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German Pages 572 Year 2008
Schriften zum Völkerrecht Band 185
Konstitutionelle Gemeinwohlorientierung im Völkerrecht Grundlagen völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der globalen Umwelt
Von
Martin Scheyli
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MARTIN SCHEYLI
Konstitutionelle Gemeinwohlorientierung im Völkerrecht
Schriften zum Völkerrecht Band 185
Konstitutionelle Gemeinwohlorientierung im Völkerrecht Grundlagen völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der globalen Umwelt
Von
Martin Scheyli
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-12826-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert wurde. Für die großzügige Unterstützung, die es mir ermöglichte, mich während dreier Jahre gänzlich diesem Vorhaben zu widmen, danke ich sehr herzlich. Bedanken möchte ich mich außerdem bei all den Personen, die mich im Laufe der Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt haben: Prof. Dr. Astrid Epiney (Freiburg i.Ue.) war mit freundschaftlichem Rat zur Stelle, wenn er benötigt wurde. Ein wesentlicher Teil der Arbeit erfolgte während meiner Aufenthalte in den Jahren 2000 bis 2002 als Gastforscher in Florenz (European University Institute), Berlin (Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht, Humboldt-Universität) und London (Institute of Advanced Legal Studies, University of London). Prof. Philip Alston (New York, ehemals Florenz), Prof. Dr. Ingolf Pernice (Berlin) und Prof. Philippe Sands (London) haben mir freundlicherweise die Möglichkeit geboten, das stimulierende Umfeld dieser Forschungsinstitutionen zu nutzen. Wertvolle inhaltliche Ratschläge und Diskussionen in unterschiedlichsten Phasen des Projekts verdanke ich insbesondere Prof. Dr. Thomas Cottier (Bern), Prof. Dr. Walter Kälin (Bern) sowie Dr. Karine Siegwart (Freiburg i.Ue.). Die Aufenthalte als Gastforscher waren wesentlich geprägt durch eine Vielzahl von Begegnungen, aus denen anhaltende Freundschaften entstanden sind. Allen, die mich in dieser Zeit begleitet haben, bin ich herzlich verbunden. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich Franziska Stocker, für vieles. Das Buch ist Meret, Kolja, Nicolai und Noam gewidmet, stellvertretend für die jüngste Menschheitsgeneration, deren Zukunft im Blickpunkt mancher Überlegungen im Text steht. Die Arbeit an dieser Untersuchung wurde Ende des Jahres 2007 abgeschlossen. Bern, im Frühjahr 2008
Martin Scheyli
Inhaltsübersicht
Einleitung
27
1. Kapitel Die universelle Geltung des Völkerrechts A. Die Universalität des Völkerrechts in den Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre .........................................................................................
33 34
B. Die Partikularität des Völkerrechts als Koexistenzordnung konkurrierender Mächte ................................................................................
41
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung..............
51
D. Zusammenfassung ........................................................................................
86
2. Kapitel „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
90
A. „Globalisierung“ als Herausforderung des Völkerrechts .................................
90
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre..................................
94
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der Europäischen Union .. 126 D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im völkerrechtlichen Kontext ........................................................................................................ 169 E.
Zusammenfassung ........................................................................................ 200 3. Kapitel Vorfragen zur normativen Wirksamkeit völkerrechtlicher Gemeinwohlorientierung
203
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls .......................................................... 204 B. Normtheoretische Grundlagen....................................................................... 286 C. Zusammenfassung und Folgerungen im Hinblick auf die materiellen Untersuchungen zum geltenden Völkerrecht........................................................... 325
8
Inhaltsübersicht 4. Kapitel Der Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen
328
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte............................................................... 329 B. Normative Konkretisierungen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Gemeinwohlbelang im geltenden Umweltvölkerrecht ...................... 337 C. Das völkerrechtliche Regime zum Schutz des Klimas als Anwendungsfall der potentiellen konstitutionellen Vorgaben ................................................... 409 5. Kapitel Hindernisse und Entwicklungsperspektiven völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
448
A. Ergebnis der Prüfung der konstitutionellen Realität im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ................................................................. 448 B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung.......................... 451 C. Entwicklungsperspektiven der Durchsetzung von potentiellen konstitutionellen Normgehalten, insbesondere im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen......................................................................................... 468 Literaturverzeichnis........................................................................................... 497 Sach- und Personenregister ............................................................................... 569
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
27
1. Kapitel Die universelle Geltung des Völkerrechts A. Die Universalität des Völkerrechts in den Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre..............................................................
33 34
I.
Die universelle Völkerrechtsgemeinschaft bei Francisco de Vitoria .........
34
II.
Die universelle Völkerrechtsgemeinschaft bei Francisco Suárez..............
36
III. Gemeinsamkeiten im Denken Vitorias und Suárez’.................................
37
IV. Weitere Ansätze früher Völkerrechtslehre ..............................................
38
B. Die Partikularität des Völkerrechts als Koexistenzordnung konkurrierender Mächte ............................................................................
41
I.
Völkerrechtsentwicklung als Verbreitung europäischer Rechtsvorstellungen.........................................................................................
41
Numerus clausus der Völkerrechtsgemeinschaft......................................
44
III. Dimensionen der Durchsetzung partikulärer Interessen ...........................
46
II.
1.
Die Praxis des Sklavenhandels ........................................................
46
2.
Die Praxis der territorialen Besitzergreifung ....................................
49
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung ....... I.
51
Die Öffnung der Völkerrechtsgemeinschaft im 20. Jahrhundert ...............
51
1.
51
Die Neuorientierung zur Zeit des Völkerbundes............................... a)
Die Forderung nach einer Umgestaltung des Völkerrechts in eine globale Friedensordnung: die Lehre Walther Schückings ...
52
b)
Der Völkerbund als Versuch einer umfassenden völkerrechtlichen Friedensordnung............................................................
55
c)
Der Völkerbund als Ausdruck einer ersten Öffnung der Völkerrechtsgemeinschaft ..................................................................
56
Die Zögerlichkeit des Bewusstseinswandels in der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie: das Beispiel Lassa Oppenheims....
58
d)
10
Inhaltsverzeichnis e)
2.
Der Zwischenstand nach der Völkerbundszeit in Bezug auf die Erneuerung des Völkerrechts: grundlegende Anstöße und offene Fragen ..........................................................................
64
Die Durchsetzung des erneuerten Völkerrechtsverständnisses im Rahmen der Vereinten Nationen......................................................
67
a)
Grundlagen gemäß der Charta der Vereinten Nationen..............
67
b)
Die Konsolidierung des gewandelten Verständnisses in der Völkerrechtslehre ....................................................................
69
c)
Die Bedeutung des Entkolonialisierungsprozesses für die Universalisierung der Völkerrechtsordnung ...................................
70
Von der Koexistenz zur Kooperation........................................
72
Konkrete Wirkungsweisen der universalisierten Völkerrechtsordnung.....
d)
75
1.
Zwingende Normen des Völkerrechts..............................................
75
2.
Wirkungen des Völkerrechts „erga omnes“......................................
80
3.
Innerstaatliche Wirkungen des Völkerrechts ....................................
83
D. Zusammenfassung ......................................................................................
86
II.
2. Kapitel „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
90
A. „Globalisierung“ als Herausforderung des Völkerrechts...........................
90
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre ............................
95
I.
Einleitung..............................................................................................
95
II.
Materieller und formeller Konstitutionalisierungsbegriff .........................
98
1.
Die Regel: ein offener materieller Verfassungsbegriff......................
98
2.
Die Ausnahme: die UNO-Charta als Anknüpfungspunkt eines formellen Verfassungsbegriffs............................................................. 100
III. Konstitutionalisierung als strukturelle Entwicklung des Völkerrechts ...... 102 1.
Das gewandelte völkerrechtliche Souveränitätskonzept als strukturelle Ausgangslage....................................................................... 102
2.
Ausdruck der gemeinsamen Interessen bzw. des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft.......................................................... 103
3.
Auswirkungen auf die völkerrechtliche Normenhierarchie ............... 105 a) b)
Systematische Vorrangstellung des Völkerverfassungsrechts .... 105 Faktoren der Hierarchisierung.................................................. 107 aa) Ablehnung einzelstaatlicher Vorbehalte gegen völkerrechtliche Verträge mit Gemeinwohlrelevanz............................ 107 bb) Begriff eines „internationalen ordre public“....................... 108
Inhaltsverzeichnis
11
cc) Auswirkungen auf die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre 110 IV. Konstitutionalisierung als materielle Entwicklung des Völkerrechts ........ 110 1.
Rahmenbedingungen der materiellen Entwicklung: Konstitutionalisierung als unabgeschlossener Prozess............................................. 110
2.
Völkerrechtliche Bereiche der materiellen Entwicklung ................... 111 a)
Schutz der Menschenrechte...................................................... 112 aa) Überblick ......................................................................... 112 bb) Die besondere Rolle der EMRK im regionalen europäischen Rahmen .................................................................. 114 cc) Ausblick: Ansätze für vergleichbare regionale Entwicklungen außerhalb Europas?.................................................... 119
b)
Umweltschutz ......................................................................... 121
c)
Weltwirtschaft und -handel ...................................................... 123
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der Europäischen Union........................................................................................................... 126 I.
II.
Rechtlich-institutionelle Ausgangslage des gemeinschaftlichen Konstitutionalisierungsprozesses......................................................................... 128 1.
Zur Frage der Staatlichkeit der EU .................................................. 129
2.
Völkerrechtliche Einordnung der EG/EU......................................... 132 a)
„Novität“ des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum Völkerrecht........................................................................................ 132
b)
Insbesondere: Supranationalität der EG/EU.............................. 134
Zur Diskussion über eine formelle Verfassung der EU ............................ 137
III. Bestehen einer materiellen gemeinschaftlichen Verfassungsordnung?...... 144 1.
Wurzeln einer möglichen gemeinschaftlichen Verfassungsordnung: „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“......................................... 144
2.
Mögliche Elemente einer bestehenden „Verfassungsordnung“ der EU ................................................................................................. 148 a)
Verträge.................................................................................. 149
b)
Allgemeine Rechtsgrundsätze .................................................. 152 aa) Überblick ......................................................................... 152 bb) Die gemeinschaftlichen Grundrechte im Besonderen ......... 153
3.
c)
Einzelverfassungen der Mitgliedstaaten.................................... 158
d)
Das Konzept des „Europäischen Verfassungsverbundes“ .......... 159
Schwerpunkte der Kontroverse um eine bestehende „Verfassungsordnung“ der EU ............................................................................ 163
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im völkerrechtlichen Kontext............................................................................................. 169
12
Inhaltsverzeichnis I.
Grundelemente der Verfassung im Verfassungsstaat ............................... 169
II.
Grundelemente der Verfassung im supranationalen Rahmen der Europäischen Union .......................................................................................... 175
III. Zur Verwendbarkeit der Verfassungselemente im Kontext des allgemeinen Völkerrechts.................................................................................... 183 1.
2.
Ausgangslage ................................................................................. 183 a)
Ausgangslage (1): Assoziationen der völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsdiskussion ...................................................... 183
b)
Ausgangslage (2): unterschiedliche Realität konstitutioneller Durchsetzungsgewalt – keine eigenständige Stufe hoheitlicher Gewalt auf der nicht-supranationalen internationalen Ebene...... 184
c)
Ausgangslage (3): unterschiedliche Basis konstitutioneller Konsensfindung............................................................................. 187
Folgerungen ................................................................................... 188 a)
Reduzierte Anforderungen an die konstitutionelle Legitimationsfunktion auf der nicht-supranationalen internationalen Ebene.... 188
b)
Notwendigkeit einer Reduktion des Verfassungsbegriffs an sich ......................................................................................... 191
c)
Vom normativen zum konzeptionellen Verfassungsbegriff: die Orientierung am Gemeinwohl als konstitutioneller Maßstab...... 197
IV. Schlüsse für das weitere Vorgehen: Prüfungskriterien für ein Minimum konstitutioneller Realität ........................................................................ 198 E. Zusammenfassung ...................................................................................... 200 3. Kapitel Vorfragen zur normativen Wirksamkeit völkerrechtlicher Gemeinwohlorientierung
203
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls........................................................ 204 I.
Grundlagen der Orientierung am Gemeinwohl im Völkerrecht ................ 204 1.
„Gemeinsame Interessen“ als Basis grenzüberschreitender Vergemeinschaftung ................................................................................ 204 a)
Die Gemeinsamkeit von Interessen und Werten als Grundlage rechtlicher Verpflichtungen...................................................... 204
b)
Menschenrechte als Gegenstand gemeinsamer Interessen.......... 206
c)
Der Schutz der Umwelt als Gegenstand gemeinsamer Interessen .......................................................................................... 215 aa) Faktische Grundlagen: der Schutz der Umwelt als Anliegen im Interesse aller........................................................ 215
Inhaltsverzeichnis
13
bb) Insbesondere: der Bezug zum Schutz der Menschenrechte als übergreifender Aspekt der Gemeinsamkeit der Interessen beim Umweltschutz.................................................... 223 2.
II.
Soziale Grundlagen der Gemeinwohlorientierung des Völkerrechts.. 226 a)
Tatsache und Bewusstsein sozialer Beziehungen zwischen Staaten .................................................................................... 226
b)
Internationale Gemeinschaft als soziales Konzept..................... 227
Die inhaltliche Bestimmung des „Gemeinwohls“ als Grundproblem der Gemeinwohlorientierung........................................................................ 231 1.
2.
Einführung zur Veranschaulichung: Bedeutung und Bestimmungsfragen des Gemeinwohls auf der Ebene des demokratischen Verfassungsstaats ..................................................................................... 231 a)
Begriffliche und konzeptionelle Grundlagen............................. 231
b)
Berufung auf das Gemeinwohl als Garantie materieller Gerechtigkeit?.................................................................................... 234
c)
Modelle zur Bestimmung des Gemeinwohls ............................. 237
d)
„Gemeinsinn“ als motivationale Voraussetzung der Gemeinwohlorientierung ..................................................................... 239
Bestimmungsfragen des Gemeinwohls auf der Ebene des Völkerrechts ............................................................................................. 240 a)
Legitimationsprobleme im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gemeinwohls .................................................................... 240
b)
Gesamtgesellschaftlich konsentierte materielle Leitplanken eines völkerrechtlichen Gemeinwohlkonzepts?.................................. 244 aa) Ausgangslage und Fragestellung ....................................... 244 bb) Mögliche Vorbehalte ........................................................ 245 cc) Kollektive und individuelle Menschheitsinteressen als Ziele eines universellen völkerrechtlichen Grundkonsenses ........ 249 dd) Möglichkeit von Gemeinwohlkonsensen unterhalb der universellen Ebene ................................................................ 255
c)
Gemeinsinn als motivationale Voraussetzung der Gemeinwohlorientierung auf völkerrechtlicher Ebene .................................. 256
III. Begriffliche Abgrenzung: zum Verhältnis zwischen Gemeinwohlorientierung und internationaler Solidarität..................................................... 258 1.
Der Begriff internationaler Solidarität in der völkerrechtlichen Praxis............................................................................................. 259 a)
Solidarität als expliziter Begriff der völkerrechtlichen Praxis .... 259
b)
Solidarität als implizites Prinzip der völkerrechtlichen Praxis.... 265
c)
Interessenwahrnehmung als zentraler Aspekt eines völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts....................................................... 271
14
Inhaltsverzeichnis 2.
3.
