen die Webersche Position. Hier bemängelt Rachfahl vor allem Webers "Auffas­ sung vom ,kapitalistischen Geiste' ''; diese erscheint ihm "auf der einen Seite 22 6 2 27 22 8 22 9 2 30

Ebd., S. 560. Vgl. ebd., S. 562 f., vgl. ders.: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 77. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 20, 1 904), S. 1 9 f. Vgl. unten, S. 272. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) , S . 7 0 5 KGA 9 . Ebd., S. 705. Felix Rachfahl: Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus (1 9 1 0) , Sp. 796. U nten, S. 1 47. -+

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zu eng, auf der anderen zu weit".234 Im Gegensatz zum " ,Traditionalismus' " arbeite nach Weber der "kapitalistische Geist für den über den traditionellen Bedarf hinausgehenden Erwerb, und zwar nur des Erwerbes halber, unter bewußtem Verzicht auf alle anderen Motive".235 Für Rachfahl sind "tradi­ tionalistisches Bedarfswirtschaftssystem und kapitalistisch gerichtetes Er­ werbswirtschaftssystem" nicht "so scharf gesondert, wie Weber annimmt".236 Das "Streben nach ,Bedarfsdeckung' und nach ,Erwerb' sind nur relative Gegensätze", es "gibt und gab von jeher Menschen beider Kategorien, und es braucht nicht erst eine übergewaltige religiöse Geistesmacht, wie der Kalvinismus mit seiner ,Aszese' in die Geschichte einzutreten", um den " ,kapitalistischen Geist' zu erwecken". 237 Der Webersehe ,, ,Idealtypus' " des kapitalistischen Geistes isoliere den calvinistischen Erwerbstrieb, wobei der "Gelderwerb als reine [r] Selbstzweck statuiert" werde, von anderen real vor­ handenen Motiven.238 Der Erwerbstrieb "kombiniert" sich nach Rachfahl in der Regel "mit anderweitigen Motiven der verschiedensten Art, wie Lebens­ genuß, Sorge für die Familie, Streben nach Ehren, Macht, nach Wirksamkeit im Dienste des Nächsten und der Gesamtheit, der Nation und der nationa­ len Wohlfahrt".239 Daß solche Motive "bei der Auslösung des Strebens nach dem Höchstmaß von Gewinn immer und überall in sehr verschiednen Kom­ binationen mitbeteiligt waren und sind", hätte, so Weber, Rachfahl "sich spa­ ren können, da schwerlich Jemand zu finden sein wird, der sie bestreitet".24o Es sei jedoch legitim, daß bei dem "Versuch, die spe::dftschen Wirkungen eines bestimmten Motivs" zu beschreiben, "dieses in möglichster ,Isoliertheit' und innerer Konsequenz" geschehen dürfe.241 Die von ihm gewählte "Aufgabe" sei gewesen, "zunächst einmal festzustellen, nicht wo und wie stark, sondern wie, durch welche seelischen Motivationsverknüpfungen, bestimmte For­ mungen des protestantischen Glaubens in den Stand gesetzt wurden, so zu wirken, wie sie dies - auch nach Rachfahls Ansicht - taten".242 Es sei ihm darum gegangen, "eine bestimmte, konstitutive Komponente des Lebensstils, der an der Wiege des modernen Kapitalismus stand, an dem sie - mit zahl­ reichen andren Mächten - mit gebaut, zu analysieren und in ihren Wandlun2 34 2 35 236 2 37 238 2 39 240 24 1 2 42

Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 234. Ebd., Sp. 1 234. Ebd., Sp. 1 235. Ebd., Sp. 1 235. Ebd., Sp. 1 249 f., vgl. auch Sp. 1 325. Ebd., Sp. 1 252. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 93 f. Ebd., S. 1 94. Ebd., S. 1 9 1 .

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gen und ihrem Schwinden zu verfolgen. Ein solcher Versuch kann sich nicht die Aufgabe stellen, zu ermitteln, was zu allen Zeiten und überall, wo Kapi­ talismus existierte, vorhanden war, sondern sie hat grade umgekehrt das Spe­ zifische der einmaligen Entwicklung zu ermitteln".243 Er folge hiermit seinem historisch-idealtypischen Verfahren, demgemäß " ,idealtypische' gedankliche Bilder der für eine bestimmte Epoche im Gegensatz zu andern spezifischen Züge gebildet" würden, "die generell vorhandenen dabei also als ebenfalls ge­ geben und bekannt vorausgesetzt werden".244 Keineswegs habe er die von ihm "ausdrücklich und mit denkbar größtem Nachdruck als eine Einze/kom­ ponente bezeichneten religiösen Momente verabsolutieren" oder "mit dem ,Geist' des Kapitalismus überhaupt" identifizieren wollen oder gar den Kapi­ talismus daraus abgeleitet.245 Breiten Raum in Rachfahls Kritik nimmt seine Auseinandersetzung mit dem Askese-Begriff und seiner Verwendung bei Weber und Troeltsch ein. Rachfahl sieht hier einen Widerspruch zwischen Weber und Troeltsch,246 um dann generell "Bedenken gegen die Heranziehung des Namens ,Aszese' für die protestantische Berufsethik zu erwecken"247. Nach Rachfahls Darlegung der Troeltschschen Sicht des Luthertums, das die "Welt in Kreuz von Leid und Martyrium" erdulde und somit "einen mehr passiv-resigniert-pessimi­ stischen Charakter" trage, folgt für ihn eine "fundamentale [ . . ] Differenz zwischen Troeltsch und Weber".248 Die calvinistische Ethik habe nach Troeltsch die Besonderheit der "Rationalisierung der Ethik zu einem plan­ mäßig zusammenhängenden strengen Ganzen der Lebensführung"249 ent­ wickelt. Dieses sei j edoch für Weber "das Kennzeichen jeder, sogar der katholischen Aszese"250. Troeltsch entgegnet darauf, daß er hier die "Dop­ pelstellung" des Protestantismus entwickelt habe, der einerseits "einen stark pessimistisch weltabgewandten Zug" habe und andererseits "gleichzeitig doch das innerweltliche Leben selbst mit diesem Zuge durchdringen" wolle.251 Dieses sei aber "etwas anderes als Webers Verwertung des Begriffs .

2 43 2 44

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Ebd., S. 1 97. Ebd., S. 1 99. Ebd., S. 1 97. Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 256 f., vgl. hierzu unten, S. 1 58 f., Anmerkung 29. Ebd., Sp. 1 262. Ebd., Sp. 1 257. Ebd., Sp. 1 258. Rachfahl zitiert aus Troeltschs "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 906), S. 3 1 3. Ebd., Sp. 1 258. U nten, S. 1 58.

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der Askese für die psychologische Analyse der besonderen Arbeits- und Wirtschaftsethik des Calvinismus und der Sekten"252. Rachfahl schlußfolgert aus diesen Differenzen: "Gewiß weist die kalvini­ stische Ethik in Lehre und Praxis verschiedene Züge der Abgewandtheit von der Welt und der Feindseligkeit gegen bestimmte Kulturgüter auf. Man kann sie ,aszetisch' nennen, weil sie bereits inhärente Bestandteile der mittelalter­ lich-katholischen Aszese waren; aber sie begründen noch keine Aszese als ausgeprägten Stil der ganzen Lebensführung, solange nämlich nicht damit prinzipielle Weltflucht und die Absicht eines besonderen Tuns verbunden sind. "253 Weber faßt Rachfahls Argumentation so zusammen: "Askese ist nach ihm ,Weltflucht', und da die Puritaner (im weiten, alle ,asketischen' Sek­ ten einschließenden Sinn) keine Mönche oder ähnliche kontemplative Exi­ stenzen gewesen sind, so ist eben das, was ich ,innetweltliche Askese' nenne, schon an sich ein ,falscher' Begriff, der vor allem eine Verwandtschaft mit der katholischen Askese irrtümlich voraussetzt. Ich kann mir nun schwer eine sterilere Polemik denken, als eine solche um Namen. Der Name ist mir für jeden andern feil, der besser paßt."254 Weber gibt Rachfahl zu - hiermit ist auch seine Differenz zu Troeltsch beschrieben -, daß man den Askesebe­ griff "weiter fassen kann als ich es getan habe, wo ich die von mir als ,inner­ weltliche' Askese bezeichnete Art der Lebensführung mit der ,außerwelt­ lichen' Askese des Mönchtums verglich"255. Diese sei, so Weber ironisch, "einigermaßen selbstverständlich und von mir selbst zugegeben: ich spreche bei der katholischen Askese ausdrücklich von der rationalisierten Askese (wie sie in höchster Potenz der Jesuitenorden aufweist) im Gegensatz z. B. zu ,plan­ loser Weltflucht' (auf katholischer Seite) und bloßer Gefühls-,Askese' (auf protestantischer Seite) . Mein Begriff ist daher z. B. ein von dem Tröltsch­ sehen ausdrücklich abweichender, wie jedermann, bei irgendwelchem gutem Willen, sehen muß - auch Rachfahl. Dieser hat es auch ,gesehen'."256 Es han­ dele sich dabei jedoch nur um "Unterschiede in der Terminologie, nicht aber der Sache"257. Troeltsch arbeitet in der Argumentation Rachfahls den Widerspruch her­ aus, daß dieser einerseits nicht an der "Tatsache" zweifele, "daß der Calvinis­ mus in einem eigentümlich nahen Verhältnis zur modern-kapitalistischen 2 52 2 53 25 4 2 55 256 257

U nten, S. 1 58. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 264. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 1 79. Ebd., S. 1 8 1 . Ebd., S. 1 82. Ebd., S. 1 82. Vgl. auch ders.: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalis­ mus" (1 9 1 0), S. 563 f.

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Einleitung

Entwicklung" stehe, andererseits aber ein "unüberwindliches Mißtrauen ge­ gen die praktische Wirksamkeit religiöser Lehren" hege.258 Rachfahl halte, so Troeltsch, "religiöse[ . . ] Ideen für etwas historisch verhältnismäßig unwich­ tiges"; in der Konsequenz würde eine solche Position "zum barsten Ge­ schichtsmaterialismus führen".259 Weber folgt dieser Einschätzung.26 o Er stellt die rhetorische Frage, "was ist das für ein Methodiker, der die sonder­ bare These aufstellt: in England sei die Existenz des kapitalistischen Geistes ,auch ohne dies' (das religiöse) ,Moment zu begreifen', obschon ,wir keineswegs seinen Einfluß leugnen wollen'. Also: ein ,Moment', welches kausal wichtig war für einen bestimmten Zusammenhang, welches aber dennoch der ,Histo­ riker' auch als irrelevant bei Seite lassen kann, wenn er jenen Zusammenhang ,begreifen' wi11."261 Statt "begreifen" könne man hier auch ,, ,konstruieren' sagen"; bei Rachfahl finde man "mit seinem ressortpatriotischen Eifer gegen die nicht zünftigen ,Geschichtskonstrukteure' einen ,Idealtypus' jenes so häufigen Verfahrens, welches Historikern zu passieren pflegt, wenn sie unge­ klärte, mit Vorurteilen und Werturteilen durchsetzte Begriffe verwenden, ohne dies zu bemerken".262 Troeltsch nimmt diesen Gedanken auf, wenn er Rach­ fahls Kritik unterstellt, sie sei mit "starken allgemein moralischen Allüren" besetzt, Rachfahl sei jedoch "offenbar nicht gewohnt", über die "Heranzie­ hung allgemeiner ethischer oder metaphysischer Vorstellungen" in der ge­ schichtlichen Entwicklung "viel nachzudenken"; Rachfahl "mag das nicht für die Aufgabe des Historikers halten".263 In seiner Replik auf Weber und Troeltsch widerspricht Rachfahl energisch diesen Ausführungen, er würde generell den Einfluß religiöser Momente auf das Leben leugnen; er habe le­ diglich "bestimmte konkrete Fälle vorgebracht, in denen Ü bertreibungen des Einflusses religiöser Momente auf dem Gebiet staatlicher und allgemein­ kultureller Entwicklung begangen worden sind"264. Daraus ihm die von Troeltsch gezogene Schlußfolgerung zu unterschieben, hält er für "ein Ver­ fahren, das ich hier lieber nicht charakterisieren will, da ich dann sehr bittere .

258 259

U nten, s. 1 52 f., vgl. hierzu unten, S. 1 52, Anmerkung 1 4, vgl. auch unten, S. 1 62 f. Unten, S. 1 62 f., vgl. hierzu unten, S. 1 60 f., Anmerkung 35. Vgl. auch die ironische Bemerkung Troeltschs in den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2), S. 646 KGA 9, daß den "Gegensatz einer außerweltlichen und innerwelt­ lichen Askese" "ein Rationalist wie Rachfahl" nicht leicht verstehe und würdige. Vgl. unten, S. 1 60 f. , Anmerkung 35. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 8 1 . Weber zitiert aus Rachfahls "Kalvinismus und Kapitalismus" (1 909), Sp. 1 294. Ebd., S. 1 8 1 . U nten, S. 1 6 1 . Felix Rachfahl: Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus (1 9 1 0), Sp. 7 1 8. --+

2 60 26 1

262 263 264

"Die Kulturbedeutung des Calvinismus"

43

Worte wählen müßte"265. Georg von Below schildert Rachfahl als konfessio­ nell relativ ungebundene Persönlichkeit: "Rachfahl war Katholik, betrach­ tete sich aber nicht als korrekten Katholiken. Als Althoff ihm in seinen jungen Jahren eine (katholisch konfessionelle) Professur in Braunsberg an­ bot, lehnte er sie ab mit dem Hinweis darauf, daß er eben nicht korrekt katholisch sei. Eine aggressive Haltung hat er freilich gegenüber dem Katho­ lizismus und der katholischen Kirche nicht eingenommen. Seine Anschau­ ung dürfte die gewesen sein, daß er, so wenig er sich durch katholische Grundsätze gebunden fühlte, doch gewisse Vorzüge der katholischen Kir­ che schätzte."266 Troeltsch geht davon aus, daß bei Rachfahl "unverkennbar eine persön­ liche Auffassung" beteiligt sei, die "die Wirkung der Religion auf das Leben" gering einschätze; Rachfahl erwarte sich "nur von einem dogmenfreien und aufgeklärten Toleranz- und Moralchristentum [ . ] positive Kulturwirkun­ gen".267 Hierin bestehe auch das "Neue und Eigene, was Rachfahl in seinem Aufsatz bringt"; die "Beziehungen von Kapitalismus und Calvinismus" er­ kläre er gegen Weber und Troeltsch erstens mit der "Emanzipation des Staates von der kirchlichen Herrschaft im Protestantismus, der damit seine eigenen Interessen ungehemmter verfolgen kann", und zweitens mit der "Toleranz, die bei Zurückdrängung der religiösen Leidenschaften die natür­ lichen Bedürfnisse wieder zur Geltung kommen läßt und den Wettbewerb der verschiedensten Gruppen freigibt".268 Diesen "Haupttrumpf" der Rach­ fahlschen Erklärung hält Troeltsch für "reine Konstruktion, deren sicherstes Beweisstück das vorher an allerhand Beispielen erprobte Mißtrauen gegen die Ü berschätzung religiöser Kausalitäten ist. Konstruieren ist in solchen Fällen gewiß unumgänglich, auch für den ,Historiker'. Aber ich halte diese Konstruktion für falsch".269 Auch Weber leugnet keineswegs die "über­ ragende [ . . . ] Rolle, welche die , Toleranz' als solche für die ökonomische Ent­ wicklung besessen habe"27 0 . Er habe in seiner Abhandlung darauf hingewie­ sen,271 im übrigen interessiere ihn "diese Seite der Sache nicht"272. Hinzu kommt das Argument, daß gerade eine "unvollständige Toleranz, namentlich: .

265 266 267 268 269 2 70 27 1 2 72

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E bd., Sp. 7 1 8. G eorg von Below: Felix Rachfahl (1 925), S. 377. Unten, S. 1 65. U nten, S. 1 63 f. U nten, S. 1 76 f. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 82. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Protestantismus (Band 2 1 , 1 905), S. 42 f. , Anmerkung 78. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 83.

44

Einleitung

der systematische Ausschluß konfessioneller Minoritäten von der staatlichen und sozialen Gleichberechtigung, die Deklassierten sehr häufig in besonders starkem Maße auf die Bahn des ökonomischen Erwerbes zu treiben sich ge­ eignet zeigte"273. Weber fragt sich ähnlich wie Troeltsch, "was denn eigentlich seine durch fünf Artikel dauernde wunderliche Kanonade gegen mich"274 bezwecke. Angesichts der Ambivalenz der Rachfahlschen Argumentation275 kommt er zu dem Schluß, daß "in Wahrheit [ . . ] leider Rachfahl einen eignen Stand­ punkt, mit dem man sich auseinandersetzen könnte, überhaupt nicht" habe: "Man kaut bei ihm auf Sand."276 Troeltsch kommt ebenso zu dem Fazit, daß Rachfahl "in keinem Fall [ . . ] die Bedeutungslosigkeit der religiös-ethischen Ideale für die Praxis des Lebens erwiesen"277 habe. Webers Replik endet schroff: Es sei "bedauerlich, daß die Antwort auf eine ganz sterile, mit dem höhnischen Ton, den sie anschlägt wie mit ihrem Nichtverstehenwollen einen üblen professoralen Typus darstellende Kritik auch ihrerseits so steril ausfal­ len mußte, wie es die Umstände bedingten"278. Troeltsch hingegen schlägt unpolemischere Töne an. Er habe durchaus nichts gegen Rachfahls "Kultur­ ideal" der aufklärerischen Toleranz und "freien christlichen Religiosität" "vorausgesetzt, daß Toleranz und Aufklärung dabei nicht zu seicht und oberflächlich verstanden werden".279 Auch sei die "heutige wie die frühere Aufklärung [ . . . ] keineswegs durchaus tolerant"28o . Gerade die "Animosität, die Rachfahls Aufsätze durchzieht", habe nicht "in der von mir bereitwillig anerkannten Ü berlegenheit seines historischen Wissens, sondern auch ein ganz klein wenig in der Intoleranz seiner Aufklärung ihren Grund".281 .

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273 274 275

27 6 277 27 8 27 9 2 80 28 1

Ebd., S. 1 83. Ebd., S. 1 90. Weber führt hier an, daß Rachfahl "selbst schließlich als Ergebnis erklärt, man werde den von mir erörterten religiösen Momenten (S. 1 349) ,für die Entwicklung der öko­ nomischen Verhältnisse gewiß eine große Bedeutung zugestehen müssen'. Nur heißt es weiter, ,nicht gerade in derselben Richtung', oder - was dann sofort doch wieder zugegeben wird: - wenn in derselben Richtung, dann in dieser wenigstens nicht so aus­ schließlich, wie ich es - ich wüßte beim besten Willen nicht: wo? - getan hätte." (Ebd., S. 1 90) . Ebd., S. 1 90. U nten, S. 1 74 f. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0) , S. 202. Unten, S. 1 80. Unten, S. 1 8 1 . Unten, S. 1 8 1 .

45

"Die Kulturbedeutung des Calvinismus"

Weber attestiert Troeltsch, daß dieser Rachfahl in seinem Aufsatz "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" auf eine "in der Form und in der Sache absichtsvoll generöse und entgegenkommende Art [ . . ] entgegengetre­ ten"282 sei. Dies habe jedoch nur den "Erfolg" gehabt, daß Rachfahl "von diesem Entgegenkommen in recht wenig loyaler Art ,taktisch' zu profitieren sucht und daß überhaupt seine Ausfälle gegen Troeltsch sich durch ein Maß von Animosität auszeichnen, welches das was er davon gegen mich auf­ bringt, noch übersteigt".283 In seiner oben angeführten abschließenden Äu­ ßerung zu Rachfahl in den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Grup­ pen" zitiert Troeltsch einige dieser Ausfälle.284 Hier führt er auch die Gründe auf, warum er seinerseits Rachfahl nicht noch einmal geantwortet habe: "In eine solche Polemik einzutreten habe ich keine Lust. Er spricht von ,Zu­ rechtweisungen', die mir Weber erteilt hätte, ,die ich mit gebührendem Dank hingenommen hätte' und ,durch die meine Anhänglichkeit und Begeisterung nicht erschüttert' worden sei; von ,Gewissensriecherei', weil ich angedeutet hatte, daß seine Auffassung von der Bedeutung religiöser Elemente für die Kulturgeschichte etwas seicht sei; von einem ,Widerruf', den ich betreffs der Weberschen These geleistet hätte, der mich aber nicht hindere meine dau­ ernde Zustimmung zu ,beteuern' usw. Mit solchen Manieren hat die Diskus­ sion keinen Zweck. Zudem, der Analyse größerer begrifflicher Zusammen­ hänge ist Rachfahl nicht gewachsen. Von theologischen Dingen versteht er, wie bereits bemerkt, wirklich nichts, und, wenn er sich auf Autoritäten be­ ruft, so beruft er sich gerade auf deren trivialste und herkömmlichste, durch theologische Werturteile stark beeinflußte Sätze [ . . ] . Wie es mit seinem Ver­ ständnis ökonomischer und sozialgeschichtlicher Begriffe steht, hat Weber gezeigt. So kommt es, daß nicht bloß mit dem persönlichen Stil seiner Pole­ mik, sondern auch mit seinen sachlichen Ausführungen nicht viel anzufan­ gen ist."285 Rachfahl weist in seiner Selbstbiographie darauf hin, daß "kritisch-pole­ mische Auseinandersetzungen [ . . ], im Anschlusse an fremde und eigene Schriften, in meiner literarischen Wirksamkeit eine große Rolle gespielt" hät­ ten.286 So trat er als "einer der Hauptkämpfer"287 im Lamprecht-Streit her.

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Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 555. Ebd., S. 555. Vgl. oben, S. 32, Anmerkung 1 85. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), S. 705 KGA 9. Felix Rachfahl: [Selbstbiographie] (1 926) , S. 2 1 0. Georg von Below: Felix Rachfahl (1 925) , S. 374. -+

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46

Einleitung

vor.288 Mit der Identifikation des Motivs der Kritik in der "persönlichen Auf­ fassung" Rachfahls wird bereits ein Kernstück der Kontroverse deutlich, die sich an die Arbeiten von Weber und Troeltsch zum Unterschied von Religion und Moderne angeschlossen hat. 8. Vom doppelten Ursprung der Moderne: "Renaissance und Reformation" Der letzte in diesem Band edierte Text zur Thematik der "Bedeutung des Protestantismus" ist 1 9 1 3 in der Historischen Zeitschrift im 3. Heft des 1 1 0. Bandes (Mai/Juni) veröffentlicht worden. Hervorgegangen ist er aus einem Vortrag, den Troeltsch am 21 . Dezember 1 9 1 2 in der "Sitzung der Gesamt-Akademie"289 der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hielt, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte.29 o Nachdem Troeltsch die in der protestantischen Theologie und Geschichtswissenschaft vorherrschende Meinung von der bestimmenden Bedeutung der Reformation als Beginn der Neuzeit historisch relativiert und in der Sache durch Einbeziehung kulturge­ schichtlicher Perspektiven theologisch und geschichtswissenschaftlich neu interpretiert hatte, befaßt sich dieser Text mit der konkurrierenden Auffas­ sung von der Bedeutung der Renaissance als Wegbereiterin des modernen Geistes. Das Gewicht, das Troeltsch dieser Thematik für seine Fragestellung zu­ maß, hatte er bereits 1 905 in einem Brief an Friedrich Meinecke formuliert. In Beantwortung der Nachfrage Meineckes nach dem Stand der Arbeit an dem von Troeltsch zugesagten Band "Aufklärungsbewegung"291 erklärte Troeltsch, das "Aufklärungsthema" verlange "zwei Vorarbeiten, einmal die Klärung darüber, was der Protestantismus für die Genesis der Aufklärung u [nd] der modernen Kultur bedeutet, zweitens die analoge Frage gegenüber der Renaissance", wobei in Troeltschs Urteil weniger die "hinreichend bekannte Renaissance Italiens als die mit dem Kirchenturn amalgamirte in

2 88

289

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Vgl. Felix Rachfahl: (Rez.] : Kar! Lamprecht: Deutsche Geschichte, Band 4 und Band 5, 2 (1 895), ders.: Deutsche Geschichte vom wirtschaftlichen Standpunkt (1 896) , ders. : (Rez.] : Kar! Lamprecht: Alte und neue Richtungen der Geschichtswis­ senschaft (1 896), ders. : Ueber die Theorie einer "kollektivistischen" Geschichtswis­ senschaft (1 897) . Sitzungs berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stiftung Heinrich Lanz, Jahresheft 1 9 1 2, S. XL. Vgl. den Editorischen Bericht zu "Renaissance und Reformation", unten, S. 323-325. S. oben, S. 1 3 .

"Renaissance und Reformation"

47

Frankreich, England u [nd] Holland in Betracht" komme.292 Während er die erste Frage mit seiner "Darstellung des Protestantismus" in seinem Beitrag "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" glaube inzwi­ schen "erledigt zu haben", sei die zweite noch "nicht erledigt".293 Sie wird von ihm in dem hier edierten Text verhandelt. Die Renaissance war erst durch die Darstellungen des französischen Historikers Jules Michelet294 und von dem deutschen Historiker Georg Voigt295 zu einem eigenen Forschungsfeld geworden und vor allem durch Jakob Burckhardts "Cultur der Renaissance"296 zu einem Leitbegriff der Kulturgeschichte avanciert297. In der zeitgenössischen Burckhardtrezeption hatte sich die Auffassung etabliert, in der Renaissance "die Entdeckung des Individuums"298 zu identifizieren, wobei die Formel Michelets zur Charak­ terisierung der Renaissance "la decouverte du monde et de l'homme"299 eine Art Pilotfunktion innehatte. Im Gefolge dieses neuen Begriffs hatte der Schweizer Kirchenhistoriker Paul Wernle 1 904 nachgewiesen, daß im Freun­ deskreis Zwinglis und bei diesem selbst lateinische Ä quivalente zu einem Be­ griff "Renaissance des Christentums" zur Bezeichnung ihres Reformations­ programms im Schwange waren.300 Die Frage nach der Beziehung zwischen "Renaissance" und "Reformation" war Gegenstand historischer Forschung und geleitet nicht zuletzt von der engen Beziehung der Wittenberger Refor­ mation zum Humanismus. Sie war jedoch zugleich ein Diskussionsgegen­ stand im Blick auf die Entstehung der Moderne. So hatte Paul Wernle 29 2

Brief Troeltschs an Friedrich Meinecke, 12. Oktober 1 905, GStA Berlin, 1. HA, Rep. 92, Meinecke, Nr. 324 KGA 1 8/19. Ebd. Jules Michelet: Histoire de France au seizieme siede, Band 7 (1 855) . Georg Voigt: Die Wiederbelebung des dassischen Alterthums oder das erste Jahr­ hundert des Humanismus (1 859) . Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance i n Italien (1 860). Vgl. z. B. Konrad Burdach: Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reforma­ tion (1 9 1 0). So faßt Troeltsch selbst die Rezeption Burckhardts in der herrschenden Meinung zu­ sammen, vgl. unten, S. 329. Die entsprechende Stelle bei Jules Michelet: Histoire de France au sei zieme Siede, Tome 7 (1 855), S. 11, lautet: "Ces esprits trop prevenus [sc. ces trois esprits fort diffe­ rents, l'artiste, le pretre et le sceptique] ont seulement oublie deux choses, petites en effet, qui appartiennent a cet äge plus qu'a tous ses predecesseurs: la decouverte du monde, la decouverte de l'homme." Troeltsch schreibt diese Formel Jakob Burck­ hardt zu, vgl. unten, S. 343: "Nur in diesem Sinne ist die Formel Burckhardts berech­ tigt, sie [die Renaissance] sei die Entdeckung des Menschen und der Welt". Vgl. Paul Wernle: Die Renaissance des Christentums im 1 6. Jahrhundert (1 904) , S. 1 . -+

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300

48

Einleitung

vorgeschlagen, man könne "das geistige Streben der Renaissance ,Friihaufklä­ rung' nennen"301 . Für die Beziehungen zwischen beiden Bewegungen stand die Auffassung bereit, Reformation und Renaissance als Faktoren in einer Periode gesamteuropäischen Wandels zu betrachten. Troeltsch verweist da­ für auf den Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur, der, noch ohne den Begriff "Renaissance" zur Verfügung zu haben, die Reformation "als Pro­ dukt einer im größten Fortschritt begriffenen Zeit"302 betrachten wollte. Der Philosoph Wilhelm Windelband hatte in seiner viel gelesenen "Ge­ schichte der neueren Philosophie" die Reformation als "Teil erscheinung der allgemeinen Renaissance"303 zugeordnet. Im Blick auf diese Diskussionslage setzt Troeltsch sich in der hier edierten Abhandlung mit der herrschenden Meinung auseinander, Renaissance und Reformation für zwei "innerlich zusammenhängende und sich ergänzende Momente ein und derselben großen Gesamtbewegung zu halten", als dop­ pelten Ausgangspunkt des modernen Individualismus, wobei die Renaissance dessen "ästhetische[ . . ] und philosophische [ . . ] Seite" und die Reformation dessen "religiöse[ . . . ] Seite" entwickelt habe.304 Demgegenüber entwickelt Troeltsch eine dezidiert kritische Auffassung, ganz entsprechend dem Vorgehen, dem er in der "Bedeutung des Protestan­ tismus" bei der kritischen Erörterung der Kontinuität von Reformation und Neuzeit gefolgt ist. Im Sinne des von ihm vertretenen konstruktiven Histo­ rismus, dem "das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Hi­ storie"30s sei, lautet der die Kritik leitende Einwand: "Im Gefühl der Span­ nungen und Gegensätze unserer Zeitlage kommt uns mehr der Gegensatz zwischen Renaissance und Reformation zu Bewußtsein als ihre gegenseitige Ergänzung."306 Verbunden mit diesem historistischen Einwand ist zugleich jedoch die konstruktive Frage präsent, die sich auf die "universalhistorische Stellung beider Bewegungen"307 richtet. Auf sie läuft die Abhandlung denn auch ausdrücklich hinaus. .

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Paul Wernle: Renaissance und Reformation (1 9 1 2), S. 47. Ferdinand Christian Baue: Geschichte der christlichen Kirche, Band 4 (1 863), S. 3 f., s. unten, S. 329 f. Wilhe1m Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammen­ hange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, Band 1 (1 907) , S. 25, von Troeltsch unten, S. 330 f. , zitiert. Unten, S. 329. Unten, S. 205. Unten, S. 335. Unten, S. 329.

49

"Renaissance und Reformation"

Die universalhistorische Perspektive ist für Troeltsch in erster Linie mit der Aufklärung verbunden, wie er sie bereits 1 897 ausdrücklich thematisiert hat.308 Die Kontinuität der Fragestellung läßt sich gut an den prägnanten Eingangsvoten ablesen. Der Aufklärungsartikel beginnt, wie bereits zitiert: "Die Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte im Gegensatz zu der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur. "309 Der hier vorgelegte Text beginnt: "Renaissance und Reformation bilden die Aus­ gänge der katholisch-kirchlichen Kultur des Abendlandes".3 t O Die Aufklärung als Inbegriff der modernen Welt bildet also die histo­ rische Bezugsgröße, auf die hin Troeltsch die "Unterschiede[ . . . ] und Gegensätze[ . . ]" von Renaissance und Reformation hervorheben will, d. h. "beide [ . . ] Bewegungen mehr für sich selber reden" zu lassen, mit dem Ziel, die "hieraus entspringende Auffassung der europäischen Gesamtentwick­ lung" zu konstruieren. 31 1 Eine kritische Beurteilung der aus der Burckhardtrezeption sich speisen­ den Deutung der Renaissance hatte Troeltsch bereits 1 903 formuliert.312 Von der Renaissance heißt es dort, daß ihre Bedeutung "vielfach über­ schätzt" werde und "für die neuere Menschheit auch Jak. Burckhardt über­ trieben" habe.313 Und gegen "die allgemeine Annahme, [ . . ] daß Renais­ sance und Reformation die Ausgangspunkte der sogenannten Neuzeit seien", macht er den historischen Einwand geltend, die Neuzeit sei "erst nach den großen Religionskriegen des 1 7. Jahrhunderts emporgestie­ gen".314 Entsprechende Urteile hat Troeltsch 1 9 1 2 in einer Rezension von Paul Wernle31 S zugespitzt, wenn er dem Autor bescheinigt, er habe die Re­ formation "mit vollem Recht nicht als die religiöse Parallele und Ergänzung .

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3 08 30 9 31 0 31 1 31 2

Vgl. oben, S. 1 2. Ernst Troeltsch: Aufklärung (1 897), S. 225 -+ KGA 2. Unten, S. 329. Unten, S. 335 und S. 338. Vgl. Ernst Troeltsch: Theologie und Religionswissenschaft des 1 9. Jahrhunderts (1 902) , S. 32-35 KGA 1 . Ebd., S. 33. Ebd., S. 32 f. Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Renaissance und Reformation (1 9 1 3) KGA 4. Wernle hatte allerdings in dem ersten seiner sechs Vorträge auch ausdrücklich formu­ liert: "Die Befreiung des modernen Geistes von der mittelalterlich-kirchlichen Kul­ tur" sei "eben unter den Zeichen der Renaissance des Altertums und nur unter ihm erfolgt". Paul WernIe: Renaissance und Reformation (1 9 1 2) , S. 35. -+

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Einleitung

der Renaissance, sondern als völlig gegen sie selbständige religiöse Bewe­ gung"316 aufgefaßt. Troeltsch arbeitet die Unterschiede von Renaissance und Reformation, bei aller Anerkennung der "Wahlverwandtschaft und Berührungsmöglich­ keit"317, als Gegensätze heraus. In dem von ihm angestellten Vergleich macht er nachdrücklich sozialgeschichtliche, soziologische Gesichtspunkte geltend. Thetisch formuliert lautet der Unterschied: Die Renaissance sei "so­ ziologisch völlig unproduktiv"31 8, während "die soziologische Energie der Reformation ganz außerordentlich"319 sei. Insgesamt entwickelt Troeltsch in seinen differenzierenden historisch­ konstruktiven Gegenüberstellungen die Voraussetzungen, unter denen sich beide Bewegungen auf je eigene Weise mit der neuzeitlichen Aufklärung amalgamieren und in deren vielspältigen Charakter eingehen. So vollzieht erst der neue Protestantismus als "humanitäre[r] Neuprotestantismus" in der Aufklärung die "Verschmelzung von Reformation und Renaissance".32o Der systematische Skopus in dem Aufweis der Verschiedenheit von Renais­ sance und Reformation und der erst von daher historisch zustande gekom­ menen Verbindung beider ist die universalhistorische Stellung der modernen Welt. Das ist Troeltschs Fragestellung. Sie führt zu dem Fazit: Beide Be­ wegungen zusammengenommen zeigen in ihrem historischen Profil "die Spaltung der europäischen Kultur in ihre Hauptbestandteile"321 . Als deren Elemente benennt Troeltsch zusammenfassend das "christlich-überweltlich­ asketische r . . ]" Element und das "antik-innerweltlich-humane [ . ]" Ele­ ment.322 Das sind die Elemente, die in seiner Konzeption der "Soziallehren" die maßgeblichen Ausgangspunkte darstellen. In der Schlußpassage stilisiert Troeltsch diesen Gegensatz zu einem "Ur­ gegensatz des europäischen Lebens", der in immer neuen Formen wieder­ kehre und auch durch neue große "Lebensprobleme nicht beseitigt wird".323 An dem "Einzelfalle des Gegensatzes zwischen deutscher Reformation und italienischer Renaissance" sei "etwas Typisches" zu erkennen: der "Doppel.

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Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Renaissance und Reformation (1 9 1 3) , S. 241 .... KGA 4. Unten, S. 335, vgl. auch unten, S. 359 f.: "Das Verhältnis ist das eines ganz überwiegenden Gegensatzes, aber keineswegs das der völligen Ausschließung". Unten, S. 349. Unten, S. 349. Unten, S. 368. Unten, S. 359. Unten, S. 359. Unten, S. 369.

Die Texte im Rückblick

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ursprung[ . . ] unserer europäischen Welt", der "aus der prophetisch-christ­ lichen Religionswelt und aus der antiken Geisteskultur" gespeist werde.324 In diesen Andeutungen zeigen sich die Konturen einer Kulturphilosophie, die entgegen den Vorstellungen einer in sich begründbaren Einheit der moder­ nen Welt und bei aller historisch erkennbaren, aber immer variablen Ver­ schmelzungen ihre Einheit nur angesichts der in ihr wirksamen Gegensätze begreifen und gestalten kann, als Kultursynthese auf dem Grunde der Kul­ turanalyse.325 Diese Fragestellung ist der Kontext, in dem die Untersuchun­ gen zur Entstehung der modernen Welt für Troeltsch ihren strategischen Ort haben. .

9. Die Texte im Rückblick Die Edierten Texte repräsentieren in konzentrierter Form das Verfahren, wie Ernst Troeltsch seine aus der theologischen Fragestellung hervorgegan­ genen, weit ausgreifenden geschichtstheoretischen Perspektiven zum Ver­ ständnis der Genese der Moderne in kritischer Verarbeitung des Standes der historischen Forschung materialiter zu verifizieren unternimmt. Sie sind Teil seiner Erkundung und systematischen Deutung der "Gesamtlage"326. Damit realisiert Troeltsch die Intention, wie er sie, nun schon als Ergebnis dieses Arbeitsprozesses, am Ende der zweiten Auflage der "Absolutheitsschrift" formuliert, wo von der "gründliche [n] Veränderung der Gesamtlage" gesagt wird, sie erfordere "eine Umdenkung des ganzen religiösen Bestandes".327 Genau diese "Umdenkung" hat Troeltsch hier exemplarisch im Blick auf den Protestantismus, Luther und die Reformation unternommen, indem ihr Ver­ ständnis in ein neu bestimmtes und in Wahrnehmung der "Gesamtlage" dif­ ferenziertes Kontinuitätsbewußtsein aufgenommen wird. Zugleich konkre­ tisiert Troeltsch auf diesem Wege seine theologische Ü berzeugung, daß der von ihm vertretene Standpunkt "weder auf die verlassenen Theorien zurückzurücken braucht, um seine Christlichkeit zu behaupten, noch die Christlichkeit preisgeben muß, um die Folgen aus seiner geschichtlichen Ge-

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U nten, S. 369. Die "materiale Ausführung" dazu hat Troeltsch in "Der Historismus und seine Pro­ bleme" (1 922), S. VII -+ KGA 1 6, angekündigt als das, was er "als Geschichtsphilo­ sophie anerkennen kann". Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/ 1 9 1 2) , in: KGA 5, S. 243. Ebd., S. 243.

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Einleitung

samtanschauung richtig zu ziehen"328. Die Fragestellung, die in der Ausein­ andersetzung mit den Kirchenhistorikern wie den Profanhistorikern präsent ist, aber genauso in dem komplexen Verhältnis zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch sowie in der Auseinandersetzung mit Rachfahl verhandelt wird, hat es mit der strittigen Möglichkeit einer solchen kulturgeschicht­ lich erweiterten Deutung der Moderne zu tun, für die der "Protestantismus eine wesentliche Ursache" darstellt und darin zugleich "selbst verwandelt" wird.329 Die im Blick auf die "Zukunftsentwicklungen" von Troeltsch eingefor­ derte "volle theoretische Klarheit über die Lage der christlichen Ideenwelt"330 führt die Fragestellung an die Grenze zwischen "Tatsachenurteil[en]" und "Geltungsurteilen"331 . Doch erhält die theoretische Fragestellung über die Untersuchung des "Kausalzusammenhanges zwischen Protestantismus und moderner Welt"332 im gegenwartspraktischen Bezug auf die Verfaßtheit der christlichen Ideen in Luthertum und Calvinismus ebenso wie im ethisch und soziologisch pointierten Vergleich mit der Renaissance schärfere Konturen.

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Ebd., S. 243. Unten, S. 3 1 4. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2), in: KGA 5, S. 244. Unten, S. 3 1 4. Unten, S. 3 1 4.

Luther und die moderne Welt

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Der Aufsatz "Luther und die moderne Welt" geht auf einen Vortrag zurück, den Troeltsch im November 1 907 in München im Rahmen eines religions­ geschichtlichen Vortragszyklus gehalten hat. In der Vorankündigung in den "Münchener Neuesten Nachrichten" vom 23. November 1 907 heißt es un­ ter der Ü berschrift "Religionswissenschaftlicher Vortrag", am "Samstag, den 23. November, Abend 8 Uhr" werde "Professor Ernst Troeltsch aus Heidelberg im Bayerischen Hof über das Thema sprechen: Luther und seine Bedeutungfor die Gegenwart. Der Vortrag ist der dritte in der Reihe der hier veranstalteten re­ ligionswissenschaftlichen Vorträge. Es sei darauf hingewiesen, daß Profes­ sor Troeltsch auch in einem auf der neunten Versammlung deutscher Histo­ riker zu Stuttgart gehaltenen Aufsehen erregenden Vortrage die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt ausführlich be­ leuchtet hat."l Am folgenden Tag wurde Troeltschs Vortrag noch einmal angezeigt, hier schon mit dem Titel, der auch in der Druckfassung über­ nommen wurde, und der Berichtigung, daß Troeltschs Vortrag der 4. der Reihe sei: "Den vierten religionsgeschichtlichen Vortrag wird heute Samstag Abends 8 Uhr im Richard-Wagners aal des Hotels Bayerischer Hof Geheimer Kirchenrat Professor D. E. Tröftsch aus Heidelberg über das Thema: ,Luther und die moderne Welt' halten. "2 Diese "Vorträge", die in dem 1 908 gedruckten Sammelband "Das Chri­ stentum" versammelt sind, hätten "sich das hohe und schöne Ziel gesteckt", so die Einleitung, "die Entwickelung der israelitisch-christlichen Religion von Mose bis auf die Gegenwart in ihren treibenden Mächten und bewegen1

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Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 548, 23. November 1 907, Vorabend-Blatt, S. 3. Vgl. auch: Anonym: Aus Bayern (1 907), Sp. 1 243 . Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 550, 24. November 1 907, einzige Tages-Aus­ gabe, S. 4.

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den Ideen geschichtlich darzustellen".3 Vor Troeltsch hatten am 2. Novem­ ber 1 9074 der Breslauer Alttestamentler Carl Heinrich Cornill über "Israeli­ tische Volksreligion und die Propheten", der Alttestamentler und zu diesem Zeitpunkt noch Jenaer Privatdozent Willy Staerk über "Judentum und Hel­ lenismus" und am 1 6. November 1 9075 der Straßburger Neutestamentler Ernst von Dobschütz über "Griechentum und Christentum" gesprochen. Am 30. November 1 907 beschloß der Marburger Systematiker Wilhelm Herrmann die Reihe mit einem Vortrag über "Die religiöse Frage der Ge­ genwart".6 Am 27. November 1 907 berichteten die "Münchener Neuesten Nachrich­ ten" über Troeltschs Vortrag, daß er "vor ausverkauftem Hause"7 gespro­ chen habe. Der Bericht im "Protestantenblatt" führt hingegen an, daß "nur eine verhältnißmäßig kleine Anzahl [ . . . ] den ausgezeichneten Vorträgen"8 gelauscht habe. Die "große Masse", so heißt es dazu erläuternd weiter, stehe "eben den tieferen religiösen Fragen fern, und zu dieser großen Masse ge­ hört leider in Bayerns Hauptstadt auch die Mehrzahl der Gebildeten. Schuld daran ist ja großenteils die Kirche, die seit Jahren jede freiere religiöse Stim­ mung in München geflissentlich ignoriert oder unterdrückt; vor allem die Kirchenregierung selbst, welche an einem so wichtigen Platz nur nominell orthodoxe Pfarrer beruft, deren Wirksamkeit natürlich unter den von mo­ dernem Geist durchdrungenen Gebildeten sehr beschränkt ist. Kein Wun­ der, wenn letztere sich allmählich ganz von der Kirche abwenden, ihr ent­ fremdet werden, das Interesse für religiöse Fragen verlieren. "9 Es sei daher "um so lebhafter [ . ] zu begrüßen, daß mehrere gebildete Laien es unter­ nahmen, ohne Rücksicht auf die Kirche, allein im Interesse der Religion, die­ sen Vortragszyklus zu veranstalten"l O. Troeltsch habe in seinem Vortrag, so die "Münchener Neuesten Nach­ richten", "Luther nicht in seinen religiösen, politischen, dogmatischen Kämpfen" dargestellt, "sondern als Persönlichkeit": "Das Neue und Wert­ volle, was Luther der Welt gebracht, ist weniger ein Geschenk als eine Erb.

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Carl Heinrich CornilI: Einleitung (1 908), S. 1 . Vgl. die Ankündigung "Religionsgeschichtliche Vorträge", in: Münchener Zeitung, Nr. 256, 2. November 1 907, S. 5. Ebd., Nr. 268, 1 6. November 1 907, S. 4. Vgl. die Ankündigung in: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 554, 27. November 1 907, Vorabend-Blatt, S. 4. Ebd., S. 4. Anonym: Aus Bayern (1 907) , Sp. 1 242. Ebd., Sp. 1 242. Ebd., Sp. 1 242.

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schaft, die man immer wieder selbst erringen muß. Auf die eigene Tat des Glaubens, der Erkenntnis, des Gedankens soll der Mensch gestellt werden. Gott ist im Grunde immer Gnade, nie Gesetz. So ist auch das moderne Christen­ tum zu verstehen: nicht als ein Hangen am alten Buchstaben, sondern als ein Erfassen der göttlichen Offenbarungen auch aus der Gegenwart. Die Grundlage, auf der sich ein Neues aufbauen kann, ist immer das alte ,Liebet euch untereinander!' "1 1 Bereits vom 29. November 1 907 datiert der vom Verlag unterschriebene Verlagsvertrag zwischen Troeltsch und dem Verlag Quelle & Meyer. Der Beitrag sollte einen Umfang von 1 1 /2 bis 2 Bogen haben und die "Darstel­ lung [ . ] gemeinverständlich und für weitere Kreise bestimmt sein"12. Die Auflage (ausgenommen Frei- und Rezensionsexemplare) wurde auf 5000 Exemplare festgelegt, das Autorenhonorar betrug 1 50 Mark, hinzu ka­ men für den Autor 1 0 Sonderabdrucke des Vortrages sowie 5 Freiexemplare des Bandes. 1 3 Der Sammelband war laut Verlagsvertrag vorgesehen als Band für die Reihe "Wissenschaft und Bildung".14 Mit dieser Reihe, die den Untertitel "Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens" trägt, wollte der Ver­ lag, so im Rückblick 1 93 1 nach 25jähriger Verlags tätigkeit, außer "rein wis­ senschaftlichen Werken [ . ] im Dienste der Bildung [ ] Literatur für wei­ tere Kreise in einwandfreier Ausstattung"1 5 verlegen. Band 50 der Reihe, der den hier edierten Text enthält, wurde eine Verlagsanzeige beigegeben, in der es über die Programmatik der Reihe heißt, daß diese "aus der Feder unserer berufensten Gelehrten in anregender Darstellung und systematischer Vollstän­ digkeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung aus allen Wissens­ gebieten"16 bringe. Die Reihe wolle "den Leser schnell und mühelos, ohne Fachkenntnis vorauszusetzen, in das Verständnis aktueller wissenschaft­ licher Fragen einführen, ihn in ständiger Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft halten und ihm so ermöglichen, seinen Bildungskreis zu erwei­ tern, vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, sowie neue Anregungen für die berufliche Tätigkeit zu gewinnen"1 7. Darüber hinaus beansprucht die Reihe, .

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Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 554, 27. November 1 907, Vorabendblatt, S. 4. Verlagsvertrag zwischen Ernst Troeltsch und Verlag Quelle & Meyer, 29. November 1 907, § 1 und 2, Privatbesitz. Vgl. ebd., § 3 und 5. Ebd., § 1 . Verzeichnis aller Veröffentlichungen des Verlages Quelle & Meyer 1 906-1 931 (1 931), S. V. In: Das Christentum (1 908), S. 1 65. Ebd., S. 1 65.

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"auch dem Gelehrten ein geeignetes Orientierungsmittel" zu sein, "der gern zu einer gemeinverständlichen Darstellung greift, um sich in Kürze über ein seiner Forschung ferner liegendes Gebiet zu unterrichten". 1 8 1 93 1 wird im Verlagsverzeichnis hierzu ausgeführt, daß "besonders die Einzeldarstellun­ gen aus dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre, der Philosophie, der Theolo­ gie und der Musikwissenschaft" sich "als Lehrbücher und für die Zwecke der ersten Einführung und der Repetition durchgesetzt" hätten. 19 Troeltsch verpflichtete sich in diesem Verlags vertrag, "spätestens" zum 1 . Januar 1 908 dem Verlag "ein deutlich und einseitig geschriebenes Manu­ skript" einzusenden.20 Ob Troeltsch diesen Termin eingehalten hat, ließ sich bisher nicht ermitteln. Im "Wöchentlichen Verzeichnis" wurde der Sammel­ band am 30. Januar 1 908 vorangekündigt;21 er erschien zwischen dem 4. und 1 0. Juni 1 90822.

2. Textgenese und Drucklegung In welchem Zeitraum Troeltsch am Manuskript arbeitete, ist nicht bekannt. Ein Manuskript und Druckfahnen sind nicht überliefert. Die Edition folgt dem Text, der 1 908 unter dem Titel "IV. Luther und die moderne Welt" er­ schienen ist in: Das Christentum. Fünf Einzeldarstellungen von C. H. Cor­ nill, E. v. Dobschütz, W Herrmann, W Staerk, E. Troeltsch, Leipzig: Quelle & Meyer, S. 69-1 0 1 und S. 1 60-1 64 ( = Wissenschaft und Bildung. Einzeldar­ stellungen aus allen Gebieten des Wissens, hg. von Paul Herre, Band 50) (A) . Troeltschs Anmerkungen sind ebenso wie die Anmerkungen der anderen Beiträge im Original in einem "Literaturanhang" am Ende des Bandes abge­ druckt. Die Anmerkungen werden hier gemäß den Editorischen Richtlinien zusammen mit dem Haupttext als Fußnoten gesetzt. Die ursprüngliche Sei­ tenplazierung der Anmerkungen ist durch die Angabe der jeweiligen Seiten­ zahlen am Seitenrand ersichtlich. Troeltschs Anmerkungen sind im Original mit einer längeren Einleitung versehen. Diese wird in vorliegender Edition am Textende wiedergegeben.

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Ebd., S. 1 65. Verzeichnis aller Veröffentlichungen des Verlages Quelle & Meyer 1 906-1 931 (1 931), S . 7. Verlagsvertrag zwischen Ernst Troeltsch und Verlag Quelle & Meyer, § 4. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels 67, 1 908, Nr. 5, S. 1 07. Vgl. ebd., Nr. 24, S. 678.

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Teile des Artikels "Luther und die moderne Welt" sind in den 4. Band von Troeltschs "Gesammelten Schriften" aufgenommen worden, den Hans Baron 1 925 nach dem Tode Troeltschs herausgegeben hat. Unter dem Titel "Luther, der Protestantismus und die moderne Welt"23 edierte Baron eine Kompilation von Troeltschs Einzeldarstellungen "Luther und die moderne Welt" (1 908) und "Luther und der Protestantismus" (1 9 1 7) . Baron begrün­ dete seine Textzusammenstellung damit, daß erst in der Zusammenschau Troeltschs "allseitig abgerundetes Bild der Reformation"24 deutlich werde. Im Gegensatz zu früheren Schriften zeige sich so die "gleichmäßigere Ver­ teilung der Akzente"25 in Troeltschs Beurteilung der Reformation. Die Kompilation belege, wie "besonders sorgsam" Troeltsch "die ,mittelalter­ lichen' und die ,modernen' Elemente in Luthers Werk gegeneinander ab­ wägt".26 Sowohl Luthers Grundprinzipien, als auch deren Verbindungslinien mit dem modernen Geiste träten in der neuen Edition zu Tage.27 Einen vollständigen Abdruck beider Artikel hielt Baron für unangebracht, "weil bei deren ähnlichem Aufbau zahlreiche Wiederholungen" entstanden wären; "ganz abgesehen davon, daß der ältere Beitrag entsprechend seinem populären Zwecke" Passagen enthalte, die zu Barons Edition "wenig paß­ ten".28 So fügte der Herausgeber an zwei Stellen des jüngeren Textes "drei größere geschlossene Abschnitte" des älteren ein, die "jene Ansatzpunkte ,modernen' Denkens bei Luther so besonders sorgsam herausarbeiten".29 Diese Abschnitte aus "Luther und die moderne Welt" sind wörtlich über­ nommen und enthalten keine späteren handschriftlichen Zusätze Troeltschs. Im Vorwort nennt Baron explizit die eingefügten Passagen des Aufsatzes "Luther und die moderne Welt". Auch innerhalb seiner Kompilation mar­ kierte Baron sorgfältig die Nahtstellen sowie fast alle von ihm eingeschobe­ nen "Hilfsworte"30 und Auslassungen. Barons Kompilation beginnt mit den Seiten 1 297-1 309 aus "Luther und der Protestantismus". Danach sind aus "Luther und die moderne Welt" die Seiten 77-84 eingefügt, an die über­ gangslos die Seiten 90-96 desselben Aufsatzes angeschlossen sind. Daran werden die Seiten 1 309-1 3 1 9 des jüngeren Textes angeschlossen, gefolgt von den Seiten 84-89 aus "Luther und die moderne Welt". Der von Baron 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. GS IV, S. 202-254. Hans Baron: Vorbericht des Herausgebers (1 925) , S. XIII. Ebd., S. XII. Ebd., S. XII. Vgl. ebd., S. XIII. Ebd., S. XII f. Ebd., S. XIII. Vgl. ebd., S. VII und S. XlV.

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edierte Aufsatz endet mit dem letzten Abschnitt aus "Luther und der Prote­ stantismus". Der Baronschen Edition fehlen die Seiten 69-77 und 89-1 00 aus "Luther und die moderne Welt". Baron betont, die Einschübe seien "ohne jede Gewaltsamkeit" möglich gewesen, er habe lediglich "einige über­ leitende Hilfsworte" hinzugefügt.31 "Das neue Werk ist dadurch zu einer ab­ gerundeten Reformationsdarstellung gekommen, die, wie wir hoffen dürfen, nach Möglichkeit den letzten Plänen Troeltschs entspricht."32 Ob Barons Zusammenstellung tatsächlich auf konkreten Plänen Troeltsths basiert, ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Da zudem in der Edition von "Luther und die moderne Welt" in GS IV keine handschriftlichen Zusätze eingearbeitet wurden, wird dieser Abdruck in vorliegender Edition nicht be­ rücksichtigt.

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Ebd., S. XIV Ebd., S. XIV.

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Wer über die religiöse Lage der Gegenwart nachdenkt, wird von ihr vor allem sagen müssen, daß sie unsicher und verworren ist. Auf der einen Seite stehen die alten Konfessionskirchen mit ihren von allem modernen Leben grund­ verschiedenen Dogmen und mit schweren Kämpfen in ihrem eigenen Innern; auf der anderen die Vielen, denen eine religionslose Wissenschaft die Erlösung von dem Albdruck der Religion und der Kirche ist und die für ihren Idealismus nicht mehr als ein Ideal der menschlichen Gesellschaft be­ dürfen. Dazwischen bewegen sich die Zahllosen, die suchen und nicht finden, die allerhand kirchliche und andere Eindrücke auf eigene Faust frei ver­ binden zu einer sehr persönlichen Denkweise, und die Wenigen, welche aus der Verwirrung eine einfachere und freiere, mit unseren besten philosophischen Erkenntnissen einige Christlichkeit zu retten streben. Und hinter allen steht die Masse derer, die angesichts des vielen Streites um diese Dinge sich nun überhaupt einfach an das materielle Leben halten und für religiöse Dinge nichts haben als die Gedankenlosigkeit und Indifferenz, im übrigen etwa den Wunsch, die Kirchen als schwarze Polizei aufrechterhalten zu sehen und nur persönlich von ihnen ungeschoren zu bleiben. Sucht man sich in diesem Irrsal zurechtzufinden und eine eigene Lebens­ stellung zu diesen Dingen zu gewinnen, so gibt es zwei Wege, den wissen­ schaftlichen und den praktischen. Auf dem ersten wird man hoffen, durch eine völlig unabhängige Wissenschaft mit zwingender Einsicht und Beweisbarkeit religiöse Erkenntnisse finden zu können. Derartiges geschieht in unzähligen Büchern und Broschüren. Allein, wenn dieses wissenschaftliche Denken dabei absieht von aller wirklichen bisherigen Religion und in der Tat lediglich aus der selbständigen Beobachtung und Verknüpfung der Dinge religiöse Erkenntnis erzeugen will, so I wird solche Religion immer überaus abstrakt und inhaltsarm, und von Einigkeit ist überdies nicht die Rede. Es ergibt sich immer nur ein gewisser Alleinheitsglaube, der mehr poetisch als religiös belebend zu wirken imstande ist, oder ein Moralglaube an eine sittliche Weltordnung, der von allerhand Zweifeln bedroht bleibt und religiöse Wärme nicht einzuflößen im­ stande ist. Was auch immer an berechtigter Kritik in solchen Büchern etwa enthalten sein mag, eine religiöse Kraft geht von ihnen nicht aus. Und das ist nur natürlich, da sie mit Verstand oder Enthusiasmus des einzelnen zufalligen Individuums künstlich neu machen wollen, was doch nur als große geschichtliche Kraft eines berufenen Propheten und als Arbeit zahlloser Generationen seine Wärme und Wirkung hat. So wenig wie eine neue Kunst, kann man eine neue Religion durch Wissenschaft machen. Es gilt vielmehr innere Vertiefung in den vorhandenen Besitz, in das überkommene Kapital, aus ihm heraus das

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große Erbe der Jahrtausende lebendig machen und alles Neue und Gegenwär­ tige aus dem bisherigen Besitz heraus gewinnen. Religiöse Erkenntnis wird nur durch Vertiefung in den religiösen Besitz gewonnen; durch die eigentümliche innere Arbeit der Aneignung dessen, was uns ergreift und packt aus dem über­ kommenen Besitz, und der Einschmelzung dessen, was uns überzeugt und packt, aus der gegenwärtigen Erkenntnis und Lebensgestaltung, entsteht die religiöse Fortbildung. Nur dem prophetischen Genie ist ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit und die Schaffung eines Neuen aus sich selbst möglich, und auch dieses schöpft dabei aus dem Überkommenen; aber davon kann unter uns heute im Ernste nicht die Rede sein. Damit sind wir denn auf den zweiten, den praktischen, Weg gewiesen, uns an die vorhandenen religiösen Kräfte unserer Kulturwelt zu halten und aus ihnen heraus eine eigene Klarheit für uns selbst zu gewinnen. Alle die wirklichen und grundlegenden Wandlungen, die die mo­ derne Welt gebracht hat, bestehen ja in erster Linie immer nur in der Steigerung der Freiheit, des Individualismus, der Persönlichkeit, die, auf sich selbst gestellt, aus eigenem Entschluß und eigener Einsicht ihre Lebensstellung nehmen soll; aber damit ist doch nur die Art der Stellungnahme, die Form der Einsichtsge­ winnung verändert; für den Inhalt des Lebens bleiben wir daran gewiesen, ihn aus dem Strome der Geschichte und des Lebens aufzunehmen und ihn nur selbständig zu I wandeln, in neue Verbindungen zu führen und aus eigener Überzeugung uns zu ihm zu stellen. So kann nirgends von einem absoluten Ra­ dikalismus und einer völligen Neubildung die Rede sein. Die Wissenschaften zeigen wohl dann weiterhin auch neue Bilder vom Wesen der Natur und vom Zusammenhange der Welt, vom Gange der Geschichte und nötigen uns, uns darauf einzustellen, aber sie erzeugen nie aus sich allein mit wissenschaftlicher Beweisbarkeit ethische, künstlerische und religiöse Kräfte. Die sind alle nur eine Tat der freien Schöpfung und sind überall gebunden an die aus dem Ge­ meinleben und der Geschichte herkommende Kraft. Alles wirklich praktische Erkennen auf diesen Gebieten wird daher einen konservativen Zug haben, das vorhandene Kapital ausnutzen und umformen, aber nicht ersetzen wollen. Die Vertiefung in den Besitz ist das wichtigste Mittel; aller Radikalismus kann nur in der Freiheit, Persönlichkeit und Überzeugungsinnerlichkeit liegen, daß man nichts sich aneignet aus bloßer Autorität als fremde Meinung, sondern nur das innerlich Zwingende, und in der Offenheit, mit der man den Zusammen­ hang und die Verschmelzung mit den überzeugenden neuen Erkenntnissen und Lebensinhalten der Gegenwart sucht und hier nicht ängstlich sich taub und blind stellt oder eine doppelte Buchführung sich einrichtetl).

1) Vgl. meinen Aufsatz "Autonomie und Rationalismus in der modernen Welt", Inter­ nationale Wochenschrift 1 907.

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Das religiöse Kapital unserer Kulturwelt ist nun aber das Christentum. Von ihm aus haben wir zu suchen und uns zu verständigen. Was man uns auch von der Größe und Schönheit fremder Religionen erzählen möge, von Ju­ dentum, Islam und Buddhismus, es sind doch unserem Wesen fremde religiöse Kräfte, die unter allen Umständen keine derartige Überlegenheit besitzen, daß wir uns ihnen zuwenden und aus ihnen das Heil suchen müßten. Soviel mit ihnen auch kokettiert wird, an eine Überführung unseres Lebens in jene Religionen denkt im Ernste kein Mensch. Es ist sonnenklar, daß sie nichts besitzen, was uns über unseren Besitz hinausführen kann, dagegen daß sie Schranken haben, die unsere Religion nicht hat. So bleiben wir also an das Christentum gewiesen. Das Christentum selbst aber wiederum liegt für uns Protestanten in der Gestalt des reformatorischen, protestantischen Christentums vor. Und auch hier ist für uns nur die Frage, was wir aus dem protestan­ tischen Christentum machen wollen, I nicht die, ob wir es mit dem katholischen wieder vertauschen sollen. Für alle modernen Menschen liegen die alten Kontroversfragen zwischen Katholizismus und Protestantismus in weiter Ferne der Gleichgültigkeit, ja fast der Unkenntnis; und, auch wenn man bereitwillig dem Katholizismus zugesteht, eine den Bedürfnissen Vieler entsprechende und in ihrer Menschheitsgemeinschaft wie in ihrer Seelen­ pädagogik großartige religiöse Macht zu sein, so ist doch für uns die Rückkehr zum Katholizismus überhaupt gar kein Problem. Vollends seit er mit dem letzten Syllabus und der letzten Enziklika die in seinem Schoß entstandenen Anpassungen an modernes Leben und Denken vernichtet und die endgültige Absonderung vom modernen Geistesleben proklamiert hat, 1 kann er wohl noch eine starke Religion priesterlich beeinflußter Massen, aber nicht mehr eine produktive Religionsbewegung der modernen Menschheit bedeuten. Er hat sein Großes, das Mittelalter, die Mystik, den Humanismus, die Barockkultur geleistet, und zieht sich nun auf sich selbst zurück2). Die

2) Vgl. meinen Aufsatz "Katholizismus und Reformismus" in der "Internationalen Wochenschrift", Januar 1 908.2

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Vgl. unten, S. 301 , Anmerkung 93. Mit der "letzten Enziklika" ist die Enzyklika "Pas­ cendi dominici gregis" von Papst Pius X. aus dem Jahr 1 907 gemeint. In "Katholizismus und Reformismus" (1 908) setzt sich Troeltsch mit der Enzyklika "Pascendi dominici gregis" auseinander; hier findet sich auch eine ausführliche posi­ tive Würdigung des Katholizismus: "Der Katholizismus ist ein Entwicklungssystem, das aus dem ihm immanenten Christll sgeist die verschiedenen Sakramente und Insti­ tutionen hervorgebracht hat, und dessen Entwicklung nirgends stillgestellt zu werden braucht, nirgends wie der Protestantismus an Anfangs- und Urzustände gebunden

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Frage für die religiös vorwärts strebenden Menschen ist daher nur mehr die nach der Bedeutung und Leistungsfähigkeit des Protestantismus, wie weit er Zukunftskräfte in sich hat, wie weit wir ihm unsere leitenden Gedanken ent­ nehmen können und wie weit wir etwa über ihn hinausgehen müssen. Das wirkliche Problem der religiös strebenden und doch zugleich der modernen Geisteswelt angehörenden Menschen liegt hier. Nun ist es uns j a geläufig, daß der Protestantismus mit seinem starken religiösen Individualis­ mus die der modernen Welt wahlverwandte und wurzelverwandte Form des Christentums sei, daß es insbesondere die germanische und nordische, un­ serem Wesen entsprechende Umformung der christlichen Idee und des ka­ tholischen Kirchentums sei. Das ist auch gewiß nicht unrichtig und der eigentliche Hauptgesichtspunkt für das historische Verständnis des Prote­ stantismus. Er ist nicht, wie man es so oft darstellen hört, eine einfache Erneuerung des Urchristentums und Wiederherstellung des Neuen Testa­ mentes, sondern eine den individualistischen Tendenzen der werdenden mo­ dernen Welt und der nordisch-germanischen Gemütswelt wesentlich ent­ sprechende Neuformung, die sich dabei des Neuen Testamentes und d. h. vor allem der Lehre des Paulus als des Mittels dieser Umformung gegen das katholische Kirchentum mit instinktiver Sicherheit und mit innerem Recht I bediente. Es ist die religiöse Befreiung des Individuums, wie die Renaissance die künstlerische und politisch-ökonomische und die Aufklärung die wissen­ schaftliche gewesen ist. Allein damit ist nun doch in keiner Weise noch seine Wirkung und Bedeutung für unsere heutige Krisis festgestellt. Denn in alle­ dem und trotzalledem stellt der Protestantismus nun doch zunächst nur ein neues enges und schroffes Kirchentum dar, national im Gegensatz zur ka­ tholischen Internationale, frei von Hierarchie und Theokratie im Gegensatz zur katholischen Herrschaft des Episkopats und des Papstes, ohne Klöster

bleibt. Es ist ein Entwicklungssystem auch in der Entwicklung der einzelnen von ihm zu tröstenden und zu heiligenden Gläubigen. [ . . . ] Der historische, psychologische und metaphysische Entwicklungsgedanke der modernen Welt kann, religiös und my­ stisch interpretiert, von ihm sehr wohl aufgenommen werden. So hat der Katholizis­ mus die ganze moderne religionsgeschichtliche Forschung als eine Lehre von der Entwicklung auf die katholische Kirche hin sehr weitherzig und ehrlich anerkannt, er­ klärt er das Christentum als Abschluß und Sammelpunkt der antiken Welt, eignet er sich die ganze kritische Bibelforschung und Kirchengeschichte im vollsten Umfange an und sieht darin nur die sukzessive Entfaltung des Christuslebens in der Kirche. So hat er die moderne Ethik und Psychologie sich angeeignet, indem er die Entwicklung der Seele vom Natürlich-Sinnlichen durch die ethischen Kulturwerte hindurch zum Mystisch- Ü bernatürlichen analysiert [ . . . ] . Alles das ist möglich." (Sp. 20 f.) .

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und ohne tote Hand3 im Gegensatze zu dem reichen Organismus der alten Kirche. Aber das neue Kirchenturn hat doch einen neuen strengen Dogma­ tismus und den Zwang in allen Lehrfragen, die strengste Bindung der Literatur und des Bildungswesens an geistliche Ü berwachung, die dogmatische Zwangseinheit und den Ketzerprozeß. Es hat in seinem Dogma selbst eine ungeheure Vereinfachung und Reduktion vollzogen, aber es hat doch die Grunddogmen alle bestehen lassen, von der anthropozentrischen Kleinheit der Welt, der mosaischen Schöpfungsgeschichte, dem vollkommenen Urstand, dem Sündenfall, der alles menschliche Vermögen auslöschenden Erb­ sünde, bis zur Menschwerdung Gottes zum Zwecke der Erlösung, dem Sühntod und der Auferstehung des Gottmenschen, der Wiederkunft Christi und den Freuden des Paradieses wie den Schrecken der Hölle; und das sind gerade diejenigen Dogmen, die dem modernen Denken die härtesten Anstöße bereiten oder geradezu zum Teil schlechthin widerlegt sind. Der alte Protestantismus hat ferner zwar den Staat von Hierarchie und Theokratie befreit und umgekehrt die Kirche in allen äußeren Dingen unter Autorität, Macht und Schutz des Staates gestellt, wobei sie vor allem kläglich verarmt ist; aber er hat darum nicht aufgehört, dem Staat einen geistlichen und reli­ giösen Lebenszweck zu geben, nur daß jetzt die Staatsregierung selbst die Christlichkeit herbeizuführen beauftragt war durch Pflege der reinen Lehre und durch Sittenpolizei; der Gedanke einer einheitlichen christlichen Zwangskultur geht vom Katholizismus über auf den Protestantismus, nur daß sein Träger nicht mehr die Hierarchie, sondern die sich aus der Bibel be­ lehrende und die Prediger konsultierende Staatsregierung selbst ist. Es ist nicht mehr Theokratie und nicht mehr Hierarchie, sondern Bibliokratie, Herrschaft der I Bibel und ihrer reinen Auslegung in der Hand der durch ihre Prediger belehrten Obrigkeit. Und vor allem auch die vielgerühmte An­ erkennung des Weltlebens und der weltlichen Kultur ist doch mehr die Beseitigung des Mönchtums und der überverdienstlichen Werke, als eine wirkliche innerliche Wertung des weltlichen Lebens. Dieses wird mehr hin­ genommen als eine göttliche Ordnung, in der man nun einmal steht, die man nicht verlassen soll durch selbstgewählte gute Werke. Der Dienst in der Welt und das Ausharren in ihr sei schwerer als die Flucht aus ihr und die Bewährung der christlichen Tugenden unter besonders dafür hergestellten Bedin­ gungen. Es gilt, sich in sie fügen, und Ehe, Staat, Arbeit als Berufe und Got3

Damit sind Vermögenswerte im Besitz der Kirche gemeint, die durch einmalige rechtliche Verfügung des Staates dauerhaft dem Wirtschaftskreislauf entzogen wurden. Dieses amortisierte Vermögen, das Vermögen der "Toten Hand" (manus mortua) , konnte nur schwer wieder dem allgemeinen Wirtschaftsverkehr zugeführt werden.

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tessatzungen zu betrachten, unter die man sich beugt, weil man nicht eigenmächtig ihnen entfliehen darf. Sie sind nach dem Sündenfall von Gott gesetzt und sind jetzt unser Schicksal, das wir zu tragen haben, und die For­ men, in deren Einhaltung wir den Dienst der Nächstenliebe, der Förderung und Erhaltung der physischen und irdischen Existenz, tun. Die weltlichen Ordnungen sind ein "Werkhaus der Nächstenliebe"4 , dessen Ordnung wir uns aus Liebe zum Nächsten unterziehen müssen; sie zu fliehen hieße sich dem Dienst am Ganzen und damit am Nächsten entziehen. Im übrigen aber bleibt die Welt ein Jammertal, ein Reich der Erbsünde, eine Ordnung der blo­ ßen äußeren Repression von Sinnlichkeit und Gewalttat zum Zwecke der äußeren Disziplin und der Verhütung grober Sünden. Sie bleibt eine Pilger­ schaft zum lieben jüngsten Tag, wo wir als Fremdlinge den Ordnungen Gottes während der Wanderschaft uns unterwerfen und im Gottvertrauen ihre Lasten tragen, aber in Wahrheit immer denken an das himmlische Jeru­ salem: "Wollt' Gott, ich wär' in dir"s . Im Kalvinismus ist diese strenge Welt­ beurteilung sonnenklar, aber auch im Luthertum spricht sie aus seiner ganzen Liederdichtung, die ja überhaupt sein eigentliches Herz am voll­ kommensten offenbart. Wenn man aus ihr das lutherische Gottvertrauen im Weltberuf und die lutherische Weltfreudigkeit im dankbar bescheidenen Ge­ nuß harmloser Freuden mit Vorliebe herausgelesen hat, so zeigt doch gera­ dezu diese Dichtung auch die eigentümliche innere Weltfremdheit und Welt­ ablehnung, das bloße Dulden und Tragen einer Welt, die man nicht verlassen darf, weil man dem schwersten und natürlichen Dienste sich damit entziehen I würde, deren Ordnungen man ertragen muß als Festsetzungen Gottes und deren Freude und Schönheit nur mehr ein Durchschimmern verlorener Paradiesesherrlichkeit ist. Sigmund von Birken (t 1 681) dichtet:

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Als Zitat nicht nachgewiesen, vgl. aber etwa Gerhard Uhlhorn: Die christliche Lie­ besthätigkeit, Band 3 (1 890) , S. 20: "Ganz ähnlich weist Melanchthon darauf hin, daß ein Christ seine Nächstenliebe besonders und zuerst in der Erfüllung seiner bürger­ lichen Pflichten beweisen soll, und Chemnitz nennt einmal gerade den geschäftlichen Verkehr der Menschen untereinander ,die Werkstatt der Liebe'." Johann Matthäus Meyfahrt: Jerusalem, du hochgebaute Stadt (1 626) , hier zitiert nach: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, o. J. [1 994] , Nummer 1 50, S. 300: "Jerusalem, / du hoch­ gebaute Stadt, / wollt Gott, ich wär in dir! / Mein sehnend Herz / so groß Verlan­ gen hat / und ist nicht mehr bei mir. / Weit über Berg und Tale, / weit über Flur und Feld / schwingt es sich über alle / und eilt aus dieser Welt."

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Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach, In der Welt der Welt entfliehen, auf der Bahn, die er uns brach. Immerfort zum Himmel reisen, irdisch noch schon himmlisch sein. Glauben recht und leben rein, in der Lieb' den Glauben weisen. Jesu, hier leid' ich mit dir, dort teil' deine Freud' mit mir. 6

Und wie sehr alles Leben in der Welt nur ein Fügen und Dulden ist, zeigen die Verse von Josua Stegmann (t 1 632) : Indes mein Herz, spring', tanz' und sing', In allem Kreuz sei guter Ding', Der Himmel steht dir offen. Laß dich nicht Schwermut nehmen ein,? Denn auch die liebsten Kinderlein All'zeit das Kreuz hat troffen. Schick' dich, drück' dich Und glaub' feste, daß das Beste, so bringt Frommen', Sollst in jener Welt bekommen3) .

Unter diesen Umständen ist ein starker Gegensatz zwischen jenem alten protestantischen Denken und gerade den eigentlich religiösen Gefühlen und Strebungen der Gegenwart vorhanden; und je größer dieser Gegensatz ist, um so berechtigter und dringender ist die Frage, inwiefern der Protestantis­ mus dem religiösen Leben der Gegenwart als Grundlage und Nährboden für die weitere absehbare Zukunft dienen könne. Das ist keine überflüssige und 3) Zum Ganzen vergleiche die Darstellung in "Kultur der Gegenwart". Der Vers von Sigmund von Birken aus dem badischen Gesangbuch, von Josua Stegmann aus Will Vesper "Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik", S. 73. Ü ber Art und Maß der Weltfreude in der geistlichen Lyrik des Luthertums vergleiche die gute Analyse bei WernIe "Paulus Gerhard", 1 907.8 6

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Troeltsch zitiert die erste Strophe von Sigmund von Birkens "Lasset uns mit Jesu ziehn" von 1 653; die Verse "Jesu, hier leid' ich mit dir, dort teil' deine Freud' mit mir" sind die Schlußverse der 2. Strophe, der Schluß der 1 . Strophe lautet: "Treuer Jesu, bleib bei mir; geh voran, ich folge dir". Hier zitiert nach: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, o. J. [1 994] , Nummer 384, S. 699 f. Im von Troeltsch angegebenen "Badischen Gesang­ buch", unten, S. 65, Fußnote 3, findet sich das Lied unter der Nummer 296, hier zitiert nach der neunten Auflage von 1 905, S. 284 f. Im Original: "Laß Dich Schwermut nicht nehmen ein." Vgl. Paul WernIe: Paulus Gerhardt (1 907) , etwa S. 30-39 und S. 48-56. Zu Paul Ger­ hardt vgl. unten, S. 350, Anmerkung 25.

