Kritische Gesamtausgabe: Band 15 Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923) 9783110889499, 9783110171570

Politically and intellectually, Ernst Troeltsch had a significant role to play in the early years of the Weimar Republic

164 93 14MB

German Pages 678 [680] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch · Kritische Gesamtausgabe
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
Für unsre Selbsterkenntnis (Januar 1919)
[Für das neue Deutschland!] (Januar 1919)
Nationalgefühl (Februar 1919)
[Unsere Kriegsgefangenen.] (Februar 1919)
Wahnsinn oder Entwicklung? Die Entscheidung der Weltgeschichte (Februar/März 1919)
Gegenwärtige und bleibende Werte der Deutschen demokratischen Partei (Mai 1919)
Ein Reichskulturamt (Mai 1919)
Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen (Mai 1919)
Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur (Mai 1919)
[Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien] (Juni 1919)
Deutsche Bildung (August 1919)
Demokratie (August 1919)
Nicht um Vergangenes rechten, sondern Zukünftiges fordern! (August 1919)
Kant in Amerika (August 1919)
Der Partikularismus der Deutschen (August 1919)
Christlich-Amerikanisches (Oktober 1919)
Die Kundgebungen des Dresdener Kirchentages (Oktober 1919)
Aristokratie (Oktober 1919)
Zur Politik gegenüber den protestantischen Kirchen (Dezember 1919)
Demokratische Kulturpolitik (Januar 1920)
Sozialismus (Februar 1920)
[Warum bekenne ich mich zur Demokratie?] (Mai 1920)
Die Not der deutschen Wissenschaft (Mai 1920)
Die Koalitionsregierung (Mai 1920)
[Deutscher Geist und Judenhaß] (Juni 1920)
[Student und Politik] (Juni 1920)
Sammlungspolitik (Januar 1921)
Deutsche Einheit. Zum 18. Januar (Januar 1921)
Wahlpflicht der Intellektuellen (Februar 1921)
Die Hochschulen im öffentlichen Leben (Juli 1921)
Die Krisis des Historismus (Juni 1922)
Dem ermordeten Freunde (August 1922)
Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (April 1923)
Public Opinion in Germany: Before, During, and After the War (Mai 1923)
Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (Juni 1923)
Biogramme
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Seitenkonkordanz
Gliederung der Gesamtausgabe Ernst Troeltsch · Kritische Gesamtausgabe
Recommend Papers

Kritische Gesamtausgabe: Band 15 Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923)
 9783110889499, 9783110171570

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Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von

Friedrich W ilhe1m Graf Volker Drehsen . Gangolf Hübinger . Trutz Rendtorff

Band 15

Walter de Gruyter· Berlin . New York

2002

Ernst Trüeltsch Schriften zur Püli tik und Kulturphilosophie (1918-1923)

herausgegeben von

Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit

Johannes Mikuteit

Walter de Gruyter· Berlin . New York

2002

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheiliaufnahme

Troeltsch, Ernst: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie ( 1 9 1 8- 1 923) / Ernst Troeltsch. Hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit. Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Kritische Gesamtausgabe; Bd. 1 5) ISBN 3-1 1 -01 7 1 57-0

©

Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 1 0785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­ halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfattigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Gerike GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort

Für die politische und intellektuelle Gründungsgeschichte der Weimarer Republik spielte Troeltsch eine bedeutsame Rolle. Dieser Band der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe versammelt 35 Texte, sie reichen von einer herrschaftssoziologischen Kritik an den politischen und militärischen Eliten der wilhelminischen Zeit bis zu kulturphilosophischen Begründungen einer neuen europäischen Ordnung. Hierzu knüpft Troeltsch wieder an die uni­ versalhistorischen Deutungsmuster seiner Vorkriegsschriften an, zusätzlich wurde ihm die "Krisis des Historismus" zum vordringlichen Problem. Die Texte zeigen das anhaltende publizistische Engagement eines liberal gesinnten Intellektuellen, den politischen Systemwandel in Deutschland aus den Konstellationen der gesamteuropäischen Kulturgeschichte heraus zu legitimieren. Sie enthalten Troeltschs Entwürfe zur Neugestaltung der staat­ lichen und kirchlichen Verfassung. Sie dokumentieren seine Rolle in der Deutschen Demokratischen Partei mit parlamentarischem Mandat und Amt. Dem durch den Weltkrieg orientierungslos gewordenen Bürgertum hat Troeltsch damit alternative Wertorientierungen zur autoritären Staats-, Kir­ chen- und Gesellschaftsordnung des Deutschen Kaiserreiches bieten wol­ len. Die hier edierten Schriften - zum Teil sehr abgelegen und unbekannt, zum Teil prominent und wie "Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik" von Thomas Mann zur eigenen politischen Ortsbestimmung genutzt haben erheblich zur Ausgestaltung des weltanschaulichen und politischen Kommunikationsraumes der frühen Weimarer Republik beigetragen. Die vielschichtigen thematischen und organisatorischen Bezüge dieses Bandes erfordern vielfachen Dank. Ihr Spezialwissen zu schwierigen Kom­ mentarstellen haben uns Wendy E. Chmielewski PhD, Dr. Hans Cymorek, Prof. Dr. Frank Eyck, Dr. Edith Hanke, Richard Mullen, Edmund Stein­ schulte, Dr. Christine Tauber, Karl Heinz Voigt und Dr. Solange Wydmusch zur Verfügung gestellt. Für die kompetente Mitarbeit an Textbearbeitung, Kommentierung, Erfassung von Biogrammen und Literaturverzeichnissen sowie insbesondere die Erstellung der Register danken wir namentlich An­ dreas Terwey. Dr. Birgitt Morgenbrod hat den gesamten Text Korrektur ge­ lesen, ihr fachgeschulter Blick als ehemalige Max-Weber-Editorin war uns eine große Hilfe.

VI

Vorwort

Von den vielen Archiven und Bibliotheken, die uns bei den verzweigten Recherchen unterstützt haben, sei stellvertretend das Bundesarchiv in Berlin genannt. Dafür, daß dieser Band nach nur drei Jahren editorischer Arbeit entstehen konnte, seien Dr. Claus-Jürgen Thornton für den Verlag Walter de Gruyte r, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für die zügige Be­ gutachtung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre finanzielle Förderung Dank ausgesprochen. Frankfurt an der Oder, im Mai 2002

Gangolf Hübinger

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troe/tseh . Kritische Gesamtausgabe.

. XIII

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

. XIX

Einleitung . . . . . . . . . . .

1

I.

Ernst Troeltsch in der Gründungsgeschichte der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . 1 . Gelehrtenpolitiker und Intellektueller . . . . . . . . 2. Nationale Einheit und staatliche Neuordnung . . . . 3. Deutsche Demokratische Partei und republikanische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Christliche Kirchen und liberaler Kulturstaat . . . . 5 . Geistige und politische Polarisierungen . . . . . . . 6. Historische Kulturanalyse und politische Kultursynthese

11.

Zur editorischen Konzeption des Bandes .

1

2 8 11 16 23 30

36

Für unsre Selbsterkenntnis Oanuar 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . .

43 43 45

[Für das neue Deutschland!] (Januar 1 9 1 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . .

47 47 53

Nationalgefühl ( Februar 1 91 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . .

55 55 56

.

.

.

.

VIII

Inhaltsverzeichnis

[ Unsere Kriegsgefangenen] ( Februar 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . .

61 61 64

Wahnsinn oder Entwicklung? Die Entscheidung der Weltgeschichte ( Februar/März 1 91 9) . . Editorischer Bericht Edierter Text . . . .

65 65 70

Gegenwärtige und bleibende Werte der Deutschen demokratischen Partei (Mai 1 9 1 9 ) . . . . Editorischer Bericht Edierter Text . . . .

95 95 98

Ein Reichskulturamt (Mai 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

1 01 101 1 08

Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen (Mai 1 9 1 9 ) . . . . . . . Editorischer Bericht Edierter Text . . .

111 111 1 23

Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur (Mai 1 9 1 9) . Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 47 1 47 1 50

[Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien] (Juni 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

1 53 1 53 1 58

Deutsche Bildung (August 1 9 1 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . .

1 61 1 61 1 69

Demokratie (August 1 91 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . .

207 207 21 1

.

Inhaltsverzeichnis

IX

Nicht um Vergangenes rechten, sondern Zukünftiges fordern! (August 1 9 1 9 ) . . . . . . Editorischer Bericht Edierter Text . . . .

225 225 227

Kant in Amerika (August 1 9 1 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

229 229 231

Der Partikularismus der Deutschen (August 1 9 1 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . .

233 233 239

Christlich-Amerikanisches ( Oktober 1 91 9 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . .

243 243 246

Die Kundgebungen des Dresdener Kirchentages ( Oktober 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . .

251 251 259

Aristokratie ( Oktober 1 9 1 9) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . .

269 269 270

Zur Politik gegenüber den protestantischen Kirchen (Dezember 1 91 9 ) . . . . Editorischer Bericht Edierter Text . . . .

285 285 291

Demokratische Kulturpolitik (Januar 1 920) Editorischer Bericht Edierte Texte . . . . . .

301 301 313

Sozialismus ( Februar 1 920) . Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . .

355 355 357

[Warum bekenne ich mich zur Demokratie?] (Mai 1 920) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371 371 374

x

Inhaltsverzeichnis

Die Not der deutschen Wissenschaft (Mai 1 920) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . .

375 375 378

Die Koalitionsregierung (Mai 1 920) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

385 385 387

.

.

.

[Deutscher Geist und Judenhaß] (Juni 1 920) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . .

391 39 1 395

[Student und Politik] (Juni 1 920) . Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

397 397 400

Sammlungspolitik (Januar 1 92 1 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . .

403 403 405

Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar (Januar 1 921 ) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . .

41 1 41 1 413

Wahlpflicht der Intellektuellen (Februar 1 92 1 ) . Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . .

41 9 41 9 423

Die Hochschulen im öffentlichen Leben (Juli 1 921 ) . Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . .

427 427 430

Die Krisis des Historismus (Juni 1 922) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . .

433 433 437

Dem ermordeten Freunde (August 1 922) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . .

457 457 469

.

.

.

.

.

.

.

.

.

Inhaltsverzeichnis

XI

Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (April 1 923) Editorischer Bericht Edierter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477 477 493

Public Opinion in Germany: Before, During, and After the War (Mai 1 923) . . . . . . . Editorischer Bericht Edierter Text . . . .

513 513 524

Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (Juni 1 923) Editorischer Bericht Edierter Text

537 537 551

Biogramme . . .

571

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur 2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur

595 595 598

Personenregister

623

Sachregister . . .

633

Seitenkonkordanz .

653

Gliederung der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe

657

Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troettsch . Kritische Gesamtausgabe

I. Aufbau

1 . Aufbau der einzelnen Bände Jeder Band enthält:

(1) Vorwort (2) Inhaltsverzeichnis (3) Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troe/tsch . Kritische Gesamtausgabe (4) Siglen, Zeichen und Abkürzungen (5) Einleitung des Bandherausgebers. Die Einleitung informiert über den Text bzw. die Texte des Bandes und deren Anordnung, über wissen­ schaftsgeschichtliche Bezüge und zeitgeschichtliche Hintergründe. (6) Editorische Berichte. Die Editorischen Berichte informieren über Ent­ stehung, Entwicklung und Überlieferungslage sowie über editorische Entscheidungen. (7) Troeltsch-Text mit textkritischem Apparat und Kommentaren der Her­ ausgeber; innerhalb eines Bandes sind die Edierten Texte chronolo­ gisch geordnet. (8) Biogramme. Berücksichtigt werden nur Personen, die von Troeltsch genannt sind, mit Ausnahme allgemein bekannter Persönlichkeiten. Die Biogramme informieren über die wichtigsten Lebensdaten, geben die berufliche bzw. gesellschaftliche Stellung an und nennen gegebe­ nenfalls die verwandtschaftlichen, persönlichen, beruflichen oder werk­ geschichtlichen Beziehungen zu Troeltsch. (9) Literaturverzeichnis. In einem ersten Teil wird die von Troeltsch zi­ tierte Literatur angeführt, in einem zweiten Teil wird die von den Herausgebern in Einleitung, Editorischen Berichten und Kommenta­ ren genannte Literatur aufgenommen. Das Literaturverzeichnis wird auf autoptischem Wege erstellt.

XIV

Aufbau und Editorische Grundsätze

(1 0) Personenregister. Aufgenommen sind sämtliche Personen, die von Troeltsch selbst in den Edierten Texten oder von den Herausgebern in der Einleitung, den Editorischen Berichten und Kommentaren erwähnt sind. Dazu gehören auch die Autoren der angeführten Literatur. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberrede. (1 1) Sachregister. Es enthält alle wichtigen Begriffe und Sachbezeichnungen einschließlich geographischer Namen mit Ausnahme der bibliogra­ phischen Erscheinungsorte. Das Sachregister erfaßt Troeltschs Text und die Herausgeberrede. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberrede. (1 2) Den Bänden können weitere Verzeichnisse, wie z. B. Konkordanzen, beigefügt werden. (1 3) Gliederung der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe.

2. Aufbau der einzelnen Seiten und Darstellung des Edierten Textes 2. 1 . Satzspiegel Es werden untereinander angeordnet: Text der Ausgabe letzter Hand, gege­ benenfalls mit Fußnoten Troeltschs, textkritischer Apparat und Kommen­ tare. Die Fußnoten werden ohne einen Trennstrich unter den Haupttext angeordnet, der textkritische Apparat wird durch einen kleinen, die Kom­ mentare durch einen durchgezogenen Trennstrich abgesetzt. 2.2. Hervorhebungen Hervorhebungen Troeltschs werden einheitlich durch Kursivsetzung kennt­ lich gemacht. 2.3. Seitenzahlen des Originaldrucks Die Seitenzahlen der Druckfassungen der jeweiligen Textstufen des Edierten Textes werden am Seitenrand unter Angabe der entsprechenden Textsigle angezeigt; im laufenden Edierten Text (auch in den Fußnoten und gegebe­ nenfalls im textkritischen Apparat) wird die Stelle des ursprünglichen Seiten­ umbruchs durch einen senkrechten Strich zwischen zwei Wörtern bzw. Sil­ ben angegeben.

Aufbau und Editorische Grundsätze

11.

xv

Editorische Grundsätze

1 . Präsentation der Texte und ihrer Entwicklung Die Texte werden nach historisch-kritischen Prinzipien bearbeitet. Das heißt, es werden alle Entwicklungsstufen eines Textes einschließlich handschrift­ licher Zusätze dokumentiert und alle editorischen Eingriffe einzeln ausge­ WIesen. 1 . 1 . Textvarianten Liegt ein Text in mehreren von Troeltsch autorisierten Fassungen vor, so wird in der Regel die Fassung letzter Hand zum Edierten Text bestimmt. Die übrigen Fassungen werden einschließlich der handschriftlichen Zusätze Troeltschs im textkritischen Apparat mitgeteilt. Ausgespart bleiben dabei allerdings die zahlreichen Veränderungen bei Umlauten, "ss-ß", "t-th" und ähnliche, da sie auf Setzerkonventionen beruhen und nicht von Troeltsch beeinflußt wurden.

1 .2. Handschriftliche Zusätze Die handschriftlichen Marginalien der Handexemplare werden nach den Editionsregeln zur Variantenindizierung in den textkritischen Apparat inte­ griert. Der Nachweis beschränkt sich hierbei auf Textstellen. Markierungen von Troeltschs Hand wie Unterstreichungen und Anstreichungen werden nicht dargestellt. Über die genaue Darstellungsweise informieren die jewei­ ligen Editorischen Berichte. 1.3. Texteingriffe Die Texte werden getreu der ursprünglichen Orthographie und Interpunk­ tion ediert. Offensichtliche Setzerfehler werden stillschweigend berichtigt. Textverderbnisse werden im Apparat mitgeteilt.

2. Kommentierung der Texte Die Kommentierung dient der Präzisierung der von Troeltsch genannten Literatur, dem Nachweis von Zitaten, der Berichtigung irrtümlicher Anga­ ben, dem textlichen Beleg von Literaturangaben sowie der Erläuterung von

XVI

Aufbau und Editorische Grundsätze

Ereignissen, Begriffen und Bezügen, deren Kenntnis für das Verständnis des Textes unerläßlich erscheint. Es gilt das Prinzip der knapp dokumentieren­ den, nicht interpretierenden Edition. 2. 1 . Bibliographische Präzisierung Die Literaturangaben werden autoptisch überprüft. Fehlerhafte Literatur­ angaben Troeltschs werden im Literaturverzeichnis stillschweigend berich­ tigt. Eine Berichtigung im Kommentar wird nur dann gegeben, wenn das Auffinden im Literaturverzeichnis nicht oder nur schwer möglich ist. Die korrigierte Literaturangabe wird mit dem ersten vollständigen Haupttitel so­ wie in Klammern gesetztem Erscheinungsjahr angezeigt. 2.2.

Zitatprüfungen

Troeltschs Zitate werden autoptisch überprüft. Falsche Seitenangaben wer­ den berichtigt. Hat Troeltsch ein Zitat nicht nachgewiesen, wird der Nach­ weis im Apparat aufgeführt. Ist der Nachweis nicht möglich, so steht im Kommentar: "Als Zitat nicht nachgewiesen." Fehlerhafte und unvollständige Zitate werden korrigiert und ergänzt. Der Nachweis indirekter Zitate und Rekurse wird in der Regel nicht geführt. 2.3.

Belege von Literaturverweisen

Allgemeine, inhaltlich nicht näher bestimmte Literaturverweise im Edierten Text werden in der Regel nicht belegt. Inhaltlich oder durch Seitenangaben eingegrenzte Literaturverweise werden, so weit möglich, durch Zitate belegt. 2.4. Irrtümliche Angaben Irrtümliche Angaben Troeltschs (z. B. Namen, Daten, Zahlen) werden im Apparat berichtigt. 2.5. Erläuterung von Fachtermini, Anspielungen und Ereignissen Kommentiert wird, wenn die Erläuterung zum Verständnis des Textes not­ wendig ist oder wenn für das Textverständnis unerläßliche Zusatzinformatio­ nen geboten werden. Der kommentierte Sachverhalt muß eindeutig zu kenn­ zeichnen sein. 2.6. Querverweise Explizite Verweise Troeltschs auf andere seiner Werke werden nachgewiesen. Querverweise innerhalb des Edierten Textes können nachgewiesen werden. Sachverhalte, die sich durch andere Texte Troeltschs erschließen lassen, kön­ nen durch Angabe dieser Texte nachgewiesen werden.

Aufbau und Editorische Grundsätze

XVII

Forschungsgeschichtliche Kommentare

2.7.

Erläuterungen zur nachfolgenden Wirkungs- und Forschungsgeschichte werden nicht gegeben.

III. Erläuterung der Indices und Zeichen

1 . Sigleneinteilung Die früheste Fassung eines Textes trägt die Sigle A. Weitere Fassungen werden in chronologischer Folge alphabetisch be­ zeichnet. Die Handexemplare mit handschriftlichen Zusätzen Troeltschs sind als Textschicht der betreffenden Fassung an­ zusehen. Sie werden mit der Sigle der betreffenden Fassung und einer tiefgestellten arabischen Eins bezeichnet (Beispiel: AI ) . Bei Identität zweier Ausgaben wird im Editorischen Be­ richt darauf verwiesen. Eine doppelte N ennung (etwa BC) entfallt damit.

II

2.

Indices

I),

2)

I a

, ,

b

,

,

3 c

ab

a

Cl

2

3)

,

bc ,

,

,

11,

y

,

..

Hochgestelle arabische Ziffern mit runder Schlußklammer bezeichnen Fußnoten Troeltschs. Hochgestellte arabische Ziffern ohne Klammern werden für die Herausgeberkommentare verwendet. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen verwendet. Die Buchstaben stehen im Edierten Text hinter dem varianten oder emendierten Wort. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben, die eine Wort­ passage umschließen (axxx xxx xxx4) , werden für Varianten oder Texteingriffe eingesetzt, die mehr als ein Wort umfassen. Die betreffende Passage im Edierten Text wird hierbei von einem recte gesetzten Index und einem kursiv gesetzten Index eingeschlossen. Kleine hochgestellte griechische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen zu TextsteIlen

XVIII

Aufbau und Editorische Grundsätze

innerhalb des textkritischen Apparats verwendet. Die Buch­ staben stehen hinter dem varianten oder emendierten Wort. Bei mehr als einem Wort wird die betreffende Passage von einem gerade gesetzten Index und einem kursiv gesetzten In­ dex eingeschlossen (IlXXX xxx XXXII ) .

3. Zeichen:

[ ] { }

I: :1

«xxx» «

Das Zeichen 1 im Edierten Text mit der jeweiligen Sigle und der darauf bezogenen Seitenangabe im Außensteg gibt die Stelle des Seitenwechsels nach der ursprünglichen Paginierung einer Textfassung wieder. Eckige Klammern sind reserviert für Hinzufügungen durch den Editor. Geschweifte Klammern kennzeichnen Durchstreichungen Troeltschs in seinen handschriftlichen Marginalien. Unvollständige eckige Klammern bezeichnen unsichere Les­ arten bei den Handschriften Troeltschs. Nicht entzifferte Wörter werden jeweils durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet. Das Zeichen I: :1 wird für Einschübe Troeltschs in seinen handschriftlichen Texten verwendet. Hochgestellte Spitzklammern im Text umschließen Hinzu­ fügungen des Edierten Textes gegenüber vorangegangenen Fassungen. Dadurch entfällt für diese Passagen der Nachweis im textkritischen Apparat: Fehlt in A. Bei �ei Textstufen in mehreren Schichten (A: 1 . Textstufe, At: Handexemplar der 1 . Ausgabe, B: 2. Textstufe, Bt : Hand­ exemplar der 2. Ausgabe) gilt folgende Benutzungsregel für die Spitzklammern: Fehlt in A, At Fehlt in A Bei drei Textstufen (A: 1 . Textstufe, At : Handexemplar der 1 . Ausgabe, B: 2. Textstufe, Bt : Handexemplar der 2. Aus­ gabe, C: 3. Textstufe) gilt folgende Legende: Fehlt in A, At Fehlt in A, At> B, Bt Fehlt in B, Bt

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

Aufstellung der in diesem Band verwendeten Siglen, Zeichen und Abkürzun­ gen gemäß den Editorischen Grundsätzen der Ernst Troeltsch . Kritische Ge­ samtausgabe

I [ ]

< >

1) 2) 3) 1

, 2, 3 ,

Cl

, P, y ,

3• • •d

,

h. . .b

AEG BArch BArch-MArch BVP DDP DGW

DHP DNVP DPK DVP E. O. K. ESK ETB EZA GfSR

Seitenwechsel Hinzufügung des Editors Hinzufügungen des Edierten Textes gegenüber den voran­ gegangenen Textfassungen Siehe Indices bei Fußnoten Ernst Troeltschs Indices bei Kommentaranmerkungen des Herausgebers Siglen für die Textfassungen in chronologischer Reihen­ folge Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen Allgemeine Electrizitäts-Gesellschaft Bundesarchiv, Koblenz Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. B. Bayerische Volkspartei Deutsche Demokratische Partei Ernst Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesam­ melte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. von Hans Baron, Tübingen: Verlag von J. c. B. Mohr (paul Sie­ beck), 1 925. Deutsche Hochschule für Politik Deutschnationale Volkspartei Demokratische Partei-Korrespondenz Deutsche Volkspartei Evangelischer Oberkirchenrat Evangelisch-sozialer Kongreß Ernst Troeltsch Bibliographie Evangelisches Zentralarchiv in Berlin Gesellschaft für Soziale Reform

xx

GS GStAPK HA HZ KGA KPD KWG KWI Mdpr.AH MdR MG FA MWG NDB NL NSDAP OHL RGG

SB

SGfSR SP SPD USPD VfS WV

YMCA

Aufbau und Editorische Grundsätze

Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Hauptabteilung Historische Zeitschrift Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe Kommunistische Partei Deutschlands Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses Mitglied des Reichstags Militärgeschichdiches Forschungsamt Max Weber-Gesamtausgabe Neue Deutsche Biographie Nachlaß Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberste Heeresleitung Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Tübingen: J. C. B. Mohr (paul Siebeck) . Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1 9 1 8/22. Mit einem Geleitwort von Friedrich Meinecke, zusammengestellt und hg. von Hans Ba­ ron, Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr (paul Siebeck) , 1 924. Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform Soziale Praxis Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verein für Sozialpolitik Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vor­ bereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels. Nach den Wissenschaften geordnet. Nebst 1 2 Monatsregistern. Hrsg. von der Bibliographischen Abteilung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig (bis zum 30. April 1 921) bzw. von der Deutschen Bücherei des Börsenvereins. Leipzig o. C. Hinrichs'sche Buchhandlung) , 52. Jg. (1 893) bis 86. Jg. (1 927) . Young Men's Christian Association

Alle sonstigen Abkürzungen folgen: Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Auflage, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1 992.

Einleitung

1.

Ernst Troeltsch in der Gründungsgeschichte der Weimarer Republik

Zwischen 1 925 und 1 933 gab der Republikanische Richterbund zur Befesti­ gung der Weimarer Verfassungskultur die Zeitschrift "Die Justiz" heraus. Diese "Zeitschrift für Erneuerung des Deutschen Rechtswesens" stand da­ mit in Gegensatz zu den mehrheitlich in Distanz verharrenden akademi­ schen Eliten. In ihrer regelmäßigen Kolumne der politischen "Chronik" hat der Rechtssoziologe und ehemalige sozialdemokratische Abgeordnete der Weimarer Nationalversammlung Hugo Sinzheimer im Juni 1 926 in program­ matischer Absicht einen bemerkenswerten Eindruck von Ernst Troeltsch wiedergegeben: "Ich erinnere mich eines Gesprächs mit dem verstorbenen Ernst Tröltsch in einem Garten in Weimar, als die Nationalversammlung tagte und ringsum alles emporzuzüngeln drohte. Er hatte gerade das Buch von Ernst Robert Curtius: ,Die literarischen Wegbereiter des neuen Frank­ reich' gelesen und sprach davon, wie die Massen nach ,neuen Ideen' verlan­ gen. Schmerzlich sagte er, indem er diese Sucht schilderte: ,Die Leute glau­ ben wohl, man könnte Ideen nur so heraus schwitzen. ' In der Tat: Man kann nicht Ideen künstlich erzeugen, man muß sie finden. Und wie kann man heute die neuen leitenden Ideen finden, wo der Boden der inneren und äu­ ßeren Welt zu versinken scheint. "1 Die Frage nach Herkunft und Durchsetzungskraft "neuer leitender Ideen" wurde für Ernst Troeltsch seit dem letzten Kriegsjahr 1 9 1 8 do­ minant - das dürfte in der von Sinzheimer geschilderten Eindringlichkeit richtig erfaßt sein. Sie galt, seit seinen Vorträgen von 1 9 1 8 bis zum letzten Kapitel seines unvollendeten Werkes über den "Historismus und seine Pro­ bleme" von 1 922, in gleichlautenden Formulierungen dem "Aufbau der eu­ ropäischen Kulturgeschichte". "Geschichte" wurde für Troeltsch zur regu­ lativen Idee. Seine Theologie artikulierte sich als Geschichtstheologie, seine Philosophie als Geschichtsphilosophie, seine Politik, die in diesem Band im

1

Hugo Sinzheimer: Was wir wollen (1 926), S. 537.

2

Einleitung

Zentrum steht, als Geschichtspolitik, mit der er den "Aufbau der europäi­ schen Kulturgeschichte" befördern wollte. Troeltsch erörterte seine kultur­ historischen Ideen zur Neuordnung Europas erstmals im Mai 1 91 8, genau einen Monat, nachdem Oswald Spengler mit dem "Untergang des Abend­ landes" so wirkungsvoll an die Öffentlichkeit getreten war.2 In solchen Kon­ troversen um die "geistige" Gründung der Weimarer Republik betonte Tro­ eltsch stets den Zusammenhang von politischer Gegenwartsorientierung und philosophischer Entwicklungsgeschichte. Dem trägt der Titel dieses Bandes, "Schriften zur Politik und Kulturphilosophie", Rechnung. Der hier vorliegende Band der Troeltsch-Gesamtausgabe präsentiert 35 Texte, in denen Troeltsch seine Ideen zur Neuorientierung der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte. Es sind Texte, in denen er bis zu seinem Tod am 1 . Februar 1 923 die Dynamik der revolutionären Umbrüche kommentierte, ihre Richtung politisch zu steuern und institutionell zu for­ men beabsichtigte, schließlich die demokratische Werteordnung kulturge­ schichtlich zu legitimieren und religiös zu fundieren suchte. Alle Texte, die Troeltsch gleichzeitig unter seinem Pseudonym "Spectator" verfaßt oder jeweils als "Berliner Brief' gekennzeichnet hat und zu denen es vielfache inhaltliche Überschneidungen gibt, werden dagegen in einem separaten Band erfaßt, um den einheitlichen Charakter dieser wirkungsgeschichtlich auf besondere Weise präsenten "Spektator-Briefe" zu wahren.3

1 . Gelehrtenpolitiker und Intellektueller Als klassischer "Gelehrtenpolitiker" in der Typologie seines Freundes Fried­ rich Meinecke, aber auch in der ungewohnten Rolle des "Intellektuellen", in der er sich selbst zunehmend begriff, steht Troeltsch in der liberalen Tradi­ tion der "Paulskirchenprofessoren", die in der Revolution von 1 848 in glei­ cher Weise wie jetzt die liberalen und sozialdemokratischen Bildungseliten von 1 91 8/1 9 publizistisch versucht hatten, "die Revolution rasch in demo­ kratisch legitimierte Reform zu überführen. "4 Troeltschs Schriften in die-

2 Ernst Troeltsch: Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte (1 920), S. 1 -48, hier

Anm. 1 zu S. 1 . Siehe ausführlicher den 6. Abschnitt dieser Einleitung: Historische Kulturanalyse und politische Kultursynthese; zu Titulatur und Textentwicklung siehe KGA 1 6. 3 KGA 1 4; bislang unvollständig ediert in: Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe (1 924) . 4 Zu diesem Vergleich der Revolutionsbewegungen insgesamt Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland (1 988) , S. 251 f.

Gelehrtenpolitiker und Intellektueller

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ser späten Werkphase s reflektieren eine spezifische Ambivalenz der deut­ schen Geschichte. Die deutsche Wissenschaftskultur wurde seit dem frühen 1 9 . Jahrhundert stark durch die vereinheitlichenden Methoden des Historis­ mus in Fachhistorie, Nationalökonomie und protestantischer Theologie geprägt. Die politische Kultur des Kaiserreiches war dagegen auf Grund der vielschichtigen Abgrenzungen zwischen Katholiken, konservativen oder liberalen Protestanten sowie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch einen hohen Fragmentierungsgrad ihrer Geschichtsbilder gekenn­ zeichnet. Zum fragmentierten Geschichtsbewußtsein der deutschen Gesell­ schaft trugen nicht zuletzt die häufigen verfassungspolitischen Zäsuren ih­ ren Teil bei. Troeltschs "leitende Ideen" konzentrierten sich deshalb immer wieder auf die Maßstäbe, nach denen die politische Lenkung und Koordinie­ rung des Systemwandels mit kulturhistorischen Herleitungen und Begrün­ dungen verknüpft werden konnte. Nicht zufällig ist seine ganze wissen­ schaftliche Energie dem gleichzeitigen Versuch gewidmet, das Problem des Historismus zu lösen.6 Der Überwindung von ideologischen Fragmentierungen galten von Be­ ginn an Troeltschs gelehrtenpolitische Aktivitäten. Hierzu zählt seine Mitar­ beit beim Evangelisch-sozialen Kongreß schon seit 1 900; dort hielt Troeltsch erstmals einen politischen Vortrag zum Thema: "Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft".7 1 909 wurde er als Vertreter seiner Heidelberger Universität in die 1 . Kammer der badischen Ständeversammlung gewählt und konnte hier bis 1 9 1 4 bereits parlamentarische Erfahrungen sammeln. Zum politischen Publizisten im engeren Sinne wurde Troeltsch erst bei Aus­ bruch des Ersten Weltkrieges, seitdem j edoch nahm er kontinuierlich und mit großer Intensität zu allen politischen Zeitfragen Stellung. Politisch waren es "links bürgerliche Wertmaßstäbe" , mit denen Troeltsch seit 1 9 1 8 dem verunsicherten Bürgertum Alternativen zur obrigkeitlichen wilhelminischen Staats- und Gesellschaftsordnung anbot und Kriterien für die Einbindung Deutschlands in eine gesamteuropäische Nachkriegsord­ nung mit außenpolitischer Sicherheit, innenpolitischer Reform und national­ kulturellem Selbstbewußtsein entwarf. Die Bedeutung, die Troeltsch damit für die krisenhafte Gründungsgeschichte der ersten deutschen Demokratie

5 Dazu zählen auch KGA 1 1 : Schriften zur Theologie und Kulturgeschichte (191 36

7

1 922), und KGA 1 3: Rezensionen und Kritiken (191 5-1 923) . KGA 1 6: Der Historismus und seine Probleme (1 922), und KGA 1 7: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland (1 923/24). Zusätzlich zu den Verhandlungsprotokollen separat veröffentlicht unter dem Titel: Politische Ethik und Christentum (1 904) KGA 6. -+

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Einleitung

zukommt, läßt sich mit den hier erstmals in dieser Ausführlichkeit edierten Texten auf drei Ebenen dokumentieren. Erkennbar werden die Politilifelder, auf denen Ernst Troeltsch sich persönlich als Mitglied der DDP und in sei­ nem Amt als Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium enga­ gierte; seine Rede auf dem 2. außerordentlichen Parteitag über "Demokrati­ sche Kulturpolitik" faßt die einzelnen Schwerpunkte sehr konzentriert zusammen.8 Deutlich hervor treten die Kommunikationsnetze, in denen Tro­ eltsch sich über sein akademisches Berliner Milieu hinaus bewegte, wie etwa die "Deutsche Hochschule für Politik".9 Insgesamt lassen sich die Wirkungs­ felder intellektueller Polarisierung einzeichnen, in denen Troeltsch sich in dieser "Epoche des Weltbürgerkriegs der Werte und Weltanschauungen"10 mit sei­ nem Werk positioniert hat. In seiner kulturphilosophischen Deutung von " Naturrecht und Humanität" von den "Grundbegriffen der europäischen Geisteswelt und Religiosität" her1 1 hat Troeltsch vor dem Hintergrund der "Krisis des Historismus" ganz unterschiedliche Resonanz von Thomas Mann bis zu earl Schmitt gefunden.1 2 Voraussetzung für Troeltschs Programm, "protestantische Tradition zu­ gunsten einer liberalen Transformation der deutschen Gesellschaft neu aus­ zulegen",13 war eine entscheidende Selbstkorrektur seiner Geschichtsbilder aus dem Ersten Weltkrieg. Der Deuter des Weltkrieges als "Kulturkrieg" zur Wahrung des "Wesens der Deutschen" mit einer "deutschen Idee von der Freiheit" mußte wieder Anschluß an die europäische Dimension seiner reli­ giösen Schriften von vor 1 9 1 4, etwa an die "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt",1 4 finden. Er mußte, wie in seinem ausführlichen Essay unter diesem Titel, die "Deutsche Bildung" wieder in den Zusammenhang der europäischen Kulturentwicklung eintücken. 1 5 Die Bedeutung der Demokratie für die moderne Welt insgesamt und nicht nur für die westliche Welt war zu ermitteln und keine "deutsche Idee von der Freiheit" geschichtsphilosophisch davon abzuspalten. Denn damit hatte er in seiner Weltkriegs publizistik entschieden zur geistigen Kriegsmobilisie8 In diesem Band, S. 3 1 3-354. 9 Unten, S. 25 f. 1 0 Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen (1 999) . 11 Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, Zitat in diesem Band

S. 494.

1 2 Unten, S. 28-3 1 . 1 3 Friedrich Wilhelm Graf/Hartmut Ruddies: Religiöser Historismus (1 993), Zitat S. 297. 1 4 Siehe KGA 8: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt

(1 906-1 9 1 3). 1 5 In diesem Band, S. 1 69-205.

Gelehrtenpolitiker und Intellektueller

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rung beigetragen.1 6 Troeltsch zählte zwar nicht zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs der 93 Vertreter aus Wissenschaft und Kunst "An die Kultur­ welt" vom 4. Oktober 1 9 1 4, wurde im Ausland aber als nationalistischer Ideologe der deutschen Kriegsführung wahrgenommen. 17 Dazu trug die Art bei, in der Troeltsch die kulturellen Gegensätze zu den östlichen und west­ lichen Kriegsgegnern dramatisierte und aus dem "Wesen der Deutschen" als religiöse "Metaphysiker und Grübler von Natur und Welt"1 8 - entgegen sei­ ner Vorkriegswerke zur Bedeutung des Protestantismus und der christlichen Soziallehren für die Gestaltung der europäischen Moderne - einen natio­ nalkulturellen Sonderweg ableitete: "Wir kamen her aus einer Kultur des all­ gemeinen europäischen Liberalismus und empfanden nun, daß wir längst aus ihr herausgewachsen waren und innerhalb ihrer immer etwas besonderes gewesen waren."19 Für die Neue Rundschau des S. Fischer Verlages bündelte Troeltsch seine historischen Deutungen unter der ähnlich dem Schlagwort vom "Kulturkrieg" öffentlich wirksamen Formel "Die deutsche Idee von der Freiheit".2o Die militärische ebenso wie die innenpolitische Entwicklung veranlaßte Troeltsch seit Ende 1 9 1 6 zu einer Revision dieser Geschichtsauffassung. Troeltsch war zum Frühjahr 1 9 1 5 von der Theologischen Fakultät Heidel­ bergs an die Philosophische Fakultät der Berliner Universität auf einen Lehr­ stuhl für "Religions-, Sozial- und Geschichts-Philosophie und die christliche Religionsgeschichte"21 berufen worden und wurde rasch in die führenden liberal-konservativen Kommunikationskreise aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft integriert. Mit neuern, halboffiziellem Wissen vor allem aus der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4" und der "Mittwochsgesellschaft" deutete er den Krieg nun immer stärker als ökonomisch motivierten und interessenge­ leiteten Krieg. Gegen die Verfechter des Siegfriedens und die Annexionisten der "Deutschen Vaterlandspartei" stellte er sich an die Spitze des von ihm im November 1 9 1 7 mitbegründeten "Volksbunds für Freiheit und Vaterland", einer auf Verständigungsfrieden mit den Alliierten und auf Verfassungsre1 6 Vgl. die Troeltsch gewidmeten Kapitel bei Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung 17 18

19 20 21

(2000) . J ürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von U ngern-Sternberg: Der Aufruf "An die Kulturwelt" (1 996). Ernst Troeltsch: Das Wesen des Deutschen (1 91 5) -+ KGA 1 2. Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1 9 1 4 (1 9 1 6), S. 607 -+ KGA 1 2. Zusammen mit "Privatmoral und Staatsmoral" auch als eigenständige Veröffent­ lichung unter dem Titel "Deutsche Zukunft" (1 9 1 6) -+ KGA 1 2. Ernennungsschreiben des preußischen Kultusministers Trott zu Solz, 1 5. August 1 9 1 4, Archiv der Humboldt-Universität, Bestand Phi!. Fak., Nr. 1 466, S. 341 f.

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Einleitung

formen im Innern ausgerichteten Gegenbewegung aus Gewerkschaftsver­ tretern, Publizisten und Gelehrtenpolitikern. Troeltsch beabsichtigte, den "Volksbund für Freiheit und Vaterland" aus einem Zusammenschluß sozial­ reformerischer Organisationen22 zu einer auf persönlicher Autorität beru­ henden Gruppierung von Intellektuellen umzuformen. So jedenfalls warb er im Februar 1 9 1 8 bei Albert Einstein um den Beitritt: "Der Volksbund war das einzige, was wir schaffen konnten. Der Streik ist jetzt eine ernste Bela­ stungsprobe für ihn. Um so wichtiger ist, daß sich unsere Intellektuellen zu ihm bekennen und ihm beitreten. Ich würde auch Sie darum bitten. Jetzt ist jeder Mann notwendig für die Vernunft. Leider sind uns die von der Gegen­ partei direkt und indirekt gekauften Zeitungen sehr schwer zugänglich. Um so wichtiger ist private Wirkung. Fallen die Sozialdemokraten schließlich aus, so könnte daraus doch ein Bund der Intellektuellen werden. Die großen Il­ lusionen werden wohl in Bälde dünner werden und dann wird unser Pro­ gramm an Wichtigkeit und Wirkung gewinnen".23 Reformbünde wie dieser "Volksbund für Freiheit und Vaterland" blieben als überparteiliche Sammlungsbewegungen Troeltschs bevorzugte politische Organisationsform. Erst in zweiter Linie erwog er den Beitritt zu einer poli­ tischen Partei. So gründete er eine Woche nach der Proklamation der deut­ schen Republik, am 1 6. November 1 9 1 8, als die Deutsche Demokratische Partei unter Federführung von Theodor Wolff und Alfred Weber ihren Gründungsaufruf veröffentlichte, unabhängig davon mit Walther Rathenau einen "Demokratischen Volksbund". Die Grundintention war die gleiche wie beim "Volks bund für Freiheit und Vaterland", unter Einschluß der Mehrheitssozialdemokratie und der Gewerkschaften alle bürgerlichen Re­ formströmungen zusammenzufassen und ein Gegengewicht gegen die ex­ treme Linke wie die neue Rechte zu bilden. Die konkreten Ziele waren der revolutionären Situation neu angepaßt: "ein Grundrecht auf Arbeit und Bil­ dung, Begrenzung von Vermögen, Einkommen und Erbschaft, staatliche Regie in bestehenden Syndikaten und die Verstaatlichung ,geeigneter Be­ triebe'''.24 Dieses Programm trägt die Handschrift Walther Rathenaus, mit dem Troeltsch bis zu dessen Ermordung im Juni 1 922 politisch aufs engste verbunden blieb.25 Der zum gleichen Freundeskreis zählende Friedrich Meinecke sah in dieser Form politischer Vergesellschaftung, die er selbst 22 Siehe zur Polarisierung der politischen Ö ffentlichkeit zwischen rechtsextremen und

gemäßigten Kräften Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei (1 997) , S. 362371 . 2 3 Brief an Albert Einstein, 4. Februar 191 8 -+ KGA 1 8/19. 24 Hans Martin Barth: Der demokratische Volksbund (1 968), S. 257. 2 5 Siehe "Dem ermordeten Freunde", in diesem Band, S. 469-475.

Gelehrtenpolitiker und Intellektueller

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nicht in jedem Punkt teilte,26 einen charakteristischen Zug deutscher Gelehr­ tenpolitik im 1 9. und frühen 20. Jahrhundert: "Der Wille der bürgerlichen Schichten, sich durchzusetzen im Staate, die Einheit der Nation herzustellen und Macht für sie in der Welt zu gewinnen, ist in unberechenbarem Grade durch Gelehrtenpolitik geleitet und genährt worden. Und auch das innerlich dem Staate eigentlich fremde Wesen der Gelehrtenpolitik setzt sich fort in der durchschnittlichen Art, wie der deutsche Bürger sein Verhältnis zum Staate auffaßt."27 Wohl aus dieser Grundhaltung heraus hat sich Troeltsch erst nach der zehntägigen Episode des "Demokratischen Volksbundes" Ende November 1 9 1 8 für den Beitritt zur DDP und später für die Über­ nahme eines parlamentarischen Mandates und das zeitweilige Amt eines Un­ terstaatssekretärs entschieden.28 In allen seinen politischen Schriften ist diese Doppelorientierung an überparteilichen Intellektuellenbünden und an bürgerlichen Reformparteien spürbar. Mit dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs in der Kriegsniederlage von 1 9 1 8 kamen unmittelbar alle großen Fragen eines politischen Ge­ meinwesens gleichzeitig auf die Tagesordnung. Die Sicherung der staatlichen Souveränität und des territorialen Bestandes, die Neuordnung der Verfas­ sungsinstitutionen und die Reorganisation der Wirtschaft unter der Bela­ stung der Reparationen, die strukturellen Reformen des Bildungswesens und der Kirchenverfassung stellten die politischen Akteure vor Aufgaben von höherem Schwierigkeitsgrad, als sie die preußischen Reformer nach der Nie2 6 Noch in seinen Erinnerungen faßt Meinecke seine emotionalen Vorbehalte gegen die

nur aus Vernunftgründen akzeptierte republikanische Staatsform in einer Kritik an Rathenau und Troeltsch zusammen: "Wieder sind mir, acht Tage später, zwei Mo­ mente in besonders heller Erinnerung geblieben, Rathenau und Troeltsch beriefen eine kleine Versammlung ein, um einen Aufruf zu beraten, der die bürgerlichen Ele­ mente Deutschlands ermahnen sollte, nunmehr die Hand der Arbeiterschaft zu er­ greifen und mit ihr gemeinsam in Abwehr des Bolschewismus die neue deutsche Republik zu schaffen. Es kam die Wendung in dem Entwurfe vor, daß wir den gesche­ henen revolutionären Umbruch ,gutheißen' sollten. Die Versammlung blieb einen Augenblick stumm. Dann ergriff ich das Wort und sagte, daß ich wohl bereit sei, einer unwiderruflichen geschichtlichen Tatsache mich zu beugen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß ich sie aber nimmermehr ,gutheißen' könne. Nach mir wieder­ holte Heinrich Rippler, der Leiter der nationalistischen ,Täglichen Rundschau' das­ selbe. Aber dann brach Troeltsch erregt heraus, daß es doch jammervoll sei, wenn das deutsche Bürgertum in dieser schweren Stunde es nicht verstehe, zusammenzuhalten. Mit innerem Schmerze habe ich da meine Unterschrift dem Aufrufe belassen." In: Friedrich Meinecke: Autobiographische Schriften (1 969), S. 300 f. 27 Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik (1 922) , S. 249. 28 Zur DDP ausführlicher unten, S. 1 1-1 6.

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derlage gegen Napoleon im Jahre 1 807 vor sich sahen. Ernst Troeltsch nahm in der ganzen Breite dieses Problem spektrums als engagierter Verfechter eines republikanischen Neubeginns Stellung. Er urteilte in den allgemeinpo­ litischen Fragen vor dem Hintergrund seiner umfassenden Kenntnis der europäischen und amerikanischen Kulturgeschichte und in den kulturpo­ litischen Reformanträgen von seiner kirchen- und universitätspolitischen Fachautorität her. Dadurch verkörpert Ernst Troeltsch mit seinen Schriften und politischen Interventionen einen bedeutsamen Typus des christlichen Intellektuellen in dieser markantesten Periode der europäischen Intellektuel­ lengeschichte.

2. Nationale Einheit und staatliche Neuordnung Der nationalstaatliche Bestand des Deutschen Reiches erschien Troeltsch im Rückblick vom deutschen Militarismus schuldhaft aufs Spiel gesetzt29 und in der Revolution zusätzlich von zwei Seiten existentiell bedroht. Nur die De­ mokratie könne die Rettung vor dem Bolschewismus bringen. 30 Wenn deren höchste und intelligenteste Repräsentanten wie Walther Rathenau aber in­ folge der "von dem furchtbaren Versailler Frieden geschaffenen Situation" durch "die der antisemitischen Demagogie sich bedienenden Gegenrevolu­ tion zum Opfer fallen, [ . . . ] droht der Bürgerkrieg und das Chaos."31 "Bol­ schewisierung" wie auch "das deutsche Faszistentum"32 bildeten für Troeltsch die radikalsten Bedrohungspotentiale in den Gründungsjahren der Republik. Allerdings brachte er diese beiden Bewegungen nicht in einen unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Er deutete in diesem Bürgerkrieg der Werte und Weltanschauungen die antisemitischen rechts extremen Bewegun­ gen primär als Reaktion auf den "Versailler Frieden" der westlichen Sie­ germächte und erklärte daraus den Haß auf die "Novemberverbrecher" der Regierung Friedrich Ebert, deren Politik er selbst in ihren Grundzügen un­ terstützte. Immer wieder wird die Frage gestellt, inwieweit Troeltschs Anti­ bolschewismus ein Motiv abgab, sich rechten Bünden der "Konservativen Revolution" anzunähern und für kurze Zeit die Kreise von Arthur Moeller 29 Siehe die charakteristischen Korrekturen eines ursprünglich im Weltkrieg unter dem

Titel "Das Wesen des Weltkriegs" verfaßten Artikels, 1 9 1 9 neu unter der Ü berschrift "Wahnsinn oder Entwicklung", in diesem Band, S. 70-93; ebenfalls die kurze Erklä­ rung "Für unsre Selbsterkenntnis", in diesem Band, S. 45. 30 Ernst Troeltsch: Aristokratie, in diesem Band S. 270-283. 3 1 Ernst Troeltsch: Dem ermordeten Freunde, in diesem Band S. 469-475. 32 Ebd.