Weitere Solidaritätskonzepte im Vergleich ...................................... 274 a)
Sozialphilosophische Grundlagen............................................. 274
b)
Das Beispiel der föderalistischen Solidarität ............................. 278
c)
Das Beispiel der supranationalen Solidarität ............................. 278
Folgerungen in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Konzepten des Gemeinwohls und der Solidarität............................................... 281 a)
Allgemeine Folgerungen.......................................................... 281
b)
Resultat: Vorrangigkeit des Gemeinwohlansatzes gegenüber einem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept............................. 282
B. Normtheoretische Grundlagen ................................................................... 286 I.
Zum Nutzen normtheoretischer Kategorienbildung ................................. 286
II.
Allgemeine Grundlagen ......................................................................... 289 1.
Normen und Rechtssätze................................................................. 289
2.
Konstitutionelle Struktur- oder Leitprinzipien.................................. 290
3.
Prinzipien und Regeln als Ausdrucksformen der Norm .................... 293
III. Bedeutung auf der Ebene des Völkerrechts ............................................. 296 1. 2.
Konstitutionelle Leitkonzepte ......................................................... 296 Normen.......................................................................................... 298 a)
Prinzipien................................................................................ 298 aa) Allgemeine Bedeutung im völkerrechtlichen Zusammenhang................................................................................. 298 bb) Zusätzliche Folgerungen in Bezug auf die Struktur der Völkerrechtsordnung.............................................................. 302
3.
b)
Regeln .................................................................................... 308
c)
„Richtlinien“ als weitere (konstitutionelle) Normenkategorie? .. 311
Konstitutionelle Elemente des Völkerrechts und Völkergewohnheitsrecht........................................................................................ 314
IV. Zusammenfassung ................................................................................. 322 C. Zusammenfassung und Folgerungen im Hinblick auf die materiellen Untersuchungen zum geltenden Völkerrecht .................................................. 325 I.
In Bezug auf Bestimmungsfragen des Gemeinwohls ............................... 325
II.
In Bezug auf die normtheoretische Ausgangslage ................................... 326 4. Kapitel Der Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen
328
Inhaltsverzeichnis
15
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte ........................................................... 329 I.
Auswahl des materiellen Untersuchungsbereichs .................................... 329
II.
Eingrenzung der normativen Untersuchungsobjekte................................ 330 1.
In Bezug auf Regeln ....................................................................... 331
2.
In Bezug auf Konzepte und Prinzipien............................................. 332
B. Normative Konkretisierungen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Gemeinwohlbelang im geltenden Umweltvölkerrecht ....... 337 I.
Nachhaltige Entwicklung als konstitutionelles Leitkonzept ..................... 337 1.
II.
Materieller Gehalt........................................................................... 337 a)
Herkunft und Kernbedeutung................................................... 337
b)
Inhaltliche Fragen im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltschutz............................................... 338
c)
Der ethische Imperativ zugunsten der künftigen Generationen als Kerngehalt des Nachhaltigkeitskonzepts.............................. 341
2.
Aspekt der Gemeinwohlorientierung ............................................... 348
3.
Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung......................................................................................... 351 a)
Das Kriterium des normativen Gehalts ..................................... 351
b)
Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft............................................................................... 354
Das Vorsorgeprinzip.............................................................................. 358 1.
Materieller Gehalt........................................................................... 358
2.
Aspekt der Gemeinwohlorientierung ............................................... 362
3.
Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung......................................................................................... 364 a)
Das Kriterium des normativen Gehalts ..................................... 364
b)
Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft............................................................................... 365
III. Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit........................................................................................................ 372 1.
Materieller Gehalt........................................................................... 372
2.
Aspekt der Gemeinwohlorientierung ............................................... 382
3.
Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung......................................................................................... 383 a)
Das Kriterium des normativen Gehalts ..................................... 383
b)
Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft............................................................................... 386
IV. Das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen
391
16
Inhaltsverzeichnis 1.
Materieller Gehalt........................................................................... 391
2.
Aspekt der Gemeinwohlorientierung ............................................... 400
3.
Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung......................................................................................... 402 a)
Das Kriterium des normativen Gehalts ..................................... 402
b)
Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft............................................................................... 403
V. Zusammenfassung ................................................................................. 406 C. Das völkerrechtliche Regime zum Schutz des Klimas als Anwendungsfall der potentiellen konstitutionellen Vorgaben......................................... 409 I.
II.
Zur Bedeutung der umweltbezogenen potentiellen Verfassungselemente im Kontext des Klimaschutzes ............................................................... 410 1.
Konzept der Nachhaltigen Entwicklung........................................... 410
2.
Vorsorgeprinzip.............................................................................. 410
3.
Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit................................................................................................. 411
Die klimapolitische Wirklichkeit............................................................ 412 1.
Die Entwicklung des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes im Überblick ....................................................................................... 412
2.
Das Kyoto-Protokoll als Zankapfel internationaler Politik................ 415 a)
Überblick über die Bestimmungen des Kyoto-Protokolls .......... 415 aa) Reduktionsverpflichtungen als zentraler Bestandteil .......... 415 bb) Umsetzung durch Flexibilisierung..................................... 416
3.
b)
Umstrittene Fragen nach Kyoto................................................ 418
c)
Vereinbarkeit von partikulären Interessen und Gemeinwohl als Kernproblematik ..................................................................... 421
Insbesondere: die Ergebnisse der sechsten und siebten Vertragsparteienkonferenzen der Klimakonvention ........................................... 425 a)
Überblick ................................................................................ 425
b)
Relevante Bestandteile der Vereinbarungen von Bonn und Marrakesch ............................................................................. 427 aa) Finanzierung und Technologietransfer............................... 427 bb) Flexibilisierungsmechanismen .......................................... 429 cc) Modalitäten der Einbeziehung von Treibhausgassenken..... 433 dd) Vertragserfüllungskontrolle .............................................. 435
III. Die konstitutionellen Vorgaben in der klimapolitischen Wirklichkeit....... 437 1.
Gewichtung von partikulären Interessen und Gemeinwohl nach dem klimapolitischen Konsens von Bonn und Marrakesch ...................... 437
Inhaltsverzeichnis 2.
17
Folgerung: unzureichende Beachtung der potentiellen konstitutionellen Vorgaben ............................................................................. 444 5. Kapitel Hindernisse und Entwicklungsperspektiven völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
448
A. Ergebnis der Prüfung der konstitutionellen Realität im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen.............................................. 448 B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung ................... 451 I.
II.
Aktuelle Tendenzen partikulärer Interessenverfolgung: unilaterale Staatenpraxis als Hindernis völkerrechtlicher Konstitutionalisierung ....... 451 1.
Unilaterale Staatenpraxis als einseitiges Rechtshandeln ................... 451
2.
Insbesondere die völkerrechtliche Interessenwahrnehmung der USA 453
3.
Zukunftsszenarien einer weiteren Ausbreitung unilateraler Staatenpraxis............................................................................................. 456
Zukunft als Herausforderung: Handlungsimperative der globalen konstitutionellen Gemeinschaft am Beispiel des Klimawandels ........................ 458 1.
Fakten und Zukunftsprognosen ....................................................... 458
2.
Folgerung: Vorrang des globalen Gemeinwohls gegenüber nationalen Eigeninteressen......................................................................... 465
C. Entwicklungsperspektiven der Durchsetzung von potentiellen konstitutionellen Normgehalten, insbesondere im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ....................................................................... 468 I.
II.
Wirkung „erga omnes“ als anzustrebende normative Tragweite konstitutioneller Elemente.................................................................................. 468 1.
Gemeinsame Werte als Grundlage besonderer normativer Wirkungskraft ...................................................................................... 469
2.
Verhältnis zwischen zwingendem Völkerrecht und Verpflichtungen „erga omnes“ im Hinblick auf die Durchsetzung potentieller konstitutioneller Normen.......................................................................... 470
3.
Wirkungen „erga omnes“ im Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes?........................................................................................ 474
4.
Wirkungen „erga omnes“ auf den Ebenen konstitutioneller Prinzipien und konstitutioneller Leitkonzepte? ......................................... 476
5.
Offene institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Verpflichtungen „erga omnes“ ..................................... 480
Öffnung des völkerrechtlichen Selbstverständnisses der Staaten als Grundbedingung konstitutioneller Weiterentwicklung............................. 484 1.
Notwendigkeit einer Relativierung der Reziprozitätserwartung zugunsten der Gemeinwohlverwirklichung.......................................... 486
18
Inhaltsverzeichnis 2.
Notwendigkeit eines aufgeklärten Souveränitätsverständnisses zugunsten der Gemeinwohlverwirklichung.......................................... 488
III. Ein „constitutional moment“ des völkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen ....................................................................... 493 Literaturverzeichnis........................................................................................... 497 Sach- und Personenregister ............................................................................... 569
Abkürzungsverzeichnis a.a.O.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
aBV
alte Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (in Kraft bis 31. Dezember 1999)
a.E.
am Ende
AFDI
Annuaire Français de Droit International
AfP
Archiv für Presserecht
AJIL
American Journal of International Law
AJP
Aktuelle Juristische Praxis
AJPIL
Austrian Journal of Public and International Law
AKP-Staaten
Asiatische, Karibische und Pazifische Staaten
a.M.
anderer Meinung
Anm. des Verf.
Anmerkung des Verfassers
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
AOSIS
Alliance of Small Island States
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
AS
Amtliche Sammlung des Bundesrechts (Schweiz)
ASIL
American Society of International Law
Aufl.
Auflage
AVR
Archiv des Völkerrechts
BayVerfGHE
Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes
BBl
Bundesblatt (Schweiz)
Bd.
Band
BerDGV
Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGE
Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
BRD
Bundesrepublik Deutschland
20
Abkürzungsverzeichnis
bspw.
beispielsweise
Bst.
Buchstabe
BV
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (in Kraft seit 1. Januar 2000)
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BYIL
British Year Book of International Law
bzw.
beziehungsweise
CMLR
Common Market Law Review
ColJTransL
Columbia Journal of Transnational Law
CSD
United Nations Commission on Sustainable Development
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders.
derselbe
d. h.
das heißt
dies.
dieselbe(n)
Dok.
Dokument
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
E.
Erwägung
EAG
Europäische Atomgemeinschaft
EAGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft
ebd.
ebenda
ECCP
European Climate Change Programme
ECHR
European Court of Human Rights
ECOSOC
United Nations Economic and Social Council
ed(s).
editor(s)
éd(s).
éditeur(s)
EG
Europäische Gemeinschaft(en)
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKSV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
ELRev
European Law Review
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
Abkürzungsverzeichnis ENB
Earth Negotiations Bulletin
endg.
endgültig
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
et al.
et alii/aliae
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EUDUR
Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht
21
EuG
Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuR
Europarecht
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EuZ
Zeitschrift für Europarecht
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EVV
Vertrag über eine Verfassung für Europa
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
EWR
Europäischer Wirtschaftsraum
f.
und folgende(r)
ff.
und die folgenden
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GEF
Global Environment Facility
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
GIELR
Georgetown International Environmental Law Review
GR-Charta
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
GS
Gedächtnisschrift
GVG
Schweizerisches Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse (Geschäftsverkehrsgesetz) vom 23. März 1962
GV-Res.
Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen
GYIL
German Yearbook of International Law
HdUR
Handwörterbuch des Umweltrechts
22
Abkürzungsverzeichnis
Hervorh.
Hervorhebung
Hervorh. im Orig.
Hervorhebung im Originaltext
HRLJ
Human Rights Law Journal
Hrsg.
Herausgeber
IACtHR
Inter-American Court of Human Rights
ICJ
International Court of Justice
ICJ Rep.
ICJ Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders
ICLQ
International and Comparative Law Quarterly
IGH
Internationaler Gerichtshof
IJGLS
Indiana Journal of Global Legal Studies
IKRK
Internationales Komitee vom Roten Kreuz
ILA
International Law Association
ILC
International Law Commission
ILR
International Law Reports
insb.
insbesondere
IPBPR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IPCC
International Panel on Climate Change
IStGH
Internationaler Strafgerichtshof
ITU
International Telecommunication Union
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
KJ
Kritische Justiz
KOM
Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
LA
Liber Amicorum
Max Planck UNYB
Max Planck Yearbook of United Nations Law
MichJIL
Michigan Journal of International Law
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
NAFTA
North American Free Trade Agreement
NATO
North Atlantic Treaty Organization
NGO(s)
Non-Governmental Organization(s)
Abkürzungsverzeichnis NILR
Netherlands International Law Review
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
23
NuR
Natur und Recht
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NYUJILP
New York University Journal of International Law and Politics
NZZ
Neue Zürcher Zeitung
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development
ÖZöRV
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht
Para.
Paragraph
RdC
Recueil des Cours
Rdnr.
Randnummer
RECIEL
Review of European Community and International Environmental Law
RGDIP
Revue générale de droit international public
RIW
Recht der Internationalen Wirtschaft
RJE
Revue juridique de l’environnement
Rs.
Rechtssache
RTDE
Revue trimestrielle de droit européen
Rz.
Randziffer
s.
siehe
S.
Seite
SJE/ASDE
Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht/Annuaire suisse de Droit européen
Slg.
Sammlung
sog.
sogenannt
Sp.
Spalte
SRÜ
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
Stat.
United States Statutes at Large
StGB
Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
SZIER
Schweizerische Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht
Teilbd.
Teilband
u. a.
unter anderem/anderen
24 UNCED
Abkürzungsverzeichnis United Nations Conference on Environment and Development
UN/ECE
United Nations Economic Commission for Europe
UNESCO
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
UNO
United Nations Organization
UNTS
United Nations Treaty Series
UPR
Umwelt- und Planungsrecht
URP
Umweltrecht in der Praxis
U.S.
United States Reports (amtliche Sammlung)
US(A)
United States (of America)
USG
Schweizerisches Bundesgesetz über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983
usw.
und so weiter
UTR
Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts
v.
von
v.a.
vor allem
verb. Rs.
verbundene Rechtssachen
Verf.
Verfasser
vgl.
vergleiche
Vol.
Volume
VRK
Wiener Vertragsrechtskonvention
vs.
versus
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WCED
World Commission on Environment and Development
WTO
World Trade Organization
YIEL
Yearbook of International Environmental Law
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
z. B.
zum Beispiel
ZEuS
Zeitschrift für Europarechtliche Studien
ZfU
Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht
ZG
Zeitschrift für Gesetzgebung
Ziff.