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müßige Frage, auch keine reine Gelehrtenfrage. Es ist eine Frage des täg­ lichen Lebens, die jedes Schulkind empfindet, wenn es im Religionsunter­ richt eine völlig andere Welt aufgetan findet als im sonstigen Unterricht, die jeder ins Leben tretende j unge Mensch empfindet, wenn er sieht, wie dann im praktischen Leben so ganz andere Werte und Maßstäbe als selbstver­ ständlich angelegt werden. Wohl hat der heutige Protestantismus von jenen alten Charakterzügen mehrere abgelegt und hat sich vielfach dem modernen Leben angepaßt, aber wir fühlen den Gegensatz und die Schwierigkeit doch an unzähligen Punkten. So ist es begreiflich, wenn man zu der Frage kommt, ob überhaupt in ihm wirklich ernsthafte religiöse Kräfte sind, die nicht bloß die mittelalterliche Einheitskirche zersprengt, das I nationale Leben befreit und der modernen Kultur Raum geschaffen haben, sondern die selbst innerlich mit ihr zusam­ menhängen und ihr die Möglichkeit eines eigenen religiösen Lebens geben. Die Frage ist in neuerer Zeit oft genug gestellt und von radikalen Geistern auch verneint worden. Wenn man überlegt, daß die konfessionelle Epoche der europäischen Geschichte, das Zeitalter der sogenannten Gegenreforma­ tion, fast einen Rückfall in das Mittelalter und seine kirchliche Zwangskultur bedeutet, daß vorher bereits eine geistige Freiheit und Beweglichkeit, eine politische, wirtschaftliche und künstlerische Kulturbewegung erreicht wor­ den war, die durch das neueintretende religiöse und kirchliche Zeitalter auf­ gehalten worden ist, dann sind solche Bedenklichkeiten wohl verständlich. Allein man braucht sich doch nur die Gestalt des Mannes zu vergegenwärti­ gen, der den eigentlichen Kern und Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung bildet, die Gestalt Luthers, um zu empfinden, daß hier doch Ge­ genwartskräfte liegen, die unmittelbar heute noch verstanden und gefühlt werden. Wenn Goethe einmal sagt, an der ganzen Reformation sei nichts In­ teressantes als die Persönlichkeit Luthers,9 so ist damit das Gleiche gesagt. Aus ihr spricht etwas unmittelbar Lebendiges zu uns, das wir zum großen Teil noch verstehen können als zu uns geredet, während die theologische Sprache seiner Genossen und Epigonen uns heute fast unverständlich und 9

Siehe Brief Goethes an Kar! von Knebel, 22. August 1 8 1 7, hier zitiert nach: Goethes Briefe, 28. Band (1 903) , Brief Nr. 7848, S. 227: "Pfaffen und Schulleute quälen unendlich, die Reformation soll durch hunderterley Schriften verherrlicht werden; Maler und Kupferstecher gewinnen auch was dabey. Ich fürchte nur, durch alle diese Bemühungen kommt die Sache so in's Klare, daß die Figuren ihren poetischen, mythologischen Anstrich verlieren. Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponirt. Alles Ü brige ist verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt."

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fremd ist. Das ist aber nicht nur der Zauber seiner unerhörten Sprachgewalt und seiner großartigen Persönlichkeit, sondern auch ein unmittelbarer Ein­ fluß seiner religiösen Seelentiefe und Glaubens kraft. Wir lassen uns in der Bewunderung und im Nachfühlen dessen nicht irre machen durch moderne Romantiker und Ä stheten, wie Paul de Lagarde und Nietzsche, die nur den grobschlächtigen Bauernsohn und den deutsch-philisterhaften, der höheren Kultur entbehrenden Kleinbürger, den Eiferer und Fanatiker, den Teufel und Dämonen glaubenden Scholastiker in ihm sehen. I O Er ist und bleibt für 10 Otto Beeck versammelt in seinem Aufsatz "Paul de Lagarde's Anschauungen über Re­ ligion und Kirchenwesen" von 1 899, S. 286, diesbezügliche Stellungnahmen Lagardes,

vgl. etwa die Äußerung über Luther in einer Charakteristik Twestens: "Seiner feinen, maßvollen, milden, reich ausgebildeten Natur mußte der grobe, jeder Selbstbeherr­ schung bare, keifende, auf den Raum seiner 2 Nagelschuhe beschränkte Luther anti­ pathisch sein". Luther habe, so heißt es weiter unten, "durch seine Demagogie die Barbarei über Deutschland gebracht" (S. 286). In "Die fröhliche Wissenschaft" führt Friedrich Nietzsche im 5. Buch unter der Ü berschrift "Der Bauernaufstand des Geistes" aus, daß "Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnissvoll kurz, oberfläch­ lich, unvorsichtig angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng: so dass sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks, ohne dass er es wollte und wusste, nur der Anfang eines Zerstörungswerkes wurde". Hier zitiert nach: Friedrich Nietz­ sche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 5. Abteilung, 2. Band (1 973), S. 284 f. Weiter heißt es bei Nietzsche: ",Jedermann sein eigner Priester' - hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den ,höheren Menschen' und die Herrschaft des ,höheren Menschen', wie ihn die Kir­ che concipirt hatte: - er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsäch­ lich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, - einen ,Bauern­ aufstand'." (S. 286) In "Zur Genealogie der Moral" nennt Nietzsche Luther den " ,be­ redtesten' und unbescheidensten Bauer, den Deutschland gehabt hat". Hier zitiert nach: Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 2. Band (1 968) , S. 41 2. Luthers "Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche" sei "im letzten Grunde der Widerstand eines Rüpels" gewesen, "den die gute Etikette der Kir­ che verdross" (S. 4 1 2) . In "Menschliches, Allzumenschliches", 1 . Band, Nr. 237, be­ zeichnet Nietzsche die Renaissance als "das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster". Hier zitiert nach: Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 4. Abteilung, 2. Band (1 967) S. 203. Dagegen hebe sich "die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Le-

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Unzählige unter uns die große prophetische Persönlichkeit, der religiöse Er­ zieher; und seine herrlichen Kernworte wecken ein Echo in unseren Seelen, wie für die Gegenwart gesprochen. Aber sucht man sich über die verschie­ denen in dieser großen Persönlichkeit gebundenen Elemente klar zu werden, so ist es doch sehr schwer, gerade die dem modernen Empfinden entsprechenden Grundzüge herauszuheben. Man I hat stets das Widerspruchsvolle in dem Manne empfunden, der zwar Gelehrter und Professor war, der aber keinerlei wissenschaftlich-systematisches Bedürfnis besaß, sondern gerade in der Großartigkeit seines praktischen Grundstrebens eine vollendete Gleichgültigkeit gegen alle abstrakte Konsequenz hat. Ihm ist sein Gelehr­ tenamt nur der Rechtstitel, auf den er sich beruft für seine praktische, refor­ mierende Tätigkeit, und auch in dieser geht er nur auf die Grundinteressen, alles übrige überläßt er den Umständen. Er ist radikal und kindlich konser­ vativ zugleich. Unvergleichlich ist das gesagt von C. F. Meyer in seinen be­ rühmten Versen: "In ihm ringt, was wird und war, ein keuchend hart ver­ schlungen Ringerpaar. Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet, mich wundert nicht, daß er Dämonen sieht."t l Man hat das Gefühl, daß in der ganzen Persönlichkeit etwas lebt, was über das nächste Ergebnis weit hinaus­ reicht und was in der Tat den Grundrichtungen der modernen Welt wahlver­ wandt ist. Aber das liegt mehr in den unausgesprochenen Voraussetzungen, in der dem Ganzen zu Grunde liegenden und nie als Ganzes formulierten Grundkonzeption. Was in den einzelnen Gegensätzen und religiösen Aus­ einandersetzungen zum Einzelausdruck kommt und im Zusammenhange bens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, er­ zwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christenthum der Noth­ wehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaf­ ten, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes viel­ leicht für immer unmöglich machten. [ . . . ] Es lag in dem Zufall einer ausserordent­ lichen Constellation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der Kaiser schützte ihn, um seine N euerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen." (S. 203 f.) . 1 1 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage, hier das Gedicht "Luther", zitiert nach der Ausgabe von 1 970, S. 67: "In seiner Seele kämpft, was wird und war, / Ein keuchend hart verschlungen Ringerpaar. / Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtge­ biet / Mich wundert's nicht, daß er Dämonen sieht!" -

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der theologischen Formeln und kirchlichen Kämpfe formuliert wird, das erschöpft doch keineswegs diese Grundkonzeption. So gilt es, hinter die Einzelformulierungen auf das Ganze der religiösen Grundstellung zurück­ zugehen und das herauszuholen, was über die altprotestantische kirchliche Rechtgläubigkeit und konfessionelle Kultur hinüberreicht in die Gegenwart. Es werden zugleich die Züge sein, die von der modernen Welt, von unseren Dichtern und Denkern, Staatsmännern und Praktikern, nach dem Zusam­ menbruche des altorthodoxen Systems vorzugsweise betont worden sind. Es vollzog sich ja im Laufe unserer Geschichte eine Wandelung des Lutherbil­ des und des ganzen Begriffes von der Reformation und dem Protestantis­ mus, die freilich keineswegs immer der ganzen Sache gerecht wird, die aber doch deutlich zeigt, was die großen fortwirkenden religiösen Grundzüge sind. In diesem Sinne will ich versuchen, die in die Gegenwart fortwirkenden Grundzüge hervorzuheben4). 4) Ü ber Wandelungen des Lutherbildes siehe Horst Stephan "Luther in den Wandelungen seiner Kirche", Gießen 1 907; über die erst durch Analyse der Voraussetzungen zu gewinnende Auffassung siehe Arnold Berger "Luther I", Berlin 1 885, der damit schwer beantwortbare, aber notwendig zu stellende Fragen erhebt. Wie weit stecken die allgemeinen Ideen der neuen Laienkultur in diesen Voraussetzungen Luthers und auf welchen Wegen sind sie ihm zugeflogen?1 2

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Berger kritisiert bei den traditionellen protestantisch-theologischen Lutherdarstellun­ gen eine gewisse apologetische Tendenz. Eine "sehr erklärliche Eifersucht" wache dar­ über, "daß der religiösen Originalität des Reformators nicht das Geringste abgebro­ chen werde", und sie dränge "das Interesse des Theologen ganz natürlich darauf hin, diese Originalität von der Kultur ihres Zeitpunktes so viel als möglich zu isolieren". Arnold E. Berger: Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstellung, 1 . Teil (1 895) , S . VII. Selbst Ritschls "bahnbrechende Formulierung der neuen Lebensideale der Re­ formation" sei "nicht etwa vom kulturgeschichtlichen Standpunkte gefunden, son­ dern aus dem modernen Zeitgefühl heraus in jene Epoche hineinprojiziert worden" (S. VII). Und so werde "Luther von seinen theologischen Darstellern ganz und gar nicht in dem schlechthin entscheidenden Zusammenhange der Laienkultur erfaßt, seine Verwandtschaft mit dem Humanismus wird verdeckt, seine Beeinflussung durch die Mystik nicht hinlänglich und sogar mit einer gewissen Scheu zugegeben, er wird von ihr wie von den sogenannten vorreformatorischen Richtungen durch teilweise rein begriffliche Grenzzäune geschieden, wie sie die Ü bermittlung geschichtlichen Lebens mit ihren tausend von verborgenen Kanälen, vollends auf dem Gebiete der Frömmigkeit, gar nicht kennt; ja, da die alte protestantische Betrachtung von dem mit­ telalterlichen Katholizismus als der bloßen Entartung und Verweltlichung des Chri­ stentums immer noch nicht völlig überwunden ist, so wird die mittelalterliche Religio­ sität und Kirche in der Hauptsache noch als die negative Vorbereitung der Reformation

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Hier ist nun der erste der Grundgedanke Luthers, die Fassung der Reli­ gion als geistiger Glaubensreligion . In dem einfachen Worte steckt ein tiefer und weitgreifender Sinn. Die I Glaubensreligion ist im Grunde nichts ande­ res als der Gegensatz gegen die Sakramentsreligion, und die vom Luthertum beibehaltenen Sakramente sind nicht mehr Sakramente im alten Sinne, wie denn Luther und Melanchthon das Wort "Zeichen" statt "Sakrament" am Anfang auch bevorzugten. Das Wesen der Sakramentsreligion liegt darin, daß alle religiöse und ethische Kraft von der Kirche erzeugt wird durch das Wunder der Gnadeneinflößung, die mit sinnlichen Mitteln und Trägern die übernatürlichen geistlichen Einflüsse verbindet, ja sie an diese allein bindet, um sie eben damit der kreatürlichen Schwäche und der natürlichen Unrein­ heit des bloßen menschlichen Denkens und Vermögens gegenüberzustellen. Der geistige und ethische Charakter der Religion wird dann damit gewahrt, daß aller Nachdruck auf eine ernste Vorbereitung in Buße und Andacht, in Hingebung und Demut gelegt wird und daß im Sakrament selbst geistliche Güter reiner Erkenntnis und sittlicher Kräfte gewirkt werden. Die katholi­ sche Lehre hält der lutherischen Frage nach der Heilsgewißheit mit Recht entgegen, daß die Kirche mit ihren Sakramenten das Heil verbürge und für einen recht die Sakramente Gebrauchenden nur längere oder kürzere Feg­ feuers trafen auf dem Spiele stehen; und das kann jedem genügen, der an die Sakramente wirklich glaubt. Nur wer ihnen nicht ganz traut und eine noch innerlichere, klarere und ein für allemal entscheidende Gewißheit sucht, der wird davon nicht befriedigt sein. Das aber ist der Sinn der von Luther in fast zehnjährigem Mönchsleben vollzogenen Abwendung von dem Geist der Sakramentsreligion, wobei die augustinische und deutsche Mystik mit ihrer gegen die Sakramente fühlbar gerichteten Konsequenz ihn entscheidend bestimmt zu haben scheint. Es ist die wesentliche Grunderkenntnis Luthers, daß er in solchem Sakrament die Gewißheit des Heils nicht finden konnte. In der Anspannung der Vorbereitung empfand er die Anstrengung mensch­ licher Kräfte, von denen damit das abhängig gemacht wird, und umgekehrt angesehen, Luther selbst wird vornehmlich in dem Milieu der nominalistischen Schul­ theologie und der Werkgerechtigkeit gezeigt, seine Befangenheit in den Lehren und Institutionen der Kirche ohne ein wirkliches Eingehen auf die Elemente, die sie ihm schon früh in Frage stellen mußten, geflissentlich betont, um dann das befreiende religiöse Erlebnis aus dieser ihm scheinbar völlig inadäquaten Szenerie um so unver­ mittelter und überraschender hervorspringen zu lassen, ja es mit einem Geheimnis zu umkleiden, das eben nur als Faktum beschrieben und in seinen Wirkungen erkannt werden, aber der psychologischen Analyse womöglich entzogen bleiben soll. Ich muß bekennen, daß ich hier in den grundlegenden Darstellungen eine Lücke empfand, die mir ein geschichtliches Verständnis unmöglich zu machen schien." (S. VII f.) .

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konnte e r a m Sakrament selbst sich nicht beruhigen, weil es nur Sachen und Dinge und nicht lebendige Wahrheit ihm zu bieten schien. Daraus entstand seine Grunderkenntnis, daß die Religion Glaube sei, d. h. zuversichtliche Be­ jahung eines Gedankens, einer Erkenntnis von Gott, die uns Gottes sünden­ vergebender Gnade und seiner lebenerhöhenden Kraft gewiß macht. Nicht heilige Dinge I und Stoffe, die von der Kirche dem sorgfältig Vorbereiteten eingeflößt werden, sondern Gedanken und Erkenntnisse über Wesen und Willen Gottes, die uns im inneren Seelenkampfe gewiß werden, sind das Wesen des Heils und der Religion. Und zwar sollte ihm diese Gewißheit in einem Akt und ein für allemal gegeben sein, wie das j a auch die Wirkung einer prin­ zipiellen alles in ihr Licht stellenden und umfassenden Erkenntnis ist, während die Sakramentalakte von Fall zu Fall wiederholt werden müssen. Das Wunder der Religion besteht ihm nicht darin, daß wir uns den wunderbaren Gnadenergießungen der Kirche unterstellen, sondern darin, daß wir den Ge­ danken an Gottes Gnade und heiligen Liebeswillen fest und unerschütterlich fassen können. Die Erlösung findet ihm nicht statt durch einen passiv erlittenen Zauber, sondern durch die Befestigung in jener immer von neuem in­ tensivierten Erkenntnis. Dieser Gedanke freilich war ihm nichts menschlich Ergrübeltes und Erspekuliertes, sondern eine vom Evangelium geweckte Zuversicht; und wenn er dem Wunder der Entstehung und Festwerdung dieses Gedankens nachging, so wurde er auf ein Handeln und Wirken Gottes in uns geführt, der durch das Evangelium und durch den Eindruck frommer Christen in uns diesen Gedanken als feste Ü berzeugung hervorbringt. Und von diesem Punkt aus versteht sich sein Glaube an die Prädestination, der nichts anderes ist als sein Glaube daran, daß im religiösen Gedanken und Er­ kennen Gott selber in uns wirkt, Gott selber in uns denkt und handelt. Dieser tiefsinnigen Lehre soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Hier sei nur hervorgehoben, daß eben auch so die Religion Glaube, d. h. Gedanke und Erkenntnis ist. Ein durchsichtiger und einheitlicher Gedanke von Gott und nicht ein dunkles Mysterium sinnlich-übersinnlicher Gnadeneinflößung durch priesterliche Hand, das ist der Kern des religiösen Vorgangs, und das Unbegreifliche besteht nur in dem Vertrauen und Sicherwerden des sündigen und trotzigen Menschen über diesen Gedanken. Damit ist die Religion in die Sphäre des Gedankens und des Geistes versetzt, ist sie Geistesreligion im Gegensatz zur Religion sakramentaler Naturwunder. Der Vorgang ist psychologisch verständlich und durchsichtig gemacht; aus der geschichtlichen Wirkung des Evangeliums und der christlichen Gemeinschaft, aus dem praktischen inneren Erfassen der so zugetragenen Gedanken entsteht die Religion; das I Wunder, das der Katholizismus in die Sakramentalakte verlegte und gerade als psychologischen Zauber beschrieb, fällt nur in die Gewinnung von Kraft und Zutrauen zu diesem Gedanken und in das see-

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lische göttliche Wirken überhaupt und damit in die Prädestination. Die Reli­ gion selbst ist damit psychologisiert und das Geheimnis fällt in die verbor­ genen Gründe des Seelengeschehens überhaupt. Katholiken werden das immer wieder als ein Mißverständnis der Sakramentsidee bezeichnen, und immer wieder meinen, daß Luthers Exzentrizität eben gerade darin bestan­ den habe, den Gnadentrost der Sakramente nicht empfinden zu können. Aber wir werden gerade darin die entscheidende Grundwendung erblicken. Den Heilstrost der Sakramente nicht verstehen heißt eben nur in einem Ge­ danken von Gott die Religion erblicken können und nicht in einer natürlich­ übernatürlichen Mysterienhandlung. Darüber wird man sich nie weiter ver­ ständigen können, aber darin liegt die entscheidende Wendung. Damit ist dann auch erst das Priestertum überflüssig gemacht und das allgemeine Prie­ stertum aller Gläubigen erklärt.1 3 Denn das Sakrament ist wirksam nur in der Hand des Priesters, der die potestas ordinis, die metaphysische Eignung hierzu, durch die Priesterweihe und den mystischen Zusammenhang mit Christus und den Aposteln besitzt;14 eine Religion, die wesentlich im Sakrament be­ steht, beruht auf dem Priester. Aber eine Religion, die nicht im Sakrament, sondern in der aus der Ü berlieferung zu schöpfenden Erkenntnis und im Gedanken besteht, bedarf keines Priesters. Hier ist jeder sein eigener Priester und steht j eder selbst vor seinem Gott ohne andere Vermittelung als die der geschichtlichen, die Erkenntnis an uns heranbringenden Kräfte. Geschicht­ liche Ü berlieferung und Heranbringung der Religion im Leben, eigenes Her­ ausgreifen und Bejahen des religiösen Gedankens in persönlicher Tat und Gewißheit, das ist alles und weiter bedarf es nichts. Dann aber ist alles Prie­ stertum und das ganze Wunder der Fortleitung der sakramentalen Kräfte durch die Sukzession und Weihe von Christus her überflüssig, dann gilt das

13 Die Hauptschriften Luthers zum "allgemeinen Priestertum aller Gläubigen" sind: An

den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1 520), De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1 520) , Von der Freiheit eines Christenmenschen (1 520) sowie: De instituendis ministris Ecclesiae (1 523) . 14 Seit dem 1 2. Jahrhundert ist die Einteilung der Kirchengewalt in Weihegewalt (pote­ stas ordinis) und Hirtengewalt (potestas iurisdictionis) eingeführt; erstere bedeutet die besondere Vollmacht, Sakramente zu verwalten. Die potestas iurisdictionis wird mit der Amtsverleihung erworben und bezeichnet die Vollmacht des Amtes zu leh­ ren, zu führen und zu urteilen. Mit seiner Auffassung vom allgemeinen Priestertum rückte Luther auch von der potestas ordinis als der dem geweihten Priester vorbehal­ tenen Fähigkeit, die Sakramente zu verwalten, ab. Für alle Christen gelte die gleiche potestas: "eandem in verbo et sacramento quocunque habere potestatem". Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1 520) , hier zitiert nach: ders. : Werke. Kritische Gesammtausgabe, 6. Band (1 888), S. 566, 27 f.

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allgemeine Priestertum aller Gläubigen, aller den christlichen Gedanken von Gott freudig und sicher Bejahenden S). Mit diesem Ersten ist nun untrennbar das Zweite verbunden. Jede solche Erkenntnis ist nur möglich in eigener persönlicher Ü berzeugung, als eine völlig individuelle Gewißheit, die jeder I nur auf seine Weise und auf seine eigene Rechnung hat. Es ist die Einsetzung des religiösen Individualismus in sein prinzi­ pielles Recht. Wenn jeder Gedanke einen überzeugenden Sinn hat, nur wenn er ein eigener und selbständiger Gedanke ist, so gilt das auch von der Religion. Jedes Individuum steht nicht bloß unmittelbar in Geist und Gedanken seinem Gott gegenüber, sondern es steht auch auf eigene Weise und in eigenem Sinne Gott gegenüber. Wenn der Prädestinationsgedanke hierbei betont wird, wie das die Kalvinisten getan haben, so entsteht daraus ein radikaler re­ ligiöser Individualismus, der jedes Individuum auf innerlichste Weise von Gott mit dem Glauben erfüllt und mit einer unzerstörlichen Gewalt gefestigt weiß. Luther hat mehr als die Kalvinisten die geschichtlichen Vermittelungen betont, innerhalb deren der Gläubige zu seinem Glauben kommt; ihm schien es geratener, sich auf die Zusage Gottes im Evangelium zu berufen, als auf das Geheimnis des prädestinierenden Gotteswillens, das er aber an sich theo­ retisch immer bis zuletzt festgehalten hat, auf dessen praktischen Gebrauch er nur verzichtet hat. Aber auch er hat doch in seiner eigenen Haltung die absolute Sicherheit des religiösen Individuums betätigt und durch sein Vorbild allen vor Augen gestellt. Dieser religiöse Individualismus ist nun aber das Ge­ genteil aller kirchlichen Autoritätsreligion. Er kennt nur eine Autorität, Gott und das eigene Gewissen, in dem Gott spricht. Im übrigen kennt er Pietät und Rücksicht, menschliche Schätzung aller kirchlichen Dinge, soweit sie der reinen Erkenntnis nicht geradezu hinderlich sind. Hier wiederum gehen Luthertum und Kalvinismus auseinander; das erste ist in allen nicht direkt das Grunddogma angehenden Dingen tolerant und konservativ, der letztere auch nach den peripherischen Beziehungen radikal und puristisch. Aber beide be­ haupten darin nur den Individualismus der Glaubenserkenntnis. Ein mit dem Opfer eigener Ü berzeugung und Meinung zu befolgendes und die Demut im Gehorsam erprobendes Glaubensgesetz ist diesem Individualismus unbe­ kannt. Wie der Glaube der Gegensatz gegen das Sakrament und die priesterliche Erlösungskraft ist, so ist der religiöse Individualismus der Gegensatz gegen das Kirchendogma und die priesterliche Lehrautorität. Er ist auch sei5) Siehe meinen Aufsatz "Der Ehrhardsche Reformkatholizismus", Christliche Welt 1 902.15 15

Vgl. Ernst Troeltsch: Der Ehrhardsche Reformkatholizismus (1 902), Sp. 466 f. KGA 4.

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nerseits eine Emanzipation von der Gewalt der Kirche und des Priestertums, wenn auch nicht von der Macht I der Ü berlieferung und dem Einfluß des Gemeinlebens. Aber diesem steht der Glaube frei gegenüber und nimmt aus ihm heraus, was dem Gewissen und der ernsten religiösen Arbeit als bezwin­ gend und befreiend sich darstellt. Es ist derjenige Gegensatz gegen das Dogma, den Luther überhaupt erreicht hat und der auch in der Tat das We­ sentliche ist. Nicht Unterwerfung unter ein Kirchengesetz der Lehre ist die religiöse Erkenntnis, sondern freie vertrauensvolle Bejahung der religiösen Idee, die aus Ü berlieferung und Leben uns entgegentritt und die an ihrer er­ lösenden Kraft und gewissenstillenden Wirkung erkennbar ist6). Daraus folgt dann unmittelbar auch das Dritte. Der religiöse Gedanke ist ein praktisch wirkender Gedanke, er allein ist die Quelle und der Träger aller religiösen und ethischen Wirkungen, nicht ein unverständliches sakramen­ tales Stoffwunder, das seine geistlichen Wirkungen nur durch mühsame Vorbereitung und durch dunklen Zauber ausüben kann. Er ist vielmehr ein Gedanke, aus dessen innerem Wesen logisch und psychologisch sich die religiösen und ethischen Wirkungen ableiten und verstehen lassen. Ein völlig durchsichtiger Zusammenhang tritt an Stelle der vereinzelten und zerstük­ kelten Akte, der Vorbereitungen, der Sakraments empfänge und der damit bewirkten guten Werke. Die durchsichtige Gedankennatur des Glaubens teilt sich allem mit, und so kann er psychologisch durchsichtig zeigen, wie aus diesem Gedanken die neue religiöse Lebensstellung, das Vertrauen, die Seligkeit, die Liebe, die Hingebung und der Gehorsam gegen Gott hervor­ quillt, wie sich der Glaube umsetzen muß in ein Handeln aus der mit Gott geeinigten und seinem Willen hingegebenen Seele heraus. Der Glaube ist, wie ein Gedanke, so auch eine Gesinnung, die aus der Gotteserkenntnis ent­ springt und zum Handeln treibt. Und dabei ist das Große, daß nicht bloß dies Hervorgehen des Ethischen aus dem Religiösen durchsichtig wird, son­ dern daß auch das Ethische selber als aus einem Punkte quellend einheitlich und durchsichtig wird. Die Ethik wird zur Gesinnungsethik. Das einzelne Han­ deln hat seinen Wert nur in der prinzipiellen Gesinnung, aus der es quillt, und das Handeln ist nicht eine Summe zersplitterter einzelner "Werke", sondern 6) Siehe Harnack "Dogmengeschichte IIl", viertes Kapitel. Um deswillen bezeichnet Harnack die Lehre Luthers als Ausgang und Ende des "Dogmas".16 Es ist aber doch nur der Ausgang des spezifisch-katholischen Dogmas, an dessen Stelle dann Bibellehre und Symbol tritt. Der religiöse Individualismus liegt mehr in Luthers eigenem Verhalten als in seiner religiösen Anweisung an andere. 16

Vgl. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3. Band (1 890), 3. Buch, 4. Kapitel: Die Ausgänge des Dogmas im Protestantismus, S. 691-764.

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die Auswirkung einer einheitlichen Gesinnung in einer einheitlichen Lebens­ haltung und einem einheitlichen Lebenswerk. Das ist I der Gegensatz gegen die Gesetzesethik und die Lohnethik in jedem Sinne. Der Fromme empfängt das Gesetz durch sich selbst aus seiner auf den Gottesgedanken gerichteten Gesinnung, er wendet es an in freier, eigener Ü berlegung auf den einzelnen Fall, er wirkt nur eine von Gott ihm geschenkte Grundhaltung aus und haftet nicht am einzelnen Werke, damit auch nicht an dessen Lohn- oder Straffolgen. Das Ganze aber ist eine Stiftung und Wirkung des Glaubens und außerhalb jedes Gedankens an Lohn und Gesetz. Das ist der schärfste Gegensatz gegen die Gesetzesethik des katholischen Beichtstuhls mit ihrem autoritativen Moralgesetze, ihrer priesterlichen Anwendung, ihrer beständigen Beziehung auf Fegfeuer, Himmel und Hölle; es ist eine neue Richtung des ethischen Gedankens. Und damit ist dann im Grunde auch dasjenige abgetan, was vor allem die katholische Ethik zersplitterte und veräußerlichte, die ganze ethische Bedeutung der Eschatologie mit ihren Belohnungen und Be­ strafungen. Die Seligkeit ist eine dem guten Handeln innerlich immanente, aus der Glaubensgewißheit jetzt schon quellende, ebenso wie die Unseligkeit aus dem bösen Handeln und der Gottesferne hervorgeht. Die ganze Um­ wandelung der Eschatologie in eine Lehre vom charakterologisch und innerlich notwendigen Hervorgehen des Endschicksals aus der religiösen und ethischen Beschaffenheit der Seele selbst ist damit in Bewegung gesetzt, auch wenn Himmel und Hölle ihren Platz im Dogma behalten und nur das Fegfeuer ausgeschaltet wird, bei dem ja die Beziehungen der guten Werke auf Lohn und Strafe am bedeutsamsten und praktisch wirksamsten waren7) . Ist aber derart überall der Gegensatz zwischen Natur und sakramentaler Ü bernatur, individueller Eigenart und übernatürlicher Autorität, gutem Willen und göttlichem Gesetze beseitigt, ist der Gedanke Gottes etwas aus dem inne­ ren Wesen des Menschen Aufquellendes und die neue Gesinnung ein Gesamt­ prinzip des Lebens, so muß auch im Inhalte der Ethik der Gegensatz zwischen dem Weltleben und dem weltflüchtigen Mönchsideale verschwinden. Eine Re­ ligion, die ein Glaube und Gedanke zu sein vermag und kein dunkles Sakra­ mentswunder zu sein braucht, die kann auch das Handeln der Gläubigen nicht aus der Welt hinausführen, sondern muß diesen Gedanken die Welt durchdringen und gestalten lassen. Es I würde wie eine Flucht in besondere und selbstgemachte Lebensbedingungen sein, statt sich den natürlichen von Gott gesetzten zu unterziehen. Wie das Wunder des Glaubens nur der Mut zu einem an

7) Siehe meinen Aufsatz "Die Grundprobleme der Ethik", Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 1 902 und Herrmanns "Grundriß der Ethik", 1 904. An diesem Punkte liegt die nicht genug zu betonende Bedeutung von Herrmanns theologisch-ethischer Arbeit.

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sich völlig durchsichtigen und klaren Gedanken ist, so kann das Wunder des Handelns nur die Kraft und Freudigkeit der Arbeit in den gegebenen Verhält­ nissen sein. Wie die ethische Gesinnung eine einheitliche Durchwirkung der gesamten Persönlichkeit ist, so muß sie auch allen den gleichen Lebensstoff zur Durcharbeitung anweisen. Die einheitliche Gesinnungsethik, die keine be­ sonderen guten Werke kennt, macht den Sonderbezirk guter Werke in der Askese überflüssig und unmöglich; sie fordert wie die gleiche Einstellung auf das Leben so das gleiche Motiv der Gottesliebe bei allen und macht damit einen aus beson­ deren asketischen Motiven entspringenden Kreis der Askese undenkbar. Von allen diesen Seiten her ergibt sich die Folgerung des Gegensatzes gegen die be­ sonderen und überverdienstlichen, weltabgewandten und Sonderkreise stif­ tenden Werke des Mönchtums. Damit ergibt sich dann aber der prinzipielle Gegensatz gegen alle asketische Verwerfung der Welt und Natur und das völ­ lige Eingehen auf die natürlichen Lebensverhältnisse und die geschichtlichen Kulturbildungen. Es ist auch an diesem Punkte die Durchbrechung des katho­ lischen Wunderprinzips, wie beim Glauben selbst. So schroff Luther an sich den Wundergedanken festgehalten hat und ihn geradezu durch seine ver­ schärfte Erbsündenlehre gesteigert hat, so ist doch das beibehaltene Wunder selbst in seinem inneren Wesen verändert. Es ist nicht Übernatur oder Einwir­ kung eines göttlichen Zaubers auf die Natur, sondern das Zurückgeführtwer­ den des Menschen auf sein eigentliches echtes Wesen selbst durch die uns ergreifende und in Christus sich verbürgende Offenbarung des wahren Grundwesens, der gnädigen Liebe. Daher ist auch sein Tätigkeitskreis nicht mehr ein der Ü bernatur entsprechender Kreis übernatürlicher Leistungen, sondern die schlichte Ausfüllung des natürlichen Tätigkeitskreises mit dem bloßen Wunder der gottvertrauenden und gotteinigen Gesinnung. Insofern hatte Goethe ein Recht, Luther als den zu feiern, der "dem Menschen wieder den Mut gegeben hätte, fest auf der gottgegebenen Erde zu stehen"1 7 8) . A 1 62

8) Siehe "Grundprobleme der Ethik" und meine "Soziallehren der christlichen Kir­ chen" im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik :XXVI" 1 908, wo ich versuche, dem sehr komplexen Phänomen der Askese nachzugehen. 18 17 Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Le­

bens, hier zitiert nach der Ausgabe von 1 986, hier das letzte Gespräch vom 1 1 . März 1 832, S. 695. Die vollständige Passage zitiert Troeltsch in "Renaissance und Reforma­ tion", unten, S. 334. 18 Vgl. Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (1 902), etwa S. 83-94 und S. 1 5 1 -1 55 (GS H, S. 593-607 und S. 635-639) .... KGA 1 0. Zu den Stellen in "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) .... KGA 9 vgl. unten, S. 243, Anmer­ kung 41 .

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In diesen vier großen Gedanken, dem der Glaubens- und Erkenntnisreligion, des religiösen Individualismus, der Ge l sinnungsethik und der Weltoffenheit liegen die neuen Prinzipien. Sieht man näher zu, so ist leicht zu er­ kennen, daß ihrerseits alle vier eine gemeinsame Wurzel haben. Aber mußten schon diese vier Grundgedanken sehr tief hervorgeholt werden aus den un­ ausgesprochenen Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten, und sind sie bei Luther mit vielen andersartigen Gedanken verbunden, so ist diese ge­ meinsame Wurzel selbst noch tiefer und unter der Oberfläche seiner Gedanken und Formeln verborgen und von ihm selbst niemals auch nur soweit be­ stimmt und erkannt worden, wie das bei den genannten vier Prinzipien der Fall war. Die gemeinsame Wurzel ihrer aller ist Luthers eigentümlicher Gottesgedanke, in dem vor allem das Prinzip des Neuen liegt und in dem doch das Neue am tiefsten in der bloßen Stimmung, dem bloßen Gefühl, der instinktiven religiösen Grundhaltung verborgen ist. Nur von Fall zu Fall arbeitet er sich durch, nur in einzelnen Blitzen entladet er sich, nur als die treibende geistige Grundkraft des Ganzen klärt er sich mit jedem Fortschreiten. Aber niemals erscheint er als ein bewußtes neues Prinzip. Seinen Gottesgedanken glaubte er mit den Gegnern gemeinsam zu haben und nur über das "Wie?" des Kommens zu Gott glaubte er mit ihnen uneinig zu sein. In Wahrheit aber entsprach sein neues "Wie?" auch einem neuen "Was?", geradeso wie der alte Weg auch einem ihm entsprechenden und gemäßen Ziele entsprach. Das Neue seines Gottesgedankens kommt daher immer nur indirekt als Voraus­ setzung seines neuen Weges zum Heile zum Vorschein. Wenn ein neuer Weg zur Vereinigung von Gott und Mensch gesucht und gefunden wird, so muß auch Gegensatz und Verhältnis von Gott und Mensch in neuer Weise emp­ funden sein. Wenn die Religion und die Erlösung in Gedanken von Gott ge­ funden wird, dann muß auch der Gedanke von Gott ein neuer sein. Wie Ver­ änderungen im Zentrum sich oft in Symptomen an ganz entlegenen Stellen zeigen, so kann man diese Veränderung an zwei Lehren peripherischer Art erkennen, in der Lehre vom Urstand und in der Lehre vom Gesetz. Die katholische Urstandslehre hatte die natürliche Vollkommenheit der Ureltern be­ hauptet und mit ihr eine Vollendung aller natürlichen und kreatürlichen Kräfte in Tugend und Gotteserkenntnis. Aber zu einer wirklichen Gnaden­ verbindung mit Gott genügte die natürliche Voll i kommenheit auch damals nicht, sondern es mußte zu diesem Zwecke noch ein übernatürliches Gna­ dengeschenk der Erhebung der Kreatur über die "konnaturalen" Grenzen und Fähigkeiten hinzukommen. Auch schon im Ur- und Vollkommenheits­ stande mußte die Ü bernatur, die gnadenweise Eingießung der eigentlichen, über das Maß der Kreatur hinausgehenden Gottesgemeinschaft zur voll­ kommenen Natur, die similitudo Dei zur imago Dei hinzukommen, eine Art Sa­ kramentswunder des Urstandes, nur von Gott unmittelbar ohne Priester zu-

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erteilt. Der Sündenfall ist der Verlust jenes besonderen Gnadengeschenkes der Ü bernatur und erst dadurch vermittelt die Zerstörung auch der natür­ lichen Vollkommenheit, deren sinnliche und geistige Bestandteile sich nun leichter voneinander trennen und in Gegensatz geraten. Darum muß dann die Erlösungsanstalt der Kirche das Doppelte bringen, die Heilung der Sün­ denschuld und die Wiedereingießung des Wunders der Ü bernatur. Demge­ genüber lehrt Luther, daß im Urstand ein solches besonderes Gnadenge­ schenk nicht nötig gewesen sei, daß zwischen imago und similitudo nicht zu unterscheiden sei, weil schon innerhalb der Grenzen der natürlichen Voll­ kommenheit die Gottesgemeinschaft gelegen habe. Deshalb ist auch die Erbsünde eine Verkehrung der inneren Natur des Menschen, das heißt eine Aufhebung der zu seinem Wesen gehörenden Gottesbeziehung, und ist die Erlösung nur die Wiedergewinnung der zu Wesen und Natur des Menschen gehörenden Gotteserkenntnis ohne Gnadeneinflößung der Ü bernatur. 1 9 So scholastisch diese Lehren scheinen, so sehr enthalten sie einen tiefen Sinn. Sie bedeuten, daß für Luthers Gottesidee der Glaube an Gott zum Wesen des Menschen gehört und daß eine besondere Übernatur zur überkreatür­ lichen Verbindung mit Gott gar nicht nötig ist. Die Gnade ist kein außer-

19 Die Scholastik hatte aus der Alten Kirche die Unterscheidung übernommen, der­

zufolge die Imago (Gottebenbildlichkeit) des Menschen die mit der Erschaffung des Menschen von Gott gegebene Vernunft und Freiheit bezeichnet, während die Similitudo (Gottähnlichkeit) die Gemeinschaft mit Gott zum Inhalt hat, die, durch den Fall Adams verlorengegangen, dem Menschen in der göttlichen Gnade wieder gewonnen wird, wie sie durch die Sakramente der Kirche vermittelt wird. Luther hebt (ebenso wie Calvin) diese Unterscheidung auf und folgt darin einer anderen patristischen Auslegungstradition. Zu Luther vgl. aus der Genesisvorlesung die Auslegung zu Gen 1 , 26: "Similitudo et imago dei est vera et perfecta dei noticia, summa dei dilectio, aeterna vita, aeterna leticia, eterna securitas." Zitiert nach: Mar­ tin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 42. Band (1 9 1 1 ) , S. 46, Anmerkung 1 . Indem Troeltsch diese Auffassung Luthers hervorhebt, setzt er sich implizit kri­ tisch ab von Albrecht Ritschl, der in dieser Auslegung der Reformatoren eine Herabminderung der Person Christi kritisiert hatte, weil mit ihr der "sittliche [ . . . ] Zustand, der erst im Christenthum für die Menschen möglich ist, schon an den An­ fang der Menschengeschichte verlegt und für den naturgemäßen Bestand des menschlichen Wesens erklärt" werde. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3. Band, hier zitiert nach der 3. Auflage von 1 888, S. 3 1 3 . Daß es Troeltsch genau darauf ankommt, wird daran deutlich, daß Troeltsch in seiner Lutherinterpretation explizit die Gnade als "zur natürlichen und normalen Beziehung des Menschen auf Gott" gehörig bestimmt (unten, S. 79) . Zur impliziten Auseinandersetzung mit Ritschls Lutherinterpretation vgl. auch unten, S. 80, Anmerkung 2 1 .

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wesentliches Geschenk, das an sich dem Menschen auch fehlen könnte, aber durch besondere Gnadenwillkür hinzugefügt wird, sondern die Gnade ge­ hört zur natürlichen und normalen Beziehung des Menschen auf Gott. Das Wesensverhältnis von Gott und Kreatur ist von Hause aus eine innere Le­ benseinheit der die endliche Kreatur zu sich erhebenden und für sich heili­ genden göttlichen Gnade, keine Willkür, sondern Wesen, keine Übernatur, sondern wesenhaft zur Verwirklichung bestimmte Natur des Menschen. Eine innere Lebenseinheit Gottes und der Kreatur und eine natur i gemäße Werdebestimmtheit des Menschen zum Reifen für die Gottesgemeinschaft tut sich uns hier auf, die allen modernen Gedanken von der Immanenz der Kreatur in Gott verwandt ist und das Werden der Kreatur durch die Sünde hindurch zur ethischen Willens- und Lebenseinheit mit Gott andeutet. Die Beschreibung dieses Ideals als am Anfang fertig im Urstand verwirklicht und die Beschreibung des zu überwindenden Gegensatzes als Fall aus dem Urstand ist nur die mythische Form für den Begriff des Ideals und seines zu überwindenden Gegensatzes. Ähnlich steht es mit der zweiten Lehre vom Gesetz. Hier lehrt Luther das Gesetz bald als die zerstörende und zermal­ mende Macht betrachten, die den Sünder in die Höllenangst jagt und ihn bei der Unmöglichkeit der Erfüllung zum Vertrauen auf die Gnade ohne des Gesetzes Werke hinweist. Das Gesetz in diesem Sinne scheint oft der Inbegriff der natürlichen Weltordnung und treibt eben damit den Menschen über die natürliche Ordnung hinaus in die Arme der Gnade. Allein das ist im Grunde nur die alte apologetische Lehre seit Paulus und den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, daß das außerchristliche natürliche Erkennen vom Gesetze beherrscht sei, von dem israelitischen des Dekalogs und von dem damit identischen des natürlichen Gewissens, und daß dann eben um der Unerfüllbarkeit dieses Gesetzes willen die Gnade eintrete. Diese alte Apologetik hat sich auch Luther angeeignet und damit die natürliche außerchristliche Gotteserkenntnis teils anerkannt, teils in ihre Grenzen der Wirkung der Reue und Verzweiflung eingeschränkt, wodurch sie zur Folie des Evangeliums wird. Allein im Grunde erkennt hier Luther, daß diese natürliche Geset­ zeserkenntnis nur eine Fiktion und Selbsttäuschung des gottentfremdeten und mißtrauischen und rebellischen Menschen ist. Das wahre göttliche Gesetz ist im Evangelium offenbar und geht nicht auf gesetzliche Forderungen mit Lohn und Strafe und hat auch nicht die Absicht der Bewirkung der Ver­ zweiflung, sondern es gebietet freie Liebe, inneren Herzensdrang des Guten, wesensnotwendige Gottesliebe ohne Lohn und ohne Strafe; es gibt die Kraft, zu verwirklichen, was es gebietet durch die in seiner Erkenntnis ent­ haltenen Gottesgemeinschaft. Das heißt nun aber wiederum in scholastischer Hülle nur, daß die Gesetzesordnung überhaupt nicht Gottes Wesen ist, daß sie nicht den Unterbau der Erlösung bildet und die natürliche Vor-

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aussetzung der Offen l barung, sondern daß sie vielmehr ein Werk mensch­ lichen Wahns, menschlicher Selbstgerechtigkeit, menschlichen Trotzes und menschlicher Angst ist. Die wahre Ordnung zwischen Gott und Mensch ist von Hause aus die Gnadenordnung, die nur die Freiheit des von Gott erfüll­ ten Menschen und die innere Notwendigkeit des Guten kennt und die nur durch die Sünde hindurch mit ihrer Erkenntnis der menschlichen Schranken und der kreatürlichen Selbstsucht im Menschen Platz greifen kann. Auch hier ist die Gnadenordnung das Normale, das was sein soll; und da diese Gnade nur in der von Gott bewirkten Erkenntnis Gottes mit allen Wirkun­ gen der Freiheit und des Guten besteht, so ist die Erlösung ein Hindurch­ dringen der Erkenntnis zur Gnadenordnung als der eigentlichen Weltord­ nung Gottes. Das ist auch der Sinn der bekannten Verwerfung der natürlichen Theologie und Gotteserkenntnis bei Luther.20 Es ist nicht eine Vorausnahme neu­ kantischer Apologetik und Antimetaphysik,21 sondern die Abneigung gegen die Gipfelung der natürlichen Theologie im Gesetzesbegriff; der Wahn der Vernunft ist der Gesetzeswahn, der Selbstgerechtigkeitswahn und die Ver­ blendung der Verzweiflung. Der erste Wahn zerbricht an der Erkenntnis der wahren Forderung, die nicht vernünftige Eigenkraft, sondern gotteinige Lie­ besgesinnung will, und der zweite Wahn zergeht in der Gnadenerkenntnis, in der das die Lohnordnung aufstellende und den Sünder vernichtende Gesetz als "fremdes Werk" Gottes,22 d. h. als eine dem an Vernunftmaßstäben mes20 Vgl. Martin Luther: De votis monasticis Martini Lutheri iudicium (1 521), hier zitiert nach: ders. : Werke. Kritische Gesammtausgabe, 8. Band (1 889) , S. 608, 2-5: "Summa,

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omnium scholarum Theologiam, tarn speculativam quam practicam, hic damnatarn vides, non enim docent Christum, sed prudentiam humanam, quae dictamine suo paret etiam fidem quam vocant acquisitam." Deutsche Übersetzung: "Kurz, du siehst, daß die Theologie aller Hohenschulen, möge sie allein in Gedanken (speculativam) oder auch im Leben (practicam) bestehen, hier verdammt ist, denn sie lehren nicht Christum, sondern menschliche Weisheit, welche durch ihr Eingeben auch den Glau­ ben zuwege bringt, welchen sie den erlangten nennen." D. Martin Luthers Urtheil von den geistlichen und Klostergelübden, hier zitiert nach: Dr. Martin Luthers Sämmt­ liche Schriften, 1 9. Band (1 889) , S. 1 558. Troeltsch übt mit den Begriffen "neukantische Apologetik und Antimetaphysik" im­ plizit Kritik an Albrecht Ritschl und seinen Schülern. Ritschl hat in seiner Abhand­ lung "Theologie und Metaphysik" von 1 88 1 der Verwerfung der "natürlichen Theo­ logie" als Folge der Verbindung von Theologie und Philosophie den Weg bereitet. Der Ausdruck "fremdes Werk" ist in die Theologie aus Jes 28, 2 1 übernommen wor­ den: "Denn der Herr wird sich aufmachen wie am Berge Perazim und toben wie im Tal Gibeon, daß er sein Werk vollbringe, aber fremd ist sein Werk, und daß er seine Tat tue, aber seltsam ist seine Tat!" In der Beziehung zwischen Evangelium und Ge­ setz ist der Ausdruck in den Begriffen "opus proprium" und "opus alienum" durch-

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senden Sünder sich notwendig ergebende subjektive Mißdeutung erscheint. Was auch sonst Luther in seinem genialen Drange zur Vereinheitlichung ge­ gen die dogmatisierende und spintisierende Vernunft auf dem Herzen haben mag, sein eigentlicher Groll gilt der alten Apologetik, die von der Vernunft her die Gesetzesordnung aufbaute, damit aber den religiösen Gedanken prinzipiell überhaupt unter den Vernunftmaßstab des Gesetzes beugte und der Gnade nur die Bedeutung einer Ergänzung und Aushilfe übrig blieb. Al­ les wahrhaft Gute ist überhaupt nur durch Gnade möglich. Er hat allerdings, wie seine Bußlehre zeigt, gerade hier stark geschwankt, und seine Abneigung dagegen, daß auch die Sünde von Gott geordnet sei, hat ihn hier nie zur vol­ len Konsequenz kommen lassen, aber an der instinktiven Grundempfindung kann kein Zweifel sein, daß die rationalistische Grundlehre vom Gesetz und der Gesetzesordnung das Widerspiel der wahren religiösen Gotteserkenntnis ist. I Gott ist in Wahrheit nichts als Gnade, auch da, wo er richtet und verurteilt. Der Begriff vom Gesetz als "fremdem Werk" Gottes ist nur eine mythische Form hierfür. Mit alledem aber offenbart sich ein Gottesgedanke, der die innere Lebenseinheit der Welt, die Bestimmung der Kreatur zur Freiheit in Gott und zur vollen Gotteserkenntnis in sich enthält, und damit dem alten Gegensatze von Natur und Übernatur, von Gesetz und Gnade, von na­ türlicher Kraft und Wunderdurchbruch entgegengesetzt ist. Es wird die Be­ kehrung zu einer Selbstläuterung durch den Glauben, indem der voll er­ kannte Gnadengott nach seiner Heiligkeit die Sünde richtet und verurteilt gängiges Element von Luthers theologischer Unterscheidungslehre geworden. Vgl. etwa Martin Luther: Sermone aus den Jahren 1 5 1 4-1 5 1 7, in: ders.: Werke. Kritische Gesammtausgabe, 1 . Band (1 883) , S. 1 1 2, 24-27, ders. : Dictata super Psalterium. 1 5 1 3-1 5 1 6, in: ders. : Werke. Kritische Gesammtausgabe (1 886) , S. 87, 23-25 und S. 331 , 1 4, sowie ders.: Disputatio Heidelbergae habita (1 5 1 8) , hier zitiert nach: ders.: Werke. Kritische Gesammtausgabe, 1 . Band (1 883) , S. 36 1 , 1-5: "Lex humiliat, gratia exaltat. Lex timorem et iram, gratia spem et misericordia operatur. Per Legern enim cognitio peccati, per cognitionem autem peccati humilitas, per humilitatem gratia ac­ quiritur. Sic opus alienum Dei inducit tandem opus eius proprium, dum facit pecca­ torern, ut iustum faciat." Deutsche Ausgabe: "Das Gesetz demüthigt, die Gnade er­ höht; das Gesetz wirkt Furcht und Zorn, die Gnade Hoffnung und Barmherzigkeit. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde (Röm. 3, 20.) , durch die Er­ kenntniß der Sünde aber Demuth, und durch die Demuth wird die Gnade erlangt. So veranlaßt ein fremdes Werk GOttes endlich sein eigenes Werk, da er einen Sünder macht, um einen Gerechten zu machen." Martin Luther: Die Heidelberger Disputa­ tion, hier zitiert nach: Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, 1 8. Band, Sp. 48 f. Auch hier hebt Troeltsch in seiner Auslegung Luthers im U nterschied zu Ritschl auf die "Gnade" Gottes als "innere Lebenseinheit der Welt" ab, von der aus das Gesetz als "fremdes Werk" erscheint (unten, S. 8 1 , sowie S. 82 f., Fußnote 9) .

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und zugleich nach seiner Gnade und seinem eigentlichen Wesenwillen in die­ ser Erkenntnis das Vertrauen und die Gewißheit mitteilt, in der das Gute er­ starkt und durch die Einigung mit Gott möglich wird. An der Entwickelung dieser Gedanken war Luther durch seine Erbsündenlehre verhindert, die die Sünde nur negativ als etwas rein Zerstörendes zu fassen nötigte und sie da­ her nicht in die Entwickelung der Gnadenerkenntnis aus der Selbstzerstö­ rung der endlichen Selbstgerechtigkeit durch die Sünde positiv aufnehmen konnte. Damit verband sich ihm die alte Apologetik des natürlichen Unver­ mögens gegenüber dem Gesetze, das erst das Eingreifen der Gnade nötig macht, und so ist es möglich, auch die ganz entgegengesetzte Lehre von der Ergänzung der Gesetzesordnung durch die Gnadenordnung aus seinen Schriften nachdrücklich zu belegen.23 Aber es kann kein Zweifel sein, wo sein eigentliches Herz war9). A 1 62

9) Das bildet den Grundgedanken meiner Erstlingsschrift "Vernunft und Offenbarung bei Joh. Gerhard und Melanchthon" 1 89 1 , wo ich die Motive und Bedeutung der Auf­ nahme des humanistischen Rationalismus bei Melanchthon zu zeigen suchte im Gegen­ satze gegen Luthers antirationalistische Gnadenlehre und Ethik. Siehe auch meinen Auf­ satz "Gnade", Christliche Welt 1 907. Es ist meines Erachtens nur die Einführung des Begriffes einer (übrigens durch Bruch und Entgegensetzung hindurchgehenden) "Ent­ wickelung", die den modernen Gedanken von dem Luthers scheidet. 24 Daß ihm für seine

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Vgl. etwa Luthers "Evangelium am Neujahrstage, Luk. 2, 2 1 " (1 522), hier zitiert nach: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 1 0. Band, 1 . Abteilung, 1 . Hälfte (1 9 1 0) , S . 509, 1-1 6: "Diße sund wirtt nitt gethan, wie alle andere sund, ßondern sie ist, sie lebt und thutt alle sund und ist die weßenlich sund, die da nitt eyn stund odder tzeytt­ lang sundigt, sondern wo und wie lang die person ist, da ist die sund auch. Auff dieße naturlich sunde sihet gott alleyn, dieselbige mag man mitt keynem gesetz, mitt keyner straff vortreyben, wenn gleych taussent helle weren, ßondernn alleyn die gnade gottis muß sie außfegen, die die natur reyn und new macht. Das gesetz tzeygt sie nur und lernet sie erkennen, aber es hilfft yhr nit, weret alleyn der hand unnd glidmassen, der person unnd natur mag es nitt weren, das sie nit sundlich sey; denn sie ist auß der ge­ purt schon tzuuorkommen dem gesetz und ehe tzu sunden worden, ehe das gesetz yhr vorpotten hatt. Als wenig es ligt an eyniß ydermanß macht, das er geporn wirtt unnd das naturlich weßen empfehet, als wenig ligt es auch an seynem vormugen, das er on diße sund sey oder yhr loß werde. Der uns schafft, der alleyn muß sie auch abethun; darumb gibt er tzum ersten das gesetz, dadurch der mensch solch seyn sund erkenne und gnaddurstig werd, darnach gibt denn das Euangelium und hilfft yhm." Vgl. Ernst Troeltsch: Die Gnade (1 907) , Sp. 475 f. KGA 3: Der protestantische Gnadenbegriff sei "durch den ganzen modernen Kontinuitäts- und Entwicklungsge­ danken" befestigt worden, "der im göttlichen Weltleben keine Vereitelung und gna­ denreiche Wiederherstellung der göttlichen Ziele kennt, sondern der aus dem Prinzip --+

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Gewiß ist Luther weit davon entfernt, diese letzteren Gedanken bereits ge­ bildet zu haben, aber sie liegen in dem inneren Zuge seines Gottesgedankens; sie sind dem Zuge unseres Denkens zur Immanenz der Welt in Gott und zur Auffassung des Menschheitsziels als eines Werdens aus ihrem Wesenszuge heraus nahe verwandt und halten dabei doch fest, was unser modernes Den­ ken so leicht zu verlieren in Gefahr ist, die Notwendigkeit des Durchgangs durch Sündenerkenntnis und Bruch mit der kreatürlichen Selbstliebe in der sittlichen Tat. Die großen Gedanken liegen nur in den Banden des Mythos vom Urstand und Fall, vom Kampfe des Zorns und der Liebe, des Gesetzes und der Gnade, der Gerechtigkeit und der Vergebung in Gott. I Es sind ja auch die viel deutlicher ausgeprägten erstgenannten vier Prinzipien nicht rein von ihm entwickelt worden und in ihrer Konsequenz erst unter dem Einflusse des modernen Lebens heraus gestaltet worden. Die Glaubensreligion als Reduktion der Religion auf Gedanken war nicht bloß durch Rückfälle Luthers in die katholische Sakramentslehre getrübt, sondern vor allem dadurch in ihrem Wesen verdeckt, daß sie dabei stets streng an die biblische Norm gebunden blieb und nie in ein, wenn auch nur relativ, freies und spontanes religiöses Denken überging. Allein Luther setzte eben voraus, daß Gottes Wirken den Glauben oder der heilige Geist die Er­ kenntnis stets auf die Bibel oder auf die apostolische Lehre festlegen werde. Das letztere war für Luther selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war ihm die allgemeine Geltung des Gottesgedankens überhaupt, und die Frage war nicht, wie man Gottes gewiß, sondern wie man seines Heiles bei Gott gewiß werden könne. Sein neuer Gottesgedanke steckt ganz in der Lehre von der Gewißwerdung über das Heil und über deren ethische Folgen, und er weiß noch nichts von den großen modernen Weltanschauungskämp­ fen. Es handelt sich für ihn nicht um den Gottesglauben überhaupt, sondern um die richtige Erhebung dieses Glaubens aus der Bibel. All die schweren heutigen Probleme und Nöte, die ganze Sorge um den Gottesgedanken psychologischen Analysen und seine theologische Gesamtbetrachtung dieser Begriff, den er so l oft instinktiv streift, doch grundsätzlich fehlt, das ist meines Erachtens einer der Grundunterschiede gegen alles moderne Denken. heraus den Ablauf des Lebens als Verwirklichung der göttlichen Lebenszwecke ver­ stehen und alle Brüche und Katastrophen als in dieser Kontinuität selbst gewollte und angelegte betrachten muß. An dem Gnadenbegriffe kann man erkennen, daß sol­ che moderne Gedankeneinflüsse keineswegs bloß Verkürzungen der religiösen Idee des Christentums sind, sondern unter Umständen auch den tiefsten Sinn erst recht hervortreten lassen können." Verändert wurde der Beitrag unter dem Titel "Gnade Gottes: III. Dogmatisch" 1 9 1 0 in der RGGI publiziert, hier Sp. 1 472 f. ..... KGA 3.

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überhaupt, der Kampf mit dem Atheismus und die Neigung zu einem alles Christliche auslöschenden Pantheismus waren ihm unbekannt. Erst die kri­ tische Auflösung der Bibelautorität, die verfeinerte, intellektuelle und prak­ tische Elemente analysierende Religionspsychologie und die Verknüpfung des religiösen Gedankens mit den Bewegungen der modernen Spekulation haben hier den Bann gebrochen. Damit ist dann freilich auch viel Unsicher­ heit und vielfache Verschmelzung mit rein spekulativen und theoretischen Interessen eingetreten, aber der Gedanke der Religion des Geistes, der im wahren Gedanken über Gott und Welt die praktisch-religiösen Kräfte her­ vorbringenden Glaubenserkenntnis, ist doch von da ab herrschend gewor­ den über alle moderne Religiosität. Kant und Schleiermacher haben den Ge­ danken Luthers mit neuen Mitteln und ohne die ausschließliche Bindung an die Bibel in moderne Form übergeführt1Ü). Auch der religiöse Individualismus ist vom alten Pro l testantismus nur sehr eingeschränkt verwirklicht worden. Die Überzeugung, daß es nur eine religiöse Wahrheit geben könne, der absolutistische und uniforme Wahrheitsbegriff, hat auch hier zur Zwangsgleichheit des religiösen Bekenntnisses geführt, wobei es freilich wiederum auch hier Luthers Gedanke war, daß der Geist der Wahrheit von selbst alle zur gleichen Wahrheit führen werde und dann erst die Halsstar­ rigen und Widerstrebenden des Landes zu verweisen seien. Seinem Optimis­ mus und seiner Glaubensgewißheit verbargen sich die Konsequenzen, die teil­ weise das Täuferturn in seiner Geistlehre zog. Aber diese Konsequenzen erwuchsen dann später aus dem kämpfenden Kalvinismus, der aus seinem Prä­ destinationsdogma und aus seiner Lehre vom Widerstandsrecht immer radi­ kalere freikirchliche Konsequenzen zog und schließlich, vermutlich unter Mitwirkung des enthusiastischen Täufertums, ein Nebeneinanderbestehen verschiedener Gewissensüberzeugungen in independenten Gemeinden for1 0) Hier liegen die oft behaupteten Zusammenhänge Luthers mit dem "deutschen Idea­ lismus". Sie sind gewiß nicht zu leugnen, aber sehr gebrochen und kompliziert und sehr schwer nachzuweisen. Hier wäre vor allem bei Leibniz, Lessing und Goethe einzusetzen. Das Entscheidende ist meines Erachtens die Fähigkeit von Luthers Gedanken des "Gei­ stes", der "Freiheit" und der "inneren Triebkraft des Glaubens"25 in den einer freien gei­ stigen "Entwickelung" überzugehen. Es ist eine Fähigkeit, die dem Kalvinismus fehlt, wes­ halb die auf seinem Boden entspringende moderne Ethik ihre Gedanken dem nüchternen empirischen Psychologismus und seiner Motivationskausalität entnimmt. Auf deutschem Boden rezipiert erfuhren diese Gedanken eine Umwandlung, die man - mit der nötigen Umsicht - wohl mit den Fortwirkungen des lutherischen Geistes wird in Beziehung brin­ gen dürfen. Vergleiche meinen Artikel "Moralisten, englische" in Prot. Real-EnzykP. 25

Gemeint ist wohl Kar! Thieme: Die sittliche Triebkraft des Glaubens (1 895) .

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derte, bis er heute bei prinzipiellem Freikirchenturn und der staatlich zu ge­ währenden Gewissensfreiheit vielfach angekommen ist. Die von hier und von politischen Nützlichkeitserwägungen aus inspirierte Toleranzidee hat dann auch bei uns die Gleichberechtigung und die Gleichwertigkeit verschiedener Bekenntnisse nebeneinander durchgeführt. Und indem unter dem Schutze der Toleranzidee sowie unter dem Einflusse des wissenschaftlichen Geistes und Wahrheitssinnes die Gewissensfreiheit auch in die einzelnen Kirchen selbst einzog, ist für uns heute die individuelle Gewissensmäßigkeit und damit die unbegrenzte Variabilität des religiösen Gedankens selbstverständlich. Die ge­ bildete Laienwelt weiß es nicht anders, und auch in der Kirchenlehre selbst hat vielfach eine Elastizität, ein Rückzug auf das Praktische und Wesentliche, eine Einschränkung der Lehre und der Lehreinheit Platz gegriffen, die den Gedanken einer gemeinsamen Lehre überhaupt in Frage stellen. Freilich sind auch hiervon große Schwierigkeiten die Folge, Lehrdifferenzen und Lehrkämpfe, Unsicherheiten des ganzen soziologischen Aufbaus der Kirche selbst. Aber die moderne Welt hat große Neigung, die Kirchen sich selbst zu überlassen und den religiösen Individualismus der Reformation mit dem großen modernen Prinzip des Individualismus überhaupt zu verschmelzen, wobei jedoch den geschichtlichen Mächten ihr Einfluß und ihre Wirkung in freier Aneignung bleibt. Es I ist ein neuer Wahrheits begriff, der nichts mehr gemein hat mit dem übernatürlich geoffenbarten Wissen der Dogmatik und nichts mit den rationell beweisbaren Lehrsätzen der natürlichen Theologie. Es ist die Anerkennung des Lebens über der Wissenschaft und der die religiösen Ideen bildenden Phantasie über dem Dogma. Alles Streben nach allgemeingültiger religiöser Erkenntnis muß daher die Variabilität des individuellen religiösen Gedankens in sich aufnehmen und dem Anschluß an die geschichtlichen Grundlagen eine große Beweglichkeit lassen. Damit aber fällt das staatliche Zwangskirchentum dahin, das nur auf Grund des uniformen dogmatischen Wahrheitsbegriffes möglich und nötig ist, und werden die kirchlichen Gemeinschaften vor die Aufgabe gestellt, einen neuen Begriff der "Lehre" zu bildenll). Die Gesinnungsethik des Protestantismus ist nicht minder lange Zeit ver­ hüllt geblieben; teils weil man aus Sorge um die Behauptung der alleinigen Rechtfertigungsgnade die Ethik überhaupt möglichst zurückschob, teils weil das Luthertum mit seiner Fortführung des Beichtinstitutes in die alte Kasuistik 1 1) Siehe meine "Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten" 1 906, wo ich die Bedeutung des jeweiligen Wahrheitsbegriffes für die kirchliche Organisation deutlich zu machen suchte. 26 26 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religions­ unterricht und die theologischen Fakultäten (1 907) , v. a. S. 7-9 KGA 6. ....

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zurücklenkte und der Kalvinismus in seinem strengen christlich-sozialen Ge­ meindeausbau das Sittengesetz der Bibel puritanisch zu Grunde legen zu müs­ sen glaubte, um nicht im Unbestimmten zu verfließen, teils weil die Ethik statt der Lehre von der Ganzheit des Charakters die Lehre von den guten Werken zu bleiben fortfuhr, und schließlich weil Himmel und Hölle, Lohn und Strafe im Grunde ihre alte Stellung nicht aufgaben. Aber seit die Kantische Ethik den Gedanken des Luthertums in diesem Punkte in bewußtem Zusammenhange mit dem Sinne der Reformation klassisch und überwältigend formuliert hat, ist die Gesinnungsethik das Wesen aller idealistischen und religiösen Ethik der modernen Welt. Und wenn sie in dieser Formulierung den religiösen Zusam­ menhang mehrfach zu verlieren drohte, dann ist doch die Gegenwart Gottes im guten Willen und die Läuterung und Erneuerung der Gesinnung durch re­ ligiöse Hingebung stets von neuem geltend gemacht worden. Wir dürfen auch darin eine der großen Grundideen des heutigen Protestantismus sehen. Nur dürfen auch hier die neuen Elemente nicht übersehen werden, die in der neuen Form des Gedankens liegen. Die Gesinnungsethik als Entfaltung des im reli­ giösen Gedanken aufgenommenen Lebensprinzips bedeutet eine zwar kämpfende, aber doch kontinuierliche Entwickelung des I "guten Prinzips" im Kampfe mit dem "bösen Prinzip". Erst vor dem Entwickelungsgedanken, der aus Naturwissenschaft und Mathematik herüberdringt, weichen die "guten Werke" zurück. Vor allem aber ist es die "Eschatologie", die in diesem Zusam­ menhang eine grundlegende Wandelung erfährt. Auch sie tritt unter den Ein­ fluß des Entwickelungsgedankens und verliert erst damit endgültig die die Gesinnungsethik stets wieder aufhebende Wirkung. In kontinuierlichem Wachstume des Guten und in innerer Verknüpfung der Seligkeit mit dem Maße der Verwirklichung des Guten eröffnet sie den Gedanken an Entwicke­ lungen und Fortbildungen nach dem Leibestode, vor denen die Eschatologie des Himmelslohnes und der Höllenstrafen, der äußerlichen Verknüpfung von weltlichem Wert oder Unwert mit heterogenen Leiden oder Freuden verblaßt. Hier haben Leibniz und Lessing den Ton angegeben, und hiermit verbindet sich der Gedanke der Mehrheit der Welten, unter denen die menschliche Gei­ sterwelt nur eine von vielen ist. Alles das aber bedeutet einen Bruch mit der jü­ dischen Eschatologie und Apokalyptik und mit dem alten anthropozentri­ schen Weltbilde, von dem Luthers Biblizismus weit entfernt war1 2). 1 2) Siehe meinen Aufsatz "Die letzten Dinge", Christliche Welt 1 907. 27 Die Bedeutung der Beibehaltung der kirchlichen Eschatologie im Protestantismus und die Wandelungen dieser Eschatologie in der modernen Welt wäre ein schönes Thema. 27

Vgl. Ernst Troeltsch: Die letzten Dinge (1 908) , Sp. 1 00 f.; unter dem Titel "Eschato­ logie: IV Dogmatisch" auch 1 9 1 0 in der RGG J , hier Sp. 630-632 ..... KGA 3.

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Am schwierigsten ist die Kontinuität da zu zeigen, wo sie am deutlichsten am Tage zu liegen scheint, bei der Weltoffenheit. Denn mit dieser Welt­ offenheit hat es, wie schon angedeutet, im alten Protestantismus doch eine sehr eigentümliche Bewandtnis. Sie ist nicht etwa eine Anerkennung von Selbstwerten und Selbstzwecken im Weltleben, von einem ethischen Eigen­ werte des politischen Lebens, des wissenschaftlichen Wahrheitssinnes, der künstlerischen Schönheitsempfindung. Von alledem ist keine Rede. Die Welt ist ihm, so wie sie ist, eine Folge der Sünde; Staat und Eigentum sind, wie für die alte Kirche, mit ihrer Konsequenz der Macht, der Gewalt und des Rechtszwanges Folgen der Sünde. Die Wissenschaft dient der Theolo­ gie und dem praktischen Leben und ist eng gebunden an die Überlieferung. Die Kunst ist heilige Kunst in Bild, Gedicht und Musik, die Schönheit der Welt ein verdüsterter Nachglanz der Urvollkommenheit und ein Spiegelbild der göttlichen Vorsehung. Nur aus Gehorsam gegen die göttlichen Ordnun­ gen und Berufe unterwirft sich ihr der Christ und aus Liebe zum Nächsten, mit dem eine irdische Gemeinschaft ohne Teilnahme an diesen Ordnungen nicht möglich ist. Dabei sind die Kal l vinisten tiefer eingegangen auf die Bewegungen des modernen Lebens in Politik und Wirtschaft, haben dafür aber auch um so strengere Vorsichtsmaßregeln in ihrer puritanischen Ge­ setzlichkeit gegen die Welt ergriffen. Das mehr dem reaktionären Teile Europas angehörende Luthertum blieb jenen Interessen fremd und predigte mehr Fügung und Ordnung in ein stabiles System von Ständen und Berufen und die Freiheit des religiösen Innenlebens, aber einen inneren Anteil an den Kulturwerten hat es auch seinerseits nicht genommen. Erst die Abschwächung der alles überragenden religiösen Interessen, die Wiederer­ hebung der natürlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen des mo­ dernen Staates, das Hereinfluten der erneuerten Renaissancebildung und der wissenschaftlichen Aufklärung hat hier eine tiefgreifende Ä nderung hervorgebracht, aber eben damit auch eine gründliche Verschiebung der In­ teressen. Der rein weltliche souveräne Staat, die rationelle merkantilistische und darum naturgemäße Wirtschaft, vor allem die freie kritische Wissenschaft und eine völlig neue Gestaltung des Lebensgefühls in der Kunst, all das bedeutet nicht bloß eine andere Akzentuierung, sondern überhaupt neue Werte, eine Betonung der weltlichen Interessen um ihrer selbst willen und eine Vergöttlichung und Verklärung der Welt in Kunst und Wissen­ schaft, die das Gegenteil der alten "innerweltlichen Askese"28 sind. Der Protestantismus stand hiermit in der Tat vor der Aufgabe einer völligen Neubildung seiner Ethik. Er ist dabei auch vielfach von einer völlig anders-

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Siehe unten, S. 242.