Nationale Einheit und staatliche Neuordnung

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van den Bruck und Heinrich von Gleichen-Russwurm zu besuchen.33 Troeltsch hat sich während der Gründungswelle privater Berliner Vereini­ gungen zum "Kampf gegen den Bolschewismus" kurzzeitig in solchen Zir­ keln bewegt. Den Ausgangspunkt bildete der zu Beginn des Weltkriegs gegründete "Bund deutscher Gelehrter und Künstler", dessen Vorstand Troeltsch angehörte.34 Bei Kriegsende agierte hier Heinrich von Gleichen­ Rußwurm, der als Vertrauter des preußischen Kultusministers Friedrich Schmitt-Ott galt, als Geschäftsführender Sekretär. Aus dieser Gruppierung, die dem von Ferdinand Avenarius schon vor Kriegsbeginn in der Kunstwart­ bewegung propagierten Ideal eines überparteilichen Bundes der Intelligenz sehr nahekam, bildeten sich bis Mitte 1 9 1 9 die "Antibolschewistische Liga", die "Liga zum Schutz der deutschen Kultur", der "Nationale Club von 1 9 1 9", mit dem Troeltsch Verbindung aufnahm,35 schließlich der "Juni­ Klub" mit dem "Politischen Kolleg". Das "Politische Kolleg" kann als eine Gegengründung zur "Deutschen Hochschule für Politik" angesehen wer­ den, an der Troeltsch selbst aktiv wurde.36 Die politische Chiffre des "Anti­ bolschewismus" leitete die rechtsextreme Gegnerschaft zum Parlamentaris­ mus ebenso wie die bürgerlich-liberale Abwehr der Spartakistenbewegung. Sie brachte insofern Troeltsch in Verbindung zu den genannten Berliner Zir­ keln, ohne daß er seine republikanische Orientierung verlor. Sein Kunst­ wartartikel "Der Bolschewismus" vom September 1 920 macht vielmehr deutlich, wie sehr es ihm um eine Integration des Bürgertums in die neue Re­ publik und nicht um republiksprengende Utopien ging. Troeltsch berief sich dabei auf den in Deutschland politisch wenig beachteten Bertrand Russell, der als intellektueller Rußlandreisender sechzehn Jahre vor Andre Gides be­ rühmtem Bericht "Retour de l'UR.S.S." von 1 936 bereits die europäische Arbeiterbewegung auf die starken Ambivalenzen des sowjetischen Experi­ ments aufmerksam machte: "Hier ist mir das Lehrreichste gewesen ein Be­ richt, den der bekannte englische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell in der amerikanischen Nation (nicht zu verwechseln mit der viel be­ kannteren englischen) als Ergebnis einer Reise nach Sowjet-Rußland veröf33 Vgl. Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? (1 999) , S. 307. 34 Bund deutscher Gelehrter und Künstler: Mitgliederverzeichnis, abgeschlossen Juni

1 9 1 8, Berlin o. 0., S. 2. In der Mitgliederversammlung am 1 0. Mai 1 9 1 8 in Berlin hielt Troeltsch den Vortrag "Die Bedeutung des geschichtlichen Wissens für unsere heu­ tige Bildung", später veröffentlicht unter dem Titel "Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" .... KGA 1 6. 35 Gerhard Schulz: Der "Nationale Klub von 1 9 1 9" zu Berlin (1 962), S. 207-237. 36 Vgl. zu dieser vereinspolitischen Entwicklung Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil (2000) , besonders S. 31-59.

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fentlicht hat. (Saturday, July 3 1 , 1 920.) Russell ist theoretisch-idealistischer Kommunist oder war das wenigstens vor seinem Besuch in Rußland. Zur Be­ sichtigung eingeladen, schloß er sich der englischen Arbeiter-Delegation an und sah zunächst die äußerst sorgfältige und theatralisch wirksame Parade­ darstellung des Bolschewismus, im wesentlichen eine Fülle militärischer Schauspiele und arrangierter Begeisterungen, daneben aber auch im freien Verkehr viele Privatleute aller Art und Richtung sowie die Kapazitäten der bolschewistischen Diktatur. Er hat die nüchtern-sachliche Beobachtungs­ weise und Werteinschätzung des Engländers, die den Phrasen und Theorien abhold ist, dagegen mit scharfem Blick zu den realen Verhältnissen und Grundlagen durchdringt. "37 Diese prekäre Phase nationalstaatlicher Neugründung vor Abschluß des Friedensvertrages im Juni 1 9 1 9, ein "Traumland der Waffenstillstandsperi­ ode, wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Sachfolgen des bevor­ stehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte",38 macht deutlich, warum Troeltsch als wichtigstes Organ für seine regelmäßigen politischen Beiträge eine zur Parteipolitik Distanz wahrende Zeitschrift wie den "Kunst- und Kulturwart" wählte. Der "Kunst­ wart" und der ihm verbundene "Dürerbund" entsprangen der Lebensre­ formbewegung der Vorkriegszeit und dienten dem Versuch, deren Ziele dem liberalen Bildungsbürgertum zu vermitteln. Ernst Troeltsch wurde im Jahr 1 9 1 2 in den Gesamtvorstand des Dürerbundes gewählt, und Avenarius be­ teiligte sich an der Diskussion der "Freunde der Christlichen Welt".39 Nicht näher belegt sind Andeutungen, wonach er Ferdinand Avenarius für den Li­ teraturnobelpreis des Jahres 1 923 vorgeschlagen haben sol1.4o Der "Kunst­ wart" bot Troeltsch über den Weltkrieg hinweg ein Forum der Selbstrefle­ xion und Selbstkritik bürgerlicher Individualitätskultur, die ihm in der Revolution von 1 9 1 8/1 9 zwischen "Links und Rechts" zerrieben zu werden

37 Für seinen Artikel "Der Bolschewismus" (1 920)

KGA 1 4, hat Troeltsch in der Staatsbibliothek Berlin ein Exemplar der amerikanischen Ausgabe von "The Nation" mit Russells Serie zur Verfügung gestanden. Neu ediert in: Bertrand RusselI: Uncer­ tain Paths to Freedom. Russia and China 1 9 1 9-22 (2000) , S. 1 7 5-198. 38 Spectator: Nach der Entscheidung (26. Juni 1 9 1 9) KGA 1 4. 39 Gerhard Kratzseh: Kunstwart und Dürerbund (1 969), S. 466. Belegt ist Avenarius' Teilnahme an der Pfingsttagung von 1 9 1 5 in Eisenach. An die Freunde der "Christ­ lichen Welt", Nr. 53, 22. Juni 1 9 1 5, Sp. 6 1 0: "Avenarius: Der Aufschwung des religiö­ sen Lebens im Kriege war vor dem Krieg schon vorbereitet: Kunstwartbewegung, Christliche Welt, Johannes Müller, Wandervogel". 40 Gerhard Kratzseh: "Der Kunstwart" und die bürgerlich-soziale Bewegung (1 983) , S. 390. -+

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Deutsche Demokratische Partei und republikanische Verfassung

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drohte. Denn von Beginn an hatte Troeltsch erkannt, daß die selbsterklärten "Kämpfer gegen den Bolschewismus" wie Eduard Stadtler in der Haupt­ sache einen antibürgerlichen "Aktivismus" zur Verfolgung ihrer nationalisti­ schen Ziele entfachten, der jede Form von sozialer Demokratie verhindere: "Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland, [ . . . ] Alles ohne Liebe, ohne Selbstbescheidung, ohne die gesunden bürgerlichen Tugen­ den [ . . . ] ."41 Zum einflußreichsten literarischen Organisator der unterschied­ lichen lebensreformerischen Strömungen, dem Jenaer Verleger Eugen Die­ derichs, der im Geist Nietzsches die etablierten Mächte von Kirche, Wissen­ schaft und Schule kritisierte, hielt Troeltsch ebenfalls losen Kontakt. Er lehnte es zwar ab, nach dem Tod von Ludwig Keller 1 9 1 5 den Vorsitz der von Diederichs geförderten Comenius-Gesellschaft zu übernehmen, beriet ihn jedoch bei der Vorbereitung der Lauensteiner Kulturtagungen von 1 9 1 742 und meldete sich für 1 9 1 8 sogar zur Teilnahme an.43 Alle überpartei­ lichen Intellektuelleninitiativen, das machte sich Troeltsch jedoch im No­ vember 1 9 1 8 rasch klar, konnten bei der Errichtung eines parlamentarischen Herrschaftssystems keinen Ersatz für den Ausbau eines effizienten Partei­ wesens bieten.

3. Deutsche Demokratische Partei und republikanische Verfassung Im revolutionären Wandel sah Troeltsch eine Notwendigkeit, die Geschichte der Bismarckschen Reichsgründung zu berichtigen und Anschluß an ,,1 848" zu finden.44 Den epochalen Vergleich zwischen 1 9 1 8 und 1 848 zog in ihrer ersten Nummer auch die zum 1 . Januar 1 9 1 9 gegründete Monatsschrift "Die Deutsche Nation". Troeltsch erwähnte sie neben der "Frankfurter Zeitung" als seine bevorzugte Quelle, mit der er sich verfassungspolitisch auf aktuel-

41 Spectator: Links und Rechts (20. Februar 1 9 1 9) --+ KGA 1 4, vgl. unten, S. 26 f. 42 Vgl. Gangolf Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Ver­

lags im Wilhelminismus (1 987) ; ders. : Eugen Diederichs' Bemühungen um die Grund­ legung einer neuen Geisteskultur (1 995); ferner Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1 896-1930) (1 998) , S. 94, auch S. 240 und S. 288. 43 Brief an Wolfgang Schumann, 6. Mai 1 9 1 8 --+ KGA 1 8/ 1 9. Troeltsch machte 1 921 die "Instinkte des Diederichsschen Verlages" dafür verantwortlich, daß der "Antiintel­ lektualismus" für die politische und religiöse "Maßstabbildung" bereits in der Vor­ kriegszeit breiten Raum gewinnen konnte; Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft --+ KGA 1 3 . 44 Ernst Troeltsch: Sozialismus, i n diesem Band, S . 357-370.

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lern Stand halte.4s Mit seinem historischen Vergleich befolgte Troeltsch seine geschichtsphilosophische Devise, wonach das "Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie ist".46 Damit ist der Bezugspunkt seiner Geschichtspolitik markiert, in deren Konsequenz der Beitritt zur Deut­ schen Demokratischen Partei lag. Die DDP profilierte sich in der Grün­ dungsgeschichte der Weimarer Republik in der 1 848er Tradition des deut­ schen Liberalismus im Sinne der reformorientierten Bestandswahrung der politischen Ordnung als entschiedenste "republikanische Verfassungspar­ tei".47 Die Demokratie als "Rettung der Ordnung", genau so wünschte sich Troeltsch die Rolle der DDP in der Weimarer Koalition mit Sozialdemokratie und katholischer Zentrumspartei.48 "Die heutige deutsche Demokratie oder demokratische Staatsordnung ist keineswegs das Ergebnis der Revolution, sie ist vielmehr in der Hauptsache das Gegengift gegen die Revolution gewe­ sen" - mit solchen öffentlichen Bekenntnissen positionierte sich Troeltsch auf dem rechten Flügel der keineswegs homogenen DDP-Führung, die pro­ grammatisch um eine "Weltanschauung der Demokratie" rang.49 Welche Rolle spielte Troeltsch, der sich beklagte, er sei "halbtodt von Geschäften, Arbeiten, Sitzungen Vorträgen, Korrespondenzen",so für die DDP? Troeltsch hatte sich erst im Laufe des Dezember 1 9 1 8 als "Parteigänger der DDP" zu erkennen gegeben,Sl ließ sich dann aber gleich auf den ersten Listenplatz unter 21 Kandidaten zur Wahl der Preußischen Nationalver­ sammlung am 26. Januar 1 9 1 9 setzen, vor den Rechtsanwalt Oskar Cassel und vor den Staatslehrer Hugo Preuß. "Der Gelehrte genießt als Nachfolger Pfleiderers in der Wissenschaft den besten Ruf. Seine theologisch-philoso­ phischen Schriften atmen einen liberalen Geist. In der Politik ist er bisher

45 Der Kampf der Paulskirche um die deutsche Reichsverfassung von Francofurtensis,

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in: Die Deutsche Nation (1 9 1 9), S. 33-38; vgl. Spectator: Ernst Troeltsch: Wieder in Berlin (20. Oktober 1 9 1 9) ...... KGA 1 4. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 906/1 1) ...... KGA 8. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland (1988), S. 265 f. Ernst Troeltsch: Aristokratie, in diesem Band, S. 270-283. Ebd., S. 270. Auf der Vorstandssitzung am 6. Dezember 1 9 1 9 zur Vorbereitung des außerordentlichen DDP-Parteitages in Leipzig vom 1 3. bis 1 5. Dezember 1 9 1 9 wurde Troeltsch für eine solche Kommission "zur Verbreitung der demokratischen Weltanschauung im Reich" als Mitglied vorgeschlagen, vgl. Linksliberalismus in der Weimarer Republik (1 980) , S. 1 0 1 . Brief an Paul Natorp, 3. Februar 1 9 1 9 ..... KGA 1 8/1 9. Hartrnut Ruddies: Soziale Demokratie und freier Protestantismus (1 984), S. 1 45-1 74, hier: S. 1 59.

Deutsche Demokratische Partei und republikanische Verfassung

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weniger nach außen hin hervorgetreten", s o führte das "Berliner Tageblatt" den Spitzenkandidaten der "Liste Troeltsch" in der Endphase des preußi­ schen Wahlkampfes nicht ohne einen skeptischen Beiklang ein. 52 Troeltsch selbst sah sich "wegen gegenrevolutionärer Neigungen" der ablehnenden Haltung der "Tageblatt-Gruppe" um den Chefredakteur Theodor Wolff aus­ gesetzt. Denn Wolff hatte gemeinsam mit Alfred Weber durch den Grün­ dungsaufruf vom 1 6. November 1 9 1 8 die DDP als radikaldemokratische Neugründung von allen liberalen Parteien des Kaiserreichs entschieden ab­ grenzen wollen. Troeltsch zählte hingegen zu den Verfechtern einer umfas­ senderen bürgerlichen Sammlung in der Tradition des wilhelminischen Sozi­ alliberalismus um Friedrich Naumann. Erst als im Anschluß an die formelle Parteigründung vom 20. November die gemäßigte Strömung den Kurs der DDP bestimmte, konnte sich Troeltsch zum Beitritt entschließen. Die DDP war die Partei der städtischen Protestanten, der Beamten und der gewerk­ schaftlich organisierten Angestellten, interessenpolitisch verbunden mit liberalen Wirtschafts- und Berufsverbänden und ideenpolitisch verknüpft mit der bürgerlichen Frauenbewegung. Der aus dem Kaiserreich übernom­ mene Intellektualismus mit Präferenzen für eine freisinnige Individualkultur machte diese Partei attraktiv für "politische Professoren" wie den äußerst kämpferisch eingestellten Max Weber oder den ehemaligen Heidelberger Freund Ernst Troeltsch.53 Insgesamt war die DDP in der Verfassunggeben­ den Preußischen Landesversammlung einschließlich Troeltsch mit sieben Professoren vertreten. 54 Eine wichtige Gruppierung, über die Troeltsch gleichzeitig mit Max We­ ber in den Wahlkampf der Reichshauptstadt eingeführt wurde, stellte die 52 Berliner Tageblatt, Nr. 3 1 , 24. Januar 1 9 1 9, S. 1 : Vor den preußischen Nationalwah­

len. Die demokratischen Kandidaten für Groß-Berlin. 53 Zur Geschichte der DDP vgl. Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am An­

fang der Weimarer Republik (1 972) ; mit zusätzlichen Quellen auch Ludwig Lucke­ meyer: Die Deutsche Demokratische Partei von der Revolution bis zur Nationalver­ sammlung 1 9 1 8-1 919 (1 975); zu liberalen Kontinuitätslinien am Beispiel Friedrich Naumanns, des ersten Parteivorsitzenden, vgl. Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik (1 983); zur sozialen und Berufsstruktur der preußischen DDP-Fraktion vgl. Joachim Stang: Die deutsche demokratische Partei in Preußen 1 9 1 8-- 1 933 (1 994) , S. 1 1 7-1 41 . 54 Zum Vergleich die Zahlen für die übrigen Parteien: Zentrum (4), DVP (2), DNVP (3), SPD (keine) , vgl. August Plate (Hg.): Handbuch für die verfassunggebende preußi­ sche Landesversammlung, Berlin: Preußische Verlags-Anstalt, 1 9 1 9; und die Zahl der Professoren in der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung von 1 9 1 9: DDP (3) , Zentrum (4), DVP (3), DNVP (1), SPD (1), vgl. Handbuch der verfassung­ gebenden deutschen Nationalversammlung Weimar 1 9 1 9 (1 920) .

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Einleitung

Berliner Studentenschaft dar. Troeltsch sprach am 1 6. Dezember 1 9 1 8 vor dem "Demokratischen Studentenbund Berlin".55 Max Weber sprach im An­ schluß an seine Teilnahme an den Verfassungsberatungen im Reichsamt des Innern am 20. Dezember auf Einladung der DDP-Bezirksgruppe Berlin­ Mitte ebenfalls vor der Berliner Studentenschaft und an gleicher Stelle wie Troeltsch über "Deutschlands Lage".56 Ob Troeltsch als Mitglied dieser Bezirksgruppe auf die Einladung Max Webers hingewirkt hat, läßt sich nicht nachweisen. In leichter Abweichung von der Parteimehrheit ruhten Webers und Troeltschs "demokratischer Liberalismus" auf den gleichen drei Säulen einer föderativen Reichsstruktur,57 der Regierungsform einer parlamenta­ rischen Republik, aber legitimiert durch einen vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten.58 Troeltsch trat auch der am 1 8. Januar 1 9 1 9 in der Ziegelhäuser Landstraße 1 7, dem Haus Max Webers, in dem er bis zu seinem Umzug nach Berlin gewohnt hatte, gegründeten "Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts", der sogenannten "Heidelberger Vereinigung", bei.59 Eine emotionale Verständigung der beiden "Fachmenschenfreunde" hat es allerdings nach dem Bruch zu Beginn des Weltkrieges nicht mehr gege­ ben.60 Troeltsch wurde am 26. Januar 1 9 1 9 als Abgeordneter der DDP in die Verfassunggebende Preußische Landesversammlung gewählt. Am 26. März trat er das Amt des Parlamentarischen Unterstaatssekretärs im preußischen Kultusministerium unter Konrad Haenisch (SPD) an, das er mindestens bis Juni 1 920 innehatte.61 Hier war er mit den zentralen Fragen der preußischen 55 Unten, S. 397. 5 6 MWG 1/1 6, S. 40 1-409. 57 Zu Troeltschs Auffassung über die "Unterstellung Preußens unter die Zentralgewalt"

des Reiches und den "Fluch" des einzelstaatlichen Partikularismus vgl. aber seinen Artikel "Der Partikularismus der Deutschen", in diesem Band, S. 239-241 . 58 Ebd., S. 241 . 59 Unten, S. 62 f. 60 Zur geschichtsphilosophischen Abkehr Troeltschs gegenüber Webers Wissenschafts­ auffassung vgl. in dieser Einleitung unten, S. 33-36. Zu generellen Vergleichsaspek­ ten vgl. Friedrich Wilhe1m Graf: Fachmenschenfreundschaft (1 988) . 61 Troeltsch hob zum 1 . Juli 1 920 sein Pseudonym als "Spectator" mit der Bemerkung auf: "Um völlig unabhängig zu sein und auf gar keine Wirkung hinschielen zu müs­ sen, habe ich diese Briefe anonym gehalten. Auch wollte ich weder meiner Partei noch der Regierung, der ich als sehr unabhängiges Mitglied ehrenamtlich angehört habe und anzugehören für Pflicht hielt, keine Schwierigkeiten machen.", in: Spektator­ Briefe (1 924) , S. 1 49 f. ...... KGA 1 4. Den Staatsministerial-Sitzungsprotokollen ist zu entnehmen, daß Troeltsch vom 1 4. April 1 9 1 9 bis letztmalig am 22. September 1 920 an den Sitzungen des Preußischen Staatsministeriums teilgenommen hat. GStA PK,

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Kulturpolitik, insbesondere den neuen Kirchenordnungen, befaßt. In die parlamentarischen Debatten hat Troeltsch nur ein einziges Mal eingegriffen, am 8. Juli 1 9 1 9 als amtlicher Vertreter des Kultusministers bei den Lesun­ gen über das Gesetz zur Neuregelung der Evangelischen Landeskirche in Preußen.62 Den wirkungsvollsten parteipolitischen Erfolg erzielte Troeltsch mit sei­ ner Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der DDP am 1 5. Dezember 1 9 1 9 über "Kulturpolitik".63 Hier wurde unter seiner Beteiligung auch das maßgebliche Parteiprogramm verabschiedet. Es sah in seinen drei Hauptab­ schnitten über Staat, Kultur und Volkswirtschaft das uneingeschränkte Be­ kenntnis zur Weimarer Verfassung, aber ebenso deutlich die Revision der Friedensverträge von Versailles, die Errichtung eines "deutschen Kultur­ staats" auf der Basis der "allmählich" durchzuführenden Trennung von Staat und Kirche sowie die sozialrechtliche Organisation der Marktwirtschaft vor.64 Troeltschs politische Schriften orientierten sich erkennbar an diesen Zielen, er teilte den staats zentrierten Grundzug dieses Programms, auch wenn sein Modell der "elastisch gemachten Volks kirche" demgegenüber stärker die Züge einer gesellschaftlichen Selbstorganisation aufzuweisen be­ gann. Gegenüber praktischer Parteiarbeit, in die sich etwa Martin Rade we­ sentlich stärker einbinden ließ,65 sah Troeltsch seine Hauptaufgabe als Publi­ zist wie als Redner in der Herstellung einer neuen politischen Öffentlichkeit. Primär durch eine geistesgeschichtliche Versöhnung des protestantischen Bürgertums mit den demokratischen Institutionen und der ungewohnten pluralistischen Werteordnung schien ihm die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung gewährleistet zu sein. In seiner mit Emphase vorgetrage­ nen Rede auf dem erwähnten Parteitag forderte er ein "demokratisches Kul­ turprogramm" für alle Bereiche, "wo politische Maßnahmen, Institutionen, Gesetze in die lebendige Freiheit des Kulturlebens eingreifen", also im Bil-

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Rep. 90a, Abt. B, Titel lII, 2b, N r. 6, Band 1 69. Seit dem 7. Mai 1 920 wurden die par­ lamentarischen Unterstaatssekretäre mit der Dienstbezeichnung "Staatssekretär" ge­ führt. So sind auch einige spätere Artikel Troeltschs gekennzeichnet. Mit dem preu­ ßischen Kabinettswechsel vom 21 . April 1 921 wurde das Amt abgeschafft, vgl. Hans Schneider: Die Parlamentarischen Staatssekretäre in Preußen 1 9 1 9-1921 (1 973) , S. 572 f. Abdruck in: Amtliche Schriften, Reden und Gutachten KGA 20. In drei Fassungen anschließend veröffentlicht, in diesem Band unter dem Titel "De­ mokratische Kulturpolitik", S. 3 1 3-354. Abdruck bei Wilhelm Mommsen: Deutsche Parteiprogramme (1 960) , S. 508-5 1 4. Anne Christine Nagel: Martin Rade - Theologe und Politiker des Sozialen Liberalis­ mus (1 996), S. 1 6 1-1 98. -+

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Einleitung

dungs- und Schulsektor, in der staatsrechtlichen und inhaltsbezogenen Tren­ nung von Staat und Kirchen, folgerichtig auch in der Frage des Religions­ unterrichts, schließlich, diesen Punkt stellte Troeltsch sogar voran, gehörte hierzu auch die Einrichtung einer "demokratischen Zensur" zum Schutz der Republik.66 In dieser herausgehobenen Parteitags rede wird auch erkennbar, daß Troeltsch die juristische Dimension der Trennung der Institutionen von Staat und Kirche gegenüber der kulturpolitischen als nachrangig erschien.

4. Christliche Kirchen und liberaler Kulturstaat Neben der Integration der Arbeiterschaft in die wirtschaftliche Nachkriegs­ ordnung zählte die neue Ortsbestimmung der Kirchen durch die Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments und die neue Abstimmung des Bil­ dungswesens auf die Wertkonflikte einer weitgehend pluralisierten Gesell­ schaft zu den Grundproblemen der Weimarer Verfassungsväter. Bei aller Säkularisierung waren die Konfessionen im Kaiserreich "normsetzende Mächte des individuellen wie des sozialen Lebens"67 geblieben. Entspre­ chend leidenschaftlich wurde nach dessen Untergang um kirchliche Macht­ anteile gestritten. Der Kirchentag in Dresden im September 1 9 1 9, die erste große gemein­ same Ortsbestimmung des Protestantismus in der neuen Republik, bereitete Troeltsch die Erfahrung, daß der Kulturprotestantismus in der Form, in der er im Kaiserreich gegenüber der herrschenden "politischen Klasse" bürger­ lich-liberale Gegeneliten ausgelesen hatte, auch jetzt nicht die tonangebende Schicht stellen würde.68 Denn vom Kirchentag wurde der "freisinnige Pro­ testantismus", wie ihn insbesondere Martin Rade mit seiner Lebensarbeit, der Organisation der "Freunde der Christlichen Welt", verkörperte, in eine klare Minderheitenposition gedrängt. Es dominierte ein dem internationalen Publikum vor Augen geführtes "konservativ-national geprägtes Profil".69 Troeltsch mutmaßte in einer ausführlichen Kritik des Dresdner Kirchenta­ ges für Friedrich Naumanns Zeitschrift "Die Hilfe", daß die protestantische Kirche sich in dieser Zusammenführung der Kirchenleitungen und Synoden mehrheitlich und stärker als der Katholizismus zu den Kräften "geistiger 66 Ernst Troeltsch: Demokratische Kulturpolitik, in diesem Band, S. 3 1 3-354. 67 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1 866-1 91 8, Erster Band (1 990) , S. 428. 6 8 Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (1 994) ; zur politischen Eliten­

bildung vgl. Dieter Langewiesche: Die politische Klasse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (1 999) , S. 1 1-26. 69 Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, (1 981), S. 70.

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Gegenrevolution" gesellen und damit auch seine persönliche Arbeit ent­ scheidend beeinträchtigt werde.70 Der Kulturprotestantismus verlor bereits durch diese erste nationale Kir­ chenversammlung merklich an Selbstbewußtsein und Vertrauen in die eige­ nen liberalen Leitbilder. Erhebliche Unsicherheit zeigte er darin, die "Demo­ kratie" nicht nur als eine verfassungstechnische Unumgänglichkeit zu tolerieren, sondern sie sich als Kulturwert einer zeitgemäßen Herrschafts­ ordnung anzueignen. So entbrannte unter den "Freunden der Christlichen Welt" eine Debatte über die Neuorganisation als "Führergemeinschaft".71 Spätestens seit Dresden trat auch die Rivalität Ernst Troeltschs und Martin Rades als der beiden führenden liberalen Theologen im preußischen Landtag offener zu Tage. Auf der Jahresversammlung der "Freunde der Christlichen Welt", dem bedeutendsten Forum des "freien Protestantismus", referierte Troeltsch durch eine Programmumstellung als Schlußredner am 2. Oktober 1 9 1 9 in Eisenach über sein wichtigstes Anliegen, den "Geist" der neuen Re­ publikJ2 Der Vorsitzende Rade monierte in der vereinsinternen Aufberei­ tung die mangelnde Konkretisierung für den Zusammenschluß aller freipro­ testantischen Gruppierungen: "Wenn auch dadurch bei Troeltschs sprühend geistvoller Art eine Steigerung in der Wirkung herauskam, so war uns doch leid, daß der Fortschritt vom Weiteren zum Engeren dadurch gestört wurde.' mehr gibt und es überhaupt den Militär- und Beamtenstaat im alten Stile sicherlich niemals wieder geben wird. Wie damit in allen Stücken das natürliche, von der Lage geforderte Ver­ hältnis der Staatsordnung zur wirklichen gegenwärtigen Gesellschaftslage wird hergestellt werden müssen, so wird auch die Folge aus der Veränderung der Stellung der Kirchen zur Bevölkerung, die die letzten zwei Jahrhunderte gebracht haben, mit Notwendigkeit gezogen werden müssen. Die seelische

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In den protestantischen deutschen Ländern war vor 1 9 1 8 der Landesherr, sofern Pro­ testant, Inhaber des Summepiskopats (Oberbischoftums) der jeweiligen Landeskir­ che. Mit der Revolution von 1 9 1 8 entfiel dieses Rechtsinstitut. Die außerordentliche Kirchenversammlung zur Feststellung der Verfassung für die evangelische Landes­ kirche der älteren Provinzen Preußens entschied sich mit knapper Mehrheit am 2 1 . September 1 922 gegen die Einführung des Bischofstitels. Nach 1 9 1 8 wurde das evangelische Bischofsamt nur in einigen norddeutschen Landeskirchen (Meeklen­ burg, Schleswig-Holstein, Hannover, Braunschweig, Freistaat Sachsen) eingeführt, wo das orthodoxe Neuluthertum dominierte. In anderen deutschen Landeskirchen wurden die Titel geistlicher Kirchenpräsident, Senior, Prälat, Landesprobst oder Lan­ desoberpfarrer eingeführt.

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Einheit von Staat, Gesellschaft, Religion und Sitte, die ältere Zeiten annä­ hernd hatten, war etwas Großes; aber dieses Große ist längst dahin und an seine Stelle die Karikatur des paritätischen modernen Religionsstaates getre­ ten, der nur für Kleinbürgertum und ländliche Bevölkerung immer noch der normale Ausdruck ihres Lebensgefühls war und der seine guten Seiten we­ sentlich auch nur für diese Schichten entfaltete. Also die "Trennung" als sol­ che ist unausweichlich. Aber sie kann und muß nunmehr ohne Feindseligkeit und Geringschätzung vorgenommen werden, muß im Sinne des Respektes vor staatlich unkontrollierbaren Gewissensmächten und im Sinne schonen­ der Überleitung und der Achtung aller bisherigen Besitzrechte erfolgen. Auf der anderen Seite können und müssen die Kirchen von sich aus eine solche Trennung im Interesse ihrer Innerlichkeit und Selbständigkeit auch ihrerseits wünschen und vertreten, zugleich mit dem Willen, der Gesellschaft an gei­ stigen und ethischen Kräften nunmehr doppelt zu leisten, was sie bisher dem Staate an Festigung seines Gefüges geleistet hatten. Mit anderen Worten: wir müssen uns von Seite des Staates und der Gesellschaft wie von Seite der Kir­ che möglichst auf den amerikanischen Sinn und Ton der Trennung stimmen, vorbehaltlich all der Besonderheiten, die die historische Sach- und Rechts­ lage bei uns mit sich bringt. Die - übrigens großen Schattenseiten, die das amerikanische System im Gefolge hat und die über den Schattenseiten unse­ res bisherigen Systems nicht übersehen werden dürfen, müssen wir in den Kauf nehmen, und werden sie bei richtiger Durchführung I der Trennung, d. h. bei Vermeidung des bloß privaten Vereinscharakters auch verringern können. Alle Einzelheiten gehören dem Staatsrecht an oder der eigenen in­ neren Arbeit der Kirchen, in der sie sich die neue Ordnung nach innen und außen geben. Die Kirchenrechtslehrer werden nun endlich einmal etwas zu tun bekommen und aus dem Vollen heraus arbeiten können. Schwierig ge­ nug sind die Dinge, zumal für die protestantischen Kirchen. Aber davon ist hier nicht näher zu handeln, ebensowenig wie von der dringend notwendi­ gen Erfrischung und Verinnerlichung der Kirchen selbst. Aber so schonend und rücksichtsvoll die Trennung vollzogen werden kann, einen Punkt gibt es, der auch beim besten Willen ein überaus schwie­ riger Streitpunkt bleibt und durch die Verwicklung der Sache bleiben muß: das Problem des Religionsunterrichtes. Man kann auch dieses Problem rein im amerikanischen Sinn zu lösen ver­ suchen. Dann müßte man auf jeden Religionsunterricht in der Schule total verzichten und ihn rein der Sonntagsschule und der kirchlichen Unterwei­ sung, also auch rein dem kirchlichen Unterrichtspersonal, zuweisen. Ich will nicht hervorheben, daß dieses System auch in Amerika nicht mit voller Strenge eingehalten wird, sondern namentlich die Katholiken durch Mitbe­ nützung der Schulräume an bestimmten Tagen doch eine gewisse Verbin-

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dung herbeigeführt haben; auch bildet die freie Tätigkeit von Lehrern der Staatsschule in dem kirchlichen Unterricht tatsächlich eine solche. Wichtiger ist, daß die Amerikaner selbst in diesem System einen Mangel empfinden und der Schule etwas wie Ethik und Weltanschauung zuführen möchten, ohne dabei doch in die Domäne der Kirchen überzugreifen. Auch gibt es dort den Ausweg reichlicher Einrichtung von rein konfessionellen Schulen auf privater Grundlage. Ich habe in der Chicagoer Schulausstellung7 sehr hübsche Leistungen lutherischer Schulen gesehen. Aber die Hauptsache ist doch, daß dieses System bei uns ideell und technisch nicht wohl durchzufüh­ ren ist und große Teile der anders gewöhnten Bevölkerung aufs höchste zu verstimmen droht. Man darf in diesen Dingen nicht bloß an die Großstadt denken, sondern muß auch an Kleinstadt und Dorf denken, die es wiederum im deutschen I Stil in Amerika kaum gibt. Technisch würde das überdies den Kirchen eine Last a n Stellung von Unterrichtspersonal und Räumen auferlegen, die sie zu bezahlen nicht imstande sein würden. Laienhelfer, an die man natürlich denken muß, würden nur dem Protestantismus genügen, aber auch ihm nicht leicht genügend und zuverlässig zur Verfügung stehen. Die Bauern vollends würden eine solche Separierung gar nicht verstehen und eine Schule ohne j ede Religion für keine Schule halten, ganz abgesehen von der technischen Schwierigkeit der Durchführung. Eine freiwillige Heranziehung von Lehrern, die von der Kirche bezahlt werden müßten, wäre eine unsichere Grundlage und eine allzu große finanzielle Last; auch müßte doch für eine Vorbildung dieser Lehrer und der Laienhelfer gesorgt werden, was wieder teils ein großer Apparat wäre, teils für die Kirche gar nicht möglich ist. Auch die Freigebung der konfessionellen Privatschulen wär ein für den Staat mißlicher Ausweg, der überdies vor allem dem Katholizismus mit seinem billigen Ordensmaterial zugute kommen, die Konkurrenz von Staats- und Privatschulen eröffnen und bei der Armut der Kirchen überdies selten ver­ wirklicht werden würde. Allein wichtiger noch als diese technischen Schwie­ rigkeiten, die ja nur solche für die Kirche sind, ist vom Standpunkt der Schule und des Volksganzen aus ein totaler Ausfall der Religion aus ihren Unter­ richtsstoffen und Erziehungsmitteln, sowie eine etwa ungenügende Erledigung der Aufgabe durch die ganz an Stelle der Schule tretende Kirche. Was zunächst die letztere betrifft, so würde in der Tat ein Scheitern der Kirchen 7

Auf seinem Weg zum "World Congress of Arts and Sciences" in St. Louis, der am 1 9 . September 1 904 im Rahmen der Weltausstellung " 1 904 Louisiana Purchase Ex­ position" (30. April 1 904 bis 1 . Dezember 1 904) begann, verbrachte Troeltsch meh­ rere Tage in Chicago. Dort hielt er sich vom 5. bis mindestens zum 1 6. September auf und besuchte vermutlich eine Ausstellung zum j ährlichen Schulbeginn, über die nichts Näheres bekannt ist.

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in der Lösung dieser Aufgabe, mit dem bei den bevorstehenden finanziellen Verhältnissen und bei zahlreichen Austritten sehr wohl zu rechnen ist, den Ausfall eines wichtigsten Mittels der sittlichen Erziehung und der Wahrung der geistigen Kontinuität mit der Vergangenheit bedeuten. In Zeiten, wo der unhistorische Radikalismus weniger Trumpf ist als im Moment und wo man nach ethischen Erziehungsmitteln zu suchen vielfach Anlaß haben wird, da wird man einen solchen Ausfall der bloßen Trennungstheorie zuliebe nicht gerne auf sich nehmen. Vor allem aber wird die Schule selbst dieses Erzie­ hungsmittel nicht völlig entbehren wollen, werden auf den niederen Stufen viele Lehrer ein derart den Weg zum Gemüt und zur I Phantasie öffnendes Fach nicht vermissen wollen und wird man auf den höheren für das histori­ sche Verständnis unserer Kultur sowie für das unserer geistigen Lage ein Eingehen auf diese Dinge nicht vermeiden können und wollen. Dann aber ist eine geordnete Unterweisung vorauszusetzen, die organisch mit dem üb­ rigen Unterricht verbunden ist. Gerade wenn der Unterricht weniger ein Sammelsurium von Fächern als eine einheitliche geistige Erziehung sein soll, wird man das nicht entbehren können. Zum lediglich kirchlichen Religions­ unterricht gehört als Korrelat eine das Gewissen nirgends berührende reine Fachschule. Aber gerade das ist es ja, was man bei uns mit gutem Grunde nicht will, sondern dem man die Erziehungs- und Bildungsschule entgegen­ stellt, die das Gebiet der Ethik und Weltanschauung gar nicht vermeiden kann. Dann wären wir also doch wieder bei der Religion auf der Schule. Wie kann aber diese unter der stets festzuhaltenden Voraussetzung der Tren­ nung dann gestaltet und eingegliedert werden? Man könnte zunächst daran denken, den Religionsunterricht einfach kirchlich beauftragten Personen zu überlassen und so kirchliche Katecheten aller Denominationen an der Schule zuzulassen und in deren Gefüge einzustellen. Allein auch hier liegen die technischen und ideellen Schwierigkeiten auf der Hand. Der Unterricht müßte im Interesse der Gewissensfreiheit fakultativ sein und die Teilnahme mindestens bis zum 1 4. Jahre von der Verfügung der Eltern abhängen. Daß grundsätzlich Konfessionslose dabei dann fernbleiben und gar keine Unter­ weisung erhalten, müßte man dabei in den Kauf nehmen, ist aber in Wahr­ heit eine Frage der Quantität. Denn wenn unter gewissen Umständen nur ein ganz kleiner Anteil von Schülern diesem Religionsunterricht sich hingibt, dann wäre der Zweck wenigstens vom Standpunkt der Schule aus verfehlt. Auch viele persönliche Verärgerungen und Verhetzungen würden dabei, na­ mentlich in kleinen Verhältnissen, möglich; doch müßte man damit sich eben abfinden. Aber es bleibt eine große Schwierigkeit für die Kirchen, den per­ sonalen und finanziellen Aufwand zu bestreiten [ ) und es bleibt eine Arbeits­ , verschwendung, daß das, was der Lehrer leicht mitbesorgen könnte und wo-

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rin er durch seine Kenntnis der Kinder unterstützt würde, von einem I andern mühsamer und umständlicher getan werden muß. Ein kirchlicher Theologe oder Helfer, der immer nur Katechet wäre, erstickte oder mecha­ nisierte sich in dem ewigen bloßen Religionsunterricht, während dieser für den Lehrer eine Abwechselung und Erfrischung sein und von ihm in das Ganze einbezogen werden könnte. Gerade damit aber ist die eigentlichste Schwierigkeit berührt. Die Lehrer der unteren Klassen und auf dem Lande, um die es sich hierbei handelt, werden doch vielfach nur sehr ungern auf diesen Unterricht verzichten. Durch die bloßen kirchlichen Katecheten würde eine innere Eingliederung, die man wünscht, doch nicht erfolgen. Das kann nur durch Lehrer geschehen, die auch den sonstigen Unterricht in der Hand haben und die selbst in der Vereinigung dieser Aufgaben eine innere Belebung erfahren. Die bloßen kirchlichen Katecheten bleiben schwer verdauliche Fremdkörper, wie sie das heute schon vielfach sind. Dann fiele also der Religionsunterricht doch aus dem Gesamtplane und dem Gesamtgeist der Schule aus, und die Schule hätte nur fremde Einflüsse sich aufgeladen, die von außen her bestimmt und geleitet werden. Die Einheitlichkeit der Er­ ziehung und die Geschlossenheit der Lehrerkollegiums litte darunter in gleichem Maße, statt daß die Einheitlichkeit in Plan und Arbeit das Hauptziel bilden könnte. Und wollte vollends der Staat bei der finanziellen Unzuläng­ lichkeit der Kirchen die Katecheten mit erhalten helfen, dann wäre erst recht die Anomalie eines Fremdkörpers vorhanden, der doch wieder staatlich anerkannt und bezahlt ist, aber mit den übrigen Schulorganen gar nicht zu­ sammenhängt. Es ist also auch dieser Weg aus äußeren und inneren Gründen sehr schwer gangbar. Vor allem der Gedanke der Erziehung und Bildung selber litte schwer, wenn das religiöse Elemel1t nicht in der Hand der Schule und der Lehrer selbst läge und in den Gesamtplan des Unterrichts nicht eingebaut werden könnte. So wird man denn zu einem dritten Ausweg kommen, zu dem Gedanken eines selbständigen und konfessionslosen, von der Schule zu organisierenden Religions- und Moralunterrichtes, der das dogmatische und kirchliche Element dem Unterricht der Kirchen überließe, dafür aber sich an die historische Tatsache und Entwicklung der Religion hielte und nur die großen allgemeinen religiösen und ethischen Gehalte des I Christentums auf diesem Wege zur Geltung brächte. Der Gedanke scheint einfach und ver­ führerisch und ist daher namentlich in Lehrerkreisen vielfach vertreten. Das würde der Schule und dem Lehrer einen herrlichen Stoff geben, die konfes­ sionellen Gegensätze mildern können und dem ganzen in der Luft liegenden Gedanken einer überkirchlichen Religiosität zu einer praktischen Wirkung und Organisation verhelfen. Den Sondereigentümlichkeiten der Kirchen müßte durch Takt und Zurückhaltung in den Streitpunkten Rechnung getra-

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gen werden, und die Schüler könnten dann unter den beiderseitigen Einwir­ kungen der Kirchen und der Schule zu selbständigem Denken und Entschei­ den reifen. In der Tat hat man in Frankreich zu einem ähnlichen Ausweg sich entschlossen und in der Instruction civique eine Verbindung von allgemeiner Morallehre, Bürgerkunde, allgemeinster Religionsgeschichte und sehr blas­ ser religiöser Metaphysik geschaffen.8 Ich habe einmal in Paris ein Exemplar eines solchen Lehrbuches erworben, fand es aber dann sehr matt und inhalt­ los und begriff sehr gut die Wirkungslosigkeit eines solchen Unterrichts so wie die leidenschaftliche Opposition der Katholiken. Das deutet nun aber auf die ungeheuren Schwierigkeiten hin, denen ein solcher Ausweg auch bei uns begegnen würde, auch wenn wir das eigentlich Religiöse sehr viel stärker betonten als die Franzosen. Es wäre dann eben doch eine Art Schulreligion neben den Kirchenreligionen, eine Bearbeitung und Verwaltung des religiö­ sen Gedankens durch die Staatsschule und die Bildungsstätten, von denen die Lehrer sich ihre Kenntnis dieser Dinge holen. Das wäre an sich natürlich kein Unglück und könnte bei dem heutigen Stande der Religionsgeschichte und Religionsphilosophie dem Unterricht überaus fesselnde und gehaltrei­ che Stoffe zuführen. Nimmt man an, daß sich nur Lehrer der Sache widmen, die eine innere Neigung dafür haben und daß die zentrale Schulverwaltung für die nötige Zurückhaltung gegenüber den Kirchen einsteht, dann wäre le­ diglich vom Standpunkt der Schule und des Gesamtlebens aus ein mehr als erträglicher Standpunkt erreicht. Die außerordentliche Schwierigkeit liegt aber gerade bei der Durchführung des Trennungsgedankens in dem Verhal­ ten der Kirchen und der von ihnen beeinflußten politischen Gruppen zu einer solchen Regelung. Die Katholiken würden niemals auf einen solchen Gedanken I eingehen, einen solchen Unterricht, wenn sie überhaupt seine Einrichtung zulassen würden, grundsätzlich bekämpfen und ihre Jugend

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Entsprechend den Bestimmungen des Art. 2 des Gesetzes vom 28. März 1 882 und dem Gesetz vom 9. Dezember 1 905 (Trennungsgesetz) darf in öffentlichen Schulen in Frankreich, den Schülern im Alter von 6 bis 1 3 Jahren nur außerhalb ihrer Schul­ stunden Religionsunterricht erteilt werden. Schulische Erziehung darf nicht durch eine religiöse Weltanschauung bestimmt sein. Die französischen öffentlichen Schulen machen sich vielmehr eine allgemein sittliche Erziehung zur Aufgabe: "Praktischer Unterricht durch Unterredung und Beispiele, Grundsätze der praktischen Moral mit besonderer Berücksichtigung folgender Gegenstände: Pflichten des Kindes gegen seine Eltern und Verwandten, gegen die Untergebenen, die Mitschüler, gegen das Va­ terland, gegen sich selbst, die übrigen Menschen, die Tiere; Pflichten gegen Gott, ohne jeden konfessionellen Charakter. Lehren über die äußeren Güter, über die Seele. Im höheren Kurs: Entwicklung der Lehren über die Familie, die Gesellschaft, das Va­ terland.", in: Karl Rothenbücher: Die Trennung von Staat und Kirche (1 908) , S. 27 1 .

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von ihm zurückhalten. Nicht viel anders würden die orthodoxen Protestan­ ten und Pietisten sich dazu verhalten. Dann müßte man von einem solchen Unterricht alle die Teilnahme Ablehnenden dispensieren und diesen dann doch wieder einen konfessionellen Unterricht stellen oder sie den Kirchen anheimgeben. Man würde also das System der selbständigen Schulreligion durch das der Heranziehung kirchlicher Katecheten oder der einfachen Überlassung an den kirchlichen Unterricht ergänzen und dürfte nur darauf rechnen, daß die protestantischen Kirchen bei dem Mangel an Unterrichts­ personal schließlich doch nicht allzuviel Schwierigkeiten machen. Damit aber sind Kämpfe aller Art in die Schule hineingetragen, die praktisch von persönlichen Reibungen und Gegensätzen kaum fernzuhalten sind, und ist vor allem die Hauptsache, die organische Stellung des Religionsunterrichts im Erziehungs- und Bildungsganzen wieder gefährdet, ja vielerorts geradezu aufgehoben. Zudem darf man nicht vergessen, daß dieses ganze Programm doch wesentlich nur auf größere Städte und für höhere Schulen paßt, auf dem Lande und in der Volksschule dagegen recht schwierig ist, Schwierigkei­ ten, die auch für etwaige andersartige Verbindungen von Volksschule und höherer Schule, als die heutigen sind, bestehen bleiben. Freilich könnte für die Landschule und die unteren Klassen bei diesem Programm faktisch im wesentlichen der alte Zustand bestehen bleiben und die alte Praxis sich von selbst herstellen; nur die Freiheit des Lehrers wäre größer. Allein die Kirchen werden sich die Aufsicht über einen solchen Unterricht nicht nehmen lassen, vor allem die Katholiken, und jeden kirchlich nicht kontrollierten Religions­ unterricht für einen Eingriff in die Gewissensfreiheit, für einen Staatszwang in Religionssachen erklären und gerade vom Standpunkt der Trennung aus dieses System leidenschaftlich und vermutlich erfolgreich bekämpfen. Man braucht nur an die Kämpfe der englischen Nonkonformisten gegen die ge­ planten Staatsschulen vor einigen Jahren zu denken,9 wo diese die Staats-

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Die Verabschiedung des Erziehungsgesetzes (Education Act) im Jahre 1 902, betrie­ ben von der Regierung des konservativen Premierministers Arthur James Balfour, leitete eine Weiterentwicklung des nationalen Bildungswesens ein und führte zur Bil­ dungsexpansion auf der Ebene der Sekundarstufe. Das neue Gesetz sah im ganzen Land die Abschaffung der lokalen "School Boards" vor sowie die Ü bertragung der Verantwortung für das Schulwesen auf die "Counties" bzw. "County Borough Coun­ cils", denen auch die Privatschulen, einschließlich der konfessionellen Schulen, un­ terstanden. Diese durften ihre Lehrer selbst ernennen. Ihre laufenden Schulkosten konnten die privaten Schulen jedoch, ebenso wie die öffentlichen, aus den staatlichen Schulmitteln decken. In den öffentlichen Schulen wurde konfessionell neutral unter­ richtet, ohne Benachteiligung der Nonkonformisten. Die Anglikaner und Katholiken begrüßten das Gesetz, weil sie die hohen Lasten ihres Schulwesens kaum noch tragen

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schule selbst schon als Eingriff in die Gewissensfreiheit bezeichneten und zum mindesten eine absolute Neutralität der Staats- und Zwangsschule gegen die Religion forderten. Und I auch auf den höheren Stufen sind doch auch die inneren Schwierigkeiten nicht gering, wenn man auch annimmt, daß reifere Schüler in genügender Zahl für die Teilnahme sich entscheiden und daß dieser schließlich fakultative Charakter Ansehen und Würde des Unter­ richts nicht schädigt. Gut erteilt, würde er die Schüler sicherlich zu fesseln vermögen. Aber der Willkür und persönlichen Denkweise des Lehrers ist hier doch in der Tat der bedenklichste Spielraum eröffnet. Er kann hier je nach seiner Neigung schließlich antichristliche, buddhistische, materialisti­ sche, theosophische oder hochorthodoxe Lehren vertreten. Hier gibt es in der Tat keine innerlich notwendige Einheit mehr und beim Wechsel der Leh­ rer oder Schule können die Schüler die buntesten Kurse in allerhand Religio­ nen und Philosophien erhalten, die den Unterricht wieder um j ede Wirkung bringen und ihm den eigentlichen Bildungswert nehmen. Durch offizielle Lehrbücher, auch wenn sie lebendiger und inhaltreicher als die französischen sind, läßt sich die unentbehrliche Einheit nicht herstellen und eine verein­ heitlichende Kontrolle durch die Schulbehörde würde eine Schul-Orthodo­ xie schaffen, die mit der Gewissensfreiheit und dem Gegenstande erst recht nicht zu vereinigen ist. So verlockend das System zunächst erscheint und so sehr es dem Gedanken eines überkonfessionellen, der modernen Wis­ senschaft angepaßten Humanitäts-Christentums bei praktischem Respekt vor den Kirchen endlich eine praktische Verwirklichung geben zu können scheint, so wird es doch gegen den Widerspruch der Kirchen schwer durch­ zusetzen und bei mangelnder innerer Geschlossenheit j enes Humanitäts­ Christentums auch an sich selber schwer zu organisieren sein. Will man die Religion der Schule erhalten aus den vielen genannten poli­ tischen und sachlichen Gründen, so scheint dann schließlich angesichts all dieser Schwierigkeiten der letzte Ausweg zu sein, es in diesem Punkte trotz aller Trennung im wesentlichen beim Alten zu belassen. Dissidenten freilich müßten dispensiert werden oder eigenen Unterricht erhalten. Auch Lehrer dürften zu dem Unterricht nur auf Grund eigener Willigkeit bestimmt wer­ den. Die kirchliche Aufsicht dürfte sich lediglich auf den Religionsunterricht beziehen und müßte sehr weitherzig gehandhabt werden, was schließlich

konnten. Die Nonkonformisten empörten sich dagegen, da die neue Regelung die bisherigen anglikanischen Pfarrschulen erhielt und de facto das kirchliche Schulmo­ nopol befestigen half. Politisch setzten sich liberale Mitglieder des Unterhauses, dar­ unter Lioyd George, an die Spitze der Oppositionsbewegung gegen die gesetzliche Neuregelung.