Ziffer
zit.
zitiert
Abkürzungsverzeichnis ZÖR
Zeitschrift für öffentliches Recht
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZSR NF
Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge
ZUR
Zeitschrift für Umweltrecht
z.Z.
zur Zeit
25
Einleitung Das Völkerrecht, Fundament des Zusammenlebens der Staaten, befindet sich in einer Phase markanter Entwicklung. Konsolidierung als universelle Rechtsordnung einerseits, Infragestellung im Gefolge nationaler Interessenpolitik andererseits bilden gegenläufige, aber zeitgleich zu beobachtende Tendenzen. Die internationale Gemeinschaft – es lässt sich auch sagen: die Menschheit – steht vor Herausforderungen, die ein zielorientiertes globales Zusammenwirken unabdingbar machen. Die Sicherung des Friedens ist auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs ein unerreichtes Anliegen. Gleiches gilt für den Schutz der Menschenrechte, trotz aller in diesem Bereich erzielter Fortschritte. Die Ziele der wirtschaftlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung sowie des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen scheinen gar dringlicher denn je. Festzustellen ist, dass die Bewusstwerdung der Interdependenz der Weltgesellschaft sowie der Bedeutung global geteilter Verantwortung heute weit fortgeschritten ist. Der Völkerrechtler Wolfgang Friedmann erkannte bereits im Jahr 1964, dass die Wahrung lebenswichtiger Menschheitsanliegen einen Strukturwandel des Völkerrechts bedingt, hin zu einer Rechtsordnung, die der Gemeinschaftlichkeit der Interessenwahrnehmung den Vorrang gibt1. Weiter prognostizierte er 1972, im Jahr der ersten globalen Konferenz über Umwelt und Entwicklung von Stockholm, dass das Gemeinwohl der Menschheit für die internationale Rechtsordnung zum Maßstab werden müsse, solle der Bewältigung der globalen Aufgaben Erfolg beschieden sein2. Seine – mit Skepsis geäußerten – Hoffnungen setzte er dabei in die völkerrechtlichen Regelungsbereiche der Kommunikation, der Ressourcennutzung und des Umweltschutzes, würden diese doch am unmittelbarsten die gemeinsamen Interessen der Staaten berühren3. Diese Anschauungsweise einer zeitgemäßen Rolle des Völkerrechts hat seither weitreichende Anerkennung gefunden. Den ehemaligen srilankischen Vizepräsidenten des Internationalen Gerichtshofs Christopher Weeramantry führte dies in einem seiner berühmten Sondervoten – hier zum Urteil des IGH im Gabcíkovo/Nagymaros-Fall – zur Feststellung, das Völkerrecht diene heute ___________ 1
Friedmann, Changing Structure of International Law, 367. Siehe Friedmann, in: FS Jessup, 113 ff. 3 Ebd., 113 (133 f.). 2
28
Einleitung
nicht mehr nur den individuellen Interessen der Staaten, sondern dem Wohl der Menschheit4. Die Lebensbedingungen des Menschen haben sich im vergangenen Jahrhundert in derart einschneidender Weise verändert, dass in mancherlei Hinsicht eine Schicksalsgemeinschaft entstanden ist, die den gesamten Globus umspannt. Die durch die Veränderung des Erdklimas sich ergebenden Konsequenzen sind heute der offensichtlichste Beleg für die „Globalität“ der sich stellenden Herausforderungen, für die unrevidierbare „Tatsache, dass von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, sondern dass alle Erfindungen, Siege und Katastrophen die ganze Welt betreffen“5. Dabei stellt sich mehr oder weniger zwangsläufig die Erkenntnis ein, dass die existentielle Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch Problemstellungen wie Unterentwicklung oder massive Flüchtlings- und Migrationsströme nationalstaatlich schlicht nicht mehr zu bewältigen sind, sondern nur noch staatengemeinschaftlich6. „Globalisierung“ wird vor diesem Hintergrund zum Sinnbegriff einer in universaler, menschheitlicher Dimension erweiterten Vorstellung von Gemeinwohl. Im Wachstumsprozess stetig zunehmender Interdependenzen der Weltgesellschaft stellt sich für den einzelnen Staat die Frage, ob „die nationale Politik überhaupt noch territorial, in den Grenzen des Staatsgebiets, mit dem tatsächlichen Schicksal der nationalen Gesellschaft zur Deckung gebracht werden kann“7. Vieles spricht dafür, dass nur mit einer „Abkehr von der Vorstellung des souveränen Staates“8 – zumal im Sinne seiner alleinigen und umfassenden Zuständigkeit zur Wahrung des Gemeinwohls seiner Bürgerinnen und Bürger 9 – der Realität der globalen Schicksalsgemeinschaft gerecht zu werden ist. Dies bedeutet nicht, dass der Staat im Begriff ist, seine tragende Rolle als Verkörperung sozialer und rechtlicher Vergemeinschaftung mitsamt seinen entsprechenden Schutzfunktionen zu verlieren. Unabdingbar sind indessen (erstens) die Einsicht, dass globalen Problemstellungen nur durch normative Entscheidungen auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft wirkungsvoll begegnet werden kann, und (zweitens) die Bereitschaft, an der Umsetzung dieser Entscheidungen durch eigenes verantwortungsvolles Handeln mitzuwirken. Ein ___________ 4
Case Concerning the Gabcíkovo-Nagymaros Project (Hungary vs. Slovakia), Separate Opinion of Vice-President Weeramantry, ICJ Reports 1997, 88 (118). 5 So die prägnante Aussage von Beck, Globalisierung, 30. 6 Vgl. etwa Hobe, in: Der Staat 1998, 521 (521 f.). 7 Habermas, in: Postnationale Konstellation, 91 (107). 8 Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 7. 9 Vgl. Diggelmann, Liberaler Verfassungsstaat und Internationalisierung der Politik, 207, 210.
Einleitung
29
entsprechendes Bekenntnis gibt beispielsweise die seit dem 1. Januar 2000 geltende neue schweizerische Bundesverfassung ab, indem sie als Staatszweck unter anderem in Art. 2 Abs. 4 den Einsatz „für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung“ nennt. Die Antworten auf die Fragen, ob und wie der Gemeinwohlsicherungszweck des Völkerrechts verwirklicht werden kann, sind in höchstem Maße von der aktiven Beteiligung der Staaten am internationalen Ordnungsrahmen abhängig. Offen ist10, inwieweit diese Bereitschaft tatsächlich vorhanden ist. In der wissenschaftlichen Diskussion über die Entwicklung des Völkerrechts ist seit geraumer Zeit – und in den letzten Jahren zunehmend – von der Entstehung universeller Verfassungsstrukturen als Resultat eines Prozesses internationaler Konstitutionalisierung die Rede11. Die Annahme besteht dabei im Wesentlichen darin, dass sich das Völkerrecht zu einer Rechtsordnung entwickle, durch welche die globale Staatengemeinschaft (bei annähernd vollständiger Beteiligung der Staaten) bestimmte gemeinsame Werte als solche anerkenne und allseitig verpflichtende normative Grundentscheidungen treffe. Während hinter der Konstitutionalisierungsthese die als solche zweifellos zutreffende Einschätzung steht, das moderne Völkerrecht müsse die Basis für globale Anstrengungen zur Verwirklichung gemeinsamer Interessen, Werte und Zielsetzungen bilden, ist allerdings auch nicht zu übersehen, dass gegenläufige Tendenzen bestehen12. So ist etwa zu beobachten, dass zur Durchsetzung nationaler Partikularinteressen auch heute noch – und in den letzten Jahren möglicherweise sogar vermehrt – zum Mittel außerhalb konsensualer Abstimmung stehenden unilateralen Handelns gegriffen wird13. Im Vordergrund steht diesbezüglich das Verhalten der USA, mithin des derzeit wichtigsten einzelstaatlichen Akteurs, die auf unterschiedlichsten globalen Politikfeldern – so in der Klimapolitik und weiteren umweltpolitischen Bereichen, aber auch in der Menschenrechtspolitik und im Bereich wichtiger internationaler Institutionen – eine konsequent an nationalen Interessen orientierte Linie verfolgen. Zudem wird die Weltpolitik seit einigen Jahren durch Ereignisse und Entwicklungen geprägt, deren Folgen für das Völkerrecht derzeit noch nicht abschätzbar sind. Im Zeitraum der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung ___________ 10 Ungeachtet solcher Bekenntnisse wie in Art. 2 Abs. 4 der Schweizerischen Bundesverfassung abgegeben oder – vor allem – im Verlautbarungs-Diskurs vielfach wiederholter unverbindlicher Erklärungen seitens einer großen Zahl von Staaten. 11 Dazu im Einzelnen das 2. Kap., B., mit entsprechenden Nachweisen. 12 Vgl. allgemein etwa Habermas, in: Der gespaltene Westen, 113 (114 ff.). 13 Siehe dazu das 5. Kap., B. I.
30
Einleitung
wurde der Terroranschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York verübt; die USA und ihre westlichen Verbündeten marschierten in Afghanistan und im Irak ein; menschenrechtliche Grundwerte des Völkerrechts – so das Folterverbot, eine als zwingend anerkannte völkerrechtliche Norm – wurden im Zusammenhang mit der Behandlung inhaftierter Terrorverdächtiger auch in westlichen Staaten offen in Frage gestellt; die internationale Gemeinschaft wurde durch Staaten herausgefordert, die sich als neue Atomwaffenmächte installiert haben (Indien und Pakistan) oder dies möglicherweise anstreben (Nordkorea, Iran). Die verstörendste Entwicklung ist bei allem in den Verwerfungen zu sehen, die in den letzten Jahren insbesondere zwischen den islamischen sowie den „westlich-christlich“ geprägten Kulturräumen und Gesellschaften entstanden sind. Vor dem Hintergrund des Anschlags vom 11. September 2001 und der nachfolgenden Interventionen westlicher Staaten in Afghanistan und im Irak haben sich in einer Weise Gräben aufgetan, dass die von Samuel P. Huntington aufgestellte These des „Clash of Civilizations“14 ihre Berechtigung zu erlangen scheint. In diesem Zusammenhang kommt man schließlich nicht umhin, auch den Abschottungstendenzen vor allem der europäischen Gesellschaften unter dem Eindruck eines als Gefahr wahrgenommenen Migrationsdrucks Rechnung zu tragen. Zu erwähnen ist vor dem Hintergrund religiös-kultureller Konflikte ferner, dass aufgrund des sich weiterhin vergrößernden Wohlstandsgefälles die Gefahr einer „asymmetrischen Interdependenz“ zwischen den verschiedenen Staatenkategorien (Industriestaaten, neu industrialisierten Staaten und unterentwickelten Ländern) besteht, was das Risiko unversöhnlicher Interessengegensätze weiter erhöht15. Während das Völkerrecht noch vor wenigen Jahren als unbestrittene Grundlage des internationalen Zusammenlebens galt, wurde dessen Befähigung zur Bewältigung der globalen Probleme in jüngerer Zeit vor allem im politischen, teilweise aber auch im wissenschaftlichen Diskurs offen in Frage gestellt16. Dem steht geradezu diametral die vorhin erwähnte These gegenüber, das Völkerrecht befinde sich auf dem Weg einer konstitutionellen Verdichtung, hin zu einer eigentlichen Verfassungsordnung der internationalen Gemeinschaft. Für die Entwicklung des Völkerrechts ist allerdings typisch, dass diese in der Regel in kleinen Schritten verläuft. Eine analytische Überbewertung des Moments, ___________ 14
Huntington, in: Foreign Affairs 1993, 22 ff.; ders., Clash of Civilizations. Dieser These zufolge sollen die hauptsächlichen Konfliktlinien heute und in Zukunft nicht mehr in erster Linie ideologischen oder wirtschaftlichen Ursprungs sein, sondern kultureller Natur, mit den wichtigsten kulturellen Gruppen als sich gegenüberstehenden Lagern. 15 Vgl. Habermas, in: Postnationale Konstellation, 65 (87). Zu Asymmetrien in der internationalen Gemeinschaft auch Herdegen, in: ZaöRV 2004, 571 ff. 16 Exemplarisch Goldsmith/Posner, Limits of International Law; vgl. dazu die Entgegnungen durch van Aaken, in: EJIL 2006, 289 ff., und Cremer, in: ZaöRV 2007, 267 ff.
Einleitung
31
wie sie in der erwähnten Infragestellung des Völkerrechts augenscheinlich zum Ausdruck kommt, ist deshalb zu vermeiden. Eine zurückhaltende Beurteilung ist aber gleichzeitig auch hinsichtlich der Annahme eines stetigen Bedeutungszuwachses in der Gestalt völkerrechtlicher Konstitutionalisierung angezeigt. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es17, einen Beitrag zur Erörterung der These zu leisten, das Völkerrecht entwickle sich zu einer konstitutionellen Ordnung der globalen Rechtsgemeinschaft. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, welche konkrete Rolle die Idee des Gemeinwohls im völkerrechtlichen Kontext einzunehmen vermag. Als normativer Bezugspunkt rechtlicher Vergemeinschaftung ist das Gemeinwohl im nationalen Verfassungsrahmen, aber auch auf der supranationalen Rechtsebene der Europäischen Gemeinschaft als unentbehrlich anerkannt18: Dabei bildet es den Leitgedanken und den Maßstab, um die normative Frage19 zu beantworten, welche Ziele die verfasste Gemeinschaft mit welchen Mitteln verfolgen soll. Von der Möglichkeit einer solchen Funktion des Gemeinwohls ist grundsätzlich auch auf der weiteren Ebene der völkerrechtlichen Ordnung auszugehen. Ungewiss erscheint aber, ob sich diese Möglichkeit in der Realität durchsetzt und bewährt. Im Lauf der folgenden Untersuchungsschritte wird deshalb anzusprechen sein, wie ein internationales, letztlich globales Gemeinwohl beschaffen sein könnte, unter welchen Bedingungen es normativ (konstitutionell) zu wirken vermöchte und welche konkrete Beachtung ihm in der Realität des gegenwärtigen Völkerrechts zukommt. Die Abhandlung ist folgendermaßen aufgebaut: Das 1. Kapitel skizziert im Sinne einer Einführung die historischen Entwicklungslinien, entlang derer sich das Völkerrecht zur heutigen universellen Rechtsordnung mit dem Ziel des Schutzes grundlegender Menschheitsinteressen ausgebildet hat. Im 2. Kapitel wird der Begriff internationaler Konstitutionalisierung einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Dabei wird die Diskussion im Bereich der allgemeinen Völkerrechtslehre in vergleichender Absicht der Entwicklung auf der supranationalen Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts gegenübergestellt. Gestützt darauf zielen die weiteren Überlegungen dieses Kapitels ___________ 17
In diesem Zusammenhang sei außerdem Ginther, in: LA Seidl-Hohenveldern, 233 (253), zitiert, wonach es „Aufgabe der Völkerrechtsdogmatik“ sei, „ihren rechtswissenschaftlichen Beitrag für die Entwicklung der Völkerrechtsverfassung als Plan für ein im Dienste ‚nachhaltiger Entwicklung‘ stehendes Zusammenwirken (...) zu leisten“. 18 Vgl. bspw. Isensee, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 95 (97); ders., Diskussionsbeitrag, wiedergegeben bei Unkelbach, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 119 (122). 19 Vgl. für die Ebene des Verfassungsstaats Brugger, in: FS Quaritsch, 45 ff.; ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 44 ff.
32
Einleitung
darauf hin, die Frage der Verwendbarkeit des Verfassungsbegriffs im Kontext des allgemeinen Völkerrechts zu klären. Daraus ergibt sich eine wesentliche Grundlage für die folgenden Untersuchungen, nämlich die Entwicklung eines am Maßstab des Gemeinwohls ausgerichteten, spezifischen völkerrechtlichen Verfassungsbegriffs, welcher die Kriterien für einen Test der konstitutionellen Realität des Völkerrechts vermittelt. Das 3. Kapitel bildet danach einen Zwischenschritt, wobei im Hinblick auf die nachfolgenden Untersuchungen des materiellen Völkerrechts zwei Vorfragen aufgeworfen werden: So wird zum einen – unter Berücksichtigung legitimitätstheoretischer Aspekte – allgemein danach gefragt, unter welchen Voraussetzungen sich überhaupt ein völkerrechtliches Gemeinwohl bestimmen lässt. Zum anderen geht es darum, eine normtheoretische Vorstellung davon zu gewinnen, in welcher Gestalt normative Gemeinwohlentscheidungen in einer konstitutionellen völkerrechtlichen Ordnung auftreten könnten. Das 4. Kapitel ist der entscheidenden Frage gewidmet, ob Gemeinwohlbelange im Völkerrecht nicht nur abstrakt anerkannt, sondern auch normativ konkretisierend in rechtliche Verpflichtungen umgesetzt werden. Dies erfordert eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Rechtsbestand in einem konkreten Bereich möglicher völkerrechtlicher Konstitutionalisierung. Angesichts der Unmöglichkeit, sämtliche spezifischen Völkerrechtsbereiche zu berücksichtigen, ist dabei eine zweckmäßige Fokussierung vorzunehmen. Als besonders geeignet, den Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung zu überprüfen, erweist sich das Recht zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Ergebnisse, welche die Untersuchung der konstitutionellen Realität in diesem besonderen Völkerrechtsbereich hervorbringt, bilden den Ausgangspunkt des 5. Kapitels. Im Mittelpunkt dieser abschließenden Erörterungen steht die Frage nach den Perspektiven, welche eine künftige Weiterentwicklung der vorhandenen konstitutionellen Gehalte des Völkerrechts aufweist.