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artigen modernen Kulturethik der Humanität verdrängt worden, die auch dann ihm entgegenstand, wenn sie aus Anschlußbedürfnis oder aus apolo­ getischer Illusion sich protestantisch nannte und auf Luthers Weltfreund­ lichkeit sich berief. Immerhin besteht aber auch hier die Kontinuität inso­ fern, als die protestantischen Länder von vornherein der Festsetzung dieser modernen Kultur viel geringeren Widerstand boten und auch in ihrer beschränkten Anerkennung des Weltlebens ihr die Anknüpfungspunkte boten, das innere Recht vor dem Gewissen verschafften. Das geschah lang­ sam, Stück für Stück, ohne daß die neuen Konsequenzen gleich hervortra­ ten; es geschah unter dem Rechtstitel, daß die auch vom Protestantismus anerkannten Elemente natürlicher Moral und Gotteserkenntnis nur weiter­ entwickelt und das von ihm geheiligte weltliche politisch-wirtschaftliche Leben nur zu seiner I natürlichen Konsequenz entfaltet werde. Zwar hatte auch der Protestantismus seine große Revolution, die englische; aber diese Revolution war charakteristisch nicht eine solche zu Gunsten moderner Kulturwerte, sondern lediglich eine solche zur Durchführung des religiösen Individualismus in der Gewissensfreiheit. Mit ihrer Durchführung wurde England wie von selbst zum Herde der modernen Kultur, die von da nach dem protestantischen und katholischen Kontinent hinüberströmte und dem festländischen Protestantismus eine Revolution ersparte. Es ist ein fast unmerklicher Ü bergang im Gegensatze zu den schweren inneren Katastro­ phen der katholischen Länder; und die Unmerklichkeit des Ü berganges ist in der Tat ein Zeichen dafür, daß eine innere Kontinuität aus der "inner­ weltlichen Askese" zu der Anerkennung des Innerweltlichen überhaupt hinüberleitet. Es bedarf nur des Bruches mit dem Erbsündengedanken und der Durchsetzung der Idee einer durch Sünde und Irrtum emporsteigenden Entwickelung oder Menschheitserziehung, um das Göttliche in Kunst und Wissenschaft, das Natürlich-Notwendige in Staat, Recht und Wirtschaft zu erkennen. Jene Gedanken setzten sich durch von der Wissenschaft und von der Empfindung des Göttlichen in der Welt her und gaben damit der reli­ giösen Weltoffenheit einen neuen Sinn. Dieser neue Sinn ist dann nun frei­ lich vielfach den altprotestantischen Ideen und den christlichen Grundge­ danken überhaupt entgegengesetzt; aber er hat doch auch ebenso oft die alten Beziehungen und Zusammenhänge festgehalten, hat bei aller Aner­ kennung selbständiger ethischer Weltwerte und bei aller Empfindung der Göttlichkeit der Welt doch den letzten und eigentlichen Wert in der aus Kampf und Tat geborenen gotteinigen Persönlichkeit und in der Liebe stets neu durchgesetzt. Gerade die Lehren unserer großen Denker von Lessing und Kant bis Fichte, Schelling und Hegel, die große durch alle modernen Lebensstellungen hindurchgehende Lebensarbeit Goethes, zeigen uns den Willen solcher Vereinigung. Und so wenig durchgearbeitet gerade diese

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Aufgabe auch sein mag, so wenig hier gerade eine Einigung der modernen Menschen zu erwarten ist, so bleibt doch auch hier dem Protestantismus eine große Aufgabe in der modernen Welt, die seinem eigensten inneren Wesen entspricht: die Einverleibung der ethischen Selbstwerte des inner­ weltlichen Lebens in ein letztes Lebensziel, das uns in der Gemeinschaft mit Gott I über die Welt und ihre doch nur vorläufigen und relativen Werte erhebt1 3). Die großen Grundprinzipien sind derart zu ihren modernen Gestaltun­ gen erst in schwerem Kampfe und im Zusammenhange mit dem modernen Leben selbst erhoben worden, und behalten unleugbar große Schwierigkei­ ten und Aufgaben in sich selbst. Aber diese Schwierigkeiten ändern daran nichts, daß in jenen die eigentliche historische Fortwirkung der Religion des Protestantismus liegt und daß in ihrer Fortbildung die Einigung mit den beiden entscheidenden Grundzügen der modernen Welt eingetreten ist, die Einigung mit dem Prinzip des Individualismus, der Autonomie, der Eigen­ überzeugung einerseits und die Einigung mit dem Prinzipe der Immanenz des Göttlichen in der Welt, der Selbstwertigkeit der großen Kulturzwecke, des aufsteigenden Werdens durch die relativen Zwecke hindurch im Kampfe mit Sünde und Trägheit in der Richtung auf das vollendete religiöse Lebens­ ziel andererseits. Das moderne religiöse Denken und Leben ist auf diese Bahn gewiesen und darf sich auf dieser Bahn angeschlossen fühlen an die großen tragenden Kräfte der Vergangenheit, an die Grundkräfte der Refor­ mation14). Wie weit es von hier aus wieder eine innere Einheit zu gewinnen vermö­ gen wird, wie weit insbesondere die offiziellen Kirchen auf diese Gedanken einzugehen geneigt und fähig sein werden, das ist eine Frage für sich. In dem Wirrsale der Gegenwart handelt es sich für den modern empfindenden Men­ schen vor allem darum, überhaupt für sich selbst einen Weg zu finden und sein eigenes religiöses Leben zur Klarheit und zur Zielsicherheit zu bringen. Dazu aber hilft uns in der Tat das, was in unserer Welt vom Protestantismus religiös lebendig ist und was von ihm her als große, nur nicht immer im Ziel geeinigte Strebungen durch das religiöse Denken und Suchen der Gegenwart geht, sofern sie sich nicht dem Atheismus oder einem rein pantheistischen Einheitsgefühl ergeben hat: die Glaubensreligion, der religiöse Individua­ lismus, die religiös begründete Gesinnungsethik und die Anerkennung alles

1 3) Siehe meine "Grundprobleme der Ethik". 1 4) Siehe meinen "Geist der modernen Welt", Preußische Jahrbücher 1 907. 29 29 Troeltsch meint seinen Aufsatz "Das Wesen des modernen Geistes" (1 907)

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Göttlichen in der Welt auch außerhalb des eigentlich religiösen Lebenskrei­ ses. Stehen diese vier Prinzipien auf wirklich religiösem Grunde, d. h. auf dem Grunde der Hingebung und des Vertrauens zu einem heiligen und I gnädigen Gotteswillen, dann geben sie uns in der Tat soviel Klarheit, als wir bedürfen. Für das Weitere mag die Zukunft sorgen. So sind in Luthers Werk und Person allerdings sehr weit auseinanderge­ hende Tendenzen vereinigt, und die Frage entsteht von selbst, wie sie denn in ihm selbst sich innerlich verschmolzen haben, in welchem gemeinsamen Ele­ ment sie in ihm gebunden gewesen sein mögen. Die Antwort hierauf ist einfach: sie waren in ihm gebunden in der freien praktisch-religiösen Herausgreifung der paulinisch-johanneischen Christuslehre aus der Überlieferung der Kir­ che. In der rein praktisch-religiösen, gegen alle scholastischen Vernunftbe­ weise und gegen jede rein kirchliche Autorität völlig unabhängigen Bej ahung dieses Elementes der Ü berlieferung steckt der Charakter der Glaubensreli­ gion und des religiösen Individualismus. Nur mit dieser Motivierung hat er von seinem Standpunkte aus sie als alleingültig herausheben können. Und wenn dabei inhaltlich diese Christuslehre als eine das praktische Bedürfnis befriedigende, die Konflikte der Heilsunsicherheit und Gesetzesangst lö­ sende Erkenntnis erschien, so mußte sie naturgemäß aus einem komplizier­ ten Dogma zu einem zentralen einfachen Lebensgedanken werden, dem Ge­ danken an die Selbstentäußerung und Menschwerdung Gottes in Christo zum Zwecke der Gewißmachung über Gottes sündenvergebende Liebe und der Vereinigung aller Gläubigen in Christo, der ihnen die verdammende Sünde abnimmt und sie, als ihm eignend, mit der Liebe, die der Vater zu ihm hat, und allen Gnadengütern überschüttet. Weil er einen religiösen Zentral­ gedanken brauchte, wurde ihm die Christuslehre die einfache Reduktion auf einen solchen, und aus der Einfachheit und prinzipiellen Totalität des Got­ tesgedankens, der ihm in Christo verkörpert war, floß dann die Einfachheit der Lehre im Hauptartikel, die Einheit des religiösen Gedankens und die Einheit und Gesinnungsmächtigkeit der Ethik. Aus der Art der Ergreifung, aus der Reduktion und Vereinfachung, aus der Totalität und Einheitlichkeit, die von dem zu ergreifenden Stoff instinktiv gefordert werden mußten, ergab sich die Glaubensreligion, der Individualismus, die Gesinnungsethik. Und in der Deutung des in Christi Demut und Liebe zum Menschen sich herablassenden Vaters, der nur aus Christo und nicht aus der Vernunft und nicht aus dem Gesetz erkannt werden darf, ergab sich ihm sein Gottesglaube. I Andererseits aber ergab sich doch auch aus dem so ergriffenen Gegenstande selbst, aus der paulinisch-j ohanneischen Christuslehre, die Selbstverständlichkeit der Einigung aller in diesem Grunddogma, zu dem der heilige Geist jeden führen muß, und damit die schließlich doch auch hier geforderte Uniformität des Glaubens. Es ergab sich weiter die Beibehaltung

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aller Dogmen und Bilder von den Dingen, die i n jener apostolischen Lehre mit vorausgesetzt waren, und die allmähliche Aufnahme auch all der Konse­ quenzen, die das altkirchliche Dogma sehr folgerichtig aus der paulinisch­ johanneischen Christuslehre gezogen hatte. Luther hat die Trinitätsformeln ja stets nur bekämpft, als zum Wesen Christi an sich gehörend und zur Er­ kenntnis für den Sünder nicht nötig; sie komplizierten ihm den Heilsgedan­ ken, waren aber auch ihm selbstverständliche Voraussetzungen desselben. Der apostolische Glaube des Neuen Testaments, in einer freilich teilweise neuen Deutung, beherrscht alles, und die neue Deutung selbst will doch nur an der neutestamentlichen Autorität haften. Neue Wege gegenüber dem Neuen Testament ging Luther nur in seiner Lehre von der Weltoffenheit, die über die Verwerfung des Mönchtums und der Gelübde hinaus kein Funda­ ment im Neuen Testament hatte. Dafür hat er aber auch an diesem Punkte stark geschwankt und schließlich sich doch an die geschmähte Vernunft und mit besonderer Vorliebe an das Alte Testament gehalten, das ja anders zu den Dingen stand und auch den Reformierten ihre Weltethik erst ermög­ lichte. Aber die Weltoffenheit selbst lag schließlich doch auch in der Konse­ quenz des Sinnes, mit dem und in dem er das Evangelium selbständig ergrif­ fen hatte. In der Form der Ergreifung liegen die großen geschilderten Konsequenzen, in der Deutung der Christuslehre die Wurzeln des neuen Gottesbegriffes und in der selbstverständlichen leidenschaftlichen Selbstbeschränkung auf den Inhalt des paulinisch-johanneischen Christusevangeliums die konservativen und restaurativen Züge seines Werkes. Die letzteren stammen weniger aus den beibehaltenen eigentlich katholischen Elementen, an denen es ja auch nicht fehlt, als vielmehr aus dem Zentrum, aus der Erneuerung der paulinisch­ johanneischen Christuslehre. Eine solche Erneuerung mit solcher Energie aber war möglich, weil das moderne geistige Leben mit seiner geschichtlichen Kritik und seinen wissenschaftlichen Umgestaltungen I des Weltbildes noch völlig außerhalb des Horizontes Luthers lagen. Das war unzweifelhaft ein Glück, denn sonst wäre es zu dieser wunderbaren religiösen Energie nicht gekommen. Aber andererseits liegen hierin und in den Konsequenzen davon doch auch großenteils die Schwierigkeiten des modernen Protestan­ tismus. Indem jene apostolische Christus- und Erlösungslehre als die allein aus der erbsündigen Verdammnis errettende und zugleich allein wahre Er­ kenntnis empfunden wurde, schlossen sich an sie ganz von selbst die katho­ lischen von Luther beibehaltenen Elemente an: die Uniformität des Wahr­ heitsbegriffes, die Heilsanstalt der durch das Wort erlösenden Kirche, die Einheit von Staat und Kirche, die einheitliche christliche Zwangskultur, die Betonung des altkirchlichen Dogmas, die Sakramentslehre, die die Welt entwertende Erbsündenlehre und Eschatologie. Freilich sollte das alles der

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Geist frei und von selbst wirken, aber schließlich stellte man dem Geiste doch Gewalt und Macht zur Verfügung1 5). So ist Luthers Werk allerdings in vieler Hinsicht doch eine Erneuerung der apostolischen Heils- und Christuslehre, und ist die Entwickelungsgeschichte und Krisis des Protestantismus zugleich die der urchristlichen Ideen, auf die der katholische Rahmen einer Staat und Kultur beherrschenden Heilsanstalt nach Möglichkeit hier wieder reduziert war. Diese Krisis ist darauf begrün­ det, daß in der weiteren Entwickelung der formalen Konsequenzen die Er­ greifung des religiösen Objektes selbst von dem Inhalte des durch Luther ergriffenen Objektes sich ablöste, daß Glaubensreligion, Individualismus, Gesinnungsethik und Weltoffenheit sich auf einen weiteren und umfassen­ deren, unfertigeren religiösen Stoff ausdehnten und daß das bis dahin sie auf sich vereinigende Objekt, die apostolische Heilslehre, der geschichtlichen und philosophischen Kritik anheimfiel. Damit traten Form und Inhalt aus-

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1 5) Hier ist, wie schon angedeutet, der Punkt meiner relativen Differenz von Adolf Har­ nack. 3o Insbesondere kann ich in dem Kirchenbegriffe der Reformation keine den mo­ dernen Lebensproblemen dienende Lösung der schwierigen soziologischen Aufgabe der religiösen Gemeinschaftsbildung sehen. Wird er weit und groß im Sinne der ersten Zeit Luthers genommen, dann bedeutet er die Zusammenfassung aller Christen in allen kirch­ lichen Formen, die durch das Evangelium berührt sind, in dem objektiven gemeinsamen Grunde der zeugenden Kraft des Evangeliums. Aber das ist nur eine weitherzige Betrach­ tung der verschiedenen Kirchen. Soll er selbst dem Ausbau einer eigenen Kirche dienen, so wird sie zur Erlösungsanstalt der reinen Lehre werden und doktrinär verhärten. In dem Maße, als man dann die reine Lehre wieder erweicht und der Individualisierung preisgibt, wird er die Kirche in Verwirrung bringen. Das "einfache Christentum" , das "reine Evan­ gelium", das "Wesen des Christentums" ist doch nichts, was jemals historisch so existiert hätte, sondern jedesmal eine Heraushebung und Umformung der I christlichen Idee in Rücksicht auf die Bedürfnisse der Gegenwart, und daher weniger ein Fundament der kirchlichen Gemeinsamkeit als ein Ausdruck des Gegensatzes gegen die offizielle kirch­ liche Lehre, verbunden mit der Absicht, gleichzeitig doch auch Kontinuität und Zusam­ menhang mit ihr zu wahren. Es vermag daher nur schwer in die Rolle einzutreten, die das "Wort" im lutherischen Kirchenbegriffe spielt. Wir können das nicht anders machen, aber die darin für den Kirchenbegriff liegenden Schwierigkeiten sind doch unleugbar. An diesem Punkte liegt auch das eigentliche Kirchenelend der Gegenwart, aus dem niemand einen Ausweg weiß. Daher denn auch die Meinung vieler, ohne Kirche auskommen zu können, als ob sie nicht im Grunde indirekt doch von der Kirche lebten, soweit sie Zu­ sammenhang mit den christlichen Ideen und Kräften haben.

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Troeltsch bezieht sich auf Adolf Harnacks "Lehrbuch der Dogmengeschichte", 3. Band (1 890) . Vgl. hierzu unten, S. 96 f.

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einander, und der Punkt, in dem sie am meisten aber auch am unbewußte­ sten sich durchdrungen hatten, der Gottesbegriff, wurde in diesen Kämpfen und Wirren nur allzuwenig weiter verfolgt. Am deutlichsten tritt diese Krisis, dieses Auseinandertreten von Form und Inhalt, in dem Schicksal von Luthers Kirchenbegriff zutage. Er sollte die formalen Charakteristika der protestantischen Religiosität mit dem unantastbaren Inhalt der erlösenden, vom Evangelium getragenen Heilsanstalt vereinigen. Die Kirche sollte im heil- und bekehrungswirkenden Wort von I Christo die Quelle ihrer sie überall und immer hervorbringenden Wunderkraft haben, aber immer freiwillig und lediglich geistgewirkt aus dieser Quelle hervorgehen. Die Kirche ist nicht Priesterkirche, sondern Wort- und Schriftkirehe, sichtbar an Wort und Sakrament, unsichtbar in ihren geistlichen Wirkungen. Alle menschliche Kirchenverfassung hat nur dafür zu sorgen, daß das "Wort" gepredigt wird; und, wo immer das Wort ist in der ganzen Welt, da ist mit diesem Keime und Produzenten der supernaturalen Heilsanstalt auch die allgemeine Kirche. "Das Wort kehrt nicht leer zu­ rück."31 Es ist klar, wie allerdings in diesem Kirchenbegriff die Reduktion des Wortes auf die heilskräftige Christuslehre, der ganze Individualismus, die ganze Gesinnungsethik und innere Freiheit, die ganze Glaubensreligion steckt. Aber es ist ebenso klar, daß diese Heilsanstalt um der Ü bernatürlichkeit ihres Produzenten, des Wortes, willen, um des Seelenheiles der zu Erlö31 Jes 55, 1 0 f. Von Luther zitiert in "Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und ab­ zusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift" (1 523) , hier zitiert nach: ders.: Werke. Kritische Gesammtausgabe 1 1 . Band (1 900), S. 408, 8-1 8: "Da bey aber soll man die Christliche gemeyne gewißlich erkennen: wo das lautter Euangelion gepredigt wirt. [ . . . ] Des haben wyr gewisse verheysßung gottis Jsaia .55. ,Meyn wort (spricht Gott) , das aus meynem mund gehet, soll nicht leer widder tzu myr komen, sondern wie der regen vom hymel auff erden feilt und macht sie fruchtbar, also soll meyn wort auch alles ausrichten, datzu ichs auß sende'. Da her sind wyr sicher, das unmuglich ist, das nicht Christen seyn sollten, da das Euangelion gehet, wie wenig yhr ymer sey und wie sundlich und geprechlich sie auch seyn". Vgl. auch Luthers Abhandlung "Von den Konziliis und Kirchen" (1 539) , hier zitiert nach: ders.: Werke. Kritische Gesamtaus­ gabe, 50. Band (1 9 1 4) , S. 629, 28-35: "Wo du nu solch Wort hoerest odder sihest pre­ digen, gleuben, bekennen und darnach thun, da habe keinen zweivel, das gewislich daselbs sein mus ein rechte Ecclesia sancta Catholica, ein Christlich heilig Volck, wenn jr gleich seer wenig sind, Denn Gottes wort gehet nicht ledig abe, J saie. 55., son­ dern mus zum wenigsten ein vierteil oder stueck vom acker haben, Und wenn sonst kein zeichen were, denn dis allein, so were es dennoch gnugsam zu weisen, das da­ selbs mueßte sein ein Christlich heilig volck, Denn Gottes wort kan nicht on Gottes Volck sein, widerumb Gottes Volck kan nicht on Gottes wort sein".

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senden willen und um des praktischen kirchlichen Zusammenhanges willen die Reinheit und Einheit des "Wortes" verlangt und damit alle Garantien und Verwirklichungs mittel reiner Lehre. Die "reine Lehre" muß in solcher Glau­ bensreligion der organisierende Mittelpunkt werden, und die Reinheit einer rein supernaturalen Lehre fordert rein supernaturale Garantien. Der Dog­ matismus und der freiheitliche Individualismus müssen in dieser Kirche auf­ einanderstoßen, sobald der heilige Geist die Einheit nicht mehr von innen heraus und von selbst bewirkt, wie im Enthusiasmus und der Unbestimmt­ heit des Anfangs der Bewegung es erwartet wurde. Am Anfang überwog die Gegensätzlichkeit gegen das Alte und strömte in die religiöse Gegensätzlich­ keit die ganze Fülle der weiteren Gegensätze des damaligen Lebens ein, so­ weit sie in Luthers Wesen ein Echo finden konnten. Daher die große Weite, Freiheit, Einfachheit und Beweglichkeit des Gedankens am Anfang, wo Luther von der steigenden und zusammenströmenden Bewegung über sich selbst hinausgehoben wurde. Daher aber auch die doktrinäre Härte, als es galt das religiöse Element gegen die anderen Elemente der Bewegung wieder abzugrenzen und auf ihm, d. h. auf der Bibel ein neues Kirchen- und Staats­ wesen aufzubauen. Das aber bedeutet einen inneren Gegensatz im Kirchen­ begriffe selbst, der früher oder später in heiße Kämpfe ausbrechen mußte. So ist es denn auch geschehen; der kirchliche indifferente Individualismus, I der die Glaubenserkenntnis frei am gesamten modernen Erfahrungsstoff gestaltet, und der kirchliche Dogmatismus, der jedenfalls ein beträchtliches Minimum kirchlichen Bekenntnisses und die Geltung der Schrift als der Trä­ gerin der Christuslehre behaupten muß, stehen in scharfem Kampfe, und zwischen beiden mühen sich die Ausgleichungs- und Versöhnungsversuche. Der moderne Protestantismus ist in eine kirchlich indifferente, von der idea­ listischen Philosophie stark beeinflußte Ideenrnasse und in ein traditiona­ listisches Kirchenturn gespalten; daneben steht der reine Individualismus der Sekten und das Ausgleichungsstreben der Vermittler, der modernen Theo­ logen. Das führt freilich in die großen Kämpfe der Gegenwart hinein. Von ihnen soll hier nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich gerade darum, ohne Einmischung in diese schier hoffnungslosen Probleme, für die eigene Person wenigstens in diesen Wirren einen Halt zu finden. Den aber können wir fin­ den, wenn wir uns an die geschilderten fünf Grundideen halten. Sie sind das Bleibende des Protestantismus für den modernen Menschen, und an ihnen kann er sich in der religiösen Krisis wenigstens im Notwendigsten zurecht­ finden.

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[Einleitung zum Literaturanhang] Die folgenden Darlegungen bilden eine nähere Ausführung zu den Gedanken, die ich in meinen beiden Arbeiten "Protestantisches Christentum und Kirche" in der "Kultur der Gegenwart", herausgegeben von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. 4, S. 266 bis 269 und damach in dem Essay "Die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt", München 1 906, S. 57 bis 64, gegeben habe. Im Grunde steht alles bereits in der erst l genannten Arbeit, die nur bei der notgedrungenen Kürze diese positive Seite "das Neue im Protestantismus" nicht so hervortreten ließ, daß es gegenüber den dort gegebenen Ausführungen über die Kontinuität des Protestantismus mit der abendländischen Kirche des Mittelalters genügend beachtet worden wäre. Gegenüber den darüber hinaus­ gehenden, in diesem Punkte nicht hinreichend durchsichtigen Ausführungen in meinem Stuttgarter Vortrage glaube ich jetzt wesentlich klarere Formulierungen gefunden zu haben. Auf die zahlreichen Kritiken und Einwendungen kann ich hier nicht eingehen, es soll bei der in Vorbereitung begriffenen zweiten Auflage der erstgenannten Arbeit geschehen. Vorerst mag es genügen, auf das Referat W Köhlers im "Theologisehen Jahresbericht" LXXVI, S. 483 bis 489, zu verweisen. 32 Hier kann ich nur sagen, daß sie mich zu irgend erheblichen Ä nderungen nicht bewegen; denn teils fassen sie meine eigentliche Ansicht und Absicht nicht richtig, teils liegt der Unterschied in der Anschauung von Wesen und Bedeutung der modernen Welt; wer das konfessionelle Kirchenturn als das Normale ansieht und in der modernen realen und geistigen Welt nur vorübergehende Störungen und partielle Fortschritte erkennt, denen man durch Polemik und durch partielle Verbesserungen der Dogmatik begegnen kann, der wird alles in anderen Beleuchtungen und Perspektiven sehen müssen. Hierfür darf ich auf meinen Aufsatz "Das Wesen des modernen Geistes" (preußische Jahrbücher 1 907) 32 Vgl. Walter Köhler: Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1 648 (1 908), S. 483-488. Köhler geht inhaltlich auf folgende Troeltsch-Kritiken ein: Theodor Brieger: Randbemerkungen zu Troeltsch' Vortrag über "Die Bedeutung des Prote­ stantismus für die Entstehung der modernen Welt" (1 906) , Gottfried Buschbell: [Rez.] Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906) , Ferdinand Kattenbusch: Reformation und Aufklärung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart (1 906) . Köhler begrüßt es, daß Troeltschs "glän­ zende [ . . . ] Ausführungen in der ,Kultur der Gegenwart' [ . . . ] der Pauke ein Loch ge­ macht haben, d. h. die allmählich herangereifte, nicht erst von Tr. geschaffene, wenn auch von ihm beeinflusste Auffassung der Ref.-Gesch. zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit gemacht hat" (S. 485 f.) . Nach der Vorlage des Stuttgarter Vortrags, könnten sich die "Kritiker", so Köhler, "nunmehr nicht über die Geringwertung des Protestantismus oder Lth.s durch Tr. beschweren" (S. 486) . Bei der Kritik an Troeltsch, so Köhler weiter, habe "man die Empfindung, dass zumeist sein Kernge­ danke gar nicht verstanden wurde. Statt dessen zeigte sich eine kleinliche konfessio­ nelle Angst, von den teuren Schätzen der ev. Kirche etwas zu verlieren. Als wenn Lth. und der Protestantismus etwas verlören, wenn man sie in die allgemeine Geistes­ entwicklung hineinstelltI"

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verweisen, der auch zeigt, daß ich nicht daran denke, diesen "Geist" unbedingt zu akzeptieren; aber er bedeutet allerdings eine prinzipielle Verwandelung im Wesen des religiösen Lebens und der religiösen Gemeinschaft, deren zukünftige Ergebnisse noch völlig dunkel sind. 33 Hervorzuheben wäre für meine Gesamtauffassung nur, daß sie, was ich früher übersehen hatte und bei jetzt wieder vorgenommener Lektüre hervor­ heben muß, doch der Darstellung sehr nahe steht, die Adolf Harnack in dem glänzen­ den Schlußkapitel seiner "Dogmengeschichte" gegeben hat. 34 Ich unterscheide mich davon im Grunde nur durch die etwas andersartige dogmengeschichtliche Gesamtan­ sicht, die die "katholischen Reste" 35 nicht bloß dem Katholizismus, sondern schon dem Urchristentum großenteils gutschreibt und die Kontinuität zwischen apostoli­ schem Christentum, Kirche und Dogma für größer hält. Ebenso erscheint mir auch die Kontinuität zwischen lutherischer Kirche und Orthodoxie einerseits und Luthers Lehre andererseits erheblich stärker als das bei Harnack der Fall ist. In allem übrigen aber möchte ich meine volle Zustimmung und meinen Anschluß an diese Darstellung aussprechen. 36 Was Luthers Lehre selbst betrifft, so ist meines Erachtens bis heute die

33 Vgl. Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1 907) KGA 6; zur Mo­ derne-Kritik etwa S. 1 3 f. und S. 25 f. Troeltsch beschließt seine Studie mit einer Auf­ listung der "schwere [n] Gefahren", die der moderne Geist mit sich gebracht habe und die das "Handeln der sich selbst verstehenden Epoche auf sich selbst" herausforder­ ten (S. 39) . Im Stil der paränetischen Anrede benennt Troeltsch mit einem sechs­ fachen "Wir bedürfen" Forderungen einer "ethischen Bändigung" des "Individua­ lismus", einer "Zügelung der Kritik", einer "sozialen Versöhnung" im "Verständnis gemeinsamer Werte", eines "vertieften Sinnes für das Irrationale des Daseins", einer Mahnung an die "sittlichen Aufgaben der Gemeinschaft" sowie "schließlich und vor allem der Religion, die den Menschen nicht alles aus sich selbst heraus spinnen läßt bis zur Erschöpfung, sondern die ihn mit einem festen Lebensgrund verbindet, aus dem ihm mit der Frische des Lebens auch immer neue Ideen und Ziele kommen" (S. 39 f.) . 3 4 Vgl. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte 3. Band (1 890) , 3. Buch, 4. Kapitel: Die Ausgänge des Dogmas im Protestantismus, S. 691-764. 35 Vgl. ebd., 3. Buch, 4. Kapitel, Abschnitt 4: Die von Luther neben und in seinem Chri­ stenthum festgehaltenen katholischen Elemente, S. 733-759. 36 In der vierten Auflage von 1 909 seines "Lehrbuchs der Dogmengeschichte" würdigt Harnack Troeltschs Position. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3. Band (1 909), S. 690-692, v. a. S. 690: "Es konnte der Geschichtsschreibung der letzten vier Jahrhunderte nichts Besseres widerfahren, als dass Renaissance und Re­ formation in der Totalität ihrer Entfaltung und in ihrem Verhältniss zum Mittelalter einerseits, zur modernen Kultur andererseits von einem Theologen von dem Standort aus beleuchtet wurden, den Troeltseh eingenommen hat. Denn denj enigen Gelehrten, die sonst diesen Standort einnehmen, fehlt bei ihrer Kulturseligkeit in der Regel jedes Verständniss für Christenthum und Kirche. Dieses Verständniss brachte Troeltseh in noch höherem Grade als Dilthry hinzu, ohne sich in der Hochschätzung der Errun­ genschaften der modernen Kultur von irgend Jemanden überbieten zu lassen. Und was ist nun das Ergebniss? Zunächst scheint es, dass die hergebrachte, speciell die -+

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beste, weil kongenialste Darstellung die von Theodosius Harnack "Luthers Theolo­ gie" 1 882/86. Im übrigen werde ich in folgendem wesentlich nur eigene Arbeiten an­ führen, um zu zeigen, wie sehr die hier vorgetragene Auffassung mit allen Verzweigungen meiner sonstigen Arbeit zusammenhängt. I

theologisch-protestantische Betrachtung der Reformation durchaus Unrecht erhält, was denn auch ihre Vertreter, z. B. Brieger und BiJomer, mit Schmerz und Entrüstung erfüllt hat. Sieht man aber näher zu, so hat Troe/Iseh selbst die deutsche Reformation trotz der Grundauffassung (sie sei Ergebniss des Mittelalters und gehöre zu ihm) doch so ausgezeichnet in ihrer Besonderheit charakterisirt, dass er sich dem Zuge­ ständnisse nicht wird entziehen können, in der Reformation sei auch ein Neues oder vielmehr das Neue selbst grundlegend gegeben. Nun aber ist auch sachlich zwischen der Slcizze, wie ich sie auf den folgenden Blättern in Bezug auf das concrete Wesen des ursprünglichen Protestantismus mit allen seinen Widersprüchen gezeichnet habe, und der Darstellung von Troe/Iseh kein durchgreifender Unterschied. Erklärt trotzdem der Eine, dieser ursprüngliche Protestantismus sei Mittelalter und biblicistischer Dogmatismus, der Andre, er sei N euzeit und das Ende des Dogmas, so muss augen­ scheinlich auf solche allgemeine Ueberschriften nicht allzuviel ankommen. Und so ist es in der That; denn wie ich den theologischen Fachgenossen gezeigt habe, dass die Reformation und Luther in vieler Hinsicht mittelalterliche Erscheinungen sind, so zeigt Troe/Iseh seinen modernen Lesern, dass der Neuprotestantismus oder der prote­ stantische Modernismus trotz der Aufhebung des Wunderglaubens, der Askese und des ganzen Dogmatismus geschichtlich und sachlich vom Wurzelboden des reforma­ torischen Christenthums nicht getrennt werden kann."

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Calvinismus und Luthertum

Editorischer Bericht Bei dem Edierten Text handelt es sich um einen Beitrag Troeltschs zur "Cal­ vinnummer"l der "Christlichen Welt" vom 8. Juli 1 909, die die "Christliche Welt" aus Anlaß des 400. Geburtstages von Johannes Calvin unter dem Titel "Johann Calvin. 1 0. Juli 1 509" herausgab. Martin Rade, der Herausgeber der "Chrisdichen Welt", äußerte sich in der Nummer 6 der "Christlichen Welt" vom 6. Februar 1 909 zur bevorstehenden "Calvinfeier für Deutschland"2. Er habe dieser Feier "ein wenig skeptisch entgegengesehn", der "Genfer Refor­ mator" sei in Deutschland "herzlich unbekannt, und was von ihm bekannt ist, macht ihn nicht beliebt".3 Durch die zweibändige Briefausgabe "Johan­ nes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen" von 1 909, die Rade in seinem Beitrag anzeigt, sei der "Calvinfeier" nun "eine tiefere Wirkung gesichert".4 In der "Calvinnummer" der "Chrisdichen Welt" führt Rade im Editorial "Kleine Mitteilungen" lediglich aus, daß "diese Calvin-Nummer [ . . ] das Pendant" zur "Melanchthon-Nummer von 1 897, Nr. 6 des elften Jahrgangs" sei.5 Auch in dieser Sondernummer zum 400. Geburtstag Philipp Melan­ chthons war Troeltsch mit einem Beitrag vertreten.6 Angekündigt wurde die "Calvinnummer", die mit "Beiträgen von fünf­ zehn Universitäts theologen" am 8. Juli erscheinen werde, in der Nummer 26 der "Christlichen Welt" vom 24. Juni 1 909.7 .

1

So die Bezeichnung des Heftes im Inhaltsverzeichnis des 23. Jahrgangs 1 909, S. III, auch Martin Rade in den "Kleinen Mitteilungen", ebd., Sp. 622, und im Inhaltsver­ zeichnis der Nr. 28, Sp. 649 f. 2 R [Martin Rade] : Calvins Briefe (1 909) , Sp. 1 35. 3 Ebd., Sp. 1 35. 4 Ebd., Sp. 1 35. 5 R [Martin Rade] : Kleine Mitteilungen (1 909), Sp. 67 1 . Hinzu kommt ein Verweis auf ein Calvin-Bildnis von Kar! Bauer mit Bezugsadresse sowie die Angabe von bespro­ chener Calvin-Literatur in der "Christlichen Welt". 6 Vgl. Ernst Troeltsch: Das Werk Melanchthons (1 897) KGA 1 . 7 R [Martin Rade] : Kleine Mitteilungen (1 909), Sp. 622. --+

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Calvinismus und Luthertum

In insgesamt dann nur 1 4 Kurzbeiträgen8 werden die unterschiedlichsten Aspekte von Calvins Lehre und Leben behandelt. Troeltschs Beitrag ist der einzige Aufsatz, der geteilt wurde; der Schluß erschien in der folgenden Nummer der "Christlichen Welt" vom 1 5. Juli 1 909. Diese Nummer 29 ent­ hält darüber hinaus keine weiteren Calvin-Artikel. Wann Troeltsch seinen Aufsatz verfaßt und an Rade geschickt hat, konnte nicht ermittelt werden. Ein Manuskript und Druckfahnen sind nicht überlie­ fert. Die Edition folgt dem Text, der unter der Ü berschrift "Calvinismus, und Luthertum" erschienen ist in: Die Chrisdiche Welt. Evangelisches Ge­ meindeblatt für Gebildete aller Stände, Marburg: Verlag der Christlichen Welt, 23. Jahrgang, Nr. 28, 8. Juli 1 909, Sp. 669-670, und Nr. 29, 1 5. Juli 1 909, Sp. 678-682 CA) . Der Abdruck des Aufsatzes in GS IV wird hier nicht berücksichtigt.9 Hans Baron fügte in seiner Ausgabe neben dem Untertitel auf S. 255 dem Text eine Anmerkung zu, verzichtete auf die Zweiteilung des Aufsatzes und löschte den Eingangssatz des zweiten Teils. Auf S. 258 veränderte er die Ab­ satzeinteilung.

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Vgl. die Einleitung, oben, S. 28 f. Vgl. Ernst Troeltsch: Calvinismus, und Luthertum. Ueberblick. (1 909.), in: GS IV, S. 254-26 1 .

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Calvinismus und Luthertum

Die beiden Konfessionen, in die der werdende Protestantismus sich gespalten hat, sind im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung trotz der Ver­ wischung ihrer dogmatischen Differenzen praktisch und tatsächlich immer weiter auseinandergegangen. Zunächst fällt Jedem der Unterschied in der numerischen und geographischen Ausbreitung auf. Das Luthertum ist we­ sentlich auf seine deutschen Stammlande und Skandinavien beschränkt ge­ blieben. Der Calvinismus hat mit der holländischen und schottischen Kirche, dann mit den englischen Dissenterkirchen, schließlich mit der Mehrzahl der amerikanischen Denominationen eine fortwährend sich ausbreitende Weltstellung erlangt, und auch die mit der englischen Weltherrschaft überall hingetragene anglikanische Kirche hat von ihrer calvinistischen Umgebung her sehr wesentliche Einflüsse seiner praktischen Ideenwelt erfahren, wenn sie auch in Kirchenrecht und Kultus so ziemlich das Gegenteil des Calvinismus ist. Der nächste Grund hiervon ist selbstverständlich die ein l fache Tatsache, daß der Calvinismus denjenigen Völkern angehörte und angehört, die mit der Gunst der atlantischen Lage und der großen weltgeschichtlichen Zusam­ menhänge zu mächtiger politischer Entfaltung berufen waren. Allein dieser Zufallsgrund ist keineswegs das Entscheidende. Die Frage ist vielmehr, warum der Calvinismus diese Länder und Völker gewonnen hat und nicht das Luthertum, das ja auch in den Niederlanden und in England am Anfang der Bewegung stark vertreten war, überall aber von dem Calvinismus oder in freilich sehr viel bescheidenerem Maße - von dem Täufertum und seinen Ablegern verdrängt wurde. Erst von hier aus kommt man auf den eigentlichen Grund der außerordentlichen Weltstellung des Calvinismus. Der Grund muß jedenfalls mit in der calvinistischen Idee liegen. In der Tat hatte er von seinen Ideen aus die Möglichkeit, auf die großen politischen und wirtschaftlichen Entwickelungen der westlichen Welt einzugehen, die demo­ kratischen, modern staatsrechtlich-politischen und die modernen wirt­ schaftlich-fortschrittlichen Prinzipien sich anzueignen. Sein wesentlichster Unterschied gegen das Luthertum mit seiner antidemokratisch-absolutistischen Staatsgesinnung, seiner Nichtresistenz und Gehorsamsverklärung, seiner wirtschaftlich-traditionalistischen Haltung und seiner Verherrlichung des gegebenen Systems ständischer Berufsgliederungen liegt an diesem Punkte. Er ist im Bunde mit den modernen politischen, sozialen und wirt­ schaftlichen Entwicklungen: das Luthertum bejaht an diesen nur die Her­ ausbildung der absolutistischen Staatsallmacht, ist in allen übrigen Dingen passiv und konservativ. Der Calvinismus entfaltet, wie der holländische

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Calvinismus und Luthertum

Exminister Kuyper es in einer interessanten Programmschrift ausgeführt hat, das Ideal einer christlichen modernen Gesellschaft, in welcher politi­ scher Liberalismus, freie wirtschaftliche Erwerbsentwickelung, relative Selb­ ständigkeit der rein politischen Machtinteressen zugleich doch mit dem Auf­ bau einer strengen christlich-ethischen Gemeinschaft auf den Prinzipien der Glaubensfreiheit der Kirchen, mit der strengsten Einigung der Gemeinde in christlicher Sittenzucht und mit der agitatorischen Einwirkung auf die öf­ fentliche politische und soziale Meinung zusammengehen. 1 So stellt sich der heutige Calvinismus dar, von dem alten darin nicht unerheblich verschieden, aber doch dessen wesentlichen Grundcharakter fortsetzend. Woher aber kommt der calvinistischen Idee diese Fähigkeit, auf die mo­ dernen politisch-sozialen Bewegungen einzugehen? Ist es lediglich die Rück­ wirkung des Bodens, auf dem sie ihre genauere Ausbildung erfahren hat? Ist die Geschichte des Calvinismus lediglich ein Beweisfall für die ökonomische Geschichtstheorie, die alle geistigen und religiösen Bewegungen als Reflexe und Spiegelbilder von ökonomischen Bewegungen und der durch sie be­ dingten politischen und sozialen Verhältnisse ansieht? An diesem Punkte liegt der eigentliche Reiz des historischen Problems des Calvinismus. Aber es liegt hier zugleich auch der wichtigste Punkt des ethisch-religiösen Interesses, das er darbietet. Wie ist bei ihm das Christentum zu dieser mo­ dern sozialen Wendung gekommen, das im Katholizismus zwar den Ge­ danken einer christlichen Kultur, aber doch den einer rein kirchlichen und zugleich ständisch gebundenen Kultur hervorgebracht hat, und das im Luthertum alle politisch-soziale Tätigkeit dem Staate übergeben hat, sich selbst nur die Innerlichkeit der Glaubensmystik, die religiöse Weihung des ständischen Berufssystemes und die Erhaltung der Obrigkeit bei der reinen Lehre vorbehaltend? Der Calvinismus betritt hier neue Wege in der Ge­ schichte der christlichen Ethik. Wie ist er dazu gekommen? Von seiner eige­ nen religiös-ethischen Tendenz oder genötigt durch die tatsächliche Lage der Länder und Völker, unter denen er sich bewegte? Oder ist beides zusammen­ getroffen, um sich dann gegenseitig zu bestimmen? Das Letztere ist der Fall, und das weist auf eine entscheidende Doppel­ heit in den Ursprüngen des Calvinismus hin, während das Luthertum zu­ nächst nur durch die biblisch-religiöse Idee bestimmt und in deren weltfrem­ der Haltung durch die allgemeine politisch-soziale Entwickelung seit dem (Schluß in nächster Nummer) Bauernkriege befestigt worden ist. Heidelberg Ernst Troeltsch

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Gemeint ist Abraham Kuyper: Reformation wider Revolution (1 904) . Vgl. hierzu auch unten, S. 258 f., Anmerkung 56.

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Calvinismus und Luthertum 2

Während das Luthertum zunächst nur durch die biblisch-religiöse Idee bestimmt und in deren weltfremder Haltung durch die allgemeine politischsoziale Lage bestimmt worden ist, hat der Calvinismus neue Wege in der Geschichte der christlichen Ethik betreten. Es sind in Wahrheit zwei Grundtatsachen, die diese Entwicklung be­ stimmt haben. Einmal ist es die kleine Genfer Republik, die gegen ihren vertriebenen Bischof und gegen den begehrlichen Nachbar, den Herzog von Savoyen, ihre Selbständigkeit zu behaupten hatte und die, unter den Kultur­ einflüssen Italiens und Frankreichs, der beiden fortgeschrittenen Kulturlän­ der, stehend, ihr Gemeinwesen auf die modernen politischen und wirtschaft­ lichen Grundlagen einer Machtpolitik im Sinne der Renaissance-Diplomatie und einer wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne des Handels und Geld­ wesens stellen mußte. In seiner nach außen gefährdeten und nach innen zer­ klüfteten Lage bedurfte diese Republik eines Leiters, der sie einigte, festigte und ihren politischen Weltkurs steuerte. Dieser Diktator wurde Calvin, und das ist der zweite entscheidende Umstand. Auf der Durchreise wurde der junge, von dem Ruhm seiner dogmatischen Gelehrsamkeit umstrahlte Theo­ loge fast zufällig festgehalten, und aus diesem Zufall entwickelt sich Calvins Herrscherstellung, die allerdings in jahrelangen, schweren und gelegentlich blutigen Kämpfen erst eine endgiltige wurde. Calvin aber brachte außer sei­ ner Herrschernatur, seinem gewaltigen Willen und seiner juristischen Veran­ lagung und Bildung auch noch Gedanken mit, die, an sich rein religiöser Art, doch in dieser Umgebung und gegenüber dieser Aufgabe jene oben charak­ terisierte Entwickelung nahmen. Es war einerseits die Prädestinationslehre als der Angelpunkt seines dog­ matischen Systems, des einzigen wirklichen Systems, das die Reformation hervorgebracht hat. Calvin ist Luthers Schüler, und die Prädestinationslehre ist zunächst nur die logisch-systematische Heraushebung des Grundele­ ments der lutherischen Lehre, zugleich eines Hauptpunktes der paulinischen Lehre, den sein strenger Bibelgehorsam als ein schlechthin verbindliches Gesetz betrachtete. Es ist dasjenige Element der lutherischen Lehre, durch das der reine Glaubenscharakter der reformatorischen Religion vor der Ver­ mischung mit menschlichem Meinen und Denken geschützt wurde. Der Glaube ist keine menschliche, sondern eine durch absolutes Wunder von Gott I gewirkte Erkenntnis. Zugleich war damit das Menschliche auch in der Gestalt aller menschlichen Verdienste und alles menschlichen Eigenwirkens ausgeschlossen und der Gnadencharakter der Glaubensreligion voll ge-

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Calvinismus und Luthertum

wahrt. So scheint Calvins Prädestinationslehre zunächst nur dem epigonen­ haften Scharfsinn des Schülers ihre Bedeutung zu verdanken, der die Lehre des Meisters systematisiert und dabei den treibenden systematischen Nerv des Ganzen herausarbeitet. Aber Calvin war mehr als Schüler und Epigone. Hinter seiner Prädestinationslehre verbarg sich zugleich und überdies der seiner persönlichen Religiosität eignende Gottesbegriff. Es ist nicht nur das absolute Wunder, die Uebermenschlichkeit und Gnadenmäßigkeit des Heils, was Calvin im Prädestinationsgedanken sucht und formuliert. Es ist zugleich der absolute souveräne Willenscharakter Gottes. Die Idee der Gnade ist reine verdienstlose Gnade und hat schlechthin nichts zu tun mit einer Ge­ rechtigkeit, welche die elende Kreatur vom Herrn der Welt fordern könnte. Es ist Gottes Wesen, den Einen das Heil ohne alles Verdienst frei willkürlich zu schenken und den Andern ihrer Sündhaftigkeit gemäß das Verderben zu bereiten. Niemand darf sich rühmen und Niemand beklagen. Wie Niemand einen Anspruch hat, ein Mensch zu sein statt ein Tier, so hat Niemand An­ spruch darauf, ein Erwählter zu sein statt eines Verdammten.2 Gottes maje­ stätischer Herrenwille ist der Grund aller Grunde, die Norm aller Normen. Es gibt nur Gründe und Normen, die durch Gott gelten, aber keine, die über ihn und für ihn gälten. Er gibt sich selbst in völlig freier Willkür sein Gesetz; und dieses Gesetz ist das Gesetz seiner Selbstverherrlichung im Danke der verdienstlos Beseligten und im Jammer der verdienstmäßig Verdammten. Damit ist die Religion von allen Problemen der Theodicee entlastet, die auf das Luthertum so schwer drücken, und die es schließlich die Erlangung des Heils doch vom Verhalten der Kreatur abhängig machen ließen, um Gottes Gerechtigkeit und Liebe zu retten. Es ist bei aller strengen Logik des Gedan­ kens die doktrinäre Lehrhaftigkeit von der Theologie fern gehalten; der Wille Gottes, nicht die reine Lehre ist das Entscheidende. Das calvinistische Christentum ist ebenso orthodox, aber weniger an der Lehre um der Lehre willen interessiert und hat die Hände frei für höhere Aufgaben. Es ist weiter damit ein grundlegender Individualismus der innerlichsten und schroffsten Art bewirkt. Zwar durch Vermittlung der Kirche und Schrift, aber in letzter Linie rein im inneren Wunder der Bekehrung, in der unmittelbaren Gottestat am Einzelnen, ist das Heil begründet. Das verankert die Persönlichkeit in der unverlierbaren Gnade mit einer Festigkeit, die das den Verlust der Gnade 2

Vgl. zur Prädestination bei Calvin v. a. dessen "Institutio Christianae religionis" (1 559) , librum 3, caput 21 : De electione aeterna, qua Deus alios ad salutem, alios ad interitum praedestinavit, hier zitiert nach: Corpus Reformatorum, Band 30 (1 864) , Sp. 678-687, deutsche Ausgabe: Johannes Calvin: Unterricht i n der christlichen Reli­ gion (1 963) , 3. Buch, 21 . Kapitel: Von der ewigen Erwählung, kraft deren Gott die einen zum Heil, die anderen zum Verderben vorbestimmt hat, S. 61 5-623.

Zweites Kapitel

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stets wieder in Rechnung ziehende Luthertum nicht kennt. Schließlich aber ist in dieser Fassung der Prädestination als der Auswirkung des Majestätswil­ lens Gottes überhaupt der ganze Willenscharakter der Religion enthalten, die, aus Wille und Tat Gottes hervorgehend, Wille und Tat auch ihrerseits schafft und in Will e und Tat erst als echt erkannt wird. Daher ist nicht das stille Leiden und Dulden und nicht die bloße Seligkeit des getrösteten Sün­ denschmerzes, sondern die bekennende und handelnde Tat die eigentliche Probe des Glaubens. Aber noch eine andere religiöse Idee brachte Calvin nach Genf mit. Es ist die Idee der heiligen Gemeinde, die Gottes Willen und Erlösungstat ent­ spricht, die seine Majestät verherrlicht und deren Schaffung der eigentliche Zweck der Heilstat Christi war.3 Mit dieser Idee war ein Ideal der Gemein­ deverfassung gegeben, das Jeden aktiv in der Gemeinde beteiligte und von der Gemeindeversammlung aus Jeden in strenger christlicher Zucht hielt. Die Selbständigkeit der Gemeinde, die Betätigung an Vertreterwahlen, die Regierung durch ordnungsmäßige Vertreter aus dem Laienstande, die Gleich­ stellung der geistlichen Aemter mit den Laien, die Revision der Gemeinde vor jedem Abendmahl, das sind Grundzüge nicht bloß des calvinistischen Kirchenrechts, sondern vor allem der calvinistischen Ethik und Dogmatik, die die Erlösung abzwecken läßt auf die Herstellung des Königreiches Chri­ sti oder der heiligen Gemeinde und die christliche Sittlichkeit zu aktivster Entfaltung, gegenseitiger Kontrolle und sozialem Zusammenwirken nötigt. Diese Ideen stehen von denen der lutherischen Ethik und des I lutherischen Kirchenbegriffes weit ab. Man sieht neuerdings in ihnen gerne täuferische und Butzerische Einflüsse, die den Gedanken einer aktiv heiligen Gemeinde Calvin nahegelegt hätten. Calvin selbst beruft sich auf die Bibel und auf den sittlichen Ernst, und es ist leicht einzusehen, wie eng dieser Gedanke mit dem des Willenswesens Gottes und dem ganzen Willenscharakter der Religion zusammenhängt. Woher er auch stammen mag, jedenfalls ist er im engsten Zusammenhang mit dem Prädestinationsgedanken das eigentliche Merkmal calvinistischer Christlichkeit und aus dem Wesen der religiösen Persönlichkeit Calvins geboren. Indem nun diese religiös-ethischen Gedanken auf die Aufgabe der Ord­ nung und Festigung des neuen Genfer Gemeinwesens stießen, schuf Calvin Genf um zu dem Gottesstaate der heiligen Gemeinde, in der Gottes Majestät verherrlicht wird durch den tätigen Gehorsam gegen sein biblisches Sitten­ gesetz und von der aus Gottes Sache in der ganzen Welt gefördert wird. Da-

3

Vgl. v. a. ebd., librum 4, Sp. 745-1 1 1 8, S. 683-1 057, v. a. S. 685 f.

v.

a. Sp. 747 f., deutsche Ausgabe: 4. Buch,

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Calvinismus und Luthertum

mit übernahm der Gedanke des christlichen Gemeinwesens zugleich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben der Republik. Staat und Kirche wirken in gegenseitiger Eintracht zur Verwirklichung des biblischen Ideals, und wenn alle politisch-sozialen Dinge zunächst dem Staate angehö­ ren, so werden sie doch zugleich für eine Kirche unmittelbar bedeutsam, die den Staat über seine christlich-ethischen Pflichten zu belehren hat und diese Pflichten im Falle, daß der Staat versagt, in eigene Hand nehmen muß. So er­ gibt sich eine Verschmelzung der Aufgaben, in denen das christliche Ethos zugleich die politisch-sozialen Ideale in sich selber aufnimmt und von sich aus ausstrahlt. Der Individualismus der Gemeindebildung wurde auch auf die Auffassung vom Staate übertragen, freilich in aristokratischem, aber doch im individualistischen Sinne der Selbstregierung der politischen Ge­ meinde. Das mit der städtischen Kultur von selbst gegebene Geld- und Han­ delswesen wurde als dem Gemeinwesen dienlich anerkannt und die Er­ werbsberufe wurden geradezu gesteigert, indem ihr Ertrag nicht dem Genuß des Erwerbenden, sondern der Liebestätigkeit und öffentlichen Zwecken zu Gute kam. Gegenüber den ringsum drohenden Feinden war Krieg und Widerstand christlich erlaubt, und in den fremden Ländern, wo überall die Staatsregierung den Calvinisten feindlich war, war der bewaffnete Wider­ stand und die Ersetzung der gottlosen Obrigkeit durch andere, die die nächstberechtigten Instanzen dann zu wählen hatten, erlaubt und geboten.4 So kam es zu einem christlichen Gemeinwesen, das im Ideal politische und kirchliche Gemeinden als die in freier Einigkeit und gemeinsamem Ge­ horsam gegen die Bibel zusammenwirkenden Seiten der Gesellschaft ansah, die Gottlosen und Nichterwählten beugte unter das Gesetz Gottes zu wenig­ stens äußerlicher Unterwerfung, im übrigen die politische wie religiöse Ge­ meinde individualisierte und demokratisierte, Krieg und Gewalt zu Ehren der Wahrheit als gottgewollt anerkannte, Kapitalismus und Manufaktur we­ gen ihrer außerordentlichen Produktionskraft in den Dienst nicht des Ge­ nusses, sondern der der Gemeinde zu Gute kommenden Gesamtförderung stellte und alle modernen Errungenschaften in Recht und Kultur, soweit sie der Ehre Gottes dienen, sich aneignete. So hat Calvin lediglich durch pastorales Wirken und christliche Belehrung einer willigen Obrigkeit den geistlichen Musterstaat in Genf geschaffen. 4

Vgl. hierzu ausführlicher die Ausführungen Troeltschs in den "Soziallehren der christ­ lichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) , S. 683-694 KGA 9. Als zeitgenössische Literatur, auf die sich auch Troeltsch in den "Soziallehren" beruft, ist vor allem zu nennen: Ludwig Cardauns: Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmässige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 1 6. Jahrhunderts (1 903) , hier v. a. S. 4 1 -46. -+

Zweites Kapitel

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Noch ist er in seinem Zusammenfallen von Staat und Kirche, in seiner christlichen Zwangskultur, in dem Ueberwiegen der aristokratischen und patriarchalischen Züge der mittelalterlichen Idee sehr nahe. Allein auf dem Boden nichtcalvinistischer Staaten oder konfessionell gemischter Bevölke­ rungen entwickelt er all die anfangs genannten Züge: Freiheit und Selbstän­ digkeit der Kirche, Freiheit und Demokratie im Staate, Freigebung des rein politischen Elementes, Anerkennung von Krieg und Gewalt im Notwendig­ keitsfalle, Beförderung der Berufsarbeit in allen modernen Berufen, Ver­ wertung des Ertrags für die Allgemeinheit, geistigen und agitatorischen Ein­ fluß auf das Gesamdeben, Züge eines christlichen Sozialismus. Das ist sein gewaltiger Unterschied vom Luthertum. Bei uns bleibt die Kirche an der Schürze des Staates, steht überall in der Defensive, stärkt den Ordnungssinn und die I Ergebung, und so haben bei uns Verständnis für religiöse und kirchliche Dinge im Grunde nur die Konservativen, die auch den Nutzen davon haben. An diesem Punkte scheidet sich heute noch Genf und Wittenberg, Calvin und Luther: bei allem Großen, das wir Luthers freier, allen Zwang und alles Aeußere verschmähenden Innerlichkeit danken, und trotz der entsetzlichen Härte, mit der Calvin in Genf den Sieg des Gesetzes Christi I durchsetzte, ist doch unleugbar, daß der Calvinismus gerade vermöge dieser Geschlossenheit und Härte in den großen weltgeschichtlichen Krisen den Protestantismus gerettet hat und daß ihm heute noch ein leben­ digerer Fortschritt und ein engerer Zusammenhang mit den modernen poli­ tisch-sozialen Entwicklungen der führenden Völker beschieden ist als dem Luthertum. Ernst Troeltsch

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Die Genfer Kalvinfeier

Editorischer Bericht Der Edierte Text wurde wie der Beitrag "Calvinismus und Luthertum" von Troeltsch verfaßt anläßlich der Jubiläums feiern zum Gedenken an den 400. Geburtstag Johannes Calvins1 am 1 0. Juli 1 909. Veröffentlicht wurde der Aufsatz am 1 1 . Juli 1 909 in der von Friedrich Naumann herausgegebe­ nen Zeitschrift "Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst". Troeltschs Text ist der einzige Calvin-Beitrag in dieser Nummer. Die 1 895 von Naumann gegründete Wochenzeitschrift "Die Hilfe" erschien zunächst probeweise mit dem Untertitel "Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruder­ hilfe" , ab 1 902 dann mit dem Untertitel "Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst" im Buchverlag der Hilfe GmbH Berlin-Schöneberg.2 Neben der Förderung des 1 896 gegründeten Nationalsozialen Vereins mit Naumann als Vorsitzenden hatte die Zeitschrift auch den Zweck, wie explizit behauptet wurde, dem "Herausgeber eine unabhängige Lebensstellung zu verschaf­ fen"3. Naumann hatte im gleichen Jahr sein Pfarramt aufgegeben. Das finan­ zielle Risiko der Zeitschriftengründung wurde durch zahlreiche Darlehen gemindert, die u. a. von Hans Delbrück, Adolf Harnack, Johannes Weiß, Max Weber, Karl Rathgen und Gerhart von Schulze-Gaevernitz kamen.4 Auch Troeltsch soll zu den Financiers der "Hilfe" gehört haben.5 Die "Hilfe" avancierte in der Folgezeit zu einer im kulturprotestantischen Milieu weit verbreiteten Wochenschrift. Im Juli 1 909 hatte die Zeitschrift

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Vgl. unten, S. 1 1 1 , Anmerkung 1 . Vgl. Ursula Krey, Thomas Trumpp: Nachlaß Friedrich Naumann (1 996) , S. XIX. Zitiert nach: ebd., S. XIX. Die ersten Probenummern erschienen im Dezember 1 894. Vgl. Theodor Heuss: Friedrich Naumann, hier zitiert nach der 2. Auflage 1 949, S. 87. Vgl. Ursula Krey, Thomas Trumpp: Nachlaß Friedrich Naumann (1 996) , S. XX , Theodor Heuss: Friedrich Naumann (1 949), S. 89. Vgl. Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann (1 993) , S. 262. Diese Information ist allerdings nicht belegt.

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Die Genfer Kalvinfeier

8873 Abonnenten bei einer Gesamtauflage von 1 1 000 Exemplaren.6 Troeltsch, der Naumann um 1 900 im Rahmen des Evangelisch-sozialen Kongresses kennenlernte7 und mehrfach in Heidelberg mit ihm zusammen­ kam, wurde erst 1 908 Autor der "Hilfe" mit einem kleinen Beitrag über David Friedrich Strauß.8 Der hier abgedruckte Text ist der zweite Beitrag Troeltschs für die "Hilfe". Wann Troeltsch seinen Beitrag ver faßt und an Friedrich Naumann ge­ schickt hat, konnte nicht ermittelt werden. Ein Manuskript und Druckfah­ nen sind nicht überliefert. Die Edition folgt dem Text, der unter der Ü ber­ schrift "Die Genfer Kalvinfeier" erschienen ist in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, hg. von Friedrich Naumann, Berlin-Schöne­ berg: Buchverlag der Hilfe, 1 5. Jahrgang, Nr. 28, 1 1 . Juli 1 909, Beiblatt, S. 441-443 CA) .

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Vg1. Rundschreiben von Franz Schneider an die Gesellschafter der Firma "Fort­ schritt. Buchverlag der Hilfe", 1 4. Oktober 1 909 und 8. Oktober 1 908, BA Potsdam, NL Friedrich Naumann, N 300 1 , Nr. 56, BI. 220 und BI. 234. 7 Vg1. Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann (1 993) , S. 261 f. s Vg1. Ernst Troeltsch: David Friedrich Strauß (1 908) ..... KGA 6.

111 Die Genfer Kalvinfeier Die kalvinistische Welt rüstet sich in diesen Tagen zu der Feier ihres Reformators, und in demselben Genf, das soeben die kalvinistische Staatskirche als Staatskirche aufgehoben hat, vereinigen sich Abgesandte aus allen Weltteilen zur Bezeugung einer ganz außerordentlichen Blüte des kalvinistischen Kirchentums. 1 Es ist für Deutschland, dessen lutherischer Protestantismus über die Stammlande nur nach Norden hinausgedrungen ist, ein eigentümliches Schauspiel, dieser Weltfeier einer Kirche zuzusehen, die in Wahrheit eine Tochterkirche des Luthertums ist und doch dieses so weit überflügelt hat. Noch eigentümlicher und bedeutungsvoller aber ist das Schauspiel, wenn wir bedenken, wie ganz anders in jenen Ländern das kalvinistische Re­ ligionswesen mit den politischen und sozialen Verhältnissen verbunden ist als bei uns. Auch jene Länder leiden unter der Krisis, die die moderne Wis­ senschaft dem christlichen Dogma und die moderne Lebensbewegung der christlichen Ethik bereitet hat. Aber sie leiden weit weniger darunter, weil die christliche Idee im ganzen dort, wesentlich in praktischem Geist aufgefaßt, weniger doktrinär und philosophisch behandelt wird und, nicht mit dem Odium eines Bündnisses mit der Reaktion belastet, nicht in die politisch-sozialen Kämpfe als trennende Kraft hineinwirkt. Nichts ist in Amerika für den Besucher auffallender als die starke Herrschaft christlicher Sitte und christlicher Denkweise, mindestens in den alten östlichen Gebieten, und die dort angestellten deutschen Gelehrten pflegen über nichts bitterer zu klagen als über die alle Verhältnisse durchdringende "Bigotterie", die sie sich nach deutscher Sitte nur aus Heuchelei erklären können. Von England ist es bekannt, daß gerade die kalvinistischen Dissenter Hauptstützen des Liberalismus sind, und ein deutscher Kirchenfürst brachte jüngst den Lesern seines Kirchenblattes die erstaunliche Nachricht mit, daß bei seinem frommen Wirte vor wenigen Wochen Theodor Barth als lieber und hochgeschätzter Gast in dem gleichen Fremdenzimmer geweilt hatte.

1

Im "Versammlungskalender" der "Christlichen Welt" (1 909), Sp. 573, werden für den 3. bis 7. Juli die Calvinfeiern in Genf angezeigt. Die "Neue Zürcher Zeitung und schweizerisches Handelsblatt", Nr. 1 84, 5. Juli 1 909, 1 . Abendblatt, berichtet etwa über die "Calvin-Feiern" in Genf, daß am Sonntag, den 4. Juli 1 909, etwa 1 5 000 Per­ sonen an den Festgottesdiensten teilgenommen hätten. Vgl. auch die Berichte in der Nr. 1 82, 3. Juli 1 909, Abendblatt und Nr. 1 83, 4. Juli 1 909, 1 . Blatt. In Genf wurde die " Eglise Nationale Protestante" 1 907 durch Volksabstimmung vom Staat getrennt. Dieses Referendum trat am 1 . Januar 1 909 in Kraft.

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Die Genfer Kalvinfeier

Es ist der Mühe wert, bei der Kalvinfeier sich die Frage vorzulegen, wie das gekommen ist. Es hat seinen letzten Grund in den Besonderheiten des kalvinistischen und lutherischen religiösen Denkens, nicht etwa nur in der Verschiedenheit des Bodens, auf dem beide Gebilde sich erhoben haben, wenn auch freilich diese Verschiedenheit nicht bedeutungslos gewesen ist. Luther ist der Mönch gewesen, der in die Innerlichkeit und Weltentsagung der gesteigertsten Christlichkeit untertauchte, um hier das Heil zu finden, und der zwar von hier aus das Mönchtum als selbstgemachte Heiligkeit zer­ trümmerte, der aber doch das Ideal in einer vollkommenen Innerlichkeit der ihres Gottes versicherten und der Sündenvergebung gewissen Seele sah. Der Mensch verläßt nicht die Welt und ihre Ordnungen; aber er hat I an alledem kein inneres Interesse und lebt eigentlich nur in der Seligkeit der die Welt durch Dulden und Leiden überwindenden Gotteskinder. Staat und Kirche, Wirtschaft und Arbeit sind im Sündenstand von Gott geordnet und geboten, und das Regierungsamt vom Fürsten und Feudalherrn bis herab zum Büttel und Henker ist ein wahrer Gottesdienst. Aber das ist nur hinzunehmen so, wie es ist, und gehört der Vernunft und dem natürlichen Recht. Der Christ gehört einem andern Rechte an, das mit den äußeren Dingen dieser Welt gar nichts zu tun hat, von ihm nur duldende und gehorsame Unterwerfung unter sie verlangt, im übrigen ihm die auf Recht und Gewalt verzichtende reine Liebesgesinnung vorschreibt. Der eigentliche Gottesdienst ist die mit den Dingen dieser Welt unverwirrte reine Liebes- und Glaubensgesinnung, die eben deshalb nicht reformiert und gestaltet, sondern sich den Verhältnis­ sen unterwirft und in der Ausübung der durch die ständische Berufsgliede­ rung vorgeschriebenen festen Pflichten das Gottvertrauen bewährt. Auf die Frage, ob hierbei nicht eine solche Gesinnung von Schurken und Gewalt­ menschen trefflich ausgebeutet werden könne, hat Luther nichts zu er­ widern gewußt, als daß die Obrigkeit das nicht zulassen werde, und daß man, wenn es nicht zu vermeiden ist, das eben leiden müsse als der Welt Wesen.2 Nun haben aber in der Tat die Obrigkeiten und die feudalen Halbobrigkeiten diese Gesinnung zu äußerster Machterweiterung ausgenutzt, und die Luthe­ raner haben es leiden müssen. Sie haben die Loyalität, die Bescheidung bei gegebenen Verhältnissen und den Rückzug auf die Innerlichkeit einer ganz persönlichen Gesinnung zum sozialethischen Charakter des Luthertums ge-

2

Vgl. Martin Luther: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1 523) , hier zitiert nach: ders. : Werke. Kritische Gesammtausgabe, 1 1 . Band (1 900) , S. 277, 2-5: "der uberkeyt soll man nicht widderstehen mit gewallt, ßondern nur mit bekenntnis der warheyt; keret sie sich dran, ist gut, wo nicht, so bistu entschuldiget unnd leydest unrecht umb Gottis willen".

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macht. Das Ideal einer Gesellschaft, die von der Gottes Stelle vertretenden Obrigkeit in äußerem Frieden und Gedeihen gehalten wird durch das Recht, und die im persönlichen Verkehr alle Unterschiede des Besitzes und Ranges, alle Feindseligkeiten und Habsüchte überwindet durch die Liebe, ist zu einer Wirklichkeit geworden, in der der patriarchalische Gehorsam alles duldet, gelegentlich auch durch patriarchalische Fürsorge erwidert wird und vor al­ lem eine möglichste Bewegungslosigkeit der ständisch geordneten Pflichten­ kreise jeden in seinem Stand und seiner Nahrung hält unter Ausschluß aller Konkurrenz und aller individuellen Aufwärtsbewegung. Nach den Erschüt­ terungen des Aufklärungszeitalters, wo westliche Gedankenmassen herein­ fluteten, ist infolge der französischen Revolution und im Zusammenhang mit der allgemeinen Restauration das Luthertum zu diesen alten Positionen zurückgekehrt und seit Stahls glänzenden und scharfsinnigen Begründungen zur Basis der Konservativen geworden, die daher auch von der Kirche un­ terstützt werden und die Kirchen- und Schulpolitik mit vollem Bewußtsein in ihrem Sinne beeinflussen. Und auch als Wiehern dem Luthertum eine sozialreformerische Ära eröffnen wollte, da ist diese Sozialreform wesent­ lich zur inneren Mission und einer auf sie gestützten Propaganda des Luther­ tums sowie zu einer Verstärkung der kirchlichen Herrschaft über die Ge­ sellschaft geworden. Die Liberalen, wesentlich von einem neuen Zustrom westlicher Ideen genährt, sind dieser Ideenwelt gegenüber hilflos geworden, behandeln sie mit Verachtung oder Ignorierung oder mit Erklärung der Re­ ligion zur Privatsache, überlassen die veraltete Kirche sich selbst und geben auch die Versuche, das Religionswesen mit modernem Geiste zu erfüllen, größtenteils als beschränkte Halbheiten der Orthodoxie preis. Einen eignen Zusammenhang mit religiösen Ideen oder kirchlichen Gruppen haben sie nicht, und von Fortwirkungen des Luthertums könnte bei ihnen höchstens insofern die Rede sein, als auch sie organisationsunfähige Individualisten sind und als in Fällen der Not auch sie schließlich gern nach der Obrigkeit rufen. Ganz anders ist von Anfang an der Kalvinismus. Indem Kalvin aus der religiösen Ideenwelt Luthers die Prädestinationslehre als Zentrum seines Denkens herausentwickelte, gab er der ganzen Religiosität eine neue Fär­ bung. Gott ist ihm nicht in erster Linie die alle Kreaturen beseligen wollende Liebe, die allen das Heil bestimmt und deren Liebeszweck nur durch den Wi­ derstand der Kreatur teilweise vereitelt wird. Es ist ihm vielmehr der unge­ heure, grundlose Machtwille, der von keiner Kreatur an menschlichen Maß­ stäben gemessen werden darf, vielmehr durch seinen souveränen Willen selber erst alle solche Maßstäbe setzt. Er bestimmt die einen zum Heil der Liebesgemeinschaft mit ihm, lediglich um seine grundlose und verdienstlose Barmherzigkeit zu offenbaren und in der Seligkeit der Begnadeten den tief-

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sten Antrieb des Handelns zu erwecken. Er läßt die andern verloren gehen, um an ihnen seinen Zorn über die Bosheit und Sünde zu offenbaren und seine heilige Majestät zu bekunden. Diese Fassung des Gottesgedankens hat nichts von der in ihrer Seligkeit ausruhenden Mystik Luthers, sondern trägt die Mächtigkeit eines immerdar schaffenden göttlichen Willens in sich, so daß auch die gnadenvolle Vereinigung des Erlösten mit Gott ihn nicht in die weltüberlegene Innerlichkeit des Sündentrostes zurückzieht, sondern zum Handeln und Schaffen in der Offenbarung und Verwirklichung von Gottes Ehre nach außen antreibt. Die Prädestinationslehre Kalvins beseitigt den Quietismus der Luthertums. Aber auch die religiöse Idee vom Menschen wird dadurch in ihrem innersten Kern eine andere. Äußerlich angesehen ist es in beiden Fällen der gleiche hochgesteigerte religiöse Individualismus. Und doch bedeutet er in beiden Fällen etwas andres. Der lutherische Indivi­ dualismus muß seinen neu erworbenen religiösen Lebenskern beständig ge­ gen die Gefahr des Gnadenverlustes und Rückfalles schützen und beschäf­ tigt sich daher wesentlich mit sich selbst, indem er die Selbstbewahrung in der Gnade des Glaubens zur Hauptaufgabe hat. Der Individualismus der kalvinischen religiösen Idee ist auf die Unwiderruflichkeit der Gnadenwahl begründet, schlechthin sicher bei sich selbst und braucht daher sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen, sondern bricht nach außen hervor in der Tat, an der er sich seine Erwähltheit veranschaulicht. So ist es hier nicht seine Aufgabe, die Welt zu dulden und zu leiden, sondern das wirkliche Leben an­ greifend zu gestalten nach dem Willen Gottes. Er unterwirft sich nicht in kindlicher Loyalität dem geltenden Recht und befiehlt es der Vernunft, wäh­ rend Gottes Recht nur Leiden und Liebe fordert, sondern er gestaltet das wirkliche Recht nach den Grundsätzen menschlichen und göttlichen Gebo­ tes. Kalvin, der Jurist unter den Reformatoren, führt die christliche Lebens­ ordnung in rechtliche Formen über und prägt sie dem christlichen Gemein­ wesen auf. Damit hängt dann die dritte Sonderidee des Kalvinismus zusammen, das Ideal der bürgerlichen und der religiösen Gemeinschaft. Er baut die handelnden menschlichen Willen zunächst auf zu einer fest organi­ sierten Kirche, in der der Anteil der Laien und der Geistlichen nach festen Regeln zur Hervorbringung eines selbständigen existenzfähigen Gebildes vereinigt ist, und er sorgt in dem Sittengericht für eine Kontrolle und Rege­ lung der christlichen Lebensführung. Da aber das nicht möglich ist ohne Mitwirkung der gesamten bürgerlichen Gemeinde, so verlangt er von dieser ein freiwilliges Zusammenwirken mit der Kirche zur Aufrichtung einer im Glauben einigen und die christlichen Lebensregeln befolgenden Gemeinde der Heiligen. Nun war aber die politische Gemeinde Genfs eine Handels- und Ge­ werbestadt. Eine staatliches und kirchliches Wesen umfassende heilige

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Gemeinde mußte also hier im Unterschied von der traditionalistischen Wirtschaftsethik des Katholizismus und des Luthertums den Handel, die Geldwirtschaft, das kapitalistische Kreditwesen christlich anerkennen und damit auch die mit diesem wirtschaftlichen Typus verbundenen soziologi­ schen Voraussetzungen in sich aufnehmen. Ferner war Genf eine Republik, zwar eine sehr aristokratische, aber immer doch eine auf Teilnahme und Wahl der Bürger aufgebaute Republik, und der ganze Aufbau der kalvinisti­ schen Gemeindekirche war überhaupt nur möglich gewesen, indem die po­ litischen Vertretungskörper zugleich mit den kirchlichen in einem gewissen Grade zusammenflossen. Das aber machte die politische Theorie des Kal­ vinismus im Unterschied von der absoluten Verherrlichung der Obrigkeit im Luthertum zu republikanisch-naturrechtlichen Konstruktionen geneigt, so daß der Staat aus dem Zusammentritt der Individuen abgeleitet wurde und gegen göttliche und tyrannische Regierungen in steigendem Maß ein Resistenzrecht des Individuums anerkannt wurde.3 Schließlich war Genf ein selbständiger Staat geworden durch Einführung der Reformation und mußte seine politische Existenz im engsten Zusammenhang mit seinem evangelischen Charakter in beständigen Kriegen verteidigen. Damit war dem Kalvinismus die Idee des um des Glaubens willen zu führenden Krieges von Haus aus eingeimpft, der Krieg I direkt verchristlicht und die politische Aktionsfähigkeit des Kalvinismus geschaffen, während das Luthertum den Krieg rein der weltlichen Obrigkeit überließ und den auch nur als Notkrieg und Notwehr um weltlicher Interessen willen erlaubte, dagegen die Idee jedes Glaubenskrieges verwarf. So war der Kalvinismus nicht bloß im allgemeinen durch sein Ideal der heiligen Gemeinde4 auf die Bahn einer aktiv gestaltenden Sozialreform gewiesen, sondern mußte bei dieser Reform auch die damaligen relativ modernen Lebensformen und Interessen in sich aufnehmen. Das hat er allerdings nur sehr bedingt im Anschluß an die neutestamentlichen Weisungen gekonnt. Darum griff er in steigendem Maß auf das alte Testament zurück, das für eine realistische Politik und Sozialethik sehr viel brauchbarere Grundlagen bietet. Auf diesen Grundlagen ist der Kalvinismus die der westlichen Kultur angepaßte Konfession und zugleich ein politisch gestaltungs- und handlungsfähiges Prinzip geworden, das in heroischen Kämpfen die Existenz des Protestantismus überhaupt gerettet hat. Das ist freilich der alte, nicht mehr der heutige Kalvinismus. Schon in den großen französischen, niederländischen und englischen Kämpfen ist er star-

3 4

Vgl. oben, S. 1 06, Anmerkung 4. Vgl. oben, S. 1 05, Anmerkung 3.