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auch gegenüber strengen Geistlichen leicht möglich wäre, wenn I die Schulbehörde selbst den letzteren nicht allzusehr entgegenkommt. Die Stun­ denzahl könnte verringert werd e n, die Prüfungen müßten wegfallen. Allein derartige Modifikationen des alten Systems schaffen bereits recht große Schwierigkeiten. Allerhand Verhältnisse können dazu führen, daß irgendwo sich die Mehrzahl der Schüler oder Eltern der Teilnahme weigert und sie könnten von der Schule aus nicht gezwungen werden. Persönliche Streitig­ keiten zwischen Lehrern und Geistlichen könnten auf diesem Boden ausge­ fochten werden. Auch macht die Abhängigkeit von der Willigkeit der Lehrer der Schulverwaltung bei Besetzungen, Verschiebungen und Beförderungen die größten Schwierigkeiten, indem nun die Rücksicht auf den zu gebenden Religionsunterricht mit ins Spiel kommt. Sobald eine große Zahl der Lehrer sich weigerte, wäre die ganze Maschinerie lahm gelegt oder in Unordnung. Vor allem auf dem Lande würde man nur mit religionswilligen Lehrern durchkommen. Es würde also auch diese Lösung die größten technischen Schwierigkeiten mit sich bringen. Vor allem aber wäre die Beibehaltung eines dergestalt modifizierten alten Systems etwas derartig Geist- und Seelenloses, ein so offenkundig lediglich politisch erzwungener Verlegenheitsausweg und in so starkem Widerspruch zu dem allgemeinen Trennungsgedanken, daß er der Stellung und Würde des Religionsunterrichts ebenso wenig förderlich wäre als der inneren Geschlossenheit der Erziehung und Bildung. Er würde auf dem Land und in stark konfessionellen Gegenden befriedigen, in der Stadt und in religiös kritischer gestimmten Umgebungen immer neue Konflikte schaffen oder zu einer konventionellen Lüge werden, wie er das heute schon so oft ist. Eine allgemeine und grundsätzliche Regelung des Problems ist also auch bei der dem religiösen Leben verständnisvollst entgegenkommenden Lösung der Trennungsaufgabe ganz überaus schwierig, ja man kann wohl sagen unmöglich. Und es ist ein schlechter Trost, wenn man sich sagen muß, daß ja auch die bisherige alte Regelung höchst verzwickt und unorganisch, für die Staatsschule überall hinderlich und für das religiöse Leben praktisch nicht sehr ertragreich war. Es scheint hier eines der unlösbaren Rätsel und Wirrsale der modernen Kultur überhaupt vorzuliegen. Staatsschule und religiöse Gewissensfreiheit, einheitliche Schul i erziehung und - bildung und religiöse Individualkultur scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Es scheint die Folgerung einer radikalen Trennung religiöser Selbstbildung von einer rein technisch-praktischen Berufsschule, die mit dem Gewissen auch die ganze Bildungsfrage unangetastet läßt, der einzige Ausweg. Das ist in der Tat der Ausweg des Puritanismus, aber auch dort ein praktisch nicht reinlich durch­ zuführender. Bei gesteigerter und verfeinerter geistiger Kultur ist die Kultur­ losigkeit der Religion und die Bildungslosigkeit der Schule, damit deren In-

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differenz gegen die Religion, nicht aufrecht zu erhalten. Außer diesen Folgen einer verfeinerten Kultur kommen nun aber bei uns noch der Druck konfes­ sioneller mächtiger politischer Parteien, die ganz und gar nicht verschwin­ den, sondern eher sich steigern werden, und die großen Unterschiede der Bedürfnisse und geistigen Gesamtlagen in Land, Kleinstadt und Großstadt hinzu. Und wenn nun die grundsätzliche Trennung von Kirchen und Staat die volle Gewissensfreiheit auch in der Schule durchführt bei gleichzeitigem Interesse von Schule und Bildung an der Religion, dann kommt man auf den Gipfel der Verwicklungen. In den allgemeinen, sachlich und uniform gestal­ teten Zwangsapparat der Staatsschule soll ein Element der persönlichen Freiwilligkeit für Lehrer und Schüler eingebaut werden, das zugleich seiner Natur nach die seelische Gesamthaltung zu bestimmen trachten muß! Und dieser Einbau steht unter dem Druck kämpfender politischer Parteien wie unter den verschiedenen Bedürfnissen verschiedener Landesteile! Das ist in der Tat die Quadratur des Zirkels. Aber trotzdem muß man zu einem Programm kommen, weil die Lage es unbedingt verlangt. So muß man denn die wenigen klaren Punkte und For­ derungen aus der Sachlage herauszuheben versuchen und von ihnen aus zu einer Lösung kommen, die eine wirklich reinliche gar nicht sein kann, aber praktischen Lagen und Bedürfnissen leidlich entsprechen kann. Klar ist, daß im Grundsatz aller dogmatischer Unterricht und die eigentlich kirchliche Gesinnungsunterweisung den Kirchen anheimfallen muß. Wie sie das ma­ chen ist ihre Sache und hier nicht weiter zu untersuchen. Ebenso klar aber ist, daß Bildung und Schule das religiöse Element nicht entbehren können und dürfen, ohne das man unsere Geschichte, I Kunst und Philosophie gar nicht versteht, daß sie es aber wesentlich von der historischen und berich­ tenden Seite her nehmen muß. Es würde sich also grundsätzlich um eine Kombination der Zuweisung des eigentlichen Religionsunterrichtes an die Kirchen und die Gestaltung einer der Schule angehörenden historischen Re­ ligionsdarstellung handeln. Wie das im einzelnen zu machen ist und wie es praktisch sich bewähren wird, das ist hier nicht auseinanderzusetzen. Es kommt auch in der Tat auf den praktischen Versuch an, der einmal gemacht werden muß und seine Gegner vielleicht schließlich vielfach entwaffnet. Schüler, die diesen Unterricht nicht mitmachen wollen, müßten dann von den Kirchen anderweitig unterrichtet werden, die die Konkurrenz der Schule doch nicht einfach werden ignorieren können. Andererseits kann ein solcher Unterricht derart fesseln, daß man um die Teilnahme der Schüler nicht zu sorgen braucht, sobald der Unterricht gut, lebendig und kenntnisreich erteilt wird. Aber damit kann das Programm nicht zu Ende sein. Denn in dieser Gestalt ist es auf die höheren Schulen, jedenfalls die höheren Schulklassen zugeschnitten und doch wesentlich dem städtischen Horizont angepaßt,

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auch nur auf den Protestantismus anwendbar. Es müßte also für die unteren Klassen und vor allem für das Land eine andere Regelung eingeführt werden, die man aber gar nicht generell bestimmen kann, sondern wo man den Ge­ meinden die Regelung der Angelegenheit oder die Wahl zwischen den ver­ schiedenen, genau zu bestimmenden Möglichkeiten überlassen müßte. Die Gemeinde-Autonomie müßte gerade bei dieser Seite der Schule in hohem Grade zu ihrem Rechte kommen und auf die Uniformität der Schule mindestens in diesen Dingen verzichtet werden. Man könnte dann etwa nach Bedarf für die unteren Schulklassen und vor allem für das Land bei dem alten System bleiben und es nur den Bedingungen der Gewissensfreiheit anpassen. Schulen mit überwiegend katholischer Schülerzahl unterlägen einer be­ sonderen Vereinbarung. Und auch damit kann die Sache nicht zu Ende sein. Es müßte mit Rücksicht auf die Gewissensfreiheit und auf die Ordnung einer wesentlich geschlossenen, von der Religion her organisierten Bildung den privaten Schulen ein größerer Raum eingeräumt, das Monopol der Staats- und Gemeindeschule durchbrochen werden. Gefährliche und unbe­ queme Folgen sind dabei I unausbleiblich, aber es ist die ganz notwendige Konsequenz der Trennung von Staat und Kirchen und als solche auch überall eingetreten, wo man nicht die Kirchen überhaupt durch die Trennung er­ drücken wollte und dann den heftigsten Gegendruck entfesselte. Das wäre also ein Programm, das aus drei ganz verschiedenen Elementen und Rücksichten zusammengesetzt ist. Allein ohne eine verwickelte Theorie kommt man aus dem Wirrsal überhaupt nicht heraus. Die alten Verwicklun­ gen, die immer bestanden, sind damit freilich nur an andere Orte geschoben. In ihnen ist aber doch nur die Verwickelung der realen Kulturlage widerge­ spiegelt; sie lassen sich nicht beseitigen, sondern nur an minder empfindliche Druckstellen verschieben und einem neuen Gesamtsystem anpassen. Zu­ dem werden auf diesem Gebiete die politischen und parlamentarischen Kämpfe nie schweigen und zu immer neuen Verschiebungen führen. An ein rein der Doktrin entspringendes Programm ist daher schon aus diesem Grunde nicht zu denken, auch wenn aus der Doktrin leichter eines zu ent­ wickeln wäre. Es kommt im Moment vor allem darauf an, die Sachlage und ihre Möglichkeiten zu übersehen und ein Programm zu formulieren, dessen Verwirklichung mit Aussicht auf praktische Möglichkeit versucht werden kann. Weitere Klärungen muß die Wirklichkeit und der praktische Versuch bringen. Es beginnt nicht eine Periode endlich klarer und radikaler Doktri­ nen und Ordnungen, sondern eine solche des Experiments und politischer Kämpfe. Ohne den Willen zu möglichster Gerechtigkeit gegen alle großen Hauptgruppen und gegen die inneren Erfordernisse der Sache wird hier nicht durchzukommen sein, und jedes Programm wird diesen vielfachen Be­ dingungen von vornherein Rechnung tragen müssen.

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Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen

In einem Moment, wo die politische Existenz auf dem Spiele steht, darf kein Glaubenskrieg entfesselt werden, und es wäre es für die gegenwärtigen Majoritäten das sicherste Mittel sich zu zerstören, wenn sie, wie das Volk es einfach nennt, "die Religion abschaffen" wollten. Aber auch von den Gefah­ ren des Momentes abgesehen, bleibt es immer dabei, daß die große und edle Forderung der Gewissensfreiheit Respekt vor dem religiösen Gewissen und Abwehr religiösen Zwanges zugleich bedeutet und daß dieses doppelseitige Prinzip in eine Schulbildung hineingearbeitet werden I muß, die Bildung und Erziehung und nicht bloß äußerliche Fachschule sein will. (Geschrieben 4 . Januar 1 9 1 9.)

Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur.

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Kurz vor Übergabe der alliierten Friedensbedingungen an die deutsche Seite äußerte sich Troeltsch in seinem Artikel "Gegenwärtige und bleibende Werte der Deutschen demokratischen Partei"l am 4. Mai 1 9 1 9 zu den lau­ fenden Friedensverhandlungen. Über die Vorgänge in Versaill e s war er durch Briefe des politischen Publizisten Ernst Jäckh unterrichtet,2 der der deutschen Friedensdelegation unter Leitung des parteilosen Außenministers Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau angehörte. In seinem Spectator-Brief "Die Aufnahme der Friedensbedingungen" schildert Troeltsch seine Beobachtun­ gen beim Bekanntwerden der alliierten Friedensbedingungen in Deutsch­ land am 7. Mai 1 9 1 9: "Die Wirkung war in Regierungskreisen niederschmet­ ternd. [ . . ] Man war auf Schlimmes gefaßt, aber etwas derartig Entsetzliches erwartete man um so weniger, als die amerikanischen Abgesandten sehr viel bessere Hoffnungen erregt hatten. [ . . . ] In der Bevölkerung war die Wirkung eine sichtliche Einigung in Schmerz, Grimm und beleidigtem Ehrgefühl. Das ,Unannehmbar' war oder schien wieder ein heroischer Klang, bei dem nationales Ehrgefühl aufflammen und die Stimmung der Einigkeit von 1 9 1 4 wiederkehren könne. Gemeinsame Todesgefahr schien wieder die grenzen­ lose Zerbröckelung und gegenseitige Abschließung und Verfeindung zu überwinden." 3 In der Folge setzte eine Welle von Protestkundgebungen in Deutschland gegen die Friedensbedingungen ein. In allen Bevölkerungs­ schichten wurde über die Frage der Annahme oder Ablehnung des Friedens­ vertrags heftig diskutiert und gestritten. Die DDP-Fraktion der Weimarer Nationalversammlung legte sich am 1 0 . Mai "nach zäher Auseinanderset.

1 In diesem Band abgedruckt, S. 98 f. 2 Ernst Jäckh: Der goldene Pflug (1 954) , S. 466-470. 3 Spectator: Die Aufnahme der Friedensbedingungen (7. Mai 1 9 1 9)

-+

KGA 1 4.

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Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur

zung"4 auf eine ablehnende Haltung fest und verpflichtete auch die DDP­ Minister in der Koalitionsregierung aus SPD, Zentrum und DDP unter Mi­ nisterpräsident Philipp Scheidemann (SPD) auf diese Position.

2. Textgenese und Drucklegung Ernst Troeltsch wurde für die erste Ausgabe der neugegründeten Zeitschrift "Demokratie. Zeitschrift für Politik, Wissenschaft, Kultur", erstmals er­ schienen am 31 . Mai 1 9 1 9 im Verlag für Demokratie (Hugo Zeimann), um einen Beitrag zum Thema Friedensschluß und deutsche Kultur gebeten. Auch das ungezeichnete und undatierte Geleitwort der ersten Ausgabe be­ schäftigte sich mit den alliierten Friedensbedingungen.5 Darauf folgte der Hinweis, daß es sich bei der neugegründeten politischen Monatsschrift nicht um das Publikationsorgan einer Partei handele: "Die ,Demokratie' ist kein Parteiorgan. Sie verwirft die Abkapselung der einzelnen Schichten unseres Volkes. Deshalb ist uns jeder Mitarbeiter willkommen, dem die demokrati­ sche Weltanschauung nicht nur einen formellen politischen Begriff bedeu­ tet."6 Die personelle Zusammensetzung des Herausgeberkollegiums und des Autorenkreises lassen auf hohe politische Affinität zur DDP schließen. Auf dem Titelblatt werden außer dem Verleger Hugo Zeimann vier weitere Per­ sonen aus dem Umfeld der DDP als Herausgeber angegeben: Richard Otto Frankfurter, Heinrich Gerland, Robert Kauffmann und Bruno Marwitz. Als verantwortlicher Redakteur figuriert Karl Kirchner in Charlottenburg im Impressum.? Ausdrücklich wurde in einer Eigenanzeige der Monatszeit­ schrift darauf hingewiesen, daß die Zeitschrift "lediglich Original-Aufsätze"8 zur Veröffentlichung bringen wolle. Troeltschs Artikel blieb sein einziger Beitrag für diese Zeitschrift, die schon nach vier Ausgaben im August 1 9 1 9 ihr Erscheinen einstellte. Die erste Ausgabe enthielt in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung noch Beiträge folgender namentlich genannter Autoren: Richard Otto Frankfur­ ter, Hartmann Freiherr von Richthofen, Kurt von Kleefeld, Heinrich Ger­ land, Max Wießner, Jacob Schaffner und Julius Bab. Die zitierte Eigen­ anzeige enthielt den Hinweis, daß die "Namen unserer Mitarbeiter, die sich 4 Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik

(1 972) , S. 325. 5 Zum Geleit!, in: Demokratie, Nr. 1 , 3 1 . Mai 1 9 1 9, S. 1 f. 6 Ebd. 7 Demokratie, Nr. 1 , 3 1 . Mai 1 9 1 9, S. 32. 8 Ebd., S. 34.

Editorischer Bericht

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bereits in großer Zahl der ,Demokratie' zur Verfügung gestellt haben, [ . . . ] "9 im zweiten Heft zur Veröffentlichung kämen. In der dritten Ausgabe von "Demokratie" kam unter der Überschrift "Unsere Mitarbeiter" eine Liste mit den Namen von 58 Persönlichkeiten aus Politik, Presse, Verwaltung und Wirtschaft aus dem Umfeld der DDP, darunter Ernst Troeltsch, zum Ab­ druck, von denen die meisten aber nicht als Autoren in Erscheinung traten. Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der unter der Überschrift "Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur" erschienen ist, in: Demokratie. Zeitschrift für Politik. Wissenschaft. Kultur, hg. von H[ugo] Zeimann, R[ichard Otto] Frankfurter, H[einrich] Gerland, R[obert] Kauffmann, B [runo] Marwitz, 1 . Jg., Heft 1 , 3 1 . Mai 1 9 1 9, Berlin: Verlag für Demokratie, S. 1 3 f. (A) .

9 Ebd., S. 33.

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Der Entente-Frieden und die deutsche Kultur. Von Professor Dr. Ernst Troeltsch.

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Die mutmaßlichen Wirkungen eines nach den Versailler Bedingungen ge­ schlossenen Friedens auf "die Deutsche Kultur"? -, Was soll man da sagen? Alles ist nahezu selbstverständlich und von Hunderten und Tausenden ausgesprochen. Und das Reden ist angesichts der ungeheuren Tragödie, die wir erleben und erleiden, so entsetzlich unfruchtbar. Wir haben unsern Ver­ stand nicht gebraucht, solange der Gebrauch noch praktischen Wert hatte. Wir haben im Taumel militärischer Hoffnungen nicht die Vorherrschaft rein militärischen Denkens zu brechen vermocht und im Taumel der Revolu­ tionshoffnungen und des Zutrauens zu Wilsons Völkerbund nicht würde­ lose Selbstschwächung hindern können. Maßlose Kurzsichtigkeit und Ver­ ranntheit hat die Masse der Nation gefangen gehalten und verblendet. Was hilft jetzt die späte Weisheit? Es ist zu fürchten, daß auch jetzt noch die We­ nigsten die wirkliche Sachlage, ihre tieferen inneren Gründe und ihre radi­ kale Hoffnungslosigkeit begriffen haben, daß man an Protesten und großen Worten sich begeistert und weder die heilige Entrüstung noch die gefaßte Würde eines totgeweihten Volkes empfindet, das dem Betrug und der Rach­ sucht die Verachtung entgegenstellt, sich innerlich reinigt und erneuert und mit aller noch möglichen Klugheit und Entschlossenheit das Todesschicksal abzuwenden unternimmt. Die Plötzlichkeit und Tiefe des Sturzes ist uner­ hört und atemraubend. Er hat tiefe innere organische Gründe. Aber so, wie er tatsächlich sich vollzogen hat und noch vollzieht, hat er doch zugleich eine Fülle von besonderem Unglück und besonderen Torheiten zu seiner Voraus­ setzung. Der geplante Friede wird nie perfekt werden, oder, perfekt geworden, nicht dauern. Die Frage ist blos, ob wir noch Lebenskraft genug besitzen, wenn die Unmöglichkeit des Versailler Werkes offenkundig geworden sein wird. Unter diesen Umständen ist die Frage nach den Wirkungen auf die viel be­ redete Deutsche Kultur im Grunde eine Nebenfrage. Diese "Kultur" hatte namentlich in ihren Spitzen, in der offiziellen Wissenschaft und der allgemei­ nen Literatur, wahrlich Züge der Ueberreiztheit und der Geistesmüdigkeit gerade genug gezeigt, die sie teils mit der ganzen modernen Kultur gemein­ sam hatte, teils in einer seltsamen Selbstgefälligkeit als besonderer deutschen Leichtigkeit zu preisen pflegte. Ein vernünftiger, wenn auch an Verlusten und büßendem Druck immer noch überreicher Friede hätte ihr vielleicht die Möglichkeit der Erneuerung, der Vertiefung und der Verlebendigung gege­ ben, ihr neues Blut zugeführt, alte Zöpfe beseitigt und in der Fülle der neuen

Der Entente-Frieden

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Arbeit große Aufgaben gegeben. Armut, Zerstückelung, Entehrung, Ver­ sklavung, verhüllte I Fremdherrschaft, Enttäuschung alles Vertrauens auf Menschlichkeit und Vernunft, immer neue Revolten und ein neues Faustrecht, wie sie die Folgen eines Versailler Friedens sein würden, bringen uns um diese Hoffnung. Das ist alles, was ich über die mutmaßliche Wirkung sagen kann. Noch kann ich nicht denken, daß es wirklich alles so kommen wird. Mit dem Ver­ stand muß man es sich sagen, und man kann solchen Folgerungen nicht ent­ rinnen. Aber es fällt doch schwer, daran zu glauben, wenn man denkt, daß auch bei den Feinden Menschen mit Herzen sein müssen, die nur die wirk­ liche Sachlage zu sehen nötig haben würden, um zu begreifen, daß Wieder­ aufbau und Neuordnung der Welt auf diesem Wege nicht möglich sind, und daß ein Verbrechen am Deutschen Volk der übrigen Welt kein günstiges Schicksal ihrer Größe, ja vielleicht auch ihrer äußeren Existenz, in Aussicht stellt. Ueberall hat das Martyrium zuletzt seine Urheber selbst bezwungen, und die kahle Redensart der Notwendigkeit der Bestrafung eines Volkes, an dem sich angeblich nichts geändert habe, wird noch einmal auf dem Ge­ wissen derer brennen, die in einer der ungeheuersten Welttragödien dieses eigene Wünsche schlecht verhüllende Moralisieren hineingebracht haben.

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[ Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien]

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Ernst Troeltsch, selbst Absolvent von "einem bayrischen humanistischen Gymnasium alten Stiles mit wundervoll wenig Unterrichtsstunden",l bezog angesichts der vielfach erneuerten Angriffe auf das humanistische Gym­ nasium bereits während des Krieges öffentlich für diese klassische Bil­ dungseinrichtung Stellung. In seinem Vortrag über "Nationalismus und Hu­ manismus" auf der Jahresversammlung der "Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg" vom 28. November 1 9 1 6, der im folgenden Jahr separat im Druck erschien,2 be­ kräftigte Troeltsch seine Überzeugung, daß "das Gymnasium die bewährte Stätte der eigentlichen wissenschaftlichen Bildung und Schulung bietet, die mit der Kontinuität der wissenschaftlichen Tradition, ja der ganzen abend­ ländischen Kultur aufs engste verknüpft" sei.3 Alfred Giesecke-Teubner, nach einem abgeschlossenen Studium der klassischen Philologie seit 1 892 Teilinhaber und Leiter des Verlags von B. G. Teubner (Leipzig und Berlin) , einem der größten deutschen Wissenschaftsverlage mit einer großen philo­ sophisch-pädagogischen Abteilung,4 betonte im April 1 9 1 9 in der Einfüh­ rung zu dem Sammelband "Das Gymnasium und die neue Zeit" mit Blick auf die zu erwartenden Folgen des revolutionären Umbruchs: "Das humani­ stische Gymnasium, seit langem angefeindet und in seinem Fortbestand be­ droht, hat sich gegen alle Stürme durch seine innere Kraft bisher behauptet. Es vertraut auf sie auch in dem gegenwärtigen Augenblick der Neuordnung 1 Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1921), S. 1 6 1 f. -+ KGA 1 1 . 2 Ernst Troeltsch: Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen (1 9 1 7)

-+ KGA 1 2. 3 Nationalismus und Humanismus. Vortrag von Prof. Dr. Ernst Troeltsch, Bericht der

Vossischen Zeitung, Nr. 6 1 1 , 29. November 1 9 1 6, S. 1 . 4 Helen Müller: Idealismus und Markt (2000) , S. 1 65.

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[Ü ber die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien]

unseres gesamten Volkslebens, der Unersetzlichkeit des von ihm geleisteten und zu leistenden Beitrages zur deutschen Bildung sicher." s Alfred Gie­ secke-Teubner, dem als Absolventen der Leipziger Thomasschule6 "wie so vielen anderen die Antike und das Gymnasium Lebens- und Herzenssache geworden und auch in Schweiß und Staub des Alltags geblieben sind"7 und der sich den linksliberalen Idealen von Friedrich Naumann und Lujo Bren­ ta no verpflichtet fühlte,8 regte den Sammelband vermutlich bald nach Aus­ bruch der Revolution an. In seinem Kampf für den Fortbestand des hu­ manistischen Gymnasiums fand Giesecke-Teubner Unterstützung beim "Reichsausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums", dem "Deutschen Gymnasialverein" sowie der "Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin, Braunschweig, Breslau, Darmstadt, Dresden, Hamburg, Marburg und Wien". Diese Organisationen hatten sei­ nen "Plan gebilligt", so Giesecke-Teubner, und in nicht näher spezifizierter Weise "die Herausgabe gefördert, [ . ] ohne daß sie für den Inhalt im einzel­ nen irgendwelche Verantwortung übernähmen."9 Im Anhang des Bandes finden sich als "Beilagen" einige öffentliche Kundgebungen und Erklärungen. Im einzelnen handelt es sich um: "Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, Weimar", unterstützt vom "Reichs ausschuß zum Schutze des humanistischen Gymna­ siums", dem "Deutschen Gymnasialverein", der "Versammlung der Gymna­ sialdirektoren von Groß-Berlin", der "Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin, Braunschweig, Breslau, Darmstadt, Frankfurt a. M., Marburg, München, Würzburg", den "Ortsgruppen des Deutschen Gymnasialvereins in Dresden, Duisburg, Hamburg" und vom "Niederrheinischen Zweigverein" 1 0. Ferner kamen unter den "Beilagen" zum Abdruck: "Entschließung, vorgelegt von dem Reichsausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums"1 1 , "Kundgebung des geschäfts­ führenden Ausschusses des Deutschen Gymnasialvereins an seine Mitglie. .

5 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit

(1 9 1 9), S. 3. 6 Wirtschaft und Idealismus (1 928), S. 1 4. 7 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit

(1 9 1 9), S. 4. 8 Wirtschaft und Idealismus (1 928), S. 12 f. 9 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit

(1 9 1 9), S. 5. 1 0 Beilagen, in: Das Gymnasium und die neue Zeit (1 9 1 9), S. 2 1 2-21 4. 1 1 Ebd., S. 2 1 4.

Editorischer Bericht

1 55

der" 1 2 und "Leitsätze der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Würzburg und Unterfranken"1 3. Alfred Giesecke-Teubner, der nicht als Herausgeber auftrat, wollte den von ihm angeregten Sammelband als "ein ,aufrechtes' Bekenntnis zum Gymnasium",14 frei von allen parteipolitischen und geschäftlichen Interes­ sen, verstanden wissen. Ihm galt es, dem humanistischen Gymnasium sein Recht zu wahren in der "Überzeugung von der Unersetzlichkeit und der darin begründeten Notwendigkeit der Erhaltung einer humanistischen Bil­ dung für einen nicht zu kleinen Teil der in unserem Volk künftig zur Füh­ rung Berufenen."1 5 In diesem Sinn sollte der Band "in längeren Darlegun­ gen und kürzeren Äußerungen berufener Fürsprecher aus allen Kreisen und Arbeitsgebieten, vor allem auch von Männern des praktischen Lebens, von Vertretern der praktischen Berufe, der Künste, der juristischen, medizini­ schen wie der Naturwissenschaften, [ . . . ] " vereinigen, "was sich über Bedeu­ tung der Antike und der Altertumswissenschaft, der humanistischen Bildung und des Gymnasiums für die künftige Gestaltung unseres Volks lebens, vor allem auch über die grundlegende Bedeutung des Griechischen und die Un­ erläßlichkeit seiner Erhaltung als Herzstück des Gymnasiums etwa sagen läßt."1 6 Insgesamt wurden vom Verlag 88 Autoren beteiligt. Die teilweise promi­ nenten Autoren entstammten verschiedenen Berufen, sozialen Schichten und Parteien, allerdings waren keine Sozialdemokraten vertreten. Stark do­ minierte die Gruppe der Universitätsdozenten, der 48 Autoren angehörten, darunter sieben Altphilologen, sieben Historiker, sieben Philosophen, sechs Germanisten, drei Neuphilologen, drei Pädagogen und fünf Theologen, sie­ ben Juristen, zwei Mediziner und als Vertreter der Ökonomie und Soziologie Max Weber. 20 Autoren waren Lehrer oder Schulräte. Die übrigen 1 8 Bei­ träge hatten "Ärzte, Ingenieure, Geschäftsleute, Museumsdirektoren, Dich­ ter (Börries v. Münchhausen), Künstler (L[ovis] Corinth) , Schauspieler (Gre­ gori) u. a. "1 7 verfaßt. Die Anordnung der Beiträge innerhalb des Bandes 1 2 Ebd., S. 2 1 4--21 6. \ 3 Ebd., S. 21 6 f. 1 4 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit

(1 9 1 9) , S. 5. 1 5 Ebd., S. 3 f. 1 6 Ebd., S. 3. 1 7 Richard Wagner: [Rez.] Das Gymnaisium und die neue Zeit. Fürsprachen und For­

derungen für seine Erhaltung und seine Zukunft, Leipzig und Berlin: Verlag von B. G. Teubner, 1 9 1 9; Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten, Leipzig und Berlin: Verlag von

1 56

[Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien)

erklärte Alfred Giesecke-Teubner wie folgt: "Vor der freilich keinen Anstoß bietenden, ,gerechten' alphabetischen, schien doch eine gewisse sachliche den Vorzug zu verdienen, wenn auch mit ihr die Gefahr der Anweisung einer ersten und letzten Stelle verbunden war. Es beginnen so die längeren Bei­ träge, die zugleich allgemeineren Charakter tragen, die besondere Fragen un­ ter dem Gesichtspunkt des Gesamtproblems der Bildung erörtern. Ihnen angeschlossen sind kürzere Beiträge dieser Art, und diesen wieder folgen solche, die zwar mehr fachmännisch gehalten sind, aber doch immerhin jene allgemeinere Art der Betrachtung fortführen. Die Mahnung, Helenas Ge­ wande festzuhalten, leitet über zu den Beiträgen, die in der Aufrechterhal­ tung der kulturellen Zusammenhänge die Aufgabe des Gymnasiums sehen; ihnen reihen sich wieder die mehr gymnasial-pädagogischen im engeren Sinne an. Dann folgen weiter solche, die das Gymnasium unter dem Ge­ sichtspunkt der Eignung zur Vorbereitung für bestimmte Berufe betrachten, und endlich, die aus eigener Erfahrung den Wert des Gymnasiums und der humanistischen Bildung abzuschätzen suchen. - Am Schlusse aber steht mit Fug ein ,aufrechtes' Bekenntnis zum Gymnasium, als das ja auch das Buch als Ganzes gelten will."1 8 Troeltschs Beitrag folgt dem von Adolf von Har­ nack. 19 Der Teubner-Verlag ergänzte diesen Band durch einen zweiten. In "Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten" skizzierten 26 Fachmänner in jeweils kur­ zen Beiträgen die Zusammenhänge zwischen Altertum und Gegenwart. In seinem Spectator-Brief "Die Aufgaben der Regierung: Kulturfragen" ging Troeltsch am 5. Juni 1 920, einen Tag vor den ersten Reichstagswahlen, auch auf den Kampf gegen das humanistische Gymnasium ein, "dessen Zukunft [ . . . ] etwa in der Weise der beiden schönen Teubnerschen Gymnasialbücher (Das Gymnasium und die Neuzeit. 1 9 1 9 ; Vom Altertum zur Gegenwart. 1 9 1 9) recht wohl einem veränderten geistigen und sozialen Gesamtleben sich eingliedern und das auf einer schmäleren Berechtigungsbasis sich ge­ radezu vertiefen ließe. " 20

B. G. Teubner, 1 9 1 9, in: Berliner Philologische Wochenschrift, Nr. 1 2, 20. März 1 920, Sp. 273. 18 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit (1 9 1 9) , S. 5. 1 9 Adolf von Harnack, in: Das Gymnasium und die neue Zeit (1 9 1 9), S. 1 43-1 45. 20 Spectator: Die Aufgaben der Regierung: Kulturfragen (5. Juni 1 920) ...... KGA 1 4.

Editorischer Bericht

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2. Textgenese und Drucklegung Troeltsch stand bereits vor dem Weltkrieg mit dem Verlag von B. G. Teubner in Verbindung. In dem von Paul Hinneberg herausgegebenen Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart" veröffentlichte er 1 905 seinen Beitrag "Prote­ stantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit". Bezüglich einer selb­ ständigen Ausgabe dieses Werks korrespondierte Alfred Giesecke-Teubner im Mai 1 909 mit Ernst Troeltsch.21 Wann Troeltsch seinen Beitrag für "Das Gymnasium und die neue Zeit" schrieb, läßt sich nur annäherungsweise da­ tieren. Aus Troeltschs Hinweis auf die "Vorschläge einer endgültigen Regie­ rung"22 ist auf die Zeit vom 1 O. November 1 9 1 8 bis zum 6. Februar 1 9 1 9 zu schließen, in der der Rat der Volksbeauftragten als provisorische Reichsre­ gierung amtierte. Vermutlich verfaßte Troeltsch seinen Beitrag in diesem Zeitraum. Die Einführung von Alfred Giesecke-Teubner ist auf "April 1 9 1 9"23 datiert. Im WV wurde das Erscheinen des Bandes "Das Gymnasium und die neue Zeit" noch vor Beratung der kulturpolitischen Beschlüsse im Weimarer Verfassungsausschuß und der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 1 2. Juni 1 9 1 9 angezeigt.24 Ein Manuskript oder Druckfahnen sind nicht überliefert. Troeltschs Bei­ trag ist ohne Überschrift erschienen, in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Fürsprachen und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft, Leip­ zig und Berlin: Verlag und Druck von B. G. Teubner, 1 9 1 9, S. 1 45-1 48 (A) .

21

Vgl. Einleitung und Editorischer Bericht zu: Ernst Troeltsch: Protestantisches Chri­ stentum und Kirche in der Neuzeit (1 905/1 909/1 922) --+ KGA 7. 22 Unten S. 1 58. 23 Alfred Giesecke-Teubner: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit (1 9 1 9) , S. 6. 24 WV, Nr. 24, 1 2. Juni 1 9 1 9, S. 620.

1 58 [ Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien]

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Die neuen politischen Verhältnisse werden einschneidende Neubildungen auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts bringen, wie wir hoffen, ohne Überstürzung und nicht ohne Anhörung der verschiedenen Sach­ kenner und ihrer Korporationen. Die Neuordnungen können sich aber im wesentlichen nur auf die formelle Organisation des Schulwesens, auf das Berechtigungswesen, die Lehrerbildung u. a. beziehen. Wir haben keinen Anlaß, dem vorzugreifen, und warten die Vorschläge einer endgültigen Re­ gierung ab, durchaus gewillt, auf vernünftige und zweckmäßige Absichten einzugehen. Was aber sich nicht ändern kann, das ist das inhaltliche Bildungsgut und der geistige Schatz unserer Kultur selbst. Seine Mitteilung kann anders orga­ nisiert und seine Wirkung verbreitert werden. Auch der Mannigfaltigkeit sei­ ner großen Hauptschätze kann, wie das bisher schon im Gange war, durch Herausarbeitung verschiedener Schulgattungen besser und charaktervoller Rechnung getragen werden, wenn sich die Menschen finden, die j edem Ty­ pus ein inneres und starkes persönliches Leben einzuflößen imstande sind. Ihnen ist jetzt die Bahn frei, sie sollen kommen! Ein wesentlich naturwissen­ schaftlich -neus prachlicher, naturwissenschaftlich -lateinisch -neu sprachlicher und mathematisch-altsprachlich-historischer Typus: jeder kann zu einem wirklichen Bildungstypus ausgestaltet werden; ein späterer Übergang der einseitig Ausgebildeten zu Studien und Berufen anderer Art muß erleichtert werden. Eine solche Spaltung in verschiedene Haupttypen ist das unum­ gängliche Schicksal aller reifen und zusammengesetzten Kulturen, die in ihrer Gesamtheit über l haupt niemand mehr zu beherrschen vermag, ge­ schweige denn der durchschnittliche junge Mensch. Für die unentbehrliche Ausgleichung und Harmonisierung kann nicht die Schule, sondern nur Aus­ tausch und Wechselwirkung des täglichen Lebens und die produktive Kraft führender Geister sorgen. All das kann und wird geschehen, aber in alledem dauert und wirkt ja nur unser alter geistiger Kulturbesitz weiter: unser Erbe aus stolzen Tagen und neben der wirtschaftlichen Arbeit unsere Erneue­ rungshoffnung in diesen Zeiten des Unglücks. Unter diesen unveränderlichen, uns mit allen Kulturvölkern gemeinsa­ men Kulturschätzen haben wir nun aber den stärksten Anlaß, gerade die Un­ aufgeblichkeit und innere Bedeutung des humanistischen oder besser alt­ sprachlichen Bildungsgutes zu betonen. Wir halten uns nicht auf mit der Widerlegung alter Einwände, die jedermann kennt, sondern halten uns ledig­ lich an das innere Gewicht der Sache, das jedermann empfinden sollte. An erster Stelle steht hier das Latein, das nichts anderes ist als das Römer-

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turn. Das Römerturn aber ist die Ur- und Vorgeschichte aller westlichen Kul­ turvölker, die an die Stelle ihrer nur mehr dem Gelehrten bekannten natio­ nalen Urgeschichte getreten ist. Ohne Latein gibt es keinen Zugang zu der ganzen westeuropäischen Kultur, ihren Sprachen, ihrem Recht, ihrer Litera­ tur, ihren Institutionen und ihrer politischen Geschichte, ihrer Religion und Philosophie. Ohne Latein gibt es weder eine internationale Bildung noch ein nationales Selbstverständnis, nicht einmal ein volles Verständnis unserer ei­ genen Sprache oder der wissenschaftlichen Terminologie. Wie unsere Städte und Straßen großenteils auf römischen Grundlagen stehen, so hatten wir ein Jahrtausend lang überall eine Lateinisch redende Bildung. Das sitzt uns heute noch in allen Poren und ist ein Bestandteil noch unseres heutigen Daseins. Darum gibt es auch heute in keinem Kulturvolk eine Bildung ohne starken Anteil an Schulen, die das Latein vermitteln. Eine Fülle geschichtlicher, für die Gegenwart noch unentbehrlicher Kenntnisse, die Klugheit und der Sach­ gehalt römischen Geistes die Pracht und der Glanz ihrer Literatur fallen !,] uns überdies von I selbst zu, wenn wir im Latein den Zusammenhang mit unseren Ursprüngen festhalten. Von einer ganz anderen, tiefer greifenden Bedeutung ist das Griechische, obgleich es keinen derart unmittelbaren Bezug auf die europäische und deut­ sche Geschichte hat, sondern auf diese zunächst nur durch die Vermittlung des Latein wirkte. Erst seit dem sechzehnten Jahrhundert hat es selbständig, dann aber freilich überaus kräftig in die gesamte europäische Bildung einge­ griffen. Mit dem großen und mächtigen Aufschwung der nachmittelalter­ lichen Kultur hängt es untrennbar zusammen, und wer diesen Aufschwung für die Grundlage der gegenwärtigen Bildung hält, der muß auch dem Grie­ chischen eine Möglichkeit der Wirkung sichern. Ihm entstammt die wissen­ schaftliche Unabhängigkeit und individuelle Lebendigkeit des Denkens, der Bestandteil an geistiger Schärfe und Feinheit, an Beweglichkeit und Anmut, den Römerturn und Westeuropa dann weiterhin in sich trugen. Nur durch eine immer lebendige Möglichkeit der Berührung mit diesem Mutterboden können diese Kräfte erhalten und erneuert werden. Wissenschaft und Philo­ sophie haben in ihm nicht ihren verschollenen Ursprung, sondern ihr Urbild und ihr Selbstverständigungsmittel bis heute. Das Hellenenturn ist Mutter­ schoß und Jungbrunnen aller feineren und tieferen Geisteskräfte durch den ganz überragenden Gehalt an Schönheit und Menschenwürde, Geistesfrei­ heit, kritischer Klarheit und originaler Frische, es ist Ansporn, Reizmittel und Gegenbild aller eigenen, selbständigen künstlerischen Produktionen der modernen Welt. So lebt es ja auch nicht bloß in alten Texten und Geschichts­ büchern, sondern in der europäischen Ideen- und Formenwelt, in unserer Literatur und unseren Städtebildern, ganz abgesehen davon, daß unsere Re­ ligion fast so sehr eine griechische ist als eine hebräische und deutsche. Der

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Eingang zu dieser Welt muß unbedingt offen bleiben. Freilich entscheidet hier vollends der Sachgehalt, und ist die Sprache nur als Zugang zu diesem wichtig, kann außerdem sinnliche Anschauung der Denkmäler und Überset­ zung vieles vermitteln. Dem allen kann Rechnung getragen werden, soweit es mit der Solidität der Bildung vereinbar I ist, aber ein Zugang zum Origi­ nal-Hellenischen muß bleiben bei Strafe des Rückfalles in Barbarei oder der Versandung in einem überall abhängigen und vermittelten Eklektizismus. Schulen, die beides, Latein und Griechisch, lebendig und anregend ver­ mitteln, müssen also in genügender Zahl erhalten bleiben. Sie können mit dem nötigen Maß von naturwissenschaftlicher und neusprachlicher Bildung verbunden werden, wenn man hier mehr auf Sinn und Geist als auf Stoff und Umfang dieser Kenntnisse achtet. Es ist die Schule der historischen Bildung, die ja Römerturn und Hellenenturn doch immer nur in enger Verbindung mit unserer eigenen vaterländischen und europäischen Geschichte sehen darf, und die zugleich an den Sprachen das logische Verständnis überwiegend ent­ wickelt. Eine moderne Bildung ohne einen starken Anteil historisch denken­ der Urteilskraft und gesättigter Originalanschauung vom Altertum kann ihre eigene Fülle nicht verstehen und verdauen. Die historische Bildung bleibt neben allem doch der Schlüssel zum Selbstverständnis und das einzige Mittel der Selbstbefreiung vom historischen Ballast, indem wir Erinnerung, Über­ lieferung und Wissen in Geist verwandeln. Dazu bedarf man der Hilfe des Gymnasiums. Man organisiere es anders, wenn man einen zweckmäßigen Weg weiß, aber man erhalte unbedingt seine Mitwirkung an unserer Jugend-, Lehrer- und Führerbildung. Dr. Ernst Troeltsch Berlin Professor der Philosophie an der Universität.

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Editorischer Bericht

1 . Entstehung Am 9. Juni 1 9 1 8 tagte ein "Arbeitsausschuß" zur Einrichtung einer Volks­ hochschule in GÖrlitz. Einstimmig beschlossen die Ausschußmitglieder Bür­ germeister Konrad Maß, der die Gründung einer Volkshochschule angeregt hatte und den Ausschuß leitete, Oberlehrer Dr. Hermann Schultheiß, Stadt­ rat Theodor Viebeg und der Jenaer Theologieprofessor Heinrich Weinel fol­ gende Punkte: ,,1 . Allgemein soziale Stellungnahme: Dank des Volkes für den siegreich geführten Krieg. 2. Allgemeines Bildungsbestreben, besonders in der Frauenwelt und der heranwachsenden Jugend; Notwendigkeit der Er­ gänzung der Schulbildung mit Rücksicht auf die erweiterten Weltaufgaben nach dem Kriege. 3. Beziehungen zum Osten wegen unserer Lage nach Osten zu und daher Erfordernis der Ausbildung besonders in politischer, ge­ schichtlicher, wirtschaftlicher und kultureller Beziehung."l Unter dem Ta­ gesordnungspunkt "Vortragsreihen" wurde protokolliert: "Für Einzelvor­ träge wird gerechnet auf die Herren: 1 . Exzellenz [Adolf von] Harnack Berlin, welcher gebeten werden soll, nach einführenden Worten des Herrn Bürger­ meister [Konrad] Mass den 1 . Vortrag zu übernehmen. 2. Professor [Ernst] Troeltsch Berlin über ein Religionsgeschichtliches Thema."2 In einer Beschluß­ vorlage für die Görlitzer Stadtverordnetenversammlung wurde unter Hin­ weis auf die auch in Nürnberg und Bromberg in Gründung befindlichen Volkshochschulen festgestellt: "Ihr Ziel [der Görlitzer Volkshochschule, d. Hg.] ist, in den Zöglingen oder Hörern die geistigen Kräfte zu wecken und zu fördern, ihrem Leben einen reicheren Inhalt zu gewähren, deutsche Art und deutsches Wesen, nicht im feindlichen Gegensatz zu anderen Ländern, I

Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses, betreffend: Volkshochschule, Sitzung vom 9. Juni 1 9 1 8, Ratsarchiv Görlitz, Acta des Magistrats zu Görlitz betreffend Volkshochschullehrgänge 1 9 1 8/1 9, Rep. I, S. 1 054, Nr. 1 , R 22, F 43, Blatt 1 3 . 2 Ebd. -

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aber doch in ihrer Besonderheit erkennen zu lassen, sie durch die Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart zu führen und auf die Arbeit der Zukunft vorzubereiten." 3 Die Görlitzer Volkshochschule sollte, frei von einseitiger politischer und konfessioneller Tendenz, Männern wie Frauen offenstehen. Als Hörer dachten die Ausschußmitglieder vor allem an zurückkehrende Kriegsteilnehmer, die "breite Masse der bildungsbedürfti­ gen Bevölkerung" jedweder sozialer Herkunft und Bildung sowie speziell junge Menschen.4 Auf der Ausschußsitzung vom 23. Juni 1 9 1 8 wurde Troeltschs Einladung bekräftigt: "Am 28. September [1 91 8] soll im grossen Saal der Stadthalle eine Eröffnungsfeier stattfinden, zu welcher Geheimrat Tröltsch durch Geheim­ rat [Heinrich] Weinel um Uebernahme der Festrede gebeten werden sol1."5 Der Jenaer Neutestamentler war seit Juni 1 91 6 Lazarettprediger in Görlitz.6 Politisch eher nationalliberal orientiert, war Weinel Mitglied im Vorstand der "Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" und stand mit Troeltsch seit 1 904 in losem, freundschaftlich-kollegialem Briefkontakt, während des Weltkriegs zuletzt am 21 . Dezember 1 9 1 4.7 Am 1 0. September 1 9 1 8 schrieb Troeltsch an seinen langjährigen Freund, den Gießener Theologen Wilhelm Bousset, daß er "Ende September einen Vortrag in Görlitz, gleich darauf ein[en] Zyklus in Berlin" habe.8 Bei dem Letzteren handelte es sich um den Vortrag über "Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung", den Troeltsch am 1 . Oktober 1 9 1 8 während der "Pädagogischen Herbst­ woche" des Berliner "Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht" hielt.9 Bevor Troeltsch in Görlitz vortrug, nahm er am 21 . September an der vorbereitenden Gründungsversammlung der "Deutschen Gesellschaft für 3 Begründung aus der Eingabe: "Urschriftlich an die Stadtverordneten-Versammlung

mit dem Antrage, zu beschließen: als Beihilfe für den Betrieb einer am 1 . Oktober zu eröffnenden ,Volkshochschule' werden aus Sparkassenüberschüssen 3000 Mark be­ willigt." Eingangsstempel der Stadtverordnetenversammlung vom 20. Juni 1 9 1 8, Ratsarchiv Görlitz, Acta des Magistrats zu Görlitz betreffend Volkshochschullehr­ gänge 1 9 1 8/ 1 9 , Rep. I, S. 1 054, N r. 1 , R 22, F 43, Blatt 1 26 f. Ebd. Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses, betrifft: Volkshochschule, Sitzung vom 23. Juni 1 9 1 8, Ratsarchiv Görlitz, Acta des Magistrats zu Görlitz betreffend Volks­ hochschullehrgänge - 1 9 1 8/19, Rep. I, S. 1 054, Nr. 1 , R 22, F 43, Blatt 1 8. Klaus-Gunther Wesseling: WeineI, Heinrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 1 3, Herzberg: Verlag Traugott Bautz, 1 998, Sp. 61 6-622. Brief an Heinrich WeineI, 2 1 . Dezember 1 9 1 4 KGA 1 8/ 1 9 . Brief a n Wilhe1m Bousset, 1 0. September 1 9 1 8 KGA 1 8/ 1 9 . Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung (1 9 1 8) , S . 1 -48 KGA 1 6. -

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Volkshochschulwesen" im preußischen Abgeordnetenhaus teil. Verteter der Volkshochschulbewegung aus ganz Deutschland beschlossen dort, einen vorbereitenden Ausschuß einzusetzen, der die Satzungen der Gesellschaft aus­ arbeiten und ihre inneren und äußeren Aufgaben umschreiben sollte. Dem Ausschuß gehörte auch Dr. Hermann Schultheiß aus Görlitz an. Den einlei­ tenden Bericht in der Berliner Versammlung erstattete Felix Borchardt, der geschäftsführendes Mitglied des Ausschusses der Humboldt-Akademie, Freie Hochschule, sowie erster Vorsitzender des Vereins Arbeiterhochschule e. V. war. Artur Buchenau, Direktor der Sophie-Charlottenschule in Charlotten­ burg, verlas während der Veranstaltung eine längere Ausarbeitung des ab­ wesenden Marburger Philosophen und Pädagogen Paul Natorp, der hier thesenartig die theoretischen und praktischen Grundlagen des deutschen Volkshochschulwesens skizzierte. An der Debatte über Natorps Thesen be­ teiligte sich auch Troeltsch. 1 o Natorp veröffentlichte seine Thesen im Okto­ ber 1 9 1 9 überarbeitet und erweitert. Hierzu bemerkte er: "Auf einige kriti­ sche Bemerkungen dazu von Ernst Tröltsch (in dem Aufsatz: ,Deutsche Bildung' in der Sammelschrift ,Der Leuchter', Verlag O [tto] Reichl, Darm­ stadt, 1 9 1 9, auch sep [arat] ebendort) soll an anderer Stelle geantwortet wer­ den."l l Einen Tag bevor Hindenburg und Ludendorff ein sofortiges Waffenstill­ standsangebot forderten, am Samstag, dem 28. September 1 9 1 8, fand die of­ fizielle Eröffnungsfeier der Görlitzer Volkshochschule im großen Saal der Stadthalle statt. Am 1 . Oktober nahm sie den Lehrbetrieb auf. Nach Begru­ ßungsworten von Bürgermeister Maß und Ansprachen des Görlitzer Ober­ bürgermeisters Georg Snay und des Landeshauptmanns der preußischen Oberlausitz, Kammerherr Georg von Eichel, hielt Troeltsch seinen Festvor­ trag über "Deutsche Bildung". Der Berichterstatter der SPD-nahen "Görlit­ zer Volkszeitung" schrieb über Troeltschs Vortrag: "Der Redner meinte, im Hinblick auf den Ernst der Stunde werde seine Rede keine Festrede sein. Mit nüchterner Sachlichkeit und unter Verzicht auf den Schmuck der Rede wolle er sein Thema behandeln. In gedrängten wissenschaftlichen Darlegungen wurde darauf von ihm deutsches Wesen und deutsche Bildung durchleuch­ tet. Die Ausführungen kann man schon mehr als Hochschulvorlesung be­ zeichnen. Sie werden für die Mehrzahl der anwesenden Volkshochschüler, weil der nötige Wissensunterbau fehlt, eine schwer verdauliche Kost gewe­ sen sein. Hinzu kommt noch, daß der Redner eine Reihe Fragen anderer Art

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Felix Borchardt: Eine deutsche Gesellschaft für Volkshochschulwesen (1 9 1 9) , S. 799 f. Paul Natorp: Richtlinien für die freie Volksbildungsarbeit (Volkshochschule) in Deutschland, (1 9 1 9) , S. 3.