1. Kapitel
Die universelle Geltung des Völkerrechts Das Völkerrecht gilt heute als Rechtsordnung, die dem Frieden und der Gerechtigkeit unter den Mitgliedern der globalen Gemeinschaft dient. Beispielhaft äußert sich diese Vorstellung in der Charta der Vereinten Nationen, wonach mit den Mitteln des Völkerrechts eine friedliche und gerechte Welt angestrebt werden soll1. Dabei orientiert sich die völkerrechtliche Antwort auf die Frage, was „gerecht“ sei, an der Gleichwertigkeit aller Staaten, deren Anliegen und Interessen grundsätzlich das selbe Gewicht haben2. Somit stehen sämtliche Mitglieder der Staatengemeinschaft in grundsätzlich gleichberechtigter Weise unter dem Schutz einer gemeinsamen rechtlichen Ordnung, und auf dieser Grundlage wird denn auch von einem „universellen Völkerrecht“ gesprochen3. Der Blick auf die Völkerrechtsgeschichte lässt allerdings erkennen, dass der Gedanke der Gleichberechtigung unter den Staaten bei der Wahrnehmung ihrer Interessen keineswegs selbstverständlich ist. Vielmehr erweist sich, dass sich das Völkerrecht erst allmählich zu einer universellen Rechtsordnung im heute gültigen Sinn ausgebildet hat.
___________ 1 Siehe dazu insbesondere die verschiedenen Bezugnahmen auf diese Zielsetzungen in der Prämbel sowie in den beiden Grundsatzartikeln 1 und 2 der UNO-Charta. Zur Bedeutung des in der UNO-Charta niedergelegten „Programms des Friedens“ als Grundlage für die moderne Völkerrechtsordnung s. etwa Meyn, in: Präambel der UNO-Charta im Lichte der aktuellen Völkerrechtsentwicklung, 25 (29 ff.). 2 Siehe Art. 1 Abs. 2 sowie Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta. In der Präambel ist außerdem von der Gleichberechtigung aller Nationen, „ob groß oder klein“ die Rede. 3 Vgl. bspw. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (1); Charney, in: AJIL 1993, 529 ff.; Jennings/Watts, Oppenheim’s International Law, Vol. I, 87 ff.; zur Entwicklung s. den Überblick bei Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 18 ff. Der Begriff des universellen Völkerrechts betont die umfassende Geltung der grundlegenden völkerrechtlichen Normen. Dabei schließt er aber keineswegs aus, dass daneben auch partikuläres Völkerrecht besteht, wie insbesondere die Existenz besonderen regionalen Völkerrechts zeigt; zum Verhältnis von universellem und regionalem Völkerrecht s. etwa Schindler, in: FS Huber, 609 ff.
34
1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
A. Die Universalität des Völkerrechts in den Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre I. Die universelle Völkerrechtsgemeinschaft bei Francisco de Vitoria Ein Überblick über die Entwicklungslinien der Völkerrechtsordnung zeigt, dass sich Ansätze für eine universalistische Konzeption1 der Völkerrechtstheorie bereits erstaunlich früh in der Geschichte des Völkerrechts finden lassen. An erster Stelle sind dabei die Schriften von Francisco de Vitoria zu nennen. Dieser als Begründer einer selbständigen Völkerrechtslehre geltende2 spanische Gelehrte entwickelte im 16. Jahrhundert die Lehre von einer universellen Gemeinschaft der Völker und Staaten3. Die Sprengung4 des mittelalterlichen, durch die räumlichen Grenzen der „Christenheit“ beschränkten europäischen Horizonts durch das Vordringen europäischer Seefahrer, insbesondere nach Amerika5, führte Vitoria zu einer Sichtweise, die in ihren Grundzügen auch heute noch von bemerkenswerter Offenheit ist. Die sich im Gefolge dieser Eroberungszüge neu stellende Frage, welcher juristische Status den angetroffenen Völkern beizumessen sei, beantwortete er gerade nicht unter Annahme einer Minderwertigkeit der sogenannten Barbaren, wie aufgrund der tatsächlichen Unterdrückungsgeschichte zu vermuten wäre. Vielmehr gelangte er zur Feststellung6, die ganze Welt („totus orbis“ – wobei er ausdrücklich nicht nur die christliche meinte) stelle eine einzige politische Gemeinschaft dar. Dieser Gemeinschaft stehe dabei die Gewalt zu, sich ihre eigenen gerechten Gesetze zu geben, nämlich das Völkerrecht. Weil das Völkerrecht „durch die Autorität der ganzen Welt eingesetzt“ worden sei7, ___________ 1
Siehe hierzu den Überblick bei Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 11 ff. Vgl. Roucounas, in: LA Abi-Saab, 79 (80 f.); Soder, Idee der Völkergemeinschaft, 29; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 8. Siehe außerdem die Äußerung des Richters A. A. Cançado Trindade in seiner Concurring Opinion zu folgendem Gutachten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Juridical Status and Human Rights of the Child, Advisory Opinion OC-17/02, Series A No. 17, Para. 10. 3 Vgl. van Gelderen, in: Human Rights and Cultural Diversity, 215 (218 ff.); Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 172 ff.; Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht, 63 ff.; umfassend ders., Idee der Völkergemeinschaft, insb. 52 ff. 4 Zu diesem Hintergrund des Denkens von Vitoria vgl. Hadrossek, in: Klassiker des Völkerrechts, XI (XIII f.); Truyol Serra, Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 15. 5 Vgl. dazu den rechtshistorischen Überblick bei Ziegler, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 2001, 1 ff. 6 Siehe zum Folgenden Vitoria, De potestate civili, 21 (auszugsweise wiedergegeben bei Truyol Serra, Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 51). 7 Ebd. 2
A. Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre
35
so folgerte er, sei es auch „keiner Nation erlaubt, sich vom Völkerrecht zu befreien“. Die Idee einer einheitlichen Weltordnung verbindet sich außerdem mit der Vorstellung von der Gerechtigkeit als Grundlage der Völkergemeinschaft. Das Völkerrecht weist nach Vitoria zunächst zwei Geltungsgrundlagen auf: „Es scheint vieles aus dem Völkerrecht hervorzugehen, was offenbar die Kraft hat, Rechtsverpflichtungen zu schaffen, weil es in ausreichender Weise aus dem Naturrecht hergeleitet werden kann. Und in dem Fall, dass es nicht immer aus dem Naturrecht hergeleitet werden kann, scheint es doch ausreichend, wenn es die Zustimmung des größeren Teiles der ganzen Erde hat, besonders wenn es dem allgemeinen Besten dient.“8
Einerseits beruht das Völkerrecht also darauf, was die natürliche Vernunft allen Völkern gleichermaßen gebietet; in diesem Zusammenhang nennt Vitoria etwa das Handeln nach dem Grundsatz, Vereinbarungen seien einzuhalten9, mithin nach dem Prinzip „pacta sunt servanda“. Die Herkunft des Völkerrechts aus dem Naturrecht wird aber außerdem durch die Möglichkeit ergänzt, dass zwischen den Staaten Recht durch entsprechenden Willenskonsens entsteht, unter folgender Voraussetzung: Was nicht bereits aus naturrechtlicher Begründung als Völkerrecht gilt, kann zu solchem werden, wenn und soweit es das Gemeinwohl anstrebt10. Die Begründung des Völkerrechts durch die natürliche Vernunft11 erweist sich somit als gleichwertig mit der Begründung des Völkerrechts durch das Streben nach dem Wohl aller. Das Gemeinwohl der Menschheit stellt den objektiven (vernünftigen) Maßstab dar12, an dem sich bemisst, ob das Verhalten der Staaten untereinander rechtmäßig ist. Dies betont Vitoria bezüglich der Frage, wann ein Krieg gerecht sei: „Da ein Staat ein Bestandteil der ganzen Welt ist (...) – also glaube ich, dass ein Krieg, der (...) einem Staat nützlich wäre, der Welt oder der Christenheit aber Schaden zufügen muss, aus ebendiesem Grund ungerecht wäre.“13
___________ 8
Vitoria, De Indis, 99 (Sectio tertia: de titulis legitimis, 4.). Siehe Vitoria, De potestate civili, 21 (auszugsweise wiedergegeben bei Truyol Serra, Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 53): „Man verhandelt frei, aber an das einmal Vereinbarte muss man sich halten.“ 10 Vgl. auch die deutsche Übersetzung der selben zuvor zitierten Passage bei Truyol Serra, Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 50: „(...) Aber auch wenn es nicht immer aus dem Naturrecht hervorgeht, so scheint es infolge seines Ursprungs aus der Zustimmung der Mehrheit des Menschengeschlechts zu genügen, zumal wenn es das allgemeine Gemeinwohl anstrebt.“ 11 Siehe Vitoria, De Indis, 92 (Sectio tertia: de titulis legitimis, 2.): „Quod naturalis ratio inter omnes gentes constituit, vocatur ius gentium.“ 12 Vgl. Soder, Idee der Völkergemeinschaft, 59; Truyol Serra, Grundsätze des Staatsund Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 51. 13 Vitoria, De potestate civili, 13 (auszugsweise wiedergegeben bei Truyol Serra, Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 53). 9
36
1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Auch in diesem Zusammenhang gilt wiederum, dass das Gemeinwohl der gesamten Menschheit gemeint ist, ohne Beschränkung auf den christlich-europäischen Horizont; denn ein Krieg, welcher die Christenheit schädigt, ist ebenso ungerecht wie einer, welcher der (gesamten) Welt Schaden zufügt. Die Auffassung Vitorias, „dass die ganze Menschheit eine im Naturrecht begründete moralisch-rechtliche Einheit sei“14, führt somit zur Erkenntnis der Gleichberechtigung zwischen Christenheit und übriger Welt in Bezug auf die Partizipation am vom Völkerrecht zu gewährleistenden Gemeinwohl.
II. Die universelle Völkerrechtsgemeinschaft bei Francisco Suárez An wesentlichen Punkten der von Vitoria entwickelten Argumentation knüpfte wenige Jahrzehnte später, ausgangs des 16. und anfangs des 17. Jahrhunderts, mit Francisco Suárez ein weiterer spanischer Vertreter klassischer Völkerrechtslehre an15. Auch für ihn bildete die ganze Menschheit den Bezugspunkt seiner Völkerrechtstheorie, und auch er sah im Gemeinwohl dieser Menschheit eine Zielsetzung des Völkerrechts: „Grundlage dieses Rechtsbereiches (des Völkerrechts, Anm. des Verf.) ist die Tatsache, dass das Menschengeschlecht, wie sehr es auch in verschiedene Völker und Reiche geteilt ist, doch immer eine gewisse Einheit bildet, und zwar nicht nur eine biologische Einheit, sondern auch die Einheit einer gleichsam politischen, durch das Sittengesetz geforderten Gemeinschaft. Das geht aus dem natürlichen Gebot der gegenseitigen Liebe und Hilfsbereitschaft hervor, die sich auf alle, auch die Fremden, erstrecken soll, welcher Nation sie auch angehören mögen. (...) Denn niemals genügen sich die Völker und Staaten einzeln genommen so, dass sie nicht gegenseitiger Hilfe, Zusammenarbeit und Verständigung bedürften, manchmal [nur] zur größeren Wohlfahrt und zum höheren Nutzen, manchmal aber auch wegen einer wahren moralischen Notwendigkeit und des Ungenügens [des einzelnen Staates], wie die praktische Erfahrung zeigt.“16
Demgegenüber hob sich Suárez insofern von seinem Vorgänger ab, als er das Völkerrecht nicht als unmittelbaren Ausfluss des Naturrechts auffasste. Das Völkerrecht sei zwar allen Menschen bzw. allen Völkern gemeinsam und stehe somit dem Naturrecht nahe17. Allerdings ergebe sich die Notwendigkeit der völkerrechtlichen Gebote nicht aus der Natur der Sache selbst; sondern diese Not___________ 14
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 11. Zum Denken und zum Einfluss Suárez’ auf die Entwicklung der Völkerrechtstheorie umfassend Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht, insb. 346 ff. Siehe außerdem auch Brierly, Basis of Obligation in International Law, 358 ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 176 f., 226 f.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 8 f., 12 f. 16 Suárez, De Legibus II, 67 (19. Kap., 9.). 17 Ebd., 55 (19. Kap., 1.), 69 (20. Kap., 1.). 15
A. Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre
37
wendigkeit folge „allein durch einsichtige Ableitung aus natürlichen Grundsätzen“18. Entsprechend könne die Verbindlichkeit des Völkerrechts nicht natürlichen Ursprungs sein19; vielmehr hänge es von menschlicher Übereinkunft – nämlich dem Konsens der Völker – ab, aus welchen natürlichen Grundsätzen völkerrechtliche Gebote abgeleitet werden. Folglich könne das Völkerrecht dann aber auch „nicht im gleichen Maße unveränderlich sein wie das Naturrecht“20, sondern stehe der Änderung durch menschliche Übereinkunft offen 21. Wesentliche Folge dieser Konzeption ist, dass die Völker zufolge Suárez nicht (wie von Vitoria angenommen) in einer Gemeinschaft natürlichen Ursprungs leben, sondern die Zugehörigkeit zur Völkergemeinschaft gründet auf einem entsprechenden Willensentschluss22.
III. Gemeinsamkeiten im Denken Vitorias und Suárez’ Das Völkerrechtsverständnis Vitorias wie auch Suárez’ zeichnete sich in historischer Perspektive zunächst dadurch aus, dass Völkerrecht nicht nur aus den vorgegebenen Gründen des Naturrechts entstehen konnte, sondern ebenso durch den Willenskonsens der „gentes“, bestimmte Verhaltensweisen als rechtlich verbindlich zu betrachten. Voraussetzung hierfür bildete die zu jener Zeit alles andere als selbstverständliche Feststellung, dass die politischen Mächte der Christenheit einerseits und „heidnische“ Völker andererseits, selbst jene „barbarischen“ der soeben erst „entdeckten“ Länder, gleichermaßen und mit der gleichen Berechtigung willensfähig seien. Aus heutiger Sicht, welche die souveräne Gleichheit der Staaten als selbstverständlich voraussetzt, wirkt das Denken dieser ersten Völkerrechtstheoretiker aber auch durch die Relativierung (späterer) positivistischer Konzeptionen des Völkerrechts nach23: Das Recht der Völkergemeinschaft entsteht danach ge___________ 18
Ebd., 55 (19. Kap., 2.). Ebd., 55 (19. Kap., 2.), 69 (20. Kap., 1.). 20 Ebd., 57 (19. Kap., 2.). 21 Ebd., 75 (20. Kap., 6.). Dies unter der Voraussetzung, dass in Bezug auf die Änderung von Völkerrecht, das allen Völkern gemeinsam ist, alle Nationen zustimmen, sei es auch durch eine sich langsam durchsetzende entsprechende Gewohnheit; s. ebd., 77 (20. Kap., 8.). 22 Siehe auch Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 226; Rubin, Ethics and Authority in International Law, 50. 23 Allerdings wurde das naturrechtlich fundierte Völkerrecht des 16. und 17. Jahrhunderts, das von einer alle Völker umfassenden Rechtsgemeinschaft ausging, durch die spätere positivistische Lehre gleichwohl überflügelt. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (4, 22), weist darauf hin, dass die Aufteilung der Welt unter den Kolonialmächten letztlich durch die positivistische Konzeption des Völkerrechts er19
38
1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
rade nicht erst (und einzig) aus entsprechender Übereinkunft unter den Staaten, sondern „aus der sittlichen Norm des gerechten Zusammenlebens der Völker“24. Mit der Einschränkung, dass er Naturrecht und Völkerrecht im Gegensatz zu Vitoria nicht geradezu miteinander gleichsetzt, gilt dies auch für Suárez, betont doch auch er die naturrechtlichen Grundlagen und die moralische Zweckgebundenheit des Völkerrechts25.