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ken Veränderungen unterworfen worden. In großen Reichen mit fremdgläu­ biger, feindseliger Regierung Fuß fassend, hat er auf das Genfer Ideal des Zusammenfalls von Staat und Kirche verzichten gelernt. Aber er besaß eine so feste Konstruktion seiner Kirchenverfassung, daß er darauf verzichten und sich dem Freikirchentum zuwenden konnte. In demselben Maße, als er damit den Kampf gegen die gottlosen Regierungen eröffnen mußte, hat er zugleich republikanische oder demokratische Folgerungen entwickelt, die wiederum auf englischem und amerikanischem Verfassungsboden mit dem Ideal des Freikirchentums eng verwuchsen. Von der Anteilnahme an der politischen Macht abgedrängt, haben sich seine Glieder auf die ökonomische Prosperität geworfen, ihre systematische Arbeitsgesinnung für den Aufbau der modernen kapitalistischen Industrie verwendet und einen außerordent­ lich festen sozialen Zusammenhang ihrer Gemeinden in Liebestätigkeit und Kontrolle der Rechtlichkeit entfaltet. So ist er insbesondere mit den Eigen­ tümlichkeiten der angelsächsischen Rasse verschmolzen und zu seiner heu­ tigen Weltstellung gelangt als Prinzip des Freikirchentums, des politischen Liberalismus, der nüchternen und realistischen Arbeitsgesinnung, der stren­ gen Heiligkeit der Familie, als religiöse Weihe angelsächsischer Eigenschaf­ ten, die bis weit in die übrigens ganz unkalvinistische Staatskirche Englands hineinreicht. Das Kräftespiel des modernen Individualismus freigebend, durch starke Organisation kompensierend und zugleich für seine Zwecke benutzend, im Dogma wesentlich konservativ aber das Praktische betonend, ist er bald mehr prinzipiell liberal, wie die amerikanischen Denominationen und die englischen Dissenter, bald mehr formell liberal und sachlich konser­ vativ wie die Partei Kuypers in Holland. Immer aber steht er der modernen Lebensbewegung näher als das Luthertum. So gibt die Kalvinfeier uns in Deutschland hinreichend zu denken. Auch die kalvinistischen Völker haben natürlich ihre schweren Nöte und Sorgen, aber den Albdruck haben sie nicht, daß alle religiösen Kräfte wesentlich der Reaktion zugute kommen, und daß die mit der modernen Lebensbewegung nun einmal gegebene liberale Interessenwelt keinerlei Anhalt an ihnen be­ sitzt und sich auch jedem solchen Anhalt durch Abneigung gegen die vor­ handene Christlichkeit selber entzieht. Freilich das Denken hilft hier wenig. Unsre Verhältnisse sind nicht wohl zu ändern. Was dreihundert Jahre kalvi­ nistischer Seelenbildung andern Völkern anerzogen haben, das kann nicht auf unsre ganz andersartige Lage übertragen werden, und andrerseits hat unsre gesetzesfreie, innerliche lutherische Gesinnung den deutschen Idealis­ mus nun einmal ganz anders bestimmt als den jener Völker, und zwar keines­ wegs nur zu unserm Schaden. Aber so viel vielleicht können wir daraus ler­ nen, daß die Bedeutung der religiösen Kräfte auch von dem Politiker und Volks freunde nicht übersehen werden darf. Die bevorstehende konservativ-

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klerikal-polnische HerrschaftS könnte uns darüber belehren, daß die religiö­ sen Kräfte auch bei uns nur in der Literatur der Intellektuellen totgesagt sind, in Wahrheit aber unabhängig davon sehr kräftig leben, daß also auch der Liberalismus ihrer schwerlich ganz entbehren kann und zu ihnen ein po­ sitives Verhältnis suchen muß, wo sie sich nicht bloß günstigen falls geduldet, sondern warm und lebhaft anerkannt fühlen können. Die Heilung unsrer Schäden ist davon allein gewißlich nicht zu erwarten, aber es könnte vieles besser und gesünder stehen, und der Liberalismus könnte viele ethische und Gesinnungskräfte gewinnen, wenn er sich hier das Vorbild des Kalvinismus überlegte. Nicht der Kampf gegen das Christentum kann die konservativ­ klerikale Reaktion überwinden, wie heute so viele meinen. Aber eine die praktischen Wahrheiten und Werte des Christentums ernst nehmende und religiöse Freiheit aus religiöser Gesinnung gewährende Stellungnahme zu den religiösen Lebenselementen kann dem Liberalismus viele Kräfte zufüh­ ren, die er jetzt entbehrt, dem Gegner in die Arme drängt oder in anschluß­ loser Einsamkeit gemeinsam mit dem Gegner zerreibt. Das ist es, was eine Kalvinfeier uns in Deutschland sagen könnte. Ernst Troe/tseh. Heidelberg.

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Troeltsch bezieht sich auf die Änderung der politischen Machtverhältnisse im Deut­ schen Reich nach dem Rücktrittsersuch von Reichskanzler Fürst Bülow vom 26. Juni 1 909. Bülows Versuch einer Reform der Reichsfinanzen war am 24. Juni 1 909 im Reichsstag gescheitert. Endgültig trat Bülow am 1 4. Juli 1 909 zurück. Mit seinem Rücktritt war auch das Schicksal des sogenannten "Bülow-Blocks" besiegelt, d. h. die von Bülow 1 906 gegen erhebliche Widerstände zusammengestellte Koalition aus konservativen und liberalen Parteien scheitere hiermit. Hans Delbrück kommentierte am 26. Juni 1 909 in den von ihm herausgegebenen "Preußischen Jahrbüchern" die neue politische Lage analog zu Troeltsch: "Der neue Block, der diese Situation ge­ schaffen hat, sind die Agrar-Konservativen zusammen mit dem Zentrum und den Polen." Hans Delbrück: Die Ablehnung der Erbschaftssteuer (1 909) , S. 1 84.

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Editorischer Bericht Der Edierte Text erschien 1 909 im Oktober-Heft der britischen Zeitschrift "The Hibbert Journal". Das 1 902 gegründete "Hibbert-Journal" verdankt seinen Namen dem Stifter der "Hibbert Lectures", dem englischen Kaufmann und Unitarier Robert Hibbert, der 1 847 den Hibbert Trust gründete und mit 50 000 Dollar ausstattete. 1 Der Hibbert Trust unterstützte v. a. Studenten und finanzierte die seit 1 878 stattfindenden berühmten "Hibbert Lectures". Aus Mitteln des Hibbert Trustes, der sich " ,die Verbreitung des Christentums in seiner einfachsten Form' " zum Ziel setzte und für die Unterstützung " ,des Rechts der Privatmeinung in religiöser Hinsicht' " eintrat,2 wurde auch das "Hibbert Journal" gegründet, das, so der RGG-Artikel 1 9 1 2, in "gleichem Geiste" arbeite und als "religiös-wissenschaftliche Monatsschrift [ . . . ] heute das Mundstück der freieren theologischen Richtung Englands"3 darstelle. Die "Christliche Welt", die 1 905 erstmals das "Hibbert Journal" vorstellte, verweist ebenfalls auf den programmatischen Charakter des Namens: "Eine Zeitschrift, die diesen Namen an der Stirn trägt, läßt Gediege [ne] s erwar­ ten"4. Zustimmend wird in deutscher Ü bersetzung aus dem "Editorial" der ersten Nummer zitiert, daß die "Meinungsverschiedenheiten in religiösen, theologischen und philosophischen Fragen [ . . . ] von den Herausgebern in dem Sinne anerkannt" würden, "wie man alle natürlichen Erscheinungen an­ sieht".s Unter den "vorhandenen verschiedenen Ausprägungen des religiö­ sen Denkens" werde aber "keine einzelne als [ ] Typus" aufgestellt, "nach dem die übrigen sich richten müßten".6 1 909 wurde noch einmal in der . . .

1 Vgl.

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A. Wollschläger: [Art.] Hibbert Lectures (1 9 1 2) , Sp. 10 f. , P. Scott: [Art.] Hibbert, Robert (1 959), Sp. 3 1 2. P. Scott: [Art.] Hibbert, Robert (1 959), Sp. 3 1 2. A. Wollschläger: [Art.} Hibbert Lectures (1 9 1 2) , Sp. 1 1 . Paul Jaeger: Das Hibbert-Journal (1 905) , Sp. 404. Ebd., Sp. 404. Ebd., Sp. 404.

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"Christlichen Welt" auf "diese ebenso vornehme wie reichhaltige englisch­ amerikanische Zeitschrift hingewiesen"7. Ein "Stab hervorragender Mit­ arbeiter sorgt dafür, daß jedes der grünen Vierteljahrshefte ( = Bücher müßte man angesichts der 240 Seiten sagen) mindestens einen bemerkenswerten Artikel bringt"8. Auch sei der "Jahrespreis von 1 0 Mk." angesichts "der vor­ trefflichen Ausstattung der Hefte [ . . . ] nicht hoch zu nennen".9 Paul Jaeger schließt sein Lob mit der Bemerkung ab, daß "uns Deutschen [ . . . ] die Weite des Blickes und die Größe des Interessenkreises an dieser Arbeitsgemein­ schaft besonders wertvoll sein"l O müsse. Wie in der Einleitung schon erwähnt,l l handelt es sich bei "Calvin and Calvinism" in weiten Teilen um eine Ü bersetzung von längeren Passagen, die im Calvinismus-Kapitel der "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" von 1 9 1 2 enthalten sind. Es handelt sich um Kapitel III. Der Pro­ testantismus, 3. Der Calvinismus, S. 605-794, hier S. 609-627, S. 638, S. 643 und S. 667-670. Die englische Ü bersetzung stimmt mit dem deutschen Text in diesen Passagen inhaltlich überein. Der genaue Textabgleich bietet folgendes Bild: Generell enthält der eng­ lische Text keine Fußnoten. Der englische Text beginnt entsprechend dem deutschen Text, wie er in den "Soziallehren" ab Seite 609 zu lesen ist. Folgende Abweichungen12 sind zu notieren: Die Passage "It assimilated the leading idea of the Baptists," (A 1 02) heißt in den "Soziallehren": "Er nahm in zweiter Linie durch Butzers Vermittelung das Wahrheitsmoment des Täu­ fertums," (S. 609, Z. 9-1 1 ) . Nach dem Satz: "The first and most important difference is the elaboration of the conception of predestination, the famous

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Paul Jaeger: Das Hibbert-Journal (1 909) , Sp. 692. Ebd., Sp. 692. Ebd., Sp. 692. Ebd., Sp. 692. S. die Einleitung, oben, S. 30. Bei den Ü bersetzungsabweichungen handelt es sich um folgende Passagen: "Der primitive Calvinismus" (S. 609, Z. 6) - " Calvinism" (A 1 02) , "Straßburger kirchlich­ soziale Reform- und Unionspolitik" (S. 61 1 , Z. 2 f.) - "numerous Baptists in Strass­ burg" (A 1 03), "Erziehungs-, Läuterungs- und Sühnemittel" (S. 6 1 7, Z. 1 2) - "means of education and of purification" (A 1 06) , "persönliche Gefühls- und Stimmungs­ leben" (623, Z. 9 f.) - "personal life of emotion and will" (A 1 09) , "Landesherren" (S. 626, Z. 22) - "law of the land" (A 1 1 1) , "zunächst lediglich noch systematischer und klarer durchgeführt" (S. 643, Z. 3 f.) - "first simply strengthened" (A 1 1 4) , "Durchschnittlichkeit des menschlichen Autoritätsbedürfnisses" (S. 644, Z. 8) "average human morality" (A 1 1 5) , "Gedanke der christlichen Kultur" (S. 667, Z. 6) ­ "idea of Christian education" (A 1 1 7) .

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central dogma of Calvinism." (A 1 04) steht in den "Soziallehren" der Satz: " Es ist der allmählich formulierte und schließlich stark betonte Ausdruck des eigentümlichen Gottesgedankens Calvins überhaupt." (S. 61 5, Z. 4-6) . Auf A 1 06 steht nach dem Satz: "It is not the selfish salvation of the creatu­ re 's soul and the universality of the divine will of Love that is of consequence, but the honour of God, who is glorified in the holy activity of the elect and in the impotent fury of the rejected." folgende Passage in den "Soziallehren": "Gott bietet in seinem Evangelium allen die Gnade an, aber in demselben Evangelium verkündigt er die Doppelheit seines Erwählungs- und Verwer­ fungsratschlusses, worunter die Vernunft sich zu beugen hat und was sie nicht klügelnd zusammenstimmen soll. So hatte auch Luther den verborge­ nen und den geoffenbarten Gott unterschieden, aber Luther hat sich schließ­ lich an den geoffenbarten neutestamentlichen Gott gehalten und die Speku­ lation verabschiedet. Calvin hat sie festgehalten und damit den ganzen Gottesbegriff umgestaltet." (S. 6 1 6, Z. 21-29) Auf A 1 06 steht nach der Pas­ sage: "the tempering of His saints;" in den "Soziallehren" die Passage: "und zum Beweis der Nichtigkeit der irdischen Welt" (6 1 7, Z. 1 4 f.) . Nach dem Satz: "He manifests Himself most intimately, but not exclusively, in the blessed­ ness of the justified, who may trust God in every circumstance, but must also in every circumstance do His service." (A 1 06 f.) steht in den "Soziallehren" folgende Passage: "So eifrig auch Calvin in seinen Briefen die Wege der gött­ lichen Vorsehung ausdeutet, so handelt es sich dabei nie um den Beweis für die Güte Gottes, sondern nur um die Leitung, Prüfung und Rettung der Kir­ che, während das Leiden an sich für diesen Heroismus kein Problem ist. Dem Alten Testament entspringt dieser Gottesgedanke nicht, außer etwa durch die Vermittelung des Paulus. Er entspringt vielmehr dem eigentlichen Wesen Calvins, bringt dann aber allerdings eine gewisse Wahlverwandtschaft mit dem Alten Testament mit sich." (S. 6 1 7, Z. 1 9-27) Nach dem Satz: "Justification is tested, not by fervour and depth of feeling, but by the energy and the consistent results of action." CA 1 07) steht in den "Soziallehren" eine längere Passage (S. 6 1 8, Z. 1 1 - S. 61 9, Z. 9), die in "Calvin and Calvinism" nicht enthalten ist. Der daran anschließende Überleitungs satz findet sich nicht in den "Soziallehren". Im Anschluß an den ersten Absatz auf A 1 08 finden sich die Seiten 620-621 der "Soziallehren" nicht im englischen Text. Im folgenden Absatz folgt im ersten Satz auf die Formulierung: "If the Lu­ theran doctrine of predestination" in den "Soziallehren" "und mit ihr der Gottesgedanke" (S. 622, Z. 1 f.) . Die Passage auf A 1 08 ("By means of this radiating" bis "instruments of a divine purpose") steht nicht in den "Sozial­ lehren". Auf A 1 09 folgt auf die Formulierung: "in this natural law" die Apposition: "ihnen innerlich überlegen" (S. 622, Z. 22) . Auf den Satz: "His obligation is not to hold to God, but, on the contrary, to be himself upheld

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by God." (A 1 09) folgt in den "Soziallehren" der Satz: "Er wird das neue, gottinnige Selbst nicht bewahren, sondern offenbaren müssen." (S. 623, Z . 14 f.) . Auf den Satz auf A 1 1 0, der mit der Formulierung endet: "but with a straightforward and conscious aim it organises consistently and systemati­ cally the work of preservation.", folgt in den "Soziallehren" eine längere Pas­ sage, die auf S. 623, Z. 24, beginnt und die ganze S. 624 beinhaltet. Auf den Satz, der mit "in spiritual and wordly conduct." (A 1 1 0) endet, folgt in den "Soziallehren" der Satz: "Aber dieser Gemeindegedanke ist auch nicht von dem Kirchen- und Gnadengedanken hergeleitet wie der lutherische, sondern von demselben Prinzip, das das Individuum zu verselbständigen scheint, nämlich von der ethischen Aufgabe der Bewährung und Auswirkung der Er­ wählung und von dem abstrakten Biblizismus." (S. 625, Z. 4--9) . Die Passage: "For Calvin the question was rather one of the production of the control and purity of the religious community for its own sake" (A 1 1 1) heißt in den "So­ ziallehren": "Calvin kam es aber nicht auf das allgemeine Priestertum, son­ dern auf die Bewirkung der Kontrolle und Reinheit der Gemeinde an" (S. 626, Z. 22-25) . Nach dem Satz auf A 1 1 2, der mit der Formulierung "with­ out entirely doing away with it." schließt, steht in den "Soziallehren" eine lange Passage (S. 627, Z. 24 S. 638, Z. 6) . Im englischen Text steht dagegen ebenfalls eine längere Passage (A 1 1 2 "It ist approximation" - A 1 1 3 "espe­ cially from the Old Testament.") . Im folgenden Satz steht die Passage: "sup­ ported by the belief in the formalistic validity of the Bible, which the second generation of Reformers possessed as a completed heritage from the first." nicht in den "Soziallehren". An den gleichen Satz anschließend folgt in den "Soziallehren" die Erweiterung: "er konnte auch hier glauben, gemeinsame reformatorische Sätze nur strenger und praktischer durchzuführen; auch war Calvin niemals durch die Schule des Mönchtums durchgegangen." (S. 638, Z. 9-1 2) . Nach dem Satz: "In all else it is a very active and living Protestan­ tism." (A 1 1 4) folgt in den "Soziallehren" eine lange Passage (S. 638, Z. 28 S. 642, ganze Seite) . Die Passage: "the distinction between the absolute law of Paradise and the relative natural law adapted to the sinful." auf A 1 1 4 steht nicht in den "Soziallehren" , an ihrer Stelle steht: "die christliche Deutung des Dekalogs als Gesinnungs- und Freiheitsgesetz, das auf die Kraft des heiligen Geistes zu seiner Verwirklichung rechnet" (S. 643, Z. 1 8-21 ) . In A 1 1 5 folgt auf den Satz, der mit "arising from faith" endet, in den "Soziallehren" der Zusatz: "im Ganzen der Persönlichkeit, im Gesamtumschwung der Bekeh­ rung" (S. 643, letzte Z. - S. 644, Z. 1 ) . Nach dem Satz auf A 1 1 5, der mit "average human morality." endet, folgt in den "Soziallehren" eine lange Pas­ sage (S. 644, Z. 9 - S. 666, ganze Seite) . Die hier anschließende Passage "In another respect" bis "different from that of Lutheranism" (A 1 1 5-1 1 7) steht nicht in den "Soziallehren". Auf die Formulierung: "An ethic of this kind im-

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plies" (A 1 1 7) folgt in den "Soziallehren" der Zusatz: "und damit kommen wir zu demjünften Punkt" (S. 667, Z. 1 f.) . Im selben Satz steht die Stelle: "to the honour of God" nicht in den "Soziallehren". Der Satz: "It is the ideal of the Middle Ages founded and elaborated anew" (A 1 1 7) steht nicht in den "Soziallehren". Auf A 1 1 8 steht im zweiten Satz die Passage: "in which the relation of individuals to one another and of individuals to the community is expressed on broad typical lines, and instinctively permeating and moulding all exceptional social forms. This sociological model is the Jifth point which throws light upon the peculiar nature of the religious idea of Calvinism." nicht in den "Soziallehren". An ihrer Stelle steht in den "Soziallehren": "ge­ nau wie Katholizismus und Luthertum ein solches entwickelt haben" (S. 667, Z. 21 f.) . Im folgenden Satz folgt auf die Stelle: "idea of personality in Calvi­ nism" in den "Soziallehren" die Formulierung: "wie bereits oben bemerkt" (S. 668, Z. 2) . Der Satz: "Here is truly an enormous individualism, an extra­ ordinary self-dependence on the part of the individual, with which the atti­ tude of the Renaissance and the broader differentiation of Western culture could easily make common cause." steht nicht in den "Soziallehren". Auf A 1 1 9 folgt im ersten Satz in den "Soziallehren" der Zusatz: "deren starkes Hervortreten im Calvinismus gleichfalls schon berührt wurde" (S. 669, Z. 17 f.) . Auf A 1 1 9 findet sich der der Satz: "God's will is from the very be­ ginning directed towards a sanctified community." ebenso nicht in den "So­ ziallehren". An seiner Stelle steht in den "Soziallehren": "Sie ist nicht ein Mittel der Auswirkung der Rechtfertigungsseligkeit, in welchem doch die be­ freite und ihres Gottes gewisse Seele sich nie ganz verausgabt, sondern sie ist der Zweck der Rechtfertigung und Heiligung, in welchen alle Energie der religiösen Erneuerung einströmen soll." (S. 669, Z. 23-28) . Die Schlußpas­ sage in "Calvin and Calvinism", die mit dem Satz: "Under these circumstan­ ces there is obviously no question of the division between private and public morality as in Lutheranism." (A 1 1 9) beginnt, steht ebenfalls nicht in den "Soziallehren ". Es erscheint plausibel, daß Troeltsch einen deutschen Text nach London schickte, der dort ins Englische übersetzt wurde. Wann dies geschah, konnte nicht ermittelt werden. Da Troeltschs Aufsatz im Oktoberheft 1 909 er­ schien, ist ein Manuskriptabschluß im Frühjahr, spätestens Sommer 1 909 wahrscheinlich. Die umfänglichen Ausführungen, die sich nicht im englischen Aufsatz fin­ den, sowie auch größere Abschnitte in "Calvin and Calvinism", die sich nur sinngemäß in den "Soziallehren" finden, lassen keine eindeutige Schlußfol­ gerung hinsichtlich der Genese des englischen Aufsatzes und des Calvinis­ mus-Kapitels der "Soziallehren" zu. Die exakte Entstehungsgeschichte des Calvinismus-Kapitels der "Soziallehren" konnte bisher nicht rekonstruiert

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werden. 1 3 Zudem ist die deutsche Vorlage des englischen Aufsatzes nicht überliefert. Es ist wahrscheinlich, daß Troeltsch als Textgrundlage für seinen englischen Aufsatz das im Arbeitsprozeß befindliche Manuskript der "So­ ziallehren" verwendete. Es erscheint auch plausibel, daß Troeltsch im weite­ ren Verlauf der Arbeit an den "Soziallehren" - die Arbeit am Calvinismus­ Kapitel beendete er im Juni 1 9 1 1 14 die Textfassung von 1 909 noch stark veränderte. Insofern läßt sich nicht entscheiden, ob die Textfassung des eng­ lischen Aufsatzes genau dem "Soziallehren"-Text mit Stand vom Frühjahr/ Sommer 1 909 entsprach und erst im weiteren Verlauf die Passagen, die nicht in "Calvin and Calvinism" stehen, eingearbeitet wurden. Es erscheint auch plausibel, daß Troeltsch den umfänglicheren "Soziallehren"-Text für den englischen Aufsatz überarbeitete, d. h. vor allem Kürzungen und textliche Zusammenfassungen vornahm. Umgekehrt läßt sich auch nicht ausschlie­ ßen, daß Troeltsch die Arbeit am Manuskript der "Soziallehren" für die Ab­ fassung des englischen Aufsatzes unterbrochen hat und einen eigenen Calvi­ nismus-Aufsatz für das "Hibbert Journal" geschrieben hat, der im weiteren Verlauf der Arbeit an den "Soziallehren" zur Textgrundlage des Calvinis­ mus-Kapitels wurde. Auch wenn letzteres zutrifft, läßt sich ex post sagen, daß die Arbeit am Calvinismus-Kapitel der "Soziallehren" im Frühjahr/ Sommer 1 909 schon weit vorangeschritten war. -

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Vgl . Friedrich Wilhelm Graf: "endlich große Bücher schreiben" (1 993) , S. 36-41 . Vgl. Brief Troeltschs an Stefano Jacini, 1 5 . Oktober 1 909, abgedruckt in: Gio­ vanni Moretto: Ernst Troeltsch e il modernismo (1 9 82), S. 1 73-1 76, hier S. 1 74 ..... KGA 1 8/1 9 . Hier schreibt Troeltsch, daß die "Soziallehren" "Ende 1 9 1 0 erschei­ nen" würden: "Ich arbeite eben noch am Calvinismus und hoffe bis Ostern, mit dem Täuferturn und dann mit dem ganzen Bande fertig zu sein." Zum weiteren Fortgehen der Arbeit vgl. Brief Troeltschs an den Verlag J. c. B. Mohr (paul Siebeck) , 1 5. Juni 1 9 1 1 , Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (paul Siebeck) , Tübingen: "Ich will Ihnen nun Mit­ teilung machen über meine Soziallehren. Die beiden letzten Abschnitte 1 .) Calvinis­ mus u[nd] 2.) Sekten sind fertig. Der letztere Abschnitt ist druckfertig. Der erstere der schon seit einem Jahr fertig ist, muß nun aber noch auf Grund neu erschienener Lit­ teratur verändert werden, wozu ich vier bis fünf Wochen brauchen werde. Wenn Sie wollen, können Sie das letzte Stück, die Sekten, j eden Tag bekommen." In s einem Aufsatz "Die Kulturbedeutung des Calvinismus", der im Oktober 1 909 erschien, spricht Troeltsch davon, daß die "Soziallehren" "in Bälde selbständig erschei­ nen" würden (unten, S. 1 49, vgl. auch unten, S. 1 5 5) . Das Manuskript der "Sozial­ lehren" wurde im August 1 9 1 1 abgeschlossen, vgl. Brief Troeltschs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 2. August 1 9 1 1 , Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (paul Sie­ beck) , Tübingen: "Anbei übersende ich Ihnen endlich das Manuskript meiner Sozial­ lehren. Es hat mich bis zum letzten Augenblick beschäftigt. Nun aber muß Schluß ge­ macht werden. Sonst wird es nie fertig."

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Editorischer Bericht

Ein Manuskript und Druckfahnen von "Calvin and Calvinism" sind nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Ü berschrift "Calvin and Calvinism" erschienen ist in: The Hibbert Journal. A Quarterly Review of Religion, Theology, and Philosophy, edited by L. P. Jacks and G. Dawes Hicks, London: Williams & Norgate, Volume 8, October 1 909 Juli 1 9 1 0, Nr. 1 (October 1 909) , S. 1 02-1 21 (A) . -

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Calvin and Calvinism. Professor Dr E. Troeltsch.

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Calvinism stands to Lutheranism as daughter to mother. Its original purport was none other than pure Lutheranism, incorporating the whole of Protes­ tantism, with the capacity of absorbing all one-sided tendencies into itself. It assimilated the leading idea of the Baptists, the practical social nature of the religious community, and simultaneously came into contact with Swiss re­ form; it secured the Lutheran doctrine of the sacrament against Zwingli by certain concessions to that doctrine, maintaining at the same time its original sense intact; it consummated, in conjunction with South Germany, the rig­ orous purification of religion from all Catholic ceremony, in which it was also at one with Zwingli, intending, however, merely to carry out more con­ sistendy Luther's axiom of conformity to Scripture. Following the ex ampie of Geneva itself, the centre of strictest doctrinal unity and discipline, Calvin thought he could, by arranging all peripheric peculiarities, weld the various countries and churches into the great body of general Protestantism. It was the resistance of German Lutheranism and the assertion of Anglican inde­ pendence which made Calvinism a peculiar Protestant creed. The entire capital, therefore, with which Calvin started out in his religious and theological work is of Lutheran origin. Calvin always set the utmost value on his harmony and personal relations with Luther. He recognised in Luther the founder and guide of the Reformation, while for Zwingli his I feelings of disagreement and reserve became more intensified. His conver­ sion he owed essentially to Lutheran influences, and his further progress was aided by Lutheran writings. As for the other influences brought to bear upon hirn, - the humanistic theology of reform, the purification of the Swiss churches, and the numerous Baptists in Strassburg, - Calvin hirnself traces all that was essential in them to Luther. Certainly in South Germany, particu­ larly in the awakening in Strassburg, it is Lutheranism, coloured by the unionist tendencies of Butzer, the municipal relations, the competition of the Baptists, and the influences of its neighbour Zurich; but none the less it is a positive Lutheranism. The principles of Luther are, then, the principles of Calvin. Calvin stands fast upon the Lutheran doctrine of justification and sanctification - in fact he, of all the reformers, gives to this doctrine the most systematic and purest expression. In the absolute depravity of sin and in the helplessness of the natural man, the certainty of grace and forgiveness vouchsafed by God in Christ is the conversion of the soul to joyful union with God, to moral strength and active work in God's service. On the other hand, this doctrine

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of justification and sanctification is, exactly as by Luther, riveted within the framework of the conception of a church. It obtains fulfilment only by means of the ecclesiastical institution of salvation founded by Christ, and provided with His word and sacrament as objective means of grace; and this institution engenders all subjective and personal religious life everywhere only by means of the Scriptures and the Christ of the Scriptures. Strictest ad­ hesion to the ecclesiastical means of salvation, sharpest insistence on the sac­ raments as objective divine agencies, emphasis upon continuity with the original Christian Church in contradistinction to the apostasy of the papacy, foundation of the Church on the Bible as the supernatural producer of fel­ lowship, creating faith and thereby authenticating itself, catholicity of the Church in so far as Scripture and sacrament are still anywhere accepted under the mask of error and false ceremony, I universal and uniform dominance of ecclesiastical truth in its attainable and governable territory, theocratic connection of Church and State, compulsory dominance of the pure doctrine, at least in its exterior recognition, strictest connection of Church and State in its fundamental internal variety, reception of worldly culture and Christian inspiration of the professional system of natural law, identification of the Decalogue and natural right and the convergence of positive right to both: all these ideas, along with the conception of the Church itself, are features of Calvinism in its essence. It takes them over as already complete, and is consequently free from the indecision in wh ich Luther had originally elaborated these conceptions; it provides them with that doctrinal consistency which, being the property of the men of the second generation, is already a firm inheritance of generations to come. Accordingly, all the peculiarities of Calvinism are developments of this body of belief, which is at one with Lutheranism. They are not on that ac­ count to be regarded as insignificant, but are, on the contrary, of the highest original import. They turn the religious idea of Protestantism into an entirely new channel, whose ultimate divergence from Lutheranism is, in the light of the very different nature of the latter, easily conceivable. The differences come to light essentially in regard to the conception of God, the fundamen­ tal religious conduct implied in that conception, and the peculiarly Calvin­ istic form of the social problem proceeding from it. The first and most important difference is the elaboration of the concep­ tion of predestination, the famous central dogma of Calvinism.1 Here, too, Calvin is the pupil of Luther, and his doctrine of predestination is in the first instance only the logical and systematic presentation of the fundamental

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Vgl. oben, S. 1 04, Anmerkung 2.

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element of Lutheran doctrine, and equally of an essential characteristic of Pauline teaching; and his strict obedience to the Bible rendered it for hirn an absolutely binding law. This is the element in Luther's doctrine by which the character of the reformed religion as based upon pure faith was safeguarded I from being blended with human thought and opinion. Faith was not human knowledge; it was knowledge produced by an absolute miracle on the part of God. Thus, at the same time, the human element in the form of all human deserts and of all personal human achievement was excluded, and the element of grace in the religion of faith was fully secured. Calvin's doctrine of predestination appears, then, to owe its importance in the first instance merely to the inherited acumen of the pupil who systematises his master's doctrine, and in doing so works out the central nerve upon which the whole depends. Calvin was, however, more than a mere pupil and successor. At the back of his doctrine of predestination there lay concealed, in addition, the conception of God which was peculiar to his personal religious conscious­ ness. Not the absolute miracle only, the supernatural nature and merciful grace of salvation, did Calvin look for and formulate in his conception of predestination. He further insisted upon the absolute sovereign character of God's will. The idea of grace was an idea of grace purely unmerited, and had absolutely nothing to do with a justice which a suffering creature could de­ mand from the Lord of the world. It was God's nature to bestow the gift of salvation upon some men freely and arbitrarily, without any merit on their part, and to prepare destruction for others as their sinfulness had deserved. No one could boast, and no one complain. As no one had any claim to be a man rather than a beast, so no one had any claim to be one of the elect and not one of the damned. God 's kingly and dominating will was the ground of all grounds and the norm of all norms. Grounds and norms there were which through God are valid, but none which have validity over Hirn or for Hirn. Perfectly freely and spontaneously He imposes His decree, and His law is the law of the glorification of Hirnself in the gratitude of the undeservedly blessed, and in the torment of the deservedly condemned. No longer, as in Lutheranism, are we met by the conception of Love as the central feature of the thought of God. Instead, I it is the conception of kings hip, according to which the imparting and awakening of love by God must be considered only as a means to the manifestation of God's majesty. According to this concep­ tion, God did not create the world out of need for the responsive love of His creatures. His plan of the universe had not been disturbed by the free will of His creatures, and salvation was not the universal bliss of every created soul restored by the miracle of redemption. Far from it. God's unfathomable will was the ground and the cause of the whole world-process. God had arranged the sin of Adam, and in His universal economy He makes use of the sinners

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and of the justified alike: the former to be a sign of His grace which vouch­ safes every good thing through His will alone; the latter to be a token of His wrath against unholiness and evil. It is not the selfish salvation of the crea­ ture's soul and the universality of the divine will of Love that is of conse­ quence, but the honour of God, who is glorified in the holy activity of the elect and in the impotent fury of the rejected. Herein is to be found a rich harvest of conclusions. Calvinism is from the very outset relieved of all the problems of a theodicy which lie so heavy upon Lutheranism, and which always lead back, in the establishment of the univer­ sality of the will of grace, to the question of the justice of God and the prob­ lem of a salvation which depends upon the accepting will of the created. There is room for the various purposes of God side by side: He manifests Hirnself in the gratia universalis, in every gift of reason and in the beauty of the world, to both the elect and the non-elect, and does not need in these gifts to aim merely at redemption; He manifests Hirnself in pain and in punishment, which are not merely me ans of education and of purification, but inflictions of His supreme will for the exhibition of His wrath and the tempering of His saints; He manifests Hirnself most intimately, but not exclusively, in the blessedness of the justified, who may trust God in every circumstance, but must also in every circum l stance do His service. In this way, to go further, the consequence of an absolutely practical ethical purpose in the conception of justification is forthcoming. For justification is not a Quietist folding of the hands in thankful bliss, but a means of and a spur to action. It is with an active God of volition that justification has to deal, not with a grace which merely forgives sins. He creates and bestows in election the certainty of for­ giveness of sins, to the end that the soul so freed should work to the service of God, and submit itself to be made by God the instrument of His being. By justification He makes men members of the body of Christ, and permeates them with the active spirit of Christ, constituting them soldiers and warriors of Christ and subjects of His kingdom. Justification is tested, not by fervour and depth of feeling, but by the energy and the consistent results of action. Finally, another valuation of the doctrinal element is contained in this con­ ception. The pure doctrine is not, as in Lutheranism, the exclusive property of the Church, on the ground that purity of doctrine is a guarantee of purity of faith, and that with this all further demands are met. The doctrine its not its own object; but precisely as faith is a hypothesis of correct conduct, so pure doctrine is also mereley a hypothesis and a means. This certainly implies in the systematic aim of Calvinism a further theoretical extension of the doctrine, which advances beyond the requirements of Lutheranism; but still the doctrine, in its universal systematic development, remains the means to the end, the hypothesis of that which is intrinsically valuable, Christian action.

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The conclusion is that Calvinism, with its forcible logic and its reception of the culture of Western Europe, maintains an intellectual level much in ad­ vance of Luther's doctrine, without concentrating to any such ex te nt upon doctrine and system. God is for the Calvinist irrational in the sense that He may not be measured by standards of human reason and logic; but He has bestowed reason upon man for the purpose of work here below and for the glorification of God. In this way even the most cultivated l and discerning reason and doctrine form only a means to superrational ends and a condition of action. If the Lutheran doctrine of predestination is thus developed in a new sense, the same is also the case in regard to the second leading idea, that, namely, of religious individualism. With Luther it was at bottom always a question only of the certainty of salvation and blessedness of the individual, produced by the certainty of forgiveness of sins, in relation to which, how­ ever, everything else was only the wider circle of activity proceeding from union with God - only an obvious consequence, not an essential purpose. By means of this radiating activity the individual was directed by an inner motive force and a freedom which was not subject to law: he submitted hirnself to the existing conditions of life and calling, and invented no special artificial conditions; he kept his body under constraint, assisted his neighbour in every need, and furthered the progress of the whole, but always without any compulsion of aim, without any religious purpose of salvation in the carrying out of the given precepts. Everything was a means merely, not an end. So the elect soul in its consolation of grace lagged behind in all action and never really took up the practical tasks of worldly life at all. These tasks it per­ formed as an ordinance of God, enduring them in pain and affliction as pun­ ishment for the sins and usages of earthly life, but it never devoted itself to them as to instruments of a divine purpose. In Calvinism all this is different. Calvin, too, accentuates the inner nature and disposition of all religious be­ lief, and its purely personal and individual character; he, too, rejects the mere faith in dogma and authority as weIl as the magic of the sacrament; he, too, derives the new life from faith. Yet, as it is not the salvation of the creature 's soul but God 's honour which is, for hirn, the central idea, so, too, it is the glorification of God in action wh ich is the real test of a genuine personal re­ ligion. The individual does not repose in his state of blessedness, nor indulge hirnself merely in a somewhat impersonal service of love, nor submit hirnself in other I matters merely in suffering and patience to natural law, lagging be­ hind in half-hearted participation. Much rather is it his wh oie intention to play his part in this natural law, and shape it to the expression of the Divine Will. By struggle and by work he helps to promote the sanctification of the world, always certain that he will never lose hirnself in it; for in everything he

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is only working out the will of God, which i s itself the source of strength for such an act. This is certainly not feasible for Lutheranism, believing as it does in the possibility of losing grace; and herein lies the sharpest difference in the two-sided interpretation of religious individualism, the Protestant religion of faith and character. Lutheranism does not think out predestination to its ul­ timate consequence, the impossibility of losing the state of grace, because, from the outset, it wished to secure the single activity of grace while ascrib­ ing evil to the human wilJ.2 Thus the task of the Lutheran became merely the preservation of the condition of faith and grace, the continual anxiety for the purity and solidity of a faith without works and without merit: all his care was directed to the cultivation of his own emotional life� the maintenance of the state of meritless bliss, and a code of ethics which resolved itself into nothing more than the retention of the state of grace, that could be lost by grievous sin or by self-confidence. Of this possibility of falling away from grace, and, by implication, of this anxiety, Calvinism knows nothing. Consequently, it has not to endure the mental tension of preserving the state of grace, nor does it in any way demand continual concentration on the personal life of emotion and will. The Calvinist knows that God's election cannot be lost, and will therefore have to direct his efforts, not to hirnself, but to the task o f fashioning the world and the community after God 's will. His obligation is not to hold to God, but, on the contrary, to be hirnself upheld by God. The reformed individualism therefore contains on all sides impulses to activity, to a full co-operation of the person with the tasks of the world and the community, to work of unceasing strenu l ousness and utility. It has not merely a deeper and more enduring foundation in religious metaphysics; nor does it suffer from the continual interruptions and relapses of Lutheranism, so tightlY self-fettered to the forgiveness of sins; but with a straightforward and conscious aim it organises consistentlY and systematically the work of pres­ ervation. We thus arrive at the third leading idea of Calvinism: the totally different importance of the conception of a religious community and the task of pro­ ducing its sanctification, combined with a Christian supremacy which shall glorify God in spiritual and worldly conduct. The Church is not merely an in­ stitution of salvation for the presentation of the objective means of grace, from which everything else is to be expected as a consequence, and in re2

An prominenter Stelle wird dieser Gedanke angeführt in der "Confessio Augustana" von 1 530. In Artikel XIX heißt es: "Von Ursach der Sunde wird bei uns gelehret, daß, wiewohl Gott der Allmächtig die ganze Natur geschaffen hat und erhält, so wirket doch der verkehrte Will die Sunde in allen Bösen und Verachtern Gottes". Zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1 992), S. 75.

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liance upon which the ungodliness of the world is to be endured in humility and patience. The institution of salvation is rather to be at the same time an institution of sanctification, whose effectiveness is evinced in bringing the life of the religious community nearer to the Christian standard, while em­ bracing the whole field of living action under the commandments and pur­ poses of Christianity. It is to perfect the necessary instruments by means of which the religious community can be formed in an its phases of church, family, civil, social, and economic life, in an private and public relations, in accordance with the divine spirit and teaching. It is the complete develop­ ment of the ideas upon which Luther touched in the years of unsettlement and local reform, but which he was obliged to drop for want of actual Chris­ tians. All the same the aim is here somewhat different, and more capable than the ideas of Luther were of practical realisation. For Luther, in consequence o f his insistence beyond all else on freedom and personality, it was a question of the inferences to be drawn from the principle of universal priesthood3 - a question of the self-government and administration of the religious commu­ nity, whereby that community would be enabled to complete the means of self-control and discipline, but all this in absolute freedom. Yet while it was for him essentially a I question o f the universal priesthood, he shrank from putting this principle into effect through the revolutionary democratic movement for the sole securing of pure preaching by the law of the land. For Calvin the question was rather one of the production of the control and pu­ rity of the religious community for its own sake; and so strongly convinced was he of the necessity of this that he never doubted he could find for it in Scripture, as well as for his dogma, the basis and indications needed. Thus, precisely after the manner Luther had developed the dogma, he, on his part, developed also the constitution and Christian form of the religious commu­ nity, out of Scripture. Scripture contained for hirn, besides justification and predestination, the constitution of the Church in the famous four offices of pastors, doctors or theoretical theologians, deacons or ministers to the poor, and disciplinary justices who should be constituted out of the pastors and chosen ecclesiastic representatives of the religious community.4 The start­ ing-point being found in the ethical interest of sanctification, and in the bib­ lical directions instead of the demands of universal priesthood, security was given against every democratic and revolutionary misuse, and against an re3 4

Vgl. oben, S. 72, Anmerkung 1 3. Vgl. Johannes Calvin: Institutio Christianae Religionis (1 864) , librum 4, caput 3, Sp. 776-787, deutsche Ausgabe: Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Reli­ gion (1 963) , 4. Buch, 3. Kapitel, S. 7 1 4-724.

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ligious subjectivism; and the share, within these limits, which the religious community was required to take in the confirrnation and acceptance of the ministers proposed to them by the executive ecclesiastical board, in the choice of the deacons, and in questions of seniority and discipline, pre­ scribed for the universal priesthood and for religious subjectivism a part which, without any loss and without any danger of infringement upon worldly democratic effort, could weIl be accorded. Luther 's principle of hav­ ing no biblical dogmas for ethics and church constitution, and of leaving all in these matters to free development, coupled with his rejection of any further ethical purpose than the blessedness of j ustification, had rendered for hirn an escape by this door impossible. He was compelled to give up his idea of a religious community sketched out solely by the general priesthood and resigning to this priesthood its particular formation: he had to fall back upon the I objectivity of the ministry, which was only threatened, but not furthered, by class-emancipation and discipline in the religious communities. For Calvin, however, there was here no contradiction. By his interpretation of the function and constitution of the religious community both were satis­ factorily settled, since the same Scripture which attested itself to faith as dogma procured consent to the moral and constitutional ordinances, and by so doing placed the universal priesthood from the very beginning under the most effective limits without entirely doing away with it. It is an approximation to the notion of a sect while maintaining the char­ acter of an ecclesiastical institution. Only, Calvin's approximation to the idea of sect is quite different from that which Luther tried to establish. Luther, after the quick rejection of his scheme of forming holy religious commu­ nities or a still narrower actually Christian circle within these communities themselves, approached the idea of sect only in so far as it typified the sects which suffer and endure in obedience to the Sermon on the Mount.5 For hirn

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Vgl. etwa Martin Luther: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schul­ dig sei (1 523) , hier zitiert nach: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 1 1 . Band (1 900) , S. 259: "Aus dißem allen folget nu, wilchs der rechte Verstand sey der Wort Christi Matt. 5. ,yhr solt dem ubel nicht wider streben' ee. Nemlich der, das eyn Chri­ sten sol also geschickt seyn, das er alles ubel und unrecht leyde, nicht sich selb reche, auch nicht fur gericht sich schuetze, Sondernn das er aller ding nichts beduerffe der welltlichen gewalt und rechts fur sich selbs. Aber fur andere mag und sol er rache, recht, schutz und huelffe suchen und datzu thun, wo mit er mag. AIßo soll yhm auch die gewallt entweder von yhr selb oder durch anderer anregen on sein eygen klage, su­ chen und anregen helffen und schuetzen. Wo sie das nicht thutt, soll er sich schinden und sehenden lassen und keynem ubel widderstehen, wie Christus wortt lautten. Und sey du gewiß, das diße lere Christi nicht eyn radt fur die volkomen sey, wie unßer So-

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it was the truly Christian ethics of the individual which he combined with the ethics of the national and established church only by placing alongside of it the ethics of office as in right, power, and authority an active duty required and confirmed by God, and by treating this double ethic as a free conse­ quence of the confidence exercised by the institution. Calvin, for his part, ap­ proached the notion of sect on its strong, dominating, and social reform side by adopting the idea of holy religious communities and of the enforcement of their sanctity. He extends this sanctity over the whole range of life, admit­ ting into it professional conduct, the recognition of worldly superiority, and requires the retention of the weak and unconverted. Geneva is a parallel to the kingdom of the saints in Münster, but immeasurably more con­ siderate, substantial, and profound. The idea of a kingdom of saints and of Christian government is Calvin's too. Only, the difference lies in adhesion to the established church, the national church, and to the worldly morality o f I business vocations. O n the one hand, that was possible for Calvin in consequence of his doctrine of predestination, which did not make all sub­ j ective achievement and holiness depend upon the exertions of the individ­ ual, thus implying that religious communities did not consist in the mere assembling of individuals, whilst still emphasising achievement and the individual in the strongest possible way. Further, his doctrine allowed hirn actually to recognise the difference between converted and unconverted, and yet to avoid the consequences of a separation of the two. Since we cannot know who is elected and in whom the election will iater appear, we must treat every one as elect, impute to all faith in their election, and unite all in fellow­ ship, either in the hope that their election will one day become manifest, or else for the purpose of controlling and subordinating the non-elected sinner. On the other hand, it was possible for hirn because he drew the requirements of the Christian moral law not solely from the Sermon on the Mount, but from the whole Bible, and more especially from the Old Testament. As Luther, to find justification for his ethics of the worldly vocations, had al­ ready gone back more and more to the Old Testament, so also to the full ex­ tent does Calvin, supported by the belief in the formalistic validity of the Bible, which the second generation of Reformers possessed as a completed heritage from the first. Thus he was enabled to lay the foundation of an ethic phisten lestern und liegen, sondern eyn gemeyn strengs gepott fur alle Christen, Das du wissest, wie die altzumal heyden sind unter Christlichen namen, die sich rechen odder fur gericht und yhr gutt und ehre rechten und zancken. Da wirt nicht anders auß, das sag ich dyr. Und kere dich nicht an die menge und gemeynen brauch. Denn es sind wenig Christen auff erden, da zweyfel du nicht an, datzu ßo ist Gottis wortt ett­ was anders denn gemeyner brauch." Vgl. auch unten, S. 254, Anmerkung 53.

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of sanctification for the discipline of his religious community and for the or­ ganisation of the State: an ethic which for strictness might weIl be compared to that of the Baptists, but which did not lay down as universal law the ethic of Love taught in the Sermon on the Mount - an ethic that was for society in general so radically impossible. Herein lies the real source of the so-called Old Testament character of Calvinism.6 It is the same motive which formerly drove the strongly reforming sects to the Old Testament, to their warfare for God and for His covenants. Wh at we have here is not a revival of the Jewish legal code, but of the Old Testament I regard for the practical life of the people. Nor has this ideal of sanctified religious communities anything to do with the lapses into Catholicism. It is an ideal based on the notion of sect, coupled with an established church, and raised by forcible use of the Old Testament ta the level of possibility. In aH else it is a very active and living Protestantism. In what has been said we have already touched upon the fourth point, the peculiar nature of Calvinistic ethics. Basing ethics, in common with Luther, upon faith, that basis was at first simply strengthened, and instead of being a mere consequence, ethics was made to serve the purpose, of justification, - a mode of procedure which, starting with the assumption of the doctrine of predestination without any relapse into sanctification by works or thought of reward, was quite admissible. Further than that, the regulation of Christian ethical conduct was more sharply defined, since the Holy Spirit had from the very outset, in a clear, distinct manner, presented as means to this end the moral law of the Bible, the Decalogue, with its explanation in the light of the whole contents of the Bible and in its identity with the natural moral law. Even Lutheranism could not stap with the mere free impulse to action, but had recognised in the Decalogue the divine elucidation of the moral impulse and had developed its theory from the Decalogue, from the two tables of the law, from the identity of the divine and the natural law, the distinction be­ tween the absolute law of Paradise and the relative natural law adapted to the sinful. All these theories Calvinism took over. It gave, however, to the Deca­ logue a firmer place in its system, inasmuch as the usus legis was for it, not a problem full of subtle distinctions, but a self-evident central theory. Why should the Holy Spirit be deprived in Ethics of that clearness which He pro­ duced in Dogmatic, when the Bible supplies ethical as weH as dogmatical di­ rections? That would be, from Calvin's point of view, a relapse neither into heteronomy nor into a legal code, for in this law the content of faith is ex­ plained only on its ethical side, and the value of moral progress lies not in

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Vgl. unten, S. 279 f., Anmerkung 82.

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particular I works but in the mental attitude arising from faith. I n the Deca­ logue the Holy Spirit enlightens the elect upon the rules of conduct leading to the realisation of Christ's kingdom - rules which could not be relegated to merely blind impulse and natural emotion. Here, too, Calvin is only the more systematic thinker and the more practical organiser, who takes no doubt a step out of the free idealism of Luther into the restricted domain of average human morality. In another respect as well - in respect, namely, to the much discussed rig­ our and asceticism of Calvinism - the latter is merely a finer edge put upon Lutheran propositions, and a more organic adaptation to the whole thought and purpose of salvation already dimly outlined. Lutheranism also sought after a Christlikeness which should be in the world and overcome the world; Lutheranism also was an asceticism practised within the field of business ac­ tivity, but not fastened down to earthly objects. By its rejection of persever­ ing grace, and its admission of continual relapses, breakdowns, and dangers, it made, however, no provision for a consistent organisation of conduct for the purposes of Christ's kingdom and of the blessedness of the life to come which was unfolded in Christ; it was continually driven back upon the mere protection of the faith. Worldly professional regulations were for it forms for submissive acceptance, in which faith must attest itself, and to which it as­ signed no inner meaning for the realisation of the Christian ideal oflife itself. In Calvinism, on the other hand, there are no such interruptions, but con­ duct is put under a strict organisation: for Calvin business callings are not merely forms of work, but means towards the ideal of Christian life, towards the production of Christ's royal kingdom. And so it comes about that by means of an intimate relationship of all conduct to a goal beyond this world, Calvin's ethics appears, on one hand, much more rigorous and ascetic than Luther's. Self-renunciation, concentration on the life to come, interpretation of life as a warfare for Christ,7 play a much greater, and above an a more I central, part than in Lutheranism. O n the other hand, worldly conduct has 7

VgJ. Johannes Calvin: Institutio Christianae Religionis (1 864) , etwa librum 3, caput 25, Sp. 733 f. : "Ergo exemplo Pauli (2 Tim. 4, 8) alacriter iam triumphemus inter medias pugnas, quod potens sit, qui nobis promisit futuram vitam, servare depositum; atque ita gloriemur repositam esse nobis coronam iustitiae, quam reddet nobis iustus iudex." Deutsche Ü bersetzung: "Deshalb wollen wir nach dem Vorbild des Paulus bereits mitten in allen Kämpfenfroh/ich triumphieren, weil der, der uns das zukünftige Leben verheißen hat, auch mächtig ist, uns zu bewahren, was uns beigelegt ist! (2. Tim. 1 ,1 2) . Und so wollen wir uns rühmen, daß uns ,die Krone der Gerechtigkeit beigelegt' ist, die uns ,der gerechte Richter geben wird'! (2. Tim. 4, 8) ." Zitiert nach: Johannes Cal­ vin: Unterricht in der christlichen Religion (1 963) , 3. Buch, 25. Kapitel, S. 670.

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also a much more direct relation to and connection with the Christian end of life, inasmuch as the sanctification of worldly life, the practical act of self-re­ nunciation in the service of one 's calling, and the systematic, consistent con­ duct of life, all lead to an end in a world beyond this. Calvinism is severer and stricter than Luther 's opportune world-joyousness, and yet it is more active in its reception of the worldly life into Christian ethics. All this is due to the sharper insistence upon the ethical aim, which, on one hand, completely sub­ ordinates the world to a mere means, but, on the other, assigns to this means its value for the attainment of the end in view. A most important peculiarity of Calvinistic ethics lies finally in the distinc­ tive acceptation of natural law as identical with the Decalogue.8 Here, appar­ ently, all the forms of the ethical doctrine of Luther and Melanchthon are taken over. The identification in question is, as with them, the means of em­ bodying political and business knowledge, domestic and economic ethics, in the ethics of Christianity, of uniting Old and New Testament with Aristotle and Cicero, and of deducing from the Decalogue an all-embracing ethics of the inner life, which can only be inspired with the Christian spirit. But the point of view adopted in the interpretation of the natural law itself is differ­ ent. In Lutheranism the view was developed, under the influence of Luther 's authoritative and conservative manner of thought, of the natural law as an ir­ rational law of force, according to which the various authorities which had, under God 's guidance, arisen in the course of his tory were to be regarded as of God 's ordinance and foundation, meriting absolute respect and sub­ mission in virtue of their authority, without any right to resistance, and with­ out any regard for rational claims of the individual, consequently also with­ out any share on the individual 's part in the construction of such authority. In contradistinction thereto, Calvin held firmly to the old rationalistic I interpretation o f natural law, according to which the State and society come into existence through the purposive, active reason of the individual, to whose claims and needs attention must be paid, and which must be continually regulated upon the basis of this ideal. Calvin personally limited such criticism and reorganisation very carefully to the properly constituted courts, prescribing for the lower magistrates the law relating to resistance and reform only on the refusal of the genuine superior authority to administer it, and thus favoured a personal and aristocratic spirit. But in his rational natural law are contained the consequences of an estimate of institutions by the rational claims of the individual, and of the participation of the individual in

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Vgl. ebd., librum 2, caput 8: Legis moralis explicatio, Sp. 266-309, deutsche Ausgabe: 2. Buch, 8. Kapitel: Auslegung des sittlichen Gesetzes (der Zehn Gebote), S. 2 1 8-255.

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the formation of their authority. All the more are these consequences con­ tained therein when it is remembered that, for Calvin, Christian ethic pre­ scribed not the mere recognition and endurance of worldly authority, but the formation and maintenance of a reigning authority which should correspond to the Christian end of life and to the word of God. This gave, however, to the whole of Calvin's social ethics a direction totally different from that of Lutheranism. An ethic of this kind implies the united social body, the body Christian, which is built up to the honour of God in a different but not separate work­ ing of spiritual and worldly contro!. As in Catholicism and in Lutheranism, we are still ieft with the idea of Christian education, of Christian society, of the compulsory unity of faith. It is the ideal of the Middle Ages founded and elaborated anew. In Lutheranism it was the voluntary service of Love ren­ dered through the powers of natural law, whose entire direction was towards justice, pe ace, and order, for the purely spiritual institution of salvation, which must be equipped by the State with its instruments and supported by the State in the realisation of its spirit. In Calvinism it is the obligatory uni­ fied application of superior authority recognising its Christian and natural duties from reason and the Bible, in co-operation with the independent Church, capable o f action o f its own, presiding over its I own organisations for the Christianisation of society, and working along with the State in one common purpose to fulfil the word of God. In all cases it is a uni ted living and social wh oie, which in matters worldly and spiritual is inspired by one common ideal, thereby possessing an all-embracing and fundamental socio­ logical model, in which the relation of individuals to one another and of individuals to the community is expressed on broad typical lines, and instinc­ tively permeating and moulding all exceptional social forms. This sociologi­ cal model is the Jifth point which throws light upon the peculiar nature of the religious idea of Calvinism. Under the operation of its whole structure of religious thought, the idea of personality in Calvinism stands out in quite a different manner than does that idea in Lutheranism. Not humble devotion of self to God, and chari­ table devotion of self to one's neighbour, but the strongest personal value, the high sense of having a divine mission in the world, a grace-given prefer­ ence over thousands, and an immeasurable responsibility, are wh at engross the soul of the man who, in the complete solitude of his inner self, experi­ ences and succeeds in working out the grace which is his tide to election. Here is truly an enormous individualism, an extraordinary self-dependence on the part of the individual, with which the attitude of the Renaissance and the broader differentiation of Western culture could easily make common cause. Only, this idea of personality, which is rooted in the conception of pre-

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destination, is not to be confused with modern democratic individualistic conceptions. Predestination implies the call of the best, of the sanctified, of the minority, to dominion over the sinners, the majority. It comprises the treatment of the existing conditions of life and authority, if not contradictory to Scripture, as disposals of the divine will, which man should accept with glad submission. But within these limits Calvinism possesses a valuation of the personality of the elect which reminds us throughout of Kant, while Luther remained much more within the cirde of the mystics. I With this strong insistence on personality, the idea of fellowship also assumes peculiar complexion. Fellowship is not produced, as in Lutheranism, merely indirectly out of the conditions of the corporeal world, out of the existing ordinances of natural law, and out of the invisible working of the visible doctrine and practice of the sacrament, but directly out of the very pre­ destinating will of God Hirnself. God's will is from the very beginning directed towards a sanctified community. Isolated though an individual may be in the time preceding the working-out of his election, this doctrine of pre­ destination itself brings hirn at once back into a fellowship which is mutually supporting, enduring, criticising, and improving, and such fellowship is, in every case, as in Israel's, defined to be a fellowship of the people. God concludes a covenant with every nation and demands mutual loyalty, educates by judgments and by visitations, and gives His word to make known His will. The individual nations and churches are related to one another in dose con­ nection and reciprocal action, where all stand for one, and one for all. An in­ ternational religious politic is to be found underlying Calvin's ideal; a covenant of Christian peoples, in which every people in its own cirele realises the idea of the divine state, - that is God's will, when rightly interpreted in the light of the Bible. Under these circumstances there is obviously no question of the division between private and public morality as in Lutheranism. The streams of indi­ vidual life empty themselves on every side into the ocean of Christian unity, and every Christian is obliged to regulate his conduct with circumspection to the good of his fellows. The individuals retain the right of approving the pas­ tors proposed for them; may put their knowledge of the Bible to good account in Bible-instruction, even in opposition to the pastor - indeed, in emergency it is their right and moral duty to re mind the existing authorities of God's word, either by their representatives or, if the worst come to the worst, themselves, and to I enforce obedience to Scripture. Before the disciplinary justices there is no respect of persons: the presidency of the preachers' board changes every week; all offices are duties, but none are privileges. The situation is reversed. It is the whole wh ich has to take care of the individual, partly directly by means of the charitable activity newly organised by

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the religious community, partly indirectly by an appropriate and reasonable organisation of the civil and social whole. It is a socialism without democracy and without communism, a socialism in the sense which the Old Testament prophets had in mind. Every man is to stand for hirnself, and yet every man is to be at one with his fellow from feelings of obligation and compassion. In this common life every man is to have his honour, his maintenance, and his right cared for by Church und State alike. Ministry to the sick is a function of the Church, wh ich has to contend with insufficiency of work and objection to work by means of special arrangements, and which provides a large number of officers with employment. All luxuries, prices, and provisions for emergency, even the rate of interest, are to be j ointly settled in Geneva by ec­ clesiastical and civil powers. But more especially aB moral injunctions and the management of police control in matters of morality, the extension of education and the fear of God in aB religious communities, are to be a com­ mon care of the governing powers. If we are aBowed to treat the sociological scheme of Catholicism as a union of religious and rationalistic individualism with the social and ecclesi­ astical authoritative conditions of the Fathers, to treat Luther's scheme as a radical mystic individualism in its inner thought and an unconditional patri­ archalism in the actual relations of the external life, we may call the scheme of Calvinism a socialism of mutual responsibility - the responsibility of every individual for the whole and of the wh oIe for every individual, and further of the individuals for one another. This last is of course fulfilled according to the nature of the particular positions which every one takes up in regard to another in business, office, or work, l and is interpreted in a patriarchal aristocratic sense, yet always in such a way that aBowance is made for the initiative of each individual. So we find that it is not till Calvin that we can speak of Christian social reform and social construction, in so far as we ' mean the conscious uni ted work of Christian society. Before Calvin there had been the sects and the radical ethic of Love, since the time of the original community in Jerusalem. But in every case the practical application of the conception had not been forthcoming, nor its adaptability to the masses, nor its introduction to practical use in the arrangements of the world. In this resemblance to a Christian social constitution lies the most unique of the religious ideas of Calvinism. From what has been said it is quite clear whence the speciaBy character­ istic features of Calvinism, which pass beyond the common rigid Lutheran capital of Protestantism, originate. They originate, namelY through the ' agency of Strassburg and of Butzer, from the pietist and Puritan currents of the Reformation period, and also from elements akin to the notion of sect, partly no doubt from the impression made by the practical earnestness of the

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strongly developed Baptist body in Strassburg. Calvin's exceptional power of discernment and force of will made it possible to unite these tendencies into one whole with the Lutheran conception of justification and with the dogma of predestination which sprang from his own absolutely personal religious consciousness. In this whole he has not got rid of all contradictions and all tension, but he has created the overwhelming impression of a tremendous unity of mi nd and will. Thus, then, Calvinism arose, the peculiar character­ istics of which were, beyond all, so fruitfully unfolded in the political and so­ cial life of Western Europe. E.

Heide/berg.

Troe/Iseh.

Die Kulturbedeutung des Calvinismus

Editorischer Bericht Der Edierte Text geht zurück auf eine Artikelserie, betitelt "Kalvinismus und Kapitalismus", des Kieler Historikers Felix Rachfahl, die im September und Oktober 1 909 in der Zeitschrift "Internationale Wochenschrift für Wis­ senschaft, Kunst und Technik" erschienen ist.1 In diesem Beitrag setzte sich Rachfahl kritisch mit den Positionen von Max Weber und Ernst Troeltsch auseinander.2 Auf diesen Angriff antwortete zuerst Max Weber mit seinem Beitrag "Antikritisches zum ,Geist' des Kapitalismus". Webers Aufsatz er­ schien unmittelbar auf Rachfahls Beitrag im Januar 1 9 1 0 im 1 . Heft des von Weber mitherausgegebenen "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpoli­ tik".3 Eingangs gibt Weber darüber Auskunft, daß Troeltsch "am gleichen Ort" wie Rachfahl auf dessen Kritik "antworten" werde.4 Es wäre, so Weber weiter, "das Natürlichste und [ . . ] Zweckmäßigste gewesen", wenn er auch "an der gleichen Stelle" antworten würde, aber er "fühle" sich "leider, trotz aller Schätzung des namentlich als Leiter der ,Deutschen Literaturzeitung' verdienstvollen Herausgebers" (gemeint ist Paul Hinneberg) , "behindert".5 Ü ber "gewisse redaktionelle Gewohnheiten" der "Internationalen Wochen­ schrift", denen er sich sonst "nicht anzupassen geneigt sein würde", hätte er hier, "wo es sich um bloße Polemik handelt, natürlich ebenso, wie .

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Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3, Nr. 39, 25. September 1 909, Sp. 1 2 1 7-1 238, Nr. 40, 2. Oktober 1 909, Sp. 1 249-1 269, Ne. 41 , 9. Oktober 1 909, Sp. 1 287-1 300, Ne. 42, 1 6. Oktober 1 909, Sp. 1 3 1 9-1 334 und Nr. 43, 23. Oktober 1 909, Sp. 1 3471 336. 2 Vgl. die Einleitung, oben, S. 31-46. 3 Zur Datierung von Webers Aufsätzen gegen Rachfahl vgl. die Einleitung von M. Rai­ ner Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in: Max We b e r : Briefe 1 909-1 9 1 0 (1 994) , hier S. 6. 4 Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus ( 1 9 1 0), S. 1 76. 5 Ebd., S. 1 76.

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Die Kulturbedeutung des Calvinismus

E. Tröltsch es tut, hinweggesehen".6 Aber, so Weber, "die Redaktion" habe "es vorgezogen, gegenüber diesem fast ganz gegen mich gerichteten Artikel lediglich meinem nur nebenher betroffenen Kollegen Tröltsch anheimzustel­ len, ob eine Antwort beliebt werde".7 "Auch diese Unhöflichkeit" hätte er ignoriert, wenn nicht Rachfahl die "Gepflogenheit" hätte, ihn und Troeltsch als "Kollektivität zu behandeln", um beide damit "für einander verantwort­ lich machen zu können, - was den Vorteil bot, daß wirkliche (oder angeb­ liche) Irrtümer des Einen den Andren mitzutreffen scheinen".8 Angesichts dieser "wenig loyalen [ . . . ] Praxis" erschien es Weber "zweckmäßig, auch äußerlich" seine "eignen Wege zu gehen".9 Daß die Redaktion der "Inter­ nationalen Wochenschrift" zuerst an Troeltsch herangetreten ist, liegt wohl darin begründet, daß Troeltsch auf dem Titelblatt neben einer Vielzahl der renommiertesten zeitgenössischen Wissenschaftler als "ständiger" Mitarbei­ ter aufgeführt wird.lo Troeltschs Antwort auf Rachfahl erschien am 9. und 1 6. April 1 9 1 0 unter dem Titel "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" in der "Internationalen Wochenschrift". Hier verweist Troeltsch auf den zu diesem Zeitpunkt be­ reits erschienenen Aufsatz Webers.l l Auf Webers und Troeltschs Replik antwortete Rachfahl mit dem Beitrag "Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus", der am 28. Mai, 4. Juni, 1 1 . Juni und 1 8. Juni 1 9 1 0 ebenfalls in der "Internationalen Wochenschrift" veröf­ fentlicht wurde.1 2 Darauf reagierte Weber abschließend mit seinem Aufsatz "Antikritisches Schlußwort zum ,Geist des Kapitalismus' '', der im Septem­ ber 1 9 1 0 im 2. Heft des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschien. Troeltsch verzichtete auf eine weitere Replik.B

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Ebd., S. 1 76. Ebd., S. 1 76. Ebd., S. 1 76. Ebd., S. 1 76 f. Troeltsch wird noch nicht in der Eröffnungsnummer der "Internationalen Wochen­ schrift" vom 6. April 1 907 als ständiger :Mitarbeiter aufgeführt, erst seit dem 3. April 1 909 (vgl. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3, 1 909, Nr. 1 4) . S. unten, S. 1 5 1 . Vgl. Felix Rachfahl: Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus, in: Internationale Wo­ chenschrift für Wissenschaft Kunst u. Technik 4, Nr. 22, 28. Mai 1 9 1 0, Sp. 689-702, Nr. 23, 4. Juni 1 9 1 0, Sp. 7 1 7-734, Nr. 24, 1 1 . Juni 1 9 1 0, Sp. 755-768, und Nr. 25, 1 8. Juni 1 9 1 0, Sp. 775-796. Vgl. die Einleitung, oben, S. 45.

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Editorischer Bericht

Wann Troeltsch seinen Beitrag verfaßt und an die "Internationale Wo­ chenschrift" geschickt hat, konnte nicht ermittelt werden. Ein Manuskript und Druckfahnen sind nicht überliefert. Ediert wird der Text, der unter der Ü berschrift "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" erschienen ist in: Inter­ nationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, hg. von Paul Hinneberg, Berlin: August Scherl, 4. Jahrgang, Nr. 1 5, 9. April 1 9 1 0, Sp. 449-468, Nr. 1 6, 1 6. April 1 9 1 0, Sp. 501-508 CA) . Die Fußnotenangabe, die im Original mit dem Zeichen * vorgenommen ist, wurde in vorliegender Edition geändert. Troeltschs Fußnoten sind fortlaufend gezählt. Der Abdruck des Textes in GS IV wird in vorliegender Edition nicht be­ rücksichtigt.14 Hans Baron änderte in seinem Abdruck die Anmerkung auf S. 786. Die Anmerkungen auf den Seiten 795 und 798 gehörten ursprünglich in den Text. Auf den Seiten 799 und 80 1 änderte Baron die Absatzeinteilung.

14

Vgl. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: GS

IV,

S. 783-801 .

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Die Kulturbedeutung des Calvinismus. Von Ernst Troeltsch, Professor an der Universität Heidelberg.

1. A 449

In einer Abhandlung über "Kalvinismus und Kapitalismus" hat Felix Rach­ fahl in Nr. 39 ff. des vorigen Jahrganges dieser Zeitschrift sich gegen Max Weber und mich gewendet. Er hat gleichzeitig dabei v. Schulze-Gävernitz, Gothein und v. Schubert gestreift und sie, wenigstens mit ihren dieses Thema berührenden Sätzen, unter das gleiche Urteil gestellt. t Es ist also eine Art Kollektiv-Verurteilung, bei der freilich Max Weber und ich allein aus­ drücklich vernommen werden. Nun hat in der Tat eine besonders glücklich sich ergänzende Arbeitsge­ meinschaft in Heidelberg eine Anzahl von Gelehrten zu verwandten wissen­ schaftlichen Neigungen und Problemstellungen geführt.2 Sie verknüpfen sich in dem Interesse an soziologischen Problemen. So schwankend die De­ finitionen der Soziologie sind, und so chaotisch bis j etzt noch die Methoden durcheinander gehen, so unzweifelhaft ist doch schon heute die ganze Ein­ stellung des Interesses und des Horizontes auf diese Betrachtungsweise von der fruchtbarsten Wirkung, sowohl auf die historischen als auf die systema1

Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 2 1 7 f., zählt zu den wei­ teren Befürwortern der Weberschen "These von der Herkunft des kapitalistischen Geistes aus der kalvinistischen Berufsethik" Eberhard Gothein mit seiner Schrift "Staat und Gesellschaft des Zeitalters der Gegenreformation" (1 908) , hier die An­ gabe S. 226: "Auf protestantischer Seite hat Calvin entsprechend den Verhältnissen seines Genf, das als kaufmännische Emigrantenkolonie auf Kapitalerwerb und Fern­ handel angewiesen war, kurz und klar die Produktivität des Kredits und die Zulässig­ keit des Zinses erklärt. Es war das erste Zeichen, daß aus dem Geist des Calvinismus der Geist des Kapitalismus hervorgehen werde." Hans von Schubert wird mit der Calvin-Rede von 1 909 genannt, hier zitiert nach der Separatausgabe, S. 32: ,,[ . ] und endlich hat man jüngst mit Recht den ,Geist des Kapitalismus', den Kern moderner Wirtschaftsgeschichte, abgeleitet aus dem entschlossenen Individualismus der Puri­ taner mit ihrer ,inneren Askese', die sich ökonomisch darstellt als Sparzwang bei vollster Ausnützung der Arbeitskraft". Die "Darstellung", die Gerhart von Schulze­ Gaevernitz in seiner Studie "Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts" (1 906) "von den Grundlagen der britischen Weltmacht gibt, ist ganz beherrscht von der Weberschen These" (Sp. 1 294) . Vgl. auch weiter unten, Sp. 1 323, wo Rachfahl von dem "der Weberschen These unbedenklich beipflichtende [n] Schulze-Gävernitz" spricht. Zum Eranos-Kreis s. die Einleitung, oben, S. 4-9. .

2

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Erstes Kapitel

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tischen Disziplinen. Derartige Interessen und Fragestellungen sind es, die bei den genannten Forschern mitunter besonders deutlich hervortreten. Selbstverständlich soll nicht gesagt sein, daß die soziologische Befruchtung des I wissenschaftlichen Denkens grade dieser Südwestecke Deutschlands eigentümlich sei, die Bewegung geht allenthalben durch die ganze Wissenschaft. Aber wie es bei jungen wissenschaftlichen Richtungen zu geschehen pflegt, wo fertige Lehrbücher und überhaupt eine große literarische Tradition noch nicht vorliegen, so hat allerdings der persönliche Austausch der Gedanken und die Zufälligkeit der persönlichen Nähe eine gewisse Bedeutung, die denn auch in den Arbeiten selbst erkennbar wird. Vielmehr soll damit nur erklärt werden, wie es zu einer derartigen auffallenden Kollektivpolemik kommen konnte. Von einem solchen Gedankenkreis aus ist es neben vielem anderen ein besonders brennendes Problem, das Verhältnis des realen, wirtschaftlich­ sozialen "Unterbaues" der neuzeitlichen Entwicklung zu ihrem ideologi­ schen wissenschaftlich-ethisch-religiösen " Ü berbau" klar zu machen, eine Fragestellung, die durch das geschichts-philosophische Dogma der Sozial­ demokratie eine ganz außerordentliche theoretische und praktische Bedeu­ tung erlangt hat. Es ist dabei stets die Frage, wie weit ideelle Elemente schon in jenem enthalten sind, und wie viel reale Elemente sich in diesen hinein­ erstrecken; und zwar wird das aller Wahrscheinlichkeit nach bei jedem be­ sonderen Gegenstand auf besondere Weise der Fall sein. Die Berechtigung und Fruchtbarkeit I der Fragestellung ist heute außer allem Zweifel, die Beantwortung steckt überall noch in den ersten Anfängen der Untersuchung. Aus diesem Zusammenhange sind die Arbeiten von Max Weber über "den Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik"l) zu verstehen, der Rachfahls Angriffe in erster Linie gelten. Aus dieser ganzen Lage ist es aber auch zu verstehen, daß meine durchaus andere Ziele ins Auge fassenden Arbeiten über die Geschichte des Protestantismus vielfach mit denen von Weber sich berühren, nicht nur im Stoff, sondern auch in der wissenschaft­ lichen Denkweise, und daß es so für Rachfahl möglich wurde, trotz aller Un­ terschiede meine Arbeiten mit denen Webers gleichzeitig in diese Kritik hin­ einzuziehen. Indem ich mit dieser Kritik im Folgenden mich näher auseinandersetze, möchte ich vor allem meine und Webers wissenschaftliche Arbeit von ein­ ander trennen, da wir beide sehr verschiedene Gegenstände und sehr ver­ schiedene Erkenntnisziele haben. Es ist durchaus irreführend, wenn wir, We­ ber und ich, bei Rachfahl beide als eine gemeinsame wissenschaftliche Firma

1) Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik XX und XXI.

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erscheinen,3 wo man jeden mit den wirklichen oder vermeintlichen Passiven des andern belasten kann. Webers Arbeit geht von einer rein wirtschaftsgeschichtlichen Fragestel­ lung aus und behandelt hier gerade das große Problem, wie weit wirtschaft­ liche und soziale Erscheinungen ihrerseits in einem konkreten Fall etwa selbst schon ideell beeinflußt und durchwirkt sind, ehe sie rückwirkend wie­ der das ideologische Element unter ihren Bann bringen. Er wählte als Spe­ zialfall für die Veranschaulichung und Lösung dieses Problems das große, in den verschiedensten Richtungen heute hervortretende Problem des moder­ nen Kapitalismus und zeigte, wie - neben anderen, längst bekannten und analysierten Ursachen - auch die innere religiös-ethische Verfassung des Calvinismus bedeutsam in dieser Richtung gewirkt habe und einen der wichtigsten Haupttypen des modernen Kapitalismus, den bürgerlich-purita­ nischen Kapitalismus, vor allem Englands und Amerikas, wesentlich mit­ bestimmt habe. Es galt, den modernen Arbeits- und Berufsmenschen zu er­ klären, der die Verpflichtung gegen seine Arbeit und sein Vermögen wie I eine objektive Notwendigkeit empfindet und damit innerhalb des modernen Kapitalismus einen besonders bedeutsamen Grundstock bildet. Um die dabei treibenden Motive herauszustellen, wies Weber einerseits auf die Ge­ gensätze des Katholizismus und des Luthertums,4 anderseits auf die Analo­ gieen in der Entwicklung klösterlicher Wirtschaft und der Sekten hins . Den ganz entsprechenden Sachverhalt beim Pietismus behandelte er so ausführ­ lich wie den ganzen Calvinismus. Dabei hob er ausdrücklich hervor, daß es sich nicht um eine unmittelbare Wirkung des primitiven Genfer Calvinismus, sondern um eine solche des späteren puritanischen Calvinismus handle, daß hier nicht von einer bewußt gewollten, sondern von einer tatsächlich sich er-

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Wohl Anspielung auf Rachfahls Titulierung der "Troeltsch-Webers ehen These". Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 327, vgl. unten, S. 1 62. Weber mokiert sich ebenfalls in "Antikritisches zum ,Geist' des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 1 76, über Rachfahls "Gepflogenheit [ . . . ] , uns beide als Kollektivität zu behandeln, um uns für einander verantwortlich machen zu können, - was den Vorteil bot, daß wirkliche (oder angebliche) Irrtümer des Einen den Andren mitzutreffen scheinen. Und er hat sich dabei andrerseits doch auch den weiteren Vorteil nicht entgehen lassen, je nach Bedarf auch wieder den Einen von uns gegen den Andern auszuspielen, so daß nun j ene Kollektivität ,Weber-Troeltsch', welche als Träger der Ansichten sowohl des Einen wie des Andern hingestellt ist, sich in offenbarem innerem Widerspruch zu befinden scheint." Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Protestantismus (1 904, Band 20), S. 2-1 1 und S. 37-50. Vgl. ebd., Band 2 1 (1 905) , S. 25-30.