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auftauchen ließ, die, wie der sogenannte Kriegssozialismus, mit einem Satze abgetan wurden. [ . . . ] Der lehrreiche [ . . . ] Vortrag wurde durch reichen Bei­ fall gelohnt."12 Die "Görlitzer Nachrichten" bemerkten zu Troeltschs Vor­ trag: "Leider war der Redner, wie wir duch verschiedene Nachfragen fest­ stellten, sehr schwer zu verstehen, da er zu lebhaft und nicht immer laut genug sprach."t3 Und der Mitarbeiter des "Neuen Görlitzer Anzeiger" kon­ statierte, daß die "von hohem Gedankenflug getragenen, nur leider etwas zu akademisch gehaltenen Ausführungen [ . ] mit Anerkennung aufgenom­ men" worden seien. 1 4 An die Gründungswelle von Volkshochschulen wurde 1 9 1 9 allgemein die Erwartung geknüpft, sie könnten zur Versöhnung der so­ zialen Klassen beitragen und die geistigen Voraussetzungen der Demokratie schaffen. 1 s .

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2. Textgenese und Drucklegung Ein Manuskript von Troeltschs Festvortrag am 28. September 1 9 1 8 ist nicht überliefert. Eine für den Druck überarbeitete Fassung veröffentlichte Troeltsch 1 9 1 9 unter dem Titel "Deutsche Bildung" in dem Sammelband "Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung", konzipiert und her­ ausgegeben von dem Schriftsteller Alexander Freiherr von Gleichen-Russ­ wurm. Gedacht war "Der Leuchter" als eine "kulturpolitische Bücherei", in der "die großen Daseinsfragen, denen nach dem verlorenen Weltkrieg in Deutschland besondere Bedeutung zukommen müßte"1 6, frei erörtert wer­ den sollten. In seinem Vorwort, datiert "im Januar 1 9 1 9", erklärte der Her­ ausgeber programmatisch: "Was heute die Welt bewegt, was insbesondere die Deutschen durcheinander rüttelt, gegeneinander aufwühlt und schließ­ lich wieder zu einander führen wird, das sind im Grunde Fragen der Weltan­ schauung und Lebensgestaltung. Es gilt einen Wiederaufbau von innen her­ aus und von unten herauf. An Stelle seelenloser Abhängigkeiten sollen Freiheit und Menschenwürde treten. Wir stehen bereits äußerlich im Frei-

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Zur Eröffnung der Görlitzer Volkshochschule, in: Görlitzer Volks zeitung, Nr. 230, 1 . Oktober 1 9 1 8, Beilage. Festabend zur Eröffnung der Görlitzer Hochschule, in: Görlitzer Nachrichten, Nr. 230, 1 . Oktober 1 9 1 8. Die Eröffnung der Görlitzer Volkshochschule, in: Neuer Görlitzer Anzeiger, Nr. 230, 1 . Oktober 1 9 1 8, Erste Beilage. Dieter Langewiesche: Erwachsenenbildung (1 989) , S. 340. Thomas Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe (1 994) , S. 1 59.

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staat, wir wollen auch innerlich ein Freistaat werden. Männer, die im Kampfe der Menschen und der Meinungen wohl etwas zu sagen haben, ergreifen hier das Wort, um an den Grundlagen einer geistigen Verfassung mitzuarbeiten, die eines mündigen Volkes würdig ist."17 Der erste Band des "Leuchter", der unter dem Motto "Umkehr und Erneuerung" stand, war als Fortsetzung des Sammelbands "Weltanschauung. Philosophie und Religion" gedacht, der 1 9 1 1 unter der Schriftleitung des Philosophen Max Frischeisen-Köhler entstanden war. Beide Bände erschienen im Verlag von Otto Reichl. Neben Troeltsch, der in dem Sammelband von 1 9 1 1 den Beitrag "Die Kirche im Le­ ben der Gegenwart" veröffentlicht hatte, 18 gehörten aus der Autorengruppe des Bandes von 1 9 1 1 auch Arthur Bonus, Hans Driesch und Hermann Graf Keyserling 1 9 1 9 zu den Autoren im "Leuchter". In einer überarbeiteten Textfassung seines "Leuchter"-Beitrags, die se­ parat in der Reihe "Reichis Deutsche Schriften" erschien, verwechselte Troeltsch das Datum seines Görlitzer Vortrags in seiner Fußnotenangabe: "Diese Abhandlung ist ein Vortrag, den ich am 3. Oktober in Görlitz zur Er­ öffnung der dortigen Volkshochschule gehalten habe. Die Revolution hat mich nur zu ganz wenig Zusätzen veranlaßt."19 Diese Datumsverwechslung unterlief Troeltsch wahrscheinlich auch 1 9 1 9 bei der Datierung der Fuß­ note zu seinem "Leuchter"-Beitrag: "Das ist der einzige Satz, den ich dem am 2. Oktober [1 9 1 8] abgeschlossenen Manuskript bei der Korrektur mit Rück­ sicht auf die neue Lage zuzufügen für notwendig gehalten habe."20 Ein Ma­ nuskript oder Druckfahnen von Troeltschs Beitrag im "Leuchter" sind nicht überliefert. Der Beitrag ist unter dem Titel "Deutsche Bildung" erschienen, in: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung. Apexander] von Gleichen-Russwurm. Hermann von Keyserling. Leopold von Wiese. Jakob von Uexküll. Max Scheler. Fritz Wiehert. Rudolf von Delius. Hermann He­ fele. Ernst Troeltsch. Arthur Liebert. earl Hauptmann. Arthur Bonus. Frie­ rich Niebergall. Hans Driesch, Darmstadt: Otto Reichl Verlag. Der Leuchter, 1 9 1 9, S. 1 9 1-240 (A) . Der Band wurde am 6. Februar 1 9 1 9 im WV angekün­ digt21 und erschien, laut WV, in der Woche vom 22. Mai bis 28. Mai 1 91 922.

1 7 Alexander von Gleichen-Russwurm: Vorwort des Herausgebers, in: Der Leuchter

(1 9 1 9) , o. S. Ernst Troeltsch: Die Kirche im Leben der Gegenwart (1 9 1 1) 1 9 Unten, S. 1 7 1 . 20 Ebd. 21 WV, Nr. 6, 6. Februar 1 9 1 9, S. 1 45. 2 2 wv, Nr. 22, 29. Mai 1 9 1 9, S. 562. 18

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Ende September 1 924 war der Band beim Verlag vergriffen.23 Es lassen sich zwei Rezensionen nachweisen.24 Bereits am 22. Mai 1 9 1 9 kündigte der Otto Reichl Verlag im WV das Er­ scheinen von Troeltschs "Deutsche Bildung" als eigenständiges Heft in sei­ ner Reihe "Reichls Deutsche Schriften" an.25 Die Reihe "Reichls Deutsche Schriften" sollte im Geiste der Aufklärung Kants, unabhängig von einzelnen Parteien und Richtungen, dazu beitragen, "den Menschen als solchen sich wieder finden zu lassen und dieses wiedergewonnene Selbstbewußtsein neuem Leben fruchtbar zu machen; es gilt aber auch, die Gemeinschaft der Menschen zu erneuern, Ordnung, Sitte und Recht wiederherzustellen."26 Troeltsch überarbeitete und ergänzte für die Veröffentlichung in "Reichls Deutsche Schriften" die Textfassung A geringfügig. Über die neuerliche Druckveröffentlichung des "Leuchter"-Beitrags schloß Troeltsch keinen Vertrag mit dem Otto Reichl Verlag ab. Das Honorar galt mit dem Abdruck im "Leuchter"-Band als abgegolten.27 Ein Manuskript oder Druckfahnen sind auch hierzu nicht überliefert. Laut WV erschien Troeltschs Broschüre in der Woche vom 1 . bis 6. August 1 9 1 928: Ernst Troeltsch: Deutsche Bildung, Darmstadt: Otto Reichl Verlag, 1 9 1 9. Reichls Deutsche Schriften 1 2. Dieser Text ist mit der Sigle B gekenn­ zeichnet. Die Abweichungen gegenüber A sind verzeichnet. "Reichls Verlagsbericht" warb später wie folgt: "Die höchste Weisheit ist, sein Schicksal zu lieben und zugleich es schaffend zu bewältigen. Diese Worte des Verfassers kennzeichnen am besten den Inhalt seiner Schrift. Er hat nicht den Wunsch, ein allgemeingültiges Bildungsideal für ein großes Millionenvolk zu entwerfen, es ist ihm viel wichtiger, die Einsicht zu fördern, daß Vereinfachung und Konzentration die Fragen der geistigen Rettung und Lebendighaltung sind, und daß wir zurückkehren müssen zu dem Geist, der unser eigener Geist ist. Es ist von größter Bedeutung nicht nur für die Ent­ wicklung in Preußen, sondern für die Zukunft des geistigen Lebens in Deutschland überhaupt, daß eine Persönlichkeit wie Ernst Troeltsch in die 23 Brief vom Otto Reichl Verlag an Marta Troeltsch, 26. September 1 924, Verlagsarchiv

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B. Mohr (Siebeck), Korrespondenz Troeltsch, Marta, 1 924.

24 D. K. Eckardt: Luther als Träger deutschen Wesens, in: Die Wartburg. Deutsch-evan­

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gelische Wochenschrift, Nr. 43/44, 1 9 1 9, S. 234-235; Kurt Sternberg, in: Kant-Stu­ dien, Berlin: Verlag von Reuther & Reichard, Band 55, 1 920, S. 285-287. wv, Nr. 21, 22. Mai 1 9 1 9, S. 526. Thomas Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe (1 994) , S. 1 59. Brief von Otto Reichl Verlag an Marta Troeltsch, 26. September 1 924, Verlagsarchiv J. c. B. Mohr (Siebeck) , Korrespondenz Troeltsch, Marta, 1 924. wv, Nr. 32, 7. August 1 91 9, S. 860.

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Leitung des Preußischen Kultusministeriums eingetreten ist. "29 Ende Sep­ tember 1 924 war von der Broschüre noch "der größte Teil der Auflage am Lager".3o Es lassen sich sieben Rezensionen nachweisen.3! Die "Deutsche Allgemeine Zeitung. Norddeutsche Allgemeine Zeitung" veröffentlichte in Nr. 3 1 0, 2. Juli 1 9 1 9, Morgen-Ausgabe, S. 2, unter der Überschrift "Deutsche Bildung. Von Ernst Troeltsch" einen gekürzten Teil­ abdruck der Fassung A und leitete ihn mit der folgenden redaktionellen Be­ merkung ein: "In dem Sammelwerk ,Der Leuchter' faßt der Verlag Otto Reichl in Darmstadt eine Anzahl Aufsätze führender Männer, wie [Friedrich] Niebergall, Carl Hauptmann, [Max] Scheler, Fritz Wiehert und anderer zu­ sammen, die zur Klärung unserer geistigen Lage und zu neuer Zielsetzung beitragen wollen. Troeltschs Beitrag ,Deutsche Bildung' zeigt zunächst die Verworrenheit unserer Bildungsbestrebungen und sucht dann die Vereinfa­ chung zu gewinnen, an der wir uns fortan orientieren können. Das Bildungs­ zentrum sieht er in einer Kombination dreier ,alter Mächte', deren Charak­ terisierung wir hier gekürzt wiedergeben." Dieser Nachdruck ist zu vernachlässigen, da über eine Autorisierung durch Troeltsch nichts bekannt ist. Zu vernachlässigen ist auch ein gekürzter Teilabdruck der Textfassung A, der nach Troeltschs Tod unter der Überschrift "Ernst Troeltsch/Deutsche Bildung" erschienen ist, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Literatur und 2 9 Reichls Verlagsbericht 1 922. Fünfte Ausgabe, Darmstadt: Otto Reichl Verlag, 1 922,

S. 5. 3 0 Brief von Otto Reichl Verlag an Marta Troeltsch, 26. September 1 924, Verlagsarchiv

J. C. B. Mohr (Siebeck), Korrespondenz Troeltsch, Marta, 1 924. 3 1 Folgende Rezensionen sind zu Troeltschs "Deutsche Bildung" als "Reichls Deutsche

Schriften" erschienen: Victor Engelhardt: Geistige Bewegung, in: Sozialistische Mo­ natshefte. Redigiert von Joseph Bloch, Band 58, 1 922 I, S. 423 f.; Erich Günther: (Rez.] Ernst Troeltsch: Deutsche Bildung, in: Jungdeutsche Stimmen. Rundbriefe für den Aufbau einer wahrhaften Volksgemeinschaft, 2, 1 920, S. 256; Walther Hofstaet­ ter: Allerlei zum Deutschunterricht im allgemeinen, in: Zeitschrift für Deutschkunde. Jahrgang 34 der Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Begründet durch Rudolf Hildebrand und Otto Lyon, hg. von Walther Hofstaetter und Friedrich Panzer, 1 920, S. 243 f.; Hans Otto: Deutscher und alldeutscher Geist, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u [nd] Kunst, hg. von Karl Muth, Oktober 1 920 - März 1 92 1 , Band 1 , 1 920/21 , S. 762 f.; (Rez.] Ernst Troeltsch: Deutsche Bil­ dung, in: Literarisches Zentralblatt für Deutschland, N r. 1 0, 6. März 1 920, Leipzig: Verlag von Eduard Avenarius, Sp. 224; (Rez.] : Ernst Troeltsch: Deutsche Bildung, in: Geisteskultur und Volksbildung. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, hg. von Ferd[inand] Jak[ob] Schmidt und Georg Heinz, Band 29, 1 920, S. 69; (Rez.] : Ernst Troeltsch: Deutsche Bildung, in: Das Echo. Organ der Deutschen im Auslande, Band 75, Juli bis Dezember 1 9 1 9 (Nr. 1 897-1 940), S. 1 1 9 1 und 1 1 93.

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Kunst, hg. von Anton Erkelenz und Gertrud Bäumer, begründet von Fried­ rich Naumann, Nr. 24, 1 5. Dezember 1 923, S. 428-430. Die Textfassung B ist postum unter dem Titel "Deutsche Bildung. (1 91 8)" gekürzt und geringfügig geändert erschienen, in: Ernst Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa (1 925) , S. 1 69-2 1 0. Der Herausgeber Hans Baron hat keine handschriftlichen Zusätze oder Änderungen von Troeltsch selbst kenntlich gemacht. Diese Voredition ist daher zu vernachlässigen.

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Die geistigen Grundlagen des heutigen Deutschlands liegen im Zeitalter Friedrichs des Großen, Kants, Goethes,

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der nationalen Erhebung von 1 8 1 3 und ihrer Fortsetzung zu einem nationa­ len Einheitsstaate. Die letztere mündete zunächst in der Paulskirche und be­ kam einen starken Zuschuß westeuropäisch-demokratischer Revolutionsge­ sinnung. Es ist bei uns üblich gewesena, über sie ziemlich geringschätzig zu sprechen, aber sie hat doch gerade mit ihren geistigen Ele­ menten eine der wichtigsten Voraussetzungen der Bismarckschen Reichs­ gründung gebildetb. Der b Liberalismus der siebziger Jahre, der den Ausbau des Reiches zunächst I bewirkt hat, war doch von jener ganzen, oben um­ schriebenen Geistigkeit noch durchtränkt, wie am deutlichsten die Persön­ lichkeit Bennigsens veranschaulicht. Das alles liegt nun freilich heute bereits weit hinter uns zurück. Seit die Bismarcksche Politik Ende der Siebziger die konservative und schutzzöllnerische Wendung nahm, ist Deutschland nach dem Vorbild des Westens und über dieses hinaus kapitalistisch und infolge­ dessenc imperialistisch geworden mit der unausbleiblichen Folge einer tiefen Spaltung der Gesellschaft, deren eine Hälfte mit einer bis dahin nie vorhan­ den gewesenen Einheitlichkeit den militaristisch-konservativ-imperialistischen Typus, deren andere den der internationalen Interessengemein l schaft des Proletariats annahm. Der "Geist" kam dabei auf beiden Seiten arg ins Gedränge, auf der einen kam er unter die Räder der unsentimentalen Macht­ und Realpolitik, auf der anderen unter die des Klassenkampfes und der wirt­ schaftsgeschichtlichen Dialektik. Soweit er daneben bestehen blieb, tobte er sich in großstädtischem Snobismus und allerhand enge Kreise berührenden Literatur- und Kunstrevolutionen aus oder versandete er in Schulmeisterei und Spezialistentum. Die alten geistigen Grundlagen verfielen den Fest­ reden und den Historikern. Es ist daher begreiflich, daß man die Frage hat erheben können, ob die Substanz des deutschen Volkes heute noch dieselbe sei wie im Zeitalter vor Bismarck oder, da das ja wohl überhaupt nicht mög­ lich ist, ob uns heute mit jenem noch ein lebendiger und starker Zusammenhang verbinde. Es gibt viele, die das mit tiefem Schmerz vernei­ nen; einige wenige, die es mit Genugtuung bejahen; sehr viele, die mit der ganzen Frage gar nichts anzufangen wissen und im Dienste nationaler Ruhmredigkeit bald das eine, bald das andere Licht leuchten lassen. Die Revolution I von heute, die dem furchtbaren Kriege ein ebenso furchtbares Ende bereitet und dem Reiche das Rückgrat gerade im gefährlichsten Mo­ mente gebrochen hat, bedeutet in unserer Frage nichts Neues, sie ist nur der Beweis dafür, wie sehr in den herrschenden Schichten des Reiches Geist und

A: geworden a b - b A: , und der c A: infolge dessen

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Ethos verdorrt waren; aber sie selbst hat trotz aller "Soziali­ sierung der Bildung" keinen höheren oder geschlosseneren Gedanken von ihr geoffenbart und bis jetzt nur in verworrenen Hoffl nungen eines neuen Geistes geschwelgt, an dem wenig Neues und nicht allzuviel Geist ist 1 ) . In Wahrheit ist die Frage heute erst recht ernst, sehr ernst. Denn sie hat zum mindesten dem ersten Eindruck nach guten Grund. Jene alte Zeit erscheint uns heute wie Biedermeierturn, und unsere Zurückwendung zu ihr ist ein bißchen ähnlich wie unsere heutige Schätzung des Biedermeierstils und seiner Möbel: Bedürfnis nach Beruhigung und nach Kontinuität mit dem letzten Stil, den es gegeben hat. Das aber ist ein verdammt schwacher Zusammenhang. In der Tat ist der sachliche Zu­ sammenhang durch alles, was dazwischen liegt, ganz gründlich aufgelockert. Aber in diesem Sachlichen wird man die Kontinuität zunächst überhaupt gar nicht suchen dürfen. Die Entwicklungen sind zu gewaltig, stürmisch und neuartig gewesen, als daß eine solche denkbar wäre. Dagegen, wenn der deutsche Geist nicht wirklich völlig aus der Art geschlagen ist, müssen doch die Grundtriebe und Bedürfnisse, die jener Epoche ihr Gepräge gegeben haben, noch vorhanden und wirksam sein, sozusagen I die formalen Eigenschaften müssen sich mit fortüberliefert haben: der Drang nach individueller geistiger Kultur, das metaphysische und religiöse Bedürfnis der Innerlichkeit und der umfassenden Universalität zugleich, die wissen­ schaftliche Schärfe und systematische Abrundung des Denkens, die roman­ tisch-musikalische Phantasie und die lehrhafte Umständlichkeit, die barocke Ur l sprünglichkeit und die Sehnsucht nach Form und Stil. In der Tat alles das, wie es zum Teil bis in das tiefe Mittelalter als Charakterzug zurückgeht, das ist auch heute alles noch da, zum Teil verdeckt unter allerhand Schulmeisterei, zum Teil modern aufgedonnert und theatralisch gemacht. Aber es ist doch da. Und mehr als das, es ist in den letzten Jahrzehnten seit dem Einsetzen der neuesten Kulturkritik vom Ende des vorigen Jahrhunderts, seit der nur mit Rousseaus Kulturverneinung vergleichbaren Strafpredigt Nietz-

1) aDiese Abhandlung ist ein Vortrag, den ich am 3. Oktober in Görlitz zur Eröffnung der dortigen Volkshochschule gehalten habe. Die Revolution hat mich nur zu ganz wenig Zusätzen veranlaßt.Q

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A: Das ist der einzige Satz, den ich dem am 2. Oktober abgeschlossenen Manu­ skript bei der Korrektur mit Rücksicht auf die neue Lage zuzufügen für notwendig gehalten habe.

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sches, in tausend heißen Mühen wieder lebendig geworden. Daß wir die Kontinuität nicht in erster Linie im Sachlichen suchen - es geschieht mit dem Rückgang auf den a"deutschen Idealismus" a sogar nur allzuviel -, ist doch nur ein Zeichen der Lebendigkeit. Wir müssen vorwärts nicht rückwärts, und jene uralten formalen Charak­ terzüge unseres Geistes müssen uns den Geist zwar erneuern, aber doch eben den Geist der Gegenwart und Zukunft schaffen nach langer Geist­ losigkeit und Zerstreutheit und nicht einen alten wiedererweckenb. Daß es unter den vielen Kämpfen und Mühen der Gegenwart auch gerade darum geht, das zeigen uns die Selbstbesinnungen und Auseinan­ dersetzungen, die praktischen Reformen und neuen Versuche auf dem Gebiete der "Bildung". I Wenn hierbei immer leidenschaftlicher das Schlag­ wort einer "deutschen Bildung" auftauchteC, dann soll das doch nur die Schaffung oder Umgrenzung eines Bildungszieles bedeuten, das der deut­ schen Gegenwart und Zukunft mit ihren besonderen Forderungen und ihren I historischen Voraussetzungen und Sondertümlichkeiten entspricht. Am handgreiflichsten wird dieses Streben bei der Forderung und Einrich­ tung des sog. Volkshochschulwesens. Sie waren zunächst eine rein praktische Angelegenheit und Forderung der Lage, wurden daher auch sehr verschie­ denartig in Angriff genommen ohne Theorie und System. Die ländlich-bäu­ erlichen Volkshochschulen des Westens, die industriell-großstädtischen wie in Essen und Berlin, das verschiedenartig organisierte Vortragswesen, die Weltanschauungsarbeit der Kirchen und religiösen Gruppen, die Fortbil­ dungskurse bestimmter Berufszweige, die Aufklärungsarbeit der politischen Parteien und insbesondere derd eine eigene Wissenschaft und Ethik darstel­ lendene Sozialdemokratie, die den vierten Stand geistig diszipliniert und erzogen hat: all das sind praktisch entstandene und gesonderte Versuche, teils hervorgegangen aus unseren eigenen Bedürfnissen und Schöpfungen, teils aus ausländischen Bewegungen, wie die dänischen Volkshochschulen 1 , a-Q

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A: deutschen Idealismus A: wieder erwecken A: auftaucht A: die A: darstellende

Der dänische Theologe, Historiker, Volkserzieher und Dichter Nikolaj Frederik Severin Grundtvig (1 783-1 872) schuf im Zuge der nationaldänischen Erneuerungs­ bewegung Bauernschulen auf nationaler und kirchlicher Grundlage. 1 844 gründete

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die englische Toynbee-HaIF, die amerikanische University-Extension3. Die Gründe lagen in dem Verlangen immer breiterer Massen nach Überblick und Zusammenschau, nach Sachgemäßheit a und Reichtum der Welt- und Lebenskenntnis, und in der Einsicht der geistigen Führer, daß die kritische Aufgelockertheit und widerspruchsvolle Mannigfaltigkeit unseres heutigen Lebens nicht ohne möglichst weitgehende Erziehung und Bildung überwunden oder wenigstens ihrer größten Gefahren entledigt I werden könne. Aus diesen vielfachen praktischen Versuchen I ergab sich natürlich das Bedürfnis nach Zusammenschluß und Einheit, nicht bloß nach organi­ satorischem Zusammenschluß, der uns hier nicht interessiert, sondern nach Zusammenschluß in einer Idee, einem Bildungsideal. Wie sehr das Wunsch und Bedürfnis aller Beteiligten ist, allerdings auch wie schwer es ist, zeigte jüngst eine Versammlung im Berliner Abgeordnetenhause, die zum Zwecke der Gründung eines Vereins für Ausarbeitung solcher Grundzüge einberufen war.4 Hier wurden als Umschreibung eines solchen Bildungsideals a

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A: Richtigkeit Grundtvig in R0dding (Südjütland) die erste Volkshochschule. Nach ihrem Vorbild entstanden seit 1 905 im politisch umkämpften Grenzgebiet von Schleswig-Holstein eine Reihe von deutschen Heimvolkshochschulen. In Artikel 1 48 der Weimarer Reichsverfassung wurde die Förderung des Volksbildungswesens, einschließlich der Volkshochschulen, verfassungsrechtlich verankert. Allein 1 9 1 9 entstanden in Deutschland weit über 1 00 neue Volkshochschulen. Die Anhänger des englischen Sozialreformers Arnold Toynbee (1 852-1 883) gründe­ ten den Toynbee-Club, der 1 885 im Osten Londons die Toynbeehall schuf. Diese wurde zu einem Zentralpunkt der sozialreformerischen Bestrebungen vorwiegend junger Menschen bürgerlicher Herkunft. Die Anhänger dieser sogenannten "Settle­ ments-Bewegung" wollten durch persönlichen Einsatz in den Arbeitervierteln im Zu­ sammenleben mit dem Proletariat den Klassengegensatz mildern helfen. Auf diese Weise sollte auch die Grundlage für eine kontinuierliche Bildungsarbeit gelegt werden. "University extension movement" bezeichnet die Volksbildungs bewegung, die im letz­ ten Drittel des 1 9. Jahrhunderts von England ausging. Universitätslehrer veranstalte­ ten für die arbeitenden Schichten Kurse, durch die die Wirkung der Universität auf alle Bevölkerungsschichten ausgedehnt werden sollte. Auch in Deutschland richteten noch vor dem Ersten Weltkrieg Universitätslehrer "Volkstümliche Hochschulkurse" ein, in Berlin etwa, organisiert vom "Verein für volkstümliche Kurse" (1 898) . Am 21 . September 1 9 1 8 fand im Preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin die vorbe­ reitende Gründungsversammlung der "Deutschen Gesellschaft für Volks hochschul­ wesen" statt. Troeltsch nahm an dieser Veranstaltung teil, trat der Gesellschaft aber nicht bei. Während der Veranstaltung verlas der Berliner Gymnasialdirektor Artur Buchenau eine längere Ausarbeitung des abwesenden Marburger Philosophen und

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Thesen von Natorp, einem der radikalsten3 deutschen Idealisten und ver­ dientesten Theoretiker des Erziehungswesens, als Zeichen der Sammlung aufgerichtet. Diese Thesen entwarfen den Gedanken sozusagen einer deut­ schen Bildungskirche, einer Bildungsreligion und -wissen­ schaft, deren Grundlagen seinem gleichzeitig erschienenen Buch über die "Weltalter des Geistes" und die "Seele des Deutschen"s entnommen waren. Das ist der Gedanke einer "deutschen Bildung", nicht im Sinne irgendeines Imperialismus, auch nicht in dem eines Imperialismus des Geistes, wie man vor einigen Jahren in Unkenntnis von der Aufnahmewilligkeit der Welt ge­ genüber dem deutschen Geiste sagte, sondern in dem Sinne eines durch Ge­ schichte und Schicksal, Boden und Volkstum eigentümlich gefärbten allge­ meinen Ideales der Vernunft. Die sehr zersplitterte Besprechung der Thesen zeigte aber, wie schwierig eine solche Zusammenfassung ist und wie wenig eine konstruktiv in der Vernunft begründete Einheit sich einleuchtend zu machen vermag. I Von einer anderen Seite her rührt sich das Problem einer deutschen Bildung in der heutigen Jugendbewegung, die, I weniger bekannt und gerade in ihrem besten Gehalt literarisch glücklicherweise nicht vertreten und abge­ nutzt, im stillen umgeht und den allerstärksten Abstand der Söhne gegen die Väter zeigt. Die Richtungen und Gruppen sind auch hier verschieden genug, von Wandervögeln und Freistudenten bis zu christlichen Jungmännerverei­ nen und hellenisierenden Männerbünden. Aber einheitlich geht durch alle der Gegensatz gegen die Bildung der bloßen Schneidigkeit und satisfaktions­ fähigen Gesellschaftskorrektheit, gegen die militaristische Staats- und Ge­ schichtskonstruktion und die Selbstbewunderung des bisherigenb Preußen-

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A: edelsten A: neuen Pädagogen Paul Natorp, der thesenartig die theoretischen und praktischen Grundla­ gen des deutschen Volkshochschulwesens skizzierte. An der Diskussion über Na­ torps Thesen beteiligte sich auch Troeltsch. Natorp veröffentlichte seine Thesen im Oktober 1 9 1 9 in überarbeiteter und erweiterter Form in der von ihm mitherausgege­ benen "Zeitschrift für soziale Pädagogik" unter Hinweis auf Troeltschs kritische Be­ merkungen in "Deutsche Bildung", Paul Natorp: Richtlinien (1 9 1 9) . Paul Natorp: Deutscher Weltberuf. Geschichtsphilosophische Richtlinien, Buch 1 : Die Weltalter des Geistes (1 9 1 8); Buch 2, Die Seele des Deutschen (1 9 1 8) . Troeltsch äußerte sich in einem Brief an Natorp vom 4. Juli 1 9 1 8 ausführlich zu dessen ge­ schichtsphilosophischem Werk "Die Weltalter des Geistes", vgl. Brief an Paul Na­ torp, 4. Juli 1 9 1 8 .... KGA 1 8/1 9.

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Deutschland, gegen den Drill und die Allwissenheit der Schule, gegen den Historismus der genetischen Herleitung mit seinen endlosen Umschweifen und Stufen wie mit seiner deterministisch versteinernden Konservativität. Die jungen Leute wollen einfaches, schlichtes Menschentum, Freiheit und Schöpferkraft des Willens, Natürlichkeit und Klarheit des Wesens, deutsche Innerlichkeit und die Frische des Waldes. All die Überheblichkeiten und Übermenschlichkeiten, die theoretischen Hilfskonstruktionen einer angeblichen Jugendkultur - ohne eine neue Kultur tut es der heutige Deutsche nicht -, die Behandlung aller Leute über dreißig als bloß noch technisch ver­ wendbar, all das kann auf sich beruhen. Die Tatsache einer Umbesinnung eines sehr großen Teils der Jugend ist außer Zweifel; auch hier bezieht sich die Umbesinnung auf ein Ideal des deutschen Geistes, I der deutschen Bildung, welche Bildung des Menschen, nicht der Schule ist. I Damit sind wir denn auch an die Schule und die Kämpfe um sie und in ihr erinnert. Was in den beiden bisher genannten Bewegungen freier und ur­ sprünglicher aufquillt, das spricht seit langem aus den nur allzu bekannten Schulkämpfen. Diese gehen neben technischen und wirtschaftlichen Interessen in der Hauptsache auf das gleiche Ziel hinaus, nur gebundener durch Berufsinteressen, historische Mächte und bureaukratische Einrichtungen. Insbesondere ist für sie die ganze Fragestellung einer deutschen Bildung er­ schwert durch die unumgängliche starke Pflege fremdsprachlicher Bildungs­ mittel und durch die amtliche Ausnutzung zu politischen Nützlichkeiten oder gar Gesinnungsbeeinflussungen; oder, wo das nicht geschieht, macht die Gewöhnung an die Philologie als eigentliche Nährerin der Bildung aus der humanistischen Philologie eine germanistische und stellt gar beide ne­ beneinander. Aber trotz alledem ist auch hier das Streben nach einer vertieften, verinnerlichten und heimatlich gesättigten Bildung unterwegs und im Vordringen. All das zusammen besagt, daß die Frage in Wahrheit überhaupt an keiner Schule und Erziehung hängt, sondern an der ganzen geistigen Lage überhaupt. Die Frage nach der Bildung ist die Frage nach dem Inhalt und den Zielen des geistigen Lebens überhaupt unter dem Gesichtspunkt der bewußten und absichtlichen Formung des einzelnen und der Gesamtheit durch den geistigen Gehalt. Wort und Begriff sind I viel umstritten, insbesondere entsetzlich abgegriffen, sind aber doch unentbehrlich, weil sie eben gerade nicht den Besitz geistiger Werte und Ziele an sich, sondern die

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bewußte Arbeit an der Formung und an der Selbst- wie Gemeinschaftserziehung be l deuten. Die Paideia der Griechen6 und die Zucht des Ritters sind nicht unsere "Bildung", sondern sind die schlichte Überlieferung selbstver­ ständlich herrschender und eindeutiger Ideen durch Familien- und Standes­ erziehung oder durch die bürgerliche Sitte mit nur ganz nebensächlicher Mit­ wirkung von Schulmeistern. Was wir Bildung nennen, entspricht geistigen Gesamtlagen, wo erstlich der Inhalt des geistigen Lebens sich nicht mehr durch eine einzige vorherrschende und naive Macht des Gehaltes von selbst versteht, sondern ein reicher und mannigfaltiger Inhalt von Überlieferungen vorliegt, wo zweitens die Übermittlunga des Geistes sich nicht in Sitte, Fami­ lienerziehung, Standeskontrolle, Gemeingeist von selbst vollzieht, sondern eine besondere und kunstreiche Erziehungsarbeit mit Hilfe eines verwickel­ ten Stoffes zu leisten ist. Bildung setzt eine Mehrzahl historischer Geistes­ mächte, damit Verwickeltheit und Problematik, und schließlich bewußte Auslese und Vereinheitlichung voraus. Das ist überall der Charakter der Bil­ dungszeitalter gegenüber den naiv produktiven, von einheitlichen und ele­ mentaren Kräften erfüllten. Sie beginnt daher mit dem Schulwesen der Spä­ tantike, die den Kanon der klassischen Erziehung schufb, ist von der Kirche übernommen und mit neuem Gehalt erfüllt, aber auch wesentlich auf die Kleriker beschränkt worden, dann seit der Re l naissance verweltlicht und mit neuen, besonders naturwissenschaftlichen Stoffen bereicherte worden, wozu dann die Gegenwart immer weitere neue hinzugefügt hat, von denen gleich die Rede sein soll. Das große Hauptproblem der geistigen Lage ist daher die Kompliziertheit und die historische Belastung. Sie verlangt Konzentration und Vereinfachung sowohl um unserer Nerven und Gesundheit als um unserer Einheitlichkeit und Produktivi l tät willen. Was das Schlagwort einer deutschen Bildung will, ist eben deshalb im Grunde nichts anderes als solche Konzentration und Vereinfachung durch Sammlung auf einen bestimmten Mittelpunkt und größere Nähe zu den elementaren und instinktmäßigen Grundzügen unseres eigenen Selbst. Es handelt sich weder um Steigerung des Nationalgefühls noch um Erwerb des politischen Sinnes, die beide keine Bildungsfragen, sondern Sache der Erfahrung und der historischen Lage soa

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A: Ü bermittelung A: schafft A: erfüllt

Das altgriechische Erziehungsideal der Paideia um faßte vor allem die musisch-gei­ stige, körperliche und politische Erziehung. Als Bildungsziel galt die Vollkommenheit des Menschen an Leib und Seele.

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wie a des öffentlichen Lebens a sind, am allerwenigsten um Chauvinismus und Kriegstauglichkeit, auch nicht um einen germanistischen Historismus, der uns statt mit Griechen und Römern mit alten Germanen und mittelhoch­ deutscher Dichtung plagt. Es handelt sich überhaupt um nichts Rückwärts­ Sehendes, sondern um Vorschauen und Hineinbauen in die Zukunft, um Leben in der Gegenwart, aber eben doch, wie es einem Bildungszeitalter unver­ meidlich ist, um ein Schöpfen aus der historischen Lebensfülle, innerhalb deren erstb das Neue und Eigene erwächst. Heraus aus der Problematik zur Einheitlichkeit und aus der abstrakten Vernunftbildung zur naturhafteren Ursprünglichkeit: das ist die I Sehnsucht, die in dem Worte "deutsche Bildung" liegt. Der Gedanke kann daher nur erläutert werden durch einen Blick auf die Wirren und Nöte, die er uns lindern helfen, auf die Verwicklungene, die er lö­ sen soll, und auf die Andeutungen, die in dieser Lage selbst liegen zu ihrer ei­ genen Klärung. Unser geistiges Leben und unsere Bildung sind äußerst zusammengesetzt und widerspruchsvoll. Wir sind die Enkel vieler Zeitalter, deren Erwerb in uns bewußt fortlebt und in seiner Kontinuität und Vielfältigkeit zugleich mindestens dämmernd und umrißhaft allen vor Augen steht. Deshalb ist ja I auch unsere vielberufene historische Bildung nötig und unentbehrlich. Sieübermittelt uns die Inhalte und die Einsicht i n ihr Werden sowie den Zusam­ menhang unserer Kultur wenigstens als zeitlichen und sachlich-kontinuierlichen Zusammenhang. Ohne sie würden wir mit einem grausigen Wirrsal von Fragmenten und Autoritäten wirtschaften, ähnlich wie das Mittelalter, nur unendlich viel stärker und mannigfacher belastet, ohne den festen Mittel­ punkt des Kirchenglaubens und ohne die damals eben deshalb noch übrige Beweglichkeit eigener Produktivität. Das möge niemand vergessen, der über den Historismus klagt oder über die fable convenue unserer Anwendung hi­ storischer Entwicklungsbegriffe d spottet.? Nur durch historische Bildung

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A: der Gesinnung A: nur A: Verwickelungen A: Entwickelungsbegriffe

"Denn es ist um alle Philosophie geschehn, wenn zum Maaßstab ihrer Beurtheilung oder gar zur Richtschnur ihrer Sätze, etwas Anderes genommen wird, als ganz allein die Wahrheit, die, selbst bei aller Redlichkeit des Forschens und aller Anstrengung der überlegensten Geisteskraft, so schwer zu erreichende Wahrheit: es führt dahin, daß sie zu einer bloßen ,fable convenue' wird, wie Fontenelle die Geschichte nennt."

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besitzen und ertragen wir die Masse unsres geistigen Besitzes, dessen wir uns im übrigen so wenig entledigen können wie unserer Haut, den wir nur pfle­ gen müssen wie diese. I Aber zugegeben, daß dadurch eine gewisse Einheitlichkeit hergestellt ist und wäre es nur der Zusammenhang der biblischen Ge­ schichte, der Kirchengeschichte und der Vaterlandsgeschichte in der Volks­ schule, so bleibt doch der Besitz überreich und spannungsvoll genug. Machen wir den Versuch, ihn in aller Kürze in seine Bestandteile zu zerlegen und mit einigen Kennworten zu beschreiben. Da steht an erster Stelle Antike, Huma­ nismus oder a Klassizismus und diese wiederum in vielfachen Gestalten, die alle nebeneinander noch heute fortleben: in spätantiker, in kirchlicher, in humanistischer, in klassizistischer und in modern philologischer Gestalt. Es ist der Glaube an die Würde, Schönheit, Harmonie des freien, auf sich selbst gestellten und aus der Weltharmonie gefestigten Menschen, der Sinn für Form und Maß, für Typus und Adlig l keit der Erscheinung, die Vergöttlichung der Sinnlichkeit durch ein ruhiges, in ihr sich auswirkendes Gesetz. Das zweite Grundelement ist das Christentum, seinerseits mannigfach zerteilt in verschiedene konfessionelle, außerkonfessionelle und überkonfessionelle Grundformen, die gleichzeitig unter uns leben und oft unbewußt genug uns wie die Atmosphäre umspülen und durchdringen. Das ist nun im vollen Ge­ gensatze gegen die Antike die Welt der Innerlichkeit, der Seele und der Liebe, die ihren Schwerpunkt nicht in sich selber hat, sondern in der schenkenden und die Seelen verschmelzenden göttlichen Gnade, in der Überwelt, die nur durch die innerlichsten und unaussprechlichsten Vorgänge hereinragt in die irdische Welt und darum gegen ihre I Interessen, Leidenschaften, Schönhei­ ten und Selbstgenüsse fremd oder feindlich ist. Es ist die Welt der großen Utopie und des Kulturgegensatzes, die alle Kraft anspannt auf ein völlig un­ sichtbares Reich der Seele und auf eine Endvollendung des Dranges nach dem Absoluten. Und zu beiden kommt als drittes die nordisch-germanische Welt des Mittelalters, die zwar von der Kirche beherrscht und geformt war, aber mit ihr und dem Christentum durchaus nicht zusammenfällt und daher eine eigene Wirkung und Bedeutung hat auch neben Kirche und Christen­ tum. Es ist die Welt der nordischen Phantastik und Grenzenlosigkeit, der mu­ sikalischen Stimmung und des Gemütes, der alle Formen sprengenden Le­ bensfülle und der romantisch erregten Sinnlichkeit, der Heimatliebe und der a

A: und Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Band 1 ( 1 851 ) , in: Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke, Band 5, zweite Auflage, neue Ausgabe (1 89 1 ) , S. 206 f.

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Genossenschaftstreue, der konstruktiven Entwürfe und der alles Reale runter sich lassenden Abstraktheit, des im Endlichen sich verfestigenden Trotzes und der Sehnsucht nach dem Überendlichen.3 Diese drei Kräfte zusammen bilden den Grundstock und haben sich seit langem gegenseitig bis zur Unlösbarkeit durchwachsen. Aber ihr erster gegenseitiger Ausgleich liegt schon lange wieder hinter uns. Es kam der Übergang aus dem Mittelalter in die moderne Welt: Refor­ mation, Renaissance, moderneb Groß- und Verwaltungsstaat des Absolutismus. Der Sinn dieser neuen Kräfte braucht gar nicht weiter ausgeführt zu werden, er ist allbekannt; höchstens dessen ist zu gedenken, daß der neue Verwaltungsstaat überhaupt ein neues Prinzip gegenüber allem bisher Dagewesenen, den antiken Staaten und den mittelalterlichen, be l deutetee. Er trug in sich die Folgerung des modernen rationell regierten Großstaates mit seiner Nivellierung und Kapitalisierung, eröffnete also die politische und wirtschaftliche Welt des heutigen Tages, die intimsten Grundlagen der heutigen Daseinsweise c• Dieser neue Staat und sein gegensätzliches Verhalten zu aller Vergangenheit, sowie die Entstehungd des Bürgertums und des weltlichen Gemeingeistes , bildet nun aber erst die Voraussetzung der wichtigsten modernen Kulturgrundlagee, der Aufklärung mit ihrer Kritik, ihrem Individualismus, ihrer erst merkantilistischen und dann liberalen Wirtschaft, ihrer auf die neuen mathematischen Naturwissenschaften ausgerichteten Philosophie und ihren literarischen Revolutionen. Hier erst liegen die eigentlich modernen Errungenschaften, die naturwissenschaftliche und rea­ listische Bildung, der politische und wirtschaftliche Individualismus, die Erschaffung der Lebenswerte aus freier Kritik und reiner Vernunft, die Aufnahme der Kunst unter die metaphysischen Erkenntnisquellen und praktischen Lebensgrundsätze und damit der Beginn des Ästhetenturns. Aber auch das ist nicht das letzte. Indem die Aufklärung schließlich zur politischen Revolution I und zur Auflösung der mittelalterlichen Reste führte, hat sie allerhand Gegenbewegungen geweckt, die mit ihr teils zusammenhängen, teils ihr entgegengesetzt sind, die Geistesinhalte der Zwischenrevolutionszeit von 1 789 bis 1 848, den deutschen Idealismus und Klassizismus, die Romana

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In A kein Absati; A: moderner A: und in sich die Folgerung des modernen rationell regierten Großstaates mit sei­ ner Nivellierung und Kapitalisierung trug, also die politische und wirtschaftliche Welt des heutigen Tages, die intimsten Grundlagen der heutigen Daseinsweise, er­ öffnete A: Schaffung A: Kulturgrundlagen

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tik und den bourgeoisen Liberalismus, der ja eine stark konservative Ader der Selbstbefestigung und des Sinnes für individuelle I Lebensausgestaltung besaß. Erst seit 1 840 und dem Aufkommen der neuen sozialen, wirtschaftli­ chen und politischen Verhältnisse ist dann der volle Traditionsbruch und die unausgesetzte Weltrevolution eingetreten, die alle Fragen der Bildung und des Geistes vor die ungeheuers te Problematik stellte oder unter allerhand Selbstgefälligkeiten und Seichtigkeiten des Tagesfortschrittes nur allzu gerne verdeckte, dagegen die außerordentlichste Kraft für politische, militärische, wirtschaftliche, technische, kolonisierende und welterobernde Leistungen einspannte. So kam es zu der bunten Mischung und verwirrenden Fülle unseres heu­ tigen Geistes und unserer heutigen Bildung. Sie ist vielfältig genug, und die Aufgabe der Konzentration brennend, sobald man überhaupt aus dem allge­ mein materiellen Fortschritt wieder zum Geiste sich zurückwendet. Wir haben daher auch überall teils bewußt, teils instinktiv derartige Konzentrati­ onsversuche. Hier ist ein Blick auf die außerdeutschen Länder sehr lehr­ reich . Bei den Angelsachsen wird mit vollem Bewußtsein das kirchlich-dogmatische Zentrum festgehal­ ten, was ja auch beim Freikirchensystem und dessen starkem sozialena Zwange berst recht b möglich ist. Daneben steht eine utilitarisch- I realistische Bildung für die weltlichen und profanen Dinge mit der Richtung auf politi­ sche und geschäftliche Ausbeutung der Welt durch das von Gott nun einmal schicksalsmäßig dazu berufene Volk. Für die feineren Kreise ist die Bildung in der Hauptsache der alte protestantische Humanismus mit einem starken Zusatz von Naturwissenschaften. Die volle und eigent l lich moderne Welt­ bildung besitzt nur eine kleine, aber dann auch auserlesene Minorität. Die praktischen Zwecke entscheiden, und die Frische und Initiative der Selbst­ durchsetzung werden mehr geschätzt als systematische Vollständigkeit und schulmäßige Gründlichkeit. In alledem waltet sowohl Instinkt als Absicht. Die Annäherungen an das deutsche Bildungswesen und der Einbruch des Ruskinschen Ästhetizismus8 in die puritanische Geschlossenheit oder doch a

A: sozialem

b-b A: sehr wohl 8

Der britische Schriftsteller, Kunstkritiker und Sozialphilosoph John Ruskin beein­ fluß te durch seine kunstkritischen, sozialen und ethischen Schriften die englische Gedankenwelt und das gesamte englische Kunstleben seiner Zeit. Er erkannte in der Kunst ein Hauptmittel der moralischen, ästhetischen und politischen Erziehung des Menschen und trat für soziale und politische Reformen ein.