IV. Weitere Ansätze früher Völkerrechtslehre Die Hervorhebung der spanischen Schule des frühklassischen Völkerrechts im vorliegenden Kontext beruht auf der Klarheit ihrer Aussagen zu den Fundamenten einer völkerrechtlichen Ordnung. Anzufügen ist, dass die Erkenntnis, mit dem Völkerrecht existiere eine Rechtsordnung, die dem gemeinsamen Wohl einer umfassenden Gemeinschaft verpflichtet sei, durch weitere herausragende Vertreter früher Völkerrechtstheorie geteilt wurde. So hielt Hugo Grotius (1583-1645) als Wesensmerkmal des Völkerrechts fest, es berücksichtige „nicht den Nutzen einzelner Genossenschaften, sondern nur den des großen Ganzen“26, also der Gemeinschaft aller27. Verdross und Simma verweisen außerdem auf Christian Wolff (1679-1754), der die Staatengemeinschaft als „civitas maxima“ begriff, in der alle Staaten gleichberechtigt sind. Den Staaten kam danach die Pflicht zu, mit vereinten Kräften „das allgemeine Wohl (bonum commune) zu fördern, da dieses das Ziel (finis) der ‚civitas maxima‘ bildet“28. Allen diesen Konzeptionen ist gemeinsam, dass sie auf der Suche nach den theologischen, naturrechtlichen und moralischen Grundlagen des Völkerrechts auch nach dessen Sollensgehalt fragten29: Die Feststellung, dass zwischen den Völkern eine Rechtsordnung bestehe, war über die Annahme einer entsprechenden Gemeinschaft hinaus auch mit dem normativen Postulat in Bezug auf ___________ möglicht wurde, da diese zur Unterscheidung zwischen zivilisierten und nichtzivilisierten Nationen führte und Souveränitätsrechte nur den ersteren zugestand. 24 Dempf, Christliche Staatsphilosophie in Spanien, 47; zit. nach Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 174; vgl. auch ebd., 225. 25 Siehe dazu Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht, 351 f. 26 Grotius, De jure belli ac pacis, 34 (Vorrede, 17.). 27 Siehe Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 13. Zufolge Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 177 f., habe Grotius allerdings im Gegensatz zu Vitoria und Suárez immer die abendländische Christenheit meint, wenn er von der Gemeinschaft der gesamten Menschheit sprach. Anders hingegen Bull, in: Hugo Grotius and International Relations, 65 (80), der hervorhebt, die von Grotius als Bezugspunkt des Völkerrechts angesprochene internationale Gemeinschaft habe nicht nur die christlich-europäischen Staaten, sondern die gesamte Menschheit umfasst. 28 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 14. 29 Vgl. auch Weeramantry, in: LA Oda, Vol. 2, 1491 (1496).
A. Konzeptionen frühklassischer Völkerrechtslehre
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die Zwecksetzung des Völkerrechts verbunden, dieses habe dem gemeinsamen Wohl der Beteiligten zu dienen. Freilich stehen diesen Ansätze in der weiteren Geschichte völkerrechtlicher Theoriebildung auch gegenläufige Positionen gegenüber. In Bezug auf die Frage, inwiefern das gemeinsame Wohl aller einen moralischen Maßstab für das Verhalten unter den Völkern bilde, kam beispielsweise Baruch de Spinoza (1632-1677) zu einer radikal anderen Einschätzung als die zuvor erwähnten Gelehrten30: Da die Voraussetzung von Recht Macht sei, habe jeder Staat soviel Recht wie er Macht habe; insofern stehe es aber auch jedem Staat offen, das eigene Wohl als sein oberstes Gesetz zu betrachten. Auch Thomas Hobbes (1588-1679) etwa zeigte in Anlehnung an seine Staatstheorie ein rigoros am Faktischen – nämlich dem oftmals unerbittlich geführten Kampf zwischen den europäischen Mächten um politische Einflussnahme – orientiertes Völkerrechtsverständnis31. Ausgehend von der Maxime „auctoritas, non veritas facit legem“ lehnte er überhaupt die Existenz einer verbindlichen Völkerrechtsordnung ab, weil es im Verhältnis zwischen den Völkern an wirksamen Mechanismen zur Durchsetzung rechtlicher Normen mangle. Der Überblick über die frühen völkerrechtlichen Konzepte konzentriert sich hier auf die Perspektive der europäischen Tradition. Es rechtfertigt sich dies im vorliegenden Kontext damit, dass die politische Dominanz der europäischen Mächte zu einem faktischen Übergewicht europäischen Rechtsdenkens bei der Entwicklung des heute geltenden Völkerrechts führte32. Daraus folgt auch, dass die Betrachtung der europäisch geprägten Entwicklungslinie am deutlichsten vor Augen führt, wie sich im Verlauf der Jahrhunderte die Wahrnehmung dessen, was in internationalen Belangen „Recht“ ist, verändert hat. Dies gilt gerade in Bezug auf die zentrale Frage, in welchem Ausmaß die wirtschaftlich und militärisch überlegenen Mächte Europas (sowie schließlich, nach ihrer Unabhängigkeit, die Vereinigten Staaten von Amerika) den nicht-christlichen Völkern und Staaten gleiche Rechte zugestanden – beziehungsweise, wie noch zu zeigen sein wird33 – verweigerten. Andererseits darf die Feststellung der westlichen Dominanz aber nicht dazu verleiten, Völkerrecht als alleinige Entwicklungsdomäne des christlich-europäi___________ 30 Zu Spinoza im Zusammenhang des Völkerrechts s. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 410; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 44; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 15. 31 Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 409 f.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 44; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 14. 32 Vgl. auch, aus einer nicht-europäischen Perspektive, Amerasinghe, in: AVR 2001, 367 (368). 33 Nachfolgend in diesem Kap., B.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
schen Kulturkreises zu verstehen34. Vielmehr ist zu betonen, dass die Entstehung rechtlicher Ordnungen zwischen den Völkern kein spezifisches Merkmal einer bestimmten Rechtstradition darstellt, wie verschiedene regionale Beispiele zeigen35. Im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist dabei die von Nagendra Singh für den indischen Rechtskreis beschriebene Vorstellung vom Universalismus internationalen Rechts36. Danach sei in jener Kultur bereits vor mehr als zweitausend Jahren das Rechtsdenken vom Gedanken universeller Gleichheit unter den Menschen und der Zielsetzung umfassenden Friedens durchdrungen gewesen, unbesehen ethnischer oder religiöser Diversität.
___________ 34
Vgl. auch Weeramantry, in: LA Oda, Vol. 2, 1491 (1501 f.). Siehe dazu den Überblick über die Entwicklung des Völkerrechts außerhalb des europäischen Einflussbereichs von Amerasinghe, in: AVR 2001, 367 (388 ff.); allgemein zur Entstehung und Verbreitung völkerrechtlicher Prinzipien in verschiedenen nicht-westlichen Kulturkreisen auch Weeramantry, in: LA Oda, Vol. 2, 1491 (1506 ff.). Vgl. außerdem die Beiträge zur regionalen Völkerrechtsentwicklung in Afrika von Elias, in: EPIL, Vol. II, 793 ff.; im chinesisch-japanisch-koreanischen Raum von Miyazaki, in: EPIL, Vol. II, 802 ff.; im islamischen Kulturkreis von El-Kosheri, in: EPIL, Vol. II, 809 ff.; in Lateinamerika von Truyol y Serra, in: EPIL, Vol. II, 818 ff.; in Südund Südostasien von Singh, in: EPIL, Vol. II, 824 ff. 36 Hierzu Singh, in: EPIL, Vol. II, 824 (824 f., 826 f.); vgl. auch Amerasinghe, in: AVR 2001, 367 (389). 35
B. Partikularität des Völkerrechts
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B. Die Partikularität des Völkerrechts als Koexistenzordnung konkurrierender Mächte I. Völkerrechtsentwicklung als Verbreitung europäischer Rechtsvorstellungen Nicht von der Hand zu weisen bleibt allerdings die Tatsache, dass die Entwicklung des heute geltenden Völkerrechts während langer Zeit eine höchst einseitige, an den partikulären Interessen bestimmter Akteure orientierte Angelegenheit darstellte. Angesichts der politischen und ökonomischen Hegemonie der europäischen Mächte, die mit dem Beginn der Kolonialisierung in zunehmender Weise globale Ausmaße annahm1, beruht die Entwicklung des Völkerrechts kaum auf einem gegenseitigen Austausch des Rechtsdenkens zwischen den verschiedenen Kulturkreisen. Sondern die Geschichte des modernen Völkerrechts liest sich vielmehr als eine solche der Ausbreitung des in europäischen Traditionen wurzelnden Gedankenguts. Die Durchsetzung einer universellen Völkerrechtstheorie – die nicht von der Suprematie bestimmter Mächte, sondern von der Gleichheit der Völker und der Berechtigung der Interessen aller ausgeht – hing damit von einer entsprechenden Bewusstseinsbildung ab, und zwar innerhalb des geschlossenen Kreises der mächtigen völkerrechtlichen Akteure selbst2. Dies wiederum stieß gewiss während langer Zeit auf ganz praktische Grenzen: Denn es wird vorausgesetzt, dass die verschiedenen Rechtskreise auch tatsächlich miteinander in einem kommunikativen Kontakt stehen, der dazu führt, dass andere Interessen überhaupt wahrgenommen werden können3. Der Verkehr des europäischen Staatenkreises mit anderen Völkern und Mächten war aber offenbar während langer Zeit zu schwach – beziehungsweise konzentrierte sich auf ganz bestimmte Handelsinteressen – um zwischen den christlich-europäischen Staaten und außereuropäischen Kultur- und Rechtskreisen zu einem nachhaltig wirksamen ___________ 1 Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung war mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges erreicht. Zu diesem Zeitpunkt, der als Abschluss der das 19. Jahrhundert prägenden Phase kolonialer Ausdehnung betrachtet werden kann, waren fast alle Gebiete Afrikas, Asiens und des pazifischen Raums durch die europäischen Mächte einverleibt worden; vgl. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (1 f.). 2 Siehe auch Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (1 f.), der vom „Willen zur Gemeinschaft“ als Voraussetzung der (universell wirkenden) Völkerrechtsgemeinschaft spricht. Demgegenüber sei „gemeinschaftsunfähig“, wer einen Weltherrschaftsanspruch erhebt und andere Herrschaftsverbände zu unterwerfen trachtet, und „gemeinschaftsunwillig“, wer sich in selbstgewählter Autarkie von der Außenwelt abschottet. 3 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 24, die darauf hinweisen, dass jede Rechtsordnung – somit auch jene des Völkerrechts – eine soziale Basis benötige, was bei internationalen Verhältnissen eine bestimmte Verflechtung der Staaten voraussetze.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Austausch (völker-)rechtlichen Gedankenguts zu führen4. Umgekehrt erfolgte später im Zuge der Ablösung der Kolonien in Nord- und Südamerika von den europäischen Mächten eine, so Verdross und Simma, „totale Rezeption der Grundsätze des europäischen Völkerrechts“5. Insofern ist dann aber die Ausweitung des Völkerrechts zu einer universellen Rechtsordnung ein Vorgang, der unmittelbares Resultat kolonialistischer Herrschaft ist und damit hauptsächlich (wenn nicht gar ausschließlich) auf Rechtsvorstellungen europäischer Herkunft fußt6. Die Entwicklung des Völkerrechts muss somit als Prozess verstanden werden, der weniger aus einer gegenseitigen Befruchtung unterschiedlicher Kultur- und Rechtskreise hervorging, sondern mit einer sukzessiven Ausdehnung europäischer Rechtsvorstellungen gleichzusetzen ist; die ehemaligen Kolonien Nord- und Südamerikas bildeten dabei gewissermaßen die wichtigste Brücke, über welche diese Rechtsvorstellungen ihre Akzeptanz in außereuropäische Regionen ausdehnten. Mit diesem Erschließungsprozess brauchte indessen kein neues, kulturell und religiös ausgeweitetes Gemeinschaftsbewusstsein verbunden zu sein. Denn die Rezeption des europäischzentrierten Völkerrechts erfolgte in einem geographischen Raum, dessen politischen Eliten letztlich in derselben kulturell-religiösen Tradition verwurzelt waren. An dieser Stelle ist folgender kurzer Hinweis angebracht: Soweit im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Völkerrechts die Rede auf das „Christentum“ fällt, ist vorliegend regelmäßig ein bestimmter Kulturkreis – der europäisch-christlich geprägte, unter Einschluss bestimmter außereuropäischer Untertanengebiete sowie (später) der USA – gemeint. Der Begriff ist mit anderen Worten als politisch-geographische Klammer zu verstehen. Demgegenüber würde es den Rahmen der Ausführungen dieses Kapitels sprengen, wäre der Frage nachzugehen, welche Rolle in der geschilderten Entwicklung der ethisch-religiöse Hintergrund spielte.
Dabei ist auch hervorzuheben, dass die sich entwickelnde Vorstellung von der universellen Geltung des (europäisch geprägten) Völkerrechts in der Realität zunächst noch keineswegs bedeutete, dass nicht der europäisch-christlichen Zivilisation zugehörige Völker die selben Rechte besaßen. Das hierfür notwendige Gemeinschaftsbewusstsein mag in den theoretischen Schriften einiger Klassiker der Völkerrechtslehre postuliert worden sein, in der völkerrechtlichen ___________ 4
Siehe ebd., 21 f. Vgl. aber auch Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (2), der (unter Hinweis auf die Gesandtschaften italienischer Städte bei muslimischen Herrschern) von der Möglichkeit spricht, „dass selbst grundlegende Institutionen des modernen Völkerrechts, die gemeinhin als genuin europäisch gelten, (...) gerade in der Begegnung des lateinischen Abendlandes mit anderen, außereuropäischen Kulturen entstanden sind (...)“. 5 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 22. 6 Vgl. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (2); Bedjaoui, in: Droit international, 1 (5 f.); Mutua, in: Michigan Journal of International Law 1995, 1113 (1120 f.).
B. Partikularität des Völkerrechts
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Praxis indessen galten noch während langer Zeit andere Maßstäbe7. Die dominierende internationale Rechtsordnung ging nämlich nicht nur aus dem christlich-europäischen Rechtsverständnis hervor, sondern diente auch in erster Linie der geschlossenen Gesellschaft der diesem Kulturkreis zugehörigen Staaten8. Die Ausrichtung des Völkerrechts an den Interessen der Kolonialmächte erfolgte dabei in denkbar einfacher Weise: Es galt unter den beteiligten europäischen Akteuren allgemein der Grundsatz, „dass die Eingeborenen kein Eigentum und keine rechtmäßige Staatsgewalt haben könnten, dass sie im rechtlosen Raum lebten und die von ihnen bewohnten Länder terra nullius seien, daher Gegenstand der Belehnung, der Entdeckung oder der Okkupation sein könnten“9. Von den zeitgenössischen Völkerrechtstheoretikern wie Vitoria, Suárez oder Grotius strikt abgelehnt10, wurde dieser Grundsatz doch zur tragenden Maxime kolonialer Eroberung11.