Erstes Kapitel

1 49

gebenden Entwicklung zu reden sei, die denn auch dem religiösen Element auf die Dauer sehr gefährlich geworden ist.6 Man wird in alledem nichts als das Ziel eines psychologisch-genetischen Erkenntnisversuches gewisser Hauptformen des Kapitalismus erkennen kön­ nen, neben denen verschiedene andere nachdrücklich anerkannt wurden und der zu allen Zeiten wirksam gewesene "Erwerbstrieb" als nichts spezifisch Modern-Kapitalistisches außer acht bleiben konnte. Ich halte meinerseits den Nachweis Webers heute noch, auch nach Rachfahls Kritik, für glänzend gelungen und das Ganze für ein Meisterstück historisch-genetischer Ana­ lyse, das gerade für das schon genannte prinzipielle historisch-soziologische Problem von lehrreichster methodologischer Bedeutung ist. Den Absichten und Zielen Webers gegenüber haben nun aber meine eigenen Untersuchungen, wie sie in der Rede auf dem Stuttgarter Histori­ kertag, in der eingehenden Entwicklungsgeschichte des Protestantismus in Hinnebergs Kultur der Gegenwart und in den zuletzt erschienenen Studien zu den "Soziallehren der christlichen Kirchen"l) niedergelegt sind, I ein

1) Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Rede, gehalten auf dem Stuttgarter Historikerkongreß, abgedruckt in der Hist. Zeitschrift Bd. 97; auch selbständig; die zweite Auflage ist in Vorbereitung. - Protestantisches Christentum und Kirche der Neuzeit in Hinnebergs Kultur der Gegenwart I, IV, zweite Auflage 1 909. Die Soziallehren der christlichen Kirchen, im Archiv f. Sozialwissenschaften XXVII-XXX; die Abhandlungen werden in Bälde selbständig erscheinen7 und dann auch Calvinismus und Täufertum umfassen, die ich im Archiv bei Seite gelassen habe,8 da dieser Gegenstand, wenigstens in den Hauptpunkten, I durch Weber bereits behandelt war9 . Ich muß mich freilich hier auch auf diese beiden noch nicht erschienenen Schlußabhandlungen beziehen.

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Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Protestantismus (1 905, Band 21), zum Pietismus, S. 40-57. Die erste Hälfte von "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) -+ KGA 9 traf zwischen dem 1 9. und 24. Januar 1 9 1 2, die zweite Hälfte und auch der gebundene Gesamtband zwischen dem 1 6. und 2 1 . Februar 1 9 1 2 bei der "Deutschen Bücherei" in Leipzig ein. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschiene­ nen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels (1 9 1 2) , S. 1 9 und S. 226. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) , Kapitel IIl, 3. Der Calvinismus, S. 605-794, und Kapitei lII, 4: Sekten typus und Mystik auf protestantischem Boden, hier der Abschnitt "Das Täufertum und die protestantischen Sekten, S. 797-848 -+ KGA 9. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Protestantismus (1 905, Band 2 1 ) , zum Calvinismus vgl. v. a. S. 5-39, zum Täufertum vgl. S. 6 1 -72.

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völlig anderes Stoffgebiet und ein völlig anderes Erkenntnisziel. Es sind wesentlich religionsgeschichtliche Untersuchungen, wenn sie naturgemäß auch freilich die Abhängigkeiten des religiösen Elementes von den realen Lebensbedingungen wie umgekehrt die Wirkung jener auf diese sich zum Gegenstand machen müssen. Hier habe ich nun gegenüber landläufigen Ü berschätzungen der Kulturwirkungen des Protestantismus diese in ihrer Abhängigkeit und in ihrer Begrenzung nachzuweisen gesucht, andererseits aber auch wieder ihre positive Wirkung hervorgehoben, wo sie meines Er­ achtens unleugbar zu Tage liegt. In dieser letzteren Hinsicht versuchen na­ mentlich meine Untersuchungen über das Aufklärungszeitalter zu zeigen, wie dieses zwar einen radikalen Gegensatz gegen die bisherige kirchliche Welt bedeutet, aber doch zum großen Teil gerade aus gewissen Grundele­ menten dieser selbst herauswächst. l O Bei einer solchen Untersuchung habe ich natürlich von den allgemeinen methodologischen Ergebnissen Webers gelernt, und konnte ich insbesondere seinen sachlichen Ergebnissen be­ treffs des Calvinismus nicht aus dem Wege gehen. Da ich sie in allem We­ sentlichen für richtig hielt und halte, habe ich sie übernommen ohne jeden Anspruch auf selbständige wissenschaftliche Förderung der Erkenntnis dieser Zusammenhänge. Ich habe seine Ergebnisse lediglich in einen ande­ ren, von meinem Erkenntnisziel aus bestimmten Zusammenhang einge­ stellt. Die bescheidenen Bedenken, die ich dabei betreffs einzelner Punkte äußerte, und der Versuch, mit Hilfe der mir bekannten Literatur den - von Weber absichtlich nicht dargestellten - Gang der Dinge anzudeuten,1 1 haben in meinem Zusammenhang ganz peripherische Bedeutung und bean­ spruchen keinerlei fachwissenschaftliche Autorität. Darin mögen Irrtümer enthalten sein, wie auch Rachfahl bei dem - übrigens unvermeidlichen Betreten eines ihm nicht fachwissenschaftlich vertrauten Gebietes solche untergelaufen sind. Darüber später mehr. Jedenfalls aber lagen meine Auf­ gabe und Erkenntnisziele in der Darstellung des religiösen Elementes des Protestantismus und seiner Stellung zu den kulturgeschichtlichen Umgebungszusammenhängen. I Bedeutung und Wirkung des religiösen Zen­ trums positiv und negativ zu zeigen, war meine Aufgabe, wobei dann frei­ lich Webers allgemeine Ergebnisse über das Verhältnis wirtschaftlicher und religiöser Elemente wie seine besondere Durchleuchtung des Calvinismus für mich von hoher Bedeutung sein mußten. Aber es handelte sich für mich 10 Troeltsch meint hier v. a. seine Beiträge zur "Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche" "Aufklärung" (1 897) .... KGA 3, "Deismus" (1 898) .... KGA 3 und "Moralisten, englische" (1 903) .... KGA 3 . Vgl. hierzu die Einleitung, oben, S. 12. 1 1 Zu den kritischen Weber-Bezügen Troeltschs s. unten, S. 276-278.

Zweites Kapitel

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doch um das Verständnis des Protestantismus in dem großen Gesamtum­ fang seiner Beziehungen, nicht um ein wirtschaftsgeschichtliches Problem. Was bei Weber das zentrale Thema ist, das ist bei mir nur ein in das Ganze einzuarbeitendes Einzelphänomen. Das erste ist eine fachwissenschaftliche Arbeit, das zweite eine Benützung durch den Nicht-Fachmann und unter anderen Gesichtspunkten und Zusammenhängen. Ich hätte erwarten dür­ fen, daß Rachfahl das mehr berücksichtigt. II. Es kann mir daher nicht einfallen, Webers Darstellung, d. h. die von ihm un­ ternommene Erklärung des tatsächlich vorliegenden engen Zusammenhan­ ges von Calvinismus (zugleich aber auch Sekten und Pietismus) mit gewissen Formen kapitalistischer Entwicklung, hier verteidigen zu wollen. In seiner Theorie handelt es sich am Hauptpunkt um die Kenntnisse des nationalöko­ nomischen Fachmannes. Weber hat dementsprechend auch bereits selbst in seinem Archiv geantwortet. Auf diesen Aufsatz "Antikritisches zum Geiste des Kapitalismus" (Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik. XXX . S. 1 76-202) sei daher hier lediglich verwiesen. Ich habe meinerseits bei der Wiedergabe der Weberschen Sätze vielleicht manchmal unzulässig generali­ siert, wie in dem von Rachfahl Sp. 1 255 angeführten Satze, und insbesondere bei dem Versuch einer Darstellung von der Art der Durchsetzung und Aus­ breitung des calvinistischen Kapitalismus vielfach auch zu allgemein ge­ urteilt.t2 Allein mit diesen Irrtümern, so groß oder klein sie sein mägen, darf Webers Theorie nicht belastet und widerlegt werden. Weber hat über den Gang der Dinge im einzelnen nichts geäußert, aus Gründen, die er nun in seiner Antikritik deutlich ausspricht, und hat manches derartige inzwischen

12 Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 255, zitiert folgende Pas­ sage aus Troeltschs "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 906) , S. 357 (2. Auflage 1 909, S. 582) : "Bei aller Strenge gegen den Wucher ist ein mäßiger Zins, über dessen Höhe die Obrigkeit wacht, ein unentbehrliches Mittel des Gedeihens. So verwendet sich die Genfer venerable compagnie selbst für Errichtung einer Darleihungsbank, so entstehen die großen Handelskompagnien, die großen Banken und die großen Unternehmer." Der letzte Halbsatz ist bei Rachfahl hervor­ gehoben. Rachfahl fügt an dieses Zitat die Bemerkung an, daß der "kausale Zu­ sammenhang, der durch diese Ausdrucksweise zwischen Calvins Zinslehre und der Entstehung der großen Kompagnien, Banken und Unternehmungen angedeutet wird, [ . . . ] tatsächlich nicht vorhanden" sei (Sp. 1 25 5) .

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ebendort nachgeholt.B Seine Theorie ist in ihrer Richtigkeit oder Unrichtig­ keit völlig unabhängig von diesen bei mir sich findenden Sätzen. Ich habe die I erwähnten Bemerkungen über den Gang der Dinge meinerseits nur aufgenommen, weil man bei einer Gesamtdarstellung eben auch Gegen­ stände berühren muß, die man nicht fachmännisch beherrscht, und Rachfahl hat diesen Versuchen des Nicht-Fachmanns ein Gewicht für die Beurteilung der Weberschen Lehre beigelegt, das ihnen nicht zukommt. Bei mir bedeu­ ten ja diese Dinge nur einen peripherischen Zug meiner Darstellung und fal­ len für das, was ich zur Erkenntnis bringen will, nicht entscheidend ins Ge­ wicht. Denn an der Hauptsache, der Tatsache, daß der Calvinismus in einem eigentümlich nahen Verhältnis zur modern-kapitalistischen Entwicklung steht, zweifelt ja auch Rachfahl nicht. 1 4 Dagegen kann ich allerdings eintreten für denjenigen Teil von Webers Un­ tersuchungen, der sich mit meinem Fachgebiet berührt, für die dogmati­ schen und religionspsychologischen Analysen des Calvinismus. Diese sind durchaus zutreffend, und eben, weil ich sie für so schlagend richtig halte, konnte ich auch die daraus gefolgerten Ü bergänge zur Psychologie des öko-

13 Ü ber diese Äußerung Troeltschs mokiert sich Weber in seiner nochmaligen Reaktion auf Rachfahl: "So hat sich jetzt Troeltsch durch die kecke Sicherheit von Rachfahls Auftreten den Eindruck beibringen lassen, als hätte ich doch wohl irgend etwas zur Begründung meiner Ansichten erst ,nachgeholt'. Sehr zur Wonne Rachfahls, versteht sich, der sich, ganz nach seiner Manier, natürlich nunmehr statt anderen Beweises au] ihn als Kronzeugen beruft. Ich meinerseits kann nur erneut bitten, sich durch Lektüre meines Aufsatzes davon zu überzeugen: daß alles, was in meiner Antikritik gesagt ist, ganz ebenso deutlich schon in meinen Aufsätzen gestanden hat. In meiner Antikritik ist lediglich auf den Einwurf betreffend Hamburgs und der holländischen Entwicklung mit zwei Einzelheiten geantwortet und sind - was ich, da schon Gothein die These von der Bedeutung speziell des Calvinismus für Deutschland begründet hatte, nicht für nötig hielt, - die Verhältnisse des Wuppertals zitiert (ich hätte für den Pietismus noch Calw hinzufügen können) . Das ist alles! Was aber besagen diese winzigen ,Neu­ heiten' gegenüber dem, was in meinen Aufsätzen für alle großen Hauptgebiete der Ausbreitung des asketischen Protestantismus (England, Frankreich, Niederlande, Amerika) gesagt war? - Daß Troeltsch, der lediglich für sich antwortete und mich nur nebenher erwähnte, nicht noch einmal ad hoc für eine Polemik über seine Thesen mei­ nen Aufsatz von A bis Z durchsah, versteht sich in der Tat leicht. Er hielt eben Rach­ fahl für wenigstens partiell zuverlässig." Max Weber: Antikritisches Schlußwort zum "Geist des Kapitalismus" (1 9 1 0) , S. 559 f. 14 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , etwa Sp. 1 265: "Es kann kein Zweifel darüber obwalten, daß zwischen Kalvinismus und Kapitalismus innere Beziehungen bestehen". Diesen Satz zitiert auch Weber in seiner "Antikritik". Vgl. Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 9 1 .

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nomischen Verhaltens in diesen Kreisen so einleuchtend finden. Ü berdies unterscheidet Weber vollkommen scharf den primitiven Genfer Calvinismus von dem späteren englisch-puritanischen, zeigt aber auch an diesem deut­ lich, wo er mit der Religion Calvins zusammenhängt. l s Um die praktische Bedeutung dieses Puritanismus handelt es sich allein. Warum Weber bloß "meinen" soll, daß die bei Baxter niedergelegte seelsorgerliche Weisheit das praktische Leben "entscheidend beeinflußte" (Sp. 1 229),16 dafür gibt Rach­ fahl keinen Grund an. Er hat, wie gleich näher zu zeigen, eben ein unüber­ windliches Mißtrauen gegen die praktische Wirksamkeit religiöser Lehren. Jedenfalls hat er ihre Unwirksamkeit in diesem Falle nicht bewiesen, und die Ü bereinstimmung von Theorie und Praxis, für die Weber Beispiele genug bringt, braucht daher hier gar nicht in Frage gestellt zu werden. Dieser wich­ tigsten Frage geht aber auch Rachfahl gar nicht weiter nach. Es erscheint ihm von vornherein bedenklich und unwahrscheinlich, und er behält sich für spä­ ter eine andersartige, die Religion weniger in Anspruch nehmende Erklärung der Beziehung von Calvinismus und Kapitalismus vor. 1 7 Er begnügt sich

15 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (1 905, Band 2 1 ) , S. 1-5, 36-39 und S. 57-73. 16 Die Stelle heißt bei Rachfahl im Zusammenhang: "Um zu zeigen, wie sich diese Durchdringung des Alltagslebens durch die protestantische Aszese vollzog, analysiert Weber zunächst eine Reihe von Schriften, die, aus der seelsorgerischen Praxis heraus­ gewachsen, das ökonomische Leben in den Kreis ihrer Betrachtung zogen und, wie er meint, entscheidend beeinflußten [ . . . ). Das Schwergewicht fällt auf die Schilderung der puritanischen Berufsethik an der Hand von Baxters Christian Directory". Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 229 f. 17 Vgl. ebd., Sp. 1 293 f.: "Im Ü brigen ist es bekannt, daß die Hauptexpansion des eng­ lischen Kapitalismus im Zusammenhang mit der kolonialen Entwicklung und dem enormen Wachstum der Industrie in eine spätere Zeit fällt, d. h. für England in das Zeitalter eines undogmatisch-moralistisch gerichteten Christentums, der Vorherr­ schaft des Rationalismus in Theologie und Predigt, der Durchdringung der eng­ lischen Kirche mit einem weitgehenden Latitudinarismus, der Geltung von Skepsis und Deismus in den führenden, auch in kapitalistischen Schichten der Gesellschaft. Weber würde nun freilich sagen: das eben ist ja die Wirkung der Säkularisation der ,in­ nerweltlichen Askese des Puritanismus'; wir glauben, daß die Existenz des kapitalisti­ schen Geistes und Kapitalismus in England auch ohne dieses Moment zu begreifen ist, wenngleich wir keineswegs seinen Einfluß leugnen wollen. Und wenn er erklärt, daß ,die Macht puritanischer Lebensauffassung wesentlichster und einzig konsequen­ ter Träger der Tendenz bürgerlicher, ökonomisch-rationaler Lebensführung war' und daher ,an der Wiege des modernen Wirtschaftsmenschen stand', so werden wir das als eine Ü bertreibung kennzeichnen müssen. Denn das, was Weber als die Eigenart der ,modernen Wirtschaftsmenschen' ansieht, ist keineswegs ein konstitutives Merk-

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vielmehr bei der Bestreitung der religiösen Herleitung lediglich damit, Webers Auffassung I Calvins und des primitiven Genfer Calvinismus zu be­ mängeln und zu behaupten, daß von diesem aus keine besondere Dispo­ sition des Puritanismus für den Kapitalismus gefolgert werden könne, Sp. 1 253-1 264. Calvin habe nur eine ,freiere Betrachtung der ökonomischen Verhältnisse" gehabt, damit "einer freieren Berufsethik auch für die kapitali­ stische Unternehmung die Bahn geebnet". 1 8 Damit sei er aber nur der in Genf schon immer üblichen Praxis gefolgt,1 9 im übrigen habe er diese Frei­ heit mit den schärfsten Einschränkungen umgeben20 und habe das Volk in Armut erhalten wissen wollen, damit es im Gehorsam bliebe21 . Unter Beru­ fung auf Elster faßt er die Wirtschaftsethik Calvins dahin zusammen, daß die "Durchdringung der Arbeit mit dem Geiste christlicher Sittlichkeit dasjenige ge­ wesen sei,22 was in Calvins Lehre eine Entwicklung des kapitalistischen Gei-

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mal des kapitalistischen Geistes, und dieser ist keineswegs aus der reformierten Be­ rufsethik hervorgegangen. Wohl war ein Zusammenwirken beider imstande, die ka­ pitalistische Entwicklung vorwärts zu treiben; in welchem Grade das geschehen ist, bedarf freilich noch näherer Untersuchung." Die zitierte Passage lautet bei Weber: "So weit die Macht puritanischer Lebensauffassung reichte, kam sie unter allen Um­ ständen - und dies ist natürlich weit wichtiger als die bloße Begünstigung der Kapi­ talbildung - der Tendenz zu bürgerlicher, ökonomisch rationaler Lebensführung zu­ gute; sie war ihr wesentlichster und einzig konsequenter Träger. Sie stand an der Wiege des modernen ,Wirtschaftsmenschen'." Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (1 905, Band 2 1 ) , S. 1 03, ersteres Zitat ebd., S. 1 04. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 253 (im Original keine Hervorhebungen) . Vgl. ebd., Sp. 1 254: "Der Drang der Umstände selbst hatte schon längst die faktische Ausschaltung des Zinsverbotes bewirkt, und Calvin sanktionierte lediglich für seine Anhänger das förmlich, was praktisch längst geübt wurde." Vgl. ebd., Sp. 1 253: "Daher umgab er [Calvin] das Zinsnehmen mit zahlreichen Re­ striktionen, von denen manche der ungehemmten Auswirkung kapitalistischen Gei­ stes nicht gerade günstig waren". Vgl. ebd., Sp. 1 254: "Auch war er [Calvin] gegen die Ansammlung großer Reichtümer; er wollte das Volk in Armut erhalten wissen, damit es im Gehorsam bleibe; keines­ wegs war der wohlhabende Industriestaat sein Ideal". Rachfahl hat diese Position ver­ mutlich von Friedrich Wilhe1m Kampschulte: Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf, 1 . Band (1 869), S. 430, übernommen, auf den er sich in diesem Zusam­ menhang bezieht (vgl. unten S. 1 55, Anmerkung 25) . Kampschulte bezieht sich ebd., S. 430, aufJohn Barthelemy Gaiffe Galiffe: Quelques Pages d'histoire exacte soit les proces criminels intentes a Geneve (1 862) , S. 88. Im Original heißt es bis hier: "Durchdringung der Arbeit mit dem Geiste christlicher Sittlichkeit - darin liegt das" (ebd., Sp. 1 25 5) . Rachfahl (Sp. 1 254 f.) zitiert aus Ludwig Elsters Aufsatz "Johann Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom"

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stes und der volkswirtschaftlichen Verhältnisse im23 kapitalistischen Sinne fördern konnte, aber ihnen auch, im Zusammenhang24 seiner Lehre und sei­ nes Wirkens, hin und wieder hemmend in den Weg treten mußte". Das ist nun aber eine sehr schiefe und ungenügende Zeichnung des Sachverhaltes, die zudem offenbar nur auf Kampschulte und Elster beruht.25 Die Bedeu­ tung der Wirtschaftsethik Calvins ist eine viel größere und hängt sehr viel in­ nerlicher, trotz aller großen Unterschiede, mit der des von Weber geschilder­ ten Puritanismus zusammen. Hier darf ich mich auf meine demnächst in den "Soziallehren" erscheinende Darstellung des Calvinismus berufen.26 Im Fol­ genden seien nur die Hauptpunkte hervorgehoben. Calvin "hat eine freiere Betrachtung der ökonomischen Verhältnisse". Gewiß, aber was heißt das? Freier als wer? und frei wovon? Und kann man eine solche größere Freiheit an einem einzelnen Punkte haben, ohne daß da­ von die organische Einheit des gesamten ethischen Denkens betroffen wird? Um solche Frage zu beantworten, muß man sich an den Vergleich mit Luther halten, von dessen Ideenwelt Calvin überall ausgeht. Luther hatte entwik­ kelte ökonomische Verhältnisse gleich denen der Genfer genug vor Augen. Allein er blieb beim kanonischen Zinsverbot und bei der scholastischen Geldlehre, bei einem agrarisch-handwerkerlichen Gesellschaftsideal, nicht aus mangelnder Einsicht oder geringerer Geistes I freiheit, sondern aus innerlichsten Gründen der christlichen Ethik, wie er sie verstand. Sie forderte ihm die Ausscheidung des Kampfes ums Dasein, die möglichste Stillstellung der sozialen Bewegung, die möglichste Unmittelbarkeit der Produktion und den Zusammenhang mit den Gaben der Natur, weil das Vertrauen auf die Vor­ sehung und die christliche Liebe ihm dies unbedingt zu verlangen schienen.

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(1 878) , hier S. 2 1 1 : "Vor Allem hat er ein Moment im Handel und Gewerbe segens­ reich zur Geltung gebracht: die Arbeit des sittlichen Menschen. Calvin hat deutlich darauf hingewiesen, dass nicht allein die physischen und die geistigen, sondern vor Allem auch die moralischen Kräfte des Menschen bei der Production in hohem Maasse mitwirken müssen; immer und immer wieder hat er betont, dass die sittlichen Eigenschaften, dass Fleiss und Ausdauer, Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit, wie in allen Handlungen der Menschen, so auch auf wirthschafdichem Gebiete thätig sein müssen." Im Original: "in". Im Original: "ganzen Zusammenhange". Rachfachl (vgl. ebd., Sp. 1 253-1 255) bezieht sich auf Ludwig Elster: Johann Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom (1 878) , S. 1 96 ff., und Friedrich Wilhe1m Kampschulte: Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf, 1 . Band (1 869) , S. 429 f. (Seitenpräzisierungen von Rachfahl) . Vgl. oben, S. 1 49, Anmerkung 7.

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Er stellte sich damit der tatsächlichen ökonomischen Bewegung aus Grün­ den einer Ethik entgegen, die, ähnlich wie der Katholizismus, in der Geld­ wirtschaft die Entfesselung der Habsucht, die Unpersönlichkeit des Ver­ kehrs, das Vertrauen auf menschliche Kunst und die willkürliche Zerrüttung der geordneten ständischen Gliederung sah. Wenn nun Calvin freier war als Luther, und zwar frei von der scholastischen Geld- und Zins lehre, so steht das bei ihm in der Tat damit im Zusammenhang, daß seine ganze Ethik trotz aller Verwandtschaft anders orientiert war. Sie ging nicht auf die Gewinnung der inneren Rechtfertigungsseligkeit und auf deren Betätigung in einer der Bergpredigt entsprechenden radikalen Liebesgesinnung, sondern auf die Verherrlichung Gottes in einer das Gesamtleben umfassenden und organi­ sierenden Gemeinde, wobei sie nicht sowohl auf den Radikalismus der von Person zu Person zu erweisenden Liebe, als auf die gesunde, strenge und ernste, solidarische und sich gegenseitig ergänzende Verfassung des Gesamt­ lebens abzielte. Ebendaher hielt sie sich an die Bergpredigt nur so, wie sie mit der alttestamentlichen Moral identisch ist und aus ihr gedeutet werden kann. Von einer solchen Moral aus konnte die Genfer Wirtschaft akzeptiert und christianisiert werden, was Luther nicht hätte tun können. Die bekannten Einschränkungen bleiben dabei selbstverständlich; in ihnen setzte Calvin nur die christliche Liebesmoral fort, so wie sie auf dieser Basis sich dann ge­ stalten mußte. Macht man sich das klar, dann wird ersichtlich, wie überaus wichtig und organisch bedeutsam für den ganzen ethischen Gedanken die "freiere" Haltung Calvins ist. Dann ist aber auch deutlich, wie nichtssagend die Phrase ist, Calvin habe nichts gelehrt als die "Durchdringung der Arbeit mit dem Geiste christlicher Sittlichkeit". Welches ist denn der "Geist christ­ licher Sittlichkeit" und vor allem in Hinsicht auf die ökonomisch-produktive I Arbeit? Jeder Kenner weiß, daß es hier einen einheitlichen christlichen Geist nicht gegeben hat und heute noch nicht gibt. Das Verhältnis der christ­ lichen Persönlichkeits- und Liebesmoral gerade zu Arbeit und Besitz ist von Anfang an eines der schwierigsten Probleme des christlichen Ethos gewesen, und gerade in der Lösung dieses Problems scheiden sich soziologisch vor­ zugweise die verschiedenen Gruppen. Calvin hatte keinen allgemeinen Geist christlicher Sittlichkeit, mit dem er die Arbeit durchdringen konnte. Er konnte sie mit dem katholischen, mit dem lutherischen, dem täuferischen oder dem humanistisch-christlichen Geist durchdringen, wenn er nicht etwa vielleicht zufällig einen eigenen Geist hatte. Diesen aber hatte er in der Tat, und dessen Wesen und Wirkung ist das eigentliche Problem, von dem Rach­ fahl nichts zu ahnen scheint. Unter diesen Umständen ist dann der Zusammenhang der von Calvin ein­ geschlagenen Richtung mit dem puritanischen Geiste wohl etwas durchsich­ tiger, als er Rachfahl erscheint, und es bedarf gar nicht der komplizierten

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Auseinandersetzung über die "Askese".27 Weber hatte an diesem Begriff in seiner besonderen reformierten Gestaltung den Umschlag einer rigoros überweltlichen Denkweise in ökonomisch-kapitalistische Betriebsamkeit re­ ligionspsychologisch klar gemacht. Auf Worte kommt es nicht an. Der Sach­ verhalt ist klar. Eine Askese oder Selbstopferung für Gott, der die Berufsar­ beit zum methodischen Mittel der Bändigung des Fleisches und der Sinne, der Zerstreutheit und Genußsucht, der Gefühlsweichheit und Unstetigkeit wird, kann da, wo der kapitalistische Erwerb mit unter die erlaubten Berufe gehört, sehr leicht zur Hypertrophie des Erwerbslebens führen, vor allem zu jenem Berufs- und Arbeitsbewußtsein einer objektiven Verpflichtung gegen Arbeit und Besitz. Das ist schon in den arbeitenden Klöstern so gewesen und ist bei einer Überweltlichkeit, die prinzipiell in der Strenge des Berufs­ gehorsams sich bewegt, erst recht der Fall. Hier scheint mir alles klar und deutlich. Undeutlichkeiten treten erst ein, wenn man diese lediglich die Arbeitsund Besitzpsychologie betreffende Deutung der Askese mit dem viel allge­ meineren Problem zusammenwirft, das ich als das Problem der Stellung des Protestantismus überhaupt zur Kultur aufl geworfen habe, und wo ich im Altprotestantismus aller Konfessionen die altchristliche und katholische Jen­ seitigkeit als fortwirkend, aber in die Kulturarbeit selbst eindringend be­ zeichnete. An diesem Punkte liegt einer der Hauptunterschiede der gesamten genuin christlichen und der modernen Welt, wie ihn begreiflicher Weise Rachfahl selbst bemerkt, wenn er in der letzteren "die Welt und ihre Ord­ nungen als etwas Göttliches und doch unabhängig von der transzendenten religiösen Idee anerkannt" sein läßt.28 Es ist ein längst eingebürgerter 27 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 255-1 264. 28 Nach der " Ü berspannung des religiös-transzendenten Prinzips" im Calvinismus sei, so Rachfahl, ebd., Sp. 1 366, eine "Reaktion" eingetreten, "die der Aufnahme und der Verbreitung der rationalistisch-moralistischen Tendenzen des duldsamen Renais­ sance-Christentums günstig sein mußte, wie sie insbesondere von jeher in Holland gehütet, gepflegt und fortgebildet worden waren: sie drangen mehr und mehr in die Theologie ein, noch viel tiefer und stärker jedoch in die praktische Religiosität in den verschiedensten Lagern des protestantischen Bekenntnisses. Es ist der Geist jener freien christlichen Religiosität, die, dogmatisch relativ uninteressiert oder doch we­ nigstens nur das Fundamentale betonend, das freilich verschieden bemessen werden kann, die Welt und ihre Ordnungen als etwas Göttliches und doch als unabhängig von der transzendent-religiösen Idee anerkennt, für welche die Grundsätze autonomer Vernunfterkenntnis, individualistisch gerichteter Weltanschauung und daher voll­ kommener Toleranz feststehen, und die sich vor allem in einer christlichen Lebens­ führung zu bewähren trachtet. Und mit ihm war sehr wohl vereinbar das, was der Nachwelt als das beste Erbteil des genuinen Kalvinismus überkommen ist, - uner-

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Sprachgebrauch, j ene überweltliche Richtung des christlichen Denkens als "Askese" im weiteren Sinne im Unterschiede von den asketischen Ü bungen im engeren Sinne zu bezeichnen. Der Protestantismus hat nun die Eigen­ tümlichkeit, einerseits im Zusammenhang mit den Sünden-, Erläsungs- und Jenseitslehren einen stark pessimistisch weitabgewandten Zug zu haben und gleichzeitig doch das innerweltliche Leben selbst mit diesem Zuge durch­ dringen zu wollen. Darin besteht seine Doppelstellung in der europäischen Kulturgeschichte, und Rachfahl wird nicht leugnen, daß es sehr angebracht ist, gegenüber der landläufigen Verherrlichung des Protestantismus als Kul­ turprinzip diese negative Seite des Altprotestantismus stark zu betonen. Das ist nun aber etwas anderes als Webers Verwertung des Begriffs der Askese für die psychologische Analyse der besonderen Arbeits- und Wirtschafts­ ethik des Calvinismus und der Sekten. Rachfahl hat den Unterschied dieser beiderseitigen Darlegungen wohl bemerkt, aber er hat ihn nicht auf seine Gründe in einer ganz verschiedenen Problemstellung zurückgeführt, son­ dern kritisch ausgebeutet als angeblichen Selbstwiderspruch unserer Auffas­ sungen.29 Es ist eben sein Prinzip, Weber und mich zusammen zu behandeln

müdliches Schaffen und Wirken in tief innerliehst empfundenem Streben nach Gottes Dienst, Ruhm und Ehre als höchstes Ideal christlicher Sittlichkeit; es hat seine un­ verrückbare Geltung." Diese Stelle wird von Troeltsch auch unten, S. 1 80, auszugs­ weise zitiert. 29 Vgl. ebd., Sp. 1 256 f.: "Im allgemeinen übernimmt Troeltsch, wo er von den Einwir­ kungen des Kalvinismus auf das Wirtschaftsleben spricht, die Webersehe Auffassung von der kalvinistischen Aszese; doch läßt sich nicht verkennen, daß die Webersehe Auffassung von der Ansicht vom Wesen der ,altprotestantischen Aszese', wie Troeltsch sie sonst vertritt, erheblich abweicht. D a für den Altprotestantismus wie für den Katholizismus das Jenseits das Wesentliche ist, kommt den irdischen Gütern und Ordnungen, so führt Troeltsch in seiner Lehre aus, kein Selbstzweck zu; nichts Welt­ liches hat einen Wert in sich selbst, so daß wir uns nur um seinetwillen daran erfreuen könnten; alles dient nur dem religiösen Zwecke; Kunst und Wissenschaft sind nur für die Erbauung oder für den Nutzen. " Rachfahl belegt diese Äußerung mit einer Stelle aus Troeltschs "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 906), S. 263 (2. Auflage 1 909, S. 445) ...... KGA 7. Dieser "Begriff der altprotestantischen As­ zese, wie ihn Troeltsch entwickelt," so Rachfahl, decke sich keineswegs "vollkommen mit dem Webers. Sie stimmen wohl in manchen Punkten überein, aber nicht in allen. Auch Troeltsch gesteht der protestantischen Aszese, weil sie sich im Gegensatze zur katholischen ,nicht in einem Leben außer und neben der Welt äußert', das Prädikat ,innerweltlich' zu." (Ebd., Sp. 1 257, Rachfahl zitiert hier aus Troeltschs "Die Bedeu­ tung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt", unten, S. 242) Rachfahl konstatiert eine "fundamentale[ . . . ] Differenz zwischen Troeltsch und We­ ber in der Auffassung von der altprotestantischen Aszese. Was bei Troeltsch nur eine

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und den einen dieser Heidelberger Konstrukteure durch den andern ab­ zutun. Dabei aber bedenkt er nicht, daß seine eigenen Kenntnisse der Entwick­ lungsgeschichte des Christentums höchst unbestimmt sind, und daß er über Probleme, wie das der Askese, kaum zu urteilen im stande ist. Man bedenke folgenden Satz: "Die Aszese des Mittelalters war eine Sondermoral, die der Protestantismus nicht übernommen, sondern verworfen hat. Er hat viel­ mehr die allgemeine christliche Ethik, wie sie für j edermann ohne Ausnahme gilt, nach bestimmten I Richtungen fortgebildet; dazu gehört es, daß die Berufslehre auf einem neuen Fundament aufgebaut wurde, indem die Arbeit eine neue Wertung erhielt, indem sie zur höchsten sittlichen Betätigung des Menschen erklärt und allen zur Pflicht gemacht wurde."30 Also der Katholizismus ist all­ gemein christliche Ethik plus Sondermoral der Askese, der Protestantismus ist dasselbe ohne hinzukommende Sondermoral, überdies aber eine Fortbildung in bestimmten Richtungen, die trotzdem gleichzeitig doch auch ein neues Fundament sind; und das Ergebnis von alledem ist die Arbeit als höchste sittliche Betätigung! Hier ist j eder Satz falsch und geht alles drunter und drüber. Ich könnte Rachfahl die Worte vom "phantasievollen Autor"31 und von dem "Nicht-mehr-Geschichte sein"32 solcher Darstellung zurückgeben, wenn ich nicht bedächte, daß er hier sich auf einem ihm fachwissen­ schaftlich nicht vertrautem Gebiete befindet, und daß er außerdem noch die religiösen Ideen für etwas historisch verhältnismäßig unwichtiges hält33 . Besonderheit der kalvinischen innerhalb der gesamt-altprotestantischen Aszese ist, nämlich ,die Rationalisierung der Ethik zu einem planmäßig zusammenhängenden strengen Ganzen der Lebensführung' [Ernst Troeltsch: Protestantisches Christen­ tum und Kirche in der Neuzeit (1 906) , S. 3 1 3, geänderte Formulierung in der 2. Auf­ lage von 1 909, S. 524 KGA 7] das ist für Weber das Kennzeichen jeder, sogar der katholischen Aszese. Die Konsequenz seiner Abweichung von der spezifisch Troeltschschen Auffassung müßte also darin bestehen, daß er dem Luthertum die Aszese abspricht, weil der lutherschen Ethik die Rationalisierung abgeht, d. h. daß er von einer gesamt-,altprotestantischen Ethik' im Sinne von Troeltsch nichts weiß." (Sp. 1 257 f.). Ebd., Sp, 1 263 f. (im Original keine Hervorhebungen) . Nach "fortgebildet" beginnt im Original ein neuer Satz, die folgende Passage heißt dort: "Dazu gehörte es". Ebd., Sp. 1 297. Vgl. ebd., Sp. 1 293: "Solche Konstruktionen, die aller quellenmäßigen Begründung entbehren, können nicht mehr als wirkliche Geschichtsforschung gelten." Rachfahl kritisiert als "charakteristische [n] Zug der Troeltsch-Weberschen These" die " Ü bertreibung des Einflusses religiöser Momente und Lehren auf die reale Ent­ wicklung" (ebd., Sp. 1 327) . "Wo sich religiöses Prinzip und Wirklichkeit stoßen, da ist es nicht immer jenes, welches siegt, und mag es auch eine noch so gewaltige Kraft im -+

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Dann ist es j a freilich auch nicht nötig, viel von ihnen zu wissen. Aber daß die Berufsarbeit für den Protestanten nicht höchste sittliche Leistung ist, wie er mehrfach angibt, sondern nur die natürliche Form, innerhalb derer die eigentlich sittliche Leistung der Gottesliebe und Nächstenliebe sich zu bewe­ gen hat,34 das dürfte er schon aus den theologischen Schriften entnehmen. In der Art, wie diese eigentliche Leistung der christlichen Sittlichkeit sich zu ihrer Betätigkeitsform in der Berufsarbeit verhält, liegt dann der Unterschied der beiden Konfessionen; hier hat das Luthertum einen Zwiespalt offen ge­ lassen, den der Calvinismus überbrückt hat. Auch die Meinung, daß jeder Be­ ruf sich seine Ethik mit Leichtigkeit selber schaffe und so auch der Kapita­ lismus sie ohne religiöse Anlehnung wohl selber geschaffen haben werde,35 Menschen entfalten, so sieht es sich doch auch oft genug zu Kompromissen mit der Praxis gezwungen. [ . . ] Aus allem dem erhellt doch eins: wie wenig sich die politische, wirtschaftliche und weltliche Entwicklung überhaupt durch religiöse Lehren binden läßt, wenn diese das rein religiöse Gebiet überschreiten." (Sp. 1 328 f.) Diese Passage wird von Troe1tsch weiter unten, S. 1 65, zitiert. 34 Vgl. ebd., etwa Sp. 1 223 f. : "Die große Kirchentrennung des 1 6. Jahrhunderts bildet eine Epoche nicht nur für die Geschichte des christlichen Glaubens, sondern auch der christlichen Ethik. Damals fiel die katholische Unterscheidung der christlichen Sittengebote in die für alle Menschen verbindlichen praecepta und in die consilia, die sogenannten evangelischen Räte, der Keuschheit, der freiwilligen Armut und des un­ bedingten Gehorsams, deren Befolgung naturgemäß immer nur die Sache Weniger sein konnte. Damit wurde die Ü berbietung der innerweltlichen Sittlichkeit durch mönchische Aszese unmöglich; einziges Mittel, Gott wohlgefällig zu leben, war fort­ an die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten, wie sie sich aus der Lebensstellung des Einzelnen ergaben, die fortan sein ,Beruf' wurde. Die Pflichterfüllung innerhalb des Berufes wird fortan geschätz t als der höchste Inhalt, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen kann. Luther hat zuerst diesen neuen protestantischen Berufs­ begriff entwickelt". Vgl. auch weiter unten, Sp. 1 321 : "Der Einfluß der Reformation besteht eben bekanntlich darin, daß sie die Betätigung im Berufe als das schlechthin höchste Gebot sittlicher Lebensführung statuierte". 35 Vgl. ebd., Sp. 1 32 1 : "Beruf und Berufsethik sind jedenfalls nicht erst Produkte der Reformation; es gibt eine Berufssittlichkeit, die überhaupt nicht religiös gefärbt zu sein braucht; jeder Beruf hat seine Ethik, losgelöst von allen religiösen Beziehungen, die sich aus seinem eigenen inneren Wesen ergibt." Die "Rationalisierung der Ge­ schäfts- und ganzen Lebensführung" sei "nicht erst ein Produkt der Säkularisation reformierter Sittlichkeit, und ebensowenig ist das der Fall bei einem bis zur Ü ber­ spannung gesteigerten Erwerbstriebe, der alle anderen Triebe und Interessen im Menschen unterdrückt und ihn zu einer bloßen ,Erwerbsmaschine' herabdrückt; er ist auch gar nicht konstitutiv für den Begriff des ,kapitalistischen Geistes', auch nicht einmal sein Idealtypus, sondern lediglich sein Extrem" (Sp. 1 32 1 f.) . Auch Max Weber wendet sich in seiner Replik gegen Rachfachls Kritik gegen diese Ansicht: "Es ist .

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ist nicht sehr tiefsinnig. I n Wahrheit liegt in solchen Fällen stets eine Heran­ ziehung allgemeiner ethischer oder metaphysischer Vorstellungen für diese bestimmten Zwecke vor. Die Rachfahlschen Sätze würden zum barsten Ge­ schichtsmaterialismus führen,36 der doch bei den starken allgemein mora­ lischen Allüren seiner Abhandlung nicht seinem Sinne zu entsprechen scheint. Ü ber solche Probleme ist er offenbar nicht gewohnt, viel nachzu­ denken. Er mag das nicht für die Aufgabe des Historikers halten. I III. Damit sei das wirtschafts-geschichtliche Gebiet überhaupt verlassen, und ich komme zur Erwiderung auf diejenigen Punkte, wo nicht Webers, son­ dern meine Thesen vor allem angegriffen sind, die nun freilich wiederum Rachfahl nicht von denen Webers gesondert hat. Das Wesentliche dieser liegt einerseits in der Einschränkung der Kulturbedeutung des Protestantis­ mus für die Bildung des modernen Staates, der modernen Gesellschaft und Wirtschaft, der Wissenschaft und Kunst. Hier habe ich behauptet, daß alle diese Dinge bereits in einer eigenen selbständigen Entwicklung begriffen waren und durch den Wegfall der kirchlich-hierarchischen Bindung zwar freigestellt und befördert, aber nicht positiv hervorgebracht worden sind. Das religiöse Element habe seinen Lauf und seine Bedeutung daneben selb­ ständig und eigentümlich für sich.37 Gegen diese von anderen viel angefein­ deten Sätze hat Rachfahl nichts einzuwenden, sie sagen ihm höchstens noch nicht genug. Denn andererseits ist meine wesentliche Grundbehauptung, daß dieses zwar an sich selbständige und in ein bereits eröffnetes Kräftespiel eintretende religiöse Element nun doch wieder jene von ihm selbst nicht ge­ schaffenen Entwicklungen stark mit seinem Geist durchdrungen und - auf jedem Kulturgebiet übrigens in verschiedener Art und Stärke - in gewisse Richtungen gelenkt habe. Besonders habe ich hier die konfessionellen Uneben nicht richtig, daß eine jede Art der Tätigkeit sich ihre ,Berufsethik' einfach - wie Rachfahl behauptet und wie es ja das ,Nächstliegende' zu sein scheint - zu allen Zei­ ten in gleicher Art geschaffen habe. Meine Aufsätze hätten grade einen Beitrag zur Erkenntnis liefern mögen, in wieweit diese (im Wesen ,geschichtsmaterialistische') Auffassung, deren triviales Recht an sich selbstverständlich kein Mensch, am allerwe­ nigsten ich, anficht, in der historischen Entwicklung ihre Schranken hat." Max Weber: Antikritisches zum "Geist" des Kapitalismus (1 9 1 0), S. 1 96. 36 Vgl. die in Anmerkung 35, oben S. 1 6 1 , stehende Äußerung Max Webers. 37 Vgl. etwa die Ausführungen Troeltschs in der "Bedeutung", unten, S. 223, S. 233 und S. 297 f.

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terschiede hervorgehoben. Das Luthertum habe einen Typus politischer Passivität und agrarisch-konservativer Gesellschaftsauffassung erzeugt, der heute noch in der Gestaltung der deutsch-preußischen Dinge sehr fühlbar sei. Dagegen habe der Calvinismus sich mit der politisch-liberal-demokrati­ schen und der modern bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft innerlich ver­ schmolzen und damit den calvinistischen Völkern bis heute eine religiös ge­ rechtfertigte und begründete soziale Haltung ganz eigener Art gegeben. Das Täufertum und der Spiritualismus schließlich habe das Freikirchentum vor­ bereitet und mit diesem Ideal den Calvinismus erobert und gründlich ver­ wandelt, der Spiritualismus insbesondere in seiner Verbindung mit dem Hu­ manismus den modernen religiösen Individualismus unserer Intellektuellen vorbereitet. In der zweiten Gruppe dieser Behaup tungen I erkennt nun Rachfahl die Neigung zur Überschätzung des religiösen Elementes in der Geschichte. Es sind ihm Ü bertreibungen und Konstruktionen. Leben und Bedürfnisse, meint er, kümmern sich nicht soviel um die religiöse Idee und bahnen sich ihre Wege selbst. Insbesondere der Calvinismus des ersten Jahrhunderts war eine naturwidrige, beinahe pathologische Exaltation, die nicht dauern konnte, und der daher allzu tiefe Wirkungen nicht zuzuschreiben sind.38 "Die Übertreibung des Einflusses religiöser Momente und Lehren auf die reale Entwicklung - das ist der charakteristische Zug der Troeltsch- (We­ ber) schen39 These" sagt Rachfahl (Sp. 1 327) . Ähnlich wird gegen Häussers Satz, daß der passive Widerstand Luthers den Caraffas, Philipps und Stuarts 38 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 364 f.: "Wie großartig und erhaben auch immer diese heroische Religiosität des Kalvinismus war, so liegt es doch auf der Hand, daß sie eine Anspannung des religiösen Prinzipes involvierte, wie sie wohl für Zeiten der Gährung, da das Neue sich durchzuringen trachtet, notwen­ dig, aber nicht auf die Dauer möglich ist und nicht die Norm für die Allgemeinheit sein kann: die menschliche Natur ist wohl im Moment der Gefahr, da es sich um Sein oder Nichtsein handelt, eines Aufschwunges zu ungeheurer Energie fähig; aber wenn der Sturm vorüber i st so macht sich das Bedürfnis nach einer Lösung der enormen seelischen Spannung geltend. Schon im genuinen Kalvinismus lagen solche Elemente der Ü berspannung, seine Grundlehren von der totalen Verderbtheit der mensch­ lichen Natur, vom ewigen Ratschlusse Gottes mit seiner Verwerfung der Vielen und der Erwählung nur Weniger, sein moralischer Rigorismus; sie stellen an die Kräfte des Gemütes und des Willens Anforderungen, die über das Durchschnittsmaß mensch­ licher Veranlagung und menschlichen Könnens weit hinausgehen. Die extreme Reli­ giosität des Kalvinismus wurde, als sich im Puritanismus seine Synthese mit dem Täu­ fertum vollzog, durch das Eindringen der enthusiastischen Ideen bis zur Siedehitze des Fanatismus gesteigert; da war der Rückschlag unvermeidlich." 39 Im Original heißt es: "Troeltsch-Weberschen". ,

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nicht hätte entgegenwirken können, eingewandt: "das ist wieder einmal die Überschätzung kirchlicher Lehren, wo sie über das rein Religiöse hinausge­ hen" (Sp. 1 359) .40 Anderwärts heißt es: "Man sieht daraus, wie wenig sich die Mitglieder eines bestimmten Bekenntnisses, wo ihre realen Interessen ins Spiel kamen, um die Lehren ihrer Theologen kümmerten, insofern diese die Sphäre des rein Religiösen überschritten" (Sp. 1 327) . So ist auch der Sieg der Orthodoxie zu Dortrecht "gar nicht der eigenen Kraft"41 zu verdanken, "sondern nur einer Allianz mit Machtfaktoren, nämlich dem Statthalter42 und einer Kapitalistenklique, die mit ihr nichts gemein hatten, die dabei ihre Sonderziele verfolgten und sich ihrer nur als Waffe zur Vernichtung zufällig gemeinschaftlicher Gegner bedienten" (Sp. 1 29 1 ) . Daher besteht auch das eigentlich Neue und Eigene, was Rachfahl in seinem Aufsatz bringt, in dem Versuche, nun seinerseits die Beziehungen von Kapitalismus und Calvinis­ mus (Sekten und Pietismus fallen dabei ganz unter den Tisch) richtig zu er­ klären, die Weber und ich infolge unserer Übertreibung der Religion falsch erklärt hätten. Das Geheimnis ist erstens die Emanzipation des Staates von der kirchlichen Herrschaft im Protestantismus, der damit seine eigenen In­ teressen ungehemmter verfolgen kann,43 und zweitens die Toleranz, die bei

40 Bei Rachfahl lautet das Zitat Ludwig Häussers: "Mit dem passiven Widerstande Luthers konnte man den Karaffas, den Philipps, den Stuarts nicht entgegenwirken." (Ebd., Sp. 1 358 f.) . 41 Im Original heißt es: "ganz und gar nicht eigener Kraft". Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 29 1 . 42 Im Original: "Stadthalter". 43 Vgl. ebd., etwa Sp. 1 332 f.: "In einem viel höheren Grade verschmolzen in den katho­ lischen Ländern Religion und Politik; wiewohl jene dieser äußerlich in der Form des Staatskirchenturns untergeordnet war, stellte sie weit höhere Ansprüche an den Staat, beutete sie diesen für ihre besonderen konfessionellen Zwecke ungescheuter aus. In­ dem der Katholizismus Tendenz und Prätention einer alleinseligmachenden Religion von universaler Bedeutung aufrecht erhielt, zwang er die Machtmittel der ihm ergebe­ nen, von seiner Idee innerlich gebundenen Völker und Staaten in seinen Dienst zur Wiederherstellung seiner Alleinherrschaft, und eben dadurch ruinierte er sie: das be­ ste Beispiel dafür ist ja Spanien. Anders die einmal protestantisch gewordenen Völ­ ker: wenn sie aus religiösen Motiven in die Weltpolitik eingriffen, dann doch mehr zu defensivem Zwecke, zur Abwehr der Angriffe der katholischen Staaten und höch­ stens zum Schutze der im Machtbereiche des Katholizismus lebenden und hier un­ terdrückten Glaubensgenossen. Aber es ist bekannt, wie lau man dabei verfuhr, wenn man sich wirklich einmal dazu aufschwang, und jedenfalls war auf katholischer Seite die Bereitwilligkeit, in diesem Punkte Gleiches mit Gleichem zu vergelten, viel leb­ hafter und glühender wirksam. Niemals trat die Neigung zu einer weltumspannenden Offensive zum Behufe der konfessionellen Propaganda im Bereiche des Protestantis-

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Zurückdrängung der religiösen Leidenschaften die natürlichen Bedürfnisse wieder zur Geltung kommen läßt und den Wettbewerb der verschiedensten Gruppen freigibt44 • Also gerade die religiöse Indifferenz, der Humanismus und das Täufertum, sofern das letztere zur Toleranz wirkte, I sind die Ursa­ chen der höheren Entwicklung der protestantischen Völker, und der Calvi­ nismus ist zu allgemeiner Kulturbedeutung überhaupt erst vermöge seiner Zersetzung durch täuferische Toleranz und humanistischen Latitudinaris­ mus gelangt. Die Niederlande insbesondere sind zu ihrem ihnen eigentlich natürlichen Geiste, der erasmischen Aufklärung, und damit zu historischer Größe erst durch den Arminianismus gelangt, dessen Beseitigung durch die Orthodoxie bloß ein "sogenannter Sieg", ein Scheinsieg war.45 Damit man aber aus dieser Anschauung doch nicht ganz klug werde, krönt Rachfahl diese Äußerungen durch den salomonischen Satz: "Die weltlichen Dinge ge­ hen im großen und ganzen ziemlich selbständig ihren Weg; sie werden durch die religiösen Momente46 wohl beeinflußt, je nach der momentanen Kraft, die das religiöse Prinzip zu einer bestimmten Zeit entfaltet, bald stärker, bald schwächer; ihre Wirkung ist bald eine fördernde, bald eine hemmende, aber in beiden Fällen doch nicht ganz unbegrenzt. Wirken sie hemmend, so kön­ nen sie doch die Entwicklung selten aufhalten, man findet sich dann eben mit ihnen irgendwie ab . . . 47 ; wirken sie fördernd, so sind in der Regel schon in den Dingen selbst liegende Triebkräfte an der Arbeit, denen sie nur zu semus so energisch und rücksichtslos auf, wie etwa bei Philipp 11. und den Spaniern; die äußere Politik der protestantischen Mächte vermied es, fanatischen Expansions­ Utopien nachzujagen und hielt sich viel mehr in den Grenzen des Erreichbaren und Realen." 44 Vgl. ebd., etwa Sp. 1 333 f. : "Die Hauptträger des modernen Kapitalismus sind vom 1 6. bis zum 1 8. Jahrhundert unter den protestantischen Völkern die Holländer und Engländer; sie aber sind zugleich die beiden Nationen, bei denen sich das Prinzip der Toleranz zuerst erfolgreich durchsetzte und dauernd behauptete, wenngleich mit Re­ striktionen, die freilich zum Teile auch wieder Reaktion gegen Restaurationsversuche der alten Kirche waren; sie dachten nicht daran, eine äußerliche Glaubenseinheit künstlich auf Kosten des materiellen Wohlstandes bei sich zu erzwingen. Was das in Verbindung mit allen den anderen Faktoren protestantischer Religiosität, die das Wirtschaftsleben mehr begünstigten, als der Katholizismus, zu bedeuten hatte, das zeigt ein Blick auf die Geschichte der Niederlande seit ihrer Trennung von Spanien. " 45 Als Zitat nicht nachgewiesen, vgl. aber die unten, S . 1 68, Anmerkung 5 7 , zitierte Pas­ sage. Felix Rachfahl stellt zu diesem Satz in seiner Replik "Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus" (1 9 1 0) , Sp. 763, die rhetorische Frage, "wo" er "solchen Unsinn gesagt" haben soll. 46 Im Original: "religiöse Momente". 47 Im Original steht hier: " ,wie das Beispiel des kanonischen Zinsverbotes bezeugt".

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kundieren brauchen . . 48 Wo sich religiöses Prinzip und Wirklichkeit stoßen, da ist es nicht immer j enes, welches siegt, und mag es auch eine noch so ge­ waltige Kraft im Menschen entfalten, so sieht es sich doch auch oft genug zu Kompromissen mit der Praxis gezwungen", Sp. 1 328. Das letztere ist eini­ germaßen selbstverständlich, und "eine ganz unbegrenzte Wirkung" religiö­ ser Kausalitäten habe ich wahrlich nie behauptet. Allein der eigentliche Sinn auch dieses Satzes ist doch wohl die Empfehlung möglichsten Mißtrauens gegen jede Heranziehung religiöser Kausalitäten als Maxime des echten, menschenkundigen Historikers, der sich von Doktrinären und Idealisten nicht so leicht etwas vormachen läßt. Seine Zusammenfassung von allem ist daher: "Aus alledem erhellt,49 wie wenig sich die politische, wirtschaftliche und weltliche Entwicklung überhaupt durch religiöse Lehren binden läßt, wenn diese das rein religiöse Gebiet iiberschreiten"5o (Sp. 1 329). Alles das geht aus Rachfahls Aufsatz in dieser Zeitschrift und aus seiner großen I Darstellung der niederländischen Kämpfe in seinem "Wilhelm von Oranien" deutlich hervor. Es ist daran unverkennbar eine persönliche Auf­ fassung der religiösen Dinge beteiligt, derzufolge die Wirkung der Religion auf das Leben nicht bloß heute, sondern auch früher eine verhältnismäßig geringe ist und positive Kulturwirkungen nur von einem dogmen freien und aufgeklärten Toleranz- und Moralchristentum ausgehen können. 51 .

48 Im Original steht hier: " ,so beim Kapitalisten der ihm innewohnende Erwerbstrieb,

beim Arbeiter ökonomischer Zwang, Streben nach besserem Verdienste u. a. m." 49 Im Original heißt es bis hier: "Aus allem dem erhellt doch eins:" (ebd., Sp. 1 329) . 50 Im Original nicht hervorgehoben. 51 Vgl. ebd., Sp. 1 353 f. Gegen diese Behauptung Troeltschs schreibt Rachfahl in "Noch­ mals Kalvinismus und Kapitalismus" (1 9 1 0) , Sp. 702, daß er "das nie gesagt und sogar

nicht einmal gedacht haben kann", erhelle sich "schon daraus, daß ich die Möglichkeit eines Einflusses reformierter Berufsethik auf die wirtschaftliche Kultur anerkannt habe. Freilich was das Maß dieser Kulturwirkungen im einzelnen anbelangt, so wird zwischen Troeltsch und mir schwerlich Ü bereinstimmung herrschen: das gibt ihm aber noch lange nicht die Befugnis, mir schlechthin eine Verneinung alles Einflusses konfessioneller Momente auf die Kulturentwicklung nachzusagen." Vgl. hierzu fol­ gende Ausführungen aus Rachfahls "WiJhelm von Oranien und der Niederländische Aufstand", hier 1 . Band (1 906) , etwa S. 45 1 -453: "Immer mehr bahnte sich im An­ schlusse und in Anknüpfung an die Gedanken des Erasmus gerade in den Niederlan­ den die Einsicht an, dass sich Religion und Konfession nicht durchaus zu decken brauchten, dass das religiöse Moment wohl im konfessionellen mit enthalten sei, in­ sofern dieses an jenem Anteil habe, dass es aber doch eine selbständige Bedeutung besitze. Man begann zu ahnen, dass es eine Religiosität über und ausser den Bekennt­ nissen gäbe. Die Verhältnisse des realen Lebens, die natürlichen Gefühle waren so mächtig, dass ein religiös-dogmatisches Prinzip, das sich in seiner praktischen Betäti-

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Demgegenüber möchte ich nun zunächst feststellen, daß das schon für die Gegenwart nicht zutrifft. Freilich in den Kreisen unserer Intellektuellen ist die Bedeutung der Religion für das praktische Leben überaus gering. Das ist eine altbekannte Tatsache. Aber man darf daraus auf das analoge Verhältnis in anderen Volkskreisen nicht ohne weiteres schließen. Es genügt doch, die politische Lage in Deutschland allein ins Auge zu fassen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Hier ist alles beherrscht durch das Zentrum einer­ seits, das ganz unzweifelhaft wesentlich durch religiöse Motive zusammen­ gehalten ist und sein besonderes Programm der Verbindung von Demokra­ tie und Autorität, von Sozialreform und ständischer Gebundenheit gerade aus der Überlieferung seiner Ethik und Soziologie herleitet. Ich glaube, das in meinen "Soziallehren der christlichen Kirchen" (Archiv XXVII und XXVIII) deutlich und unwiderleglich gezeigt zu haben. Auf der anderen Seite ist die Lage beherrscht durch die lutherischen Konservativen, denen erst ihr Zusammenhang mit der Orthodoxie die starke populäre und ideelle Grundlage gibt, und deren politisch-soziales Programm ebenso historisch aufs engste mit allen Instinkten und Grundgefühlen des Luthertums zu­ sammenhängt, wie ich gleichfalls im Archiv (XXIX und XXX) völlig klar gemacht zu haben glaube. Was nun aber den modernen Calvinismus anbe­ trifft, so stellt auch dieser gerade auf dem Grunde seiner religiösen Eigen­ tümlichkeiten eine besonders starke und eigentümliche politische, soziale und wirtschaftliche Kulturrnacht dar. Man braucht nur Tocquevilles heute noch wunderbares Buch über die "Democratie en Amerique" zu lesen oder Morleys Biographie von Gladstone, die diesen großen Staatsmann vom toryistisch-anglikanischen Standpunkt zu dem freikirchlichen und politischliberalen der Dissenter übergehend und auf diese vor allem sich I stützend zeigt. 52 Dabei ist das Freikirchenturn allerdings eine täuferische Einwirkung.

gung in unlösbaren Widerspruch mit ihnen setzte, als überspannt und unbrauchbar erscheinen musste. [ . . . ] In allen diesen Stücken folgten die Niederländer den Spuren ihres gros sen Landsmannes Erasmus; in einer Beziehung aber ist dieser ganz beson­ ders als der Repräsentant des niederländischen Volksgeistes und als Vorbild seiner Landsleute zu betrachten, nämlich in seiner Eigenschaft als Vertreter des Toleranzge­ dankens. [ . ] Seit den Tagen des Erasmus ist trotz allen Widerspruches von extrem­ katholischer und streng-kalvinistischer Seite der Ruf nach Duldung und Freiheit des Gewissens in den Niederlanden nicht mehr verklungen. Von Angehörigen beider Konfessionen wurde der Toleranzgedanke im Sinne des Erasmus eifrig und wirksam vertreten. " 52 Vgl. hierzu Gladstones "unfinished fragment", das in Modeys Biographie mit der Be­ merkung eingeleitet wird, Gladstone "began to trace the golden thread of his reli­ gious growth". John Modey: The Life of William Ewart Gladstone, Volume 1 (1 903), . .

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Aber das Freikirchentum bedeutet nicht Toleranz an sich, sondern nur die Preisgabe des Staatskirchentums und des Staatszwanges, den Rückgang auf die Selbständigkeit der Einzelkirche, innerhalb deren dann aber erst recht die strengste dogmatische Kontrolle geübt wird. Es ist die gegenseitige Duldung verschiedener Kirchen nebeneinander, aber die dogmatische Strenge und Gebundenheit nach innen. Auch von einer Verbindung dieses mächtigen ge­ genwärtigen Calvinismus mit dem Humanismus und der Aufklärung ist nicht die Rede. Denn die Anwandelungen des Rationalismus des 1 8. Jahr­ hunderts sind im modernen Calvinismus wieder ausgeschieden, er ist unter dem Einfluß des Methodismus und Pietismus wieder orthodox geworden. Bloß den politisch-sozialen Liberalismus hat er beibehalten, eine Verbin­ dung, die in England und Amerika den deutschen Besucher in der Regel vor allem zu befremden pflegt. Auch ein Mann wie Gladstone ist bei allem poli­ tisch-sozialen Liberalismus doch religiös in einer Weise orthodox gewesen, die dem gebildeten deutschen Professor unfaßbar zu sein pflegt. Ein neue­ rer Darsteller des englischen Liberalismus (Ostrogorski, La democratie et l 'organisation des partis politiques 1. 1 903 S. 93) sagt bei Gelegenheit des Methodismus: "Des le moment Oll l ' ame individuelle se fut reveillee po ur s ' affirmer en face de Dieu et de la societe, ,l 'homme' etait53 entre sur la scene sociale et politique de l 'Angleterre54 pour ne plus la quitter. 11 est entre en Angleterre par l 'ouverture de la morale, comme il a penetre en France par celle de la logique". Morley in seinem Life of Gladstone I, S. 1 63 schildert das 1 9. Jahrhundert: "Philantropic reform still remained with the evangelical school that so powerfully helped to sweep away the salve trade, cleansed the prisons and aided in humanising the criminel55 law. It was they who helped to form a conscience, if not a heart, in the callous bosom of English poli­ tiCS."56 Außerdem sei erinnert an des niederländischen Exministers Kuypers Vorlesungen über den Calvinismus, die er an der Hochburg calvinistischer

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S. 1 59. Bei Gladstone heißt es etwa: "I desire to say that at this moment I am as closely an adherent to the doctrines of grace gene rally, and to the general sense of Saint Augustine, as at the date from which this narrative set out. I ho pe that my mind has dropped nothing affirmative. But I hope also that there has been dropped from it all the damnatory part of the opinions taught by the evangelical school; not only as regards the Roman catholic religion, but also as to heretics and heathens" (S. 1 62) . Im Original: "etait". Im Original: "d'Angleterre". Im Original "criminal". Die Passage "who helped to form a conscience, if not a heart, in the callous bosom of Englisch politics", die im Original als Zitat ausgegeben ist, stammt von Andrew Mar­ tin Fairbairn: Catholicism: Roman and Anglican (1 899) , S. 292.

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Orthodoxie, an der Princeton University, gehalten hat (deutsch von Jäger "Reformation wider Revolution" 1 904) , und deren Ideen auch nicht I auf dem bloßen Papier geblieben sind. Die heißen niederländischen Kämpfe drehen sich um sie bis heute, obwohl die Dordrechter Synode nach Rachfahl wirkungslos geblieben ist und Erasmus den niederländischen Nationalgeist darstelltY Das letztere muß ich meinerseits für eine unbegreifliche Über­ treibung halten. Wer im Arminianismus den Geist der Niederlande zu sich selber kommen sieht, S 8 könnte ebenso gut behaupten, daß der deutsche Geist erst im Altkatholizismus sich erfaßt habe. Jedenfalls lebt im heutigen Holland eine starke, auch politisch und kulturell höchst einflußreiche Ortho­ doxie. Es kann also sogar für die Gegenwart gar keine Rede davon sein, daß "kirchliche Kräfte ihre Wirksamkeit über das eigentlich Religiöse nicht hin­ aus zu erstrecken pflegen".s9 Ü berhaupt dürfte es Rachfahl schwer fallen, zu sagen, was denn dies "eigentlich Religiöse" sei, über das kirchliche Kräfte nicht hinauswirken. Ge-

57 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 334: "Der Republik

der Vereinigten Niederlande kam es sogar direkt zustatten, daß sie, wenngleich ein protestantisches, so doch ihrem innersten Wesen zu folge nie ein eigentlich kalvinisti­ sches Gemeinwesen war; die Geschichte der Religiosität und des gesamten Geistes­ lebens ist hier, im letzten Grunde, ein Kampf zwischen Calvin und Erasmus, in wel­ chem selbst die Dordrechter Synode dem Kalvinismus keinen wirklichen, geschweige denn einen dauernden Sieg brachte." 58 Vgl. ebd., Sp. 1 353: "Und eben vor diesen seinen Widersachern, denen sein Kampf gegen Rom Luft und Licht zur Erhaltung ihrer Existenz und zur Entfaltung ihrer Kräfte gewährt hatte, mußte der Kalvinismus schließlich kapitulieren. In Holland be­ gann seine Verschmelzung mit dem Renaissance-Christentum humanistischer Auf­ klärung erasmianischer Prägung; als ihre theologische Formulierung stellte sich der Arminianismus dar. Dadurch mußte er über sich Veränderungen in seinem Wesen im Sinne des Rationalismus und der Toleranz ergehen lassen; noch viel mehr als in der Theologie kamen sie zum Ausdruck in der praktischen Religiosität des holländischen Volkes, zumal seiner höheren Stände." Auch hier widerspricht Felix Rachfahl; er habe "diesen Ausspruch [ . . ] nie getan". Felix Rachfahl: Nochmals Kalvinismus und Ka­ pitalismus (1 9 1 0) , Sp. 763. 59 Als Zitat nicht nachgewiesen. Felix Rachfahl schreibt in seiner Replik auf Webers und Troeltschs Kritiken "Nochmals Kalvinismus und Kapitalismus" (1 9 1 0) , Sp. 700, hierzu: "Troeltsch vindiziert mir hier eine Äußerung als wörtlich von mir getan, die ich vergeblich in meiner Abhandlung suche." Seines Erachtens "handelt es sich dabei um eine schiefe Wiedergabe meiner Abhand!. Sp. 1 327 ff., deren Sinn natürlich ein ganz anderer ist". Die "Anführungszeichen können doch nur den Zweck haben, den Leser glauben zu machen, daß ich solche Ungereimtheiten tatsächlich behauptet hätte; da ist es freilich leicht, zu polemisieren" (Sp. 700) . .

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hört die religiöse Ethik mit ihren Anschauungen über Familie, Staat, Gesell­ schaft, Wirtschaft und Kultur zum "eigentlich Religiösen", dann sind dessen Grenzen schwer festzustellen. Es ist das überhaupt eine ganz unmögliche Vorstellung von der Sache. Wer den absoluten Wahrheitsanspruch der kirch­ lichen Dogmen, die einschneidenden Konsequenzen der christlichen Ethik in ihren verschiedenen kirchlichen Ausprägungen kennt, wer die alles be­ herrschende Tendenz dieser leidenschaftlichen Gefühlsrnächte in der Nähe gesehen hat, der wird sich nicht wundern, wenn all das über die Grenzen der bloßen Kultgemeinschaft hinaus auf das allgemeine Leben zu wirken strebt. Dieses Streben ist wahrhaftig nicht erfolglos, wie die immer erneuerten so­ genannten Kulturkämpfe zeigen, und die praktische Rolle, die das tolerante dogmenfreie Moralchristentum spielt, ist, so hoch man es schätzen mag, zwi­ schen den kirchlichen Absolutisten und den radikalen Kirchenfeinden doch eine sehr bescheidene. Das geistige Leben, besonders in Hinsicht der Religion, bewegt sich in Pendelschlägen. Auf Zeiten höchster Energie und Konzentration folgen sol­ che der Ermattung und der Ausweitung. Etwas derartiges mag auch wieder auf unsere gegenwärtige Periode der unzweifelhaften Ermattung folgen, worüber bei Jakob Burckhardt in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" lehrreiche Andeutungen I zu lesen sind.60 Jedenfalls aber ist die Gegenwart eine Zeit der Religionsschwäche. Wenn nun aber schon hier die weit über das kirchliche Gebiet hinausreichende Wirkung religiöser Energien un­ verkennbar ist, so war das erst recht der Fall in jenen Zeiten, die, wie das 1 6. Jahrhundert, ganz und gar von der religiösen Leidenschaft erfüllt sind. Freilich wird ein skeptischer Menschenkenner auch hier zeigen können, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht ist, daß das Leben über Theorien und Dogmen sich unter Umständen hinwegsetzt, daß die religiöse Motivierung oft ein Mäntelchen ist, das die Zeit verlangt, und das oft sehr äußerlich höchst weltlichen Dingen umgehängt wird. Und auch eine dem Gegenstand innerlich verwandtere Betrachtung wird darauf hinweisen müssen, daß zwar die Dogmen vollständig zum Siege kamen, daß aber gerade die ethischen Kulturideale meist so hoch gegriffen, die realen Lebensbedingungen so weit überfliegende Utopien waren, daß sie praktisch nur sehr ge­ brochen durchführbar waren. Immerhin, das Zeitalter hat sie doch in sehr erheblichem Umfange verwirklicht. Für beides, für die unumgänglichen Kompromisse I mit einer dem lutherischen Ideal gar nicht entsprechenden Wirtschaftsethik und für die rücksichtslos alles opfernde Behauptung des re-

60 Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen (1 905) , vgl. Kapitel 4: Die ge­

schichtlichen Krisen, S. 1 60-209.

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ligiösen Systems im Ganzen gibt Gotheins Schilderung der "Markgrafschaft Baden im 1 6. Jahrhundert" 1 9 1 0 ein charakteristisches Beispiel. Vollends der Calvinismus, wenn man ihn nicht bloß aus dem ihm innerlich abgeneigten Kampschulte studiert, hat mit einer rücksichtslosen Energie die Einzelhei­ ten des Lebens nach seinen Idealen geformt. Hier ist Calvins Briefwechsel ein den modernen Menschen immer von neuem erschütterndes Beispiel, und die beiden Schriften von Choisy (La theocratie a Geneve o. J. und beson­ ders L' etat chretien calviniste a Geneve aux temps de Beze o. J.) zeigen bis ins einzelne die christlich-soziale Durcharbeitung des Genfer Staates. Ich kann und brauche das im einzelnen gar nicht näher zu beweisen. Ich wende mich nur gegen die einzelnen Beispiele, in denen Rachfahl mit einem an sich gewiß schätzenswerten gesunden Menschenverstand die Unwirksamkeit des religiösen Elementes gegenüber dem allgemeinen Leben veranschaulichen wollte. (Schluß folgt) (Schluß) A 501

Rachfahl weist darauf hin, daß Luther den Christen die Anrufung der Obrig­ keit untersagt habe, auch wenn ihnen Unrecht geschähe. "Haben deshalb", fragt er, "in den lutherischen Territorien die Gerichte ihre Tätigkeit einge­ stellt?" (Sp. 1 329) Gewiß nicht. Allein Luther hat jenen aus seinen spirituali­ stischen Anfängen stammenden Satz später ausdrücklich widerrufen,61 und die Rechtfertigung des ordentlichen Gerichts und seiner Anrufung gehört zu den Grundlagen seiner reifen Staats- und Berufslehre. Luther habe den akti­ ven Widerstand gegen die gottlose Obrigkeit perhorresziert, aber, wie er sich selbst damit mehr und mehr befreundet habe, so hätten seine Anhänger um sein Gebot sich nicht eben immer bekümmert (Sp. 1 329) .62 Hierzu lese man bei v. Schubert "Bündnis- und Bekenntnisbildung 1 529/30" (Zeitschr. f. Kirchengesch. 1 909) nach über die heißen Kämpfe, die es gekostet hat, und über den Ausweg, den man gefunden hat, indem man den Widerstand nur für den Fall erlaubt erklärte, wo auch das positive Recht eine Handhabe für

61 Vgl. unten, S. 254, Anmerkung 53. 62 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 329: Luther "hat den

aktiven Widerstand gegen die gottlose Obrigkeit perhorresziert; aber so, wie er sich selber damit schließlich mehr und mehr befreundete, so haben sich in der Folgezeit seine Anhänger um sein Verbot nicht eben immer gekümmert; man denke nur an die Lutheraner in den habsburgischen Ländern zum Beginne des 1 7 . Jahrhunderts !"

Schluß

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solchen bietet.63 Das religiöse Gewissen I hat sich so leicht mit diesen Dingen nicht abgefunden. Die Nürnberger blieben gar bei der Opferung für den Satz von der Nichtresistenz.64 Wenn Rachfahl weiter als Beweis der Gleich­ gültigkeit religiöser Theorien für die Praxis erzählt, daß die niederländischen Geusen sich statt an den abmahnenden Beza an ein deutsches Buch gehalten hätten, das die Resistenztheorie mit den Mitteln der Schmalkaldener rechtfertigte (Sp. 1 360),65 so ist das doch wiederum nur ein Beweis dafür, daß das Gewissen eine religiöse Rechtfertigung und Grundlage wollte. Diese deutschen Theorien sind zudem auch von Genfern übernommen und insbesondere von Beza in seiner berühmten (anonymen) Schrift De jure ma­ gistratuum als Grundlage reformierter Auffassung systematisch entwickelt

63 Luther, so Hans von Schubert, sei erst nach längerem Zögern der Auffassung ge­

folgt, daß die Reichsfürsten selbst "Obrigkeit" seien, weswegen ihre Meinungsver­ schiedenheiten mit dem Kaiser nicht als "Widerstand" zu bewerten seien. Hatte je­ doch Landgraf Philipp von Hessen im Verbund mit Kursachsen für das Recht der Reichsstände plädiert, den Kaiser ihrerseits angreifen zu dürfen, wenn dieser das Evangelium bedrohe, so waren namentlich das Kurfürstentum Brandenburg und die Reichsstadt Nürnberg nicht davon zu überzeugen. Vgl. Hans von Schubert: Beiträge zur Geschichte der evangelischen Bekenntnis- und Bündnisbildung, hier Bd. 30 (1 909) , Abt. VII. Die Frage nach dem Recht des Widerstandes gegen den Kaiser und der Briefwechsel zwischen Philipp von Hessen und Georg von Brandenburg, S. 27 1 -3 1 5. 64 Vgl. zur Haltung des Nürnberger Reformators Lazarus Spengler ebd., S. 280: "Das ist die erste prinzipielle Auseinandersetzung der Frage, die das Recht des Widerstands glatt verneint, der Anstoss und die Vorlage für alle weiteren. " Von 1 53 1 an stünde die kursächsische Re­ gierung "definitiv fest auf dem Standpunkt der Gegenwehr. Anders aber auch hier wieder wie in der Bekenntnisfrage die Franken, Brandenburg und namentlich Nürn­ berg. Wie von hier aus der Anstoss und die gründlichste Untersuchung ausgegangen war, so hat man hier trotz Augsburg, trotz Sachsens, ja trotz der Wittenberger festge­ halten an dem Satz vom leidenden Gehorsam." (S. 3 1 5) . 6 5 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 360: "Als die nieder­ ländischen Geusen sich zu ihrer ersten Erhebung anschickten und dazu einer theore­ tischen Rechtfertigung bedurften, ließen sie nach einer solchen nicht die Gebrüder Marnix in dem Arsenal der kalvinistischen Literatur suchen, sondern ihr Führer Harnes bat den Grafen Ludwig von Nassau, er möge ihnen eine gewisse Abhandlung aus Deutschland mitbringen, die er ihnen versprochen habe, und in der die Gründe angeführt seien, auf welche hin die niedere Obrigkeit die Waffen ergreifen dürfe, wenn die höhere schlafe oder Gewaltherrschaft ausübe." In der beigegebenen Fuß­ note verweist Rachfahl auf Moriz Ritter: Ü ber die Anfänge des niederländischen Auf­ standes (1 887), S. 425, der unter dieser Abhandlung die "Vermahnung der Pfarrherrn in Magdeburg" vom April 1 549 vermutet.