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bloß Übereinkömmlichkeit bedeuten empfindliche Störungen des Systems. Daß das Ergebnis eine gewisse Unbildung und Primitivität der Masse ist, das versteht sich von selbst und hat seine Nachteile wie seine Vorteile. Insbe­ sondere in Amerika, für das die Weltgeschichte mit der Unabhängigkeits­ erklärung beginnt und das vom alten feudalen Europa im Grunde nur den klassizistischen Humanismus und den Protestantismus übernimmt, ist die Einfachheit als Schranke und als Kraftquelle sehr bemerkenswert, obwohl man allerdings jetzt auch dort mit dem Schwinden des kirchlichen Ein­ flusses die bewußte Formung der Bildung für ein großes Problem erkennt und ihm mit viel Psychologie und Pädagogik heute nachgeht. Ganz anders liegen die Dinge bei den Franzosen, soweit sie, wie es das ganze offizielle Frankreich getan hat, mit der Kirche und der großen mittelalterlichen Ver­ gangenheit gebrochen haben. Hier stehen die Naturwissenschaften der Auf­ klärung in moderner positivistischer Systema l tisierung im Mittelpunkte und neben ihnen als Ausdruck, Schmuck und Selbstmitteilungsmittel der Geist des klassischen französischen Zeitalters, der französischen I Renaissance. In dieser Zusammenfügung empfindet sich der französische Geist als Träger aller feineren Kultur, Geistigkeit und Erkenntnisschärfe, die er zum demo­ kratischen Volkseigentum gemacht zu haben glaubt und mit dem Evangelium der Demokratie zusammen als die große Gabe Frankreichs der Welt darbringt. Es ist bekannt, daß dem gerade die neueste idealistische Entwicklunga Frankreichs9 und ein modernisierter KatholizismuslO starke Gegena

A: Entwickelung

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Der französische Philosoph Henri Bergson (1 859-1 941) entwickelte in den 1 880/ 90er Jahren zentrale Ideen der Lebensphilosophie. Diese richtete sich gegen die ma­ terialistisch-mechanistische Welt- und Wissenschaftsauffassung sowie die evolutionä­ ren Theorien von Charles Darwin und Herbert Spencer. Bergson deutete die gesamte Wirklichkeit aus der metaphysischen Einheit des Lebens, dessen schöpferische Grundkraft ("elan vital'') im Ringen mit dem Stofflichen immer neue Schöpfungen hervorbringe. In der Entwicklungslinie des französischen Voluntarismus und Spiri­ tualismus begründete er eine neue intuitive Erkenntnistheorie, Psychologie, Natur­ philosophie, Ethik und Religionsphilosophie. Vgl. Ernst Troeltsch: Der Modernismus (1 909/1 9 1 3) KGA 1 0. Troeltsch definiert den katholischen Modernismus darin wie folgt: "Er ist das Selbstverständlichste von der Welt, ist im Katholizismus immer vorhanden gewesen und wird in irgendeiner Form immer wieder kommen. Er ist nichts anderes als die Anpassung der Kirche an die moderne Welt, die Aufnahme ihrer wissenschaftlichen Methoden und Erkennt­ nisse in das religiöse Denken, die Verarbeitung ihrer sozialen und politischen Ideale durch die Ethik der Kirche, der praktische Kompromiß mit der modernen Entwicke--+

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kräfte entgegenstellten, aber damit schwindet auch dort die Einheitlichkeit, die dem französischen Geista und seiner Bildung die starke Stoßkraft oder die elegante Verführungs fähigkeit gegeben haben. Beide Geistesarten und Bildungsprinzipien, die angelsächsische und französische, sind unzweifel­ haft einfacher und geschlossener als die deutsche. Bei uns ist die Mischung und Spannung am buntesten und am tiefsten . b Die Gründe dafür sind mannigfach und liegen zunächst nahe genug: die konfessionelle Spaltung, die scharfe politisch-soziale Trennung zwischen Herrenschicht und Masse namentlich im Norden, die Übergewalt des ver­ späteten, dafür um so heftigeren Eintrittes in die kapitalistische Lebensver­ fassung mit ihren Folgen der sozialen Entzweiung. Noch wichtiger aber und tiefer geht die Zerbrechung der ganzen deutschen geistigen Überlieferung im Dreißigjährigen Kriege, die Wiedererneuerung aus dem Geiste der west­ lichen Kultur, von der wir zunächst alles erst wieder zu lernen hatten, und die Verselbständigung inner l halb dieser Wiedererneuerung an der Hand einer eigentümlich aufgefaßten Antike, des deutschen Neuhumanismus Goethisch-Humboldtischer I Prägung. All das folgte aus dem Leidensgang einer ganz unerhört hin und her geworfenen Volksgeschichte. Aber um die Ge­ gensätze voll zu machen, kommt dazu, daß gerade aus dieser Geschichte her­ aus doch auch zugleich die eigentümlich nordisch-germanischen, heimat­ lich-irrationalen Geisteselemente in Deutschland lebendiger geblieben sind als in den anderen germanischen oder germanisch-romanischen Nationen und hier zu der geistigen Weltmacht der Romantik geführt haben. Und all diese Stoffe und Überlieferungen sind einer geistigen Charakterart überge-

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A: Geiste In A kein Absatz:

lung des Staates und der Gesellschaft." (S. 470jS. 52) Besonders in Frankreich, Italien und England konnte der katholische Modernismus, anders als in Deutschland, eine starke Wirkung entfalten. In England nahm Baron Friedrich von Hügel als katholi­ scher Laie eine führende Rolle ein. Troeltsch fügte in der Textfassung von 1 9 1 3 eine Textpassage ein, in der er von Hügel als "Patriarch[en] und [ . . . ] Seele der weitver­ zweigten Verbindung frommer und doch fortschrittlicher Kreise" (S. 6 1 ) bezeichnete. Seit 1 896 waren Troeltsch und von Hügel persönlich miteinander bekannt und stan­ den in brieflichem Kontakt. Friedrich von Hügel half Troeltsch maßgeblich bei der Vorbereitung seiner für das Jahr 1 923 geplanten Vortragsreise nach England und Schottland. Vgl. KGA 1 7.

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ben, die, wie bereits oben ausgeführt, die formalen Eigentümlichkeiten jener grenzenlos bohrenden Innerlichkeit und systematisierenden Allumfassung bei den besten Geistern besitzt, eine Eigentümlichkeit, die für den Durch­ schnitt auf die Ebene eines gründlichen Schulmeistertums und eines eifrigen Bildungsgeredes herabsinkt, aber schließlich doch immer mit den edleren Zügen zusammenhängend bleibt. Aus all diesen Gründen sind die Bildungs­ kämpfe bei uns am härtesten, bewußtesten und schwierigsten, zugleich bei den doktrinär-schulmeisterlichen Neigungen am theoretischsten. Die Ge­ gensätze der Theorie verschärfen dann wiederum die der Praxis, aus der sie ursprünglich hervorgegangen sind. So haben wir in Deutschland Versuche einer rein naturwissenschaftlichen Bildung, einer klassizistisch-humani­ stischen, einer modern-utilitarischen Berufsbildung, einer protestantischen und einer katholischen, einer liberalen, konservativen und sozialistischen, und zu alledem kommen die Versuche einer wesentlich auf das Deutschtum begründeten hinzu. I Sucht man sich ein selbständiges und begründetes Urteil über diese Kämpfe zu bilden, so geht man am besten nicht von den kämpfenden Schlagworten und Typen selbst aus, sondern von dem Grundgebot der Lage: Vereinfachung und Konzentration. Man kann sich nicht klar genug machen, daß das die ernsteste und furchtbarste Lebensnotwendigkeit ist, wenn die Vereinfachung nicht kommen soll durch den Rückfall in die Barbarei . Hat man aber das erkannt, dann ist die Frage: auf welchen Linien und mit welchen Mitteln ist sie zu finden? Sie ist nicht zu finden durch einfache Streichung und Beseitigung irgend­ eines der genannten Elemente. Es ist lediglich ein Wahn, zu glauben, daß es möglich sei, die ganze technisch-kapitalistische Unterlage, das, was man heute bei uns gerne und sehr einseitig "Amerikanismus" nennt, einfach zu beseitigen oder zu ignorieren. Darauf können nur Rentiers, Professoren und Schriftsteller kommen, die glauben, daß ihre Einnahmen und Gehälter auch ohne das fließen würden und die überdies für die mächtige Losung der Na­ turbeherrschung, die darin steckt und die sehr wohl guten Zwecken dienst­ bar gemacht werden könnte, keinen Sinn besitzen. Das ist der Mangel all der mächtigen Strafpredigten, die Stefan George und seine Jünger gegen die ver­ ruchte Zeit schleudern. I I Es ist ebenso unmöglich, die demokratisch-politi11

In seiner Sammelbesprechung mit dem Titel "Die Revolution in der Wissenschaft" beschäftigt sich Troeltsch mit der "George-Schule": "Eine besondere Gruppe aber sammelt sich mit größter Wirkung um Stefan George, und aus dieser Schule ist Form und Sinn der Kampfparole hervorgegangen, von der diese Zeilen handeln sollen. Ste­ fan George ist ein großer Dichter, von dessen poetischen Wirkungen hier nicht zu

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sche Entwicklunga mit ihren lebhaft erregten Massen und ihrer alles durch­ einanderwirbelnden Bewegung aufzuheben, da sie die notwendige Folge der modernen Großstaatbildung ist und an der Steigerung I der Bevölkerungs­ zahlen hängt. Alle Hoffnungen auf ständigeb Idyllen, wie sie konservative Romantiker hegen, sind un l möglich, solangeC noch der große vorwärtsstür­ mende und zukunftsgläubige Atem in uns weht . Auch einseitige Festlegungen auf den Klassizismus, die ja immer seltener werden, sind ebenso unmöglich wie der ausschließende Kampf gegen Renaissance und Antike, der immer häufiger wird. Wir leben nun einmal in einem Bildungs­ zeitalter; die alte Einfachheit und Geschlossenheit ist unmöglich und würde uns als Enge unerträglich sein, wenn sie uns plötzlich überkäme, ehe die Er­ innerung an das reiche Leben der neueren Jahrhunderte verschwunden ist. Da hilft keine Klage, ja die Klage selbst ist Verrat an uns selbst und Anwand-

a

b c

A: Entwickelung A: ständische A: so lange

reden ist. Sie erklären nur seinen Einfluß. Denn jedes Lebensideal wird seinen ent­ scheidenden Einfluß stets nur durch die poetisch-anschauliche Verkörperung gewin­ nen, wie sie der Dichter oder der Religionsstifter geben kann, aber nicht der Theore­ tiker und Wissenschaftler, wenn er nicht etwa wie Platon zugleich Dichter ist. Das Wesentliche ist nur, daß George in seinem ganzen Wesen Gesetz und Dogma, die Fleisch gewordene neue Werttafel ist und in einer lauteren und strengen Erziehertä­ tigkeit voll Disziplin und fast asketischer Strenge sein Ideal seinen Schülern einbildet. Hier ist nichts von Schwulst und Geschwätz, von Literatentum und Feuilleton. Hier ist alles prophetischer Ernst und heiligstes Streben. Das Wertsystem, das er verkör­ pert, ist in starker Anlehnung an Platon, Dante und Nietzsche auch seinerseits aus dem modernen Historismus herausgebildet und nicht etwa wie bei Natorp aus dem Rationalismus. Aber er schneidet mit erbarmungsloser Schärfe alles Liberale, Demo­ kratische, Sozialistische, Rationalistische und Individualistische aus. Er will wie das aristokratische, spartanophile Hellenentum eine strenge, Geist und Leib in volle Har­ monie stellende Aristokratie schaffen, verbunden mit romanisch-germanischen Ideen der Gefolgschaft, des Heldentums und mit katholischen Ideen des mysterien­ haften Kommunionbundes.", in: Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissen­ schaft (1 921), S. 71 f. ...... KGA 1 3.

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lung gefährlicher a Schwäche. Die Vereinfachung kann nur dadurch ge­ funden werden, daß wir Ordnung und Gliederung schaffen, daß wir beherr­ schende Werte oder Dominanten herausarbeiten, die das Ganze leiten und dadurch vereinheitlichenb und die von jedem nach seiner Lage und Umge­ bung auf den ihm zustehenden Stoff angewendet werden sollen. Vollständig­ keit und Umfassung für den einzelnen ist unmöglich, vielleicht auch gar kein Ideal. Jeder wird am allgemeinen Bildungsstoff einen verschiedenartigen, praktisch ihm zugemessenen Anteil haben und ihn über gewisse Grenzen hinaus selten erweitern können; aber jeder kann die ihm zugängliche Masse beherrschen durch leitende Werte, wenn nur erst überhaupt solche erkannt, empfunden und bejaht sind. I Wie aber kommt man zu so einer solchen Herausarbeitung solcher beherrschenden Werte? I Sie ist nur möglich durch Ausscheidung dessen, was lediglich Voraussetzung und Unterlage ist ohne entscheidende Gesinnungs- und Charakterbe­ deutung, ohne bestimmende Kraft für den inneren Kern der Persönlichkeiten, so wichtig es auch sonst sein mag. Es sind das all die praktischen Dinge, die den Charakter der heute gegebenen Lage und Lebensweise, Arbeit und Ordnung bestimmen, die aber mit alle dem nicht den Kern des Wesens bilden oder auch nur ausfüllen dürfen, sondern als Material und Vor­ aussetzung gegebener Verhältnisse von ihm erst bestimmt und geformt werden müssen, soweit das möglich ist. Es sind das weiterhin alle Interessen und Notwendigkeiten des bloßen Wissens, das die gegebene und erkennbare Wirklichkeit begrifflich ordnet und durchdringt, um sie beherrschbar zu machen für die eigentlichen Zwecke des Geistes. Auch das ist Voraussetzung und Stoff, Mittel und Horizonterweiterung, aber es ist nicht der den geistigen Sinn und Wert des Lebens bildende Mittelpunkt. In all diesen Dingen sind Kenntnisse und Tüchtigkeiten wünschenswert und Gegenstand der Er­ ziehung, aber für den einen mehr diese, für den anderenc mehr jene. In diesen Dingen gibt es keine Gleichmäßigkeit auch nur der Forderung an alle, keine Systematik und keine Vollständigkeit, da niemand all das gleichzeitig und gleich scharf zu übersehen und kein Übersehender es praktisch einheitlich zu gestalten imstande sein würde. Auf Gleichmäßigkeit und Vollständigkeit in diesen Dingen muß entschlossen verzichtet werden; ein jeder muß sich nach seinen Bedürfnissen und Berufsaufl gaben auf bestimmte Dinge

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A: tödlicher In A folgt: sollen A: andern

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vorzugsweise wenden und hat vorn übrigen nur mehr oder minder I blasse Bilder, die genügen müssen, um die Verbindung herzustellen, deren Gewin­ nung und Mitteilung allerdings eine Aufgabe der Schulbildung und weiterhin der literarischen Belehrungsmittel ist. Die Zusammenstimmung und zen­ trale Charakterausbildung dagegen kann nur von denjenigen Geistesmäch­ ten aus erfolgen, die unmittelbar durch sich selber letzter Sinn und letzter Wert sind. Damit ist also von vornhereina auszuscheiden aus dem Kerne der geisti­ gen Bildung die ganze wirtschaftlich-technische Unterlage unseres heutigen Daseins. Das ist Gegenstand des Wissens, nicht der Bildung, und zwar eines Wissens, bei dem Unzählige nicht unmittelbar Beteiligte oder ganz abhängig Beteiligte nicht mehr zu wissen brauchen als die allgemeine Struktur dieses Zustandes überhaupt und die allgemeine Tatsache seines historischen Ge­ wordenseins, in der ohne weiteres die Einsicht begründet ist, daß es auch an­ dere Zuständlichkeiten gegeben hat und geben kann. Der Kapitalismus, wie man diesen modernen Zustand zusammenfassend nennt, ist trotz allen etwa möglichen Reformen und Sozialisierungen auf absehbare Zeit unser Schick­ sal. Auch jeder b nicht rein utopische b Sozialismus gedenkt ja nur ihn umzu­ wandeln und auf anderer Grundlage seine technische Lebensordnung fortzusetzen. Es hätte also keinen Sinn, sich dagegen ästhetisch-romantisch oder ethisch-politisch grundsätzlich zu empören. Man kann diesen Zustand nur nach Möglichkeit den höheren geistigen Werten und Zielen I anpassen und muß sich in die dabei offen bleibenden Kämpfe und Widersprüche fügen. Jedenfalls kann diesem Zustand kein Bildungsziel entnom­ men werden und kann seine Kenntnis nicht als allgemeine Voraussetzung be I zeichnet werden. Wer es nötig hat, der kümmere sich darum; wer es nicht nötig hat, begnüge sich mit der allgemeinsten Einsicht in das Wesen dieses Systems, die nicht sehr schwer zu erlangen ist. Nicht minder auszuscheiden ist die politische Lebensordnung, in der wir leben und unsere äußere Exi­ stenz aufbauen. Auch das ist zum allergrößten Teil Schicksal und Notwen­ digkeit, Folge bestimmter geschichtlicher Lagen und Verhältnisse, nicht Werk und Interesse der zentralen Persönlichkeit. Der moderne nationale Großstaat, die ganzen Folgen dieses Großbetriebes mit rationeller Verwal­ tung oder Beamtenherrschaft, die Nivellierung und Beweglichkeit der Be­ standteile mit ihren demokratisierenden Wirkungen, alles das ist genau so Schicksal, wie die eng damit zusammenhängende wirtschaftlich-technische

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A: vorneherein

b-h A: nicht-utopische

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Ordnung. Alle diese Dinge muß man bis zu einem gewissen Grade wissen, die Beteiligung des eigenen Lebensinteresses an diesem Ganzen verstehen, einen Instinkt für die hierbei sich bildenden Machtverhältnisse, Gefahren und Lösungsmöglichkeiten ausbilden, was vor allem in der praktisch-politi­ schen Arbeit und in der Erziehung durch die politischen Schicksale ge­ schieht. Damit ergibt sich der Sinn für nationale Lebensbedürfnisse von selbst, Heimatliebe, staatliches Ehrgefühl und Gemeinsinn verwachsen damit gleichfalls von selbst. Sie gehören zu den Vor l aussetzungen und Unterlagen der ganzen Existenz, aber nicht zum Kern und Ziel der geistigen Bildung. Vielmehr gibt der geistige Gehalt selbst allem politischen und vaterländischen Wesen erst die innere Größe und Würde. Auszuscheiden sind aber auch alle rein theoretischen Gebiete, sofern sie wesentlich Angelegenheiten des Wissens sind und nicht zu den geistigen Sinngehalten in eine innere und I unlösliche Beziehung getreten sind. Das gilt von der gesamten positiven Wissenschaft und ihren Zusammenfassungen zur Naturwissenschaft einerseits, zur Geschichtswissenschaft andererseits. Das alles ist ein unendlich wichtiges und ungeheuer interessantes Wis­ sensgebiet, und niemand kann eines von beiden vollkommen entbehren, wenn auch die Anteilnahme an ihm überhaupt und an seinen einzelnen Teilen der Natur der Sache nach unendlich verschieden ist und sein muß nach Genauigkeit und Umfang. Aber alles das ist doch nur Ordnung und Durch­ sichtigmachung der Wirklichkeit, der in der Natur vorliegenden großen weiten Welt und der in Erinnerungen, Überlieferungen und Leben vorlie­ genden Betätigung der Menschen auf unserer kleinen Erde. Diese Durchsicht und Kenntnis hat keinen Zweck und Sinn in sich selbst, sie zeigt nur Gesetz und Zusammenhang, Reihe und Auseinanderfolge des einzelnen. Die herausholenden Akzente, das einzelne Teile besonders verwertende In­ teresse, die an bestimmte Punkte sich heftendea Begeisterung, all das kommt doch erst aus dem eigentlich Wert und Sinn gebenden Zentrum der Seele, aus demjenigen, wonach I wir suchen und was weder mit dem naturwissenschaftlichen noch mit dem historischen Wissen selbst irgendwie gegeben ist. Im Gegenteil, das bloße naturwissenschaftliche Wissen bedroht metaphysisch den Geist, das bloße geschichtliche relativiert und zerbröckelt ihn ethisch. Wo die Idee der Größe und Gesetzmäßigkeit der Natur oder der Kontinuität und heroischen Gewalt der Geschichte einen Einfluß auf die innere Bildung selbst hat, da geschieht es, weil all das in einen philosophischen oder wenigstens intuitiv-poetischen Zusammenhang mit jenen Werten getreten ist. Aber diese Verschmelzungen und Durchdringungen liegen bereits

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A: haftende

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vor als anschaulich in Poesie, Kunst I und Gefühl verkörperte Lebens­ rnächte, und für die Bildung bedarf es keineswegs, sich beständig des Weges zu erinnern, auf dem, und der Gründe, aus denen diese geworden sind. Das ist Sache der Gelehrsamkeit, die etwas ganz anderes ist als Bildung, oft das Gegenteil. Auszuscheiden sind aber auch alle bloß partikularen und positiven Fest­ legungen der Wertwelt, vor allem also die bestimmten kirchlichen und Sek­ tenideen. Gewiß bestimmen sie da, wo sie ehrlich und lebendig die Gemüter beherrschen, die Bildung und ist die von ihnen erfüllte Bildung durch not­ wendige Anpassung an die Umgebung auch mit den nötigsten Rücksichten auf die anderena Kulturwerte vermittelt und überdies jeweilig vom nationa­ len Gesamtcharakter gefärbt. Auch ist nicht zu bestreiten, daß sie als solche geistige Mächte von großer und ehrwürdiger, ganz überwiegend heilsamer und erziehlicher Bedeu l tung sind. Man kann sich Landvolk und Kleinbür­ gertum schwer ohne sie vorstellen; für diese sind die kirchlichen Gemein­ schaften zweifellos die eigentlichsten Bildungsquellen für Weltanschauung, Phantasie, ethische Erziehung, künstlerische Anschauung. Aber ebensowe­ nig kann man bestreiten, daß heute alle geistige Bewegung und Produktivität außerhalb und oberhalb der Kirchen stattfindet, und soweit die Kirchen auch ihrerseits daran beteiligt sind, sind sie es durch Einimpfung und Gegen­ satz des modernen geistigen Lebens. Die Kirchen an sich und aus eigenen Mitteln sind heute nur mehr konservativ, sogar auf dem religiösen Ge­ biete selbst. Als solche konservative, äußerst gehaltreiche Mächte sind sie sicherlich von größter Bedeutung und Wirkung für das ganze gesellschaft­ liche Leben, aber sie haben die Initiative verloren, worin der ungeheure Unterschied gegen Altertum und Mittelalter liegt. I Unter diesen Umständen sind auch sie nur von mittelbarer Bedeutung für alle geistige Bildung, ja das letztere Wort hat an sich schon einen profanen und außerkirchlichen Klang. Man muß ihre Bedeutung und Wirkung, ihre Leistungen und Gefahren ken­ nen, man muß den Zugang zu den von ihnen gehüteten Geistesschätzen be­ sitzen und diese auf eigene Weise frei verwerten können. Aber auch das ist schon vom Leben selbst vollzogen und in den Gebilden der modernen außerkonfessionellen Religiosität hingestellt worden. Auch hier bedarf es keiner Kenntnis der Prozesse und Vorgänge, in denen diese geworden ist, sondern nur eines lebendigen Bildes von ihr. Darumb macht auch die persönliche Stellung zu I den Kirchen wenig aus für den Gehalt der Bildung, sobald man von den eigentlich Kirchlich-Gläubigen absieht. Man kann den

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b

A: andern A: Dann

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Kirchen angehören aus Pietät oder Gemeinschaftsbedürfnis oder Gewohn­ heit, man kann für bestimmte Dinge ihrer geradezu bedürfen oder über­ haupt sich nicht von ihnen trennen wollen. Aber die eigentliche Religiosität und Geistigkeit kann dabei doch von ihnen sehr unabhängig sein. Der mo­ derne Mensch lebt in dieser Hinsicht ein Doppelleben, wenn er überhaupt zu den Kirchen ein bejahendes Verhältnis hat, und es ist nicht einzusehen, wie sich das ändern könne, auch wenn man betreffs der Kirchen sehr wohl eine Steigerung ihres Einflusses für möglich hält, dem auch eine kommendea Trennung von Staat und Kirche eher nützen als schaden würde. So bleiben also für den beherrschenden geistigen Kern die drei alten Mächte, deren Vereinigung schon das Mittelalter erfüllte und damit den Mut­ terschoß auch der modernen Welt bildete, alle drei freilich im Laufe der Zeit und unter der Wirkung des modernen Lebens und Wissens stark verändert: I der antike Humanismus, die christliche Seelenwelt des Abendlandes und die nordisch-germanischeb Geistesrichtung, alle drei anschaulich und lebendig in einer Fülle konkreter und immer neuer Schöpfungen und am Aufbau unseres heutigen Lebens immer noch lebendig beteiligt. Es handelt sich um das Verhältnis dieser Dreiheit. Ist sie das Letzte, oder gibt es auch hier noch eine größere Verein­ fachung durch Ausscheidung oder durch Stufenordnung? Es ist immer noch ein überreiches I und in sich spannungsvolles Ganze, das einer weiteren Konzentration zu bedürfen scheint. Die Aufgabe der Zusammenziehung und Vereinfachung wiederholt sich hier in der Tat nur auf einer höheren Stufe, und sie wird als solche auch deut­ lich genug empfunden. Darin vor allem hat es ja seinen Grund, wenn die ei­ nen die christliche Religiosität ganz als einen orientalischen oder spätantiken Fremdkörper ausscheiden oder die anderen nur Germanentum und deut­ sche Heimatkunde gelten lassen wollen, sei es mit, sei es ohne Christentum, und wieder andere alles auf Antike und Renaissance abstellen. Und doch ist hier das einfache Ausscheiden nicht möglich. Zu tief sitzen diese drei Mächte in unseren Seelen, und zu unlösbar sind sie mit allen Leistungen unserer Ge­ schichte, unserer Kunst und Literatur verwachsen. Jede Ausscheidung wäre eine Gewalttat, die nur in der Theorie und in der Forderung, aber nicht im Leben und Sein möglich wäre, und bei allen bedeutenden Propheten solcher

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A: etwaige A: nordisch germanische

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Ausscheidung läßt sich zeigen, daß sie selbst das Ausgeschiedene I noch in ihrer Seele tragen. Nietzsche trägt bei allem antiken Heidentum und Hedo­ nismus doch die nordische Romantik und die christliche Unendlichkeit der Seele in sich, um nur das bedeutendste Beispiel zu nennen. Und auch die feu­ rigsten Antiklassizisten und Schwärmer für die Gotik tragen als Maßstab und Vergleich, als Zaum und Formsicherung die Antike in sich. Es ist nichts daran zu ändern, daß alle drei beständig mit- und ineinander sind; und es ist auch nur natürlich, denn alle drei zu l sammen haben miteinander die Seele des heutigen Europa geschaffen. Also durch Ausscheiden ist hier nichts mehr zu machen. Hier hilft nur entschlossene Rang- und Stufenordnung, die sich darüber klar sein muß, daß sie nicht auf Vernunftgründen oder wissenschaftlicher Konstruktion, son­ dern auf der Unmittelbarkeit des Gefühls und der Überzeugung beruht. Ohne Mut zu solcher Unmittelbarkeit gibt es aber überhaupt keine Verein­ fachung, sondern nur das dem Modernen so geläufige Hinundherspielena zwischen den Möglichkeiten, dessen unfruchtbaren und skeptischen Cha­ rakter er sich nur allzugern unter ästhetischen Hüllen oder durch die Freude am geistreichen Spiel verbirgt. Die ahasverischenb Neigungen und Einsich­ ten des Judentums haben außerdem nur allzusehr die Hand mit in diesem Spiele. Dieser Krankheit aber gilt es vor allem abzusagen; sie ist die Euphorie des Schwindsüchtigen, der seine Krankheit für Gesundheit hält. Faßt man sich dazu ein Herz, so ist sonnenklar, daß beherrschend sein muß das religiöse Element. Hat dieses überhaupt eigenen Sinn und Gehalt, dann muß es der Natur der Sache nach im Mittelpunkt stehen. Und dieses re­ ligiöse Element wiederum kann nichts anderes sein als die von allen konfessionellen I Schranken freie, rein auf Seele und Liebe zusammengezogene Christlichkeit. Sie ist die Religion des Abendlandes aus seiner innerlichsten Entwicklung heraus seit den Tagen des Hellenentums und seiner Neubelebung durch die Berührung mit der alten Religion I des Orients, seit den Ta­ gen der Völkerwanderung und germanischen Staatengründung, für die Kul­ tur und Christentum ein und dasselbe waren. Europa wird keine andere Religion sehen, und auf außereuropäischem Boden wiederum wird das Chri­ stentum ohne gleichzeitige Übertragung des Europäertums schwer Fuß fas­ sen können. Denn eins ist aus dem anderenC erwachsen. Das Christentum hat alles in sich gesogen, was Europa an Sehnsucht, Kraft und Begeisterung besaß, und das europäische Leben wiederum ist durchtränkt mit allen Säften

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b c

A: Hin- und Herspielen A: Ahasverischen A: andern

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des Christentums. Aus dem Niedergang des Altertums geboren und es wieder emporreißend zur Befruchtung und Beseelung der germanischen Erben ist es der anziehende und abstoßende Magnet geworden, der die Lagerung der Teile zu allerletzt bestimmt. Es ist unser Schicksal geworden, und wir müssen es lieben oder hassen wie dieses; lieben, wie der Fromme die Gnade, die Vorherbestimmung, die göttliche Fügung liebt, oder hassen, wie der pro­ metheische Titan die Götter haßt, denen er sich schließlich doch unterwerfen muß. Da man Religionen nicht improvisieren und erfinden, auch nicht durch Vernunft konstruieren oder ersetzen kann, so bildet das Christentum unter dem Zwang unseres ganzen historischen Seins die unterste Schicht unseres Geistes, aus der wir alle geistig herauswachsen, wie unsere Leiber die Säfte unseres Bodens und die Formen unserer Vorfahren in sich tragen. Alles, was an hoher fremder Religion uns von außen, besonders aus dem Osten, zukommt, wird von I uns doch immer unter dem starken Vorurteil der aktiven und lebendigen I Persönlichkeit aufgefaßt, die von aller reinen Beschaulichkeit immer wieder zu der europäischen Aktivität und Schätzung des Schöpferischen zurückkehrt. Und alles Emporstreben von der christlichen Geschichtsreligion in die Höhe einer rein menschlichen Religiosität bleibt von der konkreten Fülle und Kraft unserer historischen Religion aus genährt und gerichtet. Daran ist nichts zu ändern: wer Religion haben will, wird sie aus dem Boden unserer ganzen Vergangenheit heraus in sich mächtig werden lassen müssen, wenn nicht alles ein Spiel oder eine Theorie sein soll. Und damit sind wir doch auch gar nicht dem geographischen Zufall unterworfen. Sondern wie unsere ganze Geisteswelt die reichste und lebendigste, allgemeinmenschlichste und schöpfe­ rischste der Erde ist, trotz allen Gefahren und Mängeln, die uns die stillen und feinen Geister des Ostens vorhalten, so ist auch die in ihrem Zusam­ menhang erwachsene Religiosität ganz naturgemäß die alle Spannungen und Widersprüche des Lebens in der letzten und lebendigsten Tiefe zusammen­ fassende. Sie ist die höchste Aufgipfelung der Persönlichkeit durch die Hingabe an den sie erfüllenden Gotteswillen und der Umschlag dieses höchsten Individualismus in die Liebe zu den mit uns in Gott geeinigten Brüdern; die restlose Arbeit an der Welt im Dienste Gottes und der Liebe und der Umschlag dieser Arbeit in die innerlichste Ruhe und Stille, aus der sie ausströmt und in die sie zurückkehrt; die schärfste Spannung der Gottinnigkeit gegen die sinnlich-irdische Welt der Selbstliebe und des kreatürlichen Hochmutes und der Umschlag dieser I Spannung in die innerste Einheit von Göttlichem und Menschlichem, von Schöpfer und Schöpfung, von Geist und Leib. Sie

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A: allgemein menschlichste

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wandelt sich selber mit I den Zielen und im Zusammenhange des allgemei­ nen Lebens, aber nimmt sich aus jeder allgemeinen Lage in neuer Selbstge­ staltung in sich selbst zurück, erzeugt sich neu aus ihrem geschichtlichen Grunde, indes ihre alten Organisationen als Gemeinschaft des Kultus und der volksmäßigen Religionspflege hinter ihr zurückbleiben. In diesem Sinne verstanden bleibt sie aber der Mittelpunkt alles Geistes, der Ausdruck sei­ nes Zusammenhanges mit dem Wesen und Ganzen der Dinge und inso­ fern der alles von sich aus durchleuchtende Lichtkern aller Bildung unseresa Geistes. Allein die religiös-metaphysische Idee ist zwar der Mittelpunkt des Gei­ stes, weshalb die entleerte und spielerisch gewordene Bildung heute allent­ halben nach Wesen und Metaphysik zurückverlangt, aber sie kann die Bil­ dung nicht erschöpfen. Die Religion ist, je religiöser sie ist, der Innerlichkeit und dem Höchsten zugewandt und darum verhältnismäßig hilflos gegen Welt und Kultur, Gesellschaft und Sitte, Staat und Recht, Kunst und Wissen­ schaft. Diese Dinge stammen aus anderen Quellen, wie sehr sie sich dann auch mit der religiösen Idee verbinden mögen. Die Frage ist, aus welcher Quelle wir nun diese Dinge in erster Linie zu schöpfen haben. Darauf ist zu antworten: aus den nächstliegenden, aus den am meisten mit unserer Ge­ schichte und unserem gewordenen Wesen zusammenhängenden Kräften. Das aber ist das nordisch-germanische Prinzip, von dem uns nur künst l liche und fremde, gelehrte und oberflächenhaft uns anhängende Meinungen und Gewohnheiten zu trennen scheinen. In Wahrheit sind wir durch und durch Nordländer mit dem Heimatssinn und dem Familiengefühl unserer alten Sie­ delungen und unseres geschlossenen Hauses, mit der grenzenlosen und unplastischen I Phantasie der musikalischen Sehnsucht, mit den soziologi­ schen Grundformen der Treue und der Genossenschaft, mit den Rechts­ begriffen des Vertrauens und des Gemeinsinns, dem rätselfrohen Denken eines alles anbohrenden Irrationalismus, dem Ethos des individuellen Trot­ zes und der leidenschaftlichen Kindlichkeit. Das ist nicht deutsch im enge­ ren nationalen Sinne des eigentlichen Deutschland, es ist mit den Germanen aller nordischen Nationen irgendwie zugeflossen. Es handelt sich ja auch nicht um irgendeine nationale Selbstgefälligkeit und gewollte Enge, sondern auch hier um den schicksalhaften Zug des Geistes, der uns nun einmal durch Boden und Geschichte und das unaufhellbare Geheimnis einer Uranlage im wesentlichen aufgeprägt ist. Auch hier gilt es zu werden, was man ist, weil nur so die hohe innere Klarheit und Einigkeit mit sich selbst erworben wer­ den kann. Die richtige Pflege der Heimatliebe, die Öffnung des Auges für

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A: des

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den Zauber unserer Landschaft und unsere überall uns umgebenden alten Städte, die Gewinnung des Verständnisses für unsere den Symbolismus mit dem härtesten Realismus vereinigende Kunst, die Einsicht in das besondere Wesen unserer unerhört leidensvollen und doch an Poesie und Größe so reichen Geschichte, die Erkenntnis von dem Fort l wirken dieses nordisch-germanischen Zuges bis in die modernste Kunst und Dichtung, bis in den Faust und die deutsche Staats bildung, bis in die deutsche Philosophie und Wissenschaft: alles das ist, je nach Bedarf und Beruf, das Bildungsmittel, das uns mit diesem unserema eigenen Wesen vertraut macht. Dabei tut man gut sich klar zu machen, daß alles das zwar im Mittelalter mit dem Christentum eng zu­ sammengewachsen, daß es aber mit ihm ganz und gar nicht einerlei ist. Der Trotz und die Leidenschaft, die un l endliche Grübelei und die Märchenfreude, die Verehrung von Kraft und Männlichkeit und die romantisierte Erotik: all das ist durchaus nicht christlich und hat sich mit dem Christentum oft genug empfindlich gerieben. Aber es ist die naturgewachsene Urgewalt unserer Ordnung und Behandlung der weltlichen Dinge, die, schwer erfaßbar und formulierbar, aber leicht fühlbar durch alles hindurchgeht bis auf den heutigen Tag. Eben deshalb darf man sich hierfür nicht künstlich und gewaltsam an das Mittelalter halten, das allerdings die nächste und eigent­ lichste Voraussetzung unseres Daseins ist und dessen Geistesgeschichte trotzdem heute noch so gut wie unerforscht ist. Das wird eine der großen wissenschaftlichen Aufgaben der Zukunft sein, und man fühlt heute schon, wie die jungen Talente dieser Aufgabe zuströmen. Aber das Mittelalter ist vergangen und kann unmöglich das wesentliche Erziehungsmittel der Ge­ genwart sein. Es handelt sich vielmehr darum, die in ihm nur besonders kenntlich werdenden nordisch-germanischen Eigentümlichkeiten aus unserem gesamten geisti l gen Leben heraus zu erkennen, die Linien aufzufinden, die von Poesie und Kunst, Staat und Sozialform, Gläubigkeit und Grübelei bis zu Luther und der deutschen Renaissance, zu Dürer und Grünewaldb, Rabelais und Shakespeare, Sebastian FranckC und Jakob Böhme, Shaftesbury und Rembrandt, Herder und Goethe, Stein und Bismarck führen. Daß hierbei überall noch ganz andere Elemente mitbeteiligt sind, ist an sich selbst­ verständlich und gleich noch besonders zu erörtern, aber ebenso klar ist, daß in alledem ein eigentümlicher Gesamtzug liegt, in dem wir tiefsten Zwang und tiefste Eigentümlichkeit unseres Wesens wiedererkennen. Auch das muß man sich klar machen, daß das bisheriged Preußen-Deutschland in viea

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A: unserm A, B: Grünwald A, B: Frank A: neue

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ler I Hinsicht mehr preußische als deutsche Züge trug, und so nützlich die ersteren der politischen Härtung gewesen sein mögen, unter dem Ge­ sichtspunkt der Bildung ist der großdeutsche Gedanke der deutschere und geistigere, mit den germanischen Elementen des übrigen Europa leichter vereinbare. Werden die ganzen darin liegenden Bildungsmittel erst völlig sichtbar und verwertbar gemacht und eine vaterländische Geschichte und Heimatskunde mit der besonderen Liebe und Wärme aus der rein objektiven und wissenschaftlichen allgemeinen Geschichte herausgestellt, wie wir das Christentum instinktiv aus der allgemeinen Geschichte der Religionen bei praktischer Behandlung herausstellen, ohne jene gleichzeitige objektive Be­ trachtung zu leugnen: dann wird unsere Bildung sicherlich den geschlosseneren und einheitlicheren, ursprünglicheren und mehr instinkt i sicheren Ge­ halt bekommen, nach dem wir so heiß verlangen. Aber - die Frage liegt längst bereit und ist kaum zurückzuhalten - was wird unter diesen Gesichtspunkten aus dem dritten Element, dem antiken Humanismus? Die Frage wird heute leidenschaftlich und vielfach behandelt und mit oft großen Einseitigkeiten beantwortet. In Wahrheit ist auch sie der Hauptsache nach von Leben und Geschichte bereits beantwortet. In Wahr­ heit ist die Antike untrennbar eingeschmolzen in das Christentum, das einen Teil ihrer tiefsten Strebungen in sich aufgenommen hat, ja aus ihr heraus selbst zum guten Teil entsprungen ist, zu einem anderen Teil freilich in tie­ fem Gegensatze gegen sie steht. Aber nicht anders steht es mit dem Germa­ nentum. Seine Kultur ist von Anfang an teils durch die in Christentum und Kirche einverleibten antiken Elemente, teils durch die daneben mit Staat und Recht, Wissen l schaft und Kunst verbundenen selbständigen Nachwirkun­ gen der Antike ganz und gar durchsetzt und bis in die Sprache hinein von ihr nicht zu scheiden. Die Renaissance oder die Wiedergeburt Italiens aus seinen alten nationalen Überlieferungen heraus mit ihrer neuen Mischung von christlichem Individualismus und antiker Sinnenfreude und Formenklarheit hat hier doch nichts grundsätzlich Neues bedeutet, sondern nur den Schwer­ punkt verschoben und die geistige Mischung stark von der antiken Seite her akzentuiert. Und das war gar nicht anders möglich. Alle Grundlagen europäischer Wissenschaft liegen in der Antike, und die Steigerung der I wis­ senschaftlichen Kultur bedurfte unweigerlich der Antike bis tief in Mathe­ matik und Naturwissenschaften hinein. Hier besteht bis heute überhaupt kein wirkliches Problem. Denn alle Wissenschaft ist in Form und Inhalt heute noch derart mit der Antike durchsetzt, daß man kein Wort Griechisch oder Latein zu kennen braucht, um bis auf den Grund mit antikem Bildungs­ geist durchsetzt zu sein. Nur für die Klarheit und Steuersicherheit der wis­ senschaftlichen Bildung ist auch der bewußte Zusammenhang mit der histo­ rischen Antike ein Bedürfnis. In Wahrheit lebt sie in und mit den neuen

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Säften selber weiter und ist unser eigenstes Eigentum geworden. Sofern Wis­ senschaft zur Bildung gehört, gehört mittelbar oder unmittelbar auch die Antike dazu. Aber das ist allerdings noch nicht der entscheidende Punkt, wenn es sich um den Kern der geistigen Bildung handelt, die Wissenschaft eigene oder fremde - zwar voraussetzt, aber mit ihr nicht zusammenfällt. Der Schwerpunkt des antiken Humanismus liegt vielmehr in den ethischen, metaphysischen und künstlerischen Elementen, die alle eng untereinander zusammenhängen und in Wahrheit von den letzteren I beherrscht werden. Hierum geht in Wirklichkeit der eigentliche Kampf, und hier ist der Sitz der ärgsten inneren Spannungen. Hier ist die Antike, soweit sie nicht aus der rö­ mischen und christianisierten, sondern aus der kraftvollen hellenischen Antike stammt, in der Tat ein Prinzip der Innerweltlichkeit, der Vergöttlichung des Menschen, der Immanenz der Schönheit in der Sinnlichkeit, der Hingabe an das Ge l gebene und Seiende, der lediglich rationalen und anthropomorphen Formung und Typisierung der Wirklichkeit. In dieser Hinsicht steht sie in der Tat in starkem, wenn auch jedesmal andersartigen Gegensatz sowohl zum christlichen als zum nordisch-germanischen Prinzip. Aber gerade in dieser Gegensätzlichkeit besteht nun doch wieder ihr bekannter und un­ sterblicher Reiz. Sie bildet das weltliche und das rationale Gegengewicht gegen die Innerlichkeit und Phantastik und gewährt die Schule der Form, den Anreiz zur Begrenzung und Beherrschung des eigenen Lebensstiles in Würde und Freiheit; sie zwingt die Phantasie und den Irrationalismus zur Ausbildung eigener, von der Antike angeregter, sie benützender oder zumindesta mit ihr wetteifernder Form. All das wirkt von den Anfangszeiten her auf uns und hat heute noch nicht aufgehört, es geht durch ganz Europa hindurch bis heute und erfüllt insbesondere auch unsere ganze eigene geistige Geschichte. Deshalb handelt es sich auch hier nicht um ein noch offenes theoretisches Problem, um eine Frage des Beliebens oder der noch möglichen freien Entscheidung. Unsere Sitte und unser Ethos, unsere Schätzung leiblicher Schönheit und Form, unsere Poesie und Kunst sind allenthalben durchsetzt von antikem Geistb und ohne diese Verschmelzung gar nicht zu denken. Man kann kaum einen Satz lesen oder ein Ornament sehen, das diesen I Einfluß nicht irgendwie Cmit enthielte . Es kann sich also nur darum handeln, welche Stellung man der Antike einräumt, ob die der eigentlichen Norm aller reinen und un l abhängigen, aus der Vernunft geschöpften Menschlichkeit oder die des anspornenden, reizenden und zu

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eigener Form zwingenden und helfenden Prinzips. Das erste entsprach dem Gedanken der Renaissance und noch mehr des Humanismus des 1 6. Jahr­ hunderts und ist vom deutschen Neuhumanismus in einem durchsichtigen, wenn auch nicht einfachen Zusammenhang mit dem Rationalismus des 1 8. behauptet worden. All das hing mit dem noch vom chrisdichen Dogma her nachwirkenden Drang zu absoluten Maßstäben und universalen Mensch­ heitsdogmen zusammen. Dem steht nun aber heute eine historische und re­ lativierende Auffassung gegenüber, die in der Antike einen zwar wundervol­ len, aber doch ganz individuell-konkreten Ausdruck gewesener historischer Wirklichkeiten sieht und sie darum nur in freiester Benutzung und Umbil­ dung, als Ergänzung oder als spornenden Gegensatz für eine deutsche Bil­ dung, ja für eine moderne Bildung überhaupt verwerten kann. Es ist kein Zweifel, daß unser ganzes historisches Denken und insbesondere das hier von mir zugrunde gelegte Vereinfachungs- und Vereinheitlichungsbedürfnis uns auf diesen zweiten Weg weist. Die Antike ist vor allem in ihrer unter uns heute lebendigen Anschaulichkeit und Wirkung zu nehmen, und durch ge­ lehrte Kenntnis ist diese lebendige Wirklichkeit nur zu verlebendigen und zu erfrischen, soweit Gelehrsamkeit und Philologie überhaupt erfrischen kann. Für alle peripherischen Dinge wird die Antike wie bisher leicht als Er­ gänzung und anahe verwandte a Anschauung von Würde und Kraft geformten Geistes dienen I können. Im innersten Kern dagegen wird ein I heißes Ringen nie aufhören, das, an antiker Formenklarheit entzündet, dem eige­ nen, viel subjektiveren und persönlicheren Wesen eine eigene Form zu geben strebt. Man wird an dem gewaltigsten Geiste deutscher Bildung, an Goethe, dieses Ringen nachfühlen und verstehen lernen und wird gerade ihm, min­ destens dem Goethe der mitderen Periodeb gegenüber heute die Akzente verschieben. Die Romantik ist nicht umsonst auf Goethe gefolgt und zum guten Teil aus ihm entsprungen. Welche Schranken auch sie als eine histo­ risch sehr bedingte und gemischte Erscheinung gehabt haben mag, sie hat dem Ü bergewicht der Antike seit Renaissance und Neuhumanismus wieder eine Grenze gesetzt, die nicht mehr zu verrücken ist, und die uns zu einer Neuordnung des ganzen Verhältnisses nötigt, nachdem es im Leben selbst sich verschoben hat. Das wäre also das Ergebnis aller bisherigen Erwägungen: eine Dreiheit der zentralen Geisteskräfte, in welcher das christliche und das nordisch-ger­ manische Element den Mittelpunkt bilden und das antik-humanistische die Bedeutung der Ergänzung und des Ansporns zur Gewinnung der Form hat.

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A: naheverwandte A: Periode,

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Weiter läßt sich die Vereinheitlichung nicht treiben, alles Weitere wäre Ge­ waltsamkeit und Verarmung. Gewiß, es ist eine Einheit des Heterogenen. Aber das ist das Leben überhaupt. Das Bildungsideal kann nicht ein Erzeug­ nis der Theorie oder der allgemeinen Vernunftnotwendigkeit sein, es kann nur die Vereinheitlichung der konkreten historischen Kräfte, die I Auslese und die Verhältnisbestimmung ihrer sein, wobei diese beiden letzteren Tätigkeiten selbst in letzter Form Entschluß und Glaube, Gefühl und Instinkt sind, nicht logischer Beweis oder dialektische Konstruktion. Diese Einheit des Heterogenen hat sich seit anderthalb Jahrtausenden zusammengelebt und I wird sich weiter zusammenleben. Dem Denken ist nur ein Regulieren, ein immer neues Zusammendenken und eine immer neue Heraushebung des Einheitlichen möglich, das sich in diesen Vorgängen tatsächlich bildet. Die zu findende Einfachheit ist in den Bildungszeitaltern der Natur der Sache nach nur eine verhältnismäßige. Sie schwindet noch mehr, wenn wir dann wieder an die Anwendung dieses Bildungskernes auf die ganz andersartigen und hundertfach verschiedenen praktischen Lebensverhältnisse des Staates, der Gesellschaft, der Arbeit oder an die Beseelung des rein theoretischen unendlich verzweigten Wissens den­ ken. Hier bilden sich in der Hauptsache Stellungen und Betrachtungen völlig unübersehbar, in individueller Mannigfaltigkeit, in zufälliger Begrenzung und Mischung. Hier muß man rundweg auf das Ideal der Vollständigkeit und Systematik verzichten, das überhaupt kein Ideal, sondern eine enzyklopädi­ sche Schulmeisteridee ist. Es wird in alledem ja niemals an führenden und sammelnden Geistern fehlen, die bald mehr - ohne Geringschätzung sei es gesagt - dem Konversationslexikon gleichen, bald mehr dem scheidenden und verbindenden, den Stein der Weisen suchenden Alchimisten, was wieder ohne Geringschätzung ge l sagt sein soll. Von ihnen werden Ordnungen, Entscheidungen, Konstruktionen ausgehen. Aber die eigentliche wirkliche Bildung ist die Willenskraft, die sich von den Schätzen der Zeit nicht erdrücken läßt und auch nicht in das Spiel des alles verstehenden und nichts glaubenden Ästhetentums ausweicht, sondern auf ihre Weise und von ihrer Art aus den ihr vorliegenden Stoff mit jenem Geiste beseelt, der sich in der geschilderten Weise zusammengefaßt hat. Auch dann bleibt all unser Tun Stückwerk, wie es das I auch in den einheitlichen, nur von der Ferne aus so geschlossen aussehenden Zeitaltern vermutlich gewesen ist; aber aus dem Stückwerk leuchten die Linien heraus, in deren Richtung die Vollendung gesucht und emp­ funden wird. a

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In A folgt kein Absatz.

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a Mehr und anderes ist uns allem Anschein nach nicht gegeben.a Die höchste Weisheit ist, sein Schicksal zu lieben und zugleich es schaffend zu bewältigen. Das können auch wir; und aus unserer Schicksalslage heraus den Geist zu Einheit und Kraft zu führen, das allein ist deutsche Bildung. Ist das nun aber nicht im Grunde - so wird man nun gerne fragen - wieder das Ideal der christlich-germanischen Romantik, oder kommt es ihr nicht

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A: Mehr war vielleicht niemals möglich und ist jedenfalls uns nicht gegeben.