___________ 7 Anders Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (3), der – allerdings unter Außerachtlassung der politischen Realitäten – davon spricht, dass die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen europäischen Mächten und außereuropäischen Völkern „im Zeitalter der Entdeckungen“ auf der „Grundlage der Gleichberechtigung“ gestanden hätten. Es sei daher „auch kein Zufall“, dass gerade die spanischen Völkerrechtsklassiker eine universelle Konzeption der Völkergemeinschaft entworfen hätten. Der Autor übersieht dabei freilich, dass etwa Vitoria seine Gedanken zum Völkerrecht in scharfer Kritik an der Unterwerfungspolitik der spanischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika äußerte. Insofern bildete Vitorias Konzeption nichts anderes als einen Gegenentwurf zur offiziellen Politik; s. hierzu Soder, Idee der Völkergemeinschaft, 22 ff. 8 Vgl. Bedjaoui, in: Droit international, 1 (6 f.). 9 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 172. 10 Vgl. ebd., 172 f. Bei Vitoria kommt dies beispielsweise in seiner Schlussfolgerung bei der Beantwortung der Frage zum Ausdruck, ob die „Barbaren“ aufgrund ihres Heidentums überhaupt zu Eigentum fähig seien: „Barbaren sind weder wegen ihrer Todsünden, noch wegen der Sünde des Unglaubens gehindert, wahre Eigentümer und Herren in öffentlicher und privater Hinsicht zu sein. Aus diesem Grunde können ihr Eigentum und ihre Gebiete nicht von den Christen beschlagnahmt und in Besitz genommen werden.“ (Vitoria, De Indis, 39, 41 [Sectio prima, 19.]). Er prüft desweitern die Frage, ob die „Barbaren“ deshalb keine Eigentümer seien, „weil sie geisteskrank oder vernunftlos sind“ (ebd., 41 ff. [Sectio prima, 20. ff.]); indem er dies verwirft, kommt er auch diesbezüglich zur Erkenntnis „(...) dass die Barbaren sowohl in privater wie in öffentlicher Hinsicht zweifellos ebenso wie die Christen wahre Eigentümer sind. Aus diesem Grunde wird man weder ihre Fürsten, noch auch die Einzelnen ihres Eigentums berauben können, weil sie keine wahren Eigentümer wären.“ (Ebd., 45 [Sectio prima, 24.]). 11 Zur Bedeutung des „terra nullius“-Konzepts für die koloniale Expansion der europäischen Mächte s. allgemein Dakas, in: African Yearbook of International Law 1999, 85 (97 ff.).
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
II. Numerus clausus der Völkerrechtsgemeinschaft Die Anschauung, die internationale Gemeinschaft sei keineswegs allumfassend, sondern eine geschlossene, faktisch auf die christlich-europäischen Staaten beschränkte Gesellschaft, prägte indessen nicht nur die erste Phase der kolonialen Eroberung, sondern blieb auch im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert ein Merkmal der völkerrechtlichen Praxis. Tatsächlich spielte sich in diesem Zeitraum die endgültige koloniale Aufteilung der bis anhin noch dem westlichen Einfluss entzogen gebliebenen Teile der Erde ab12. Allerdings hatte der Begriff der Christenheit durch die Missionierungsbestrebungen in den Kolonien eine neue Bedeutung erlangt, wodurch dieser seine differenzierende Wirkung zu einem gewissen Teil verlor. Die für die völkerrechtliche Praxis der westlich-europäischen Mächte grundlegende Vorstellung von ihrer eigenen weltpolitischen Vorherrschaft musste somit auf eine neue Legitimitätsgrundlage gestellt werden13. Als Kriterium für die Mitgliedschaft im privilegierten Kreis der internationalen Rechtsgemeinschaft (mittlerweile ergänzt durch die USA, als außereuropäische Ausnahme nach deren Unabhängigkeit vom britischen Königreich) wurde nunmehr die Zugehörigkeit zur Christenheit durch die Zurechnung zu den sogenannt zivilisierten Staaten abgelöst14. Beispielhaft15 ___________ 12
Vgl. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (2). Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren 79 Prozent der Erde unter den Kolonialmächten aufgeteilt, s. Salewski, Geschichte Europas, 945. 13 So Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 532 f. 14 Hierzu Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (22 ff.); Bedjaoui, in: Droit international, 1 (7 f.); Bull, in: Hugo Grotius and International Relations, 65 (82 f.); Koskenniemi, Gentle Civilizer of Nations, 127 ff.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 41 f.; Röling, International Law in an Expanded World, 26 ff.; ders., in: Hugo Grotius and International Relations, 281 (291 ff.); Shaw, International Law, 26 f. Anderer Ansicht wiederum Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (5). Gewissermaßen seine reale Bestätigung fand der erwähnte Paradigmenwechsel in der Tatsache, dass seit dem Jahr 1856 als (einziger) nicht-christlicher Staat auch das osmanische Reich zur Völkerrechtsgemeinschaft gezählt wurde. Dies aufgrund des tatsächlichen militärischen und politischen Einflusses der Türkei, der sich darin manifestiert hatte, dass sie im Krieg um die Krim-Halbinsel auf Seiten Frankreichs und Großbritanniens gegen Russland siegreich geblieben war. Im folgenden Pariser Friedensvertrag von 1856 wurde das osmanische Reich dann durch die Siegermächte in den Stand einer europäischen Macht erhoben. Vgl. dazu Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 509, 529 ff.; Oppenheim, International Law, Vol. I, 34. 15 Zeitgenössische Positionen wie jene von Bluntschli, Völkerrecht der civilisirten Staten, 63, der den Geltungsbereich des Völkerrechts auf die gesamte Menschheit erstrecken wollte, blieben noch lange die Ausnahme. Zu bemerken ist zudem, dass auch Bluntschli nicht in grundsätzlicher Weise vom Konzept einer Vorzugsstellung der „zivilisierten“ Staaten abrückte: Da die Menschheit, „obwohl ihrer natürlichen Gemeinschaft und Einheit bewusst geworden“, organisatorisch keine rechtliche Einheit bilde, bestehe kein einheitliches Weltgesetz; entsprechend müsse sich die Welt mit einem Völkerrecht begnügen, das auf der „möglichst allgemeinen und gleichmäßigen Anerkennung der ein-
B. Partikularität des Völkerrechts
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kommt dies in der von Friedrich von Martens im Jahr 1883 veröffentlichten Völkerrechtslehre zum Ausdruck. Schon der Titel seines Werks („Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen“) lässt klar erkennen, innert welcher Grenzen sich das entworfene Völkerrechtsmodell bewegt. Folgende Passage illustriert außerdem weiter die mit dem konzeptionellen Ansatz verbundene Weltanschauung: „Wenn wir den Satz betonen, dass als Subjecte des gegenwärtigen Völkerrechts einzig und allein die Staaten, die eine annähernd gleich hohe Culturstufe erreicht haben, anerkannt werden können, so wollen wir damit nicht sagen, dass das Völkerrecht sich in exclusiver Weise auf christliche Grundanschauungen stütze und auch nur für die Beziehungen derjenigen Nationen, die sich zum Christenthum bekennen, giltig sei. Gewiss nicht, denn es kann recht wohl anerkannt und befolgt werden unabhängig von dem im Lande herrschenden religiösen Glauben. Unerlässlich jedoch bleibt, dass die Völker, welche an diesem Völkerrecht participieren, oder die Classen, die sich darnach richten sollen, hinsichtlich der vernünftigen Ziele des menschlichen Daseins und des Berufes der Staaten gerade die Ansichten theilen, welche die uralte Cultur der civilisirten Nationen Europa’s zu Tage gefördert hat.“16
Ein logisch notwendiges Merkmal dieser Konzeption bildete die Annahme, dass zur Entstehung und zur Weiterentwicklung des Völkerrechts nur Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft selbst beitragen könnten, also die als zivilisiert bezeichneten Staaten17; denn nur diese wurden als souverän und folglich voll rechtsfähig angesehen18. Damit unmittelbar verbunden war die Frage, welche Völker und Gemeinwesen als „Staaten“ betrachtet wurden. Auch hier fiel die europäische Antwort derart aus, dass den „nichtzivilisierten“ Völkern die ___________ zelnen Staten (sic), vorzüglich der civilisirten Staten“ beruhe (ebd., 63 f., Hervorh. hinzugefügt). Zu den Nachwirkungen der Konzeption von den zivilisierten Nationen als einzige Völkerrechtssubjekte bis in die Neuzeit (insbesondere im Werk von Lassa Oppenheim) s. noch nachfolgend in diesem Kap., C. I. 1. d). 16 von Martens, Völkerrecht, Bd. I, 183. Vgl. außerdem ebd., 181: „Das moderne Völkerrecht ist ein Product des Culturlebens und Rechtsbewusstseins der Nationen europäischer Civilisation. (...) Demnach beschränkt sich das Geltungsgebiet des Völkerrechts auch nur auf diejenigen Völker, welche die elementaren Grundsätze der europäischen Cultur anerkennen und also des Namens gesitteter Nationen würdig sind.“ von Martens verfocht dabei auch insofern einen sehr konsequenten Standpunkt, als er die Zurechnung der Türkei zur (europäischen) Völkerrechtsgemeinschaft, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vertreten wurde, unter Hinweis auf deren politische und soziale „Unzivilisiertheit“ ablehnte; s. ebd., 182 f. Anzumerken ist dabei freilich auch, dass der Autor als in St. Petersburg lehrender Völkerrechtler die Sichtweise Russlands als jener Macht vertrat, die in dem militärischen Konflikt unterlegen war, welcher die „Aufnahme“ der Türkei in die europäische Völkergemeinschaft mit sich brachte. 17 Aus zeitgenössischer Sicht bspw. von Martens, Völkerrecht, Bd. I, 231: „Unmittelbare Subjecte des Völkerrechts und Potenzen im Bereich der internationalen Gemeinschaft sind die unabhängigen Völker oder Staaten europäischer Civilisation.“ Zu diesem Aspekt s. allgemein auch Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (24). 18 Zur Bedeutung der Souveränität in diesem Völkerrechtsverständnis und zu deren ungleichen Zuerkennung an „zivilisierte“ und andere Völker s. ebd., 1 (25 ff.).
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Staatlichkeit (welche wiederum die Voraussetzung für den Souveränitätsstatus bildete) von vornherein abgesprochen wurde19.
III. Dimensionen der Durchsetzung partikulärer Interessen 1. Die Praxis des Sklavenhandels Das Scheitern einer auf der Annahme der natürlichen Gleichberechtigung zwischen den Völkern basierenden Völkerrechtstheorie im Zuge der kontinuierlichen europäischen Machterweiterung zeigt sich wohl am deutlichsten am Beispiel des Sklavenhandels20. Hier hat die Unterwerfung jeder ethischen Norm unter bestimmte Interessen – konkret die ökonomische Nutzenmaximierung insbesondere in den karibischen und amerikanischen Kolonialgebieten der führenden europäischen Mächte – ihren deutlichsten Ausdruck gefunden. Im Zusammenhang mit der vorliegend interessierenden Frage, welche Rolle das Völkerrecht dabei spielte, ist ein Fall aufschlussreich, der im Jahr 1825 durch den US-amerikanischen Supreme Court zu entscheiden war21. Das von US-amerikanischen Staatsangehörigen geführte Piratenschiff Antelope hatte spanische und portugiesische Handelsschiffe überfallen und dabei afrikanische Sklaven „erbeutet“. In der Folge wurde die Antelope von einem anderen USamerikanischen Schiff aufgebracht und in einen Hafen der USA geschleppt. Es entwickelte sich daraufhin ein Rechtsstreit, in dessen Verlauf schließlich der Supreme Court unter anderem die Frage zu entscheiden hatte, ob die auf der Antelope befindlichen Sklaven „Eigentum“ darstellten, sei es der spanischen und portugiesischen Schiffshalter oder des Kapitäns des die Antelope aufbringenden Schiffes. Durch einen Erlass des Kongresses war die Beteiligung von US-amerikanischen Bürgern wie auch von US-amerikanischen Schiffen am internationalen Sklavenhandel bereits seit dem Jahre 1794 mit Bußen belegt22. Im Jahr 1800 ___________ 19 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Bedjaoui, in: Droit international, 1 (9); Mutua, in: Michigan Journal of International Law 1995, 1113 (1122 ff.); Okoye, International Law and the New African States, 1 ff., unter ausdrücklicher Ablehnung der These, dass in Afrika (vor der europäischen Kolonialisierung) keine gesellschaftlichen Organisationsformen bestanden, die den Kriterien der Staatlichkeit genügt hätten. Für die entsprechende zeitgenössische Anschauung s. wiederum von Martens, Völkerrecht, Bd. I, 233. 20 Zur Geschichte des Sklavenhandels s. anstelle vieler (als Beispiel einer literarischen Beschreibung aus jüngerer Zeit) etwa Phillips, Atlantic Sound, insb. 30 ff. 21 Siehe zum Folgenden Rubin, Ethics and Authority in International Law, 104 ff., in Bezug auf den Fall „The Antelope“, 23 U.S. (10 Wheaton) 64 (1825). 22 Siehe 1 Stat. 347, 3rd Congress, 1st Session, chapter 11, Act of 22 March 1794; zit. nach Rubin, Ethics and Authority in International Law, 101, Fn. 84.
B. Partikularität des Völkerrechts
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wurde dieser Erlass weiter verschärft, indem Bürgern der USA bei Gefängnisandrohung untersagt wurde, auf ausländischen Sklavenschiffen zu dienen; weiter wurden für den Fall der finanziellen Beteiligung an solchen Schiffen Geldstrafen angedroht23. Dies scheint auf den ersten Blick nicht mit der Tatsache vereinbar, dass zu jener Zeit die Sklavenhaltung eine US-amerikanische Realität bildete. Allerdings war die rechtliche Lage in den USA selbst bezüglich der Sklaverei bis zu deren bundesweiten Abschaffung im Jahre 1868, nach dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkriegs, gewissermaßen durch einen merkwürdigen föderalistischen Kompromiss geprägt24: Einerseits bestand zwar die jedenfalls in den Nordstaaten verbreitete Ansicht darin, dass Sklaverei nicht mit dem universell gültigen Naturgesetz vereinbar sei, und entsprechend wurde sowohl die Sklavenhaltung in den nördlichen Teilstaaten verboten als auch der internationale Sklavenhandel geächtet. Andererseits ließ die Verfassung von 1787 die Südstaaten bei der Aufrechterhaltung der Sklavenhaltung gewähren. Dies wurde auf die Argumentation gestützt, die Sklaverei könne durch besonderes positives Recht erlaubt werden, und in den Südstaaten sei solches in Kraft. Wie Alfred P. Rubin ausführt, verbot – zusätzlich zu den zuvor erwähnten Bestimmungen – ein Erlass aus dem Jahr 1803 weiter, „to import or bring, or cause to be imported or brought, any Negro, Mulatto, or other Person of colour, not being a Native, a Citizen, or registered Seaman of The United States“25. Allerdings enthielt dieser Rechtsakt eine einschränkende Bestimmung, wonach er nur in jenen Bundesstaaten gelte, welche die „Einfuhr“ von Sklaven auch durch eigenes Recht untersagten26.