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worden.66 Gustav Adolf (Sp. 1 339) hat gewiß eine sehr wenig quietistische Angriffpolitik betrieben,67 allein seine Grundsätze waren in diesem Punkte auch nicht wesentlich lutherisch; er berief sich auf des Grotius De jure belli ac pacis, welches Buch er Tag und Nacht bei sich gehabt haben soll.68 Die I Motivierungen, die der österreichische Adel seinen Aufständen gab, sind mir allerdings unbekannt, aber ich vermute, daß sie wie die Hugenotten das positive ständische Recht für sich angerufen haben werden. Wenn die Luthe­ raner in alledem nur im Notfall das positive Recht geltend gemacht, die Reformierten aber die Kontrollinstanz der unteren Behörden zu einer systematischen Christianisierung der Politik ausgebaut haben, so liegt der Grund dafür ganz offenkundig in den Grundunterschieden von Genf und Wittenberg, und es ist mir unbegreiflich, wie Rachfahl die ganz über­ wiegende Passivität des Luthertums auf den Zufall zurückführen will, daß an seiner Spitze gerade einige schlaffe und unfähige Fürsten standen 66 In den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) , S. 687-692

-- KGA 9, referiert Troeltsch ausführlich aus Theodor Bezas "De jure magistra­ tuum". Troeltsch gibt an, daß diese 1 574 erstmals anonym erschienene Schrift ihm in einem "Druck von Basel 1 580" vorgelegen habe, "als Beigabe zu Machiavellis Prin­ cipe, zusammen mit den Vindiciae contra tyrannos" (S. 688 f.) . Es handelt sich hier um folgende Ausgabe: De iure magistratuum in subditos, et officio subditorum erga Magistratus. Tractatus brevis & perspicuus his turbulentis temporibus, utrique ordini apprime necessarius, in: Nicolaus Machiavellus: Princeps. Ex Sylvestri Telii fulginatis traductione diligenter emendata. Adiecta sunt eiusdem argumenti, alierum quorundam contra Machiavellum scripta de potestate & officio Principum, & contra tyrannos, Basilex: Petrus Perna, 1 580, S. 206-306. 67 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) , Sp. 1 359: Gustav Adolf zeige "zur Genüge, daß lutherische Religiosität mit aktivem Heroismus sehr wohl ver­ einbar war. Das soll man doch nicht vergessen, daß die Rettung des deutschen Prote­ stantismus und damit die Erhaltung der ganzen Machtstellung des Protestantismus in Europa und der Welt - abgesehen von dem rein politischen Moment der habsbur­ gisch-französischen Rivalität - in erster Linie ein Werk lutherischer Tatkraft und Hel­ denhaftigkeit war." 68 In den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) , S. 602 -- KGA 9, präzisiert Troeltsch diese Angabe, die Information steht in Julius Hermann von Kirchmanns Einleitung "Des Hugo Grotius Leben und Schriften" von: Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, in welchem das Natur­ und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden (1 869), S. 8 f.: "Das Werk hatte gleich bei seinem Erscheinen einen ausserordentlichen Erfolg. Der grosse König Gustav Adolph führte es beständig, auch während des Krie­ ges bei sich, und nach seinem Tode, in der Schlacht bei Lützen, ward es in seinem Zelte gefunden. Wenn Gustav Adolph in dem Buche gelesen hatte, pflegte er auszu­ rufen: ,Es giebt nur einen Grotius;"'.

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(Sp. 1 36 1 ) ,69 zu denen übrigens der Hauptträger des sächsisch-lutherischen Konservatismus, Kurfürst Friedrich August, sicherlich nicht gehörte. Ä hn­ lich bestreitet Rachfahl den Zusammenhang des lutherischen wirtschafts­ ethischen Konservatismus mit der naturalwirtschaftlichen Reaktion des 1 6. und 17. Jahrhunderts und macht mich besonders darauf aufmerksam, daß Lamprechts "Werke für Theologen, die das Grenzgebiet der Geschichts­ wissenschaft streifen, nicht gerade als Orientierungs mittel zu empfehlen seien".7o Gewiß, Bedenken gegen Lamprecht sind auch mir nicht ganz un­ geläufig,71 wie Rachfahl inzwischen beobachtet haben wird; aber die Tatsa­ che einer Steigerung des agrarischen Charakters in den lutherisch östlichen Landen und die Entstehung des Großbetriebes entnehme ich auch dem gro­ ßen Artikel Gotheins über Agrargeschichte (Religion und Geschichte in Ge­ genwart I, 1 909) ,72 und wer den lutherischen Patriarchalismus kennt, der 69 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 36 1 : Dem Calvinis­

mus "gehörte in den Ländern Westeuropas eine Generation von Bekennern an, die nicht saturiert und schlaffen Mutes waren, wie die lutherischen Fürsten von Nord­ deutschland". 70 Ebd., Sp. 1 327: "Nach Troeltsch ist die Wirtschaftsauffassung des Luthertums ,bei der Deutschland beherrschenden naturalwirtschaftlichen Reaktion des 1 6. und 1 7. Jahrhunderts' immer konservativer geworden. Mir ist von einer solchen ,natural­ wirtschaftlichen Reaktion' nichts bekannt; ich weiß wohl, daß in einem bestimmten historischen Werke davon oft die Rede ist, würde dieses aber für Theologen, die das Grenzgebiet der Geschichtswissenschaft streifen, nicht gerade als Orientierungsmit­ tel empfehlen." Das Zitat stammt aus Troeltschs "Die Bedeutung des Protestantis­ mus für die Entstehung der modernen Welt". In der 2. Auflage hat Troeltsch die Stelle gestrichen, s. unten, S. 27 1 . Mit dem "bestimmten historischen Werke" ist Karl Lamprechts "Deutsche Geschichte" gemeint; Rachfahl verweist hier auf seine 1 896 geschriebene Rezension des 5. Bandes, 2. Hälfte, von 1 895. 71 Troeltsch hat sich vor allem mit Rezensionen in die Lamprecht-Debatte eingebracht. So besprach er 1 899 zustimmend Georg von Belows Auseinandersetzung mit Lamp­ recht. Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below: Die neue historische Methode (1 899) . Vgl. auch: Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottes­ gedankens und der Heilbringer (1 906) , sowie Rezensionen zu Arbeiten von Lamp­ recht-Schülern, hier v. a.: Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Bock: Jakob Wegelin als Geschichtstheoretiker (1 905) und ders.: [Rez.] Felix Günther: Die Wissenschaft vom Menschen (1 909) . Gegen letztere hat Felix Günther eine Streitschrift verfaßt: Felix Günther: Troeltsch-Heidelberg und die Lamprechtsche Richtung (1 909) . In diese Debatte hat auch Karl Lamprecht selbst eingegriffen mit seinem Beitrag "Herr Prof. Troeltsch" (1 909) . 72 Eberhard Gothein: Agrargeschichte: II. Mittelalter und Neuzeit (1 909), Sp. 279 f.: "Hat sich dergestalt die Agrarverfassung des Westens zwar langsam aber stetig nach ein und derselben Richtung entwickelt, so zeigt dagegen der Osten eine sprunghafte,

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wird nicht leugnen, daß er der Erweiterung der Untertänigkeiten günstig war. Um eben dieses Patriarchalismus willen habe ich auch - "ebenso kühn wie falsch" nach Rachfahls Meinung - den alles bevormundenden Polizeistaat und den patriarchalischen Absolutismus als ein echtes Kind des Luthertums bezeichnet; die Analogien in Frankreich waren mir nicht unbekannt; allein die katholische Ethik kennt auch ihrerseits den Patriarchalismus ähnlich wie das Luthertum, während auf dem Boden des reformierten Individualismus meines Wissens derartige Entwicklungen nicht eingetreten sind.73 Das ist sicherlich kein Zufall. Man braucht nur Seckendorffs Fürstenstaat zu I lesen, um die Ü bergänge mit Händen zu greifen (vergl. dazu Jäger, Politische Ideen Luthers und ihr Einfluß auf die innere Entwicklung Deutschlands, Preuß. Jahrbb. 1 903) .14 Es mag an diesen Beispielen genug sein, ich glaube, in keiöfters unterbrochene Entwicklung, eine ausgeprägtere Politik und schroffere Gegen­ sätze. Hier drang seit der Mitte des 1 6. Jhd.s der Großbetrieb vor, nachdem noch der Bauernkrieg hierher nicht gedrungen war, unzweifelhaft ein Zeichen damals noch günstiger Lage. Er trug einen entschiedenen Sieg davon. Aus dem bescheidenen Rit­ teracker erwuchs das Rittergut. Dies konnte nur geschehen auf Kosten des Bauernlan­ des, durch die sogenannte Bauernlegung. Mit der Einschränkung des Lehenswesens und der Höfe, dem Aufhören der Fehden und der Ritterheere, nimmt sich der Adel des Landbaus selber stärker an, was von den Fürsten natürlich begünstigt wird. Die Fürsten selber gehen mit gutem Beispiel auf ihren Domänen voran, am entschieden­ sten Kurfürst August von Sachsen. Die aufkommende landwirtschaftliche Literatur des 1 6. und 1 7. Jhd.s, die zugleich Privat- und Staatswirtschaft berücksichtigt, hat be­ reits den Großbetrieb im Auge. Der Handel mit den Erzeugnissen der Landwirt­ schaft, der im Osten immer von größerer Bedeutung gewesen war, hat zwar nicht den Anstoß zur Entstehung des Großbetriebs gegeben aber seinen Fortschritt mächtig gefördert. " 73 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909), Sp. 1 327 f.: "Man lese nur die Ausführungen von Troeltsch über das Verhältnis des Luthertums zu Merkantilis­ mus und Absolutismus; ebenso kühn wie falsch kennzeichnet er den aufgeklärten Ab­ solutismus und den alles bevormundenden Polizeistaat als Kinder des Luthertums; es ist nur wunderbar, daß sich diese Erscheinungen auch in den katholischen Ländern finden." Troeltsch bezieht sich hier auf das Hauptwerk von Veit Ludwig von Seckendorff 74 "Teutscher Fürsten-Stat" (1 656), das auch in Jaegers Aufsatz Erwähnung findet, der ganz im Sinne Troeltschs schon mit den Worten beginnt: "Der preußische Staat ist auf dem Boden des Protestantismus erwachsen." Georg Jaeger: Die politischen Ideen Luthers und ihr Einfluß auf die innere Entwicklung Preußens (1 903), S. 2 1 0. Auf Veit Ludwig von Seckendorff bezieht sich Jaeger allerdings vor allem im Hin­ blick auf dessen Werk "Christen-Stat" (1 685), das er als "werthvolles Zeugnis für die Erneuerung des reformatorischen Geistes" schätzt (S. 259), anhand dessen er im letzten Abschnitt seines Aufsatzes (S. 258-27 5) die Politik Friedrich Wilhelms I. dar-

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nem Fall hat hier Rachfahl gegen mich die Bedeutungslosigkeit der religiös­ ethischen Ideale für die Praxis des Lebens erwiesen. Sein Haupttrumpf ist nun freilich die neu von ihm vorgelegte Theorie über die Gründe des unleugbar engen Verhältnisses von Kapitalismus und Calvinismus. Die Gründe liegen nach seiner Meinung gerade in der Bändi­ gung der religiösen Energieen durch die Weltlichkeit eines hierarchisch nicht mehr gefesselten Staates, in der Aufklärung und Toleranz, die aus dem ur­ sprünglichen, durch Orthodoxie und Staatskirchentum zwar gebundenen, aber doch nicht erdrückten protestantischen Individualismus hervorgehen mußten (Sp. 1 532) .75 Aus eigenem habe der Calvinismus zu alledem nur die "allgemein chrisdiche Ethik"76 des Fleißes, der Treue, der Ordnung und der Solidarität mitgebracht, was ja allerdings für den Kapitalismus günstig gewe-

stellt, die, so Jaegers Resümee, im wesentlichen mit den Ansätzen von Seckendorfs "Der Christen-Stat" übereinstimme: Der "soziale Geist" sei dem "preußischen Kö­ nigthum und Beamtenthum aufgeprägt, weil die lutherische Staatsauffassung in den entscheidenden Stunden seiner Geschichte die führenden Persönlichkeiten be­ herrschte" (S. 275) . 7 5 Troeltsch meint wohl Sp. 1 352. Rachfahl führt dort aus, daß die "Religiosität", wie Calvin sie gelehrt habe, "wenn sie eine Macht werden sollte, die der alten Kirche ge­ wachsen" sein wollte, "die ihr gegenüber dem Protestantismus Halt und Wider­ standskraft zu verleihen geeignet war, zunächst vor innerer Auflösung bewahrt wer­ den" mußte; "rein und unversehrt mußte ihr Kern erhalten werden. Denn sonst hätte sie die gewaltige Triebkraft eingebüßt, die sie ihren Bekennern einflößte; nimmer­ mehr wäre sie das stolze Palladium geblieben, um dessen willen man das Herzblut vergoß. Es war eine tragische Notwendigkeit, daß der Protestantismus, wenngleich ein Kind des Individualismus und der Gewissensfreiheit, sie doch zuerst mit Gewalt niederhalten mußte, um sie für spätere Zeiten möglich zu machen: denn hätte er sie schon in seinen ersten Anfangen ungestört schalten und walten lassen, so wäre er eben nie eine Macht geworden. Durch das System des Zwanges, das er schuf, hat Cal­ vin schließlich die Freiheit gerettet. Das war der Erfolg seines Wirkens; aber er war nicht von ihm gewollt." 76 Vgl. ebd., Sp. 1 263 f. : "Man kann nicht einfach sagen: Der Altprotestantismus über­ nahm vom mittelalterlichen Katholizismus die Aszese, nur daß er an die Stelle von Selbsterhaltung und Weltflucht die Berufsarbeit setzte. Das wäre eine Verdrehung des geschichtlichen Herganges. Die Aszese des Mittelalters war eine Sondermoral, die der Protestantismus nicht übernommen, sondern verworfen hat. Er hat vielmehr die all­ gemeine christliche Ethik, wie sie für jedermann ohne Ausnahme galt, nach bestimm­ ten Richtungen fortgebildet. Dazu gehörte es, daß die Berufslehre auf einem neuen Fundamente aufgebaut wurde, indem die Arbeit eine neue Wertung erhielt, indem sie zur höchsten sittlichen Betätigung des Menschen erklärt und allen zur Pflicht ge­ macht wurde."

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sen sei77 . Es ist das auch bei Rachfahl reine Konstruktion, deren sicherstes Beweisstück das vorher an allerhand Beispielen erprobte Mißtrauen gegen die Überschätzung religiöser Kausalitäten ist. Konstruieren ist in solchen Fällen gewiß unumgänglich, auch für den "Historiker". Aber ich halte diese Konstruktion für falsch. Unrichtig ist schon der Satz, daß der Protestantis­ mus wesentlich religiöser Individualismus ist.78 Er ist ebensosehr kirchliches Denken und als solches die Einbefassung des Staates und der gesamten Kul­ tur nicht unter hierarchische Mächte, aber unter religiöse Normen. Rach­ fahls "verweltlichter Staat"79 arbeitet immer noch von religiösen Vorausset­ zungen aus, es sind nur eben andere als die des Katholizismus. Nicht von der religiösen Ungebundenheit des Staates, sondern von seiner religiösen Auf­ fassung und Beeinflussung des Staates her erwächst dem Calvinismus da, wo er überhaupt nicht im Kampf mit der Staatsgewalt lag, die Richtung auf die Selbstverständlichkeit und das Recht der wirtschaftlichen Arbeit. Ü brigens sind nun aber die stärksten Träger des bürgerlichen Kapitalismus gerade die im Kampf mit dem Staate befindlichen Gruppen der Hugenotten und der englischen Dissenter, daneben die bloß geduldeten Sekten- und I Täufer­ gruppen, bei denen allen also nicht der Staat, sondern gerade ihre Abdrän­ gung vom Staate die Wendung zu wirtschaftlicher Arbeit bewirkt. Weiterhin ist die Toleranz unzweifelhaft ein Mittel der ökonomischen Förderung gewe77 Vgl. ebd., Sp. 1 330: "Immerhin soll die Möglichkeit nicht in Abrede gestellt werden,

daß auch der Reichtum auf dem Boden der kalvinistischen Berufsethik Begünstigung fand; gemäß den Zügen, mit denen sie durch Calvin und seine Nachfolger im Purita­ nismus ausgestattet wurde, kann sehr wohl durch sie eine Intensitätssteigerung schon vorhandenen ,kapitalistischen Geistes' verursacht worden sein, der, nunmehr getra­ gen von dem Bewußtsein religiöser Sanktion, um so stärker sich auszuwirken ver­ mochte: Die englische Wirtschaftsgeschichte des 1 7. Jahrhunderts dürfte dafür bei näherer Betrachtung und Durchforschung mancherlei Belege zu liefern imstande sein. Es läge also hier der Fall vor, daß religiöse Momente einer schon im Wesen der Dinge liegenden Entwicklung befreiend und helfend zur Seite standen." 78 Als Zitat nicht nachgewiesen, vgl. aber die Passage "der Protestantismus, wenngleich ein Kind des Individualismus" (ebd., Sp. 1 352) . Rachfahl zitiert in "Nochmals Kalvi­ nismus und Kapitalismus" (1 9 1 0) , Sp. 701 , Troeltschs Formulierung und bemerkt hierzu, daß Troeltsch "sich für gewisse Wahrheiten in Verteidigungspositur" stelle, "gleich als ob ich sie angegriffen hätte, obwohl mir das nie eingefallen ist. [ . . . ] Das glaubt er mir vorhalten zu müssen, der ich (Abh. Sp. 1 354) gerade davor gewarnt hatte, den Anteil des Kalvinismus an der Entwicklung einer freieren christlichen Re­ ligiosität auf der Grundlage einer wirklichen Durchführung des individuellen Prin­ zips und an der Ausbildung des modernen, religiös relativ weniger beeinflußten Staa­ tes zu überschätzen." 79 Als Zitat nicht nachgewiesen.

Schluß

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sen. Aber nicht die Toleranz an sich bewirkt Intensität der wirtschaftlichen Arbeit, sondern die Eigenart der Menschen, denen die Toleranz zugute kommt, und es bleibt immer noch die Frage, woher diesen die besondere Art und Richtung ihres wirtschaftlichen Charakters zukommt. Wenn heute in Spanien die volle Toleranz eingeführt würde, so würde sie vermutlich an dem wirtschaftlichen Charakter der Bevölkerung wenig ändern; und zöge damit vielfach ein die wirtschaftliche Arbeit begünstigender Geist ein, so würde immer noch die Frage nach dessen Herkunft und Bildung übrigbleiben samt allen Verwicklungen, in welche die Beantwortung einer solchen Frage hin­ einführt. Daß die Toleranz als Wegfall kirchlicher Bindungen dann einem na­ türlichen und normalen, überall vorhandenen Erwerbstrieb damit eo ipso Raum schaffen würde, das wäre doch eine sehr kindliche längst überwun­ dene "Psychologie". Überdies hat es mit der calivinistischen Toleranz ihre besondere Bewandtnis. Sie ist auch nach meiner Meinung aus dem Täufer­ tum erst eingedrungen, was Rachfahl aus dem glänzenden Buche Weingar­ tens gelernt haben will, wo jedoch gerade davon nichts steht;80 es ist von Le­ zius (Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs 1 900) und von mir ausgeführt worden81 . Aber diese Toleranz ist, wie bereits bemerkt, Mehrheit und Nebeneinander verschiedener Kirchen nach außen und strengste Ge­ bundenheit nach innen. Mit der rationalistisch-aufklärerischen Toleranz, die Rachfahl so hoch schätzt, hat sie nichts zu tun, und die englischen und ame­ rikanischen Mittelklassen, an die beim calvinistischen Kapitalismus vor allem zu denken ist, sind orthodox, aber nicht aufgeklärt. Wie weit die Aufklärung vor den physiokratischen, merkantilistischen und schottischen Theorien das Wirtschaftsleben beeinflußt hat, weiß ich nicht zu sagen. Doch glaube ich den Satz wagen zu dürfen, daß sie für den Charakter jener Mittel-

80 Vgl. ebd., Sp. 1 353: "Was England anbelangt, so hat Weingarten in seinem klassischen

Buche über die englischen Revolutionskirchen gezeigt, wie hier durch die Synthese kalvinistischer und täuferischer Religiosität das Prinzip der Toleranz erzeugt und in einem großen, gewaltigen Anlaufe zum Siege geführt und statuiert wurde." Gemeint ist: Hermann Weingarten: Die Revolutionskirchen Englands (1 868). 81 Vgl. Friedrich Lezius: Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs (1 900) , S. 4: "In­ dem die Täufer für ihre Gemeinden von der Obrigkeit Duldung zu erlangen wussten, haben sie den der Toleranz verderblichen Calvinischen Staatsbegriff in einem wich­ tigen Punkte abgethan und die Reformierten in den Niederlanden genötigt, eine Modifikation der reformatorischen Theorie und Praxis vorzunehmen, welche ein Ablegen unprotestantischen Irrtums und eine Fortbildung urprotestantischer Ideale war." Zum Ursprung der Toleranz aus dem Täuferturn vgl. unten, S. 266-269, so­ wie Troeltschs "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 906), S. 301-305 (2. Auflage 1 909, S. 5 1 0-5 1 5) .

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klassen bedeutungslos war und jedenfalls ist. Es bleibt also bei Rachfahls neuem Erklärungsversuch das Problem ungelöst, und das Durchdenken seiner Konstruktion führt wieder erst recht I dazu, nach den ethisch-religiösen Komponenten jenes Verhältnisses von Kapitalismus und Calvinismus zu su­ chen, um so mehr, als die Erscheinung - wie stets zu wiederholen - ja nicht dem Calvinismus allein eigentümlich ist. Ähnlich steht es aber auch mit den andern Kulturwirkungen des Calvinismus und der Sekten, wie der Demokra­ tisierung des politischen Denkens und der Ausbildung der Idee der Kir­ ehen freiheit und der Menschenrechte, für die Rachfahl die Anführung eines Versuchs der Erklärung aus religiösen Motiven sich glaubt verbitten zu dür­ fen.82 Ich kann darauf hier nicht näher eingehen und verweise auf Figgis, From Gerson to Grotius 1 907,83 sowie auf die ausführliche Darstellung in 82 Vgl. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909),

v.

a. Sp. 1 3 54-1 358. Die ironische Formulierung Troeltschs zielt wohl ab auf Rachfahls Bemerkung, daß "man sich hüten" müsse, Calvins "direkte Einwirkung auf den Werdegang des modernen Staates zu überschätzen" (Sp. 1 354) . Vgl. v. a. Sp. 1 357: "Weder in Kirche noch auch in Staat begünstigte also der Kalvinismus Calvins selber die Demokratie." Die "poli­ tische Demokratie" sei "nicht ohne weiteres als eine Art von Säkularisation des de­ mokratischen Gemeindeprinzips im täuferisch beeinflußten Kalvinismus zu betrach­ ten. Gewisse Beziehungen sind vorhanden; aber im wesentlichen ist die moderne Demokratie in Amerika und Europa von selbst emporgewachsen [ . . . ]. Und dasselbe gilt von den unveräußerlichen Menschenrechten; sie sind hervorgegangen aus den na­ turrechtlichen politischen Theorien des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts, insbesondere aus Locke, indem daraus in den amerikanischen Kolonien Englands ein Katalog speziali­ sierter individueller Freiheitsrechte abgeleitet wurde, an denen selbst die Staatsgewalt ihre Grenze zu finden hätte. Auch hier ist somit der Zusammenhang mit dem genui­ nen Kalvinismus teils sehr locker, teils ein indirekter; denn er stellt sich, insoweit er überhaupt besteht, dar als eine Fortbildung des Kalvinismus, die nicht dem Geiste Calvins entsprach, ihm wohl auch geradezu widersprach und durch das Eindringen von Elementen bewirkt wurde, die Calvin sogar ohne Zweifel perhorresziert hätte. Mit anderen Worten: die größten weltgeschichtlichen Wirkungen, die dem Kalvinis­ mus zugeschrieben werden, und unter deren Einfluß noch jetzt das moderne Leben steht, sind ihm, insoweit er tatsächlich daran beteiligt ist, nur durch seine Kapitulation vor seinen ursprünglichen Todfeinden, Täuferturn und rationalistischem Libertinis­ mus, möglich geworden." (Sp. 1 357 f.) . 83 Vgl. etwa folgende Stelle bei John Neville Figgis: Studies of Political Thought (1 907), S. 1 36-1 38: "It was the struggle for existence of the Reformation sects, that com­ pelled them to put forward a general theory of government which imposes checks upon absolutism, and to investigate and revive all ancient institutions which were or might be means of controlling it. Further than this the system of Calvinism was wh at neither Lutheranism nor Anglicanism nor Romanism was, a republican if not a demo­ cratic system. Practically it doubtless meant the oligarchy of the preachers or the

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meinen Soziallehren. Das Problem ist allerdings verwickelt, aber in allen Ver­ wickelungen leuchtet doch die mitbestimmende Macht des religiösen Ge­ dankens stark hervor. Noch eines ist zum Schluß in Kürze zu erwähnen. Rachfahl bestreitet kul­ turfordernde Wirkungen des Calvinismus und der Konfessionen überhaupt. Das erstere ist für ihn wie für Kampschulte ein widernatürlicher Erregungs­ zustand, der nicht dauern konnte84 und, wie ich in seinem Sinne wohl hin­ zufügen darf, nichts dauerndes hervorbringen konnte. Ich habe aber nicht von Förderungen, sondern von Bestimmungen der Kultur oder von Einflüs­ sen des religiösen Elementes auf die Gestaltung nicht-religiöser Elemente gesprochen. Ob diese Einflüsse fördernde waren oder zu beklagen sind, ist mir gleichgiltig. Ich wollte nur den tatsächlichen Einfluß und die tatsächliche Bedingtheit klar machen, wobei für mich das Wort "Kultur" ein neutraler Terminus ist und nicht meine sachliche Zustimmung bedeutet. Denn Kultur bedeutet nicht Kulturideal. Was für ein Kulturideal man hat, ist natürlich Sa­ che persönlicher Lebensanschauung, und so würde ich meinerseits niemals ohne weiteres sprechen von einer Förderung des Kulturideals durch den Calvinismus und die Konfessionen. Ich meine bei meiner Fragestellung nur die Abmessung der Einwirkung auf das, was gerade als Kultur bezeichnet wird, gleichviel ob sich das mit dem deckt, was die Kultur nach unserer Meityranny ,worse than Papal' of ruling elders; certainly it did not favour individual liberty; but it was opposed in theory to secular interference, and by its own methods to monarchical power; and hence in spite of itself Calvinism in France, in the Nether­ lands and Scotland became either in the world of thought or in that of practice the ba­ sis of modern liberty. [ . . ] The point to note is that liberty is the result of religious competition; otherwise it would have succumbed to the general monarchical tenden­ eies. It is, perhaps, best to avoid profitless discussions by saying that liberty in this chapter is used in no natural or sublimated sense, but [ . . ] as comprising certain legal rights practically secured. These are the rights to freedom of discussion, worship, and person; to security against unlawful taxation; to some means of control over both legis­ lative and executive. These notions were not new, nor, in principle, were the means by which they were secured - what was new in the sixteenth century was the strength of the forces, which everywhere threatened and in most places destroyed them." 84 Vgl. die oben, S. 1 62, Anmerkung 38, zitierte Stelle sowie ebd., Sp. 1 366: Der Cal­ vinismus habe "keine laxe Praxis, kein Paktieren und keine Kompromisse" gekannt; "er verlangte eine stetige Anspannung aller sittlichen Kräfte von allen seinen Mitglie­ dern in allen Stücken, und zwar im Geist eines extremen moralischen Rigorismus; zumal nach seiner Verschmelzung mit der enthusiastisch-täuferischen Idee war sein Ziel die sichtbare Darstellung der Gemeinschaft der Heiligen auf Erden. Das war eine Ü berspannung des religiös-transzendenten Prinzips, die wohl eine einmalige unge­ heure Explosivwirkung auslösen, die sich aber nicht auf die Dauer behaupten konnte." .

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nung sein sollte. Daß aber nichtreligiöse Lebensgebiete im weitesten Um­ fang von der religiösen und konfessionellen Seelenverfassung bestimmt waren und noch sind, das, glaube ich, ist völlig unbestreitbar. Umgekehrt scheint mir, I daß Rachfahls These von einer allein wirklich kultur fördern­ den Macht der Toleranz und Aufklärung mehr sein persönliches Kulturideal betrifft als die tatsächliche Kultur, die wir leben, und die bekanntlich unter uns sehr verschieden gedeutet wird. Das sagt sein übrigens auch viel Unbe­ stimmtes enthaltender Schlußsatz deutlich: "Es ist der Geist jener freien christlichen Religiosität, die, dogmatisch relativ uninteressiert oder doch we­ nigstens nur das Fundamentale betonend, das freilich verschieden bemessen werden kann, die Welt und ihre Ordnungen als etwas Göttliches und doch als unabhängig von der transzendent-religiösen Idee anerkannt, für welche die Grundsätze autonomer Vernunfterkenntnis, individualistisch gerichteter Weltanschauung und daher vollkommener Toleranz feststehen . . 85 Und mit ihm war sehr wohl vereinbar das, was der Nachwelt als das beste Erbteil des genuinen Calvinismus überkommen ist, - unermüdliches Schaffen und Wir­ ken in tief innerlichst empfundenem Streben nach Gottes Dienst, Ruhm und Ehre als höchstes Ideal christlicher Sittlichkeit; es hat seine unverrückbare Geltung." Sp. 1 366. Das ist offenbar Rachfahls Kulturideal. Daß es in der Gegenwart nicht eigentlich herrscht, liegt auf der Hand. Es kann also nicht so bleiben, aber es könnte vielleicht so werden. Ich hätte dagegen - voraus­ gesetzt, daß Toleranz und Aufklärung dabei nicht zu seicht und oberfläch­ lich verstanden werden - gewiß nichts einzuwenden. Auch würde ich nie­ mals sagen, daß die Heraufführung dieses Ideals, in erster Linie das Werk der christlichen Konfessionen I sei. Aber darauf muß ich bestehen bleiben, daß die Konfessionen zwar für dieses Ideal nicht entscheidend waren und sind, wohl aber vielfach für die tatsächliche Gestaltung der heutigen, ja recht un­ einheitlichen Kultur, und daß umgekehrt die tatsächlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen der Gegenwart von den auf Rach­ fahls Ideal zusteuernden historischen Kräften der Aufklärung und Toleranz nicht ausschließlich und wohl auch nicht einmal wesentlich bestimmt wor­ den sind. Es gibt jedenfalls große und bedeutsame Gruppen innerhalb unse­ rer Kultur, die direkt oder indirekt von den religiösen und ethischen Ideen her verstanden werden müssen, wie sie die Kirchen und Sekten ausgebildet haben, und es gibt indirekte Wirkungen der religiösen Gestaltungsperiode des 1 6. Jahrhunderts, die sich auch dahinein erstrecken, wo man von diesem Zusammenhang nichts mehr ahnt. .

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85 Im Original steht hier: ,, ,und die sich vor allem in einer christlichen Lebensführung zu bewähren trachtet."

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Ich darf vielleicht die Sache umkehren und von Rachfahl sagen, daß er die Wirkungen der Toleranz überschätzt. Die Intoleranz der Kirche war und ist wenigstens zum Teil ihre Größe und ihre Kraft, und auch die heutigen wissenschaftlichen, philosophischen, ethischen und politischen Richtungen sind in dem Maße, als sie an sich selbst glauben, intolerant. Auch die heutige wie die frühere Aufklärung ist keineswegs durchaus tolerant. Ja, ich möchte glauben, daß die Animosität, die Rachfahls Aufsätze durchzieht, nicht bloß in der von mir bereitwillig anerkannten Ü berlegenheit seines historischen Wissens, sondern auch ein ganz klein wenig in der Intoleranz seiner Aufklä­ rung ihren Grund hat.

Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Der Edierte Text ist hervorgegangen aus dem Vortrag, den Troeltsch am 29. April 1 906 vor der "IX. Versammlung deutscher Historiker" in Stuttgart gehalten hat. In einer dem Titel beigegebenen Anmerkung, die in der zwei­ ten Auflage in die "Vorbemerkung" integriert wurde, vermerkt Troeltsch, daß der "Vortrag über dieses Thema [ . . ] ursprünglich von Max Weber ge­ halten werden" sollte, "der in jeder Hinsicht dazu hervorragend berufen ge­ wesen wäre. Da er leider durch anderweitige Arbeiten dann an der Ausfüh­ rung dieses Vorhabens verhindert war, bin ich für ihn eingetreten." l Mit dieser Auskunft hat Troeltsch auch seine Rede auf dem Historikertag begon­ nen. Troeltsch habe sich, so der anonyme Bericht der "Vossischen Zeitung", zunächst entschuldigt, "daß er gewissermaßen nur als Ersatzmann für seinen Freund Prof. Dr. Max Weber eingetreten sei, durch den natürlich der Stoff etwas anders gestaltet worden wäre"2. Max Weber begründete, wie bereits in der Einleitung ausgeführt ist,3 seine Ablehnung und seinen Vorschlag, an seiner Stelle Troeltsch als Redner zu benennen, in einem Brief an Georg von Below vom 23. August 1 905 mit dem Argument, daß Troeltsch als theologischer "Fachmann" eine "umfas­ sende Leistung vorgelegt" habe, die er "vor der Oeffentlichkeit vertreten" solle.4 Wie diesem Brief zu entnehmen ist, hatte Weber von Below schon .

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Unten, S. 20 l . Anonym: IX. Deutscher Historikertag, in: Königlich privilegirte Berlinische Zei­ tung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitung, Nr. 1 9 1 , Abendausgabe, 25. April 1 906. S. oben, S. 1 6 f. Brief Max Webers an Georg von Below, 23. August 1 905.

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vorher von seiner Absage informiert. Von Troeltsch ist zum Vorgang bisher keine Ä ußerung überliefert. Die in diesem Brief genannte Begründung der Absage, daß Weber Troeltsch als dem "Berufenere [n) " das Forum des Historikertages für die Vorstellung seiner Forschungsergebnisse zur Verfügung stellen wollte, weist auf die enge freundschaftliche Verbindung zwischen Weber und Troeltsch hin. Troeltsch hatte auf dem Historikertag wie auch in der Druckfassung ausgeführt, daß Weber wegen "anderweitige [r) Arbeiten" S verhindert gewe­ sen sei. Webers Absage mag zudem durch seine Abneigung gegenüber öf­ fentlichen Auftritten motiviert gewesen sein. Marianne Weber berichtet in einem Brief aus dem Jahr 1 905, daß es Weber "noch gar nicht wieder zu öffentlicher Betätigung treibt - weder zu aktuellen politischen Artikeln, noch zu Vorträgen irgendwelcher Art. Ich glaube, er könnte sie halten, wenn es ihn dazu drängte, aber er lehnt alle Anfragen ab."6 Zur Deutung des Briefes führt Marianne Weber weiter aus: "Weber lebt - trotz seiner für andre erstaunlichen Produktivität nach wie vor in beständiger Unsicherheit und scheut deshalb jede termingebundene Verpflichtung."7 Auch Troeltsch spricht in Briefen aus dem Jahr 1 905 mehrmals von Webers Krankheit. Troeltsch wurde nach Webers Absage von Georg von Below als Ersatz­ redner eingeladen. Die früheste Erwähnung des Vortrages auf dem Stuttgar­ ter Historikertag stammt vom Januar 1 906; am 21 . Januar 1 906 berichtete Troeltsch Gottfried Traub, daß er beim Historikertag vom 1 8. bis 21 . April 1 906 "an einem dieser Tage" einen "Vortrag" halten werde; er wisse aber "noch nicht an welchem".8

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Unten, S. 201 . Mit den "anderweitige[n] Arbeiten" Webers sind vor allem seine Studien zur russischen Revolution von 1 905 gemeint. Weber, der die Ereignisse in Rußland "mit großer Anteilnahme und innerer Sympathie" verfolgte, so Wolfgang J. Mommsen in der Einleitung zu: Max Weber: Zur Russischen Revolution von 1 905 (1 989) , S. 3, lernte - wohl im Frühjahr 1 905 - in wenigen Wochen Russisch und wid­ mete sich mit enormer Intensität der Abfassung seiner Rußland-Studien (vgl. ebd., S. 9 und S. 7 1 ) . Es handelt sich dabei um die Abhandlung "Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland", die Weber Ende 1 905 abschloß (vgl. ebd., S. 77 f.) . Es folgte die Untersuchung "Rußlands Ü bergang zum Scheinkonstitutionalismus", mit deren Abfassung Weber im März 1 906 begann. Beide wurden 1 906 im "Archiv für Sozial­ wissenschaft und Sozialpolitik" veröffentlicht (heide jetzt in: ebd.) . Marianne Weber: Max Weber (1 984) , S. 360. Ebd., S. 360. BriefTroeltschs an Gottfried Traub, 21 . Januar 1 906, BA Koblenz, N 1 059, NL Gott­ fried Traub, Nr. 70 (= Film EC 1 5 1 1 N) KGA 1 8/19. -+

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Das Programm für den Stuttgarter Historikertag wurde spätestens um die gleiche Zeit öffentlich gemacht. Troeltsch schreibt in der Vorbemerkung der "Bedeutung des Protestantismus", daß er "sofort nach Bekanntmachung der Rednerliste für den IX. Deutschen Historikertag von der Redaktion der ,Köl­ nischen Volkszeitung' ''9 die Ausgabe vom 29. Januar 1 906 zugesandt bekam. Diese Rednerliste führt bereits Troeltsch mit dem Vortrag "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" auf. l O Troeltsch hatte den Vortrag wenige Wochen vor dem Stuttgarter Histori­ kertag verfaßt. In einer Karte an seinen Verleger Paul Siebeck vom 20. März 1 906 heißt es: "Den Stuttgarter Vortrag habe ich auf Ansuchen der Sy­ bel 'schen Zeitschrift überlassen. Vorläufig muß er überhaupt erst gemacht werden. Zu einer selbständigen Veröffentlichung habe ich nicht recht Lust." ! ! Paul Siebeck hatte am 1 7. März 1 906 Troeltsch geschrieben, daß er "auf den Vortrag, den Sie beim Stuttgarter Historikertag halten" würden, ein "Auge geworfen" habe: "Wenn Sie ihn als selbständige Schrift erscheinen lassen möchten und noch nicht darüber verfügt haben sollten, würde es mir eine grosse Freude sein, ihn unter meiner Firma ausgehen lassen zu dür­ fen."! 2 In seiner Antwort auf Troeltschs Absage schrieb Paul Siebeck: "Um Ihren Stuttgarter Vortrag zu kommen, tut mir sehr leid."! 3 Organisiert wurden die jährlichen Historikerversammlungen durch den 1 895 gegründeten "Verband Deutscher Historiker". Die konkrete "Vorbe­ reitung der Versammlung" wurde durch den "Verbandsausschuß und na­ mentlich dessen Vorsitzenden" geleistet.!4 Bei der neunten Versammlung, die vom 1 7. bis 2 1 . April 1 906 in Stuttgart stattfand, war dies der Freiburger Historiker Georg von Below. Dieser veröffentlichte "zu Beginn des Jahres" 1 906 das "Vorläufige Programm", das er "sämtlichen Mitgliedern des Ver­ bandes deutscher Historiker sowie einer größeren Anzahl von Zeitungen [ . . . ] und überdies etwa 300 deutschen Geschichtsforschern" zugehen ließ.!5 Zur "Teilnahme am Historikertage", so ist dieser Einladung zu entnehmen,

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Unten, S. 202. Ein Original des einseitigen Programms des Stuttgarter Historikertages befindet sich im Historischen Archiv der Stadt Köln, Bestand 1 052, N r. 1 7. Karte Troeltschs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck), 20. März 1 906, Verlags­ archiv J. c. B. Mohr (paul Siebeck) , Tübingen KGA 1 8/19. Brief Paul Siebecks an Troeltsch, 1 7. März 1 906, Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (paul Sie­ beck), Tübingen. Brief Paul Siebecks an Troeltsch, 22. März 1 906, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr (paul Sie­ beck), Tübingen. Bericht über die neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart (1 907) , S. 1 . Ebd., S. 1 . --+

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Die Bedeutung des Protestantismus

"sind alle Fachgenossen und Fachverwandten sowie alle Freunde geschicht­ licher Forschung freundliehst eingeladen".16 Georg von Below skizzierte in seiner Eröffnungsrede die Programmatik der Historikertage: " ,Wie auf allen andern Wissensgebieten so hat sich auch auf dem der geschichtlichen For­ schung mit der zunehmenden Spezialisierung der Arbeit eine Zersplitte­ rung eingestellt, angesichts deren alle Bestrebungen, welche auf eine Verei­ nigung der auseinandergehenden Interessen abzielen, Förderung verdienen. Aus diesem Bedürfnis heraus sind die Historikertage entstanden, und der Verlauf der hinter uns liegenden acht Versammlungen hat bewiesen, daß sie tatsächlich geeignet sind, den geistigen Austausch unter den Geschichtsfor­ schern und den Zusammenhang der Nachbarwissenschaften mit der Ge­ schichtsforschung zu fördern. Möge auch diese neunte Tagung in dieser Richtung erfolgreich wirken!"'17 Vorträge von Nichthistorikern gehörten damit durchaus zum Programm der Historikertage. Troeltschs Vortrag war der letzte auf dem Kongreß.1 8 Der Kongreßbe­ richt über Troeltschs Vortrag, der unten vollständig im Anhang abgedruckt ist, 1 9 vermerkt, daß Troeltschs "Ausführungen [ . . ] mit großem Beifall auf­ genommen"20 worden seien. Als "einziger Redner" habe Karl Müller das Wort ergriffen, "um dem Vortragenden den Dank der Versammlung auszu­ sprechen und einige allgemeine Bemerkungen daran zu knüpfen. "21 Im Be­ richt der "Frankfurter Zeitung" wird Müllers Stellungnahme wörtlich zitiert: "Im Tempo des Wildbaches rauschte die Rede an uns vorüber, in ihrem Tat­ sachenmaterial und in ihren Gedanken eine Fülle schwerster Steinblöcke mit sich führend"22. Die "Chronik der Christlichen Welt" bemerkt hierzu, daß .

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[programm der neunten Versammlung deutscher Historiker] , o. P. Weiter heißt es: "Damen der Teilnehmer des Historikertages können allen Veranstaltungen desselben anwohnen." Minnie von Below, die Frau von Georg von Below, hat von diesem An­ gebot Gebrauch gemacht. In ihrem "Lebensbild" ihres Mannes schreibt sie: "In den Osterferien 1 906 fand in Stuttgart der Historikertag statt, zu dessen Vorsitzenden Be­ low gewählt worden war. Ich brachte aus Sehnsucht nach Schwaben und Tübingen den Leichtsinn auf, die Kinder daheim allein zu lassen und meinen Mann zu begleiten. Die Tagung ergab viele interessante Vorträge und Besprechungen." Minnie von Below: Georg von Below (1 930) , S. 1 09. Im weiteren wird auf Troeltschs Vortrag nicht eingegangen. Bericht über die neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart (1 907) , S. 2. Das Tagungsprogramm findet sich ebd., S. III f. U nten, S. 375-377. U nten, S. 377. U nten, S. 377. R S (Richard Schwemer) : IX. Versammlung deutscher Historiker. I 1 1 . , in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 1 1 5, 1 . Morgenblatt, 27. April 1 906. Vgl. auch den Be-

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Müller "damit den allgemeinen Eindruck" wiedergegeben habe, "der sich auch schon durch einen ungewöhnlich starken Beifall kundgegeben hatte".23 Auf eine Aussprache zu Troeltschs Vortrag, der gegen 1 1 Uhr endete, wurde verzichtet. Georg von Below nahm in einem Beitrag aus dem Jahre 1 9 1 6 Stel­ lung zu Friedrich Loofs ' Befremden24, "daß Troeltsch auf dem Stuttgarter

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richt in der "Vossischen Zeitung", Nr. 1 9 1 , Abendausgabe, 25. April 1 906. Hier wird aus Müllers Ausführungen weiter ausgeführt, daß "besonders verdienstlich [ . . . ) die Berücksichtigung des gesamten Stoffmaterials, des Kalvinismus, wie des Täufer­ turns" sei. Der Eindruck einer lebhaften Rede wird noch Jahre später von dem dama­ ligen Lamprecht-Schüler Hans F. Helmolt bestätigt, der 1 920 in einer Kurzrezension von Troeltschs "Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus" (1 9 1 9) schreibt: "Als ich vor einem Jahrzehnt auf einem Historikertag einen derartigen Vortrag Troeltschs vorgesetzt bekam, fühlte ich mich hinterher wie zerschlagen; die Fülle der Voraussetzungen und einander förmlich jagenden Schluß­ folgerungen hatte mein armes Hirn wie mit Keulenschlägen zerhämmert. " Zu wei­ teren Presseberichten über Troeltschs Vortrag vgl. 9. Versammlung deutscher Histo­ riker, in: Schwäbischer Merkur. Schwäbische Kronik, des Schwäbischen Merkurs zweite Abteilung, 21 . April 1 906, Nr. 1 83, Abendblatt, 1 . Blatt, S. 1-2, Historikertag, in: Stuttgarter Morgenpost mit Handelsblatt, Nr. 93, 22. April 1 906, S. 3, IX. Ver­ sammlung deutscher Historiker. V , in: Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg, 23. April 1 906, Nr. 93, 2. Blatt, S. 1 , 9. Versammlung deutscher Historiker. 111. (Schluß.), in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 26. April 1 906, Nr. 96, S. 1 66 f. Vgl. auch Peter Schumann: Die deutschen Historikertage von 1 892 bis 1 937 (1974) , S. 229-234. Anonym: [IX. Versammlung deutscher Historiker in Stuttgart) , in: Chronik der Christ­ lichen Welt 1 6 (1 906), Sp. 224. Vgl. auch Anonym: IX. Versammlung deutscher Histo­ riker. V, in: Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg, 23. April 1 906: "Dem Vortrag folgte minutenlang außerordentlich herzlicher Beifall." Vgl. Friedrich Loofs: Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit (1 907), S. 5 1 5 f. (Separatdruck, S. 5 f.): Auf dem Stuttgarter Historikertag habe Troeltsch "den rauschen­ den Beifall seiner illustren Corona durch einen Vortrag entfesselt, der ,Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt' so besprach, daß dem Hörer eine Kluft sich auftat zwischen Luther und der neuen Zeit, während ein Gegen­ satz zwischen Luther und dem Mittelalter nur an einzelnen Punkten aufgewiesen ward. [ . . . ) Nun wird man zwar den Beifall, den dieser Vortrag geerntet hat, nicht so auslegen dürfen, als habe die Gesamtheit der versammelten Historiker seinen Konstruktionen zugestimmt. Der Beifall galt zweifellos zu einem großen Teile der blendenden, geist­ und kenntnisreichen Beredsamkeit als solcher; und geblendete Augen können zunächst das Einzelne nicht scharf sehen, geschweige denn prüfen. Dennoch war bereits jener Beifall ein Zeichen dafür, daß die entwickelten Gedankengänge modernem Denken zu imponieren vermögen." Auf Loofs Rektoratsrede geht Troeltsch mehrfach in der "Be­ deutung des Protestantismus" ein, vgl. unten, S. 21 6, S. 228, S. 242 und S. 269.

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Die Bedeutung des Protestantismus

Historikertag (1 906) , auf dem er die Rede hielt [ . ] , nur Beifall geerntet habe (,geblendete Augen können zunächst das einzelne nicht scharf sehen') . Da ich Vorsitzender jenes Historikertages war, so kann ich darüber Auskunft ge­ ben. Von einer Diskussion wurde absichtlich Abstand genommen. Karl Mül­ ler sprach es nach dem Vortrag aus, daß es das angemessenste sei, die bedeu­ tende Rede einfach auf sich wirken zu lassen, daß es aber keinen Zweck habe, bei einem so gewaltigen Thema etwa ein paar Punkte in einer Debatte zu be­ sprechen. Unter den Zuhörern befanden sich mehrere, die eine andere Auf­ fassung, als sie Troeltsch vertritt, schon ausgesprochen hatten oder bald dar­ auf aussprachen [ . . . ] . Und innerhalb der Profanhistoriker dürfte in der Tat, wie ich es im Text angedeutet habe, das Urteil mehr zugunsten der Reforma­ tion lauten, als es bei Troeltsch der Fall ist. "25 Below nennt hier ausdrücklich Max Lenz, Alfred Dove, Georg Mentz, Gerhard Seeliger, Richard H. Grütz­ macher und Richard Wolff.26 Lediglich Georg Mentz wird in der Teilneh­ merliste der Stuttgarter Versammlung aufgeführt.27 .

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2. Textgenese und Drucklegung Troeltschs Vortrag erschien 1 906 im ersten Heft des Jahrgangs der "Histori­ schen Zeitschrift". Troeltsch muß also unmittelbar nach seinem Vortrag die Drucklegung besorgt haben. Der Publikations ort war schon vor dem Stutt­ garter Historikertag zwischen Friedrich Meinecke, dem Herausgeber der "Historischen Zeitschrift", und Troeltsch vereinbart worden. In oben er­ wähntem Brief an Paul Siebeck vom 20. März 1 906 berichtete Troeltsch, daß er seinen Vortrag der "Historischen Zeitschrift" überlassen habe. Friedrich Meinecke muß also bereits frühzeitig Troeltsch um die Veröffentlichung in der "Historischen Zeitschrift" gebeten haben. 1 906 wurde die "Historische Zeitschrift" als "Dritte Folge 1 . Band" um­ gestellt. Mit "Beginn der neuen Folge", so der Münchner Verleger Rudolf August von Oldenbourg in einem Schreiben an den Verlag von J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , erfahre die Zeitschrift "eine Aenderung in der Ausstattung, indem sie ihrer internationalen Verbreitung entsprechend, nicht mehr wie bisher in Fraktur sondern in Antiqua hergestellt wird. Die Erscheinungs­ weise bleibt die gleiche wie bisher und kommen demgemäss jährlich zwei bis -

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Georg von Below: Die Ursachen der Reformation (1 9 1 6) , S. 387 f. Vgl. ebd. , S. 388. Vgl. Bericht über die neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart (1 907) , S. 57-62.

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drei Bände zu j e drei Heften zur Ausgabe."28 Das "erste Heft der neuen Folge" werde "in bedeutend erhöhter Auflage (die bisherige reguläre Auf­ lage betrug 1 250 Exemplare)" hergestellt werden; hinzu komme die Versen­ dung von Probeheften "direct per Kreuzband an ca. 2000 Adressen der grössten Bibliotheken Oesterreichs, der Schweiz, Frankreichs, Englands, der Ver. Staaten von Nord-Amerika, Hollands, Belgiens und Skandinaviens; ferner an die persönlichen Adressen der Professoren und Lehrer der Ge­ schichte an Universitäten, Gymnasien und Realgymnasien in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz, Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen".29 In einem weiteren Schreiben Oldenbourgs an den Verlag ]. C. B. Mohr vom 21 . April 1 906 berichtete Oldenbourg, daß mit dem Druck des ersten Heftes der neuen Folge "in den ersten Maitagen"30 begonnen werde. "Mitte Mai", so Oldenbourg in seinem Schreiben, werde der Band "erscheinen".31 Nach dem "Wöchentlichen Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels" traf das 1 . Heft der 3. Folge der "Historischen Zeitschrift" zwischen dem 1 4. und 20. Juni 1 906 bei der Deut­ schen Bibliothek ein.32 Parallel zur Veröffentlichung in der "Historischen Zeitschrift" wurde ein "Sonderabdruck" veranstaltet, der auch mit dem Erscheinen des Aufsatzes in der "Historischen Zeitschrift" angekündigt wurde.33 Am 21 . Juni 1 906 wurde diese Separatausgabe im "Wöchendichen Verzeichnis" angekündigt; zwischen dem 5. und 1 1 . Juli traf der Band bei der "Deutschen Bibliothek" ein.34 Der Ladenpreis betrug 1 ,20 Mark.35 Schon 1 909 wurde die Frage einer i}Veiten Auflage der "Bedeutung des Pro­ testantismus für die Entstehung der modernen Welt" zwischen Troeltsch und dem Oldenbourg-Verlag diskutiert. Bezugnehmend auf eine "Unterre-

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Brief Rudolf August von Oldenbourgs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 3 1 . März 1 906, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , Tübingen. Ebd. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an den Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 2 1 . April 1 906, Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen. Ebd. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels 65 (1 906) , Nr. 25, S. 65 1 . Der Tagungsbericht " [IX. Versammlung deutscher Historiker in StuttgartJ" der "Chronik der Christlichen Welt" vom 1 0. Mai 1 906, Sp. 224, weist auf den Separat­ druck hin. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels 65 (1 906) , Nr. 25, S. 652 und Nr. 28, S. 725. Vgl. ebd., Nr. 28, S. 725.

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Die Bedeutung des Protestantismus

dung", die Rudolf August von Oldenbourg mit Troeltsch "vor kurzem [ . . . ] zu pflegen die Ehre hatte", teilte Oldenbourg Troeltsch in einem Schreiben vom 1 4. Mai 1 909 mit, daß "der Sonderdruck Ihrer in der ,Historischen Zeit­ schrift' erschienenen Arbeit ,Die Bedeutung des Protestantismus für die Ent­ stehung der modernen Welt' seit Februar dieses Jahres vergriffen ist. Wir sind gern bereit, von dieser Schrift eine neue Auflage zu veranstalten und würden uns freuen, wenn Sie uns in nicht allzu ferner Zeit das Manuskript zu einer neuen Auflage übermitteln könnten. Wir betonen nochmals, dass es uns er­ wünscht wäre, wenn Sie die Schrift noch etwas weiter ausarbeiten würden. "36 Zur Begründung führt Oldenbourg an, daß die Herstellungskosten der Erst­ auflage, "da der Satz von der ,Historischen Zeitschrift' benutzt werden konnte, ziemlich billig und dementsprechend auch der Verkaufspreis"37 gewesen seien. "Ein Neusatz, der für die neue Auflage notwendig wird, verteuert natürlich die Herstellungskosten sehr wesentlich, und die Schrift könnte in ihrem jet­ zigen Umfange nicht mehr zu dem gleichen Preise abgegeben werden. Ein höherer Preis würde aber dem Käufer, der die näheren Umstände nicht kennt, nur dann erklärlich erscheinen, wenn auch der Umfang grösser ist; andernfalls würden wir sicher eine grosse Anzahl von Anfragen erhalten, warum die Schrift", die bisher nur 1 .20 gekostet habe, "in der 2. Auflage z. B. M 1 .60 kostet."38 Die Auflagenhöhe taxiert Oldenbourg mit ,, 1 000 bis 1 200"39 Exemplaren zu dem gleichen Honorar wie die Erstauflage. In seiner Antwort vom 1 8. Mai 1 909 erwiderte Troeltsch mit "ergeben­ stem Dank, daß ich mit den dort gemachten Vorschlägen einverstanden bin. Eine Erweiterung ist nach den bisher gepflogenen Kontroversen nicht zu umgehen auch von meinem Standpunkt aus. Ich werde zur Arbeit freilich erst in c 6 Wochen kommen, da ich inzwischen eine andere, bereits unter meinen Händen befindliche, abzuschließen habe. Ich denke Anfang August, spätestens während der Ferien das Manuskript abliefern zu können."40 Für die Bearbeitung der zweiten Auflage benötigte Troeltsch noch " 1 oder zwei Exemplare der Schrift", um deren Zusendung er bat. Er selbst habe "nur mehr ein Exemplar, bedeckt mit allerhand Noten"41 . Zu seinen Erweite­ rungsplänen gab Troeltsch an, daß er vorhabe, eine "längere [ . . ] Vorbemer.

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Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 1 4. Mai 1 909, IHK-WA München, F 5 / v 57. Ebd. Ebd. Ebd. Brief Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 1 8. Mai 1 909, IHK-WA München, F 5 / v 57 KGA 1 8/19. Ebd. -->-

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kung" abzufassen, "die sich mit den Kritikern der ersten Auflage auseinan­ dersetzt".42 Am 22. Mai 1 909 schickte Oldenbourg "das einzige noch in unserem Besitze befindliche Exemplar Ihrer Schrift, das allerdings rampo­ niert ist", Troeltsch zu, verbunden mit der Mitteilung, daß der Verlag "der Einsendung des Manuskriptes im Laufe des Monates August" entgegen­ sehe.43 Weder Troeltschs Handexemplar noch dieses Korrekturexemplar der "Bedeutung des Protestantismus" haben sich bisher auffinden lassen. Am 26. Juli 1 909 mußte Troeltsch Oldenbourg jedoch mitteilen, daß es sich "doch als unmöglich" erwiesen habe, "die zweite Auflage meiner ,Bedeu­ tung des Prot' etc für den August fertig zu stellen. Ich muß erst zwei Studien über Luthertum u[nd] Calvinismus fertig haben, die dafür die Voraussetzung sind. Die erste ist ganz, die zweite halb fertig. So werde ich erst im Laufe der großen Ferien zum Abschluß kommen u[nd] kann auch erst in diesen, also gegen Oktober, mit der Neuveranstaltung der Auflage fertig werden."44 Oldenbourg erinnerte Troeltsch am 1 . März 1 9 1 0 an die Zusage, daß er das Manuskript der 2. Auflage "für Oktober vorigen Jahres in Aussicht"45 gestellt habe: "Da wir seit dem nichts von der Angelegenheit gehört haben, gestatten wir uns, die höfliche Anfrage an Sie zu richten, wann wir der Ein­ sendung des Manuskriptes entgegensehen dürfen. "46 In seiner Antwort vom 20. März 1 9 1 0 mußte Troeltsch Oldenbourg erneut vertrösten. Da er "eine große Arbeit über den [Calv]inismus erst beenden" müsse, könne er "die Sache im [Lau] fe des Mai [ . . . ] erledigen, nachdem ich nunmehr [die] Hände etwas freier habe".47 Troeltsch meint hier die Arbeit an den "Soziallehren".

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Ebd. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 22. Mai 1 909, IHK-WA Mün­ chen, F 5 / v 57. BriefTroeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 26. Juli 1 909, IHK-WA München, F 5 / v 57 ...... KGA 1 8/19. Mit ersterer Arbeit ist wohl die zweite Auflage von "Protestanti­ sches Christentum und Kirche in der Neuzeit" ...... KGA 7 gemeint, die im Juni 1 909 erschien. Bei der letzteren Arbeit, die erst "halb fertig" sei, handelt es sich wohl um Kapitel III, 3. Der Calvinismus und Kapitel I I I, 4. Sekten typus und Mystik auf prote­ stantischem Boden der "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2), S. 605-794 und S. 794-964 ...... KGA 9. In der "Bedeutung des Protestantismus" schreibt Troeltsch hierzu, daß durch "die Notwendigkeit, dieses Buch abzuschließen, [ . . . ] die Neuauflage des Vortrages stark verzögert worden" sei (unten, S. 202) . Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 1 . März 1 9 1 0, IHK-WA Mün­ chen, F 5 / v 57. Ebd. Brief Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 20. März 1 9 1 0, IHK-WA München, F 5 / v 57 ...... KGA 1 8/19.

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Die Bedeutung des Protestantismus

Am 23 . September 1 9 1 0 wurde Oldenbourg erneut bei Troeltsch vorstellig: "Über das Schicksal der 2. Auflage ihrer Broschüre ,Die Bedeutung des Pro­ testantismus für die Entstehung der modernen Welt' [,] deren Manuskript Sie uns im Lauf des Mai dieses Jahres zur Verfügung stellen wollten, haben wir seitdem auch nichts mehr gehört. "48 In seiner Antwort mußte Troeltsch die Bearbeitung erneut verschieben. "Im Moment bin ich mit der Abfassung u [nd] Beendigung eines großen Werkes über die Soziallehren der christlichen Kirchen beschäftigt. "49 Dieses Werk sei auch die " Ursache, weshalb auch die zweite Auflage der ,Bedeutung etc' nicht hat gemacht werden können. Es enthält neue Voraussetzungen für das ganze Thema u[nd] die Ergebnisse müssen für eine neue Auflage notwendig berücksichtigt werden. Es wird im Laufe des Winters fertig werden. "50 In diesem Brief spricht Troeltsch davon, daß er "außerordentlich überlastet" und "nun vollends durch meine Wahl in die erste Kammer auch politisch in Anspruch genommen" seiY Troeltsch war am 20. November 1 909 als Vertreter der Heidelberger Universität in die 1. Badische Kammer gewählt worden. Auch gegenüber Dritten beklagte er sich über die Beschränkung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit durch die po­ litische Arbeit. So schrieb er am 1 8. Juli 1 9 1 0 an Stefano Jacini: "Den Winter über war ich als Vertreter unserer Universität Mitglied unserer I Kammer oder des Senates und war dadurch politisch sehr viel beschäftigt. Es hat mir viel Zeit gekostet, war aber doch auch sehr interessant und lehrreich. Meine gelehrte Arbeit stockt aus diesem Grund und erst jetzt nehme ich sie wieder energisch auf, freilich um sie bald durch die Ferien zu unterbrechen."52 Im Januar 1 9 1 1 startete Oldenbourg einen erneuten Versuch, Troeltsch zur Manuskriptabgabe zu bewegen. In einem Schreiben an Friedrich Mein­ ecke beantwortete Oldenbourg einen Brief Meineckes vom 27. Januar 1 9 1 1 - dieser Brief ist nicht überliefert -, in dem Meinecke Oldenbourg ge­ beten habe, einen "Wunsch des Herrn Professor Weber zu erfüllen"53. Bei diesem Ansuchen Max Webers handelte es sich um Troeltschs Vortrag "Das

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Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 23. September 1 9 1 0, IHK-WA München, F 5 / v 5 . Brief Troeltschs a n den Verlag R . Oldenbourg, 2 6 . September 1 9 1 0, IHK-WA München, F 5 / v 57 .... KGA 1 8/19. Ebd. Ebd. Brief Troeltschs an Stefano Jacini, 1 8. Juli 1 9 1 0, abgedruckt in: Giovanni Moretto: Ernst Troeltsch e il modernismo (1 982) , S. 1 76-1 77, hier S. 1 77 .... KGA 1 8/1 9. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Friedrich Meinecke, 28. Januar 1 91 1 , IHK-WA München, F 5 / 230.

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stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht", den Troeltsch auf dem "Ersten Deutschen Soziologen tag" am 2 1 . Oktober 1 9 1 0 in Frankfurt a. M . gehalten hatte. Troeltsch publizierte den Vortrag in der "Historischen Zeitschrift" im zweiten Heft (März/April) des Jahrgangs 1 9 1 1 . Troeltsch hatte den Oldenbourg-Verlag, den Verlag der "Historischen Zeitschrift", nicht darüber informiert, daß sein Aufsatz auch im Verhand­ lungsband des Soziologentages erscheinen sollte. Weber, der in einem un­ datierten Brief an Friedrich Meinecke diesen Sachverhalt mitteilte, wußte von Troeltschs Absicht, den Vortrag in die "Historische Zeitung" zu ge­ ben.54 Davon, daß Troeltsch sich aber "hätte berechtigt fühlen" dürfen, dem Oldenbourg-Verlag den Vortrag "derart zu geben, daß nur Sie ihn ver­ öffentlichen können, konnte keine Rede sein".55 Es liege somit "ein schwe­ res Versehen"56 von Troeltsch vor. Da diese Praxis der Vorpublikation in Zeitschriften und der nachträglichen Veröffentlichung in den "Stenogram­ men" üblich sei und es ausgeschlossen sei, daß der "Historischen Zeit­ schrift" "ideell oder sonstwie das zum Schaden gereicht, wenn der Vortrag an beiden Orten erscheint", bat Weber Meinecke "herzlich, Tröltsch doch keine Schwierigkeiten zu machen, der den Hergang, an den ich ihn erst wie­ der detailliert erinnern mußte, offenbar gänzlich vergessen hatte, - wie es zuweilen seine Art ist".57 Oldenbourg hatte nichts gegen diese Bitte, "um­ somehr als wir auf dem Standpunkte stehen, dass hier durch unsere Inter­ essen in keiner Weise geschädigt werden. Vielleicht hat Herr Professor Tröltsch die Freundlichkeit, uns seinerseits dadurch entgegenzukommen, dass er uns das längst versprochene Manuskript zur 2. Auflage seiner Schrift ,Die Bedeutung des Protestantismus etc' in nicht allzu langer Zeit zur Ver­ fügung stellt. "58 Der Verhandlungs band des Soziologentages konnte dem­ nach im April 1 9 1 1 bei J. C. B. Mohr (paul Siebeck) mit Troeltschs Beitrag erscheinen. Friedrich Meinecke scheint Troeltsch die Bitte Oldenbourgs nach Entgegenkommen ausgerichtet zu haben, Troeltsch kommt in seinem Schreiben vom 1 8. September 1 9 1 1 an Oldenbourg darauf zu sprechen: "Für die Bewilligung des Abdruckes meines letzten Aufsatzes in der Histo­ rischen Zeitschrift in dem Protokoll des Soziologen tages sage ich Ihnen meinen ergebensten Dank. Wie Sie sehen bin ich Ihrem Wunsche, daß ich

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Brief Max Webers an Friedrich Meinecke, wohl Januar 1 9 1 1 , GStA Berlin, HA I, Rep 92: NL Friedrich Meinecke, Nr. 3 1 2. Ebd. Ebd. Ebd. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Friedrich Meinecke, 28. Januar 1 9 1 1 .

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Die Bedeutung des Protestantismus

mich dafür durch Beschleunigung der 2. Auflage revanchiren möchte, thun­ lichst entgegengekommen. "59 Nachdem Troeltsch am 2. August 1 9 1 1 dem Sieb eck-Verlag "endlich das Manuskript meiner Soziallehren"6o schicken konnte, ging er sogleich an die Neuauflage der "Bedeutung des Protestantismus". Am 1 8. September 1 9 1 1 konnte er Oldenbourg die zweite Auflage senden: "Nachdem ich das große mich beschäftigende Werk über die ,Soziallehren der christlichen Kirchen' beendet habe, habe ich mich verpflichtet gefühlt, sofort die Ihnen verspro­ chene neue Auflage meines Stuttgarter Vortrages zu liefern. Sie kommt also gleichzeitig mit diesen Zeilen in Ihre Hände. Eine gewisse Vermehrung ließ sich natürlich nicht vermeiden."61 Jenes "größere Werk" sei "die Vorausset­ zung aller Berichtigungen, die ich vorgenommen habe".62 Da Honorarver­ einbarungen "für die zweite Auflage nicht getroffen sind u [nd] das Honorar der ersten Auflage sich aus dem Zeitschrifthonorar u [nd] dessen Verdoppe­ lung zusammensetzte", bat Troeltsch Oldenbourg, daß dieser einen "Vor­ schlag für diese zweite Auflage" machen solle: "Ich hatte keine Zeit, Sie frü­ her darnach zu fragen. "63 In einem Postskriptum fügt Troeltsch hinzu: "Ich sehe übrigens eben bei der Durchsicht meiner Verlagspapiere, daß die Ho­ norarfrage bereits erledigt ist. Sie haben mir das Honorar angeboten ,wie für das Erscheinen der Arbeit in der historischen Zeitschrift' in einem Schreiben 1 4 V 09. Damit bin ich einverstanden."64 In seiner Antwort bestätigte Oldenbourg den Eingang des Manuskripts: "Von einer Reise zurückgekehrt, finde ich zu meiner Freude Ihre geehrte Zuschrift vom 1 8. d. M. sowie das Manuskript zur 2. Auflage Ihrer Schrift: ,Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt' hier vor und beeile mich, Ihnen für beides meinen verbindlichsten Dank aus­ zusprechen. Es war uns sehr erwünscht, das Manuskript jetzt zu erhalten, da die Arbeit auf diese Weise gerade noch in den Prospekt historischer Werke65, den wir im Begriffe stehen in grosser Anzahl zu verbreiten, aufgenommen S9 60 61 62 63 64 65

Brief Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 1 8. September 1 9 1 1 , IHK-WA Mün­ chen, F 5 / 230 ...... KGA 1 8/1 9. Brief Troeltschs an den Verlag ). C. B. Mohr (paul Siebeck) , 2. August 1 9 1 1 , Verlagsarchiv ). C. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen ...... KGA 1 8/1 9. Brief Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 1 8. September 1 9 1 1 ...... KGA 1 8/19. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Historische Werke verlegt von R. Oldenbourg München-Berlin [1 9 1 1 ] , IHK-WA München, F 5 / v 677, der Hinweis auf die "Bedeutung des Protestantismus" S. 8 und S. 1 5.

Editorischer Bericht

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kann [sic!] . Die Drucklegung haben wir sofort in Angriff nehmen lassen und wären wir Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Korrekturen möglichst ohne Verzögerung zu erledigen die Güte hätten."66 In diesem Schreiben äußerte sich Oldenbourg auch zu seinem Plan, die "Bedeutung des Protestantismus" in die Reihe "Historische Bibliothek", die von der "Redaktion der Historischen Zeitschrift" herausgegeben wurde, aufzunehmen: "Gleichzeitig gestatten wir uns höflichst bei Ihnen anzufra­ gen, ob Sie damit einverstanden wären, dass die 2. Auflage vorliegender Schrift als Band 24 der in unserem Verlage erscheinenden ,Historischen Bi­ bliothek' herausgegeben wird. Wir haben dieser Ihnen gewiss bekannten Sammlung kleiner historischer Werke von Band 21 ab in eine etwas ge­ schmackvollere Ausstattung gekleidet und erlauben uns Ihnen einen der letzten Bände als Muster zu übersenden. Die Aufnahme Ihrer Schrift in diese Bibliothek würde für den Vertrieb nicht zu unterschätzende Vorteile bieten; denn für eine Sammlung von Bänden kann natürlich mehr Propaganda ge­ macht werden, als für eine einzelne Broschüre, da sich die Kosten in erste­ rem Falle auf eine Reihe von Unternehmungen verteilen."67 In seiner Ant­ wort vom 30. September 1 9 1 1 erklärte sich Troeltsch mit der "Einreihung meines Vortrages in die historische Bibliothek" einverstanden, zudem wolle er die "Korrekturen nach Möglichkeit beschleunigen".68 Die Initiative zur Aufnahme des Vortrags in die "Historische Bibliothek" ging damit nicht von Friedrich Meinecke, dem Herausgeber der "Historischen Zeitschrift", aus. Am 2. Oktober 1 9 1 1 unterrichtete Oldenbourg Meinecke von seinen Plänen: "Herr Professor Troeitsch hat uns soeben das Manuskript zu seiner zweiten etwas erweiterten Auflage seiner Schrift ,Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt' zugestellt. Wir haben Herrn Prof. Troeltsch gebeten, die zweite Auflage dieser Schrift als Band der ,Histori­ schen Bibliothek' erscheinen lassen zu dürfen, und hat er uns soeben mitge­ teilt, dass er hiegegen nichts einzuwenden habe. Wir hoffen, dass auch Sie mit unserm Vorhaben einverstanden sind, und bitten Sie höflichst, uns Ihre Ansicht mit einigen Zeilen bekannt zu geben."69 In seiner Antwort vom 66

67 68

Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 26. September 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Ebd. Brief Troeltschs an den Verlag R. Oldenbourg, 30. September 1 9 1 1 , IHK-WA Mün­ chen, F 5 / 230 KGA 1 8/19. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Friedrich Meinecke, 2. Oktober 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Bereits in oben erwähntem Schreiben vom 28. Januar 1 9 1 1 an Friedrich Meinecke erwähnte Oldenbourg diesen Plan: "Wir würden auch diese Schrift gern als ein Bändchen der ,Historischen Bibliothek' erscheinen lassen." -+

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1 96

Die Bedeutung des Protestantismus

3. Oktober 1 9 1 1 schrieb Meinecke, daß er "die Aufnahme der 2. Auflage von Troeltsch' Schrift in die Histor[.] Bibliothek [ . . . ] mit größter Freude begrü­ ßen"70 würde. In der "Kostenberechnung der Buchdruckerei R. Oldenbourg, Mün­ chen" vom 1 1 . Oktober 1 9 1 1 wird Troeltschs Werk auf einen Umfang von 6 Yz Bogen geschätzt, die einzelnen Posten für Satz (347,76 Mark) , Druck (1 27,65 Mark) , Papier (1 1 3,20 Mark) und Buchbinderei (340 Mark) addieren sich zu einer Druckkostensumme von 928,6 1 Mark,71 In einer "Mitteilung" des Oldenbourg-Verlages vom 1 7. Oktober 1 9 1 1 wird auf Grund dieser Kostenaufstellung die Preisgestaltung diskutiert,72 Zu den Druckkosten kommen 520 Mark Autorenhonorar, 200 Mark für "Propaganda" sowie 250 Mark für Spesen; die Gesamtherstellungskosten belaufen sich damit auf 1 898 Mark.73 Bei einem Verkaufspreis von 2,50 DM und 1 000 abgesetzten Exemplaren würde sich, so die Aufstellung weiter, der Gewinn auf 850 Mark belaufen.74 Der endgültige Ladenpreis betrug 2,80 Mark.75 Am 28. Oktober 1 9 1 1 bestätigte Oldenbourg den Eingang der "Revision" der "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" am selbigen Tag und dankte "bestens für die prompte Uebersendung. Wir senden heute noch das Titelblatt an Sie und dürfen auch diese umge­ hend zurückerbitten."76 Am 7. November 1 9 1 1 konnte Oldenbourg die Auslieferung der zweiten Auflage bestätigen; die "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" sei am "vorigen Samstag im Buchhandel ausgegeben worden": "Sie hat einen Umfang von 1 03 Seiten und ist unsern Vereinbarun­ gen entsprechend wie die Originalaufsätze der Historischen Zeitschrift, also mit M 80.-. pro Druckbogen von 1 6 Seiten zu honorieren. Demgemäss gestatten wir uns Ihnen beiliegend den Betrag von M 520.-. [ . . . ] zu übersen-

70 71

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Brief Friedrich Meineckes an den Verlag R. Oldenbourg, 3. Oktober 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Vgl. "Kostenberechnung der Buchdruckerei R. Oldenbourg, München", 1 1 . Oktober 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Vgl. "Mitteilung von R. Oldenbourg, München", 1 7. Oktober 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels 70 (1 9 1 1), Nr. 47, S. 1 540. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 28. Oktober 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230.