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doch bedenklich nahe? Solche Schlagworte und Vorurteile braucht man nicht zu scheuen. Die Frage zu stellen ist in der Tat naheliegend, und man kann sie in aller Ruhe und Sachlichkeit beantworten. Die Romantik ist der Popanz der einen, der Abgott der anderena. Zu ihr muß ohnedies jedes Bildungsideal Stellung nehmen, wobei ich die Romantik in dem gewöhn l lichen Sinne der Mittelalter und Christentum stark bevorzugenden Romantik vom Anfang des 1 9. Jahrhunderts nehme und von den Verdunkelungen des Begriffsb in der modernen Literaturgeschichte ab i sehe, einerlei ob man in ihr eine allgemeine völkerpsychologische Erscheinung aller Volksentwicklungen oder eine besondere Ausformung der plotinischen Mystik finden will. Die Antwort kann nicht ganz einfach sein. Sie muß lauten: Ja und nein, mehr nein als ja. Also vor allem nein. Denn es ist gar nicht daran gedacht, von da aus die modernen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu be­ stimmen. Diese Bildung ist anwendbar auf eine deutsche Demokratie, wenn die moderne Entwicklung aller Staaten auch Deutschland in die demokratischen Formen der Willens bildung hineintreibt und in der Demokratie sich ihr Grundinstinkt, die Geltendmachung der eigenen und selbständigen Per­ sönlichkeit, gegen manche ihrer Folgeerscheinungen behaupten kann. Sie ist innerhalb einer privatkapitalistischen und einer sozialistischen Produktionsform möglich und setzt nur überhaupt Cso viel C Freiheit von den Interessen der materiellen Gütererzeugung voraus, als für den Geist überhaupt notwendig ist zum Leben, eine Freiheit, die nicht bloß auf der Produktionsordnung, sondern vor allem auch auf dem Willen zu solcher Freiheit beruht. Sie ist ins­ besondere nicht verknüpft mit irgendwelchen konfessionellen Neigungen, mit pietistischen oder katholischen Restaurationen, sondern denkt nur an die lebendige und immer neue Religiosität der Gegen l wart, die sich freilich zu den Kirchen ein Verhältnis der Möglichkeit des Nebeneinanderbestehens geben muß. Insbesondere denkt sie nicht, wie aus allem hervorgeht, an eine Wiederherstellung des Mittelalters, das total vergangen ist, sondern sucht auch das germanische Prinzip nur in seiner gegenwärtigen Lebendigkeit und Lebensrichtung auf, wozu ihr die Geschichte lediglich Richtpunkte und Ver­ deutlichungen I gibt. Sie ist überhaupt nirgends wesentlich retrospektiv, sondern überall ganz wesentlich produktiv: Herausbildung und Klärung des geistigen Besitzes zu neuer Einheit und sich gegenseitig durchdringender

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A: andern A: Begriffes A: soviel

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Konzentration. Eben deshalb ist sie auch ohne jede doktrinäre Verständnis­ losigkeit gegen die Antike, von dem Wahn eines grundsätzlichen Bruches mit ihr ganz abzusehen, der ja auch der alten Romantik übrigens ferngelegen hat. Auch die Antike ist so ein Element unseres Lebens, nur dasjenige, das mit seinem innersten Geiste am schwersten eingehen kann in die Seele des heutigen Menschen und das ihn daher mehr reizt und spornt zur Selbst­ erfassung und Selbstformung, als daß es ihn geradezu bestimmen könnte. Die Stilmischungen, die aus diesem Sachverhalt hervorgehen, kann und will denn auch sie nicht beseitigen, wenn auch verringern oder im Akzent verändern. All das bedeutet einen grundsätzlichen Unterschied. Allein ein gewisser Zusammenhang mit der Romantik ist trotzdem nicht zu leugnen. Hat doch auch diese selbst sich schon aus der Überfülle der Anregungen und des historischen Besitzes zunehmend auf Christen i turn und Germanenturn, das ihr freilich mit dem Mittelalter dasselbe war, zurückgezogen, um eben damit dem ästhetischen Spiel und Relativismus zu entgehen, der ihre grenzenlos geistreichen Anfänge erfüllte. Insofern besteht zwischen den gegenwärtigen Ausführungen und der Romantik allerdings die Ähnlichkeit einer gemeinsa­ men Grundabsicht, die zu leugnen um so weniger Anlaß ist, als gerade darin das tiefste innere Recht der Romantik bestanden hat. Aber die Gemeinsam­ keit geht noch weiter. Auch die sachlichen Inhalte, durch deren Heraushe­ bung die Vereinfachung erreicht wird, sind, wenn auch nicht dieselben, so doch ähnliche: die Reli l giosität und die Schicksalsbestimmtheit des nordi­ schen Menschen und seiner Geschichte. Aber auch darin hat die Romantik durchaus ein richtiger Instinkt geleitet. Wenn es überhaupt Einheit gibt und Kraft des Wieder-naiv-Werdens, dann kommt sie durch die Hingabe, die Entselbstung der Religion, mit der alles Große, Ü bermenschli­ che, Ewige wieder in uns einzieht. Und wenn es überhaupt aus historischer Bildung eine Erneuerung gibt, dann muß sie in erster Linie auf die eigene Geschichte bezogen sein, aus der allein wir die ersehnte Bodenständigkeit gewinnen und begründen können. Und schließlich ist auch die relative Zu­ rückhaltung gegen die Antike3 eine notwendige Folge solcher Konzentra­ tion, die von der Romantik um so mehr als notwendig bewiesen ist, als sie ge­ rade selbst vom Kultus der Antike ausging und mit ihm nicht zu Standeb kam, ein dauerndes Zeugnis für die I hier bestehenden inneren Spannun­ gen, die man nur zurückschieben, aber nicht wirklich lösen kann.

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In A folgt: oder ihre romantische Verwandelung im Stile Hölderlins A: Rande

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Noch andere naheliegende Fragen knüpfen sich an. Wenn das bisher ge­ schilderte Ganze "deutsche Bildung" heißen soll, worin besteht die Deutsch­ heit dieser Bildung? Ist nicht die Christlichkeit gerade in dieser gelösten, außerkonfessionellen Gestalt ein internationales Element, ist nicht das ger­ manische Prinzip ein Bestandteil aller modernen europäischen, vor allem der nordischen Völker, wie ja auch das Mittelalter zunächst mehr französisch als deutsch war? Ist schließlich nicht die Antike erst recht das gemeinsame, spe­ zifische Bildungselement aller Europäer? Wenn aber das so ist, wie darf man dann eine solche Bildung vorzugsweise deutsch nennen, um so mehr als das Grundbedürfnis der Vereinfachung alle Welt, jedenfalls alle Europäer, erfüllt a? I Auch diese Frage ist berechtigt genug. Aber sie ist nicht schwer zu beantworten. Deutsch ist an diesem Bildungsideal zunächst nur, daß es ganz und gar aus der deutschen Lebenslage und aus der deutschen Innerlichkeit heraus empfunden und gestaltet ist. Uns verstrickt die Verwicklungb aus vielen Gründen schmerzlicher und drückender als andere, und wir müssen die Lösung noch tiefer von innen heraus suchen als jene. Wir sind in Form und Lebensstil unsicherer und unfertiger, schwerfälliger und abhängiger als andere, darin liegen Vorzüge des Reichtums und Schwächen der Formlosigkeit. Zugleich sind wir trotz aller Technik und aller Teilnahme am Imperialismus der Welt heute noch das Volk der Metaphysiker, I das die Lösung systematischer und mehr von innen heraus suchen muß als andere, die leichter mit großen Überlieferungen und Übereinkömmlichkeiten von außen her sich binden und beruhigen können. Aus dieser besonderen Not und besonderen Art heraus wird unsere Antwort eine eigene. Aber die sachlichen Gehalte, zu denen sich unsere Antwort bekennt, sind natürlich die allgemeineuropäischenc und verbunden mit dem Gefühl der Gemein­ samkeit unseres Kulturbesitzes, der gerade jetzt nach den Greueln dieses Krieges und seiner Suggestionen die Seelen wieder zu einigen berufen ist. Immerhin aber ist doch auch in der Zusammenfassung dieser sachlichen Gehalte selbst die starke Betonung des germanischen Elementes wenigstens etwas verhältnismäßig und vorwiegend Deutsches. Denn schließlich ist das allgemein germanische Element bei uns und den Skandinaviern stärker erhalten geblieben als sonst und bildet gegenüber den von der Renaissance bis heute überwiegend bestimmten Völkern unser geistiges Leben in der Tat I

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A: erfüllte A: Verwickelung A: allgemein europäischen

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eine Besonderheit, die wir mit alledem nur aussprechen. Aber es handelt sich dabei in der Tat um nichts d in engem d Sinne Deutsches und Neudeutsch-Pa­ triotisches, sondern nur um das Germanenturn mit seinem allmählich auf Deutschland sich verschiebenden Schwerpunkt. aKann nun aber einO derartiges Bildungsideal auch nur für uns Deutsche selbst als allgemeingültig und allbeherrschend bezeichnet werden? Und wenn wir, wie unumgänglich ist, zugeben, daß es das tatsächlich bis I jetzt nicht ist, soll es dann wenigstens zu einem solchen künstlich gemacht wer­ den, und ist das möglich und wahrscheinlich? Darauf ist zu sagen, daß es sich hier nicht um die Bildungsziele der Staatsschule handelt, die natürlich bis zu einem gewissen Grade uniform und allgemeinherrschend sein müssen. Die Schulfrageb wollen wir hier einmal ganz beiseite lassen. Es handelt sich um die Ziele persönlicher Bildung, um ein Ideal, das man nicht der Schule, aber dem gereiften Menschen allerdings im ganzen und allgemeinen wünschen möchte. Aber das erreicht eben doch jeder nur von seinem Standort und sei­ nem Geschichtsverständnis und seiner persönlichen Entscheidung aus. In einer so reichen Welt, wie die unsrige ist, ist die allseitige Übereinstimmung nicht möglich, welche primitiven Lebenslagen ihren Reiz - jedenfalls für uns - verleiht. Aber immerhin die Kombinationsmöglichkeiten sind auch unter uns nicht unbegrenzt, und jede der großen Kombinationen ist unter al­ len Umständen von einer großen Masse Gleichgestimmter getragen, die nur eben nach Klärung und Ausdruck ihres Gefühls verlangen. Eine Mehrzahl verschiedener Bildungsgruppen bleibt I dabei freilich immer bestehen. Das ist nicht zu ändern und gehört zum Bildungszeitalter. Es ist nur zu fordern, daß jedes Bildungsideal tief in der allseitig erfaßten Geschichte wurzele und doch nicht bloß ein Auszug aus ihr, sondern eine lebendige, durch Auslese und Stellungnahme hindurchgegangene Zusammenfassung und Einheit sei. Der Wetteifer und Kampf verschiedener großer Haupttypen ist dann zu ertragen und kann I gegenseitig fördern. Der Gedanke der "deutschen Bil­ dung", wie er hier darzulegen versucht worden ist, ist daher nur das Unter­ nehmen einer solchen Zusammenfassung unter stärkerer Betonung des germanischen Prinzips, und es bedarf keines Wortes, daß dieser Gedanke von zahlreichen Anhängern getragen ist; nicht erst infolge der furchtbaren Scheidungen, die der Krieg angerichtet hat, sondern schon lange vorher, seit

d-d A: im engen a-a A: Noch eine letzte Frage meldet sich von selbst. Kann ein b A: Schuldfrage

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die Kritik an dem modernen "Fortschritt" am Werke ist. Wie sich die Schule mit solchen Bestrebungen abfinden könne, ist dann ein besonderes und schwieriges Problem für sich, doch immerhin wenigstens insofern nicht so ganz hoffnungslos, als ja doch die Individualität und die Ausbildung der Lehrer dem vorgeschriebenen Stoff a erst die Lichter persönlicher Bildung aufsetzt und die Gleichförmigkeit der vorgeschriebenen Lehrstoffe doch die Vielförmigkeit der geistigen Beseelungb durch den Lehrer nicht aus­ schließt. Sie wird insofern die großen geistigen Bildungstypen widerspiegeln, die außerhalb ihrer sich gebildet haben . Es ist also nicht der Wunsch, die Schulverhältnisse zu reformieren, und nicht der Wahn, ein allgemein-gleichesc Bildungsideal für ein großes Millionenvolk zu entwerfen, was dieser Erörterung zugrunde liegt. Was ihr am Herzen liegt, ist viel wichtiger und möglicher, nämlich die Einsicht zu fördern, I daß Vereinfachung und Konzentration die Frage der geistigen Rettung und Lebendighaltung sind. Das kann man nur zeigen, wenn man selbst einen bestimmten Weg weiß und dessen sicher ist. Unser Vaterland hat I schwere Zeiten vor sich. Außer vielem anderen muß es zurückkehren zum Geist, und dann muß es den Weg dazu kennen. Es wird ihn um so leichter finden, wenn der Geist, den es sucht, sein eigener Geist ist, den es schon hat.

Demokratie

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Ende November oder Anfang Dezember 1 9 1 8 wurde der "Demokratische Studentenbund Berlin" als akademische Vereinigung in politischer Nähe zur DDP gegründet. Liberale Professoren wie Ernst Troeltsch unterstützten diese Neugründung an der Berliner Universität. 1 Der junge Wilhelm Mommsen, ein Enkel Theodor Mommsens und Schüler von Friedrich Mein­ ecke,2 war "nach 1 9 1 8 mehrere Jahre Vorsitzender des ,Demokratischen Stu­ dentenbundes"'.3 Der Kunsthistoriker Werner Weis bach beschrieb die Ziel­ setzung der Vereinigung wie folgt: "Sie sollte ein Gegengewicht bilden gegen die radikalisierte Jugend und eine politische Erziehung für die Aufgaben der demokratischen Republik ausüben."4 In diesem Geist verfaßte Weisbach auf Anregung von Friedrich Meinecke am 1 4. und 1 5. November 1 9 1 8 einen Aufruf "An die deutsche Jugend",5 den auch Troeltsch unterzeichnete.6 Po­ litisch-erzieherischen Aufgaben in Kreisen der Studentenschaft nachzukom­ men, schien um so bedeutsamer, als bereits bei den Wahlen zur Verfassung­ gebenden Deutschen Nationalversammlung am 1 9 . Januar 1 9 1 9 alle Männer und Frauen ab dem vollendeten 20. Lebensjahr wahlberechtigt waren.7 Im Kaiserreich stand zuvor nur Männern das Wahlrecht zu, dessen aktive Aus­ übung bei Wahlen zum Reichstag die Vollendung des 25. Lebensjahres vor­ aussetzte und bei Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus auf der

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Werner Weisbach: Geist und Gewalt (1 956) , S. 201 f.

2 Friedrich Meinecke: Autobiographische Schriften (1 969) , S. 21 1 . 3 Werner Stephan: Aufstieg und Fall des Linksliberalismus 1 9 1 8-1 933 (1 973), S. 335. 4 Werner Weisbach: Geist und Gewalt (1 956) , S. 20 1 f. 5 Ebd., S. 200. 6 EZA, Nachlaß Friedrich Siegmund-Schultze 5 1 /S 11 n 7. 7 Hans Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2 (1 990) , S. 234 f.

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Demokratie

Grundlage des Dreiklassenwahlrechts nur männlichen Wählern ab dem voll­ endeten 24. Lebensjahr verfassungs rechtlich garantiert war. Auf Initiative des "Demokratischen Studenten bundes" erklärten Fried­ rich Meinecke, Ernst Troeltsch, Heinrich Herlrner und Werner Weisbach, die sämtlich zu den Initiatoren und Unterzeichnern des Aufrufs "An die deut­ sche Jugend" im November 1 9 1 8 gehärt hatten, sich im Wintersemester 1 9 1 8/1 9 dazu bereit, eine Vortragsreihe zu halten.8 Es fanden von Dezem­ ber 1 9 1 8 bis Februar 1 9 1 9 vier Vorträge statt: "Das alte und das neue Deutschland" (Friedrich Meinecke) , "Demokratie" (Ernst Troeltsch) , "Das großdeutsche Problem der deutschen Politik" (Heinrich Herkner) und "In­ ternationalismus - Übernationale Gemeinschaft - Völkerbund" (Werner Weisbach)".9 Ernst Troeltsch hielt seinen Vortrag vor dem "Demokra­ tischen Studentenbund" der Mitteilung Weisbachs nach am Abend des 1 6. Dezember 1 9 1 8 in dem Lokal "Rheingold" in der Potsdamer Straße. 10 Presseberichte über Troeltschs Vortrag sind nicht bekannt. Wilhelm Momm­ sen, der Troeltsch in Berlin kennenlernte und von ihm im Rigorosum in Phi­ losophie geprüft wurde, nannte ihn in einem Nekrolog "im besten Sinne des Wortes ein[en] Führer der deutschen Jugend [ . . . ], ohne daß es beiden viel­ leicht bewußt war". 1 1

2 . Textgenese und Drucklegung Manuskripte oder Druckfahnen sind nicht überliefert. Als selbständige elf­ seitige Broschüre ohne Numerierung ist in den "Schriften des Demokrati­ schen Studentenbundes Berlin" eine Textfassung mit folgenden Angaben er­ schienen: Demokratie. Von Professor Dr. Ernst Troeltsch, ordentlicher Professor an der Universität Berlin. Sonderdruck aus dem Kunstwart und Kulturwart, 32. Jahrgang, Berlin 1 9 1 9 (A) . Am Ende dieser Fassung findet sich die Orts- und Datumsangabe "Berlin, 29. Dezember 1 9 1 8". Der Edition liegt der Zeitschriftenartikel zugrunde, der unter dem Titel "Demokratie" erschienen ist, in: Der Kunstwart und Kulturwart. Halbmonatschau für Aus8 Werner Weisbach: Geist und Gewalt (1 956) , S. 201 f. 9 Ebd., S. 201 f.

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Brief von Werner Weisbach an Friedrich Siegmund-Schultze, 1 0. Dezember 1 9 1 8, in: EZA, Nachlaß von Friedrich Siegmund-Schultze, 5 1 /S II n 7. Wilhelm Mommsen: Ernst Troeltsch t, in: Der Herold der demokratischen Jugend Deutschlands, hg. von Hans Werner Goßling und Heinrich Landahl, 4, Nr. 35, Fe­ bruar 1 923, S. 22; Wiederabdruck in: Ernst Troeltsch in Nachrufen, hg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees (2002) .

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drucks kultur auf allen Lebensgebieten, hg. von Ferdinand Avenarius, 32. Jg., viertes Viertel, Juli bis September 1 9 1 9, Heft 21 , erstes Augustheft 1 9 1 9, München: Verlag von Georg D. W Callwey, S. 93-1 02 (B) . Die Abweichun­ gen von A gegenüber B sind verzeichnet. Die Fassung B endet mit dem redaktionellen Hinweis: ,,(Ein Aufsatz des­ selben Verfassers über "Aristokratie" soll folgen.)" Neben seiner Kolumne im "Kunstwart", die unter dem Pseudonym Spectator oder als "Berliner Brief" stärker auf das aktuelle Tagesgeschehen ausgerichtet war, veröffent­ lichte Troeltsch dort gleichzeitig Artikel unter vollständiger Namenszeich­ nung. Nach der deutschen Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versail­ Ies am 28. Juni 1 9 1 9 und dem Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung am 1 4. August 1 9 1 9 publizierte er im "Kunstwart" eine lose Artikelfolge über die während der Revolution vorherrschenden politischen Bewegungen und ihre sozialen Trägergruppen. Neben "Demokratie" gehören dazu "Aristo­ kratie"12 (Oktober 1 9 1 9) , "Sozialismus" 1 3 (Februar 1 920) und "Der Bol­ schewismus" (Oktober 1 920) . Die Artikel nehmen nicht unmittelbar Bezug aufeinander. Nachdem Troeltsch für seine "Kunstwart"-Kolumne das Pseu­ donym "Spectator" aufgegeben hatte, erschien sein Artikel "Der Bolsche­ wismus"14 (Oktober 1 920) als erster "Berliner Brief" und ist aus diesem Grunde KGA 1 4 zugeordnet. Die Titelkennzeichnung von A als "Sonderdruck aus dem Kunstwart und Kulturwart, 32. Jahrgang" auf dem vorderen Deckblatt der entsprechenden Ausgabe der "Schriften des Demokratischen Studenten bundes Berlin" ist irreführend. Denn der im "Kunstwart" (Textfassung B) erst später erschie­ nene Text ist erkennbar eine überarbeitete, teils korrigierte, teils erweiterte Version. Ob urheberrechtliche Gründe die Studentenvertreter veranlaßten, ihre Broschüre als "Kunstwart"-Sonderdruck auszuweisen, ließ sich nicht ermitteln. Eine von Hans Baron bearbeitete Fassung erschien 1 924 unter dem abweichenden Titel "Die deutsche Demokratie. (29. Dezember 1 9 1 8) ", in: Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe (1 924) , S. 301 -3 1 3. Baron hat keine handschriftlichen Zusätze oder Änderungen von Troeltsch selbst kenntlich gemacht. Diese Voredition kann daher vernachlässigt werden.

1 2 In diesem Band abgedruckt, S. 270-283. 1 3 In diesem Band abgedruckt, S. 357-370. 1 4 Ernst Troeltsch: Der Bolschewismus (1 920) , S. 36-44 -+ KGA 1 4.

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�rofeffor Dr. [ . . . ] ."Adam Stegerwald: Die christlich-nationale Arbeiter­ schaft und die Lebensfragen des deutschen Volkes (1 920) , S. 221 f. Folgende Leitgedanken legte Stegerwald seiner politischen Konzeption zugrunde: ,, 1 . Eine starke christlich-nationale Volkspartei, eine starke Mittelpartei ist das Gebot der Stunde, wenn der Wiederaufbau Deutschlands in staatlicher, wirtschaftlicher, so­ zialer und kultureller Hinsicht gelingen soll; 2. der evangelische Volksteil aus sich her­ aus kann diese Partei nicht schaffen; dafür streben die Kräfte bei ihm zu stark ausein-

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tigen. Wir bedüifen einer neuen Sammlungspolitik, einer neuen Mitte, eines reine­ ren und stärkeren, edleren und selbstloseren Nationalgefühls und einer be­ sonnenen Zunge, Feder und Gedanken zügelnden politischen Klugheit. Die große Frage ist, ob das deutsche Volk die politische, intellektuelle und mora­ lische Kraft hierzu überhaupt besitzt. An sein Volk glauben, heißt an diese Kraft glauben und alles tun, um sie bei sich und andern zu stärken. Damit muß im neuen Jahr ernstlich angefangen werden.

ander; 3. der katholische Volks teil allein ist für eine starke Mittelpartei, insbesondere auch im Hinblick darauf, daß er durch die Abtretungsgebiete stark geschwächt ist, ebenfalls zu schwach; 4. wenn das große Ziel gelingen soll, ist vielmehr eine politische Zusammenfassung der positiven Kräfte im katholischen und evangelischen Lager das Gebot der Stunde." Ebd., S. 233. Dabei ging Stegerwald nicht von der "Demokratie der Weststaaten Europas, der Scheindemokratie" aus, sondern von einem auf das staatliche Ganze ausgerichteten deutschen Modell der bürgerlichen Selbstverwaltung: "Was wir wollen ist die organi­ sche Demokratie, die Fortsetzung des Werkes, das vom Freiherrn vom Stein begonnen und unbeendet geblieben ist. Wir wollen die Erziehung des Volkes zur Bejahung des staatlichen Gedankens, die bei uns leider keine Selbstverständlichkeit ist, durch mög­ lichst ausgedehnte Teilnahme an der Selbstverwaltung." Ebd., S. 221 . I n dem sozialpolitischen Teil seiner Rede führte Stegerwald zur Lage der Arbeiter aus: "Diese Grundlinie, die uns als christlichen Sozialpolitikern immer besonders klar hätte sein müssen, sie sollte zu einer anderen seelischen Wertung des Arbeitnehmers führen. Der Arbeiter und der Angestellte sollten sich nicht mehr als Objekte der Wirt­ schaft, als ein gefühlloses Rad in der großen Maschinerie gewertet wissen, sondern sie sollten zur Anerkennung ihrer Arbeit im Sinne der sittlichen Anschauungen eines tief erfaßten Christentums kommen. Es muß allmählich die Form gefunden werden, die den Arbeitnehmer wieder zum Subjekt, zum Mitträger der Wirtschaft macht. Dieses alles in ein paar Jahren nachzuholen, ist die Riesenaufgabe, die uns durch die Schuld der vorhergehenden Generation auf unsere Schulter gelegt ist." Ebd., S. 21 1 . Hinsichtlich der wirtschaftlichen Notwendigkeiten betonte Stegerwald: "Die völ­ lige Ü berführung der Produktionsmittel in den Besitz der Allgemeinheit, in den Be­ sitz des Arbeitnehmers - an sich schon eine Utopie - ist unter allen Umständen ein Wahnsinn im Augenblick sinkender Produktivität. Dafür sind Kar! Marx und Lenin die besten Kronzeugen. [ . . ] Eine Ü berführung des Besitzes der industriellen Werke in die Hände der Arbeiter zu einer Zeit, wo mit dauerndem und ins Riesenhafte stei­ gendem Kapitalbedarf zu rechnen ist, dessen Deckung man nicht zwangsweise oder durch die staatliche Notenpresse vornehmen kann, würde sich in kürzester Frist als undurchführbar erweisen." Ebd., S. 21 2. .

Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar.

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Nach der militärischen Niederlage Frankreichs 1 870 bildete die Proklama­ tion des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser am 1 8. Januar 1 87 1 im Schloß von Versailles den formellen Höhepunkt der Gründung des Deut­ schen Reichs. Dem Jahrestag dieses Ereignisses wurde in Gestalt von Erin­ nerungsfeiern an die Einigung der Deutschen gedacht. Als offizieller Feier­ tag setzte sich der 1 8. Januar im Kaiserreich jedoch nicht durch.! Am 1 8. Januar 1 9 1 9 wurde im Schloß von Versailles die Konferenz eröff­ net, auf der die Friedensbedingungen für das militärisch unterlegene Deut­ sche Reich verhandelt wurden. Aus Anlaß der fünfzigsten Wiederkehr des Gründungstags des Deutschen Reichs am 1 8. Januar 1 921 regte der Reichs­ minister des Innern, Erich Koch-Weser (DDP) , eine Gedenkfeier an. Das Kabinett unter Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum) beschloß in seiner Sitzung am 2 1 . Dezember 1 920 daraufhin, "des SOjährigen Beste­ hens des Deutschen Reiches am 1 8. Januar 1 921 zu gedenken."2 Es wurde ferner beschlossen, daß sich der Reichsinnenminister an die Länderregierun­ gen mit der Bitte wenden sollte, "am 1 8. Januar [1 921] in den Schulen der Be­ deutung dieses Tages zu gedenken" und mit dem Reichstagspräsidenten "wegen einer Feier im Reichstag an diesem Tag" in Verbindung zu treten.3 Es bestand jedoch nicht die Absicht, den 1 8. Januar in den Rang eines ge­ setzlichen Feiertags zu erheben.

1 Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland von 1 871 bis 1 945 (1 990) , S. 1 62. 2 Kabinettssitzung vom 21 . Dezember 1 920, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer

Republik. Das Kabinett Fehrenbach 25. Juni 1 920 bis 4. Mai 1 92 1 , bearbeitet von Peter Wulf, Boppard am Rhein: Harald Boldt Verlag, 1 972, Nr. 1 43, S. 372. 3 Ebd.

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Deutsche Einheit

2. Textgenese und Drucklegung Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der unter dem Titel "Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar" erschienen ist, in: Vos­ sische Zeitung, Nr. 27/A 1 4, 1 8. Januar 1 921 , Morgen-Ausgabe, S. 1 f. CA) .

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Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar. Von Staatssekretär Dr. Ernst Troeltsch, Professor an der Universität Berlin.

Heute hallt das ganze deutsche Land wider von Festfeiern, und in dem Ton dieser Festfeiern kommt die parteipolitische Zerrissenheit des deutschen Volkes zu starkem Ausdruck, obwohl es die Feier der Erinnerung an die Einigung der Deutschen ist. Allen, die in erster Linie nichts sind als Patrioten und denen die Parteien nur mehr oder minder taugliche Mittel zur Herstel­ lung von Gesundheit und Lebenskräftigkeit des Ganzen sind, fällt das Feste­ feiern schwer. Ihnen würgt angesichts der Vergiftung und Verzankung unse­ res Volkes im innern Streit und angesichts des fortdauernden, nur in der Form veränderten Krieges von außen Scham, Ekel, Sorge, wenn nicht gar Verzweiflung, die Kehle. Für solche Menschen ist es ein Tag der Einkehr, der geschichtlichen Selbstbesinnung und der Härtung der Seele zu Glauben und Arbeit trotz aller Finsternis. Die geschichtliche Selbstbesinnung ist uns, die wir zunächst von unserer Historie an die Endgültigkeit des Bismarckschen Reiches und den Gedanken der Aufgipfelung unserer ganzen Geschichte zu ihm gewöhnt waren, heute eine dringende Aufgabe. Es handelt sich um ein neues Bild der deutschen Geschichte, das dem Verstande und der Phantasie vorleuchten und das den Weg in die neuen Zukunftsmöglichkeiten sichtbar machen muß. Nach allen Katastrophen und Weltwendungen muß das Geschichtsbild in seinem gro­ ßen Hauptzuge umgedreht werden, um Vergangenheit und Zukunft in eine neue Verbindung zu bringen und die Radosigkeiten oder Kurzsichtigkeiten des Moments aus dem inneren Zuge des Werdens heraus zu überwinden. Dazu genügt nicht, daß wir uns nur den Unterschied der Einigungsarbeit vergegenwärtigen, der zwischen der ersten großen nationalen Erhebung der Paulskirche und dem zweiten großen Vorgang der Bismarckschen Einigung bestand, daß wir heute das falsche Ueberlegenheitsgefühl gegenüber der Paulskirche abtun und die dynastisch-militärischen Mittel Bismarcks durch Wiederaufnahme der demokratisch-populären Ideen ersetzen oder berichti­ gen. Die Sachlage muß in einem weiteren Rahmen gesehen werden. Wir müssen die ganzen Schwierigkeiten einer deutschen Staats bildung in der Mitte Europas überhaupt vor Augen haben und dürfen nicht vergessen, daß schon einmal die deutsche Staatsbildung von einer internationalen Welt­ katastrophe erstickt und beinahe vernichtet worden ist. Das war im Dreißig­ jährigen Krieg, der den deutschen Staat des Mittelalters und seine Reorga­ nisationsversuche am Ende des Mittelalters vernichtete. Der Friede von

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Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar

Osnabrück und Münsterl hat überallhin seine Grenzen aufgelockert, hat seine Ströme und seinen Handel unter die Kontrolle der Fremden gebracht, seinen Wohlstand und damit die Bedingungen der geistigen Kultur vernich­ tet und die innere Uneinigkeit grundsätzlich organisiert. Dazu gab es damals keine soziale Revolution, sondern nur die politisch doch etwas weniger ge­ fährliche Glaubensspaltung, und Deutschland war ein Agrarstaat, der von sich selber leben und sich aus sich selber erneuern konnte, während heute unsere Wirtschaft und unsere ungeheuer gesteigerte Bevölkerungsmasse vom Weltmarkt leben müssen und von ihm aus zurzeit getötet werden kön­ nen. Es hat über 200 Jahre gedauert, bis diese Katastrophe ausgeheilt war, die uns damals das Rückgrat gebrochen hat. Das Bismarcksche Reich war das Ergebnis dieses Wiederaufstieges. Um dies Ergebnis zu ermöglichen, mußte eine zweite norddeutsche Großmacht neben dem immer mehr dem Osten zugewandten und das Reich als Glacis behandelnden Habsburgerstaat entstehen, mußte Napoleon und die franzö­ sische Revolution mit dem zähen Gerümpel der alten Reichsreste aufräu­ men, mußte eine nationale geistig-wissenschaftliche und politisch-demokra­ tische oder liberale Gesinnungseinigung der Nation eintreten, mußte die Auseinandersetzung mit den Habsburgern und schließlich mit der an der Niederhaltung Deutschlands vital interessierten französischen Vormacht er­ folgen unter neutralem Zusehen des übrigen Europa. Damit erst wurde das Bismarcksche Reich möglich und mit diesem Reich wieder ein Wohlstand und Reichtum, die durch die Art, wie wir sie ertragen haben, zeigen, wie we­ nig wir ihrer gewöhnt und auf sie moralisch und politisch vorbereitet waren. Das Bismarcksche Reich war die kleindeutsche und preußische Lösung des Problems, zugleich eine Einigung der Dynastien und eine auf die Sonderstellung der preußischen Armee zur preußischen Krone sowie auf die Sonderart des preußischen Abgeordnetenhauses begründete Vormacht Preußens gegenüber Bundesfürsten und Bundesrat, wozu das populär-de­ mokratische Prinzip der Volkseinheit nur in Gestalt eines kontrollierenden

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Der Westfälische Frieden vom 24. Oktober 1 648 beende te den Dreißigjährigen Krieg und damit die Feindseligkeiten zwischen den beiden Machtblöcken Ö sterreich­ Spanien und Frankreich-Schweden-Niederlande. Als Orte für die langwierigen Frie­ densverhandlungen waren 1 641 das katholische Münster und das protestantische Os­ nabrück, beide in Westfalen, vereinbart worden. Nach langer diplomatischer Vorbe­ reitung trafen sich hier seit 1 645 die Gesandten aller kriegführenden Parteien unter päpstlicher und schwedischer Vermitdung. Eines der ersten Ergebnisse war der am 30. Januar 1 648 erfolgte Friedensschluß zwischen den Generalstaaten und Spanien, der die Souveränität der niederländischen Nordprovinzen und ihre Lösung vom Reich besiegelte.

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und gelderbewilligenden Reichstages trat.2 Zugleich war es von außen aufs schwerste bedroht durch die übrigen Großmächte, die es über ein gewisses Maß politischer und wirtschaftlicher Größe nicht hinauswachsen lassen wollten, und durch innere soziale Zerklüftungen, die teils aus der alten Klas­ senscheidung, teils aus der neu durch die Industrie erzeugten Arbeitermasse hervorgingen. Einem Weltkriege einschließlich Amerikas war diese schwer­ fällige Bundesmaschinerie, diese gespaltene Gesellschaft, diese sozial-revo­ lutionär unterminierte Produktionsordnung und diese auf die letzten Ent­ scheidungen eines einzigen Mannes, des preußischen Königs, angewiesene Militärmonarchie nicht gewachsen. So kam die Katastrophe aus tiefen inneren Gründen, schwerlich notwen­ dig und unvermeidlich, aber zweifellos nicht zufällig und bloß durch äußere Uebermacht der Gegner. Die Frage ist: Ist diese Katastrophe der des Drei­ ßigjährigen Krieges verwandt und damit das Ende des zweihundertjährigen Aufstieges und seiner ganzen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Ar­ beit? Und: ist der so viel beredete neue heutige Wiederaufstieg auch seiner­ seits ein Weg durch Jahrhunderte, der uns zunächst in immer größere Tiefen der Verarmung und damit auch des geistig-kulturellen Niederganges führt, um dann vielleicht einmal in heute ungeahnten Formen wieder die Existenz eines großen, seinen ganzen Bestand vereinigenden Volkes endlich zu ge­ winnen? Das Zeitalter der Weltwirtschaft hat gewiß größere und rascher wir­ kende Heilmittel als das der agrarischen Selbstgenügsamkeit, freilich auch größere und rascher vernichtende Gefahren als dieses. Aber solange der Ver­ saille r Friede nicht durch eine bessere Verständigung und Ausgleichung überwunden wird, bleibt seine Analogie mit dem von Osnabrück und Mün­ ster, nur daß er ungleich furchtbarer ist als dieser und die Nation nicht bloß mit wirtschaftlicher Erstickung, sondern mit der Spaltung zwischen rasen-

2

In der preußischen Verfassung von 1 850 (Art. 46) war die Ü bertragung des militäri­ schen Oberbefehls auf den preußischen König bzw. in der Reichsverfassung von 1 87 1 (Art. 63) auf den Deutschen Kaiser enthalten. Innerhalb Preußens stand der König aufgrund der Bedeutung des Militärs für die Entstehung Preußens, seine staat­ liche Machtstellung sowie seine politisch-soziale Struktur in einem engen Verhältnis zur Armee unter der Führung eines adelig dominierten O ffizierkorps. Preußen ver­ fügte im Bundesrat, dem von den verbündeten Regierungen bzw. den Bundesfürsten gebildeten Initiativorgan der Gliedstaaten, über eine Sperrminorität. Dem Bundesrat kam unter Vorsitz des Reichskanzlers gemeinsam mit dem Reichstag ein entscheiden­ der Anteil an der Gesetzgebung unter Einschluß des Budgetrechts zu. Die Mitglieder des Bundesrats fungierten dabei als Vertreter ihrer Regierungen. Das vom König er­ nannte preußische Ministerium unterlag nicht der Kontrolle des Abgeordnetenhau­ ses, das das gesamte Wahlvolk nach dem Dreiklassenwahlrecht wählte.

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Deutsche Einheit. Zum 1 8. Januar

dem nationalen Fanatismus und verzweifelter Hoffnung auf radikale Welt­ revolution bedroht, so daß die anfangs nach der Katastrophe sich durch­ setzende politische Vernunft und moralische Selbstbesinnung zu verdunsten beginnen oder eine müde Teilnahmslosigkeit die Menschen wieder auf spieß­ bürgerlichste Lebensfreuden sich beschränken läßt. Es ist aber ein großer Unterschied gegen 1 648 vorhanden: das ist der Fort­ bestand des Reiches selbst. Es ist aus der Katastrophe gerettet und durch eine neue Verfassung gegen die drohende Sozialrevolution rechtlich sicher­ gestellt worden. Und es ist noch ein ZfVeiter großer Unterschied: das ist die weltwirtschaftliche Lage und die Unlösbarkeit der deutschen Arbeit aus der Weltwirtschaft heraus. Die moderne Arbeit ist freie Arbeit und ist aus der geistigen Art und Lage des Sklaven heraus unmöglich. Daher kann es keine Versklavung geben, sondern, wenn die Welt unsere Arbeit braucht, braucht sie auch unsere Freiheit, wie wir selbst sie für unsere eigenen Zwecke brauchen. An diese beiden Punkte kann die Hoffnung anknüpfen, die ein deutscher Mann nur mit dem Leben selber aufgeben darf. Die Hoffnung, daß es noch anders geht als nach dem Dreißigjährigen Krieg, und daß nicht Jahrhunderte der Stumpfheit, des Elends, des Zankes, der Zerstückelung und endloser Er­ neuerungsmühen vor uns liegen. Es möchte dann leicht überhaupt keinen Aufstieg mehr geben. Denn das Europa von heute ist nicht mehr das von da­ mals. Es würde, in der Mitte und im Osten in die Unkultur zurückgestürzt, gegenüber der übrigen Welt als Ganzes verkümmern. Wir wären mit dem Ganzen und das Ganze wäre mit uns verloren. Das ist der große Unterschied gegen damals: ein organisiertes Reich besteht, und die Weltwirtschaft bedarf semer. Die öffentliche und moralische Meinung der Welt, die heute bei den aus dem Kriege her noch weiter herrschenden Gruppen vielfach noch entsetz­ lich durch den Kriegsgeist und die Kriegslügen gebunden ist, wird und muß das einsehen, und unsere eigene öffentliche Meinung und Moral muß unter Verzicht auf altgewohnte Klänge und Denkweisen gerade auf diesen Gedan­ ken der Herstellung des Rechtes und der ihre natürlichen Grenzen und An­ sprüche nicht überschreitenden nationalen Einheit und Selbständigkeit sich mit aller Kraft, allem Ernst und aller Wahrhaftigkeit sammeln.3 Das Reich 3

Ernst Troeltsch gehörte zu den Mitunterzeichnern der Erklärung der "Arbeitsge­ meinschaft für Politik des Rechts (Heidelberger Vereinigung)", die am 1 3. Februar 1 9 1 9 in zahlreichen deutschen Presseorganen, u. a. in der "Frankfurter Zeitung" un­ ter der Ü berschrift "Für eine Politik des Rechts", unter der Datumsangabe vom 7. Fe­ bruar 1 9 1 9 veröffentlicht wurde. Die Erklärung basierte im wesentlichen auf einer Denkschrift des letzten kaiserlichen Reichskanzlers Prinz Max von Baden, die dieser

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muß die es tragende, das Vertrauen des Auslandes erwerbende und die Klas­ sen nach Möglichkeit versöhnende politische Mitte mit allen Kräften ausbil­ den und seinen nationalen Gesamtbestand sammeln als ein großdeutscher, auf Freiheit und politische Mitverantwortung jedes einzelnen begründeter Einheitsstaat mit starker Dezentralisation im Innern. Das bleibt heute eine Möglichkeit im Unterschied von damals, und zwar eine vergleichsweise rasch arbeitende Möglichkeit. Nur muß sie Tatsache werden durch uns und durch unsere bisherigen Feinde zugleich. Es ist kein anderer Weg, nach außen und nach innen gesehen. Die Schwie­ rigkeiten der ganzen deutschen Geschichte stehen heute wieder auf. Das preußisch-deutsche Problem von 1 848 ist wieder brennend geworden. Das österreichisch-deutsche hat eine neue Gestalt gewonnen. Seele und Leib sind müde. Die Gesellschaft ist heillos zerspalten und der Arbeitswille der Mas­ sen von einem Halbjahrhundert Großbetrieb abgespannt. Alle Gefahren einer unseligen geographischen Lage und alle Folgen des kleinstaatlichen Absolutismus drücken auf uns. Aber noch haben wir das Reich von 1 87 1 . Nicht als endgültige Lösung, aber als Ausgangspunkt kommender Lösun­ gen. Keiner darf verzweifeln. Ein jeder muß glauben und hoffen und das Nötige tun, damit Glaube und Hoffnung nicht eine Phrase bleiben.

auf der Gründungsversammlung der Heidelberger Vereinigung am 3. Februar 1 9 1 9 i m Heidelberger Haus von Max Weber vortrug. Die Unterzeichner erklärten, daß die Grundsätze eines Völkerbunds gleichberechtigter Staaten bereits in mehrfacher Hin­ sicht mißachtet worden seien. Die Vereinigung versuchte zur Aufklärung besonders jener umstrittenen Geschehnisse beizutragen, die den Siegern zur Begründung ihrer moralischen und juristischen Ansprüche gegenüber den unterlegenen Mittelmächten dienten.

Wahlpflicht der Intellektuellen.

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Am 26. Januar 1 9 1 9 war die Verfassunggebende Preußische Landesversamm­ lung in allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den Grund­ sätzen des Verhältniswahlrechts gewählt worden. Troeltsch gehörte ihr als Mitglied der DDP-Fraktion an. Für den ersten preußischen Landtag in der Weimarer Republik kandidierte Troeltsch nicht mehr. Sein Artikel "Wahl­ pflicht der Intellektuellen" erschien am Wahltag zum ersten preußischen Landtag, dem 20. Februar 1 92 1 , im "Berliner Tageblatt". In der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung konnte die DDP mit einem Anteil von 1 6,2 % der gültigen Stimmen die drittstärkste Fraktion nach SPD und Zentrum stellen.1 Diese drei Parteien der Weimarer Koalition besaßen aufgrund der gemeinsam erreichten 74,9 % der Stimmen eine Mehrheit von 298 der 401 Mandate. Die DDP brachte 65 Abgeordnete ins Parlament. Die Mitgliederentwicklung der Partei war zwischen 1 9 1 9 und 1 933 jedoch durch eine konstant rückläufige Tendenz gekennzeichnet. Ge­ gründet am 20. November 1 9 1 8 als starke Mitgliederpartei, "verlor sie bereits innerhalb eines Jahres schätzungsweise SO bis 60 % ihrer Mitglieder".2 Dem radikalen Mitgliederschwund entsprach ein drastischer Wählerrückgang. Bei der ersten Reichstagswahl am 6. Juni 1 920 fiel die DDP von 1 8,5 % der Stim­ men im Jahre 1 9 1 9 auf 8,3 %. Wesentlich beeinflußt wurde dieses Ergebnis durch die Wirkungen des Versaille r Vertrags, den Kapp-Putsch zu Beginn des Jahres 1 920, mehrere Regierungskrisen sowie Streiks im Frühjahr desselben Jahres. Die Regierungsparteien der Weimarer Koalition büßten ihre absolute Mehrheit ein. Immer deutlicher wurde ein Wählertrend von der Mitte zu den 1 Die folgenden Angaben zur verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung

bei Joachim Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1 9 1 S-1 933 (1 994), S. 66. 2 Ebd., S. 32.

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Wahlpflicht der Intellektuellen

Rändern des parteipolitischen Spektrums nach rechts, sowie nach links zur USPD und KPD.3 Vor dem Hintergrund dieses Wahlausgangs für die politische Mitte, er­ klärte die DDP den Urnengang zur preußischen Landtagswahl im Februar 1 92 1 zur "Pflichterfüllung an der engeren Heimat" und stellte ihren preu­ ßischen Wahlkampf ganz unter das Motto "Zurück zur Mitte!".4 Im Rahmen der DDP-Strategie, sich als Volkspartei darzustellen, übernahm Ernst Tro­ eltsch die Aufgabe, an die "Intellektuellen und das Bürgertum"S als wichtige Mitglieder- und Wählergruppen der DDP zu appellieren, um sie für die Un­ terstützung der demokratischen Mitte zu gewinnen. Kennzeichnend für die Sozialstruktur der DDP war eine Dominanz der bürgerlichen Bildungs­ schicht.6 Als Berliner Universitätsprofessor und Gelehrter von Weltruf, ausgestattet mit einem hohen Maß an Autorität in dieser Schicht, erfüllte Troeltsch dafür in besonderer Weise die Voraussetzungen. Unter Hinweis auf ihre "Wahlpflicht", versuchte er in den "Kreisen der Gebildeten und Intellektuellen" einer verbreiteten "Wahlmüdigkeit" entgegenzuwirken und ihre Vertreter als potentielle Wähler der DDP oder einer anderen Partei der demokratischen Mitte zu mobilisieren.7 Bereits vor der ersten Reichstags­ wahl hatte Troeltsch wiederholt in Reden und Artikeln an die "Pflicht der geistigen Arbeiter" erinnert, "durch rege Mitarbeit und Unterstützung diese Partei [DDP] zu der großen, starken liberalen Partei der Mitte fortzubilden, die allein imstande ist, Deutschlands Stellung unter den Völkern durch gei­ stige und wirtschaftliche Mittel wieder aufzubauen. "8 Bei den Preußenwahlen am 20. Februar 1 921 erhielt die DDP 1 01 3 239 gültige Stimmen und verlor damit rund 63,8 % ihrer Wähler von 1 9 1 9: Der Anteil der DDP an der Summe der gültig abgegebenen Stimmen belief sich 1 921 auf knappe 6,2 %.9 Insgesamt zogen im Februar 1 921 26 Abgeord­ nete für die DDP in den preußischen Landtag als Angehörige der nunmehr kleinsten preußischen Landtagsfraktion ein. Gemeinsam besaßen SPD, Zen­ trum und DDP noch eine knappe absolute Mehrheit von 224 der 428 Land3 Ebd., S. 69-7 1 . 4 Ebd., S. 72. 5 Unten, S. 425. 6 Joachim Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1 9 1 8-1 933 (1 994),

S. 34. 7 Unten, S. 425. 8 Geistige Arbeiter in der Demokratie, in: Vossische Zeitung, Nr. 279, 4. Juni 1 920,

Morgen-Ausgabe, erste Beilage, S. [5] . 9 Joachim Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1 9 1 8-1 933 (1 994) ,

S. 73.

Editorischer Bericht

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tagsmandate, aber nur 49, 7 % der prozentualen Stimmenmehrheit. Zu den Gewinnern der Wahl gehörten, neben der DVP, vor allem die KPD und die DNVP.lO Die Linksparteien USPD und KPD blieben in Preußen jedoch hinter ihren jeweiligen Reichsergebnissen zurück. SPD und Zentrum konn­ ten sich gegenüber ihrem Abschneiden bei der ersten Reichstagswahl wieder verbessern.l l Ernst Troeltsch kommentierte den Ausgang der Wahlen zum ersten preußischen Landtag in seinem "Berliner Brief" vom 1 6. März 1 921 unter dem Titel "Der Versuch zur Wiedereröffnung des Krieges und die preußischen Wahlen" als "innere Entgegengesetztheit der beiden Rechtsbe­ wegungen",tz als welche er die Stärkung der politischen Ränder interpre­ tierte. Die Arbeiterschaft, so Troeltsch, zeige "eine Richtung nach Rechts im Sinne der Sammlung, der Besonnenheit, der Aufrechterhaltung der sozialisti­ schen Partei als Grundlage eines bestimmenden Einflusses auf die Gestal­ tung von Staat und Gesellschaft" . 1 3 Sie habe sich "gegen die Moskauer Agi­ tation und die Zerflossenheit der Unabhängigen, aber zugleich und vor allem gegen die bürgerlichen Rechtsparteien behauptet".1 4 Die DDP hingegen sei bestraft worden "für ihre Anteilnahme an einer mit den Sozialdemokraten paktierenden Regierung". 1 5 Die bürgerliche Rechtsbewegung zugunsten von DVP und DNVP habe den Sozialdemokraten und dem Zentrum nichts an­ haben können, "aber den Teil des Bürgertums und der Intellektuellen, der ob mit oder ohne großes politisches Talent - an dem Ausgleich mitzuarbei­ ten und den Einfluß des Bürgertums durchzusetzen bereit war, [ . . . ] zertrüm­ mert".16

2. Textgenese und Drucklegung Das überregional verbreitete "Berliner Tageblatt" mit einem überwiegend bürgerlich-intellektuellen Publikum, das der linksliberalen Richtung zu­ neigte, diente als Veröffentlichungsort. Troeltsch war erst im Februar 1 9 1 9 in den Kreis seiner Autoren eingetretenP Eine engere politische oder per1 0 Ebd., S. 73. 1 1 Ebd., S. 75 f. 1 2 Ernst Troeltsch: Der Versuch zur Wiedereröffnung des Krieges und die preußischen

Wahlen. (1921), S. 34-39

-+

KGA 1 4.