Jedenfalls im US-amerikanischen Bundesrecht kam damit klar zum Ausdruck, dass sich die Einsicht in die moralische Verwerflichkeit der Sklaverei auch auf der rechtlichen Ebene durchgesetzt hatte. Für das Gericht stellte sich danach die Frage, ob die US-amerikanische Position der rechtlichen Ächtung des Sklavenhandels im gegebenen Fall von Bedeutung sei. Soweit der Eigentumsanspruch auf die Sklaven von spanischer und portugiesischer Seite geltend gemacht wurde, legte es seiner Entscheidung allerdings nicht das US-amerikanische Bundesrecht zugrunde (da dies für die ursprüngliche Frage der Rechtmäßigkeit des spanischen bzw. portugiesischen Anspruchs nicht ausschlaggebend sei), sondern das Völkerrecht. Zu beantworten war daher die materielle Frage, ob die Sklaverei gemäß herrschendem Völkerrecht („law of nations“) verboten sei, mithin, ob die ins US-Bundesrecht eingeflossene moralische Haltung auch auf der Ebene des Völkerrechts verwirklicht sei. ___________ 23 Siehe 2 Stat. 16, 6th Congress, 1st Session, chapter 14, Act of 3 March 1800; zit. nach Rubin, Ethics and Authority in International Law, 101, Fn. 85. 24 Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 4 f., 127 f.; Rubin, Ethics and Authority in International Law, 99 ff.; vgl. außerdem auch Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, 31 ff. 25 Zit. nach Rubin, Ethics and Authority in International Law, 102, ohne weitere Quellenangabe. 26 Vgl. ebd.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Einen solchen Schluss aber lehnte der Supreme Court ab, letztlich gestützt auf eine rigide Abgrenzung moralischer von rechtlichen Erwägungen. Zwar hielt er zunächst fest, der Sklavenhandel widerspreche dem Naturgesetz und sei moralisch untragbar. Jedoch wurde zugleich betont, dass die Antwort des Völkerrechts auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Sklaverei sich nicht aus moralischen Gründen ergebe, sondern einzig und alleine aus der Praxis der Staaten: „Whatever might be the answer of a moralist to this question, a jurist must search for its legal solution in those principles of action which are sanctioned by the usages, the national acts, and the general assent of that portion of the world of which he considers himself as a part, and to whose law the appeal is made. If we resort to this standard as the test on international law, the question (...) is decided in favor of the legality of the trade.“27
Im Übrigen wurde ausgeführt, in der Praxis der Völker sei der Sklavenhandel bislang durch entsprechende Übung anerkannt, woran nichts ändere, dass einzelne Staaten Verbote ausgesprochen hätten. Da auf der Grundlage des Völkerrechts alle Staaten vollkommen gleichberechtigt seien, könne auch nicht ein einzelner Staat den anderen die zu befolgenden Regeln vorschreiben. Aus dem Völkerrecht, so der Schluss, ergebe sich somit kein Verbot der Sklaverei, und somit sei der Sklavenhandel für jene rechtmäßig, deren Regierungen diesen nicht ausdrücklich untersagt hätten. Letzteres war sowohl nach spanischem wie auch nach portugiesischem Recht der Fall, so dass der Eigentumsanspruch der Spanier und der Portugiesen geschützt wurde. Der rein positivistischen Logik solcher Erwägungen entsprach schließlich auch das Resultat der Eigentumsfrage – bzw. der Schicksalsfrage – für die versklavten Menschen. Die Sklaven, welche ihre Verfrachtung an Bord der Antilope bis in die USA überlebt hatten, wurden teilweise an die spanischen und portugiesischen „Eigentümer“ zurückgegeben. Da die Herkunft von spanischen oder portugiesischen Schiffen aber offenbar nicht für alle unter ihnen galt, wurde ein Teil von ihnen nach US-amerikanischem Bundesrecht freigelassen. Weil indessen nicht mehr für alle eruiert werden konnte, auf welchen Wegen sie auf die Antelope gelangt waren, entschied über ihr Schicksal das Los 28.
Der Fall macht zum einen deutlich, in welchem Ausmaß ethische Werte als Fundament des Völkerrechts ausgeschlossen wurden, während ausschließlich das positivistische Argument der Staatenpraxis Berücksichtigung fand. Zum andern ist offensichtlich, dass als völkerrechtliche Subjekte, die auf die Gestaltung der geltenden internationalen Rechtsordnung Einfluss hatten und deren Position folglich Rechnung getragen werden musste, nicht alle am Sachverhalt unmittelbar beteiligten Staaten bzw. Völker in Frage kamen. Mit der Berufung ___________ 27 23 U.S. (10 Wheaton) 64, 113 (1825); zit. nach Rubin, Ethics and Authority in International Law, 106. 28 Siehe ebd., 107.
B. Partikularität des Völkerrechts
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auf das „Völkerrecht“ meinte das Gericht nichts anderes als das Recht „of that portion of the world of which he [the jurist] considers himself as a part“29, also das Recht des Staatenkreises der „zivilisierten Nationen“, zu welchen Portugal, Spanien und die USA in der Tat gehörten. Keineswegs mitgemeint war demgegenüber aber folglich (unter anderem) ausgerechnet das Recht jener Völker, deren Angehörige der Sklaverei unterworfen wurden. Vom Modell einer universell gültigen Rechtsordnung, die sich – wie von den ersten Vertretern der Völkerrechtslehre entworfen – dem gemeinsamen Wohl aller Völker verpflichtet sieht, war die Praxis zu diesem Zeitpunkt denkbar weit entfernt. Soweit tatsächlich eine völkerrechtliche Ordnung bestand, beschränkte sich ihr Zweck hauptsächlich darauf, die Interessensphären unter den politisch einflussreichen Mächten abzugrenzen. Insofern handelte es sich im Wesentlichen um eine Koexistenzordnung, die allerdings die Interessen eines Großteils der Völker schlicht nicht in Rechnung zog.
2. Die Praxis der territorialen Besitzergreifung Ein weiteres diesbezügliches Beispiel bildet die Art und Weise, wie die führenden europäischen Mächte noch am Ende des 19. Jahrhunderts die kolonialen Territorien untereinander aufteilten. Unter den damals mächtigsten Staaten (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) herrschten insbesondere in Bezug auf die Territorien im westafrikanischen Kongobecken konstante Konflikte über die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Besitzergreifungen. Eine in den Jahren 1884 und 1885 in Berlin unter Beteiligung der wichtigsten europäischen Staaten30 und der USA abgehaltene Konferenz führte zu einem Übereinkommen, das die Kriterien der rechtswirksamen Okkupation an den Küsten Afrikas niederlegte31. Art. 34 dieser Generalakte der Berliner Kongo-Konferenz32 verlangte von einem Signatarstaat, der an den Küsten Afrikas ein Territorium in Besitz nehmen wollte, dass er die anderen Signatarmächte darüber in Kenntnis setze, damit diese allenfalls ihre Reklamationen vorbringen konnten. Zusätzlich zu einer solchen Notifikation war für eine völkerrechtlich gültige Okkupation gemäß Art. 35 außerdem erforderlich, dass die betreffende Macht im okkupierten ___________ 29
Wie bereits zitiert, s. zuvor, Fn. 27. Zu diesen wurde seit dem Jahr 1856 aus politischen Gründen als einziger nichtchristlicher Staat auch das osmanische Reich gezählt (vgl. zuvor, Fn. 14), das somit an dieser Konferenz ebenfalls beteiligt war. 31 Siehe hierzu Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (57 ff.); Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 641 f.; Koskenniemi, Gentle Civilizer of Nations, 121 ff. 32 Text in AJIL 3 (1909), Official Documents Supplement, 7 ff. 30
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Gebiet ihre Autorität effektiv zur Geltung brachte, die beanspruchten Herrschaftsrechte also auch tatsächlich ausübte. Wie diese Bestimmungen vermuten lassen, waren die betroffenen afrikanischen Völker beim Zustandekommen des Übereinkommens in keiner Weise beteiligt. Darüber hinaus wurden sie zudem – getreu dem Konzept von der Völkerrechtsgemeinschaft der zivilisierten Nationen – gar als Rechtssubjekte bei der Entstehung völkerrechtlicher Verpflichtungen ausgeschlossen33. Weil den „nichtzivilisierten“ Völkern jegliche rechtliche Souveränität abgesprochen wurde, wurde selbst die Gültigkeit von Verträgen zwischen einheimischen Völkern und den Kolonialstaaten bestritten34. Rechtliche Wirksamkeit, insbesondere in Bezug auf die koloniale Aufteilung Afrikas, konnte somit ausschließlich Verträgen zwischen den Kolonialmächten selbst zukommen. Für die betroffenen afrikanischen Völker schließlich hatte die koloniale Herrschaft weitreichende, in vielen Fällen äußerst negative Folgen35. Aus der Sicht eines Kommentators, der aus einem ehemals kolonialisierten Land stammt, hat der ehemalige Präsident des IGH Mohammed Bedjaoui die Realität des Völkerrechts bis zum Ende der Kolonialisierung folgendermaßen zusammengefasst: „Ce droit international classique apparaissait alors comme un système de normes ayant un contenu géographique (c’était un droit européen), une inspiration éthico-réligieuse (c’était un droit chrétien), une motivation économique (c’était un droit mercantiliste) et des visées politiques (c’était un droit impérialiste).“36
___________ 33
Zu diesem Aspekt s. Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (58, 61); Mutua, in: Michigan Journal of International Law 1995, 1113 (1123 ff., 1127); Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 645 f. Der zeitgenössische Völkerrechtler Friedrich von Martens brachte die zur Zeit der Kongo-Konferenz herrschende allgemeine Anschauung von der Rechtsfähigkeit „unzivilisierter“ Völker folgendermaßen zum Ausdruck: „Die eigentümlichen socialen und staatlichen Zustände, in denen sowohl die muhamedanischen Völkerschaften als auch die heidnischen und wilden Stämme leben, gewähren absolut keine Möglichkeit, beim Verkehr mit diesen uncultivirten oder halbcultivirten Nationalitäten das Völkerrecht in Anwendung zu bringen.“ (von Martens, Völkerrecht, Bd. I, 181). 34 Zum rechtlichen Status von Verträgen der Kolonialmächte mit „unzivilisierten“ Völkern s. auch Dakas, in: African Yearbook of International Law 1999, 85 (91 ff.). 35 Koskenniemi, Gentle Civilizer of Nations, 155 ff., weist auf das Beispiel Kongos hin, dessen Beherrschung durch Belgien einem eigentlichen Terrorregime gleichgekommen sei, das zwischen acht und zehn Millionen Todesopfer gefordert habe. 36 Bedjaoui, in: Droit international, 1 (6); Hervorh. im Orig.
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung I. Die Öffnung der Völkerrechtsgemeinschaft im 20. Jahrhundert 1. Die Neuorientierung zur Zeit des Völkerbundes Soweit dem Völkerrecht namentlich im 19. Jahrhundert die Funktion zukam, den Interessenstreit der dominierenden politischen Mächte in die Bahnen möglichst friedfertiger Koexistenz zu lenken, war ihm letzten Endes kein Erfolg beschieden. Die Rivalitäten unter den wichtigsten europäischen Mächten (insbesondere zwischen Deutschland, Großbritannien und Frankreich) manifestierten sich am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur in den kolonialen Territorien1, sondern zunehmend auch im europäischen Raum selbst2. Die immer raschere Folge von politischen Krisen war dabei durch eine allgemeine Rüstungssteigerung und den Drang zu Bündnissen und Blockbildungen unter den tonangebenden Mächten begleitet. In Hinsicht auf ihre Bedeutung für die Völkerrechtsentwicklung lassen sich die politischen Umwälzungen jener Epoche dahingehend zusammenfassen, dass das Zeitalter der imperialistisch-kolonialen Expansion der europäischen Staaten seinen Endpunkt letztlich im Ersten Weltkrieg fand3. Jener völkerrechtliche Rahmen, der die Suprematie der westlichen Mächte zu garantieren suchte, wurde in der Folge zu einem gewissen Teil seiner bislang zugrunde liegenden Zwecksetzung enthoben. Die ganz wesentliche Entwicklung, die nunmehr ihren Anfang nahm, besteht aus heutiger Sicht in der nachhaltigen Auflösung der Vorstellung von der europäisch fokussierten Zivilisationsgemeinschaft als beschränkter Geltungsraum des Völkerrechts4. Ausgelöst ___________ 1 Beispiele hierfür bildeten die Auseinandersetzungen in Afrika, die im Jahr 1885 zur im vorherigen Abschnitt erwähnten Berliner Übereinkunft führten, sowie weitere Konflikte im Nahen wie auch im Fernen Osten. 2 Zum Folgenden s. Bartlett, Peace, War and the European Powers, 159 ff.; Brockhaus-Bibliothek Weltgeschichte, Bd. 5, 294 ff.; Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, 283 ff.; Salewski, Geschichte Europas, 945 ff. 3 Zur Rolle des Ersten Weltkriegs als Endpunkt der Kolonialisierungsphase Anghie, in: Harvard International Law Journal 1999, 1 (1 f.). Aus spezifisch historischer Sicht s. bspw. Salewski, Geschichte Europas, 946, der von der kriegstreibenden Wirkung des Imperialismus im Verhältnis unter den europäischen Kolonialmächten spricht. 4 Siehe bspw. Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 275 (277 f.), wonach der Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Ende der eurozentrischen Phase des internationalen Systems signalisiert habe. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 679, 685, spricht in Bezug auf diese eigentliche Zäsur in der Völkerrechtsentwicklung, die mit dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahm, vom Ende des klassischen und dem Anfang des „nachklassischen“ Zeitalters des Völkerrechts. Vgl. auch ders., in: EPIL, Vol. II, 839 (839).
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
wurden die Veränderungen des Völkerrechts im 20. Jahrhundert letztlich durch die Erfahrung zweier Weltkriege5. Bereits der Erste Weltkrieg hatte vor Augen geführt, welches zerstörerische Potential jenem aggressiven Nationalismus innewohnte, der die Politik der führenden Mächte zunehmend geprägt hatte. Nachdem sich dies zunächst hauptsächlich im rücksichtslosen Umgang mit den sogenannt nicht zivilisierten Völkern gezeigt hatte, entfesselten sich die destruktiven Kräfte schließlich vollends.