Editorischer Bericht

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den. Ausserdem gehen gleichzeitig per Post 1 5 Freiexemplare an Sie ab. "77 Laut dem "Wöchentlichen Verzeichnis der erschienenen und der vorberei­ teten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels" traf der Text zwischen dem 1 7. und 22. November 1 9 1 1 bei der "Deutschen Bibliothek" ein.78 Manuskripte und Druckfahnen der beiden Auflagen der "Bedeutung des Protestantismus" sind nicht überliefert. Der Edition liegt die zweite Auflage von 1 91 1 zugrunde, die als solche nicht als zweite Auflage gekennzeichnet ist. Sie erschien unter folgendem Titel: Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München, Berlin: R. Oldenbourg, 1 9 1 1 ( = Historische Bibliothek, Band 24) . Diese Ausgabe wird als "Ausgabe letzter Hand" ediert. Der Text ist mit der Sigle B gekenn­ zeichnet. Die erste Auflage erschien 1 906 unten dem Titel "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehal­ ten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 2 1 . April 1 906" in: Historische Zeitschrift, hg. von Friedrich Meinecke, München, Berlin: R. Oldenbourg, 3. Folge, 1 . Band (der ganzen Reihe 97. Band) , 1 . Heft, 1 906, S. 1 -66. Parallel dazu erschien eine Separatausgabe des Auf­ satzes unter dem Titel "Die Bedeutung des Protestantismus für die Ent­ stehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart am 21 . April 1 906, Sonderabdruck aus der Historischen Zeitschrift, München, Berlin: R. Oldenbourg, 1 906". Satz und Paginierung dieses Sonderabdrucks sind mit dem Abdruck in der "Hi­ storischen Zeitschrift" identisch, so daß im folgenden zwischen Erstver­ öffentlichung und Sonderabdruck nicht unterschieden wird. Für beide gilt die Sigle A. Die Abweichungen von A gegenüber B verzeichnet der text­ kritische Apparat. Ü berliefert ist ein Handexemplar Troeltschs der zweiten Auflage von 1 9 1 1 , in das Troeltsch auf der freien Seite vor dem Titelblatt und auf den Seiten 1 3, 50 und 70 handschriftliche Marginalien eingetragen hat. Die Mar­ ginalien werden als Textschicht der zweiten Auflage (BI) im textkritischen Apparat verzeichnet. Troeltschs Fußnoten, die auf jeder Seite neu gezählt sind, werden hier durchlaufend numeriert. Die dritte Auflage der "Bedeutung des Protestantismus" wurde 1 924 als "Beiheft 2 der Historischen Zeitschrift" vom Oldenbourg-Verlag aufgelegt;

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Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Troeltsch, 7. November 1 9 1 1 , IHK-WA München, F 5 / 230. Am selben Tag schickte Oldenbourg auch ein Exemplar der "Bedeutung des Protestantismus" an Friedrich Meinecke. Vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels 70 (1 9 1 1), Nr. 47, S. 1 540.

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Die Bedeutung des Protestantismus

die vierte und fünfte Auflage erschienen 1 925 und 1 928. Auf diese Auflagen wird in vorliegender Edition nicht eingegangen, da sie nach Troeltschs Tod erschienen sind. Die Initiative zu diesen Auflagen ging vom Oldenbourg­ Verlag aus, der am 9. Mai 1 924 an die Witwe Troeltschs, Marta Troeltsch, schrieb, daß er die "seit etwa einem Jahr vergriffene [ . . . ] Schrift Ihres verstor­ benen Herrn Gemahls"79 als antastatischen Neudruck wieder auflegen wolle. Als Anlaß für die Neuauflage führt Oldenbourg an, daß im Juni 1 924 Hans Barons "Calvins Staats auffassung und ihre religiösen Grundlagen"80 in seinem Verlag erscheinen werde und hier eine "gewisse Wesenverwandt­ heit"81 mit der "Bedeutung des Protestantismus" vorliege. Die "Werbemass­ nahmen" für Barons Werk würden, so Oldenbourg weiter, auch der "Be­ deutung des Protestantismus" zukommen, "da sich beide Schriften an den gleichen Interessentenkreis wenden".82 In diesem Brief kündigte Olden­ bourg an, daß er die "Vorbemerkung" aus der zweiten Auflage weglassen wolle, da diese "sich eigentlich nicht auf das Buch, sondern auf den Vortrag bezieht"83. In der dritten Auflage ist die "Vorbemerkung" nicht enthalten. Bereits am 1 7. Dezember 1 924 teilte Oldenbourg Marta Troeltsch mit, daß die "Mitte Oktober"84 in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienene 3. Auflage vergriffen sei und er einen erneuten anastatischen Neudruck in einer Auflage von 600 Exemplaren veranstalten wolle. Dieser vierten Auf­ lage, die im März 1 925 erschien, folgte im November 1 928 ebenfalls in einer Auflage von 600 Exemplaren die fünfte Auflage.85

79 80 81 82 83 84

85

Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Marta Troeltsch, 9. Mai 1 924, IHK-WA München, F 5 / v 57. Vgl. Hans Baron: Calvins Staatsauffassung und das Konfessionelle Zeitalter (1 924) . Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Marta Troeltsch, 9. Mai 1 924. Ebd. Ebd. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Marta Troeltsch, 1 7. Dezember 1 924, IHK-WA München, F 5 / v 57. Vgl. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Marta Dietrich-Troeltsch, 21 . Novem­ ber 1 928, IHK-WA München, F 5 / v 57. Die vierte Auflage war im April 1 928 ver­ griffen, vgl. Brief Rudolf August von Oldenbourgs an Marta Troeltsch, 20. April 1 928, IHK-WA München, F 5 / v 57.



Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welta

Ernst TroeltschC In iJVeiter Linie zeigt sich ein I "viel weitere Möglichkeiten eröffnender Standa des wirtschaft­ lichen Lebens, das nicht mehr auf der Hauswirtschaft und dem Sklaventurn, sondern auf der geschlossenen Nationalwirtschaft, auf einem durch Geld und Kredit vermittelten internationalen Austausch 3Indem der Protestantismus gerade an der Herausbildung dieses reli­ giösen Individualismus und an seiner Ü berleitung in die Breite des allge­ meinen Lebens seine Bedeutung hat, ist von vornherein klar, daß er an der Hervorbringung der modernen Welt erheblich mitbeteiligt ist.a Es ist auch tadelnd oder preisend stets anerkannt worden, abgesehen von denen, welche die ganze moderne Welt nur aus der Renaissance oder gar erst aus dem auf sie folgenden Zeitalter der positiven Wissenschaften ableiten wollen. Und es darf in der Tat die Bedeutung des Protestantismus nicht einseitig übertrieben werden. Ein I großer Teil der Grundlagen der modernen Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ist völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden, teils einfach Fortsetzung spätmittelalterlicher Entwicklungen, teils Wirkung der Renaissance und besonders auch der vom Protestantismus angeeigneten Renaissance, teils in den katholischen Nationen wie Spanien, Ö sterreich, Italien und besonders Frankreich nach Entstehung des Protestantismus und neben ihm erworben worden. Gleichwohl ist seine große Bedeutung für die Entstehung der modernen Welt ganz offenbar nicht zu bestreiten. Die große Frage ist nur, worin nun im einzelnen wirklich diese Bedeutung besteht. Hierüber herrschen in der Wissenschaft und noch mehr in der populären Literatur sehr bunte und sehr ungenaue Vorstellungen. Die katholische Literatur pflegt in ihm die Wurzel des revolutionären Geistes der modernen Welt zu bsehen. Treitschkesb berühmte Lutherrede von 1 883 sieht in ihm geradezu den Grund alles Großen und Edlen in der modernen Welt.27 In der Hegelschen Schule pflegt er als Ethik und Rea-a

A: Es ist zweifellos, daß der Protestantismus in dem ganzen Kräftespiel eine her­ vorragend wichtige Rolle spielt. b - b A: sehen, und v. Treitschkes

der christlich-religiösen Idee grundlegend hervorgeht, läßt sich leicht und einfach be­ schreiben. Es ist der radikale religiöse Individualismus einer Gott sich im sittlichen Gehorsam hingebenden und dadurch das Individuum zugleich metaphysisch veran­ kernden und unzerstörbar machenden Gläubigkeit." Vgl. auch S. 265 f. 27 Vgl. Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation (1 883) . Treitschke führt in dieser Jubiläumsrede aus, daß "der Reformator unserer Kirche der gesamm­ ten deutschen Nation die Bahnen einer freieren Gesittung gebrochen hat, daß wir in Staat und Gesellschaft, in Haus und Wissenschaft überall noch den Athem seines Geistes spüren" (S. 4) . "In allen mächtigen Wandlungen unseres geistigen Lebens", die auf die Reformation zurückzuführen seien, "ist der Grundgedanke der Reforma­ tion, die freie Hingebung der Seele an Gott, unwandelbar das sittliche Ideal der Deut­ schen geblieben" (S. 1 4) . "Die Deutschen wagten das Leben nach der erkannten

B 23

A 13

224

B 24

Die Bedeutung des Protestantismus

ligion der Immanenz gefeiert zu �erden. Ina der Schule Ritschls erscheint er als Schöpfer von Familie, Staat, Gesellschaft und Berufsarbeit im modernen Sinne. So einfach liegen aber die Dinge durchaus nicht. Es ist ein höchst verwickeltes Problem, wo die Forschung überhaupt erst im Begriffe ist, die Einzelfragen richtig zu se­ hen und zu stellen, von einer eigentlichen Beantwortung aber häufig noch weit entfernt ist.b Die Übersicht, die über diese Probleme hier im folgenden gegeben wer­ den soll, kann daher oft nicht mehr als Vermutungen und Anregungen ge­ ben. Nur durch Zusammenwirken von Forschern sehr verschiedener Ge­ biete können hier die erschöpfenden Antworten gefunden werden.

11.

A 14

Der "Protestantismus" ist nun freilich wieder ein historischer Allgemeinbe­ griff, der sehr dringend einer genaueren Bestimmung bedarf. Es ist die herrsehende Gewöhnung, darunter alle Erscheinungen des protestan l tischen Re­ ligionsgebietes bis zum heutigen Tage zu befassen und darauf dann einen Allgemeinbegriff zu begründen, der mehr sagt, was der Protestantismus sein oder werden sollte, als das was er wirklich ist. So pflegen in diesen Bestim­ mungen entweder die Begriffe einer erweichten und prinziplos gewordenen Orthodoxie oder die einer fort- und umbildenden philosophischen Auffas­ sung zu überwiegen. In beiden Fällen aber handelt es sich nicht mehr um

a-a

b

A: werden, und in In A kein Absati;

Wahrheit zu gestalten, und weil die historische Welt die Welt des Willens ist, weil nicht der Gedanke, sondern die That das Schicksal der Völker bestimmt, darum beginnt die Geschichte der modernen Menschheit nicht mit Petrarca, nicht mit den Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther." (S. 1 5) Abschließend geht Treitschke von einem "Gefühl einer tiefen inneren Verwandtschaft" aus, das die "Gegenwart mit den Zeiten Luthers" verbinde: "Vieles was Luthers Tage nur ahnen konnten hat unser Jahrhundert erst gestaltet und vollendet. Die neue Welt, die damals entdeckte, tritt jetzt erst in die Weltgeschichte ein, und ihre zukunftreichsten Lande gehören dem evangelischen Glauben" (S. 27 f.) .

Zweites Kapitel

225

empirisch-historischea Allgemeinbegriffe, die die wirklichen Tatbestände als Ganzes erscheinen lassen, sondern um Idealbegriffe, die, an das Wirkliche anknüpfend, das eine oder andere Element in ihm besonders betonen und damit ihrer Formel die Begründung als Wesen zu geben suchen. Solche Idealbegriffe sind für das Handeln und Wollen der Gegenwart freilich unentbehrlich, aber sie sind keine histo l risehen Allgemeinbegriffe 4).b Sucht man lediglich einen solchen für den Protestantismus, so erkennt man leicht, daß erC für den Gesamtprotestantismus überhaupt gar nicht ohne weiteres zu bilden ist. Denn der gesamte moderne Protestantismus ist auch da, wo er die orthodoxen Traditionen des Dogmas fortsetzt, tatsächlich ein völlig anderer geworden. Der alte, echte Protestantismus des Luthertums und des Calvinismus ist durchaus im Sinne des Mittelalters kirchliche Kultur, will Staat und Gesell­ schaft, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Recht nach den supra­ naturalen Maßstäben der Offenbarung ordnen und gliedert wie das Mittelalter überall die Lex naturae als ursprünglich mit dem Gottesgesetz identisch sich ein. Der moderne Protestantismus seit dem Ende des 1 7. Jahrhunderts ist dagegen überall auf den Boden des paritätischen oder gar dreligiös indif­ ferentend Staates übergetreten und hat die religiöse Organisation und Ge­ meinschaftsbildung im Prinzip auf die Freiwilligkeit und persönliche Über­ zeugung übertragen unter grundsätzlicher Anerkennung der Mehrheit und Möglichkeit verschiedener I religiöser Überzeugungen und Gemeinschaften nebeneinander. E r hat ferner grundsätzlich neben sich ein völlig emanzipiertes weltliches Leben anerkannt, das er weder direkt noch indirekt durch Ver­ mittelung des Staates mehr beherrschen ewill. Im Zusammenhange damit hat ere seine alte Lehre von der diese Beherrschung ermöglichenden und fördernden Identität der Lex Dei und Lex naturae bis zum völligen Un4) Ü ber das Wesen solcher "historischer Allgemeinbegriffe" vgl. meinen Aufsatz: Was heißt "Wesen des Christentums"? Christliche Welt 1 903. 28

A: historische b In A steht die Fußnotenzjfftr hinter dem Satzzeichen. c A: ein solcher d-d A: toleranten A: will , und hat e-e a

28 Zum Stand von Troeltschs bisheriger Auseinandersetzung mit Heinrich Rickert vgl. vor allem seinen Aufsatz "Moderne Geschichtsphilosophie" (1 903) --+ KGA 1 0.

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A 15

A 1 4, B 25

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Die Bedeutung des Protestantismus

verständnis vergessen. Das sind fundamentale aUnterschiede. Sie sindo naturgemäß auch in dogmatischen Erschütterungen und Veränderungen zutage getretenb, vor allem in Veränderungen des Kirchen- und Staatsbegriffes und in I Reduktionen der alten absoluten Autorität, der rein supranaturalen Bibelgeltung, die bis zur völligen Umwandlung desC alten, das ganze System bestimmenden, dOffenbarungs- und Erlösungsglau­ bensd fortgeschritten sind. Wird aber das im Auge behalten, so ist für jede rein historische Betrachtung und insbesondere für unsere Fragestellung Alt­ und Neuprotestantismus wohl Zu unterscheiden. Der Altprotestantismus fällt unter den Begriff der streng kirchlich supranaturalen Kultur, die auf einer unmittelbaren und streng abgrenzbaren, vom Weltlichen zu un­ terscheidenden Autorität eberuht. Er such tee geradezu mit seinen Metho­ den diese Tendenz der mittelalterlichen Kultur strenger, innerlicher, persön­ licher durchzusetzen, als dies dem hierarchischen Institut des Mittelalters möglich war. Die Autorität und Heilskraft der reinen Bibel solltenf durchsetzen, was den Bischöfen und dem Papste bei der Äußerlichkeit ihrer Mittel und bei der starken Verweltlichung der Institution nicht erreichbar war. Wenn nun aber das deutlich erkannt ist, dann trennt sich der Altprote­ stantismus auch deutlich von denjenigen historischen Gebilden, die neben ihm hergehen und die der Neuprotestantismus mehr oder minder in sich aufgenommen hat,g die aber von jenem innerlich tief unterschieden waren und ihre eigene historische Wirkung hatten, nämlich von der huma­ nistischen, historisch-philologisch-philosophischen Theologie,h dem Tätifertum undi Spiritualismus. I Der Altprotestantismus hat sich von aallen dreiena scharf und mit blutiger Gewalttätigkeit unterschieden, nicht aus kurzsichtiger Leidenschaft oder theologischer bRechthaberei, auch nichtb aus Opportunismus oder aus epigonenhafter Engherzigkeit. Er hate in allen Führern wie Luther, Zwingli und Calvin von Anfang an deinen innerlichen und wesentlichen Gegensatz ihnen gegenüber empfundend, und zwar deshalb, weil von jenene die Idee der kirchlichen Kultur/ die absolute Gegebenheit der Offenbarungsgrundlage einer solchen Kultur trotz aller prinzipiellen Christlichkeit geleugnet wurdeg. Gerade hder Rückzug jenerh auf kleine, fromme Kreise, ihre Fernhaltung vom Staat und ihr Verzicht auf religiösen Zwang war gegen die Idee der Reformatoren, die wie der Katholizismus eine Offenbarung, die nicht alles Menschliche dem Göttlichen unterwirft, für keine wahre Offenbarung halten konnten. Die Objektivität des Kircheninstituts, die Sicherheit der Bibel und die klare staatlich-kirchliche Leitung der Gesellschaft oder des einheitlichen corpus Christianum, das j ede Kirche wenigstens auf dem ihr durch die Landesregierung erreichbaren Gebiete herstellte, wurde durch jene bedroht. Erst als der Neuprotestantismus die Idee der kirchlichen Gesamtkultur aus den Augen verloren hatte, konnte er die Gewissensforderung der historisch-philologischen Kritik und die Offenbarungslehre der inneren persönlichen Überzeugung und Erleuchtung als genuin protestantische Prinzipien bezeichnen, während der altei Protestantismus das alles mit den Kategorien des "Naturalismus" einerseits und des "Fanatismus",i "Enthusiasmus" anderseits belegte und heute noch in seia-a A: beiden b-h A: Rechthaberei oder e In A folgt: sich d-d A: innerlich und wesentlich von ihnen geschieden A: beiden e A: Kultur und f A: wird g h h A: ihr Rückzug A: echte A: "Fanatismus" oder -

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Die Bedeutung des Protestantismus

nen Resten bei teilweiser Anerkennung dieser Häresien um so lei­ denschaftlicher ihren Geist bekämpft. Diese Unterscheidung ist aber ge­ rade für unser Thema außerordentlich wichtig. Gerade die mit dem Pro­ testantismus verwandten und doch von ihm so scharf unterschiedenen Mächte der humanistisch-philologischen Theologie, die in Arminianismus und Sozinianismus Sonderorganisationen erlangten,a die btäuferisch-sektie­ rerischen Gruppenb, die in den Gemeinden unter dem katholischen und unter dem pro l testantischen Kreuz sich organisierten, haben für die Entstehung der modernen Welt eine außerordentlich hohe Bedeutung, die nicht ohne weiteres dem Protestantismus überhaupt auf das Konto geschrieben werden darf. Sie haben gegen das Ende des 1 7. Jahrhunderts nach langer und grausamer Un­ terdrückung ihre welthistorische Stunde erlebt.c

a-Q

A: Wenn das römische Recht sein Teil zu der Rationalisierung und I Individualisierung der modernen Welt beigetragen hat, so kommt davon ein Teil der Ursachen auch auf Rechnung des Protestantismus oder vielmehr seiner humanistischen Theologie. Die angelsächsische Theologie freilich blieb von diesem Gedanken fern, weil hier die Rezeption überhaupt nicht stattfand. [Absatz] Viel tiefer und weit mehr aus seinem inneren Wesen heraus wirkt der Protestantismus auf das Staatsieben und das öffentliche Recht. Zwar muß man auch hier

flussten oder ihm ähnlichen Litteratur seine Auffassung des Gesetzes wesentlich bestimmte." (S. 1 69) Troeltsch bezieht sich hier auf Philipp Melanchthon: Loci Theologici, in: Corpus Reformatorum, Volumen 21 (1 854) , hier: Oe lege naturae, S. 398-405.

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Die Bedeutung des Protestantismus

der Organisation geradezu entgegengesetzt. Aber auch hier liegen die Dinge eigentümlich verwickelt. Eine neue Rechtsform für die neu verstandene re­ ligiöse Gemeinschaft ist in Wahrheit vom Luthertum nicht gefunden wor­ den. Es hat nach allerhand Wirren schließlich doch wieder das kanonische Recht hervorgeholt und es unter Streichung des spezifisch Katholischen den protestantischen Verhältnissen angepaßt, eine Lösung der Aufgabe, die nach der Interkonfessionalisierung der Staaten nicht mehr haltbar war, aber sich in lauter Prinziplosigkeiten und Haltlosigkeiten fortsetzt bis zum heutigen Tage. Der Calvinismus hat sich in seiner Gemeinde-, Klassikal- und Synodal­ verfassung eine selbständige, aus seinem Geiste geschöpfte Organisation ge­ schaffen und ihr durch Berufung auf die göttliche Einsetzung in der Bibel eine siegreiche Festigkeit gegeben. Allein auch diese Verfassung hing einer­ seits an der konfessionellen Einheitlichkeit des Staates und der unlöslichen Verschmelzung der beiderseitigen Interessen. Anderseits beruhte sie auf der Ausschließung j eder historisch-menschlichen Auffassung der Bibel und wi­ dersprach sie mit ihrem ius divinum dem eigentlich protestantischen Geiste. I So ist auch dieses Kirchenrecht seit der Aufklärung und der Sprengung des Konfessionsstaates gefallen. Es ist nach außen großenteils zum Freikirchen­ turn geworden und hat nach innen das ius divinum meistenteils aufgegeben. Vor allem aber haben beide Konfessionen das große organisatorische Pro­ blem des Protestantismus, die freie gewissensmäßige Innerlichkeit der indi­ viduellen religiösen Ü berzeugung mit den Forderungen einer Kult- und Ver­ waltungsgemeinschaft zu vereinigen, nicht lösen können. Sie sind hier zur vollen Analogie des Katholizismus, der zwangsmäßigen Aufrechterhaltung einer orthodoxen Kirchenlehre zurückgekehrt und haben auch den Ketzer­ prozeß wieder aufgenommen. Ja, da hier der Glaube und nicht der Kult im Mittelpunkt stand, wurde hier der Lehrzwang härter, allgemeiner und dok­ trinärer als im Katholizismus. Wenn der moderne Protestantismus in seiner Gesamttendenz auf ein vom Staat gelöstes Freikirchenturn hinsteuert, und wenn er innerhalb der Kirchen der freien Bewegung und unmittelbar fort­ zeugenden Macht des Geistes Raum schaffen will, so stammen diese Ziele nicht aus den großen Hauptkonfessionen, sondern teils aus dem Täuferturn, das schon auf die Wendung des Calvinismus zum Freikirchenturn nicht ohne Einfluß war, teils aus dem mystischen Spiritualismus, der die Freiheit und Unmittelbarkeit des Geistes vertrat. Aber diese Aufgaben einer neuen Orga­ nisation des protestantisch-religiösen Lebens sind bis heute kaum erst er­ kannt und gestellt und sind unendlich schwer zu lösen; schwer zu lösen vor allem deshalb, weil hier überall mit den Resten des katholisierenden Kirchen­ rechtes zu kämpfen ist, das seinerseits seinen Grund in sehr bekannten und wirksamen Durchschnittsbeschaffenheiten des Menschen hat. Wäre aber der Protestantismus wirklich so klar und durchgreifend ein neues Prinzip des

Viertes Kapitel

257

Geistes und der Kultur, wie man es oft ausspricht, so hätte er dies schwierigste Kulturproblem, die Abgrenzung der religiösen und weltlichen Gemein­ schaft sowie die Abgrenzung der religiösen Gemeinschaft gegen die indi j viduelle Glaubensfreiheit längst viel energischer und vermutlich erfolgreicher in Angriff genommen. Natürlich ist mit dieser Veränderung des Kirchenrechtes auch eine solche des Staats/ebens und des öffentlichen Rechtes verbunden gewesen, und es ist diese Veränderung für die Entwicklung des modernen Staates in der Tat von hoher Bedeutung geworden. Aber auch hier muß man sich4 vor gangbaren Ü bertreibungena hüten; den weltlichen Staat und die moderne Staatsidee, eine selbständige Ethik der Politik, hat der Protestantismus nicht geschaf­ fen. erb hat eden Staate befreit von aller und je­ der rechtlichen Ü berordnung der Hierarchie;d er hat die staatlichen Berufe als unmittelbaren Gottesdienst betrachten gelehrt, die nicht erst auf dem Umweg des Dienstes für die Kirche Gott dienen. Das bedeutet die end­ gültige, auch formelle und prinzipielle, Verselbständigung des eStaates. Abere es bedeutet durchaus noch nicht die moderne Staatsidee. Er hat viel­ mehr den Staat durchaus doch als eine religiöse Institution betrachtet und seinen Zweck in der Pflege des christlichen Gemeinwesens und Sittengeset­ zes gesehen. Da der eigentliche Zweck des Lebens in der Erlösung und der religiösen Sittlichkeit liegt, bleibt dem Staat nur der Charakter des Pflegers der externa discip/ina und derjustitia civi/is samt der utilitarischen Sorge für die materielle Existenz der Untertanen, womit er ja nur die Funktionen der dem Dekalog eingeordneten Lex naturae ausübt. Ü ber diese äußeren Vorbedin­ gungen christlichen Lebens hinaus ist sein höchster Dienst der Liebesdienst für die Kirche, wozu die Obrigkeit als Schützerin des das Naturrecht inkar­ nierenden Dekalogs naturrechtlich und als wichtigster Bruder in der christ­ lichen Gemeinde christlich verpflichtet ist. Für die protestantische Staats­ lehre beider Konfessionen gilt eben das christliche Naturrecht, das schon im Mittelalter Stoa, Aristoteles und Bibel gemischt hatte, und das auch die Protestanten für ihren biblisch-rationellen Staatsbegriff sorgfaltig ausbauten. Nur tut die Obrigkeit das jetzt alles aus I selb l ständiger Einsicht in die biblisch-rationelle Forderung, faus eigenem gottverordnetenf Beruf und in bloßem freien Zusammenwirken mit den fachmäßigen Kennern der a

b c-c

d e-e

f-j

In A folgt: sich A: Er A: ihn A: Hierarchie, und A: Staates, aber A: als eigenen gottverordneter

B 54

A 34, B 55

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B 56

A 35

Die Bedeutung des Protestantismus

Bibel, den Geistlichen. Immerhin bedeutet das eine Steigerung der Souverä­ netät und Autarkie der Staatsidee . Der Protestantismus griff in die zur Souveränetät aufsteigende Entwicklung des Staates mit ein und hat sie mäch­ tig gefördert; er hat insbesondere das sich ausbildende staatliche Beamten­ turn mit dem Charakter eines gottverordneten Berufes bekleidet, der teil hat an der Ausübung des göttlichen Willens, und hat damit der neuen zentrali­ sierten Verwaltung eine ethische Kräftigung zuteil werden lassen. Auch hat er durch die direkte Heranziehung des Staates zu geistlichen und kultur­ lichen Leistungen für das christliche Gemeinwesen den Staatszweck mit der breitesten kulturlichen Zwecksetzung erfüllt, hat ihm die Sorge für Unter­ richt, Sittenordnung, Nahrungsschutz und geistig-ethisches Gedeihen über­ tragen. Es ist noch nicht der moderne Begriff des Kulturstaates; denn all das tut der Staat als Mitinhaber der geistlichen Gewalt und aus christlicher Pflicht. Aber daraus wird bei der Ablösung der Kultur von der Kirche und Beibehaltung der kulturlichen Funktionen durch den Staat der moderne Kul­ turstaat. Der aufgeklärte bevormundende Absolutismus wächst aus dem protestantischen Patriarchalismus heraus. Das letztere ist freilich mehr auf dem Boden des Luthertums der Fall gewesen, der die kirchlichen Funktionen geradezu dem Staate zuwies; der Calvinismus hat die kirchliche Geistes- und Wohlfahrtspflege von der staatlichen schärfer unter­ schieden und schon in Genf die Akademie unter kirchlicher Oberaufsicht behalten; immerhin hat doch auch er I wenigstens im Sinne des Genfer Ideals überall den Staat an der geistig-ethischen Hebung und dem Kul­ turzwecke direkt und ausgiebig beteiligt. Sobald freilich der Staat sich dem geistlichen Sinn dieser Pflichten versagte, hat der Calvinismus sie an die Kir­ che zurückgenommen und dem Staat wesentlich nur die Rolle des Wächters über Sicherheit und Disziplin gelassen, wodurch er der Staatsidee des älteren Liberalismus vorge l arbeitet hat; in Amerika vertreten noch heute gerade die Kirchen diese Staatsidee, und der holländische theolo­ gische Minister Kuyper hat daraus geradezu eine reformierte Grundtheorie gemacht. 56 56 Vgl. Abraham Kuyper: Reformation wider Revolution (1 904) , Kapitel 3: Der Cal­

vinismus und die Politik, S. 69-1 00, etwa S. 75 f.: "Die Obrigkeit ist zu dem allen von Gott bestellt als seine Dienerin, um das Kunstwerk Gottes in seiner Schöpfung der Menschheit vor völligem Verderben zu bewahren." Gott habe "Behörden" einge­ setzt, "um gegenüber diesem Wühlen der Sünde seine Gerechtigkeit zu behaupten,

Viertes Kapitel

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In alledem verstärkt der Protestantismus nur schon vorhandene Trieb­ kräfte. Stärker ist seine Einwirkung auf die aStaatsfo rm und Veifassung. Aber das betrifft im wesentlichen nur den Calvinismus. Geradea hier unterscheiden sichb die beiden Konfessionen grundlegend. Alles liegt hier an der jeweiligen Gestaltung des kirchlich akzeptierten Naturrechts, wie das ja schon im katholischen System der entscheidende Faktor gewesen ist. Das Naturrecht des Luthertums ist von Hause aus konservativ, betrach­ tet in seinem ergebungsvollen Vertrauen zu Gottes Vorsehung die vom natürlichen Prozeß hervorgebrachten Gewalten als von Gott eben dadurch eingesetzt und zu Hütern der iustititf civilis berufen. Zugleich bestätigt das Alte Testament diese dLehre, das Saul und Davidd als von Gott einge­ setzt ewerden läßte•57 Gott ist die causa remota dieser Hervorbringungen, a-a

A: Staatsform, und In A folgt denn auch A: justitia c d-d A: Betrachtung, das die Herrscher e-e A: betrachtet

b

und gibt dazu der Obrigkeit selbst das furchtbare Recht über Leben und Tod. Darum regiert alle Obrigkeit, in Kaiserreichen wie in Republiken, in Städten wie in Staaten ,von Gottes Gnaden'." (S. 75) Die Obrigkeit neige dazu, "mit ihrer mechanischen Autorität in das gesellschaftliche Leben einzudringen, dies sich zu unterwerfen und mechanisch zu regeln: das ist die Staatsallmacht. Aber andererseits sucht auch das ge­ sellschaftliche Leben immer die obrigkeitliche Autorität von ihren Schultern zu wer­ fen [ . . . ] . In diesem Kampfe nahm nun zunächst der Calvinismus Stellung. Ebenso hoch, wie er die von Gott eingesetzte behördliche Autorität ehrte, erhob er die von Gott kraft der Schöpfungsordnung in die gesellschaftlichen Kreise gelegte Souverä­ nität. Er forderte für beide Selbständigkeit im eigenen Kreis und Regelung des Ver­ hältnisses beider im Gesetz. Und um dieser strengen Forderung willen kann man vom Calvinismus sagen, er habe das konstitutionelle Staatsrecht aus seinem Grundgedan­ ken regeneriert." (S. 86) Grundlage sei auch hier, "daß die Souveränität Gottes, wo sie auf Menschen herabsteigt, sich in zwei Sphären teilt, einerseits in die Autoritätssphäre des Staates und andererseits in die Autoritätssphäre der gesellschaftlichen Lebenskreise" (S. 86 E). "Gebunden durch ihr eigenes Mandat, darf also die Obrigkeit das göttliche Mandat, worunter diese Sphären stehen, nicht ignorieren, noch abändern, noch ver­ kürzen." (S. 89) Deshalb gelte: "Der Staat darf keine Wucherpflanze sein, die alles le­ ben aufsaugt. Auf eigener Wurzel hat er inmitten der anderen Stämme seinen Platz in dem Wald einzunehmen und somit alles Leben, das selbständig aufschließt, in seiner heiligen Autonomie zu erhalten." (S. 89) . 5 7 Vgl. 1 Sam 9, 1 7: "Als nun Samuel Sau! sah, tat ihm der HERR kund: Siehe, das i s t der Mann, von dem ich dir gesagt habe, daß er über mein Volk herrschen soll." Vgl. auch 2 Sam 3, 1 7 f., 2 Sam 5, 1 2 u. ö.

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B 57

A 36

B 58 A 36, B 57

Die Bedeutung des Protestantismus

und so schuldet man ihnen als direkt oder indirekt von Gott in die Gewalt gesetzten Mächten unbedingten Gehorsam. Durch diese Auffassung wird das Luthertum ein Helfer in der Umbildung des ständischen Staates zum ter­ ritorialen Absolutismus, und, indem es ihm vollends noch die Kirchengewalt in die Hand gibt, steigert es die Machtmittel dieses Absolutismus im höch­ sten Grade. Immerhin konserviert es dabei auch den ständischen Geist, indem es zwar den Ständen die Unterord l nung unter die Zentralgewalt zu­ mutet, dafür aber auch den privilegierten Ständen in ihrem Herrschaftsbe­ zirk die gleiche Geltung als gottverordnete Obrigkeit zuweist und ihnen den Anspruch auf leidenden Gehorsam zuerkennt. Das Luthertum ist dem Ab­ solutismus politisch förderlich, im übrigen aber wesentlich konservativ und politisch apathisch; die ständischen Rechte bricht es nach oben, aber konser­ viert es nach unten. Die Lehre Stahls und der preußische Konservatismus drücken heute noch seinen Geist aus, wobei nur nicht zu vergessen ist, daß das von "Gottes Gnaden" im alten Luthertum wie von den Fürsten so auch von den reichsstädtischen I Magistraten galt und nur eine religiöse Deutung natürlicher Vorgänge ohne alle feudale Romantik war14).a Ganz anders entwickelte sich der politische Geist des Calvinismus. Im allgemeinen in der Grundtheorie ist auch sein staatliches Naturrecht konservativ; nur wo er die Möglichkeit freier Wahl und Konstituierung neuer Obrigkeiten hat, bevorzugt er eine gemäßigte Aristokratie, wie das bei der Herkunft aus der Genfer Republik und bei der Herrschaft des ari­ stokratischen Prädestinationsgedankens nicht verwundern kann. In den großen Kämpfen gegen die katholischen, das reine Gotteswort nicht zulas­ senden Obrigkeiten, d. h. in den hugenottischen, niederländischen, schot­ tischen und englischen Kämpfen, hat j edoch der Calvinismus sein Na­ turrecht sehr viel radikaler entwickelt. Es setzte sich der Satz von dem Widerstandsrecht durch, das um des Wortes Gottes willen gegenüber gott­ losen Obrigkeiten ausgeübt werden muß, und dessen Ausübung dann den magistrats infirieurs als den Nächstberufenen zufällt und im Falle des Man­ gels solcher auch vom einzelnen betätigt werden kann; ja bei besonderer individueller Berufung I ist auch der Tyrannenmord erlaubt,58 wie der Jael im 1 4) Vgl. P. Drews, Einfluß der gesellschaftlichen Zustände auf das kirchliche Leben, Tü­ bingen 1 906; derselbe, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, Jena 1 906; (Gebhardt) Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre, Gotha 1 895. a

In A steht die FußnotenzjfJer hinter dem Satzzeichen.

58 Vgl. hierzu oben, S. 1 06, Anmerkung 4.

Viertes Kapitel

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Alten Testament59 • Das gibt dem calvinistischen Naturrecht einen Zug zum Fortschrittlichen, eine Neigung zur Neuordnung gottwidriger Staatsverhält­ nisse. Aber auch in dieser Neuordnung selbst tritt ein spezifisch reformiertes Staatsideal zutage. Bei allen solchen Neuordnungen war nämlich die Keim­ zelle die reformierte presbyteriale und synodale Kirchenverfassung mit ih­ rem Repräsentativsystem. So färbte naturgemäß dieses System auf die Theo­ rie vom neu zu ordnenden Staate ab, auch der Staat mußte repräsentativ aufgebaut und kollegial durch die Vereinigung der in den Wahlen emporge­ hobenen Besten regiert werden. Unter dem Eindruck dieser Ideen nahm, worauf insbesondere Gierke hingewiesen hat, das calvinistische Naturrecht die Idee I vom Staatsvertrage auf. Danach führt die Lex naturae durch die Logik der Dinge zur vertragsmäßigen Konstituierung und Wahl der Obrig­ keiten, die dann als von der causa remota, von Gott, herstammend durchaus religiös als Beauftragte Gottes betrachtet werden können und Anspruch auf absoluten Gehorsam haben, solange sie nicht gegen das Wort Gottes sich versündigen.6o Die alttestamentliche Bestätigung dieser Naturrechtslehre, die der Calvinismus an charakteristisch anderer Stelle sucht als das Luthertum, findet er in den Bundschließungen Israels, aus denen seine Könige und seine Ordnungen hervorgehen. Daher stammen die covenants. 61 Es ist immer 59 Vgl. Ri 4, 1 7-21 . Vgl. auch Deboralied Ri 5, 24-3 1 . Vgl. zum Kontext auch Ri 3,

1 5 und 2Kön 9. 60 Vgl. Otto Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen

Staatstheorien (1 902), 2. Theil, 1 . Kapitel: Die religiösen Elemente der Staatslehre, S. 56-75, v. a. S. 63-65: Unter dem Einfluß der philosophischen Staatslehre werde schon im Mittelalter der "theokratische [n] Idee" allmählich der Boden entzogen: "Indem man zunächst die Entstehung des Staats auf den Naturtrieb oder auf mensch­ liche Willensvorgänge zurückführt, verblasst die Idee der göttlichen Stiftung: der göttliche Will e wird zwar als wirkende Ursache festgehalten, allein er tritt in die Rolle der ,causa remota' zurück. Indem man ferner das Recht aller Herrscher aus dem Wil­ len der unterworfenen Gesammtheit ableitet, verschwindet die Vorstellung von der unmittelbar göttlichen Einsetzung und Vollmacht der Person des Herrschers: der Satz, dass alle Obrigkeit von Gott ist, bleibt allerdings aufrecht, schwächt sich aber zu einer Doktrin ab, nach welcher die Gesammtheit unmittelbar von Gott die Befugniss und die Fähigkeit empfangt, eine hiermit ohne Weiteres der göttlichen Sanktion theil­ hafte Obrigkeit zu erzeugen. [ . . . ] Gerade die Reformation war es, welche den theokra­ tischen Gedanken mit Energie von Neuem belebte. Bei aller Verschiedenheit der Auffassungen stimmen Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin in der Betonung des christlichen Berufs und folgeweise des göttlichen Rechts der Obrigkeit überein." 61 Vgl. etwa Julius Köstlin: Covenant (1 898), S. 31 3: "Mit diesem Namen bezeichnen die schottischen Protestanten die Bündnisse, die im 1 6. und 1 7. Jahrhundert zur Verthei­ digung des echt christlichen Glaubens und Kirchenturns gegen den Papismus und

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B 59

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A 37, B 59

Die Bedeutung des Protestantismus

noch eine wesentlich religiöse und aristokratische Idee, die sich von dem rei­ nen Rationalismus des Naturrechts der Aufklärung und von dem Demokra­ tismus der Rousseauschen Lehre stark unterscheidet. Überall, wo die Theo­ rie zu praktischer Wirkung gekommen ist, hat sie zu einer auf beschränktem Wahlrecht erbauten Aristokratie geführt. Die eigentliche Demokratie ist überall dem calvinistischen Geiste fremd und hat sich aus ihm nur da entwik­ keln können, wo, wie in den Neuenglandstaaten, die alten ständischen Ele­ mente Europas fehlten und die politischen Institutionen aus den kirchlichen hervorwuchsen. I Aber auch dort ist sie zur strengsten Theokratie gewor­ den, beschränkt sich die Wählbarkeit auf die nach der Taufe noch besonders zu erklärende und an sittliche Würdigkeit gebundene Kirchenzugehörigkeit und betrachten die gewählten Herrscher sich patriarchalisch als zur einge­ hendsten religiös-ethischen Erziehung berechtigt. So darf die Demokratisie­ rung der modernen politischen Welt nicht einseitig und nicht direkt auf den Calvinismus zurückgeführt werden. Der reine naturrechtliche, von religiö­ sen Rücksichten befreite Rationalismus hat ahierfür eine viel stärkere Bedeu­ tunga, aber allerdings hat der Calvinismus einen hervorragenden Anteil in der Herbeiführung der Disposition für den demokratischen Geist1 5).b I cEine andere Grundidee des modernen politischen Lebens ist" die Idee der Menschenrechte und Gewissensfreiheit, d. h. der prinzipiellen Unantastbar­ keit von Leben, Freiheit, Besitz des Individuums außer auf dem Wege or­ dentlichen Rechtes und der Respektierung des individuellen Religionsbe­ kenntnisses und der individuellen Ü berzeugungsäußerung. Diese Rechte sind durch die französische Verfassung in alle moderne nd Verfassungen 1 5) Vgl. hierzu Gierke, Althusius2 , Breslau 1 902; Cardauns, Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes im Luthertum und Kalvinismus, Bonn 1 903; Doyle, The English in America, London 1 887.

a-a

b c-c

d

A: daran einen stärkeren Anteil In A steht die FIIßnotenWcr hinter dem Satzzeichen. A: Verschieden von dem Ideal der demokratischen Staatsform ist eine andere Grundidee des modernen politischen Lebens, A: moderne

weiter gegen den Episkopalismus unter ihnen geschlossen wurden - und zwar als heilige Volksbündnisse nach dem Vorbilde derjenigen des alten Volkes Israel wie Jos 24, 25; 2Kg 1 1 , 1 7; so speziell diejenigen v. J. 1 580 (1 581) und von 1 638, denen in­ dessen schon andere von gleichem Charakter vorangegangen waren."

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übergegangen und sind hierbei überall mit demokratischen und repräsen­ tativen Ideen verbunden. aAber für das Verständnis dieser Menschen­ rechte ist es nun wichtig und für unser Thema insbesondere ist es von Bedeutung, daß beide, die Menschenrechte und die Demokratie, nicht zu­ sammenfallen und daher auch nicht sich historisch auseinander erklären. Jenea sindb an sich auch ohne Demokratie sehr wohl möglich, wie es umgekehrt De­ mokratie ohne Gewissensfreiheit geben kann. Das englische parlamentarische Königtum der glorreichen Revolution kannte prak l tisch Menschenrechte und Gewissensfreiheit ohne Demokratie, und die kalvinistischen Neu-Englandstaaten oder auch Rousseaus Majoritätsstaat kannten Demokratie ohne Gewissensfreiheit.62 Beides ist zu trennen und fließt nur da zusammen, wo man die demokratische Gestaltung des Staatswillens selbst für ein unveräußerliches Menschenrecht hält, was aber keineswegs logisch notwendig war und ist. Hier hat nun Jellinek auf diese Verschiedenheit Chingewiesen63 und insbesonderec a-a

b c-c

A: Doch haben die letzteren mit den ersteren nicht notwendigen Zusammenhang; sie bedeuten nur die beste Möglichkeit ihrer Garantierung, jene In A folgt: aber A: der die Freiheit respektierenden Staatseinschränkung und der den Staat in die Hand des Volkes legenden radikalen Demokratie hingewiesen, indem er

62 Troeltsch bezieht sich hier wohl auf Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen­

und Bürgerrechte (1 904) , S. 5-8. Jellinek negiert hier die These, daß die Erklärung der Menschenrechte vor der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1 789 auf Rousseaus "contrat social" zurückgehe. Rousseau sei im "contrat social" nicht ge­ will t , "der Freiheit des Einzelnen ein unantastbares Gebiet mit unverrückbaren Gren­ zen zu gewähren [ . . . ]. Die Erklärung der Rechte will aber die ewigen Scheidelinien zwischen Staat und Individuen ziehen, die sich der Gesetzgeber stets vor Augen hal­ ten soll als die Schranken, die ihm durch ,die natürlichen, unveräußerlichen, geheilig­ ten Rechte der Menschen' ein- für allemal gesetzt sind. Die Prinzipien des contrat so­ cial sind demnach einer jeden Erklärung der Rechte feindlich. Aus ihnen folgt nicht das Recht des Einzelnen, sondern die Allmacht des rechtlich schrankenlosen Ge­ meihwillens." (S. 7) . 63 Vgl. ebd., S. 30 f. : "Während der antike Staat am Beginne seiner Geschichte uns als 3t6A.L� oder civitas, als in sich einheitliche Bürgergemeinde entgegentritt, ist der monarchische germanische Staat von Haus aus dualistisch gestaltet: Fürst und Volk

B 60

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Die Bedeutung des Protestantismus

diese beiden Elemente in der französischen Verfassung getrennta und als streng verschieden aufgezeigtb. cDieser Frage nachgehend hat Jellinek sie als aus den Verfassungen der nordamerikanischen Staaten herrüha

b c-c

A: trennte A: aufzeigte A: Des Näheren hat er dann aber insbesondere die erstere Lehre

bilden keine innere Einheit, sondern stehen sich als selbständige Subjekte gegenüber. Daher ist der Staat in der Auffassung j ener Zeit wesentlich ein Vertragsverhältnis zwi­ schen beiden. Die unter dem Einflusse antiker Traditionen stehende romanistisch­ kanonistische Rechtslehre sucht, und zwar schon seit dem 1 1 . Jahrhundert, in der Theorie beide Elemente zur Einheit zusammenzufassen, indem sie auf Grund des Vertragsgedankens entweder das Volk sich seiner Rechte an den Fürsten entäußern läßt und demgemäß den Staat in die Regierung verlegt, oder indem sie den Fürsten bloß als Mandatar des Volkes betrachtet und es daher mit dem Staate identifiziert. Die herrschenden staatsrechtlichen Anschauungen aber, namentlich seit Ausbildung des ständischen Staates erblicken im Staate wesentlich ein zweiseitiges Vertragsverhältnis zwischen Fürsten und Volk." Vgl. auch weiter unten, S. 58 f. : "Zum Unterschiede vom Kontinent hatte England dem Einflusse des römischen Rechtes nicht ohne Er­ folg widerstanden. Die englischen Rechtsanschauungen sind den römischen keines­ wegs unberührt geblieben, aber von ihnen lange nicht so tief beeinflußt worden, wie die kontinentalen. Namentlich das öffentliche Recht hat sich wesentlich auf germani­ scher Grundlage ausgebildet, die ursprünglichen germanischen Rechtsgedanken sind niemals von den spätrömischen der Staatsallmacht überwuchert worden. Der germa­ nische Staat aber hat zum Unterschiede vom antiken, soweit dieser uns historisch ge­ nau bekannt ist, sich aus schwachen Anfangen zu steigender Macht entwickelt. Die Kompetenz des germanischen Staates ist anfänglich sehr gering, das Individuum weitgehend durch Familie und Sippe, aber nicht vom Staate eingeschränkt. Das poli­ tische Leben des Mittelalters vollzieht sich viel mehr in genossenschaftlichen Verbän­ den als in dem vorerst nur rudimentäre Formen ausweisenden Staate." Zwar habe sich "zu Beginn der neueren Zeit" die Staatsgewalt in England immer mehr konzen­ triert, aber "diese Macht wird von den Engländern bloß als eine formal-juristisch schrankenlose gedacht. Daß der Staat und daher Parlament und König materielle Schranken haben, ist gerade in England zu allen Zeiten lebendige Volksüberzeugung gewesen. Die Magna Charta erklärt, daß die in ihr zugestandenen Freiheiten und Rechte ,in perpetuum' gewährt seien. In der bill of rights wird angeordnet, daß alles in ihr Enthaltene ,für immer Gesetz dieses Reiches bleiben solle'. Trotz der formellen Allmacht des Staates ist in den wichtigsten Grundgesetzen ausdrücklich eine 'Grenze gefordert und anerkannt, die er nicht überschreiten solle. In diesen, formal-juristisch allerdings bedeutungslosen Sätzen kommt die alte germanische Rechtsüberzeugung von dem beschränkten Wirkungskreis des Staates zum Ausdruck." (S. 59 f.) .

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rend und teilweise wörtlich aus ihnen übernommen erwiesena.64 In den nordamerikanischen Staaten selbst leitete er diese Deklarationen aus deren puritanisch-religiösen Prinzipien ab, die sich nicht bbloß mit der alten b praktischen Geltung der englischen Freiheiten begnügten, sondern Freiheit der Person und vor allem der religiösen Überzeugung als ein von Gott und Natur prinzipiell ver l liehenes Recht betrachteten, das seinem Wesen nach keine Staatsgewalt antasten darf.65 Erst mit dieser religiösen Fun­ damentierung sind jene Forderungen absolut und dadurch einer prinzipiellen juristischen Erklärung fähig und bedürftig geworden. Erst so gelangten sie in das Staatsrecht als Grundlehre und nahmen ihren Weg aus den nord­ amerikanischen Staatsverfassungen in die französische66 und aus dieser a

A: aufgezeigt

b-b A: mit einer bloßen 64 Vgl. ebd., S. 1 0-24. 65 Vgl. ebd. , S. 39-46, etwa die Zusammenfassung S. 44-46: "So karn denn der Grund­

satz der religiösen Freiheit in größerem oder geringerem Umfange in Amerika zur verfassungsrechtlichen Anerkennung. Aufs tiefste verknüpft mit der großen religiös­ politischen Bewegung, aus der die amerikanische Demokratie geboren wurde, ent­ springt er der Ü berzeugung, daß es ein Recht gebe, das dem Menschen anerschaffen, nicht dem Bürger verliehen sei, daß die Betätigung des Gewissens, die Äußerungen des religiösen Bewußtseins unantastbar dem Staate als Ü bungen eines höheren Rech­ tes gegenüber stehen. [ . . . ] Das Recht der Gewissensfreiheit wird proklamiert, und damit ist der Gedanke eines allgemeinen, vorn Gesetzgeber ausdrücklich anzuerken­ nenden Menschenrechtes gefunden worden. Im Jahre 1 776 wird dieses Recht von allen bill of rights, meistens in emphatischer Form und an erster Stelle als natürliches, angeborenes Recht bezeichnet. Den Charakter dieses Rechtes hebt die bill of rights von New Hampshire in der Weise hervor, daß sie erklärt, einige von den natürlichen Rechten seien unveräußerlich, weil niemand für sie eine Gegengabe bieten könne. Das seien aber die Rechte des Gewissens. Die Idee, unveräußerliche, angeborene, ge­ heiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, son­ dern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe. Ihr erster Apostel ist nicht Lafayette, sondern Roger Williams, der, von gewaltigem, tief religiösem Enthu­ siasmus getrieben, in die Einöde auszieht, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu grün­ den und dessen Namen die Amerikaner heute noch mit tiefster Ehrfurcht nennen." 66 Vgl. ebd., S. 26: "Wir wissen heute, daß die Freiheitsrechte nicht positiver, sondern negativer Natur sind, daß sie nicht einen Anspruch auf ein Tun, sondern auf ein Un­ terlassen des Staates begründen. Darin liegt auch einzig und allein ihre praktische Be­ deutung. In dieser Aufstellung spezieller Freiheitsrechte sind aber die Franzosen ganz von den Amerikanern abhängig. Den amerikanischen Normen gegenüber haben die Franzosen nicht einen einzigen originellen Rechtsgedanken gehabt."

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in fast alle modernen Verfassungen überhaupt. Was dem bloßen positiven englischen Recht, der utilitarischen und skeptischen Toleranz und den ab­ strakten literarischen Erörterungen nicht gelang, das gelang der Energie der prinzipiellen religiösen Überzeugung. Dabei lag es an den Verhältnissen, daß der Durchbruch I dieser religiösen Freiheits­ forderung in die juristische Formel auch die demokratisch-verfassungsrecht­ lichen Garantien mit hindurchriß, die zur Sicherstellung der Grundfor­ derungen und in der Eigenart amerikanisch-englischen Lebens sich ausgebildet hatten, so daß die offizielle Liste der Menschenrechte auch eine Reihe grundlegender demokratisch-politischer Forderungen mitenthält. Damit stünden wir allerdings vor einer überaus wichtigen Wirkung des Protestantismus, der damit ein Grundgesetz und ein Grund­ ideal modernen Wesens in die Wirklichkeit geführt hätte. In der Tat ist im allgemeinen Jellineks Darlegung eine wirkliche erleuchtende Entdeckung. Nur in einem Punkte bedarf sie einer näheren Bestimmung, die für unser Thema freilich entschei­ dend ist, nämlich in bezug auf den Puritanismus, der der Vater dieses Gedan­ kens und der Schöpfer dieser Rechtsformeln gewesen sein soll.67 Dieser "Puritanismus" nämlich ist nicht calvinistisch, sondern täuferisch-freikirchlichera . Die calvinistischen nordamerikani­ schen Puritanerstaaten sind zwar demokratisch gewesen, aber sie wußten nicht bloß nichts von Gewissensfreiheit, sondern haben sie geradezu als eine gotdose Skepsis verworfen. Gewissensfreiheit gab es nur in Rhode-Island, aber dieser Staat war baptistisch und war darum bei allen Nachbarstaaten als Sitz der Anarchie verhaßt; sein großer Organisator Roger Williams ist gera­ dezu zum Baptismus übergetreten . Und I ebenso ist der zweite Herd der Gewisa

A: täuferisch

67 Jellinek spricht nur an zwei Stellen von "Puritanern"; einmal in bezug auf die Kolonie

in Massachusetts, Salem, die 1 629 "von Puritanern gegründet" worden sei, zum an­ deren seien die Gründer von Connecticut (1 638) Puritaner gewesen, die aus Mas­ sachusetts ausgewandert seien (ebd., S. 39 f.) . Jellinek spricht im weiteren von den "kongregationalistischen Pilgrimväter[n]" (S. 39) , Roger Williams wird lediglich als "junger Independent" (S. 39) charakterisiert, zu William Penns religiöser Herkunft werden keine Angaben gemacht (vgl. S. 44) .

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sens freiheit in Nordamerika, der Quäkerstaat Pennsylvaniens, täuferischer Herkunft. Wo sonst die Forderung der Toleranz I und Gewissensfreiheit sich findet, ist sie politisch und utilitarisch motiviert, wie ja schließlich auch die Kaufleute der Massachusetts-Theocracy diesem Indifferentismus erlagen. Der Vater der Menschenrechte ist also nicht der eigentliche Protestantismus, sondern das von ihm gehaßte und in die Neue Welt vertriebene aSektentum und der Spiritualismusa, worüber sich auch niemand wundern kann, der die innere Struktur des protestantisch­ kirchlichen und des btäuferischen und spiritualistischenb Gedankens verstanden hat a-a A: Täuferturn b - b A: täuferisch-spiritualistischen c In A kein Absatz. d-d A: das Täuferturn A: hat das Täuferturn e-e A: seine f g-g A: erlebt, indem es seine Apolitie aufgab und gestaltend eingriff zur Hervorbrin­ gung eines christlichen Staates. In mancherlei Verschmelzungen mit dem Calvinis­ mus wurde es aggressiv und schöpferisch und verwirklichte es seine Idee von dem christlichen Staat, in welchem Staat und religiöse Gemeinde völlig getrennt sind, jede religiöse Gemeinde auf sich selbst und ihren engen Bruderkreis gestellt ist und doch der Staat die Grundgebote christlicher Sittenstrenge und Lebensreinheit strenge überwacht und aufrecht erhält.

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ferisches Freikirchenturn, demokratische und kommunistische Ideen, spiri­ tualistische Independenz, pietistisch-radikalisierter Calvinismus, altcalvini­ stische Ideen vom Revolutionsrecht, von der Volkssouveränetät und vom christlichen Staate: all das verband sich mit Folgen der politischen Katastrophen und den I Forderungen altenglischen Rechtes. Aus dieser Mischung erhob sich, von der Armee der Heiligen getragen, die Forderung des christ­ lichen Staates, der die Form der christlichen Gottesverehrung den inde­ pendenten Gemeinden freigibt, die christliche Sittlichkeit durch strenge Kontrollen verwirklicht und die Staatsrnacht im Dienste der christlichen Sache verwendet.g Der Staat Cromwells, der ausdrücklicha ein christ­ licher sein wollte,68 hat diese Idee auf kurze Zeit verwirklicht, und, so kurze Zeit dieses grandiose Gebilde dauerte, seine weltgeschichtlichen Wirkungen sind außerordentlich. Denn aus dieser gewaltigen Episode verblieben die großen Ideen der b Trennung von Kirche und Staat, der Duldung verschiedener Kirchengemeinschaften nebeneinander, des Freiwilligkeitsprinzips in der Bildung der I Kirchenkörper, der (zunächst freilich relativen) Überzeugungs- und Meinungsfreiheit in allen Dingen der Weltanschauung und der Religionb. Hier wurzelt die altlibe­ rale Theorie von der Unantastbarkeit des persönlich-inneren Lebens durch den Staat, welche dann nur weiter auch auf mehr äußerliche Dinge ausge­ dehnt wurde; hier ist das Ende der mittelalterlichen Kulturidee bewirkt, ist an Stelle der staatlich-kirchlichen Zwangs kultur cder Anfang der moder­ nen kirchenfreien individuellenc Kultur getreten. Es ist zunächst ein rein religiöser dGedanke. Er ist dannd säkularisiert und von der rationalisti­ schen, skeptischen und utilitarischen Toleranzidee überwuchert worden.e {Sie a

A: eben damit gerade In A nicht hervorgehoben. A: die moderne freie individuelle c-c d-d A: Gedanke, der nur bald A: wurde; e f-j A: aber er allein hat mit seiner b-h

68 Vgl. hierzu ausführlich und mit vielfältigen Verweisen auf die Literatur Ernst

Troeltsch: "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2), S. 751754 KGA 9. Troeltsch verweist hier u. a. auf Hermann Weingartens "treffliche [s] Bild Cromwells" in "Die Revolutionskirchen Englands" (1 868), etwa S. 1 5 1-1 53. Vgl. auch Ernst Troeltsch: Moralisten, englische (1 903), S. 446 f. KGA 3, hier der Hin­ weis auf Thomas Carlyle: Oliver Cromwell's Letters and Speeches, Volume 3 (1 846) , S. 58 f. --+

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hat mit ihrerf religiösen Wucht der modernen Freiheit die Bahn bereitet. aDoch ist dasa nicht eigentlich das Werk des Protestantismus, sondern ein Werk des neubelebten und mit dem radikalisierten Calvinismus verschmol­ zenen Täuferturns , dieb damit eine verspätete Ge­ nugtuung erhieltenC für die maßlosen Leiden, die diese Religion der Duldung und der Gewissensüberzeugung I von allen Konfessionen im 1 6. Jahrhundert hatte erfahren müssen 1 7) . d Weitere politische Folgen wird man dem Protestantismus schwerlich zu­ rechnen dürfen. Die Sprengung des katholisch-römisch-deutschen Imperiums und die Verwandlung der abendländischen Christenheit in ein Gleichge­ wichtssystem verschiedener Großmächte ist von ihm natürlich befördert und befestigt, aber war schon vor ihm im Gange. Vollends mit dem Natio­ nalitätsprinzip hat sein Landeskirchenturn keinerlei Zusammenhang. Die­ ses hat nur der Festigung und Zentralisierung der Zentralgewalten gedient, während jenes ein Erzeugnis völlig moderner, wenn auch gegensätzlicher Mächte, der demokratischen Aufweckung der Massen und der romantischen Idee vom Volksgeist, ist. Dagegen zeigt sich uns wieder eine mächtige Wirkung, wenn wir uns zu der Entwicklung des wirtlschajtlichen Lebens und Denkens wenden. 18) I A 46, B 70

B 71

1 8) Vgl. die schon genannte Abhandlung Webers, die aber auch über dieses Thema hin­ aus noch viel Wertvolles für den Theologen und Kulturhistoriker enthält.

81 Vgl. ebd., S. 292-295, etwa S. 292 f. : "Ich habe schon zu verschiedenen Malen gesagt,

daß mich die Studien Max Webers über die Bedeutung des Puritanismus für den Kapi­ talismus stark angeregt haben zu meinen Untersuchungen über den Judaismus, in Sonderheit weil ich den Eindruck gewonnen habe, daß die tragenden und für die ka­ pitalistische Entwicklung bedeutsamen Ideen des Puritanismus in der jüdischen Reli­ gion viel schärfer und natürlich auch viel früher ausgebildet worden seien. Ich kann nun hier nicht im einzelnen den Nachweis führen, in wie weit diese Annahme richtig war: dazu müßte ich die Ergebnisse dieses ganzen Kapitels in Vergleich stellen mit den Grundideen des Puritanismus, wie sie Weber herausgearbeitet hat. Mir scheint aber, daß ein solcher Vergleich in der Tat die fast völlige Ü bereinstimmung jüdischer und puritanischer Anschauungen ergeben müßte, wenigstens insoweit sie für die hier untersuchten Zusammenhänge bedeutsam sind: die Präponderanz der religiösen In­ teressen; die Bewährungsidee; (vor allem!) die Rationalisierung der Lebensführung; die innerweltliche Askese; die Verquickung religiöser Vorstellungen mit Erwerbsin­ teressen; die rechnerische Behandlung des Sündenproblems und manches andere sind in beiden Fällen dieselben. Um nur einen besonders wichtigen Punkt noch zu ur­ gieren: die eigentümliche Stellung zum Sexualproblem, die Rationalisierung des Ge­ schlechtsverkehrs ist in Judaismus und Puritanismus bis in's kleinste gleich. [ . . ] Pu­ ritanismus ist Judaismus. Auf Grund Webers und meiner Darstellungen, denke ich, kann es nun nicht mehr schwer sein, diesen geistigen Zusammenhang, ja diese gei­ stige Ü bereinstimmung, festzustellen." 82 In einer analogen Fußnote in "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Grup­ pen" (1 9 1 2), S. 720 KGA 9, gibt Troeltsch hierzu den internen Seitenverweis S. 638-640 (richtig ist S. 637-642) . Troeltsch nimmt dort Stellung zur These der "Gleichstellung von Puritanismus und Judaismus wegen der Betonung des A.T.s bei den Calvinisten" (S. 720) . Calvin habe wie Luther bei der "Rechtfertigung seiner in­ nerweltlichen Berufsethik" auf das Alte Testament zurückgegriffen: "er konnte auch hier glauben, gemeinsame reformatorische Sätze nur strenger und praktischer durch­ zuführen; auch war Calvin niemals durch die Schule des Mönchtums durchgegangen. So war es ihm möglich, seiner Gemeindezucht und Staatsgestaltung eine Heiligungs­ ethik zugrunde zu legen, die an Strenge mit der der Täufer sich vergleichen konnte, ohne doch die für die Gesellschaft unmögliche radikale Liebesmoral der Bergpredigt zum allgemeinen Gesetz zu machen. Hier liegt die eigentliche Quelle des angeblich alttestamentlichen Charakters des Calvinismus. Es ist dasselbe Motiv, das auch schon früher den Typus der gewaltsam reformierenden Sekte zum Alten Testament, seinen Gotteskriegen und Bundschließungen getrieben hatte. Nicht jüdische Gesetzlichkeit .

--+

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B 71

Die Bedeutung des Protestantismus

aDamit ist bereits ein weiteres wichtiges Gebiet des Kulturlebens berührt, das soziale Leben und die soziale Schichtung. Jedermann weiß, daß die unge­ heure Bevölkerungssteigerung, die moderne Wirtschaft, die Demokratisie­ rung und die Bildung der militärisch-bureaukratischen Riesenstaaten gerade hier den Charakter der modernen Welt ganz hervorragend bestimmen. Hat der Protestantismus für diese Wandelungen eine erhebliche Bedeutung? Man wird darauf einfach antworten können: unmittelbar nein. Was er hier gewirkt hat, hat er mittelbar und ungewollt gewirkt durch Beseitigung alter Hem­ mungen und durch Begünstigung der einzelnen bereits charakterisierten Entwicklungen. Er war von Haus aus keine soziale, sondern eine religiöse Bewegung, wenn er natürlich auch in Festsetzung und Ausbildung durch die sozialen und politischen Kämpfe und Bestrebungen der Zeit sehr erheblich mit bestimmt worden ist. So hat er bewußt und gewollt auch keine sozialen Wirkungen hervorgebracht. Ernsthafte soziale Neubildungen woll­ ten nur die kleinen täuferischen Gruppen, aber gerade um deswillen wurden a-a

A: Von den bisher bezeichneten Größen aus ist dasjenige bedingt, was man das so­ ziale Leben und die soziale Schichtung nennt. So ist denn auch mit dem Aufweis des Einflusses auf jene die Bedeutung des Protestantismus für diese im wesentlichen charakterisiert. Im einzelnen ist hier die Untersuchung überall erst im Werden, und ich möchte nicht wagen über diese schwierigen Fragen schon ein Urteil zu fallen. Nur der Hauptgesichtspunkt für die Auffassung dieser Frage überhaupt darf viel­ leicht hervorgehoben werden. Der Protestantismus hat, wie die ganze christliche Idee überhaupt einen direkten sozialen Einfluß und ein direktes soziales Pro­ gramm nicht. Die christliche Idee ist eine aus dem persönlichen religiösen Leben heraus geborene und richtet sich auf ein Menschheitsziel, das sie von Anfang an nicht auf dem gewöhnlichen Boden menschlichen Daseins für verwirklichungsfä­ hig hielt. Wie ihre erste Forderung durch soziale Verhältnisse nur mitbedingt aber nicht hervorgebracht ist, so hat auch der Protestantismus als neuer Trieb dieser Idee in Ursprung und Wirkung nur einen indirekten Zusammenhang mit dem so­ zialen Problem. Er beseitigt die Versuche der hierarchisch-sakramentalen Kirche, die bisherige soziale Schichtung in etwas zu organisieren, und legt damit die Wur­ zel frei, aus der die indirekten Wirkungen auf das soziale Leben wieder neu und frei hervorgehen können. Dieses selbst hat wie in der alten und dann in der mittelal­ terlichen Kirche seine Haupttriebkräfte in allgemeinen, nicht von der Religion be­ stimmten Verhältnissen, und so hat auch

lebt hier wieder auf, sondern die alttestamtentliche Rücksicht auf das praktische Volksleben. Und auch mit Rückfällen in den Katholizismus hat dies Ideal der heiligen Gemeinde nichts zu tun. Es ist das Sektenideal, aber verbunden mit der Anstaltskir­ che und durch die starke Verwendung des Alten Testamentes auf das Niveau des Möglichen erhoben, im übrigen aktivster und lebendigster Protestantismus." (S. 638) .

Viertes Kapitel

281

sie von den Vertretern der bisherigen christlichen Gesellschaft blutig ver­ nichtet; es erschien schon ihr Freikirchentum als eine Sprengung der not­ wendigen gesellschaftlichen Einheit. Der Protestantismus der großen Kon­ fessionen aber war in sozialer Hinsicht wesentlich konservativ und hat soziale Probleme als solche überhaupt kaum gekannt. Auch der Genfer I "christliche Sozialismus"83 ist nur Fürsorge innerhalb des gegebenen sozialen Rahmens und mit bisher üblichen Mitteln. Im übrigen hatO der Protestantismus den Dingen in der Hauptsache nur ihren Lauf gelassen, nachdem er die Formen zerbrochena, in welche die mittelalterliche Kirche sie - übrigens immer noch vorsichtig und elastisch genug - zu bannen ver l sucht hatte. In seinen Wirkungen auf Familie und Recht, auf Staat und Wirtschaft, in seiner Anerkennung des neuen selbständigen Staates, der Berufsbeamtenschaft und des bKriegswesens, das namentlich der Calvinismus in seiner großen internationalen Politik bejahte und mit seinem Geiste des Heroismus zur Ehre Gottes erfüllte, b liegt auch seine Anerkennung der neu sich bildenden sozialen cWelt. Aber all das ist nur indirekt und

a In A folgt: hatte b-b A: Kriegswesens in seinen neuen Formen c-c

A: Welt, deren beginnenden Problemen im Luthertum nur Hoffnung, Geduld und Demut und im Calvinismus ein theokratisch-sozialer Utilitarismus gegenüberstan­ den. Was er in die neu sich bildenden Konstellationen hineinbringt, ist darüber hin­ aus nur der neu verstärkte ideelle Doppeleinfluß der christlichen Idee überhaupt, der unbegrenzte Individualismus des christlichen Persönlichkeitsideals auf der einen Seite, den nun nur die Autorität der Bibel und keine Priesteranstalt mehr re­ gelt, und der auf Erlösung und Jenseits gerichtete Geist der Geduld und Fügung auf der anderen Seite, der nicht mehr durch eine hierarchische Weltkirche die Welt verbessern will, sondern sich in dem Lauf der profanen Dinge fügt, wie Gott sie ordnete und wie sie ein Ausdruck der überall zu Recht bestehenden, aber von der Sünde getrübten Schöpfungsordnung sind. Der Calvinismus betont mehr die erste Richtung, das Luthertum mehr die zweite; der erste wirkt mehr sozial nivellierend, das letztere mehr zur Erhaltung ständischer Scheidungen. Aber beide haben doch zugleich teil an beiden Gedanken; das eine ist nicht konservativ um jeden Preis, der

83 Ausführlich hierzu siehe Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen

und Gruppen (1 9 1 2) , S. 677-679 KGA 9. Troeltsch beruft sich hier auf Eugene Choisy: L'etat chretien calviniste a Geneve au temps de Theodore de Beze (1 902), Karl Rieker: Grundsätze reformierter Kirchenverfassung (1 899) , Max Goebel: Ge­ schichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kir­ che, 2. Band (1 852) , Adolf Held: Zwei Bücher zur socialen Geschichte Englands (1 881) und Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Zum socialen Frieden, 2 Bände (1 890) . -+

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Die Bedeutung des Protestantismus

mittelbar. Unmittelbare Veränderung in der sozialen Schichtung bedeutet nur die Beseitigung des Ordens- und Mönchswesens mit all seinen sozialen und wirtschaftlichen Funktionen und Wirkungen. Auch die Ersetzung des ehelosen hierarchischen Priestertums durch das bürgerlich-protestantische Pfarrhaus mit seinem sehr erheblichen Einflusse bedeutet eine nicht unwe­ sentliche Verschiebung. Wie weit die protestantische Sexualethik auf die Steigerung der Bevölkerungsziffer gewirkt hat, ist m. W noch nicht unter­ sucht.c aEine bedeutend wichtigere Beeinflussung der sozialen Schichtung würde es bedeuten, wenn es richtig wäre, die Heraushebung einer Klasse von Gebildeten aus der Gesamtmasse des Volkes, dieses wichtige Merkmal moderner Sozialgeschichte, mit dem Protestantismus in Verbindung zu bringen. Hier sinda durch ein gemeinsames intellektuelles Niveau, gemein­ same Schulbildung und gemeinsame Bildungssprache die hverschiedensten, aus alter Klassenteilung stammendenb Unterschiede überbrückt und In der Begründung einer ganzen Gruppe auf die Gemeinsamkeit des inandere nicht prinzipiell demokratisch; die Idee der natürlichen Gleichheit liegt bei­ den gleich fern, weil sie nur im Urstand ohne Sünde und vor der Sünde möglich und wirklich war. Das Luthertum bewährt im passiven Widerstand einen revolutionären Individualismus und erträgt die Junkerherrschaft nur als eine Folge und Strafe der Erbsünde; der Calvinismus ist bei allen radikalen Neuschöpfungen doch wesentlich aristokratisch und macht die Erwählten nicht gemein mit den Verworfenen. Die modernen demokratischen Gleichheitsideen und ebenso die modernen innerwelt­ lichen Sozialideale einer gleichen Beteiligung aller an den Lebensgütern nach Würdigkeit und Arbeitsleistung sind aus anderen Voraussetzungen erwachsen, I gera­ deso wie der feudal-romantische Konservatismus mit seinen von Gott verordneten Unterschieden und seiner Theorie des Gottesgnadentums sehr weltliche klassen­ kämpferische und sozialpolitische Voraussetzungen hat. Anknüpfungen und Ü ber­ leitungen vom alten Protestantismus zu solchen modernen Theorien gibt es natür­ lich überall, aber diese Theorien selbst haben andere Wurzeln als die eines religiösen Systems. Schon innerhalb der englischen Revolution, wo zum Schlusse rein demo­ kratische Gruppen hervortraten, löst in den Levellern die reine Demokratie bereits sich von den religiösen Grundlagen, und anderseits hat ebenso die absolutistische Theorie eines Hobbes, an die das politische Denken überall weiter anknüpft, sich deutlichst außerhalb des Bodens religiöser Voraussetzungen gestellt. I) 1) Vgl. Troeltsch, Politische Ethik und Christentum; Gooch, History of english democratic ideas, Cambridge 1 898.

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a-a

A: In eine etwas engere Verbindung mit dem Protestantismus könnte man eine an­ dere charakteristische Haupterscheinung des modernen sozialen Lebens stellen, die Entstehung einer Klasse der Gebildeten, die b-b A: verschiedensten sonstigen

Viertes Kapitel

283

tellektuellen Vermögens in der Tat eine aneue sozialea Erscheinung bgeschaf­ fen; da das aus vielen Gründen nur für einen begrenzten Kreis möglich ist, so ist eben damit die I dem Mittelalter unbekannte Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufgerissen. In der Tat spricht manches für jene Ver­ bindungh. Eine Glaubensreligion, die nicht im Kultus, sondern in klaren Glaubensgedanken ihren Kern hat, muß Wissen und Bildung zu einer allgemeinen Menschheitsangelegenheit machen und durch Gemeinsamkeit in diesem Hauptinteresse andere Unterschiede überwinden. In diesem Sinne hat in der Tat der Protestantismus sein Bündnis mit einem kirchlich gewordenen Humanismus geschlossen und eine großartige Tätigkeit der Schulgründung entfaltet, hat seine Erziehung den Völkern eine größere und individuellere Regsamkeit des Geistes verliehen. Allein im wesentlichen kam dies doch nur den gelehrten Berufsständen zugute, die schon I sowieso sozial abgegrenzt waren, und die ganze Bildung hatte wesentlich nur die religiöse Instruktion und formale Literaturfähigkeit zum Zweck. Sie ist auch überwiegend lateinisch und unpopulär. So darf auch nach dieser Seite hin seine Wirkung nicht übertrieben werden. Die Verlegung des Mensch­ heitsideals in den aufgeklärten, mündigen, wissenden Menschen, die Über­ brückung aller Unterschiede durch die Gemeinsamkeit des Wissens, die Em­ porhebung des Volkes durch Wissen zum Anteil an der Gesamtkultur, ist doch erst ein Werk der Aufklärung, die gerade in dieser Ersetzung der bloß religiösen Gemeinsamkeit durch die intellektuelle von Bildungsmitteln und Bildungsbesitz ihre charakteristische Eigentümlichkeit hat. Freilich, daß dann diese Aufklärung gerade den schulmäßigen und klassenbildenden Charakter empfing, wird insbesondere in Deutschland mit der schul- und ge­ dankenmäßigen Ausbildung des Protestantismus zusammenhängen, während auf den katholischen Gebieten Aufklärung und Bildung mehr auf Ver­ mittlung durch freie Literatur und persönliche Überlieferung angewiesen bleiben19) .c I

Damit ist bereits auch schon das Verhältnis des Protestantismus zur Wis­ senschaft berührt. Auf diesem Gebiet fast mehr noch als auf jedem anderen pflegt man ihn als Bahnbrecher der modernen Welt zu betrachten.85 Allein auch hier kommt alles an auf das richtige Verständnis dessen, worin dieses Bahnbrechen bestanden hat. Denn davon kann keine Rede sein, daß er dem

85 Vgl. etwa Adolf Harnack: Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der

Wissenschaft und der Bildung (1 883), S. 24: Die Leistung der Reformation bestehe darin, "die Geister erst fähig gemacht" zu haben, "die Erkenntnisse, welche die Zu­ kunft bringen sollte, zu ertragen, ohne die Herrschaft über sich selbst zu verlieren; denn sie hat ihnen eine unerschütterliche Stellung über der Welt angewiesen." Die "epochemachende Bedeutung Luthers für die Wissenschaft" liege darin, daß er an­ gefangen habe, nicht nur "die Erkenntnisse der Wahrheit vom Machtanspruch der Ueberlieferung zu befreien und damit eine reine Betrachtung der Geschichte zu er­ möglichen, sondern er hat die Freiheit und Verantwortlichkeit des Arbeitenden ver­ kündet. Er hat die Arbeitsgebiete getrennt und sie eben dadurch in ein helles Licht treten lassen. Er hat ferner das selbständige Recht jeder Berufsarbeit, und so auch der wissenschaftlichen, geltend gemacht. Aber über das Alles: er hat dem wissenschaft­ lichen Arbeiter eine Gewissheit seines Gott geschenkten, persönlichen Werthes und damit einen unverwüstlichen Idealismus eingehaucht, der ihn wappnet gegen die Er­ schütterungen des Selbstbewußtseins, die eine Folge aller empirischen Erkenntniss und aller Mystik sind." (S. 24 f.) Vgl. auch die oben, S. 223 f., Anmerkung 27, ange­ führte Treitschke-Stelle.