1 3 Ebd. 1 4 Ebd. 1 5 Ebd. 1 6 Ebd. 17

Ernst Troeltsch: Nationalgefühl (1 9 1 9) , in diesem Band abgedruckt, S. 56-59.

422

Wahlpflicht der Intellektuellen

sönliche Beziehung zum Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" und Mit­ begründers der DDP im November 1 9 1 8, Theodor Wolff, bestand jedoch nicht. t 8 Troeltsch gehörte nicht zu den Gründungsmitgliedern der DDP. 1 9 Von wem die Initiative zur Veröffentlichung seines Artikels im "Berliner Ta­ geblatt" ausging, läßt sich anhand der Quellen nicht rekonstruieren. Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der unter der Überschrift "Wahlpflicht der Intellektuellen" unter der drei­ spaltigen Überschrift der Titelseite "Wählt die deutsch-demokratischen Listen!" erschienen ist, in: Berliner Tageblatt, Nr. 85, Ausgabe A Nr. 43, 20. Februar 1 92 1 , Morgen-Ausgabe, S. 1 f. (A) .

18 19

Theodor Wolff: Tagebücher 1 9 1 4-1 9 1 9 (1 984) . Hartmut Ruddies: Soziale Demokratie und freier Protestantismus (1 984) , S. 1 58.

423 Wahlpflicht der Intellektuellen. Von Universitätsprofessor Dr. Troettsch, Staatssekretär.

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb Alexis v[onJ Tocque­ ville, selbst ein Altliberaler und überzeugter Konstitutionalist, sein berühmtes Buch über die Demokratie in Amerika.1 Er sagte darin den Sieg des ihm per­ sönlich nicht unsympathischen demokratischen Gedankens über die Welt voraus, weniger wegen seiner hinreißenden ideellen Begründung als wegen seiner Zusammenstimmung mit den Bedürfnissen steigender Bevölkerungs­ massen, die intellektuell und wirtschaftlich durch das moderne Leben mobi­ lisiert und zur Anteilnahme am politischen Leben geradezu von den Verhält� nissen selbst gezwungen werden. Im letzten Jahre hat der Schwede Kjellena, persönlich ein konservativ und militaristisch gesinnter Denker, als Ergebnis des Weltkrieges den allgemeinen Sieg des demokratischen Prinzips verzeich­ net;2 solange Oesterreich und Deutschland noch standen, habe man noch mit der Aufrechthaltung des autoritären und organischen Prinzips für einen erheblichen Teil der Welt rechnen können; seit dem Sturze Deutschlands sei eine solche Erwartung unmöglich geworden, und man habe sich mit dem Siege des angelsächsischen Typus abzufinden. Aehnlich sind die Gedanken sehr vieler bei uns gewesen, die bisher andere politische Neigungen gehabt hatten, die aber seit dem Sturze des preußischen Militärregiments auch bei uns eine prinzipielle Schicksalsentscheidung anerkennen zu müssen glaubten. Auf al­ lerhand Reaktionen und auf einen erbitterten Kampf aller benachteiligten oder in andern Ideen festgewurzelten Gruppen war natürlich zu rechnen. Aber ein dauernder Sieg erschien unmöglich, solange unsere Bevölkerung noch annähernd so stark, der industriellen Betätigung bedürftig und damit zu dieser fähig und geneigt sein würde. Erst eine starke agrarische Rückbil­ dung und ein ungeheurer Bevölkerungsrückgang würde andere politische

a

1 2

A: Khellen Alexis de Tocqueville: De la democratie en Amerique (1 835-1 840) , in: Oeuvres, pa­ piers et correspondance, Band 1 (1951) . Vgl. Rudolf Kjellen: Die Großmächte und die Weltkrise (1 921), S. 237: "Bisher hat sich auch die Verfassungs form als unwesentlich gezeigt; Großmächte sind in Staats­ formen aller Art aufgetreten, in Rußlands Cäsarentum und Englands Parlamentaris­ mus, in Frankreichs Zentralismus sowie in Amerikas Föderalismus. Das Zeugnis des Weltkrieges veranlaßt hier zu der Abänderung, daß in der Gegenwart die Entwicklung einer Großmacht in rein antidemokratischer Form kaum möglich ist."

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Wahlpflicht der Intellektuellen

Möglichkeiten enthalten, damit aber auch den endgültigen Rückgang von Bedeutung und Gewicht des deutschen Elementes in Europa bedeuten und jede Hoffnung auf einen Wiederaufstieg vereiteln. Alle theoretischen Erwä­ gungen über den "westlerischen" Charakter des Systems, wobei in der Regel der starke Unterschied des angelsächsischen und französisch-romanischen Gedankens ganz übersehen und der Zusammenhang der Demokratie mit moderner Menschenrnasse, moderner Wirtschaft, Schulbildung und Wehr­ pflicht ganz vergessen wurde, konnten daran für die Praxis nichts ändern, ganz abgesehen von ihren auch theoretischen Anfechtbarkeiten. Ein starkes, sich selbst vertrauendes und erneuerndes, dem Ausland gegenüber verhand­ lungsfähiges und vertrauenswürdiges, Spartacismus und Bolschewismus überwindendes Deutschland war praktisch nur auf demokratisch-politischer Ba­ sis möglich, wobei es ja seinen geistigen Gehalt und sein Kulturerbe durch­ aus in einem eigenen historischen Sinn gestalten und entwickeln konnte. Wird Deutschland im Interesse seiner Selbsterhaltung und seines Natio­ nalgefühls zur Demokratie geradezu gezwungen, so bedurfte es auch einer Partei, welche zunächst diese mittlere Linie der Selbsterhaltung und der ver­ fassungsmäßigen Neubegründung verfocht, zwischen der furchtbar ausein­ anderklaffenden Rechten und Linken vermittelte, den seit den Reaktions­ jahren von 1 820 und 1 850 klaffenden und immer sich erweiternden Riß zwischen Herrenschicht und Masse nach Möglichkeit zu schließen strebte. Um dieses politischen Prinzips und um dieses in erster Linie vaterländischen Zweckes willen nannte sich die Partei, die sich zu diesem Zwecke bildete, Deutsche demokratische Partei. In den furchtbaren Kämpfen und Schwierigkei­ ten der rechtlichen Neugrundung und der Ueberwindung des extremen Ra­ dikalismus hatte man wesentlich praktische Aufgaben und konnte es mit Prinzipien überhaupt nicht so übermäßig genau nehmen. Realpolitik und Kompromisse bald nach links, bald nach rechts waren unvermeidlich. Hauptsache war und ist die Erhaltung eines Deutschen Reiches, aus dem erst spätere Generationen wieder etwas wirklich Vernünftiges werden machen können. Für die Bildung eines heißen neuen Nationalgefühls werden die Franzosen sorgen, für die Erhaltung des Reiches und die Durchrettung sei­ ner Rechtsformen und seelischen Einheit muß eine demokratische Mittel­ partei sorgen. Alles Weitere können wir nur als heilige Hoffnung glückliche­ ren Geschlechtern vererben. Aber wie jedes politische System, so hat natürlich auch das demokratische seine Schattenseiten, die Mängel seiner Tugenden. Es kann ein Volk verein­ heitlichen und alle Kräfte beleben und anspannen, es kann Klassendifferen­ zen mildern, es kann eine unüberwindliche Widerstandskraft gegen Feinde entfalten, es kann starke politische Talente emporzüchten und überhaupt den Aufttieg der Fähigen erleichtern. Aber es hat bei seiner Ausrichtung auf die

Wahlpflicht der Intellektuellen

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Masse und seiner Begründung auf die Masse auch die Gefahr der Herbei­ führung allgemeiner Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit, wie schon Tocqueville in Aussicht stellte. Es hat weiterhin, wenn nicht ganz scharfe Vorsichtsmaßregeln in starker Präsidentschaft und politischer Erziehung der Masse (oben und unten) zum gesunden Menschenverstand getroffen sind, die Gefahr einer Schwächung der Regierungsautorität. Es hat schließ­ lich überall da, wo der Parteikampf sich nicht in bestimmten Konventionen und festen Gruppierungen vollzieht, die Gefahr einer wütenden parteüsch­ demagogischen Volksvergiftung, und das um so mehr, je mehr die politi­ schen Parteien zugleich Klassen- und Wirtschaftsparteien sind, die um ihren Anteil an Prestige, Aemtern, Einkommen und Macht kämpfen. Das hat gerade in den Kreisen der Gebildeten und Intellektuellen vielfach Wahlmüdigkeit erzeugt oder anderen die Meinung eingeflößt, daß nur ein absoluter Bruch der Gesamtheit aller Völker mit diesem ganzen System der Welt die Heilung bringen könne, sei es in Gestalt einer Weltrevolution des Kommunismus, sei es in einer solchen des konservativ-organisch-ständi­ sehen Denkens und damit der grundsätzlichen Reaktion, die freilich auch eine Weltreaktion sein müßte, wenn sie bei uns möglich und fruchtbar sein sollte; der letztere Umstand wird dabei meistens vergessen. Demgegenüber ist stets von neuem die von innen und außen so furchtbar bedrohte Gesamtsituation Deutschlands zu bedenken. Sie verlangt absolut eine möglichst breite Mittelpartei oder Parteigruppierung der Mitte. Das ist das eigentlichste Gebot der Stunde, nur scheinbar weniger dringend als vor zwei Jahren. was an Ordnung geschaffen ist, hat die demokratische Mitte geschaffen. Nur durch sie ist die veränderte und verbesserte Situation möglich gewor­ den. Nur durch eine starke, gerade die Intellektuellen und das Bürgertum mit vertretende Mitte wird auf absehbare Zeit eine weitere Förderung von Ord­ nung und Zusammenhalt möglich sein. Alles andere reizt das Ausland zu Eingriffen und galvanisiert den Kommunismus. Darum darf von Wahlmü­ digkeit nicht die Rede sein. Nur durch Beteiligung können die Intellektuellen ihr Gewicht im Staate wiedererlangen, nicht durch Schmollen oder Opposi­ tion. Eine Demokratie, die wahlmüde ist, liefert sich an die Extremen aus und ist dann allerdings, aber erst dann, für die Intellektuellen eine Gefahr. So­ lange sie selber mittun, sie ehrlich bejahen, aber auch die relativ konservati­ ven und aristokratischen Interessen innerhalb ihrer zur Geltung bringen durch Mitarbeit, so lange können sie auch Hoffnung auf ihre Zukunft und einen vernünftigen Ausgleich alter und neuer Schich tung haben. Aber dann muß man wählen und in dem Wählen eine der Hauptpflichten des Staatsbürgers sehen.

Die Hochschulen im öffentlichen Leben.

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Die Redaktion der "Berliner Hochschul-Nachrichten" bat Ernst Troeltsch wahrscheinlich im Mai oder Juni 1 92 1 , für ihre Zeitschrift im Vorfeld des 3. ordentlichen Deutschen Studententags vom 30. Juni bis 7 . Juli in Erlangen einen hochschulpolitischen Beitrag zu verfassen. Die Zeitschrift diente als amtliches Mitteilungsorgan des für Berlin zuständi­ gen "Kreises X" der Deutschen Studentenschaft, die einen repräsentativen Zusammenschluß aller deutschen Studenten darstellte. Zu den Organen der Deutschen Studentenschaft gehörten, neben dem Studententag, der Hauptausschuß sowie ein mehrköpfiger Vorstand. Die einzelnen Studen­ tenschaften gaben sich ihre Leitung in Gestalt von gewählten Allgemeinen Studentenausschüssen, den "Asten", die regional in zehn Kreisen zusam­ mengefaßt waren. 1 I m ersten Abschnitt der Verfassung der Deutschen Studentenschaft, die sich diese nach ihrer Würzburger Gründung im Juli 1 9 1 9 auf dem 2. ordent­ lichen Deutschen Studententag vom 22. bis 27. Juli 1 920 in Göttingen gege­ ben hatte, definierte sie sich wie folgt: "Die ,Deutsche Studentenschaft' besteht aus den ,Studentenschaften' der Hochschulen des deutschen Sprach­ gebietes. Diese ,Studentenschaften' setzen sich aus den volleingeschrie­ benen Studierenden deutscher Staatsangehörigkeit und denjenigen deut­ scher Abstammung und Muttersprache zusammen. Sie üben ihre Rechte in der ,Deutschen Studentenschaft' durch Organe aus, die aus allgemeinen, gleichen und geheimen Verhältniswahlen hervorgegangen sind oder in denen nach allgemeinen, gleichen und geheimen Verhältniswahlen gewählt

1 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6 (1 981), S. 1 006 f.

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Die Hochschulen im öffentlichen Leben

wird. "2 Innerhalb der politisch und konfessionell heterogenen Deutschen Studentenschaft, die nach dem großdeutschen Prinzip organisiert war, be­ stand der größte Konfliktpunkt hinsichtlich der Mitgliedschaftsfrage. Hier standen die Vertreter des "national-kulturellen, staatsbürgerlichen Prinzips" und die Vertreter des antisemitisch bestimmten "völkischen Prinzips" einan­ der gegenüber.3 Albert Dietrich, seit 1 9 1 6 einer der engsten Mitarbeiter Troeltschs an der Universität Berlin, stand mit der Deutschen Studentenschaft in näherer Ver­ bindung. 1 920 vertrat er den erkrankten Troeltsch auf dem Göttinger Stu­ dententag. Möglicherweise war es Dietrich, der mit Blick auf den bevorste­ henden Erlanger Studententag den Kontakt zwischen Troeltsch und der Redaktion der "Berliner Hochschul-Nachrichten" vermittelte. In Erlangen sprach Dietrich über den ersten Satz der "Zielformel" der Göttinger Verfas­ sung.4 Troeltsch interpretierte in seinem Artikel deren zweiten Satz: ,,§ 2. Die ,Deutsche Studentenschaft' setzt sich das Ziel, an den Aufgaben der Hoch­ schule mitzuarbeiten. Aus der Grundeinstellung einer immer engeren Ver­ knüpfung der Hochschule und ihrer Bürger mit der Volksgemeinschaft be­ handelt sie alle die Studentenschaft bewegenden vaterländischen, sozialen und Kulturfragen. Sie arbeitet für das wirtschaftliche Wohl der Studieren­ den. Fragen des Glaubensbekenntnisses und der Parteipolitik sind von der Behandlung ausgeschlossen. "5

2. Textgenese und Drucklegung Die "Berliner Hochschul-Nachrichten" erschienen seit dem 1 6. November 1 9 1 9. Im Geleitwort zur ersten Ausgabe erklärte die "Schriftleitung": "In den ,Berliner Hochschul-Nachrichten', zu deren Herausgabe nunmehr wir uns entschlossen haben, sollen Dozenten und Studenten in gemeinsamer

2 Verfassung der "Deutschen Studentenschaft" nach den Beschlüssen des Göttinger

Studententages von 1 920, Abschnitt I. Zusammensetzung und Ziele, § 1 , in: Hellmut Volkmann: Die Deutsche Studentenschaft in ihrer Entwicklung seit 1 9 1 9 (1 925), S. 21 3. 3 J ürgen Schwarz: Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1 9 1 8 bis 1 923 und ihre Stellung zur Politik (1 962), S. 272. 4 Erlangen, in: Die Deutsche Hochschule, Nr. 7, 20. Juli 1 92 1 , S. 228. 5 Verfassung der "Deutschen Studentenschaft" nach den Beschlüssen des Göttinger Studententages von 1 920, Abschnitt I. Zusammensetzung und Ziele, § 2, in: Hellmut Volkmann: Die Deutsche Studentenschaft in ihrer Entwicklung seit 1 9 1 9 (1 925), S. 21 3.

Editorischer Bericht

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Arbeit für die gleichen Ziele wirken. Wie wir die Mitarbeit aller erbitten, die für Hochschulfragen Interesse und Verständnis haben, so sind wir zu Beginn unserer Arbeit an diejenigen herangetreten, die in erster Linie dazu berufen zu sein scheinen, zu führen und zu beraten. Daß Se[ine] Magnifizenz, der Herr Rektor, der Herr Prorektor und der Herr Kurator der Universität uns zu unterstützen sich sogleich bereit gefunden haben, begrüßen wir als ein er­ freuliches Zeichen ersprießlicher Zusammenarbeit."6 Kurz vor den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1 920 veröffentlichte Troeltsch bereits einen er­ sten Beitrag in den "Berliner Hochschul-Nachrichten" unter der Sammel­ überschrift "Student und Politik".7 Seit Mitte April 1 921 entfiel bei reduziertem Heftumfang die anfängliche Herausgeberschaft des Nachrichtenamts der Studentenvertretung der Fried­ rich-Wilhelms-Universität. Seitdem erschien auf der Außenseite des vor­ deren Umschlagblatts der zuvor nur im Impressum enthaltende Hinweis: "Leitung: Paul Kersten und Erwin R. Marschall". Im Titelkopf der im Seme­ ster halbmonatlich erscheinenden Zeitschrift findet sich der Hinweis: "Mit den amtlichen Mitteilungen des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, der Rektorate und Studentenschaften der Fried­ rich-Wilhelms-Universität, der Handels-Hochschule, der Landwirtschaft­ lichen und Tierärztlichen Hochschule und des Kreises X der Deutschen Stu­ dentenschaft. " Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der unter der Überschrift "Die Hochschulen im öffentlichen Leben" er­ schienen ist, in: Berliner Hochschul-Nachrichten. Halbmonatsschrift für akademisches Leben, S . Semester, 6. Heft, Anfang Juli 1 921 , Berlin-Schöne­ berg: Märkische Buch- und Kunstdruckerei G.m.b.H., S 66 f. CA) .

6 Zum Geleit, in: Berliner Hochschul-Nachrichten, Nr. 1 , 1 6. November 1 9 1 9, S. 1 . 7

In diesem Band abgedruckt, S. 400-402.

430 Die Hochschulen im öffentlichen Leben. Vom Geheimen Regierungsrat Professor D. Dr. Ernst Troeltsch.

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Auf dem deutschen Studenten tag zu Erlangen soll über den Satz der Zielfor­ mel der deutschen Studentenschaft verhandelt werden: "Aus der Grundein­ steIlung einer immer engeren Verknüpfung der Hochschule und ihrer Bürger mit der Volksgemeinschaft behandelt die deutsche Studentenschaft alle die Studentenschaft bewegenden vaterländischen, sozialen und Kulturfragen". l Wenn ich mich z u diesem Satze äußern soll, s o kann ich mich nur mit einiger Vorsicht äußern, da es sich um äußerst empfindliche und umstrittene Gegen­ stände handelt, auch etwaige Äußerungen den beliebigsten Verwendungen im In- und Ausland unterliegen, sobald es der Zufall will, daß sie an irgend jemand zu diesem Zwecke ausfindig gemacht werden. Auch auf vielen Beifall ist für einen Mann der Mitte und Ausgleichung in diesen Dingen nicht zu rechnen. Ich möchte vor allem einige grundlegende Schwierigkeiten dieses Satzes beleuchten, nicht aus Freude am Schwierigkeiten-Machen, sondern um dar­ aus bestimmte praktische Folgerungen abzuleiten. Die Hauptschwierigkeit liegt in der "immer engeren Verknüpfung mit der Volksgemeinschaft", die offenbar Grundlage und Geist der drei am Schluß genannten Betätigungen bedeuten soll, und die somit der Hauptgedanke des Ganzen ist. Wo und was ist die deutsche Volksgemeinschaft, mit der die Hochschulen sich verknüp­ fen sollen, und wenn sie besteht, wie kann eine solche Verknüpfung tatsäch­ lich aussehen und sich auswirken? Eine deutsche Volksgemeinschaft gibt es heute - nüchtern und ehrlich gesprochen - nicht. Vielleicht ist sie eine Hoffnung, jedenfalls ist sie keine Tatsache. Die alten Stammesgegensätze sind schroffer als je. Der Gegensatz der Großstädte und des platten Landes ist himmelschreiend. Furchtbare, mit den großen Zahlungspflichten sich steigernde, Klassengegensätze zerreißen das Volk, und jeder Teil glaubt durch inoralische Attacken I den ande­ l ren niederrennen zu können, ähnlich wie ,m Weltkriege die an der Technik der Machtkämpfe ausgebildete moralische Entwertung Deutschland in der a

1

In A wohlfllschlich: Rassengegensätze

Verfassung der "Deutschen Studentenschaft" nach den Beschlüssen des Göttinger Studententages von 1 920, Abschnitt I. Zusammensetzung und Ziele, § 2, in: Hellmut Volkmann: Die Deutsche Studentenschaft in ihrer Entwicklung seit 1 9 1 9 (1 925), S. 2 1 3.

Die Hochschulen im öffentlichen Leben

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Weltmeinung niedergerannt hat. Dazu kommt der verzweifelte Kampf ums Dasein, der größtenteils in Not gedrängten und in allen Herrengefühlen ver­ letzten Träger des bisherigen alten Systems und der dadurch entsetzlich gesteigerte Kampf der politischen Systeme. Eins der Hauptmittel dieser Kämpfe, der in allen Regeln der innerpolitischen Kriegskunst bewanderte Antisemitismus, tut das Weitere dazu, alles Zusammenwirken zu zerreißen. Die ganze alle Katastrophen und Revolutionen begleitende Entfesselung al­ ler Schlauen, Gewaltmenschen und Phantasten, der Originale und Eigen­ brödler, Scharlatane und Worthelden tut weiter das Seinige dazu, um keiner­ lei Klarheit und Einheitswillen aufkommen zu lassen. Die feindliche Politik arbeitet an der Auflösung des deutschen Volkstums durch Hinderung jeder festen Regierung und Unterstützung aller auflösenden Mächte. Wo ist die Volksgemeinschaft und wäre es auch nur als Ideal, in dem sich die über die Mittel verschieden Denkenden als in einem Ziele finden können? Dazu kommt ein Zweites. Auch wenn man von Gefährdungen dieser Art absieht, sind die Verhältnisse derart verändert und sind die materiellen, gei­ stigen und weltpolitischen Grundbedingungen so völlig neu geworden, daß man auch rein theoretisch das Bild der kommenden deutschen Volksgemein­ schaft schwer ausdrücken kann. Es wäre auch bei gutem Willen, möglichst eine Einigung zu suchen, schwer zu sagen, wie eine solche aussehen kann und aussehen wird. Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, fast alles steht vor gro­ ßen Neubildungen, für welche alle bisherigen Maßstäbe und Tatsachen samt der auf sie aufgebauten Theorie versagen. Die deutsche Volksgemeinschaft muß durch ungeheuere Hindernisse hindurch überhaupt erst werden und ihre Formen sind brüchig und unsicher, vorläufig und lediglich Mittel zur Anbahnung einer gehofften besseren Zukunft. Unter solchen Umständen ist die "immer engere Verknüpfung" schwierig. Und wie soll sie aussehen? Die Hochschulen sind gewöhnt vom vergange­ nen Jahrhundert her und von der geistigen Vorherrschaft eines durch Kirche und Schule erzogenen Mittelstandes her, die nationale Idee besonders leb­ haft und innig zu vertreten. Aber ihre Stellung im öffentlichen Leben ist längst eine andere geworden, und sie werden heute an eine führende Stellung nicht denken dürfen. Sie können und müssen ihre unentbehrliche Bildungs­ arbeit leisten und Berufsausbildung möglichst mit wissenschaftlich-humaner Gesamtbildung vereinigen. Eine führende Stellung in der Bildung der Volks­ gemeinschaft können sie schwerlich einnehmen. Sie hätten vielleicht am An­ fang der neuen Verhältnisse sich entschlossen auf deren Boden stellen und einen Teil der Führung in ihre Hand bringen können. Aber das war aus vie­ len Gründen unmöglich und ist heute ganz undenkbar. Sie könnten heute vielleicht die Führung einer antisemitisch-gegenrevolutionären Politik über­ nehmen und dadurch die erwünschte Volksgemeinschaft herstellen. Aber

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auch das ist nur die Idee von Teilen und ist praktisch undurchführbar. Wie soll aber dann, wenn weder das eine noch das andere möglich ist, die enge Verknüpfung mit der Volksgemeinschaft aussehen? Sie kann doch nur in der glühenden Hoffnung bestehen, daß der Tag des Deutschen noch nicht vor­ bei ist, und in der Selbstausrüstung künftigster Berufsarbeit, die in besseren und klaren Zeiten ihren Mann stehen kann. Aus all diesen Erwägungen kann ich nur die eine Folgerung ziehen: mög­ lichste Entpolitisierung der Universitäten und möglichste Steigerung ihrer spezifischen Leistungen, d. h. der wissenschaftlichen Berufsausbildung, der theoretischen Erkenntnis von Staat, Gesellschaft und Geistesleben, der Er­ ziehung zu körperlicher und geistiger Form und verantwortungs bewußter Männlichkeit; in allem übrigen Bereithaltung für bessere Zeiten, die Stär­ kung des Glaubens an eine Zukunft, von der wir noch nicht entfernt wissen, wie sie aussehen wird. Aus dieser Grundeinstellung ergeben sich dann auch die Folgen für die im Zielsatz genannten einzelnen Betätigungen. Ich kann sie hier in der Kürze nicht entwickeln. Es ist auch nicht nötig. Denn entscheidend ist in der Tat die Grundeinstellung. Belebung und Steigerung der Volksgemeinschaft durch die höchsten Bildungsanstalten ist eine große und lockende Idee, sicherlich. Aber wie die Dinge liegen, würden solche Versuche die Gegensätze nur stei­ gern und die Bildungsanstalten in schwere Konflikte mit den großen sozial und politisch entscheidenden Massen bringen. Außerdem sind der Politik neu unendlich viele Organe außerhalb und neben den Hochschulen erwach­ sen, in denen der Student lernen und sich betätigen kann. Die in solch kriti­ scher Lage befindlichen Hochschulen tuen daher sicherlich am besten, ihre nächsten drei Aufgaben zu lösen und sich in die politischen und sozialen Kämpfe möglichst wenig einzumischen. Der Glaube an eine bessere Zu­ kunft ergibt sich auch ohnedies aus der idealen Grundrichtung ihrer Arbeit und ist kein Vorzug irgendeiner besonderen Gruppe.

Die Krisis des Historismus

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Dieser Essay wurde für die "Neue Rundschau", die literarische Zeitschrift des S. Fischer Verlages, und nicht für eine Fachzeitschrift verfaßt. Als Vor­ lage für diesen Essay diente Troeltsch ein Vortrag, den er unter dem Titel "Der moderne Historismus" am 5. Dezember 1 92 1 während seiner Reise in die Schweiz vor der Studentenschaft in Basel hielt. Dieser Vortrag ist nur durch Presseberichte überliefert. Einer detaillierten Wiedergabe durch die "Basler Nachrichten" ist zu entnehmen, daß Troeltsch mit der expliziten Formulierung von der "Krise des Historismus" in seinen Vortrag einführte: "Man kann heute von einer eigentlichen Krise des Historismus sprechen. Sie hat schon im letzten Jahrhundert begonnen. Charakteristischerweise haben sie die einzelnen Länder verschieden stark empfunden, am wenigsten lastet sie auf Amerika, schwächer auch auf England, während sie Frankreich mit äu­ ßerster Klarheit er faßt und Deutschland und die nordischen Länder schwer unter ihr leiden. Das zeigt, daß es sich um ein gesamteuropäisches Problem handelt. "1 Dieser Vergleich findet sich in ähnlichen Wendungen auch im hier edierten Text: "Sie [die "Krisis des Historismus, d. Hg.] hat die verschie­ denen Länder und Völker allerdings in sehr verschiedenem Maße ergriffen. Am wenigsten natürlich die Amerikaner, die nur wenig Geschichte haben [ . ]" .2 Während seiner anschließenden Vortrags reise in Holland im März und April 1 922 hat Troeltsch möglicherweise in Vorträgen über den ",Ursprung' . .

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Der moderne Historismus. (Vortrag von Ernst Troeltsch) , in: Basler Nachrichten, Nr. 523, 8. Dezember 1 92 1 , 2. Beilage. Ein zweiter Bericht erschien unter dem Titel "Der moderne Historismus. Vortrag von Ernst Tröltsch." in: National-Zeitung, Ba­ sel, Nr. 575, 7. Dezember 1 921 . 2 Unten, S. 450.

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oder vielleicht auch die ,Sprengung der europäischen Humanitätsidee'" und über "die revolutionäre und anti-revolutionäre Gedankenwelt des 1 9. Jahr­ hunderts" gesprochen, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber am 3 1 . März 1 922 in einem Vortrag in Leiden "über den modernen Historismus".3 In diesem thematischen Kontext schrieb Troeltsch am 1 4. April 1 922 bezüglich der Vorbereitung seines im Herbst bevorstehenden Vortrags in der Darmstädter "Schule der Weisheit"4 am 1 4. April 1 922 an Hermann Graf Keyserling: "Das Thema kann ich aber noch nicht formuliren. Das fordert einiges Nach­ denken. Mir schwebt etwas vor wie: ,Der europäische Relativismus' jeden­ falls ein Thema über das ich mich gerne einmal aussprechen möchte. Mehr kann ich heute noch nicht sagen."s Wenig später wandte er sich erneut an Keyserling: "Es ist nicht ganz einfach einen Titel zu geben, ehe man die Sa­ che durchdacht hat, wozu ich jetzt gar nicht im Stande bin. Auch ist es nicht leicht - wenigstens für mich nicht - technische Formeln zu vermeiden. Ge­ meint ist das Problem des historischen Relativismus u[nd] der aus ihm ent­ springenden Skepsis. Wie soll ich das technisch ausdrücken. ,Standpunkt u[nd] Standpunktlosigkeit' Geht das? Oder ,die Zufälligkeit der Geschichts­ wahrheiten ' "6 Troeltsch nutzte die Publikationsgelegenheit in der "Neuen Rundschau" im Juni 1 922, zentrale Gedanken seines neuen Buches "Der Historismus und seine Probleme" vorzustellen. Zu dessen Komposition hatte Troeltsch schon am 2. Janur 1 9 1 9 geschrieben, daß er nach bewährtem Muster die ein­ zelnen Teile in verschiedene Zeitschriften auszustreuen beabsichtige, um Interesse zu erregen und Kritik und Verarbeitung einarbeiten zu können.7 Ausdrücklich wies er in "Die Krisis des Historismus" auf die bevorstehende Veröffentlichung des neuen Buches hin: "Es ist selbstverständlich unmög­ lich, hier in der Kürze den Ausweg anzugeben, wie er mir als gangbar vor­ schwebt. Ich werde das in einem Buche über den modernen Historismus versuchen, das ich noch in diesem Jahre herauszubringen hoffe. "8 .

3 Die Vorträge fanden in Amsterdam, Groningen, Den Haag, Leiden und Hilversum

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statt; siehe im einzelnen Arie L. Molendijk: Ernst Troeltschs holländische Reisen (1 991), S. 33-35. Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten, in diesem Band abgedruckt S. 551-569. Brief an Hermann Graf Keyserling, 1 4. April 1 922 -+ KGA 1 8/1 9. Brief an Hermann Graf Keyserling, 8. Mai 1 922 -+ KGA 1 8/ 1 9 . Brief a n Paul Siebeck, 2. Januar 1 9 1 9 KGA 1 8/ 1 9 . Vgl. ausführlicher Einleitung und Editorischer Bericht zu Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1 922) -+ KGA 1 6. Unten, S. 45 1 . -+

Editorischer Bericht

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2. Textgenese und Drucklegung Der Artikel "Die Krisis des Historismus" war nach Kriegsende Troeltschs erste Veröffentlichung in der "Neuen Rundschau", die im Berliner Verlag von S. Fischer als einem der einflußreichsten Druckorte der literarischen, vornehmlich westeuropäischen und amerikanischen, Moderne in Deutsch­ land erschien. Troeltsch publizierte in unregelmäßigen Abständen Essays in der 1 890 gegründeten, seit 1 894 von Oscar Bie redigierten "Neuen Rund­ schau" von "vornehm-liberale[m]"9 Charakter. Seit 1 905 gewann die Zeit­ schrift unter dem redaktionellen Einfluß von Samuel Saenger1 0 zunehmend politisch-philosophisch an Profil. Der Essay "Modernismus" l l bildete 1 909 den Auftakt von Troeltschs Veröffentlichungen in der "Neuen Rundschau", 1 9 1 0 folgte ein Artikel mit dem Titel "Aus der religiösen Bewegung der Ge­ genwart"12. Zwei seiner während des Weltkriegs hier erschienenen Beiträge, "Die deutsche Idee von der Freiheit" und "Privatmoral und Staatsmoral", wurden 1 9 1 6 unter dem Titel "Deutsche Zukunft"1 3 noch einmal separat in der gleichfalls vom S. Fischer Verlag betreuten kriegsliterarischen "Samm­ lung von Schriften zur Zeitgeschichte" publiziert. Während der Zeit der Weimarer Republik verfolgte die Redaktion der "Neuen Rundschau" in der politisch engagiertesten Phase ihrer Existenz einen entschieden liberal-repu­ blikanischen Kurs. 1 4 Als Herausgeber wirkten 1 922 neben Samuel Fischer die beiden langjährigen Redakteure Oscar Bie und Samuel Saenger. Zu sei­ ner literarischen Produktivität in den vergangenen Wochen und Mona­ ten schrieb Troeltsch am 25. April 1 922 an Gertrud von Le Fort: "Dazwi­ schen habe ich außerdem alles mögliche fertig gemacht. Zwei Vorträge zum Druck befördert, ein paar Abhandlungen geschrieben, den Abschluß meines Hauptbuches über den ,Historismus' für diesen Sommer gesichert u[nd] al­ lerhand Gesellschaftliches mitgemacht. Sie sehen an Tätigkeit, Leben u[nd] Bewegung fehlt es nicht. Gerade schwierige Zeiten sind immer besonders produktiv. Auch muß Geld geschafft werden, was immer ein starker Stachel

9 Reiner Stach: 1 00 Jahre S. Fischer Verlag 1 886-1 986 (1 986), S. 38. 1 0 Saenger widmete Troeltsch in der "Neuen Rundschau" einen ausführlichen Nachruf:

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Samuel Saenger: Ernst Troeltsch t, in: Die Neue Rundschau 34 (1 923) S. 284 f.; Wie­ derabdruck in: Ernst Troeltsch in Nachrufen, hg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees (2002) . Ernst Troeltsch: Modernismus (1 909) -- KGA 1 0 . Ernst Troeltsch: Aus der religiösen Bewegung der Gegenwart (1 9 1 0) -- KGA 1 0. Ernst Troeltsch: Deutsche Zukunft (1 9 1 6) -- KGA 1 2. Dieter Stein: Die Neue Rundschau (1 890-1 944) (1 973) , S. 237.

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für das Genie ist."tS Es ist davon auszugehen, daß sich der Essay "Die Krisis des Historismus" für die "Neue Rundschau" unter den gegenüber Gertrud von Le Fort erwähnten Abhandlungen befunden hat. Die Ausgabe, in der Troeltschs Aufsatz erschien, wurde eingeleitet von einem Artikel des Ö ko­ nomen Moritz Julius Bonn über "Die Krise des deutschen Staates". Unmit­ telbar daran schloß sich Troeltschs Beitrag an, der wiederum gefolgt wurde vom letzten Teil der Erzählung "Phantastische Nacht" von Stefan Zweig. Ein Manuskript oder Druckfahnen sind nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der unter dem Titel "Die Krisis des Historismus" er­ schienen ist, in: Die Neue Rundschau, XXXI II. Jahrgang der freien Bühne, hg. von Oskar Bie, S [amuel] Fischer, S [amuel] Saenger, Juni 1 922, Berlin und Leipzig: S. Fischer Verlag, S. 572-590 (A) . Im Folgejahr erschien folgende Rezension: Philipp Funk: Segen oder Fluch der Geschichte?, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, hg. von Karl Muth, 20. Jg., Band 1 , Januar 1 923, Kempten und München: Verlag Jos. Kösel'sche Buchhandlung, S. 423-429. Friedrich Gogarten, der in Heidelberg zu Troeltschs Schüler­ kreis gehört hatte, sich aber später der Dialektischen Theologie zuwandte, rezensierte unter dem Titel "Historismus" neben dem ersten Band von "Der Historismus und seine Probleme" sowie "Der Historismus und seine Ü ber­ windung. Fünf Vorträge, eingeleitet von Friedrich von Hügel" auch "Die Krisis des Historismus": Friedrich Gogarten: Historismus, in: Zwischen den Zeiten 2 (1 924) , Heft 8, S. 7-25.

1 5 Brief an Gertrud von Le Fort, 25. April 1 922

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Das Wort "Historismus" ist im heutigen Sprachgebrauch zunächst ein Scheltwort, eine Entladung von allerhand Beschwerden gegen historische Belastung, kompliziertes historisches Denken und die Entschlußkraft schwächende historische Bildung. Es gehört in diesem Sinne in die allgemeine heutige Rebellion gegen die Wissenschaft überhaupt hinein, in der sich die Enttäuschung einer leidenden, dem I intellektuellen Fortschritt nicht mehr trauenden Menschheit Luft macht. Man zerstört die Mittel der Lebenserhaltung, weil das Leben mit ihrer Hilfe, freilich auch unter Mitwirkung von hundert ganz anderen Umständen, nicht erfreulicher geworden ist. Ähnlich haben die Handwerker die Maschinen bei ihrem Aufkommen in ihrer blinden Wut zerstört. Wie freilich das Leben ungeheurer Massen ohne die Mittel der Wissenschaft sich gestalten soll, darüber macht man sich keine Gedanken. Da gibt es prachtvolle poetische Bilder neuer Ursprünglichkeit und Lebensfrische oder mystischen Erkenntnisersatzes, indessen die Lehrer und Diener der "alten" Wissenschaften durch ihre fortgesetzte Arbeit dafür sorgen, daß die Welt an dieser Romantik und Mystik nicht allzusehr leidet und ihren mühseligen Gang weiter geht. Aber nicht von dieser allgemeinen Frage möchte ich reden, sondern von der besonderen inneren Krise der Historie, die nicht erst aus dieser allgemei­ nen Erschütterung der Geister, sondern aus dem innern Gang und Wesen der Historie selbst entspringt. Da zeigt dann das Wort "Historismus" sofort einen anderen, einen sachlichen Sinn. Es bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des histo­ rischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindivi­ duellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Ver­ gangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahr­ heiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Kon­ struktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre

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herrschende Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erst­ liche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalter­ lichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet. Das geistige Leben ist nicht mehr I Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, auch nicht mehr Er­ hellung der allgemein-menschlichen Vernunft- oder Commonsense-Wahr­ heiten gegenüber den Irrungen des Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des Naturrechts und ein darauf begründeter Um­ bau von Staat und Gesellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden. Das sind dann die jeweiligen größeren oder kleineren individuellen historischen Ge­ bilde, die sich der geschichtlichen Selbsterkenntnis mit so viel Liebe und Hingebung als Mutterboden des eigenen Daseins erweisen, aber bei jeder Ü berschau von höher genommenem Augpunkt aus als treibende, sich bil­ dende und wieder auflösende Erzeugnisse des Stromes darstellen. Der tie­ fere innere Zusammenhang dieses Stromes selbst mit den bewegenden und im Einzelfalle formenden geistigen Kräften bleibt dabei dunkel, da die Hi­ storie ebenso wie die Naturwissenschaften den Zusammenhang mit der Phi­ losophie grundsätzlich gelöst hat und autonom mit eigenen Mitteln das Wer­ den und seine Gebilde erforschen will. In diesem Sinne steht der Historismus als eigenes großes Prinzip dem Na­ turalismus gegenüber, der gleichfalls kein Scheltwort bedeutet oder bedeu­ ten soll, sondern das große Prinzip, die gesamte Körperwelt einschließlich der Lebens-, der Nerven- und Gehirnprozesse nach den allgemeinen natur­ wissenschaftlichen Prinzipien der Naturkausalität zu erforschen. Zwischen Historismus und Naturalismus teilt sich der Stoff des modernen realwissen­ schaftlichen Denkens auf. Der Streit um die gegenseitige Grenzberichtigung und um die volle Selbständigkeit der Historie in diesem Nebeneinander ist eines der Hauptprobleme des modernen Denkens geworden, wobei vor allem die in der MittelsteIlung begriffene Biologie schwierige Streitfragen darbietet. Es ließe sich nachweisen, daß diese ganze wissenschaftliche Situa­ tion das notwendige Ergebnis der Grundwendung der modernen Philo­ sophie zur Bewußtseinsanalyse und Gegenstandstheorie seit der Carte­ sianischen Neubegründung der Philosophie ist. Die auf die Körperwelt hindeutenden Daten unseres Bewußtseins werden naturwissenschafdich, die auf eigenseelische Gehalte und Veränderungen bezogenen Daten werden hi­ storisch-genetisch erforscht, wobei die Quellenkritik und Tatsachensiche­ rung Voraussetzung und Grundlage ist. Die Historie ist von den beiden wis-

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senschaftlichen Großmächten die spätere und I hat ihre Selbständigkeit der Naturalisierung der Philosophie und des Bewußtseins erst abkämpfen müssen, hat aber dann, seit die Aufklärungshistorie und Kritik im neunzehnten Jahrhundert zu den großen historischen Forschungen ausgeblüht ist, einen selbständigen Rang und eine ungeheure Wirkung erlangt trotz aller verblei­ benden Grenzstreitigkeiten und der wechselnd bald mehr hierhin bald mehr dorthin gerichteten Gunst der Zeitlagen. Daß der Naturalismus zuvorkam, das kommt von dem Ü bergewicht naturwissenschaftlicher Schau und For­ schung, das die Antike bei ihrer Erneuerung in der Renaissance darbot und das zugleich technischen Bedürfnissen der Zeit entgegenkam. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie die moderne Welt aussehen würde, wenn ihre Wissenschaft mit der Psychologie, und zwar mit einer nicht durch die Analogien der Naturwissenschaft gebundenen Psychologie und einer von ihr erleuchteten Historie begonnen hätte. Jedenfalls sind nun aber die Dinge nicht so gegangen, sondern umgekehrt. Aus der von den Naturwissenschaften inspirierten Kritik der Aufklärung an der vergangenen Kultur und dann aus dem empi­ risch-genetischen Geist des Gegensatzes gegen den mathematischen Apriorismus sind in der englischen Erfahrungsphilosophie, bei Vico, Hamann und Herder die Richtungen auf die Geschichte als Entwicklungsgeschichte ent­ sprungen. Das Naturrecht, das geschichtsphilosophische Surrogat der Auf­ klärung, das bis zu Kant und Fichte reicht, ist - wenigstens in Deutschland überwunden. Der lange Rückstand ist dann durch eine um so glänzendere und raschere Entfaltung der Historie und ihrer Hilfswissenschaften in Geo­ graphie, Philologie und Soziologie abgelöst worden. Und heute empfinden wir die Problematik, die hierin steckt, ebenso schwer, wie wir diejenige empfinden, die in der den Geist bedrohenden Geistesschöpfung der Naturwis­ senschaften liegt. Zuerst diente die Historie der Kritik und der Wegräumung der mittelalter­ lich-kirchlichen Kultur. Dann schuf sie in der Romantik in der von ihr inspirierten großen Historie das Gegengewicht gegen den revolutionär-rationali­ stischen Geist, einerlei, ob das in der Weise Rankes und Adam Müllers oder in der Comtes und Taines geschah. Darauf diente sie den großen nationalen Einigungsversuchen der europäischen Völker und ihrer nationalen Selbst­ vertiefung, einerlei, ob das in der Weise Sybels und Treitschkes oder in der Seeley's oder Thiers' geschah. Schließlich ergab sie sich einem grundsätzlich unparteüschen wertfreien Realismus, der die historische Wahrheit und den Werde l zusammenhang überall, wo er sich darbietet, möglichst objektiv und sachlich erforschen will und auf das Ideal einer allgemeinen Verknüpfung dieser Zusammenhänge in einem Bild des Menschheitswerdens grundsätzlich losgehen muß, obwohl die Häufung der kritischen und sachlichen For­ schung gleichzeitig dieses Ideal immer unmöglicher macht und den Meistern

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des Faches verbietet. Um so häufiger und gründlicher ist dieses Ideal dann von Dilettanten und Improvisatoren versucht worden, darunter so mächti­ gen Geistern wie Nietzsche. Neuerdings haben Spengler und H. G. Wells,t jeder auf seine, für die beiderseitigen Nationalitäten höchst charakteristische Weise, dieses geheime und unentbehrliche Ideal moderner Historie durch­ zuführen unternommen. Der eine predigt den pflanzenartigen Wechsel der historischen Vegetationen und das Ideal der Ergebung in die Niedergangs­ periode, der andere den Fortschritt zu der endlichen, seit dem Renaissance­ Zeitalter geforderten, Weltorganisation der Völker und den Optimismus der Rettung durch englisch-amerikanische geistige Weltherrschaft und politische Weltkontrolle. Dazu kommt, daß der Weltkrieg eine große historische Pe­ riode allem Anschein nach wesentlich beschlossen, alle bisherigen selbstver­ ständlichen Maßstäbe erschüttert und damit alle Entwicklungsbilder ihrer zusammenfassenden Form beraubt hat. Ein unendliches Rätseln und Deu­ ten an der Geschichte, verwegene Neukonstruktionen, pessimistische Ver­ zweiflungen oder skeptische Beschaulichkeiten sind die Folge. Es ist Hoch­ konjunktur für Geschichtsphilosophie geworden, während die fachmäßige Forschung sich von alledem grundsätzlich zurückhält und ihre alten Pro­ blemstellungen und Interessen, ihren alten Objektivitätsstandpunkt und zumeist auch die alten Wertmaßstäbe festhält. In dieser Lage empfindet die Zeit den allgemeinen historischen Relativismus und die liebevoll kriti­ sche Erforschung der einzelnen Strecken des Lebensstromes wie eine Qual oder eine Sinnlosigkeit und überträgt ihre allgemeinen Enttäuschungs­ gefühle gegenüber der Wissenschaft vor allem auf die Historie. Neukatholi­ zismus, neuer oder ältester Rationalismus, wissenschaftsfreie Schwärmerei

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Zur Auseinandersetzung mit Spengler: Ernst Troeltsch: [Rez.] Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 1 : Gestalt und Wirklichkeit, Wien und Leipzig, Wilh[elm] Braumüller, 1 9 1 8 (1 91 9) , S . 281-29 1 ; Ernst Troeltsch: [Rez.] Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlan­ des, Band 2: Welthistorische Perspektiven, 1 .-1 5. Auflage, München: Beck, 1 922 (1 923), S. 3 1 3-321 -->- KGA 1 3. Zur Auseinandersetzung mit H. G. Wells: Ernst Troeltsch: Eine angelsächsische Ansicht der Weltgeschichte. [Rez.] H. G. Wells: The Outline of History. Written with the advice and editorial help of Mr. Ernest Barker, Sir H. H. Johnston, Sir E. Ray Lakester and Professor Guilbert Murray. Revised and corrected edition. Cassel a. Cie. , London, New York, Toronto and Melbourne, 1 920 (1 922), S. 271-279 -->- KGA 1 3. Mit Spenglers Hauptwerk beschäftigte sich Troeltsch auch in seinem Spectator­ Brief: Der Untergang des Abendlandes (1 9. September 1 9 1 9) -->- KGA 1 4.

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und Inspiration, okkultistische Theosophie und Ähnliches besetzen das Feld. Aber die Gründe der offenkundigen Krisis des Historismus liegen noch tiefer. Auch der Naturalismus, sofern er Philosophie und Weltanschauung bestimmt, ist heute tief erschüttert. Aber er läßt sich von beiden leichter lösen, hat festere Methoden und exaktere Mittel, hängt mit technischen Le­ bensnotwendigkeiten innerlich und I praktisch zusammen. Er selbst in seinem eigenen Wesen bleibt unberührt und entwickelt aus dem strengsten Fachgeist heraus heute die großartigsten neuen Probleme. Der Historismus dagegen besitzt schon in sich selbst diese Festigkeit nicht und hängt anderseits mit den wechselnden und feinsten Lebensfragen viel zu eng zusammen. Bei ihm kommt sie zum guten Teile aus ihm selbst heraus, aus seinen eigenen Problemstellungen. Will man daher seine Krise nicht nur leiden­ schaftlich und äußerlich in ein paar Büchern erfassen, so müssen ihre Gründe noch tiefer aufgedeckt und noch weitere namhaft gemacht werden. Die bisher genannten Gründe sind wesentlich die Konsequenzen des Ent­ wicklungsbegriffes, der den alten stolzen Fortschritts- und Menschheitsbegriff zum Begriff endloser Bewegung und der Bildung bloß vorübergehender, relativ dauernder Sinn- und Kulturzusammenhänge gemacht hat und all das wesentlich vergleichend behandelt, die Einheitlichkeit des Zieles ver­ schwinden läßt. Es gibt außerdem noch eine ganze Reihe weiterer Schwie­ rigkeiten. Das erste ist die Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme der Historie. Diese Aufrollung geschah im Zusammenhang mit der allgemei­ nen Wendung der Philosophie zur Erkenntnistheorie und Logik, die in der Zeit der drohenden Ausbildung des Naturalismus zum Materialismus allein noch die Würde und Aufgabe der Philosophie und mit ihr die für alle Er­ kenntnis grundlegende Würde des Geistes behaupten zu können schien. Ins­ besondere glaubte man nur auf diesem Wege den besonderen Sinn der Hi­ storie und ihre Bedeutung für die Erforschung des geistigen Lebens wahren zu können. Das war in der Tat die durch die gesamte geistige Lage geforderte Fragestellung, und die Antworten haben sehr wichtige Beiträge sowohl zur Festigung der Historie als zur Anerkennung ihrer geistig-ethischen Be­ deutung erbracht. Allein am Ende aller Logik und Methodik steht die Frage: wie verhält sich die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorge­ brachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst? Oder mit der besonderen Anwendung auf die Historie ausgedrückt: wie weit kann die Historie das reale Geschehen überhaupt erfassen und wie­ dergeben? Alle Historie ist Auslese und Umformung eines ungeheuren Ma­ terials, das seinerseits aus einer unendlich breit und tief strömenden Masse bewegten Lebens hervorragt oder herausgezogen werden kann. Dabei soll

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von den sehr schwierigen und oft nicht sicher zu lösenden Problemen der Quellenkritik und Tatsachenfeststellung gar nicht einmal die Rede I sein, da die eigentliche Aufgabe der erkennenden und darstellenden Synthese - die Franzosen haben oder hatten eine eigene Revue de synthese historique2 erst nach deren Erledigung beginnt. Was in diese darstellende Historie ein­ geht, ist ein winziger Ausschnitt der völlig unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge, die sich zuletzt ihrerseits aus Komplikationen un­ endlich vieler psychischer Einzelvorgänge und ihrer Zusammenhänge mit Natur und Körper zusammensetzen. Es haben also alle in die Historie ein­ gehenden Tatsachen für sie wesentlich repräsentative oder stellvertretende Bedeutung. Nicht der Einzelvorgang als solcher ist es, der hier in Betracht kommt, sondern die in ihm enthaltene Hindeutung auf in ihm sich offenba­ rende allgemeine Tendenzen und Strebungen, die durch ihn sichtbar und auch zugleich durch ihn wieder bestimmt werden. Faßt man aber diese Ten­ denzen und Allgemeinheiten ins Auge, so sind sie überhaupt nicht exakt, sondern nur intuitiv und verstehend als Sinneinheiten erfaßbar. Diese Sinn­ einheiten sind unbegrenzbar verschieden und jedesmal individuell gefärbt, verlangen also eine ungeheure Empfanglichkeit und Kongenialität, Lebens­ und Sachkenntnis des Historikers, sobald er einen größeren Zusammen­ hang bearbeitet. Und nur die großen Zusammenhänge sind von allgemein menschlicher Bedeutung und verleihen der Historie einen einheitlichen Ein­ fluß auf Bildung und Lebensorientierung. Die hieraus sich ergebenden Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Auf der einen Seite ist die Folge das im­ mer mehr sich zerteilende Spezialistentum, das um der Exaktheit willen im­ mer kleinere und gleichgültigere Gegenstände bearbeitet, um mit sicherer, den Naturwissenschaften ebenbürtiger Methode strenge Erkenntnisse, ei­ gentliche Wissenschaft zu gewinnen. Bei der Bedeutung der Philologie für solche Exaktheit läuft es auf eine Philologisierung der Historie hinaus. Der Zustand, der damit eingetreten ist, bedarf keiner näheren Beschreibung. Die Seminarhistorie ist ein Triumph der Wissenschaft, aber sie interessiert nur Fachleute, und zwar jeweils nur solche des gleichen engeren Gebietes. Unter einem oder ein paar Dutzenden von Fachkennern treibt sich dann das Thema hin und her, dient wesentlich als Ausweis der Fachtüchtigkeit der Verfasser und beschäftigt wesentlich nur die Rezensionsblätter. Wo aber die Historiker an die eigentliche Aufgabe der Historie, an die Synthese großer

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Revue de synthese historique. Organe du Centre international de synthese, Directeur: Henri Beer, Paris: Librairie Uopold Cerf, 1 900-1 930. Die halbjährlich erscheinende Zeitschrift bestand in den Jahren 1 920-1 922 regelmäßig aus folgenden drei Sektio­ nen: "Des articles de fond", "des revues", "des notes, questions et discussions".

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Entwicklungszusammenhänge herangehen, da entsteht die peinigende Frage nach der Objektivität solcher Historie, nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf. Ist I sie mehr als scharfsinniges logisches Arrangement der Tatsachen, oder ist sie wirklich geradezu Dichtung? Die Invektiven Schopenhauers gegen die Historie, daß sie lediglich fable convenue sei, allenfalls auch fable non convenue, werden immer von neuem laut.3 Gewiß gibt es eine Anzahl von klassischen Meisterwerken der Synthese wie Rankes, Jacob Burckhardtsa, Tocquevilles, Mommsens, Gardiners Leistungen. Aber wie Ranke selbst sagte, neue Zeiten bringen neue Fragestellungen, und jedes Zeitalter muß die großen Züge der Geschichte von seinem Standpunkt aus neu verstehen.4 Wo aber bleibt dann die Realität und Objektivität? Jedenfalls würde das sehr tief dringende geschichtsphilosophische Untersuchungen zur Beantwortung verlangen. Aber gerade dazu hat man nicht Zeit und Lust, auch fürchtet man die Philosophie in der exakten Wissenschaft. So ist die Folge, daß die Synthesen in den Händen der Historiker immer seltener werden und in die Hände der Dilettanten geraten. Seit der Polemik des heute neu aufgelegten Rembrandt-Deutschen5 gegen die Fachhistorie ist die große syn­ thetische Dilettantenhistorie immer weiter und weiter angewachsen, zum

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"Denn es ist um alle Philosophie geschehn, wenn zum Maaßstab (!) ihrer Beurthei­ lung oder gar zur Richtschnur ihrer Sätze, etwas Anderes genommen wird, als ganz allein die Wahrheit, die, selbst bei aller Redlichkeit des Forschens und aller Anstren­ gung der überlegensten Geisteskraft, so schwer zu erreichende Wahrheit: es führt dahin, daß sie zu einer bloßen ,fable convenue' wird, wie [Bernard le Bovier de] Fon­ tenelle die Geschichte nennt." Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Band 1 (1 851), in: Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke, Band 5, zweite Auflage, neue Ausgabe (1 891), S. 206 f. Troeltsch übernimmt hier seine Ranke-Interpretation aus: Der Historismus und seine Probleme (1 922) , Kapitel 11. Ueber Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, S. 1 1 4: "Da zeigt sich dann aber naturgemäß der Zusammenhang seiner Bewertungen mit seinem eigenen Standort und seinen eigenen Idealen der Zukunftsgestaltung. Deshalb konnte und mußte er auch fordern, daß die universalhistorische Konstruk­ tion von jeder Generation mit neuen Zielen auch neu unternommen werden müsse." Als Beleg dient Troeltsch die Darstellung bei Moriz Ritter: Die Entwicklung der Ge­ schichtswissenschaft, an den führenden Werken betrachtet (1 9 1 9) , S. 4 1 2 f., vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1 922) , S. 1 1 5, Anm. 49. [August Julius Langbehn] : Rembrandt als Erzieher. Von einern Deutschen. Autori­ sierte Neuausgabe, 50.-55. Auflage, Leipzig: Verlag C. L. Hirschfeld, 1 922 [ 1 1 890] .

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Teil geistvolle und glänzende Werke wie die Nietzsches und Spenglers, zum Teil und vor allem ein Haufen besserer und schlechterer Journalistik. Da ist die Folge eine seltsame Mischung von historischer Skepsis und leichtgläubig­ ster Mystik. Ein Mann wie Spengler bezeichnet grundsätzlich die Historie als Dichtung und verachtet die Forderungen gemeiner Richtigkeit als spießbür­ gerliche und pedantische Illu sion.6 Ein Mann wie H. G. Wells7, das angel­ sächsische nüchtern optimistische Gegenbild zu Spenglers deutschem ro-

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0swald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 1 : Gestalt und -Wirklichkeit (1 920) , S. 35: "Nachfühlen, An­ schauen, Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phan­ tasie - das waren seine [Goethes, d. Hg.] Mittel, den Geheimnissen der bewegten Er­ scheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt keine andern." Ebd., S. 39: "Hier rächte sich die Herübernahme des Kausalprinzips aus der Na­ turwissenschaft in die Geschichtsforschung. Man kam zu einem das Weltbild der Phy­ sik oberflächlich nachmalenden Pragmatismus, der die ganz andersartige Formen­ sprache der Historie verdeckt und verwirrt, nicht erschließt. Man wußte allerseits nichts besseres, um die Masse historischen Materials einer vertieften und ordnenden Auffassung zu unterwerfen, als einen Komplex von Erscheinungen als primär, als Ur­ sache anzusetzen und die übrigen demgemäß als sekundär, als Folgen oder Wirkun­ gen zu behandeln. Nicht nur die Praktiker, auch die Romantiker haben dazu gegrif­ fen, weil die Historie ihre eigne Logik auch ihrem beschränkten Blick nicht offenbart hat und das Bedürfnis nach Feststellung einer immanenten Notwendigkeit, deren Vorhandensein man fohlte, viel zu stark war, wenn man nicht wie Schopenhauer der Geschichte überhaupt mißmutig den Rücken kehren wollte." Ebd., S. 21 0: "Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. Wissen, Erfahrung gibt es nur von Gewordenern, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte, so gehört Wissen zur Natur - zu der als Element begriffenen, im Raume betrachte­ ten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten gegenwärtigen Sinnlich­ keit." Ebd., S. 2 1 1 : "Je tiefer jemand Geschichte erlebt, desto seltener wird er streng kau­ sale Eindrücke haben und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos emp­ finden. Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und man wird erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne Gesetze, fast ohne Spuren von Kausalem zu finden. Zeit ist für ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloß Gelehrte, der analysiert, nicht fühlt, besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und Tiefste zu erleben. Die Geschichte fordert sie aber; und so besteht das Parado­ xon zu Recht, daß ein Geschichtsforscher um so bedeutender ist, je weniger er der eigentlichen Wissenschaft angehört." Siehe Anm. 1 .

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mantischen Pessimismus, deckt sich bezüglich der Richtigkeit durch die Kontrolle einzelner Fachmänner, proklamiert aber als Ziel seiner großen, in vieler Hinsicht auch großartigen Synthese, die Stellung der praktischen Ge­ genwartsaufgabe der europäischen Völkerwelt. Skepsis, Dichtung, prakti­ sche Kultursynthese haben sich der Historie außerhalb der Facharbeiter­ schaft bemächtigt. Die letztere scheint ihren Kritikern zurückgeblieben, pedantisch, unfruchtbar, in Illusionen gefangen. Das ist Krisis genug, und die engere Krisis der Historie selbst kann nun mit der allgemeinen Krisis des außerwissenschaftlichen Geistes in ein gemeinsames Bett münden. Skepsis und Phantastik hier wie dort! Das '{!Veite ist die Einführung des soziologischen Elementes in die historische Forschung, Kausalerklärung und intuitive Vereinheitlichung. Der einseitigen Geistes- oder Staats- und Rechtsgeschichte tritt die Auffassung entgegen, daß alle geistig-kulturellen und staatlich- I organisatorischen Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens und daß diese wiederum zwar nicht allein, aber doch sehr stark durch den ökonomischen, technischen und dementsprechend in Sitte und Privatrecht bestimmten Stand der Gesellschaft bedingt sind. Das haben die prak­ tischen Engländer, die Schöpfer der klassischen National- Ö konomie, längst auf ihre Weise gesehen, und aus der Schule Benthams heraus hat Grote in seiner History of Greece8 diesem Gedanken eine erste große Wirkung ver­ schafft. Dabei möge man nicht vergessen, daß aus der deutschen Romantik und Philosophie heraus August Böckh auf ganz analoge Fragestellungen in seinem "Staatshaushalt der Athener"9 gekommen ist. Eine große allgemeine Bedeutung aber haben diese Theorien dann erlangt unter den Erfahrungen der französischen Revolution und ihrer Nachwirkungen in den Schulen St. Simons und August Comtes, die die Schöpfer der Soziologie als einer neuen Wissenschaft, ja geradezu als des Ersatzes für Geschichte, geworden sind. Der armselig-ideologischen Geschichtschreibung der Aufklärung und den individualistischen Revolutionsidealen setzen seitdem die französischen Hi­ storiker zu einem großen Teil eine von Klassen- und Rassenkämpfen, von den Gesellschafts- und Organisations problemen her orientierte Geschichte entgegen. Auch hier darf man die volle Analogie der deutschen Romantik nicht übersehen, die auch ihrerseits die Bildung der realen Gemeinschaft als Hauptproblem erkannte. Wenn sie dabei auch wesentlich auf die Staatsidee und die Realpolitik hinauslief, so sind bei Adam Müller, List, Rodbertus und

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George Grote: A History of Greece, Band 1-1 2 (1 846-55) . August Böckh: Die Staatshaushaltung der Athener (1 8 1 7) .

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Raumer doch die ökonomisch-soziologischen Verhältnisse als geschichtsbe­ stimmend im Vordergrund geblieben. Vor allem aber hat hier die große in­ dustrielle, technische und soziale Umwälzung des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Aufgipfelung zu der marxistischen Wissenschaft oder ökonomi­ schen Geschichtstheorie umwälzend gewirkt. Die wissenschaftliche Bedeu­ tung dieser letzteren, wenn man dabei von der praktisch viel wichtigeren agi­ tatorischen und die sozialistische Klassen-Ideologie begründenden absieht, ist doch eine außerordentliche Einschärfung und Vertiefung der soziologi­ schen Probleme und ihres Zusammenhangs mit den realsten Lebensbedürf­ nissen, wie sie die Sozialökonomie behandelt. Ihr Einfluß ist in Wahrheit ungeheuer. Die Soziologie mag so unfertig sein wie sie will und in dieser Hin­ sicht den Historikern allen möglichen Anlaß zu Angriffen auf sie und da­ mit zur Selbstberuhigung über die Krisis ihrer Wissenschaft geben, sie ist in Wahrheit eine neue Art zu sehen und zu fragen. Man I mag bei den ökono­ mischen Gesamtzuständen wieder nach den geistig-psychologischen und hi­ storisch-individuellen Grundlagen fragen, die Tatsache, daß sie, so wie sie geworden, den auf ihrer Grundlage sich erhebenden geistigen, staatlichen und rechtlichen Bildungen eine starke und dauernde Bestimmung dann ih­ rerseits erteilen, ist nicht zu bestreiten. Man kann die materialistischen oder halbmaterialistischen Voraussetzungen des Marxismus gründlich beseitigen, seine soziologische Lehre selbst bleibt von größter Bedeutung und verlangt den vielseitigsten Ausbau. Damit aber werden alle historischen Probleme noch ganz ungeheuer viel komplizierter. Das Spiel und Widerspiel ökono­ misch-sozialer, geistig-kultureller und politisch-rechtlicher Elemente wird in jedem Einzelfall eines großen Kulturzusammenhangs eine jedesmal beson­ ders zu lösende Aufgabe. Die großen religions- oder philosophiegeschicht­ lichen Durchblicke werden in ihrer Geradlinigkeit unmöglich, die gegensei­ tigen Abhängigkeiten des geschichtlichen Lebens unendlich viel schwerer durchschaubar. Jene rein geistigen Elemente gestatten bei ihrer gedanklichen Natur eine logische Ausspinnung der Entwicklung, ergaben damit einen lo­ gischen Leitfaden, an dem die Vorgänge aufgereiht und auseinander heraus­ geholt werden konnten. Jeder solche rein logische Leitfaden fällt aber weg, wenn man die bestimmende Bedeutung des Ö konomischen und Sozialen auch für diese Dinge erkennt und überdies von der marxistischen Illusion sich befreit, als hätten die ökonomischen Elemente ihrerseits eine logisch dialektische Entwicklungsfolge. Damit aber entfallen im weitesten Umfange die Konstruktionsmöglichkeiten für die großen Synthesen. Der Horizont ist erweitert, aber aus dieser Erweiterung entstehen erst recht lauter ganz spe­ zialistische Problemstellungen. Die Aufgabe der historischen Darstellung der eigentlichen individuellen Entwickelungsverläufe bleibt neben einer ver­ gleichenden allgemeinen Soziologie freilich genau wie vorher die wesentliche

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Aufgabe der Historie. Aber diese Aufgabe ist erschwert und kompliziert. Vor allem hängt jedes Eingreifen der Historie in gegenwärtige Lebensfragen und damit auch ihre eigentliche Bedeutung und Wirkung daran, daß sie die ge­ genseitigen Komplikationen der ökonomisch-sozialen, der geistig-kulturel­ len und staatlich-rechtlichen Mächte gerade in der Gegenwart selber sieht und dazu eine Stellung zu nehmen im Stande ist. Aber gerade vor solcher Riesenaufgabe schreckt die gegenwärtige Historie begreiflicherweise zurück und flüchtet sich lieber in ihren ältern Stil der reinen Kontemplation der Fülle des Historischen und der patriotischen oder geistes- I geschichtlichen Konstruktion, in die Anschauung vom Werden der europäischen Humanität oder vom Werden des modernen Staates oder von Kunst- und Literaturge­ schichte. Damit entsteht dann der Eindruck ihres vielleicht wesensnotwendigen Versagens vor den Aufgaben der Gegenwart, oder die Probleme fallen den Dogmatikern, Ä stheten und Nationalökonomen in die Hand. Jedenfalls ist auch hier ein Punkt, wo ihre eigenen inneren Schwierigkeiten mit den furchtbaren Erregungen und Hilflosigkeiten der außerwissenschaftlichen Gesamtlage zusammentreffen. Das Dritte ist die aus alledem folgende und überdies eigene Gründe besit­ zende Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt. Das herkömmliche Wertsystem seit dem Zusam­ menbruch des christlich-theologischen und des dynastisch-absolutistischen war das des humanitären Fortschrittes, der Autonomie der Vernunft, die in Recht, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst sich aus eigenem Vermögen und eigenem Triebe entfaltet und die moderne Kultur als Menschheitsangelegenheit aus sich hervorbringt. Dieses Wert­ system konnte man mehr international-universalgeschichtlich oder mehr national-individualisierend in seiner Bedeutung für Sammlung, Einheit und Selbstdurchsetzung des nationalen Staates auffassen. Das erstere war die Neigung des kosmopolitischen, an der Selbstvervollkommnung interessier­ ten achtzehnten Jahrhunderts, das zweite die des neunzehnten, das auf die Erfahrungen der französischen Revolution und des Napoleonismus zurück­ blickte. Insbesondere die deutsche Historie hat es in diesem letzteren Sinne aufgefaßt und damit die Einigung und Wiedererhebung unserer Nation aufs wirksamste unterstützt. Aber gleichzeitig wurden diese Kulturideale von ei­ ner steigenden Skepsis angenagt. Die allein übrigbleibende philosophische Begründung der Geltung und inneren Notwendigkeit dieser Werte ging mit dem Zerfall der Philosophie, mit Darwinismus, Ethnologie, evolutioni­ stisch-psychologischer Erklärung aller Werte in die Brüche. Die Härten des Konkurrenzkampfes und das Völkerringen um den Besitz des Erdballs, der neue Machiavellismus und die allgemeine Skepsis lösten die Humanitätsidee auf oder glaubten sie als Heuchelei und Rassenideologien zu enthüllen. Die

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Vergröberung der Kultur durch ihre Massenausbreitung und die überbe­ wußte Intellektualität in ihrer Erzeugung stießen feinere Geister ab. Der Kampf Nietzsches gegen diese ganze Kultur wirkte erschütternd bis in ihre letzten Begründungen hinein. Schopenhauers Skepsis gegen Geschichte I und Fortschritt, gegen die abendländischen, letztlich aus Antike und Chri­ stentum stammenden, Optimismen und Aktivitäten drang wie feiner Staub bis in die geschütztesten Teile des Bildungsapparates. Die Zerbrechung der alten Werttafeln ward Parole und neue Werttafeln gab es im Grunde nicht. Damit entfiel der Historie das Steuer, mit dem sie den ungeheuren Lebens­ strom befahren konnte. Es gab keine Begründungsmöglichkeit für Werte mehr. Die Ethik erschien als die fraglichste aller Wissenschaften. Und doch hatte sie von einer solchen Ethik bis dahin in Wahrheit gelebt. Aber nicht bloß die Begründung entfiel, sondern auch inhaltlich gerieten die europäi­ schen Werte in eine furchtbare Zersetzung. Altertum und Mittelalter hatten ein ontologisch-metaphysisch begründetes Wertsystem gekannt und von da aus die praktischen Werte des Lebens in eine einheitliche Hierarchie ge­ ordnet. Diese Hierarchie zerbrach. Die verschiedenen Werte wandten sich gegeneinander und jeder einzelne wurde fraglich. Max Weber, in seinem auf­ regenden Vortrag über den Beruf der Wissenschaft, redet höchst charakteri­ stisch und sehr heidnisch von einem Polytheismus der Werte, den das Alter­ tum bei seinem allgemeinen Polytheismus naiv und ohne Schaden ertragen und den das Christentum durch seinen Monotheismus der Werte gebändigt habe. 1o Die moderne Religionslosigkeit mache aber heute Polytheismus und Monotheismus gleich unmöglich, weil sie überhaupt keinen Theismus hat. Die Folge sei die Anarchie der Werte und die Notwendigkeit rein persön­ licher, außerwissenschaftlicher Stellungnahme. Alles kämpft gegen alles: die

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Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1 9 1 7/1 9 1 9) , hier zit. nach: :MWG, Band 1 7 (1 992), S. 71-1 1 1 , hier: S. 99 f.: "Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin. Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, son­ dern: weifund insofern es nicht schön ist, - in dem 53. Kapitel des Jesaiasbuches und im 21 . Psalm können Sie die Belege dafür finden, - und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den ,fleurs du mal', wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte, - und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, ob­ wohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist. Aber das sind nur die elementarsten Fälle dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte."

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Kultur und der Fortschritt, die Skepsis und das Ä sthetenturn gegen die Christlichkeit, vor allem gegen den lange Zeit mit der Kultur identifizierten Protestantismus; die Realisten, Modernen, Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysischen und apollinischen Erneuerer der An­ tike gegen Christentum und Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen Imperialismus und Krieg, Kampf für Nation, Staat, Krieg und Realpolitik, für eigenständig nationale oder für internationale und pazifistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen Wirt­ schaft! Dazu die Spaltung zwischen Amerikanismus und Europäismus und das unaufhaltsame Vordringen des Amerikanismus nach Europa, der Ge­ gensatz westeuropäischer und russischer Wertungen, die in Europas Mitte mit krampfhaft gesuchten eigenen und selbständigen durcheinanderfließen! In all diesen Kämpfen dringen von außen I fernöstliche indische, buddhistisehe, chinesische Wertungen ein und versprechen dem wirren Europa Frieden und Erlösung, wenn es von seinem Macht- und Gewaltgeist, seiner Aktivität und seinen antik-christlichen Ideen der Autonomie der Persönlichkeit lasse. Den Gipfel der Verwirrung hat zuletzt der Weltkrieg geschaffen, der eine Menge alter Wert-Selbstverständlichkeiten und entsprechender historischer Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat. All das gehört zunächst dem allgemeinen Leben an. Aber da diese Werte selbst alte historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge. Sie hat durch den von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles verstehenden Relativismus die Erschütterung der Werte angebahnt. Aber andererseits lebt j ede ihrer Thema- und Fragestel­ lungen, alle Herausschneidung historischer Gegenstände aus dem flüssigen Continuum des Lebens, alle Konstruktion und Bildung von Leitfaden doch von einer allgemein anerkannten Wertlehre. Es ist ihre Aufgabe, die historischen Werte anschaulich und suggestiv zu machen, indem sie nur sachlich ihre Bildungsgeschichte erzählt, und die modernen Gegenwartentscheidungen vorzubereiten durch die Orientierung über die geschichtliche Fülle und den Zusammenhang der Wertwelt. Indem sie selber sich dem bloßen Alles­ Verstehen ergab, hat sie sich in einen innern Widerspruch hineingearbeitet, und dieser Widerspruch wurde in den Sturm des allgemeinen Lebens hinein­ gerissen. Dabei wurde er zum Brand entfacht, der sie selber zu verzehren droht. Das alles zusammen genommen, ist eine wirkliche Krisis des Historismus. Man kann zu seiner Beruhigung die Biographien und Tagebücher der Leute lesen, die 1 848 erlebt haben, und feststellen, daß auch damals alles zu wan­ ken schien und dann alles sich wieder zurechtzog. Aber man wird zweifeln

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dürfen, ob sich wirklich alles zurechtgezogen hat und ob nicht die Geister von damals heute vermehrt wiedergekehrt sind. Vor allem ist doch gerade für die Historie die Krisis gar keine in den letzten Ereignissen begründete, sondern eine logisch in der Sache liegende; die heutige Weltrevolution hat ihr nur besonders grelle Schellen angehängt. Sie hat die verschiedenen Länder und Völker allerdings in sehr verschiedenem Maße ergriffen. Am wenigsten natürlich die Amerikaner, die nur wenig Geschichte haben und Europa als ein Museum betrachten. Sie haben mehr Zukunft als Vergangenheit und haben dementsprechend sich ihren Vers auf die Gesamtlage bereits I gemacht: ein von amerikanischer Weltkontrolle getragener demokratischer Pazifis­ mus. Das ist die Lehre, die sie aus der Geschichte ziehen und begründen und in deren Licht sie das Werden der historischen Welt sehen. Immerhin ist es ein Engländer, H. G. Wells, gewesen, der diese amerikanische Lehre in eine weltgeschichtliche Form gegossen hat und seinen auf sich selbst begrenzten Landsleuten die Notwendigkeit universaler Geschichtsbetrachtung damit klar machen will. In England ist die Krisis des Historismus mehr erst als Kri­ sis des christlichen Wertsystems durch historische Kritik und historische Vergleichung fühlbar. Davon handelt ein Buch von Bouquet "Is Christianity the Final Religion?" Hier ist die Krisis klar erkannt. Doch heißt es charakte­ ristisch gleich auf der ersten Seite: "das angelsächsische Temperament ist mehr ausdehnungslustig als nach innen gerichtet und neigt mehr zu missi­ onarischen Unternehmen als zur Prüfung der Gründe seines Glaubens." l l Und Sidney Low sagt irgendwo, daß die Engländer stolz seien, ein unlogi­ sches Volk zu sein und sich lediglich an ihre Erfahrung statt an Spekulation zu halten.12 In Frankreich hat Barres, einer der Haupturheber des Krieges, den Historismus durch den Historismus gewaltsam überwunden, indem er gegen Entwurzlung und Intellektualismus, Ä sthetenturn und Universalismus

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Alan Coates Bouquet: Is christianity the final religion? (1 921), S. 1: "The Anglo-Saxon temperament is expansive rather than intensive, and takes more naturally to missio­ nary enterprise than to the examination of the basis of belie(" Sidney Low: The Governance of England (1 904), S. 4: "We have had no revolution for two hundred years; we have not been compelled to clean the slate, or examine the foundations of our beliefs; and we are pro ud of being an illogical people. So we have carefully avoided systematisation; we provide for immediate necessities; and we are content with a constitution, which has been found to meet our practical require­ ments, though it is parcly law, and parcly history, and parcly ethics, and parcly custom, and parcly the result of the various influences which are moulding and transforming the whole structure of society, from year to year, and one might almost say, from ho ur to hour." Eine deutsche Ü bersetzung mit einer Einleitung von Georg Jellinek er­ schien 1 908 unter dem Titel "Die Regierung Englands".

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die strengste und schärfste Bejahung der eigenen Nation und aller ihrer hi­ storischen Eigentümlichkeiten und Rechte und Ansprüche fordert. In Italien hat der Futurismus den Kampf gegen alle Historie eröffnet und eine brutale Machtentfaltung der Gegenwart als Erlösung von ihr, von Museen und Bä­ dekern proklamiert. Wie die russischen Intellektuellen und Historiker heute über ihre westlichen oder slavophilen historischen Theorien und über Histo­ rie überhaupt denken mögen, weiß niemand. Dort wird das ungeheuers te Gegenwartsexperiment gegen alle bisherige Geschichte gemacht und neue Erfahrung gewonnen, die neues Geschichtsdenken begründen wird und da­ mit alles alte vorerst antiquiert. Am schärfsten ist die Krisis natürlich in Deutschland, dem Mutterlande der modernen Historie, wo sie am reichsten und breitesten entfaltet war und wo alles auch in gänzlich unphilosophischen Zeiten und beim äußersten Realismus mit einem Hauch von Philosophie oder doch mindestens allgemeiner Konsequenz-Macherei und prinzipiellen Betrachtungen geschwängert ist. Hier hat der Weltkrieg insbesondere alles historische Denken völlig durcheinandergeworfen, alte Konstruktionen und Maßstäbe entwertet und völlig neue Probleme aufgegeben, freilich auch zu­ gleich gegen alle Historie doppelt und dreifach skeptisch gestimmt. I So versteht man die heutige Krisis des Historismus als eine tiefe innere Krise der Zeit überhaupt. Es ist kein bloß wissenschaftliches, sondern ein praktisches Lebensproblem. Welchen Ausgang gibt es? Es ist selbstverständlich unmöglich, hier in der Kürze den Ausweg anzu­ geben, wie er mir als gangbar vorschwebt. Ich werde das in einem Buche über den modernen Historismus versuchen l3, das ich noch in diesem Jahre herauszubringen hoffe. Hier ist nur möglich, die verschiedenen tatsächlich versuchten Auswege zu bezeichnen. Ich werde mich dabei dieses Mal we­ sentlich an unsere deutschen Verhältnisse halten. Viele suchen den Ausweg in einem radikalen Wissenschaftshaß und grundsätzlichen Antihistorismus. Persönliche Inspirationen und souveräne Diktate treten an Stelle der Wissenschaft, wofür man das Vorbild Nietzsches gern benutzt, der freilich ein historisch fein gebildeter Geist war und dieser Bildung den Gehalt auch in seinen verwegensten Visionen im Grunde doch verdankte. Er dachte stets in Genealogien und hatte die Kultur des Huma­ nismus. Andere stürzen sich auf einen radikalen Rationalismus, den sie bald mehr pazifistisch, bald mehr sozialistisch, bald mehr utopistisch oder nüch­ tern zweckrationell verstehen. Hier beruft man sich gern auf Kant und den

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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1 922) , vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 434.

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Neukantianismus, wobei man wiederum und allzugern den vorkritischen Kant vergißt, der mit aller naturwissenschaftlichen und anthropologisch­ geographischer Bildung gesättigt war und von da aus das Material voraus­ setzte, auf das er seinen Kritizismus anwandte. Alles das gehört zum Rausch und Wahn der Revolution. Schon vorher vorhandene Neigungen einzelner Kreise sind durch sie in den Wirbel der Aufregungen hineingerissen und für eine Zeitlang als Schaum in die Höhe gespritzt worden. Mit den wachsenden Enttäuschungen, die der Revolution folgten und weiter folgen werden, wer­ den auch diese Dinge wieder in ein ruhigeres Geleise zurückkehren und den Anschluß an ein ernsthaftes Wissen von Kultur und Geschichte suchen. Ein anderer Ausweg ist die Begrenzung auf die eigene Geschichte und eine stark gefühlsmäßige und ausschließende Behandlung dieser. Ähnlich wie einst im Kampfe gegen die Napoleonische Knechtschaft und die dau­ ernde Gefahr einer Wiedererweckung der französischen Revolution der ei­ gene Volksgeist und die eigene Vergangenheit romantisch verherrlicht und zum Mittel einer nationalen Wiedergeburt und Einigung gemacht wurden, so ersteht auch heute wieder eine roman l tisch-germanische Geschichtsauf­ fassung und Verwertung, die man heute "völkisch" nennt. Sie kehrt sich frei­ lich heute ähnlich wie die Theorie der Slavophilen gegen das gesamte West­ lertum, damit auch gegen die englische und amerikanische Welt, während man damals das Germanentum mit an England veranschaulichte und in Burke geradezu einen der Bannerträger der neuen antirevolutionären Ge­ schichtsbetrachtung pries. Auch nach andern Seiten hin ist der völkische Ge­ danke heute brennender und einseitiger als damals. Er kehrt sich gegen einen großen Teil der eigenen Volksgenossen und ist fast eine Klassenideologie des in seiner Existenz bedrohten Bürgertums geworden. Ja, er kehrt sich so­ gar gegen die damals hochverehrte und als dem Deutschtum wahlverwandt betrachtete Antike und möchte die Erziehung nur mit völkisch-deutschen Kulturmitteln bestreiten. Daß er gleichzeitig das damals kaum in Betracht kommende Judentum zum Hauptgegner erkoren hat und in dieser Frontstel­ lung seine wesentlichsten, durch die moderne Rassenmythologie erhitzten Sätze gewinnt, ist allbekannt. Alles in Allem ist es die volle Parallele zu der Art, wie Barres für viele Franzosen das Problem des Historismus gelöst hat, nur weniger ästhetisch und künstlerisch verbrämt. Daß darin ein tiefer und untrüglicher Instinkt neben ungeheuerlichen Einseitigkeiten, politischem Unverstand und alle Humanität verleugnender Derbheit liegt, ist ohne wei­ teres klar. Weltpolitische Nötigungen des Völkerverkehrs und die sicher zu erwartende Rückkehr zu unsrer großen humanen und universalen Historie werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen. Auch innerhalb un­ seres eigenen Volkes muß ein Ausgleich kommen. Das Bürgertum kann sich nicht auf die Dauer grundsätzlich isolieren. Die uns von allen Seiten aufge-

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drängte weltpolitische Neuorientierung wird zu historischer Besinnung und humanem Universalismus zurückführen. Der grundsätzlichste Ausweg ist freilich die Verneinung der ganzen kul­ turellen und politischen Entwicklung seit Ausgang des Mittelalters, die zu den heutigen geistigen, sozialen und politischen Krisen geführt hat, der Verzicht auf die Gewinnung von Weltanschauung und Lebensmaximen aus freier Betrachtung der Geschichte und auf die rationale Gestaltung der Ge­ sellschaft aus frei schaffender Vernunft. Die Rückkehr zur kirchlichen Autorität und einer modernisierten ständischen Lebensordnung scheint allein die unheilbaren Probleme der Moderne lösen zu können. Dabei steht natürlich der Katholizismus weitaus im Vordergrund, der eine grundsätzliche wissenschaftliche I Universalität und ständische Soziallehren besitzt, der überdies nuancenreich und anpassungsfähig ist, weil er nicht aus Dogma und Theorie allein besteht. So sehen wir in der Tat eine starke Neukräftigung des Katholizismus vor uns. Er stellt die verständigste und wichtigste politische Partei und entfaltet in Bildungskreisen einen sehr geistreichen Neukatholizismus. Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Ausweg von sehr vielen gesucht werden wird und daß dem Katholizismus eine große Rolle in der praktischen Lösung unseres Problems beschieden sein wird. Der deutsche Protestantismus dagegen wird schwerlich in dieser Hinsicht eine große Bedeutung erlangen. Soweit er dogmatisch konservativ ist, steht er den Völ­ kischen nahe. Der freie Protestantismus aber war und ist mit dem Historismus eng verbunden, holt aus der Breite der Geschichte die humane Bedeutung des Evangeliums heraus und ergänzt sie aus weiteren historischen Elementen, die die Geschichte in die christlichen eingeschmolzen hat. Dagegen aber wendet sich die Ungunst der Zeit von allen Seiten. Er setzt geordnete Allgemeinverhältnisse voraus, innerhalb deren die freie Indi­ vidualität die historischen Kräfte frei verbinden kann, ohne doch damit die Grundlage der institutionellen Regelungen zu zerstören. Ihn trifft die geistige und politische und soziale Krisis am schwersten. Andre religiöse Kräfte werden sich schwerlich als Ausweg erheblich geltend machen. Das Sekten- und Gemeinschaftschristentum greift zwar gleichfalls um sich, aber eine geistig führende Bedeutung ist ihm sicherlich nicht beschieden. Hier gibt es keine Form und kein Dogma, und das sind die Dinge, nach denen die Zeit sich sehnt. Augenblicklich glauben viele, das in einer Theosophie zu finden, die mit modernstem Geschäftsbetrieb, politisch-sozialen Theorien der Staatsauflösung, Nietzsche-artigen Geschichtsvisionen verbündet ist und dem jeweils höheren Einweihungsgrade immer festere Dogmen ver­ spricht. Es ist der stärkste Ausdruck der weitgreifenden Verzweiflung an Vernunft und Wissenschaft und ein Geschichtsbild auf Grund von Visionen- und Geheimoffenbarungen. Wie lange derartige Dinge ihre Zugkraft

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behalten, hängt von allgemeinen psychologischen und realen Verhältnissen ab, die niemand berechnen kann. Der letzte Ausweg ist derjenige, der für den wissenschaftlich gesinnten Menschen allein in Betracht kommt: eine neue Berührung von Historie und Philosophie. Die Philosophie selbst ist, wie jedermann sehen kann, in einer tiefen Umwandlung und Neubildung begriffen und wagt sich wieder an die alten großen Hauptprobleme der I Philosophie. Von ihr aus muß auch das schwere Problem des Historismus in Angriff genommen werden. Dabei handelt es sich nicht darum, die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen zu imprägnieren. Diese wird vielmehr bleiben müssen wie sie ist, und nur in ihrer Themenstellung und ihren Gegenständen dem Bedürfnis nach dem Großen, Bedeutenden und Wirksamen mehr Rechnung tragen müssen. Dagegen muß die allgemeine Weltanschauungsbedeutung und der Bildungs­ ertrag der Historie neu durchgedacht und neu befestigt, auf das Mögliche und Erreichbare begrenzt, hier aber mit vollster Lebendigkeit herausgeholt werden. Das Problem der historischen Lebenskenntnis im Verhältnis zu gegenwärtiger Schöpfung und Kultursynthese muß mit allem Nachdruck gestellt und die universalgeschichtliche Unterlage für solche Gegenwarts­ schöpfung mit aller Kraft und Tiefe neu gestaltet werden. Das sind Aufga­ ben nicht der Historie selbst, sondern der auf die Historie bezogenen Philo­ sophie, Antworten auf Fragen, die freilich aus der Historie selbst heraus entspringen. Ob Historiker oder Philosophen das Problem bearbeiten, ist dabei gleichgiltig. Auf Zusammenarbeit sind sie jedenfalls angewiesen. Die geistige Lage der Zeit verlangt nicht bloß, wie man allenthalben heute hören kann, die Erlösung vom Naturalismus als von einem Philosophie und Bil­ dung überwuchernden Prinzip, sondern mehr noch vielleicht die Erlösung vom Historismus und seiner begleitenden Skepsis, Ermüdung und Wirklich­ keitsflucht. Hiermit aber wird dann nicht bloß der Historismus einen Richt­ punkt, sondern auch die formalistisch, abstrakt und technisch gewordene Philosophie einen neuen Lebensgehalt finden. Der Historismus verlangt nach Ideen, die Philosophie nach Leben. Beiden kann durch solche Verbin­ dung geholfen werden. Wie weit eine solche vom Boden der Wissenschaft aus erfolgende Lösung des Problems die allgemeine außerwissenschaftliche Krise zu bannen helfen kann, ist dann freilich eine Frage für sich. Hier scheiden sich die grundsätz­ lichen Lebensstellungen, der moderne Mensch, der die Freiheit und Beweg­ lichkeit des Gedankens für ein wesentliches Element der in tausendfachen praktischen Verwicklungen sich abspielenden Kultur hält, und der mittel­ alterliche Mensch, der seine Kraft und Stärke in dogmatischer Gebundenheit und Ehrfurcht hat und dafür dann den Rest frei spielen lassen kann. Wohl möglich, daß uns auf dem Kontinent eine mittelalterliche Rückbildung be-

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vorsteht, zuvor aber müßte mehr als die Hälfte unsres Menschenbestandes I verschwunden sein. So lange der Lebensquell unerschöpflich springt, so lange werden wir auch dem Leben und seiner, die moderne Welt nicht allein, aber grundsätzlich mitbestimmenden Selbstdarstellung als Geschichte im Vertrauen zur Vernunft und Wissenschaft uns hingeben. Das ist Glaubenssache, wie es das mittelalterliche Dogma, solange es naiv war, auch gewesen ist.

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Dem ermordeten Freunde

Editorischer Bericht

1 . Entstehung Am Donnerstag, dem 29. Juni 1 922, hielt Ernst Troeltsch während der Trauerfeier, die die "Deutsche Gesellschaft 1 9 1 4" für Walther Rathenau in ihren Räumlichkeiten im ehemaligen Pringsheimschen Palais in der Wil­ helmstraße 67 abhielt, die Trauerrede. 1 Der deutsche Reichsaußenminister war am 24. Juni 1 922 von rechtsradikalen Attentätern in Berlin ermordet worden. Seit dem 3 1 . Januar 1 922 hatte er dieses Amt für die DDP im zwei­ ten Kabinett (SPD, Zentrum, DDP) von Reichskanzler Joseph Wirth (Zen­ trum) inne. Der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4" war Rathenau bereits kurz nach deren Gründung im November 1 9 1 5 beigetreten.2 Der Zweck der "Deutschen Gesellschaft 1 91 4", die politisch Reichskanzler Bethmann Holl­ weg nahestand, lag vor allem darin, durch Persönlichkeit und Leistung her­ vorgetretenen "reichsdeutschen Männern aus allen Berufen und Ständen ohne Unterschied der Partei", so die Satzung, "die Möglichkeit eines vorur­ teilsfreien, zwanglosen geselligen Verkehrs" zu bieten und so den "Geist der Einigkeit von 1 9 1 4 in die Jahre des Friedens" unter dem Vorzeichen einer inneren "Neuorientierung" zu tragen.3 Die finanzielle Grundlage dafür sicherte vor allem der Großindustrielle Robert Bosch.4 Personelle und in­ haltlich-konzeptionelle Verbindungen bestanden in den letzten Kriegsjahren u. a. zum "Volks bund für Freiheit und Vaterland" und zu Hans Delbrücks "Mittwochabend"5, denen auch Troeltsch angehörte, während sich kon1 Trauerfeiern für Walther Rathenau, in: Berliner Tageblatt, Nr. 302, A, 29. Juni 1 922,

S. 3. 2 Bernd Sösemann: Jenseits von Partei und Parlament (1993), S. 1 69. 3 Deutsche Gesellschaft 1 9 1 4. Satzung, BArch, N 2 1 1 3, Nachlaß Herwarth von Bitten­

feld, Blatt 3. 4 Johanna Schellenberg: Deutsche Gesellschaft 1 9 1 4 (1 968), S. 378. 5 Bernd Sösemann: Jenseits von Partei und Parlament (1993) , S. 1 76.

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servative Kräfte zunehmend distanzierten. Forderungen nach weitgehen­ dem Verzicht auf Annexionen und einem Verständigungs frieden dominier­ ten zunehmend in der zweiten Kriegshälfte das Meinungsklima in der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4". Bei Kriegsende verfügte die Gesellschaft über ca. 2500 bis 3000 Mitglieder aus allen politischen Parteien, einschließ­ lich des rechten Flügels der Sozialdemokratie. Unter den Mitgliedern befan­ den sich zahlreiche Vertreter aus dem Parlament, der höheren Beamten­ schaft, dem Bankwesen, der Industrie, dem Handel und dem Militär.6 Auch Wissenschaftler, Schriftsteller, Publizisten, Journalisten, Musiker und bil­ dende Künstler waren häufig anzutreffen. Rathenau entwickelte in der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4" als Präsidiumsmitglied rege Aktivität. Vor dem exklusiven Kreis der Mitglieder und Gäste hielt er drei Vorträge. Gro­ ßes Aufsehen erregte sein Vortrag am 20. Dezember 1 9 1 5 über die Rohstoff­ versorgung Deutschlands während des Krieges. Am 1 8. Dezember 1 9 1 6 lau­ te te sein Thema "Probleme der Friedenswirtschaft"7 , und am 1 3. Juni 1 922, elf Tage vor seiner Ermordung, referierte er wahrscheinlich über das unmit­ telbar bevorstehende Erscheinen der ersten sechs Bände der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes.8 Troeltsch wurde bereits in der ersten Mitgliederliste vom Januar 1 9 1 6 als Mitglied der "Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4" geführt.9 Sein Name wird allerdings nicht aufgeführt in dem "Ver­ zeichnis derjenigen Herren, welche ihren Beitritt zur ,Deutschen Gesell­ schaft 1 9 1 4' bereits erklärt haben". 10 Vermutlich war er ohne Unterbrechung bis zu seinem Tod 1 923 Mitglied. Troeltsch nutzte "die spezifischen Ge­ sprächs-, Informations- und Diskussionsmöglichkeiten aus ,erster Hand"'I I , die die "Deutsche Gesellschaft 1 9 1 4" bot und hielt dort am 20. März 1 9 1 6 seinen Vortrag über "Die Ideen von 1 9 1 4".12

6 Ebd., S . 1 72. 7

8 9 10 11 12

Verzeichnis der Vorträge gehalten vor den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4 für die Zeit November 1 9 1 5 bis August 1 934. Zusammengestellt von Edmund Steinschulte, BArch, ZSg. l -E/7 1 (1 8) , S. 1 9. Bernd Sösemann, Jenseits von Partei und Parlament (1 993) , S. 1 75 f. Mitgliederverzeichnis der ,Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4'. Aufges tell t im Januar 1 9 1 6, BArch, ZSg. I -E/7 1 (2) , Blatt 30. Verzeichnis derjenigen Herren, welche ihren Beitritt zur ,Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4' bereits erklärt haben, BArch, N 2 1 1 3, Nachlaß Herwarth von Bittenfeld, Blatt 8-14. Bernd Sösemann, Jenseits von Partei und Parlament (1 993) , S. 1 77. Verzeichnis der Vorträge gehalten vor den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4 für die Zeit November 1 9 1 5 bis August 1 934. Zusammengestellt von Edmund Steinschulte, BArch, ZSg. l -E/7 1 (1 8) , S. 2 1 . Vgl. auch Brief Troeltschs an Johann Plenge, 2 1 . März 1 9 1 6 KGA 1 8/1 9. -+

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Troeltschs Trauerrede im Anschluß an die einleitenden Worte von Reichs­ justizminister Eugen Schiffer, dem Vorsitzenden der "Deutschen Gesell­ schaft 1 9 1 4", beschrieb der Literaturkritiker Heinrich Spiero wie folgt: "In einer Erschütterung ohnegleichen, förmlich von dem aus Tiefen drohenden Entsetzen überrnächtigt, hielt Ernst Tröltsch in der schweigenden Runde der Deutschen Gesellschaft Rathenau die Gedenkrede, die Zeichen düster verhangener Zukunft mit der Kraft dessen deutend, der selber dem Tode nicht mehr ferne stand."1 3 Troeltsch selbst schrieb hierüber am 7. Juli 1 922: "Ich war mit Rathenau nahe befreundet und habe an anderem Orte, in der ,Neuen Rundschau', ihm Worte des Gedenkens gewidmet, die man nieder­ schreiben kann, aber die zu sprechen ein heißes Würgen in der Kehle mir fast unmöglich machte."14 Während der Korrekturarbeiten an seinem Artikel "Wieder bei der Reparationskommission", der im Juliheft des "Kunstwart" zum Abdruck kam, hatte Troeltsch von dem Mord an Rathenau erfahren. In diesem Artikel, verfaßt am 1 1 . Juni 1 922, mahnte Troeltsch: "Man hetzt und hetzt auf allen Seiten, und wenn dann Dinge wie das Blausäure-Attentat auf Herrn Scheidemann herauskommen, bedauert man es, erklärt es aber für na­ turgemäße Folge eines allzustarken Hervortretens der Sozialdemokratie. Da könne man die ursprünglich gesunden und jetzt nur verirrten Volksinstinkte nicht mehr bändigen, ganz so wie es gegenüber den Juden gehe."15 Ohne Datumsangabe verfaßte er unmittelbar nach dem Mord an Rathenau folgen­ den Schluß dieses Artikels: "Bei der Korrektur kommt die Nachricht von Ra­ thenaus Ermordung. Vor ein paar Tagen sagte er zu mir, er gehe nie ohne Waffen aus und rechne stets mit der Möglichkeit einer Ermordung! Wer wird der nächste sein? Und wie wird die Mark darauf reagieren?"1 6 Der sozialdemokratische Journalist und Historiker Gustav Mayer erin­ nerte sich wie folgt an den Tag nach der Mordtat im Hause von Friedrich Meinecke an Troeltschs Reaktion: "An dem Sonntag nach der Ermordung Rathenaus [25. Juni 1 922, d. Hg.] , als man die Täter noch nicht kannte, be­ fanden wir uns bei Meineckes in Dahlem auf einer Teegesellschaft. Tröltsch saß in einem Kreise von Herren und Damen auf der Veranda und bestritt wie so oft das meiste von den Kosten des Gesprächs. Dieses erging sich natürlich auch in Mutmaßungen über das politische Lager, aus dem die Mörder Rathe­ naus gekommen sein mochten. Dem Kirchenrechtslehrer Ulrich Stutz, der trotz seiner Schweizer Herkunft ein rabiater deutscher Nationalist war, er-

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Heinrich Spiero: Schicksal und Anteil (1 929), S. 299.

1 4 Ernst Troeltsch: Gefährlichste Zeiten. (1 922) , S. 294 --+ KGA 1 4. 1 5 Ernst Troeltsch: Wieder bei der Reparationskommission. (1 922), S. 240 1 6 Ebd.

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KGA 1 4.

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schien es ausgemacht, daß nur Kommunisten die Täter sein konnten. Da schlug Tröltsch mit der Faust so wütend auf den Tisch, daß Tassen und Tel­ ler klirrten und einige Damen erschreckt aufsprangen: ,Wer hat bei uns den politischen Mord heimisch gemacht?' brüllte er. ,Wurden Kurt Eisner und Rosa Luxemburg von Kommunisten ermordet? Wer hat gegen Rathenaus Politik ständig gehetzt? Wer seine Person unablässig verleumdet? Immer wa­ ren es die von rechts, immer wieder waren es die Feinde des neuen Staats. "