Viertes Kapitel

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modernen Gedanken der Freiheit der Wissenschaft, des Denkens, der Presse offenen Weg bereitet hätte; und auch davon nicht, daß er die unter seiner Kontrolle und Zensur stehende Wissenschaft mit neuen ein­ heitlichen Antrieben erfüllt und zu ursprünglichen neuen Entdeckungen geführt hätte. Das Wichtigste ist vielmehr, daß er die bisherige kirchliche Wis­ senschaft gestürzt und die Bildungsanstalten sämtlich, wenigstens rechtlich, säkularisiert hat, auch die I Zensur staatlichen Behörden überwiesen hat, in denen die Theologen nur mitvertreten waren. Dadurch ist es dem Staate möglich geworden, die Wissenschaft von seinem I Interesse aus zu pflegen und selbständig vorzugehen, sobald aseine Einschätzung und Auffassung der Wissenschafta sich nicht mehr im Geiste des konfessionellen Zeitalters mit derb kirchlichen deckte. Weiter hat der Protestantismus einen gewissen Geist der historischen Kritik großgezogen, der die katholische Kirchen­ tradition und das übliche Bild der Kirchengeschichte einer strengen und mißtrauischen Prüfung unterzog;C damit sowohl den Geist indivi­ dueller Prüfung überhaupt gestärktd, als einen großen Teil des Geschehens natürlich-psycho­ logischen Methodene unterwerfen gelerntf. Schließlich hat er in dem Be­ dürfnis nach Hilfsmitteln für diese Kritik und nach wissenschaftlichen Kräften für seine neue antischolastische, biblische Theologie den Humanismus übernommen und damit wenigstens die Keime philologischer Kritik und Ehrlichkeit. gVor allem aber hat erg die Religion zweifellos intellektualisiert und das schul­ mäßige Erkennen und Lernen überall befördert. Allein damit ist auch seine direkte Wirkung erschöpft, und weitere indirekte Wirkungen waren zunächst durch den hartenh, ja gesteigerten Su­ pranaturalismus seiner Autoritätslehre, sowie durch die streng traditionalistische und formalistische Ausbildung seines humanistischen Elementes ver­ hindert. Der Protestantismus erst hat die Bibel völlig aus j eder Tradition und damit aus a-a

A: diese A: den A: unterzog und c d A: stärkte A: Begriffen e f A: lernte g g A: Er hat h A: strengen b

A SO B 78

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Die Bedeutung des Protestantismus

jeder Analogie zu menschlichen Produktionen herausgehoben; erst er hat den Kanon abgeschlossen und scharf gegen die bloß menschliche Literatur abgegrenzt; er hat in seiner Bibellehre das Infallibilitätsproblem früher und schroffer gelöst als der Katholizismus; er hat den Humanismus auf Eleganz, Stilistik, Poetik und auf formalistische Logik und Denkkunst eingeschränkt und in aller Realwissenschaft einen I ebenso sklavischen Anschluß an die profanen Autoritäten des Altertums verlangt wie in der Theologie an die sakrosankte Autorität der Bibel. Die große Leydener Philologenschule hat mit ihm in mancherlei Spannung gelebt;a die Ideen eines Scaliger haben bei ihm wohl Luft, aber I keinen Boden gefunden. bEin Hugo Grotius stammt aus erasmischen, prinzipiell interkonfessionell gesinnten Kreisen, und ein Baco schöpfte lediglich aus der Unterströmung der Renaissancebil­ dung, die neben dem Kirchenturn hervorging. Die Wissenschaft des Pro­ testantismus b war humanistisch aufgefrischte Scholastik; seine historische Kritik war Polemik der absoluten Wahrheit gegen teuflischen Betrug; sein Wissensinhalt war eine aus der Antike und allerhand Merkwürdigkeiten zusammengestellte Polyhistorie und Enzyklopädie; seine Rechts- und Staats­ lehre war ein Umbau der alten katholischen Lehre von der Lex naturae und ihren Beziehungen auf die Lex Mosisc, die ihm ihrerseits identisch war mit der Lex Christi. Zwar haben auch hier die reformierten Schulen einen größeren und weiteren Geist gezeigt, aber das liegt an der westlichen Kul­ tur und an dem stärkeren Herüberwirken der französischen und italieni­ schen Renaissance. Der Protestantismus unterscheidet sich dirn Grundsatz nirgends vom gleichzeitigend Katholizis­ mus, der vielmehr bei stärkeren Renaissancetraditionen wissenschaftlich teilweise feiner und erfolgreicher arbeitet. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen des Zeitalters , die neue Mathematik und Physik, gehen aus der Renaissance hervor, deren Platonismus auch einen Kepler in Konflikt mit der kirchlichen Behörde brachte; die Grundlinien der neuen anti-aristotelischen Philosophie sind von dem Katholiken Descartes gezogen worden, die Neubildung der politischen und sozialen Wissenschaft knüpft an Machiavelli, Bodin und Hobbes an, alles lauter konfessionslose Geister.e Wenn der Protestantismus freilich auf seinen Gebieten und Schulen, vor allem in den (übrigens kon l fessionell gemischten) Niederlanden und in dem a A: gelebt, und b - b A: Seine Wissenschaft A: Mons c d-d A: hier nirgends vom gleichzeitigem e In A kein Absatz:

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von kirchlichen Kämpfen ermüdeten England, diese neue Wissenschaft langsam sich akklimatisierte und schließlich seit Locke und Leibniz seine in­ nerste Ideenwelt mit ihr verbinden und amalgamieren lernte, so ist das freilich ein Vorgang von höchster Bedeutung, der dauernd den protestantischen Völkern ein wissenschaftlichesa Ü bergewicht gewährte und auch von sich aus erst der kritischen Entwicklung des französischen Geistes die starken Impulse gab. Allein es ist auch ein nichts weniger als einfacher Vorgang, der unter heftigstenb Einspruche des eigentlichen alten Protestantismus erfolgte, und der nur durch das Hervortreten neuer reli l giöser Elemente im Protestantismus möglich war, soweit er nicht umgekehrtd auf dem Erlahmen des religiösen Geistes und dem Überdruß an dem konfessionellen Zeitalter beruhte. Von diesem verwickelten Vorgang, der heute die Verein er­ leiung wissenschaftlich-kritischen und protestantisch-religiösen Geistes wie selbstverständlich erscheinen läßt, der aber selbst eine entscheidende Neu­ bildung und Umformung des ganzen Begriffes vom Protestantismus ist, kann daher erst später die Rede sein, wo die religiöse Entwicklung im eigentlichen Sinne zu schildern ist. eDer protestantisch-religiöse Individualismus der persönlichen Überzeugung ist mit dem wissenschaftlichen Gewissen und der Freiheit des Gedankens zusammengeflossen. Aber das hat auch den Protestantismus selbst gegenüber seinen Anfangen gründlich verändert. Es lag dazu von Hause aus die Möglichkeit in ihm. Aber damit sie eintreten konnte, mußte die moderne autonome Wissenschaft erst selbst geboren sein. Sie ist aus dem Protestantismus nicht geboren, sondern nur mit ihm ver­ schmolzen und hat ihn vom ersten Augenblick dieser Verschmelzung ab in schwere Kämpfe hineingerissen, die bis heute nichts weniger als erledigt sind. So treten insbesondere in der aus dieser Mischung entsprungenen Philo­ sophie freilich heute vielfach protestantisch-religiöse Elemente mit zutage. Insbesondere iste I auch der Unterschied der Konfessionen in dem Unterschied der angelsächsischen und der deutschen wissenschaftlich-philo­ sophischen Entwicklung wohl zu empfindenf• Die Angelsachsen nämlich sind von Natur so wenig als andere Menschen reine Empiristen und haben in a

b c

d e-e

f

A: wissenschaftliche A, B: heftigstem A: Proteste A: geradezu A: Hier mag nur hinzugefügt werden, daß nach Vollzug dieses Vorganges natürlich die protestantisch-religiösen Elemente in dieser Mischung mannigfach durch­ leuchten und die neue Ideenwelt mitbestimmen, daß insbesondere In Afolgt: ist

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Die Bedeutung des Protestantismus

ihrer Renaissancepoesie und ihrem theologischen Platonismus das deutlich genug gezeigt. Sie sind dazu erst geworden durch Geschäft, Politik und Cal­ vinismus, die ja wiederum untereinander eng zusammenhängen. Der Calvi­ nismus mit seiner Aufhebung der absoluten Güte und Vernünftigkeit Got­ tes, mit seiner Zerlegung des göttlichen Tuns in lauter einzelne Willensakte, die keine innere Notwendigkeit und keine metaphysische Substanzeinheit verbindet, ist von Hause das Prinzip der Betonung des Einzelnen und Tat­ sächlichen, der Verzicht auf absolute Kausalitäts- und Einheitsbegriffe, der praktisch-freien und utilitarisch-spontanen Beurteilung aller Dinge. Die Ein­ wirkung dieses Geistes aber ist ganz unverkennbar die wichtigste Ursache der empiristischen und positivistischen Neigungen des angelsächsischen Geistes, die sich bei ihm mit starker Religiosität, ethischer Disziplinierung und scharfer Intellektualität heute noch so gut vertragen wie einst im Calvi­ nismus selbst. Anderseits ist in der Entwicklung der deutschen Metaphysik von Leibniz und Kant bis Fichte, Schelling, I Hegel und Fechner der luthe­ rische Untergrund erkennbar, der die Spekulation auf Einheit und Zusam­ menhang der Dinge, auf innere Rationalität und Geschlossenheit des Got­ tesbegriffes, auf allgemeine Prinzipien, auf ideelle Gesinnungsrichtungen und auf gefühlsmäßige Präsenz des Göttlichen im Gemüte hinlenkt. Ja bis in die den ganz unprotestantischen Neuhumanismus aufnehmende Gedanken­ welt Goethes und auch Schillers hinein wirkt deutlich erkennbar dieser Un­ tergrund, der hier dann freilich in ganz besonders widerspruchsvolle Verbin­ dungen eingegangen ist und in diesen Spannungen und Verschmelzungen noch der Gegenwart die schwersten Probleme des inneren Lebens I darbie­ tet. Schiller hat in seiner ästhetischen Ethik nicht mit Unrecht einen Kern­ gedanken der lutherischen Rechtfertigungslehre zu behaupten gemeint,86 und Goethe hat in der Religion seiner drei Ehrfurchten der Metaphysik des Leidens, des Sündengefühls, des Erlösungstrostes und der gotterfüllten Per­ sönlichkeit den Raum neben Naturpoesie und neben rationeller Humanitäts-

86 Dieser Gedanke wurde in der zeitgenössischen theologischen Diskussion oft geäu­

ßert. Vgl. etwa Horst Stephan: Luther in den Wandlungen seiner Kirche (1 907) , S. 84, der von dem "deutliche [n] innere [n] Zusammenhang, der zwischen den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und dem protestantischen Prinzip von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben" ausgeht. Kar! Sell: Die Religion unserer Klassiker (1 904) , S. 1 46, führt aus, daß in der "Art und Weise, wie man durch ästhe­ tische Teilnahme am Reich der Ideale gewissermaßen die künftige Vollendung vor­ weg nimmt", Schiller "an die evangelische Kirchenlehre von der Rechtfertigung durch den Glauben und der Vorwegnahme der Seligkeit in Hoffnung" erinnere. Vgl. aus der älteren Literatur auch Paul Kleinert: Schiller's religiöse Bedeutung (1 867) , etwa S . 26-37.

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ethik zu geben gesucht,87 ein Beweis, wie tief die deutsche Metaphysik im Luthertum wurzelt, aber auch wie schwer dieses Luthertum mit der moder­ nen Welt sich zusammenfügt22) . a 22) Vgl. die Charakteristik des angelsächsischen Praktizismus und Antirationalismus bei James, Varieties of religious experience; F. J. Schmidt. Kapitalismus und Protestantismus (preuß. Jahrb. 1 905)88 .

a

In A steht die Fußnoten:dffer hinter dem Satzzeichen.

87 Goethes Lehre von der "dreifache[n] Ehrfurcht" setzt sich zusammen aus der "Ehr­

furcht vor dem was über uns ist", der Ehrfurcht "vor dem [ . . . ] was uns gleich ist" und der "Ehrfurcht vor dem was unter uns ist". Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Mei­ sters Wanderjahre, hier zitiert nach der Ausgabe von 1 989, 2. Buch, 1 . Kapitel, S. 420 und S. 422. Dieser Drei-Gliederung der religiösen Erfahrung sind drei historische Er­ scheinungsformen der Religion zugeordnet. Der ersten entspricht die "ethnische", die "Religion der Völker", "alle sogenannten heidnischen Religionen sind von dieser Art" (S. 422) . Der Ehrfurcht, "die wir vor dem haben, was uns gleich ist", entspricht die "philosophische" Religion, "denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich herauf ziehen, und nur in diesem Mit­ telzustand verdient er den Namen der Weisen" (S. 422) . Die "dritte [ . . . ] Religion", "gegründet auf die Ehrfurcht vor dem was unter uns ist", stellt die "christliche" Religion dar, "weil sich in ihr eine solche Sinnenart am meisten offenbart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte" (S. 422). Die sich hier an­ schließende Passage zitiert Troeltsch in "Christentum und Religionsgeschichte" (1 897), S. 444 (GS H, S. 360) KGA 1 0: "Aber was gehörte dazu, die Erde nicht al­ lein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höhern Geburtsort zu berufen, son­ dern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Lei­ den und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen. Hievon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder ver­ schwinden kann, da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelös't werden man." (S. 422 f.) Aus den drei Ehrfurchten "zusammen" resultiere die "wahre Religion"; "aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehr­ furcht vor sich selbst" (S. 423) . 88 Ferdinand Jakob Schmidt: Kapitalismus und Protestantismus (1 905), S. 1 95, setzt gegen den reformierten Protestantismus die "tiefere und umfassendere Idee des ursprünglichen Protestantismus, wie sie nicht nur religiös in dem Geist Luthers, son­ dern auch künstlerisch in dem Geist Bachs, Schillers und Goethes und philosophisch �

A 53, B 82

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B 83

Die Bedeutung des Protestantismus

So ergibt sich aus der Frage nach der Wissenschaft des Protestantis­ mus nun auch die andere nach seiner Bedeutung für die Entstehung der modernen Kunst. Da scheint nun allerdings zunächst der Protestantismus lediglich im Gegensatze zu stehen. Romantiker und Klassiker haben glei­ cherweise den Bildersturm des Calvinismus verdammt und auch am Luther­ tum empfunden, daß es die Kunst nur zur Erholung, zur Unterhaltung, zur Belehrung, zur Repräsentation und zum Kultus braucht, aber kaum einen Wert der Kunst um ihrer selbst willen kennt. Und allerdings ist zweifellos der Katholizismus leichter für die Kunst veranlagt, da seine Askese dem I Sinnlichen neben dem Übersinnlichen Raum läßt und da sein Kultus we­ niger an den Gedanken als an das Gefühl und das Auge sich wendet, wäh­ rend die protestantische Askese das Sinnliche überall unmittelbar in den Dienst des ewigen Heils nimmt und der protestantische Kult ein Kult der Predigt und der Lehre ist. So hat sich auch der Katholizismus viel tiefer und energischera mit der Renais­ sancekunst verschmolzen als der Protestantismus. bDieser hat die Legende und das Wunder I außerhalb des Neuen Testaments getötet und einen Geist nüchterner Sachlichkeit gepflegt. Insbesondere gilt das vom b Calvinismus, a

A'

innerlicher b-b A: Allein trotzdem führen vom Protestantismus wichtige Fäden hinüber zur mo­ dernen Kunst. Freilich ist das am wenigsten der Fall bei dem

in dem Kants, Fichtes und Hegels ans Licht der Welt getreten ist. [ . . . ] Gerade das Er­ gebnis der Webersehen Untersuchung fordert dazu auf, die heilbringende Macht die­ ses spekulativen, antirationalistischen und antipositivistischen Protestantismus in der kernhaften Natur seines Geistes wieder sichtbar zu machen." Die "Idee des lutheri­ schen Protestantismus" versteht Schmidt als "Verwirklichung derjenigen Idee", "in der die Knechtung der Person durch die Sache oder das Werk schlechthin aufgehoben ist" (S. 208) . "Hatte es sich in der Entwicklung des Christentums bis zur Reformation im wesentlichen darum gehandelt, das Individuum als solches in eine harmonische, frommgläubige, demütige Uebereinstimmung mit der göttlichen Totalität zu bringen, so entstand nunmehr die gewaltigere Aufgabe, das Individuum selber zur Totalität aufzuheben." (S. 2 1 0) Der ,, 1jpus desprotestantischen Menschen" sei durch die lutherische Einsicht gekennzeichnet, daß "der Mensch als Individuum, selbst mit Hilfe der mön­ chischen Askese, überhaupt sein wahres Wesen nicht zu verwirklichen vermag. Nicht durch die Erhebung der sinnlichen Individualität zur religiiis-moralischen Individualität, son­ dern gerade durch ihre Aufhebung zur konkreten Totalität wird der Mensch erst wahrhaft frei. Das ist die Idee zur Entwicklung des protestantischen Menschheitstypus, die so im Geiste Luthers zuerst zum Bewußtsein kommt." (S. 2 1 1 f.) .

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auf dessen Rechnung weder die holländische, gänzlich unpuritanische Malerei, noch die poetischen Elemente in der Renaissancedichtung Miltons, noch insbesondere Rembrandt gesetzt werden darf, der vielmehr den mystisch­ spiritualistischen Kreisen näher stand. Auch Shakespeare darf trotz unzwei­ felhafter starker religiöser Akzente nicht für eine protestantische Kunst in Anspruch genommen werden. Aber adie Sache hat doch noch eine andere Seite; insbesondereQ die lutherischen und die mystisch-spiritualistischen Kreise haben auch in diesem Zusammenhang eine wesentliche Be­ deutung. bDer Protestantismus hatb durch den Bruch mit dem Gnadenbild und dem katholischen Kultus das Stoffgebiet der Kunst total verwandelt und ihr die Aufgabe gestellt, neue Gebiete zu erobern. CEr hate auch der Kunst einen neuen Geist eingeflößt, der sich schließlich gegen die große öffentliche pathetische Kunst der Renaissance wenden und das Traulich-Persönlich­ Individuelle oder das Charaktervoll-Großartige suchen mußte. dSO ist er an der großen Wandlung der nordischen Kunst zum realistischen Ausdruck des Lebens, zum Charakteristischen und zum Intimen mitbeteiligt. Und mehr als das. Aus seinem Mittelpunkte selbst, aus seiner kultischen Erbauung, ist vor allem im Luthertum ein großartiger künstlerischer Ausdruck persönlicher Ü berzeugungs- und Gesinnungsreligion hervorgegangen, wenn auch gerade in den unsinnlichen Künsten, in der religiösen Lyrik und der Musik.d Und höchst bedeutsame ist insbesondere bei Rembrandt der Gegensatz einer Kunst der Charakteristik und der reinen Lichtwirkung, aus der ein völlig neues inneres Leben spricht, gegen die reine und gegen die katholisierende Renaissance so daß K. Neumann es geradezu unternehmen konnte, in der Schilderung Rembrandts das Prinzip einer neuen I spezifisch modernen Kunst zu entwerfen.89 Ebenso pflegen die I Musiker in Bach einen Sammelund Ausgangspunkt moderner Kunst zu sehen, an dessen Bildung der Pro­ testantismus jedenfalls keinen geringen Anteil hat. a Nur Eines hat der Protestantismus nicht getan und nicht tun können, und dieses Eine ist für das ganze Verständnis seines Verhältnisses zur modernen Welt von höch­ ster Wichtigkeit: er hat das künstlerische Empfinden nicht zu einem Motiv der Weltanschauung, der Metaphysik und der Ethik erhoben. Er konnte das nicht, weil seine Askese und sein absoluter metaphysischer Dualismus das un­ möglich machten; er konnte die mit diesem Prinzip notwendig irgendwie ver­ bundene Erklärung der Kunst zu einem Selbstzweck, zu einem eigenen Weg der Gottes- und Welterkenntnis, und die nicht minder eng damit zusammen­ hängende Verklärung des Sinnlichen und die Empfindung der Welt als Har­ monie nicht ertragen. Daher istb auch überall die moderne Kunst das Ende der protestantischen Askese und damit ein seinem Wesen entgegengesetztes Prinzip. Ein Lessing, der für die künstlerische Weltanschauung und Lebensführung zum ersten Male einstand in Deutschland, hat den Befreiungskampf gegen die Theologie führen müs­ sen, und ein Albrecht vone Haller hat sein Leben zwischen beiden Motiven schmerzlich geteilt. Deshalb sind Klassizismus und Romantik dem Protestantismus im ganzen fremd und vermögen kein inneres Verhältnis zu ihm zu gewinnen; deshalb sind Shelleyd und Byron ausgestoßen aus dem englischen Leben und des­ halb bedeutet erst Ruskin und die Ä sthetisierung des modernen England das Ende des Puritanismus. Der Augustinismus des abendländischen Systems, zu dem der Protestantismus wesentlich gehört, weicht damit einer neuen Geistesmacht, die für immer die moderne Welt vom Altprotestantismus escheidet. I An diesem Punkt ist die Scheidung am deutlichsten. Ge­ wiß tauchen auch in der modernen Welt die Ideen des Erlösungsbedürfnisses, der Jenseitigkeit und des Übersinnlichen wieder auf, und wird weder Im­ manenz noch Optimismus ihre ewige Losung sein. Gewiß wird auch sie das künstlerische Element wieder anderen Deutungen unterziehen. Aber ein Rest der poetischen Weltverherrlichung wird ihr immer verbleiben und zu den protestantischen Dogmen wird sie sicherlich niemals zurückkehren.e a

b c

d e-e

In A kein Absatz. In A folgt: denn A: v. A: Schelling A: scheidet, und die auch die wieder auftauchenden Ideen des Erlösungsbedürf­ nisses, der Jenseitigkeit und des Ü bersinnlichen doch nicht mehr in dem besonde­ ren Geiste der altprotestantischen Askese gestalten kann.

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Hier liegen große, völlig neue Aufgaben der modernen Welt, die das künstlerische Motiv ver I arbeiten und ihm zugleich einen religiösen Geist von hinreichender Kraft und Ü berlegenheie muß einhauchen können, wenn sie wirklich ein eigenes und echtes Wesen überhaupt hat23).b

23) Jakob Burkhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen 1 905, S. 1 53 f. ;90 > Karl Neumann, Rembrandt, 1 905; Wolfrum, J. S. Bach (Musik, herausgeg. von R. Strauß, XIIl u.

a

b

A: Tiefe In A steht die Fußnoteniiffer hinter dem Satzzeichen.

90 Vgl. Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen (1 905) , S. 1 53 f. : "Ja, hier

wäre die Frage aufzuwerfen, ob nicht der wahre Lebensbeweis einer Religion doch darin liegt, daß sie sich auf eigene Gefahr j ederzeit kühn mit der Kultur verflechte. Das Christentum gab Beweis von seinem Wachstum, so lange es neue Dogmen, Kult­ formen und Kunstformen trieb, d. h. bis zur Reformation. [ . . ] Vom Christentum der Reformation wird das Heil auf einen innern Prozeß zurückgeführt, nämlich auf die Rechtfertigung und die Aneignung der Gnade durch den Glauben, woneben der Cal­ vinismus dann noch die Lehre von der Gnadenwahl aufstellt. Gerade aus dem Ge­ gensatz zum katholischen Werkdienst macht man das Hauptdogma der neuen Lehre. [ . . . ] Die Religion ist ,gereinigt', d. h. sie ist jetzt ohne jene Außenwerke und Verpflich­ tungen, in welche überall Werkdienst eingenistet schien; sie sollte auf einmal mit einem mächtigen Vermögen des Menschen, mit der Phantasie, als einer rein sünd­ lichen und weltlichen, irreführenden Potenz nichts mehr zu tun haben und sich dafür ,verinnerlichen'. - Dazu gehörte schon Muße und Bildung, d. h. Unpopularität, so­ weit man nicht das allgemeine Mitmachen durch Gewalt erzwang. Und dabei hatte man erst noch die größte Mühe, die unbeschäftigt gelassene Phantasie vom Neben­ hinausgehen abzuhalten. Dies war denn auch der Grund, weshalb die Gegenrefor­ mation wenigstens in der Kunst eine gewaltsame Herstellung des Verhältnisses zur volkstümlichen Phantasie durchsetzte und der Pomp der Charakter des Barocco wurde. [ . . ] Die Kultur, auf doppelte Weise (als Phantasie = Kunst und Lebensgestal­ tung und als Bildung) geknechtet und abgewiesen, legte sich dann auf heimliche Meu­ terei, bis in der Literatur des XVIII. Jahrhunderts die Abwendung der Geister offen hervorbricht, gegen die katholische Kirche als reine Negation, gegen die protestanti­ sche als Auflösung in allgemeine Vernunft, als Umschlag in Aufklärung und Huma­ nität, auch als individuelle Religiosität, je nach den Gemütern und Phantasien. Zuletzt kann auch der offizielle Protestantismus, als durch einen Prozeß der Geister entstan­ den, sich der Konzessionen nicht mehr erwehren." .

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Die Bedeurung des Protestantismus

XIV) ; Wittich, Deutsche und französische Kultur im Elsaß, Straßburg 1 900 (S. 76-81);9 1 J. Goldstein, Ä sthetische Weltanschauung (Deutsche Rundschau 1 906) 92 .

91 Vgl. Werner Wittich: Deutsche und französische Kultur im Elsass (1 900), S. 79: "Zu­

nächst ist die sinnliche Kultur Deutschlands, die gerade zu Beginn des 1 6. Jahrhun­ derts auf einem Höhepunkt stand, durch die KircheIl!eformation in ihrer Blüte ge­ knickt worden. Diese gewaltige Bewegung, die alle Geister dem Nachdenken über Gott und Ewigkeit wieder zuwandte, musste das Volk der irdischen Freuden entfrem­ den. Gerade das reichs städtische Bürgertum, der wichtigste Träger der Sinnen kultur im Volke, wurde von der Reformation am stärksten ergriffen. Während die geistige Kultur, das Unterrichtswesen und die Wissenschaft, durch die Reformation eine un­ berechenbare Förderung erfuhren, ist die sinnliche Kultur durch die Ablenkung der Geister auf das religiöse Gebiet schwer geschädigt worden." Hinzugekommen sei im 1 7. Jahrhundert eine "allgemeine Armut", so daß "in diesen trüben Zeiten des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts [ . . . ] der Masse des Volkes die schon durch die Reformation zurückgedrängte und schwer geschädigte nationale Sinnenkultur gänzlich verloren" gegangen sei (S. 79 f.) : "Aus diesen der sinnlichen Kultur seit Generationen entfrem­ deten, fast regelmässig protestantischen Familien der Bürger, Gelehrten, Pfarrer und Beamten giengen nun die Wiedererwecker des nationalen Geisteslebens im 1 8. Jahr­ hundert hervor. Sie haben die nationale Kultur des deutschen Volkes wesentlich als geistige Kultur wieder auferbaut, in der Wissenschaft und Dichtung die höchste Voll­ endung erreichten, die edelste Blüte der sinnlichen Kultur, die bildende Kunst, aber keine Stätte fand. Denn sie selbst waren der sinnlichen Kultur völlig fremd geworden, ihr ganzes Streben ging auf die geistige Kultur. Selbst diejenigen, die das lebhafteste Gefühl für diesen Mangel hatten, wie Lessing und Winckelmann, schlugen falsche Wege ein, indem sie die Kunst vermittelst der Gelehrsamkeit wieder zu erwecken strebten. Die unter der Herrschaft dieser einseitigen Geistesbildung aufwachsenden Geschlechter verloren alle sinnliche Empfänglichkeit, die Künstler selbst nahmen den grössten Schaden, und alle Versuche, die Kunst im Anschluss an die Antike oder das Mittelalter wieder zu beleben, schlugen fehl. So erreichte die sinnliche Kultur der Deutschen im 1 9 . Jahrhundert ihren Tiefstand, auch das Interesse für die bildende Kunst ging ausser an einigen Kunstmittelpunkten stark zurück, die ganze Pflege galt der Musik, soweit nicht Dichtung und Wissenschaft die Geister in Anspruch nah­ men." (S. 80) . 92 Goldstein sieht in der modernen "Bewegung, das äußere Leben ästhetisch neu zu ge­ stalten, die Reaktion gegen eine rein naturalistische Ausdeutung des Daseins. Und es sind jene der Sinnenwelt mehr zugeneigten Geister, bei denen diese Reaktion eine ästhetische Richtung nimmt. Was an religiöser Sehnsucht durch unsre Zeit geht, das erweckt bei ihnen keine verzehrenden Gluten, sondern nur den milden Wunsch, dem Leben einen fern verglänzenden Schönheitshorizont zu geben. [ . . . ] Dem ,neuen Glauben' im flachsten Sinne des alternden Strauß glaubt man sich als Resultat der Wissenschaft nicht entziehen zu können. Und wie Strauß sucht man einen Ersatz für die Religion in der Kunst. Sie soll dem Menschen das seelisch Wertvolle der Religion geben: den Frieden des Gemütes, die Weihe der Stimmung, den Aufschwung der Ge-

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v.

Familie und Recht, dann Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, schließlich Wissenschaft und Kunst waren die Gebiete, auf denen wir bisher die Wir­ kungen des Protestantismus verfolgt haben. Ü berall ergab sich unserer Untersuchung das Doppelergebnis, daß er die Entstehung der modernen Welt ofta großartig und entscheidend gefördert hat, bdaß er aber auf kei­ nem dieser Gebiete einfach ihr Schöpfer ist. Er hat ihr nur - auf den verschiedenen Gebieten übrigens in sehr verschiedener Weise, überdies je nach Konfession und Gruppe mit verschiedener Kraft und in verschiede­ ner Richtung - größere Freiheit der Entwicklung gewährt. Erb hat sie über­ all nur befördert, befestigt, gefärbt, im Laufe ihrer Richtung mitbedingt, sofern er nicht gegen sie die Motive des älteren mittelalterlichen Lebensstiles geltend gemacht und neu belebt hat. Der moderne Staat I und seine Freiheit und Verfassung, sein Beamtenwesen und sein Militärwesen, die moderne Wirtschaft und Ständeschichtung, die moderne Wissenschaft und Kunst sind überall in ihrem Laufe schon vor ihm und ohne ihn; sie wurzeln in der spätmittelalterlichen Entwicklung,C in den eigen­ tümlichen Neubildungen der Ideen und Kräfte dwährend derd fruchtbaren Jahrhundertee vom 1 5. bis zum c1 7. Dief eigentliche Kulturgroßmacht a A: teils b-b A: teils aber auch ein Hemmnis für sie gebildet hat und noch bildet. Er hat sie nirgends auf diesen Gebieten geradezu geschaffen, er A: Entwicklung und c d-d A: in den A: Jahrhunderten e f-j A: 1 7 .; die

fühle. Es hat sich so eine Art umgekehrter Orthodoxie gebildet. Die echte, alte suchte alles in den Dogmen, ihr galt die Stimmung nichts; die neue ästhetische Orthodoxie sucht alles in den Stimmungen, die Dogmen sind ihr gleichgültig, ja anstößig. Sie hält den Untergang des religiösen Glaubens für unvermeidlich. Nun sind bei Hunderttau­ senden viele ideale ethische Motive an diesen Glauben gelehnt, und man möchte ver­ hüten, daß diese Summe idealer Kräfte mit in den Untergang der Religion hineinbe­ zogen wird. Deshalb sucht man auch für diese idealen Motive eine neue Stütze, zum mindesten einen neuen Nährboden: die Kunst. Die Forderung des religionslosen Moralunterrichts nimmt eine ästhetisierende Wendung, sofern die Kunst jetzt als höchste, ethische erbauende Macht gepriesen wird." Julius Goldstein: Über ästheti­ sche Weltanschauung (1 906) , S. 257 f.

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Die Bedeutung des Protestantismus

des konfessionellen Zeitalters ist der zentralisierte französische Staat, in dem Renaissance, Katholizismus und moderne Politik sich vereinigen. Der Protestantismus hat im Grunde auf seinem Gebiete nur die Hemmungen beseitigt, die das katholische System trotz allen Glanzes doch wesens not­ wendig dem Werden der Neuen Welt entgegengesetzt hat, und hat der neuen freien weltlichen Ideenfülle vor allem den gesunden Boden I eines guten Gewissens und einer aufstrebenden Kraft gegeben. aAber aucha auf seinen Gebieten ist die Neue Welt nicht ohne vielfache bKämpfe und Wi­ derstände geworden. Die englische Revolution und die amerikanische Un­ abhängigkeit, auch die deutsche Aufklärung sind Revolutionen gewesen. Doch waren allerdings seine Revolutionenb überall anders geartete als die große französische; sie brauchten die Kontinuität nicht zu zerstö­ ren und die Religion nicht zu entthronen, weil die protestantische Kultur die prinzipielle Revolution schon mit der religiösen Umwälzung von innen heraus erledigt dhatte; das d ist die Hauptsache und das Wesentliche. Im üb­ rigen aber sind die grandiosen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen des Calvinismuse im Grunde doch nur Wirkungen wider Willen. Die reli­ giöse Toleranz und Gewissensfreiheit ist überwiegend ein Werk des fSpiri­ tualismus, das Vereinskirchentum und die Verselbständigung der religiösen Gemeinschaft neben dem Staat ein solches des Täufertums und des ihm sich nähernden Calvinismus. Dasf philologisch historische Verständnis des Christentums I und seiner Urkunden gaber dankt mang der humanistischen Theologie. Wo aber liegen nun hselbständige, zentrale, völlig eigeneh und unmit­ telbare Wirkungen des Protestantismus zur Hervorbringung des moder­ nen Geistes?i Hierauf kann nach der bisherigen Untersuchung mit Be­ stimmtheit eines geantwortet werden: wenn es solche gibt, so müssen sie auf dem eigentlichen Zentralgebiet des Protestantismus, auf dem des religiösen Denkens und Fühlens selber liegen, denn auf den mehr peripherischen Kultur-

a

b-b c

d-d e

f-f

g-g h-h

A: Auch A: Revolutionen geworden, aber seine Revolutionen sind A: gewesen A: hatte. Das In A folgt: , sofern aus ihnen die moderne Welt hervorging, A: Täufertums und das A: ist ein Werk A: direkte In A folgt: Gibt es solche überhaupt oder handelt es sich auch hier nur um Wirkun­ gen gegen sein eigenes Prinzip und wider Willen?

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gebieten liegen sie sicherlich nicht. Und alles erwogen, ist es doch bloßa na­ türlich und wahrscheinlich, daß sie nur hier in Wirklichkeit liegen. Der Pro­ testantismus ist doch in erster Linie eine religiöse Potenz und erst in zweiter und dritter eine Kulturpotenz im engeren Sinne des Wortes. So kann es gar nicht verwundern, wenn seine eigentlich umwälzenden Wirkungen auch we­ sentlich auf dem religiösen Gebiete liegen sollten. Es gilt nur die Binsen­ wahrheit zu begreifen, daß religiöse Kräfte nur aus religiösen Motiven wirk­ lich hervorgehen, und daß alle eigentlichen und unmittelbaren Wirkungen religiöser Neubildungenb auch auf religiösem Gebiete liegen. Das I kann nur eine Apologetik vergessen, die sich keinen rechten Mut zum religiösen Gedanken selbst fassen kann und daher erst um seiner kulturlichen Wirkungen willen ihn recht zu feiern wagt, oder eine religionslose Ge­ schichtsphilosophie, die nun einmal an Spontaneität und Originalität solcherc Ideen nicht glauben will und sie erst dann verstanden zu haben meint, wenn sie die hinter ihrer Maske eigentlich agierenden profanen Kräfte, am liebsten politische und wirtschaftliche, aus der Verkleidung hervorgezogen hat. Aber für jede unbefangene Betrachtung liegen die Dinge wirklich so, wie sie immer selbst es von sich aussagen: die Religion kommt wirklich von Religion und ihre Wirkungen sind wirklich in erster Linie religiöse. dDie Religion wird zu einer Lebensmacht nur, wenn sie das Kulturleben in sich hin­ einzieht und eigentüm l lich bestimmt. Aber sie bleibt von diesem selbst doch immer unterschieden. Sie ist immer mehr gestaltende als erzeugende Kraft. Ihre Kulturleistungen können unlogisch, zersplittert, vermittelnd sein. Sie selbst aber ist bei sich selber einheitlich und bestimmt und hat gerade dadurch die Fähigkeit jene zu gestalten, ohne mit ihnen identisch zu werden, ihrem Wandel sich anzupassen, ohne sich selbst zu verlieren. Das

a

A: nur In A folgt: eben c A: religiöser d-d A: Das gilt auch vom Protestantismus. [Absatv Aber wenn das schon gilt, so ist doch die Frage, ob nun auch zwischen der Religiosität des Protestantismus und der der modernen Welt ein innerer und wesentlicher Zusammenhang besteht, insbe­ sondere, ob wir hier die entscheidende und durchschlagende Zentralwirkung er­ blicken können, die wir auf den anderen Gebieten trotz bedeutsamster Einflüsse nicht finden konnten. Es ist die Frage, ob wir überhaupt von einer spezifischen modernen Religiosität reden können, und ob dieses Spezifische, wenn es vorhan­ den ist, mit der protestantischen Idee in einem wesentlichen Zusammenhange steht. Ich glaube, daß man trotz aller Schwierigkeiten eine einfache und durchsich­ tige Antwort geben kann, daß es in der Tat eine spezifisch moderne Religiosität gibt, und daß deren Wurzeln im Protestantismus liegen.

b

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Die Bedeutung des Protestantismus

Verhältnis eines religiösen Systems zu der Kultur ist immer ein sehr verwik­ keltes. Auch die mittelalterliche Kultur war doch in ihrer Eigentümlichkeit sehr stark durch die profanen Verhältnisse bestimmt, und, wenn sie durch den geistigen Einfluß der Kirche zu einer spezifisch kirchlichen geworden ist, so lag das eben an der einzigartig geschlossenen Ausbildung absoluter er­ lösender Wahrheiten zu einer allumfassenden hierarchischen Macht. Indem der Protestantismus auf das letztere verzichtet hat, mußte sein Verhältnis zur Kultur ein sehr viel loseres werden und mußte sein Schwerpunkt in einer Re­ ligiosität liegen, die weder organisatorisch noch gedanklich ein unmittelbares Verhältnis zur Kultur hatte. Die eigentliche und letzte Frage, wenn es sich um die Bedeutung des Pro­ testantismus für die moderne Welt handelt, ist daher die, in welcher Bezie­ hung gerade seine religiöse Kraft und Grundidee zu dem religiösen Wesen des modernen Geistes steht, ob dieses, wie es auch in der Gegenwart seine relative Unabhängigkeit von den einzelnen Kulturgestaltungen besitzt, in ihm wesentlich wurzelt und von ihm bestimmt ist. Die Frage nach seiner Be­ deutung für die Entstehung der modernen Welt fällt nicht zusammen mit der nach seiner Bedeutung für die der modernen Kultur. Denn diese ist nicht identisch mit dem in ihr sich aufringenden religiösen Leben. Es bleibt die letzte Frage die nach dem Verhältnis der protestantischen Religiosität zur modernen Religion, zu der mit der modernen Kulturwelt zusammenhängen­ den, aber in ihr nicht erschöpften Religion. I Da es sich um die Gegenwart, also um einen in seinen Ergebnissen und seinem Gesamtverlauf unbekannten Zusammenhang handelt, hat die Frage einen doppelten Sinn. Sie kann den Sinn einer reinen Tatsachenfrage haben, ob das im Zusammenhang der heutigen Welt lebendige und mit ihm inner­ lich verbundene religiöse Leben tatsächlich seine Züge trägt. Sie kann aber auch den Sinn der Geltungsfrage haben, ob im Gegensatz zu allen Verwor­ renheiten und Verkehrtheiten der tatsächlichen Lage nicht eine Sammlung der Gegenwart um eine wesentlich protestantische Christlichkeit das inner­ lich Geforderte, Mögliche und Nötige wäre, wenn die Gegenwart überhaupt eine religiöse Sammlung und Festigung sucht. Nur im ersten Sinne gehört die Frage rein geschichtlichem Denken an. Im zweiten entspringt sie aus ihm, aber geht sie über es hinaus und mündet sie ein in das ethisch-religions­ philosophische Problem der Gegenwart. Hier kann es sich nur um den Versuch handeln, die Frage in dem ersten Sinne zu beantworten. Aber gerade in diesem ersten Sinne ist die Frage au­ ßerordentlich schwer zu fassen. Hier hört die Möglichkeit der genauen For­ schung auf und tritt an ihre Stelle der auf tausend Wahrnehmungen begrün­ dete Eindruck, der richtig sein, aber nie eigentlich bewiesen werden kann. Vor allem setzt die Beantwortung voraus, daß es einen der modernen Welt

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eigentümlichen religiösen Geist überhaupt gebe, nach dessen Verhältnis zum Protestantismus gefragt werden könne. Und eben das wird der erste und all­ gemeinste Eindruck zu verneinen bereit sein. Welches ist das Bild, das sich uns hier bietet? Soweit die moderne Welt lediglich in ihren politischen, sozialen, wirt­ schaftlichen und technischen Eigentümlichkeiten erfaßt wird, verträgt sie sich vor allem bei den angelsächsischen, calvinistischen und calvinisierenden Völkern ohne viel Mühe mit einer etwas erweichten protestantischen Orthodoxie, während die katholische Orthodoxie ihr immer I wieder von neuem einen Syllabus93 entgegensetzt und die vollzogenen Anpassungen immer von neuem rückgängig macht und auch das gläubige Luthertum zur Reaktion neigt. Ja, jenes calvinistische, auf das Gottvertrauen begründete und von ihm gestärkte Berufs-, Fach- und Geschäftsmenschentum, das sich für das Pri­ vatleben zugleich eine zarte Innerlichkeit und freigebige Nächstenliebe vor­ behält, ist vielleicht - rein zahlenmäßig angesehen - sowohl die Hauptmasse des heutigen Protestantismus wie der Hauptträger der mehr äußerlich tech­ nisch-sozialen und politischen Mächte der modernen Kultur. Auf der anderen Seite ist freilich eben dieses selbe moderne Wesen auch wirksam ohne

93 Als Syllabus (griechisch-lateinisch "Verzeichnis") wird eine Sammlung von 80 Sätzen

bezeichnet, die zusammen mit der Enzyklika "Quanta cura" am 8. Dezember 1 864 veröffentlicht wurde. In diesem Verzeichnis werden von Pius IX. "Zeitirrtümer" verurteilt, die in zehn Paragraphen unterteilt sind: 1 . Pantheismus, Naturalismus, unbedingter Rationalismus, 2. Gemäßigter Rationalismus, 3. Indifferentismus, Latitu­ dinarismus, 4. Sozialismus, Kommunismus, geheime biblische und klerikal-liberale Gesellschaften, 5. Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte, 6. Irrtümer über die bür­ gerliche Gesellschaft, sowohl in sich als auch in ihren Beziehungen zur Kirche be­ trachtet, 7. Irrtrümer über die natürliche und christliche Moral, 8. Irrtümer über die christliche Ehe, 9. Irrtümer über die weltliche Obergewalt des Römischen Bischofs, 10. Irrtümer, die sich auf den heutigen Liberalismus beziehen. Die Enzyklika und der Syllabus sind abgedruckt in: Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbe­ kenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (1 99 1), S. 795-797, bzw. S. 798-809. Das am 3. Juli 1 907 vom Hl. Offizium veröffentlichte Dekret "Lamentabili" (ebd., S. 932 f.) , das in 65 Sätzen "Irrtümer der Modernisten" verurteilt, sowie die Enzyklika "Pascendi dominici gregis" Papst Pius' X. vom 8. September 1 907 stehen in dieser Entwicklung und wurden in der zeitgenössischen Diskussion oft als "neuer Syllabus" bezeichnet. Vgl. Franz Heiner: Der neue Syllabus Pius X. oder Dekret des Hl. O ffi­ ziums "Lamentabili" vom 3. Juli 1 907 (1 907) , Anton Michelitsch: Der biblisch-dog­ matische "Syllabus" Pius' X. samt der Enzyklika gegen den Modernismus und dem Motu proprio vom 1 8. November 1 907 (1 908) und Vigilius: Syllabus und Moderni­ sten-Enzyklika Pius' X. (1 908) .

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jede religiöse Unterlage und statt dessen unterbaut mit einer utilitaristisch­ individualistischen Weltansicht, die nur mit dem Glauben an die Harmonie der Interessen noch an die religiöse Gläubigkeit erinnert, aber auch diesen Glauben lieber einem allgemeinen Naturgesetz als der religiösen Ü berzeu­ gung anvertraut. Wo dann weiterhin das Naturgesetz der Interessenhar­ monie durch das des Kampfes ums Dasein ersetzt ist, werden die gleichen Anschauungen auf die Grundlage der Ideen von Auslese und Anpassung ge­ setzt, in denen gleichfalls bloß der Optimismus des Entwicklungsgedankens ein letzter schwacher Rest des religiösen Glaubens an den Sinn der Welt ist. Im übrigen herrscht oft genug die moderne Lebensverfassung lediglich als ein dumpfes, alle Arbeitskraft verzehrendes und keine Zeit zur Besinnung übrig lassendes Schicksal, das man ohne jedes Denken über seine Gründe und Ziele als selbstverständlich hinnimmt und von dem man sich mit allem erholt, was irgendeiner Erholung dienen kann. Wo dagegen die geistigen Elemente der modernen Welt, das in ihrer ganzen Naturwissenschaft und Technik, ihrer Staats- und Gesellschaftsgestaltung enthaltene gedankliche Prinzip tiefer in sein Wesen verfolgt wird, da treten natürlich starke Abwand­ lungen der alten Gläubigkeit oder völlig neue ethisch-religiöse Gedan­ ken auf. Die Abwandlungen kommen vor allem in der idealistischen Philosophie I und Literatur zutage und haben ihren stärksten Ausdruck gefunden in demjenigen, was man als deutschen Idealismus zu bezeichnen pflegt, was aber weder im Ursprung noch in der Wirkung auf Deutschland beschränkt ist. In ihnen künden sich tiefe innere Wandlungen der religiösen Empfin­ dung an, die in der Literatur nur ihre sichtbare Spitzen und Selbstverständi­ gungen haben, die aber in Wahrheit in der dunklen und unerforschlichen Breite der Völkerseelen sich vollziehen. Was damit gemeint ist, ist am deut­ lichsten durch die Namen Kant, Fichte, Carlyle, Emerson bezeichnet, zu denen man Goethes reife Weisheit gesellen kann, die gerne als der Ausdruck modernen Menschentums überhaupt bezeichnet wird. Hier ist nun aber der wesentlich protestantische Untergrund dieser Bewegung offenkundig, die Umformung der Freiheits- und Gnadenidee zu den Ideen der autonomen Persönlichkeit und der in der Geschichte wurzelnden Geistesgemeinschaft, alles auf dem Hintergrund eines die Immanenz in sich aufnehmenden Theis­ mus. Auch ist diese religiöse Empfindungsweise in tausend verschiedenen Mischungen derartig auf große Bestandteile des heutigen Protestantismus übergegangen, daß dieser von jener oft kaum mehr zu scheiden ist. Aber ebenso unverkennbar ist freilich, daß das moderne religiöse Gefühl bei an­ deren wiederum unbefriedigt ist von diesem doch letztlich personalistischen Gedanken und unter dem Eindruck der allgesetzlichen Natureinheit, der alles Menschentum verschlingenden Weltgröße, oder auch ästhetischer Welt­ verherrlichung und Lebensdifferenzierung zu radikal pantheistischen, pessi-

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mistischen oder überhaupt revolutionären, schlechthin Neues erstrebenden Gedanken und Gefühlen neigt; dabei werden dann die Beziehungen auf die andere, die praktisch-politisch-wirtschaftlich-technische Seite unserer Kultur oft ganz vergessen. Zu alledem kommen schließlich die unzähligen eklek­ tischen Mischungen, der in solcher Lage sich erzeugende Zug zur Skepsis und zur Müdigkeit, das ganze unklare Suchen und Drängen, das von dem re­ ligiösen Lebensgehalt I der Zeit unbefriedigt einen neuen wünscht, ohne ihn ernstlich zu suchen und zu erarbeiten. Das ist nun freilich ein Bild sehr verworrener Zustände. Die Antwort auf unsere Frage in einem reinen Tatsachensinne scheint unmöglich. Trotzdem aber glaube ich, daß eine solche gewagt werden kann, wenn man nur über­ haupt es für einen geschichtlichen Erfahrungssatz hält, daß ohne religiöse Grundlage, ohne Metaphysik und Ethik, ein einheitlicher und starker Kul­ turgeist unmöglich ist. Hält man sich an das religiöse Leben der modernen Welt und nicht an ihre religiös abgestorbenen Teile, so ist doch unverkenn­ bar, daß auch rein tatsächlich einerseits ein wesentlich praktischer, dogma­ tisch konservativer aber nicht stark interessierter Protestantismus das Rück­ grat des großen angelsächsischen Teiles unserer modernen Lebenswelt ist, daß anderseits neben ihm die mit dem Protestantismus eng zusammenhän­ genden Kräfte des deutschen Idealismus die führenden Mächte sind. Alles übrige religiöse Suchen und Phantasieren ist mehr eine Flucht aus der mo­ dernen Welt als eine innerlich religiöse Bewältigung, es ist die Flucht aus dem Praktischen und Wirklichen überhaupt. So wird man auch rein tatsächlich sagen dürfen, daß die Religion der mo­ dernen Welt wesentlich vom Protestantismus bestimmt ist und daß hierin seine stärkste historische Bedeutung liegt. Freilich ist es kein einheitlicher Protestantismus. Es ist ein tief und innerlich gewandelter, zugleich ein in die verschiedensten Formen auseinandergehender. Es ist auf der einen Seite der mit Demokratie und Kapitalismus ausgesöhnte und verständigte Calvinis­ mus, es ist auf der anderen Seite das von der modernen Spekulation ergrif­ fene und gewandelte Luthertum, und zwischen beiden zahllose Vermittlun­ gen und Ausgleichungen. Aber an eine Einheitlichkeit der Religion in der modernen Welt ist überhaupt nicht zu denken, und gerade eine solche Fülle von Sonderbildungen verträgt der Protestantismus. Ebenso ist unverkennbar, daß dieses religiöse Leben die I der modernen Welt entsprechenden Gemeinschaftsorganisationen noch nicht gefunden hat. Aber die Ansätze zu einer völlig neuen, den Altprotestantismus ganz hinter sich lassenden Orga­ nisation sind vorhanden. Sie sind auf dem Boden der angelsächsischen Welt bereits geschaffen, und, wenn sie auch nicht einfach von dort her übertragen werden können, der Anstoß zu einer Umbildung und Neubildung des Ge­ meinschaftswesens - sowohl im Verhältnis zum Staat als nach innen - ist von

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dort aus unaufhaltsam gegeben und wird durch unsere kontinentale Ent­ wicklung fortwährend verstärkt. Die Aufhellung dieser Entwicklung des Protestantismus und die Heraus­ hebung der aus ihr sich ergebenden Probleme ist die Aufgabe der Kirchen­ und Dogmengeschichte, die die eigentliche innere, religiöse und organisato­ rische Entwicklung des Protestantismus darzustellen haben. Freilich muß sie dabei immer mit der der Literatur, der Philosophie und der Gesellschaft ver­ bunden oder doch wenigstens in Fühlung gehalten werden, wie umgekehrt auch diese ihrerseits der religiösen Kräfte in der modernen Entwicklung zu gedenken haben. Leider ist nun aber die Kirchen- und Dogmengeschichte des neueren Protestantismus bis jetzt noch in einer ziemlich dürftigen Ver­ fassung, ohne klare Herausstellung fester Forschungsziele, ohne deutliche Sonderung der in ihr sich verflechtenden Linien, ohne Gefühl für das Neue, das sich hier bilden will, ohne Anschauung von dem Bruch, der sich in der Entwicklung des Protestantismus vollzogen hat. Meist werden nur die aus dem Altprotestantismus stammenden Richtlinien fortgeführt und in einem bunten Allerlei kulturgeschichtlicher Notizen verwischt. So ist dieses For­ schungsgebiet in Wahrheit auch wenig gepflegt. Erst in neuester Zeit emp­ findet man das Bedürfnis, nicht bloß die alte Kirche und das Reformations­ zeitalter, sondern auch die Gegenwart zu begreifen24). I Trotzdem heben sich doch gewisse Grundzüge bereits deutlich heraus. Seit Hundeshagen kennt man die Sonderzüge der calvinistisch-angelsächsi­ schen Entwicklung, die hier vollzogene Ausgleichung des Protestantismus mit den politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des modernen Lebens. Die zunehmende praktische Anschauung von amerikanischen und eng­ lischen Verhältnissen, die Ausweitung unseres Blickes über das deutsche Luthertum hinaus wird diese Tatsache und ihre Bedeutung immer klarer machen. Auch fühlt man die Rückwirkungen jenes Lebensstils auf unsere Verhältnisse und begegnet ihnen vielfach mit ähnlichen sozialethischen Theorien und Organisationen, wie sie dort ausgebildet worden sind. Es ist das eine der wichtigsten Tatsachen der modernen Religions- und Sittenge

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schichte überhaupt. Wie es zu ihr hat kommen können, das ist oben in den Grundzügen dargestellt worden. Welche praktische Wirkung der so gewan­ delte und dem modernen Leben angepaßte Calvinismus, Baptismus, Metho­ dismus u. a. tatsächlich ausüben, das bedarf freilich eingehender genauer Untersuchungen, die noch ausstehen25). Die hiermit vollzogene Ausgleichung ist nun freilich eine einigerma­ ßen äußerliche. Die in den technischen und politischen Lebensgrundlagen schlummernden Ideen sind hier nicht innerlich aufgenommen und über­ wunden. Erst an einzelnen Punkten tut sich der eigentlich innerliche Gegensatz auf. Um l gekehrt wird gerade dieser innere Gegensatz in der anderen Hauptentwicklung, dem unter dem Einfluß des deutschen Idealismus ste­ henden Protestantismus, deutlich gefühlt und zu innerer Auseinanderset

94 Vgl. Carl Bernhard Hundeshagen: Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und

Kirchenpolitik insbesondere des Protestantismus, 1 . Band (1 864), S. 294 f.: "Nicht bloß in Genf, nein! auf allen Gebieten, nach welchen er vordringt, sind es große so­ ziale Krisen, welche der Calvinismus vorfindet und in welche er als erregendes, aber zugleich als reinigendes und ordnungsstiftendes Ferment eingreift. Das Kampfgebiet ist für ihn nirgends ein bloss religiöses oder ein kirchliches im rein religiösen Sinn; nirgends tritt ihm der römisch-katholische Glaube lediglich als ein solcher entgegen, sondern überall in einer bestimmten Solidarität mit dynastischen Interessen und Re­ gierungsprincipien. So liegt es in der Natur der Umstände, dass Calvin und seine Mit­ arbeiter, wie Zwingli, nicht bloss Individuen, sondern kleinere und größere Nationa­ litäten in's Auge zu fassen haben. So ist auch für Calvin das Evangelium nicht bloß eine Kraft, selig zu machen alle Einzelnen, welche daran glauben, nicht bloss ein Trost für bekümmerte Einzelgewissen, nicht bloss die Ueberwindung seelengefähr­ licher Irrthümer, sondern zugleich das Heilmittel für öffentliche und allgemeine Schäden, das Element der Reinigung und Erneuerung für grössere gesellschaftliche Verbände und der Grundstein, solche auf demselben aufzurichten." In den "Sozial­ lehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1 9 1 2) , S. 606 ..... KGA 9, zitiert Troeltsch diese Stelle und verweist darauf, daß Hundeshagen mit seinen Arbeiten den Untersuchungen Webers und auch den eigenen "vorausgegangen" sei. Troeltsch führt hier noch die 1 842 gedruckte Rede Hundeshagens "Ueber den Einfluss des Cal­ vinismus auf die Ideen vom Staat und staatsbürgerlicher Freiheit" an. 95 Vgl. Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Britischer Imperialismus und englischer Frei­ handel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (1 906) , v. a. S. 42-52. 96 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2), zum Methodismus s. S. 836-840 und S. 91 7-921 ..... KGA 9.

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zung genötigt. Hierin hat sich das gebildet, was man den Hauptstock der eigentümlich modernen Religiosität nennen kann. Auch diese Entwicklung wird von der Kirchengeschichte nicht gerne in ihrem vollen Ernst ins Auge gefaßt. Es ist dem Philosophen Dilthey vorbehalten geblieben, hier die lei­ tenden Grundgedanken der Forschung zu entwickeln. Es ist zugleich der Punkt, der noch auseinandergesetzt werden muß.26)d Um das zu verdeutlichen, knüpfe ich an die im Anfang gegebene Cha­ rakteristik ader religiösen Idee Luthersa wieder an. Dasjenige, worauf es für ihn wesentlich ankam, war die Sicherung des alten stets erstrebten Zieles, die Heilsgewißheit, die völlige Gewißheit über die Rettung aus der Verdam­ mung der Erbsünde durch die in Christus offenbare und von Christus be­ wirkte Gnade. Das war sein Hauptinteresse, aber dieses Hauptinteresse war kein neues, sondern nur die kräftig vereinfachende und leidenschaftlich plastische Herausarbeitung des alten. Was er neu I brachte, war ein neues Mittel zur Erreichung dieses Zieles, ein Mittel, das von den Unsicherheiten menschlicher mitwirkender Verdienste, fremder unverstandener Autoritäten und bloß dinglicher, sakramentaler Einflößungen frei war, das den ganzen inneren Menschen absolut sicher und fest bis ins Zentrum hinein ergriff und ihn in innerlichste Berührung mit dem göttlich-geistigen Wirken selber brin­ gen sollte. Wenn dem Katholiken gerade die äußere Autorität und die Ding­ lichkeit der Gnade das Heil zu verbürgen schien, so war für Luthers Gefühl jene Autorität unsicher und fremd, und diese Dinglichkeit unverständlich und unergreifbar. I Er brauchte für das persönliche Leben etwas rein Per­ sönliches. Das Mittel war daher der Glaube, die sofa fides, die Bejahung eines Gedankens durch völlige Hingabe der Seele an diesen uns ver­ ständlich und klar kundgemachten Gedanken Gottes. Die Heilsgewißheit mußte auf einem Wunder beruhen, um sicher zu sein; aber dieses Wunder mußte ein im innersten Zentrum der Person sich ereignendes und in seiner

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A: seiner religiösen Idee

97 Zur Behandlung der modernen Religiosität bei Troeltsch vgl. etwa seine Abhand­

lungen "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 906) , hier v. a. Kap. D. VII: Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreli­ gion, S. 423-432 (2. Auflage 1 909, S. 687-706) KGA 7, und "Das Wesen des mo­ dernen Geistes" (1 907) KGA 6. .....

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Fünftes Kapitel

gedanklichen Bedeutung durchsichtiges sein, wenn es ein völlige Sicherheit gewährendes Wunder sein sollte. Die ganze Religion ist aus der Sphäre der dinglichen sakramentalen Gnadeneinflößung und der priesterlich-kirch­ lichen Autorität in die psychologisch durchsichtige Sphäre der Bejahung eines Gedankens von Gott und Gottes Gnade gezogen, und alle ethisch-religiösen Wirkungen ergeben sich psychologisch klar und durchsichtig aus diesem be­ jahten Zentralgedanken. a Das sinnlich-sakramentale Wunder ist beseitigt, und an seine Stelle tritt das Wunder des Gedankens, daß der Mensch in sei­ ner Sünde und Schwachheit einen solchen Gedanken fassen und vertrauensvoll bejahen könne. Damit fällt das Priester l tum und die Hierarchie, das Sakrament der Einflößung religiös-ethischer Kräfte wie einer sinnlichen Substanz, die außerweltliche Askese mit ihren besonderen Verdiensten. a

In A folgt: Melanchthon rühmt sich daher in seiner Apologie gegen die Pontificii, daß die Protestanten psychologisch durchsichtig zeigen könnten, wie gute Werke entstehen aus der Heilsgewißheit: das mit Gott durch die Glaubenserkenntnis ver­ söhnte Gemüt bringt die Liebe zu Gott und mit dieser Liebe die gute Gesinnung als die Wurzel und den Geist der guten Werke oder der gotterfüllten Gesamtper­ sönlichkeit hervor. 9 8

98 Vgl. [philipp Melanchthon] : Apologia Confessionis Augustanae. Apologia der Con­

fession, hier zitiert nach den "Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kir­ che" (1 992) , Artikel 4: Wie man vor Gott fromm und gerecht wird, S. 1 58-233. Das Evangelium verkünde den Menschen "Vergebung der Sunde und Gerechtigkeit durch Christum" (S. 1 72) : "Und dieselbe Vergebung, Versöhnung und Gerechtigkeit wird durch den Glauben empfangen." (S. 1 72) Nur dieser "Glaube, und sonst nichts," mache "uns für Gott gerecht" (S. 1 73) . Ein solcher Glaube, der "Herz, Sinn und Mut verneuert, ein andern Menschen und neu Kreatur aus uns macht, nämlich ein neu Licht und Werk des heiligen Geistes" (S. 1 73), "gebiert [ . . ] gute Frucht" (S. 1 73) . Ohne "den Glauben, ohn Christum, ohn den heiligen Geist" könne man "Gottes Ge­ setz" nicht halten (S. 1 87) : "Und wenn wir vom Gesetzhalten reden oder von guten Werken, begreifen wir beides, das gut Herz inwendig und die Werke auswendig." (S. 1 87) "Darum wenn man will von guten Werken lehren oder predigen, soll man all­ zeit dazu setzen, daß zuvoderst Glaube da sein müsse, und daß sie allein um des Glau­ bens willen an Christum Gott angenehm sein, und daß sie Früchte und Zeugnis des Glaubens sind." (S. 1 9 6 f.) "Darum lehren wir die Herzen und Gewissen, daß sie sich trösten durch dieselbige Verheißung Gottes, welche fest stehet und beutet Gnade an und Vergebung der Sunde um Christus willen, nicht um unser Werk willen. Darnach lehren wir auch von guten Werken und von dem Gesetz, nicht daß wir durch das Ge­ setz verdienen Vergebung der Sunde, oder daß wir um des Gesetzes willen Gott an­ genehm sein, sondern daß Gott gute Werk haben will." (S. 1 97) Vgl. auch Artikel 20: Von guten Werken, S. 3 1 3-3 1 6. .

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Alles das hat Luther nur getan, um der Gnade völlig sicher zu werden, die ihm auf dem Wege der Verdienste und des Mönchtums, der Sakramente und der Priesterautorität immer fremder und äußerlicher, immer menschlicher und bedingter und damit immer unsicherer zu werden drohte. Das Ziel war das alte, aber der Weg war ein radikal neuer. Mit diesem Gedankengefüge ist es nun aber gegangen, wie es oft zu gehen pflegt: der neue Weg zum alten Ziel wird wichtiger als dieses Ziel selbst; aus dem, was ein neues Mittel war, entwickelt sich selbst ein neues Ziel und ein neuer Gehalt. In dem Maße, als der konfessionelle Hader den Druck des Dogmatismus unerträglich und damit das Dogma überhaupt verdächtig machte, rückte der Schwer l punkt von dem mit allen trinitarisch-christologischen Hauptdogmen eng verbundenena Heils- und Rechtfertigungsdogma auf die persönliche subjektive Über­ zeugung, auf das stimmungs- und gefühlsmäßige Erleben von Sündenangst und bSeelenfrieden. Damit aber wurdeb der Blick frei für die rein subjektiv innerliche Begründung der Glaubensgedanken und damit weiter für ihre in­ dividuell verschiedene, an kein offizielles Dogma gebundene Gestaltungs­ möglichkeit. Die Bibel wurde aus dem infallibeln Glaubensgesetz zu einer flüssig-geistigen Substanz und Kraft, zu einem Zeugnis von geschichtlichen Tatsachen, von denen psychologisch vermittelt die religiösen Kräfte aus­ strömten;C man berief sich auf die lebendige Bibelauffassung, die Luthers religiöser Instinkt neben der gesetzlichen immer geltend gemacht hatte. Man näherte sich wieder vom Staat unabhängiger Kirchenbildung und mit einer von allen rationellen Beweisen unabhängigen inneren Gefühlsgewißheit erscheinen läßt. Wenn Lessing Luther, "den großen verkannten Mann", zum Schutz dieses echten Protestantismus aufruft,99 so hat er damit in einer für zahllose Nachfolger typischen Weise den Protestantismus mit der alten Sektenlehre vom inneren Licht verschmolzen, wie Dilthey mit Recht sagt,t OO und hat er doch zugleich einen wesentlich protestantischen Gedanken behauptet, wie er selber über­ zeugt war. Er hat nur den Weg Luthers für wichtiger gehalten als das Ziel. I Ja die Konsequenz der Entwicklung geht noch weiter. Für Luther war das Dasein Gottes, der Sündenfluch und die Hölle selbstverständlich. Was ihm fraglich war, das war nur die Anwendung der Gnade und Rettung auf die eigene Person, die fiducia specialis.tOt Für die moderne Welt wurde angesichts 99 Siehe Gotthold Ephraim Lessing: Eine Parabel, hier zitiert nach der Ausgabe von

1 897, S. 1 02: ,,0 daß Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! - Luther, du! - Grosser verkannter Mann! Und von niemanden mehr ver­ kannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreyend aber gleichgültig daher schlendern! - Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichem Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christenthum, wie du es itzt lehren wür­ dest; wie es Christus selbst lehren würde!" Die Stelle bei Dilthey lautet: "Es ist durch­ aus keine rhetorische Wendung, wenn Lessing mehrmals, mit Leidenschaft, den Ge­ nius Luthers für sich aufruft gegen die historische Gestalt des Lutherthums. In der wahren Tiefe des protestantischen Geistes sucht er ein neues Fundament des Prote­ stantismus, so scharf, so offen und gerade, daß die Aufklärungstheologie seiner Zeit davor erschrak." Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung (1 906), S. 80. 100 Vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung (1 906), S. 1 1 4: "Das Blei­ bende der Reformation ist die Befreiung von der Knechtschaft der Hierarchie und die Begründung der religiösen Ü berzeugung aus der inneren Erfahrung. Vergänglich aber ist die neue Knechtschaft unter dem Buchstaben. Ihr gegenüber ist die alte Sek­ tenlehre vom inneren Licht durch Lessing und sein Zeitalter in die Wissenschaft ein­ geführt worden." 101 In der Luther folgenden dogmatischen Lehrbildung wird die "fiducia" als das allein selig machende Vertrauen auf die rechtfertigende Gnade Gottes gemeinhin als "fides specialis" eingeführt. Zur zeitgenössischen Lutherforschung vgl. etwa Julius Köstlin: Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem inneren Zusammenhange dargestellt, 2. Band (1901), S. 1 80 f. : "Der bestimmte Gegenstand des gerecht und selig machenden Glaubens aber ist immer Gott in seinem Gnaden­ wort, die von ihm in seinem Wort uns dargebotene Vergebung, der hier für uns ge­ offenbarte und gegenwärtige Erlöser Christus; und der Glaube ist so wesentlich fiducia, ,ein ganz Vertrauen im Herzen zu Christo"'. Als Beleg führt Köstlin ein Lutherzitat an: ",significat fides fiduciam misericordiae propter Christum donatae,

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des neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes und der neuen, anti-anthro­ pomorphen Metaphysik gerade das Dasein Gottes der fragliche Punkt und wurde es umgekehrt selbstverständlich, daß, wenn man nur erst jenes Da­ seins Gottes gewiß wäre, man überhaupt Sinn und Ziel des Lebens, Rettung und Gnade gewonnen habe. Damit wurde nun aber das allgemeine Prinzip des neuen von Luther entdeckten Weges unendlich viel wichtiger als sein be­ sonderer dogmatischer Zweck. Dieser Weg enthielt in sich selbst schon das eigentliche Ziel, die Vergewisserung vom Göttlichen überhaupt, den Weg aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit und das Ü bermenschliche I über­ haupt;a den Weg haben hieß das Ziel haben, bei dessen Besitz einem alles Ü brige von selbst zufällt. Alles Gewicht fiel nunmehr auf die gefühlsmäßige Glaubensgewißheit, auf den inneren Zug und Drang, auf die not­ wendige Erzeugung des Gedankens von Gott überhaupt, auf die Erringung einer reinen persönlichen Ü berzeugung von seiner wahrhaftigen Existenz, wo dann alles Weitere ihm und seiner verborgenen Weisheit überlassen blei­ ben mochte, wenn nur diese entscheidende Hauptsache gewonnen war. So wurde der Protestantismus zu der Religion des Gott-Suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen, zu einer Sicherung der allgemeinsten Haupterkenntnis durch Zusammenfassung aller persönlichsten Überzeu­ gungen und einem vertrauenden Offenlassen aller weiteren dunklen Probleme, über die die Dogmatik des Altprotestantismus so viel zu sagen ge­ wußt hatte. Auch hier ist es Lessing, der in seinem berühmten Worte von dem Vorzug des Suchens nach der Wahrheit vor dem Besitz der fertigen Wahrheit die moderne Religiosität typisch charakterisiert und der damit aus dem I Gewebe des Protestantismus denjenigen Faden hervorzieht, an dem a

A: überhaupt, und

qua fiducia statuimus nobis remitti peccata propter filium Dei, victimam et media­ torern'. Dabei betont Luther aufs nachdrücklichste die Beziehung dessen, was hier geglaubt wird, aufs einzelne glaubende Subjekt als solches: ich glaube, daß Gott eben mir gnädig sei, mir vergebe. Das, sagt Luther, mache auch den Artikel von der Verge­ bung sonderlich schwer: denn die anderen Glaubensartikel seien wohl schwerer, wenn man von ihnen reden und sie verstehen und begreifen soll, im Artikel von der Vergebung aber sei das Schwerste das, ,daß sich des ein jeder für sich selbst gewiß solle annehmen'; das gehe dem Menschen schwer ein, indem er hoch erschrecken müsse vor Gottes Zorn und Gericht; wenn aber der Artikel von der Vergebung ,uns treffe und mit uns in die Erfahrung komme', dann mache derselbe, daß die andern Artikel von Gott, dem Schöpfer, vom Sohn Gottes u. s. w., ,auch uns treffen und mit uns in Erfahrung kommen'. Und eben darauf kommt es Luther bei wahrem Glauben an, daß ich glaube und gewiß bin: ,Deus est mihi Deus, quia mihi loquitur, mihi re­ mittit peccata. ' "

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die moderne Welt bis heute eifrig weiter spinnt.102 Eigenes persönliches Suchen in selbsterlebter Gewissens- und Zweifels not, Ergreifen der in den geschichtlichen Offenbarungen sich bietenden Hand Gottes, um dann doch immer weiter aus eigener persönlicher Verantwortung und Entscheidung die endgültige Überzeugung zu gewinnen, und ruhiges Ertragen all der Rätsel, die auf diesem Wege ungelöst bleiben:a das charakterisiert die mo­ derne Religiosität und hängt in seiner festen Überzeugung, daß das nicht schwächliche Skepsis, sondern männlich-mutiger, das Leben zu tragen ver­ mögender Glaube sei, mit Luthers Lehre vom Glauben eng zusammen. Es ist damitb die ftdes qua creditur, als in welcher ja Gott jedenfalls im allgemei­ nen erreicht und persönlich ergriffen wird, der ftdes quae creditur übergeord­ net, als welche Unerkennbares erkennen will und den Lebens- und Erkennt­ nisdrang in allzu enge Fesseln bindet.103 Überalle ist es der Glaubensbegriff, der über den Glaubensinhalt triumphiert dhat, und der nur darum nichtd

a

A: bleiben, A: nur A: Nicht einmal die heutige kirchliche Gläubigkeit ist irgendwo ganz I frei von c dieser Verwandlung; ihr Glaubensbegriff verfügt nur mehr über subjektive Evi­ denzen und über einen sehr allgemeinen, Unzähliges offen lassenden Inhalt; und ich brauche nicht zu reden von der freieren Gläubigkeit, die sich von einer allge­ meinen Christlichkeit bis in eine völlig unbestimmte reine Sehnsuchtsreligion erstreckt; überall d-d A: hat. Ob das ein auf die Dauer haltbarer oder auch nur wünschenswerter Zu­ stand ist, ist eine Frage für sich; genug, daß er das moderne religiöse Leben cha­ rakterisiert, und daß er nur darum nicht einfach

b

102 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik, hier zitiert nach der Ausgabe von

1 897, S. 23 f.: "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz - Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" 103 Diese Unterscheidung zwischen (subjektivem) Glaubensvollzug (fides qua creditur) und objektivem Glaubensinhalt (fides quae creditur) findet sich schon bei Augustin: De trinitate libri Xv, hier XIII, 11, hier zitiert nach der Ausgabe von 1 968, S. 386. Sie bildet einen festen Topos in dem Lehrstück "De Fide" der altprotestantischen Orthodoxie.

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Schwächlichkeit und Sentimentalität ist, weil in ihm das Metall des protestan­ tischen Glaubensbegriffes letztlich durchklingt. Und dazu kommt noch ein Letztes. Der Protestantismus, der diese Verän­ derungen durchgemacht hat, gewinnt ein neues Verhältnis zur Wissenschaft. Der wichtige und verwickelte historische Vorgang, von dem ich oben gespro­ chen habe, die innere Verschmelzung der individuellen Überzeugungsreligion mit wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit und Kritik, die Konstituierung des Pro­ testantismus als einer mit der Wissenschaft und Philosophie verbündeten Bildungsreligion, erklärt sich von diesen Entwicklungen aus. Es ist nicht bloß ein Ü berwältigtwerden der kirchlich schwächeren Religion durch eine fremde Macht, nicht bloß eine Selbstvergessenheit und Selbsttäuschung, wenn der Protestantismus nunmehr sich als ein Prinzip religiöser und wissenschaftlich­ philosophischer Wahrhaftigkeit zugleich fühlt. Luther freilich hat von alledem nichts gewußt und nichts I wissen wollen, all e Spekulation von der religiösen Wahrheit ferngehalten und im übrigen im einzelne na seine gesunde Vernunft gebraucht. Aber nachdem der Punkt in der Entwicklung des Protestantismus erreicht war, wo der Weg der persönlichen Überzeugung wichtiger wurde als das Ziel der übernatürlichenb Rettung, da konnte die religiöse Überzeu­ gung nicht neutral bleiben gegen die