a) Die Forderung nach einer Umgestaltung des Völkerrechts in eine globale Friedensordnung: die Lehre Walther Schückings Der deutsche Völkerrechtler Walther Schücking6, später Richter am ständigen Internationalen Gerichtshof des Völkerbundes, gehörte zu jenen Zeitgenossen, welche die heraufziehenden Gefahren erkannten. So beklagte er 1913, gewissermaßen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, die „böse Verengerung des Horizontes“ durch den (deutschen7) Nationalismus8. Die herrschende politische Gesinnung kritisierte er zudem mit folgenden scharfen Worten: „Vom Standpunkt der Ethik wie des Rechtes aus gesehen, erscheint mir das Eintreten für die internationale Organisation der Kulturwelt, mag es politisch heute verfrüht und deshalb verfehlt sein, wesentlich höhere Gesinnungen zu verraten wie die Anschauungen weiter Kreise der nationalen Bourgeoisie, die infolge des Tiefstandes ihres materialistischen Denkens das Zusammenleben der Staaten für alle Ewigkeit angeblichen biologischen Gesetzen unterstellen wollen, die von Zeit zu Zeit Hunderttausende von Menschen, die sich bis dahin nie gesehen, nötigen, auf den Schlachtfeldern einander zu massakrieren.“9
Zugleich zögerte er auch nicht, eine Vorstellung von einer internationalen Ordnung zu entwerfen, welche die ständige latente Kriegsgefahr entschärfen würde. Hauptziel dieser neuen internationalen Ordnung müsse es sein, von der Verwendung des Kriegs als „Rechtsinstitut“ wegzukommen10. Dazu beitragen ___________ 5
Vgl. Bedjaoui, in: Droit international, 1 (3 f.). Zum Werk Schückings umfassend Bodendiek, Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung. Vgl. zudem etwa Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 675; Koskenniemi, Gentle Civilizer of Nations, 215 ff.; Paulus, Internationale Gemeinschaft, 164 ff. 7 Schücking entwickelte seine Sicht der Dinge aus der eigenen nationalen Perspektive. Es lässt sich indessen kaum annehmen, dass er in einem anderen nationalen Kontext zu grundsätzlich anderslautenden Folgerungen gelangt wäre. 8 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung, 97. 9 Ebd., 100. 10 Schücking, in: FS Laband, 533 (613). Die in dieser Festschrift abgedruckte Studie „Die Organisation der Welt“ erschien ein Jahr später (1909) auch in Form einer Monographie; sie wird vorliegend nach dem Ort ihres erstmaligen Erscheinens zitiert. 6
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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sollte nach Schücking die Erkenntnis einer zunehmenden internationalen Interdependenz. Es sei nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Tatsache nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Staaten durch Fortschritte der Technik und Entwicklung des Verkehrs „in ungeahnter Weise aus ihrem Einzeldasein herausgerissen“ worden seien11, ja „dass wir in ein ganz neues Zeitalter der Weltwirtschaft eingetreten sind, in dem schließlich die Solidarität der Interessen sich gegenüber allen nationalen Differenzen durchsetzen (...) muss“12. Er sah daher „ein neues Zeitalter des internationalen Lebens“ heraufziehen13, geprägt durch die Erkenntnis, „dass gerade die letzten Ziele des Staates in unserm Zeitalter nur zu erreichen sein werden durch die Verknüpfung der Staaten“, also durch „internationale Organisation“14. Der für die Kriegsgefahr unter den führenden Mächten mitverantwortliche Nationalismus würde sich dabei durch die „Versöhnung“15 mit den Idealen des Internationalismus gewissermaßen notwendigerweise entschärfen. Schücking vertrat somit bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in prägnanter Weise den Gedanken vom Völkerrecht als Grundlage einer globalen Friedensordnung16. Bei der Frage, wie eine solche internationale Organisation künftig beschaffen sein werde, gingen die Vorstellungen Schückings sehr weit17. Auf der Basis einer bereits entstehenden obligatorischen völkerrechtlichen Schiedsgerichtsbarkeit18 sah er einen internationalen Staatenbund sich herausbilden, der sich letztlich zu einem Weltstaatenbund entwickeln würde19. Auch hier aber würde zufolge Schücking der internationale Entwicklungsprozess noch nicht beendet sein. Er zeigte sich mehr noch sogar überzeugt, dass aus dem „Welt-Staatenbund“ ein „Welt-Bundesstaat“ werden würde,
___________ 11
Ebd., 533 (539). Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung, 100. 13 Schücking, in: FS Laband, 533 (539). 14 Ebd., 533 (540). 15 Siehe Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung, 101, wonach „die Entwicklung der Zukunft die Versöhnung von Nationalismus und Internationalismus bringen“ müsse; zu dieser Zielsetzung auch bereits ders., in: FS Laband, 533 (535), wonach es „Aufgabe der Zukunft“ sei, „das nationale Ideal mit dem internationalen zu vereinen“. 16 Damit befand er sich in einem deutlichen Gegensatz zur damals herrschenden allgemeinen Tendenz der Rechtswissenschaft, die – wie Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 673, bemerkt – eine „der Kriegspolitik zuarbeitende“ Rolle spielte. Beispielhaft ist diesbezüglich Zitelmann, Unvollkommenheit des Völkerrechts; der Autor warnt hier in einem in seiner Eigenschaft als Rektor der Universität Bonn im Jahr 1918, unmittelbar am Ende des Ersten Weltkriegs, gehaltenen Referat vor der Gefahr, die vom Völkerrecht für die Stärke Deutschlands als Kriegsmacht ausgehe. 17 Vgl. zum Ganzen auch Bodendiek, Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung, 155 ff., der in diesem Zusammenhang von Schückings Leitgedanken bezüglich der Idee vom Frieden durch rechtliche Organisation der Welt spricht. 18 Schücking, in: FS Laband, 533 (607). 19 Ebd., 533 (609 ff.). 12
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts nach dem republikanischen Vorbild der USA, der Schweiz und Deutschlands20. Allfällige Bedenken, eine solche Entwicklung sei mit dem Konzept der nationalen Souveränität der Staaten unvereinbar, wischte er kurzerhand beiseite: „Auch der Gedanke der Souveränität der einzelnen Kulturstaaten hat keinen absoluten und ewigen Wert. Er ist heute noch ein politisches Dogma. Aber die Wissenschaft weiß, dass er zeitlich unter ganz besonderen Verhältnissen entstanden ist und deshalb mit einem gänzlichen Umschwung dieser Verhältnisse auch wieder verschwinden kann.“21 Wichtig war demgegenüber vielmehr, ob das übergeordnete Ziel der Friedenssicherung erreicht werden würde22: Die Zusammenarbeit im Rahmen eines Weltstaatenbundes werde die Staaten vom Gedanken abbringen, aufeinander zu schießen. Für rivalisierende Staaten werde ein allgemeiner Vertrag eine Rüstungsbeschränkung festschreiben, Interessenstreitigkeiten würden durch ein Schiedsgericht entschieden oder innerhalb eines „internationalen Bundesrats“ ausgeglichen.
Solche modellhafte Überlegungen wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem die „exzessive Inanspruchnahme des freien Kriegsführungsrechts“23 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, zunächst in brutaler Weise ad absurdum geführt. Sie fanden schließlich aber in der nach Kriegsende verbreiteten Friedenssehnsucht24 einen besseren Nährboden als jemals zuvor. Schücking selbst etwa fand sich durch die Ereignisse in seinem Ansatz bestätigt, im Aufbau einer internationalen Organisation mitsamt obligatorischen schiedsgerichtlichen Verfahren zur Streitschlichtung den Weg zu einer friedlichen völkerrechtlichen Ordnung zu sehen25.
___________ 20
Ebd., 533 (612). Ebd. 22 Ebd., 533 (612 f.). 23 Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 192 (193 f.). Siehe auch Menk, Gewalt für den Frieden, 231 ff., der darauf hinweist, dass das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs geltende Völkerrecht (also das von Grewe klassisch genannte, s. zuvor, Fn. 4) ein nur durch die Grenzen bestimmter formeller Legalitätsvorstellungen beschränktes freies Kriegsführungsrecht anerkannte. Krieg – und zwar auch der Angriffskrieg – war damit ausdrücklich zum „zulässigen Mittel der Völkerrechtsgestaltung“ erklärt (ebd., 234). Vgl. weiter bspw. Rosenne, in: RdC 2001, 9 (25). 24 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 694. 25 Siehe dazu Schücking, Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges, 205 ff., sowie ders., Internationale Rechtsgarantien, passim. In Bezug auf die Notwendigkeit der Entwicklung völkerrechtlicher Streitschlichtungsverfahren mit obligatorischem Charakter argumentierte ähnlich etwa Nippold, Gestaltung des Völkerrechts nach dem Weltkriege, 13 ff. 21
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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b) Der Völkerbund als Versuch einer umfassenden völkerrechtlichen Friedensordnung Eine zentrale völkerrechtliche Folge des Ersten Weltkrieges26 bildete die Gründung des Völkerbundes (League of Nations/Société des Nations). Gemäß dessen Satzung27 bestand die Zielsetzung darin, im Rahmen einer internationalen Organisation zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zusammenzuarbeiten28. Zu diesem Zweck sah die Satzung vor, dass Streitfragen, die zum Bruch zwischen Mitgliedern des Bundes (mit anderen Worten zum Krieg) führen könnten, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit des Bundes zur Entscheidung oder dem Rat des Bundes zur Schlichtung vorzulegen seien29. Gegenüber einem Bundesmitglied, das seine Verpflichtung verletzte, im Rahmen der satzungsgemäß festgelegten Verfahren eine friedliche Beilegung von Streitigkeiten anzustreben und somit eine unzulässige kriegerische Handlung beging, waren außerdem weitreichende Sanktionen vorgesehen30. Einen Ausfluss des Völkerbundes bildete schließlich auch der Vertrag über die Ächtung des Krieges von 1928 (sog. Briand-KelloggPakt)31, dessen Vertragsstaaten32 ausdrücklich auf die Verwendung des Krieges als politisches Mittel verzichteten33.
___________ 26
Zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg s. nur etwa Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 275 (278 f.), sowie Grewe, in: EPIL, Vol. II, 839 ff. 27 Text in Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 400 ff. 28 Siehe etwa Art. 11 Abs. 1 Völkerbundssatzung, wonach „jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, mag davon unmittelbar ein Bundesmitglied betroffen werden oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist, und dass dieser die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen hat. (...)“. 29 Siehe Art. 12, 13 und 15 Völkerbundssatzung. 30 Siehe Art. 16 Völkerbundssatzung. Danach waren gegenüber einem Mitgliedstaat, der unter Verletzung der Verpflichtungen gem. Art. 12, 13 und 15 einen Krieg begann, alle Beziehungen abzubrechen. Die Wahrung dieser Bundespflichten sollte außerdem durch gemeinsame militärische Intervention durchgesetzt werden. Staaten, die ihre Verpflichtungen verletzten, konnten durch einstimmigen Beschluss des Rates aus dem Bund ausgeschlossen werden. Zum Sanktionensystem des Völkerbundes s. bspw. Parry, in: EPIL, Vol. III, 177 (178 f.). 31 Abgedruckt bei Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 1678 ff. 32 Darunter neben weiteren Staaten die wichtigsten politischen Mächte jener Zeit. 33 Siehe Art. 1 des Vertrags: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“ Nach Art. 2 vereinbarten die Vertragsparteien außerdem, „dass die Regelung und Entscheidung aller Streitigkeiten oder Konflikte, die zwischen ihnen entstehen könnten, welcher Art oder welchen Ursprungs sie auch sein mögen, niemals anders als durch friedliche Mittel angestrebt werden soll“.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Die politische Ohnmacht34 des Völkerbundes im Verlauf der Entwicklung, die schließlich nur zwei Jahrzehnte später zum Zweiten Weltkrieg führte, ist nicht von der Hand zu weisen. Das Scheitern des Völkerbundes als erhoffte Friedensordnung mit dem Hinweis auf die Tatsache zu begründen, dass er den Ausbruch eines weiteren Weltkrieges nicht zu verhindern vermochte, ist ein Leichtes. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die beiden Weltkriege historisch nicht von einander zu trennen sind. Die beiden Ereignisse lassen sich vielmehr als kausal zusammenhängend betrachten, gleichsam als ein (sich allerdings zur globalen Katastrophe ausweitender) „europäischer Bürgerkrieg“, der sich am gleichbleibenden Problem ungebremster nationalistischer Aggression entzündete35. Es ist daher aus heutiger Sicht kaum begründbar, wie die internationale Organisation des Völkerbunds vor diesem Hintergrund eine günstigere Rolle hätte spielen können.
c) Der Völkerbund als Ausdruck einer ersten Öffnung der Völkerrechtsgemeinschaft Trotz seines Mangels an unmittelbarer politischer Wirksamkeit spielte der Völkerbund aber gleichwohl eine Vorreiterrolle, und zwar nicht nur als Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen, sondern auch als erstmaliger institutioneller Ausdruck des völkerrechtlichen Wandels in universeller Richtung36. Anzumerken ist zunächst noch, dass bereits das Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle37, welches das wichtigste Ergebnis der Friedenskonferenzen von Den Haag der Jahre 1899 und 1907 bildete, die Grenzen des europäisch fokussierten Völkerrechts deutlich überschritten hatte. Die___________ 34
Diese Ohnmacht resultierte zum einen aus dem Mangel an Beschlussfähigkeit, war doch für wesentliche Beschlüsse Einstimmigkeit gefordert. Zum anderen waren wichtige Mächte nicht oder nur vorübergehend Mitglied des Völkerbundes. So traten zufolge Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 686 f., die USA der Organisation aus einer resignativen Einschätzung der Wirkungsmöglichkeiten des Völkerbundes heraus gar nie bei. Deutschland als Verlierermacht des Ersten Weltkrieges wiederum wurde der Beitritt erst mit Verspätung, nämlich im Jahr 1926, erlaubt; mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten trat es allerdings bereits 1933 wieder aus. Die Sowjetunion schließlich trat erst 1934 bei, wurde aber im Jahr 1939 wieder ausgeschlossen. Zum Ganzen auch Parry, in: EPIL, Vol. III, 177 (184 f.). 35 Siehe Salewski, Geschichte Europas, 949, unter Hinweis auf Nolte, Europäischer Bürgerkrieg; vgl. auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 669 f. 36 Vgl. etwa Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 275 (278), wonach nach dem Zusammenbruch des eurozentrischen Systems im Ersten Weltkrieg die Universalisierung des internationalen Systems „an irreversible fact“ geworden sei. 37 Abgedruckt in Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 90 ff.
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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ses Abkommen38 wurde neben den europäischen Staaten und den USA nicht nur von den unabhängigen Staaten Mittel- und Südamerikas mitgetragen, sondern umfasste auch China, Japan, Persien sowie Siam (Thailand). Allerdings brachte das Dokument gleichwohl auch zum Ausdruck, dass der Schritt weg vom eingeschränkten Verständnis der Völkerrechtsgemeinschaft als der Gemeinschaft der sogenannt zivilisierten Staaten noch nicht vollzogen war. Vielmehr war in der Präambel ausdrücklich die Rede davon, die Zielsetzung der Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens beruhe auf der „Anerkennung der Solidarität, welche die Glieder der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verbindet“. Insbesondere der afrikanische Kontinent, dem im politischen Denken und Handeln des 19. Jahrhunderts am konsequentesten die Zugehörigkeit zur Zivilisation abgesprochen wurde39, war somit nicht vertreten, auch wenn mit Äthiopien und Liberia zumindest zwei formell völlig unabhängige Staaten existierten. In der Satzung des Völkerbunds war die Beschränkung der Anerkennung im Kreis der Völkerrechtsgemeinschaft auf zivilisierte Nationen dann allerdings in der Tat aufgehoben. Die Präambel sprach nun vielmehr von den „gegenseitigen Beziehungen der organisierten Völker“. In Art. 1 wurde weiter ausgeführt, dass die Mitgliedschaft im Bund allen „Staaten, Dominien oder Kolonien mit voller Selbstverwaltung“ offen stand40, sofern sie für ihre Absicht garantieren konnten, die ihnen zukommenden internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Die fortschreitende Öffnung der internationalen Ordnung im Sinne einer Universalisierung des Verständnisses von der Völkerrechtsgemeinschaft kam schließlich in weiteren zentralen Dokumenten zum Ausdruck, die aus dem Völkerbundssystem hervorgingen: Der Vertrag über die Ächtung des Krieges von 1928 wurde von den wichtigsten europäischen Mächten, Japan und den USA abgeschlossen, lud aber in seiner Präambel „alle anderen Nationen der Welt“ dazu ein, sich „im Interesse der Menschheit“ dem Abkommen anzuschließen. Tatsächlich traten dem Vertrag – bevor er durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur Makulatur wurde – neben China, Thailand und den lateinamerikanischen Nationen nun auch Staaten wie Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Irak, Iran, Liberia oder Saudi-Arabien bei41. Eine ähnliche Ausdehnung bezüglich der Vertragsstaaten erreichten außerdem auch die internationale Übereinkunft ___________ 38 Bei Knipping, ebd., 91, wird dieses Abkommen als „Meilenstein in der Entwicklung des Friedensrechts vor dem Ersten Weltkrieg“ bezeichnet. 39 Wie in der Art und Weise der kolonialen Aufteilung Afrikas klar zum Ausdruck kam. 40 Dies unter der weiteren Voraussetzung, dass zwei Drittel der Bundesversammlung der Mitgliedschaft zustimmten (Art. 1 Abs. 2 Völkerbundssatzung). 41 Australien, Indien, Kanada, Neuseeland und Südafrika waren außerdem als Bestandteile des britischen Reichs Vertragsmitglieder; s. den Überblick bei Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 1683 f.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels42 aus dem Jahr 1921 oder das Übereinkommen betreffend die Sklaverei43 von 1926.
d) Die Zögerlichkeit des Bewusstseinswandels in der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie: das Beispiel Lassa Oppenheims Die zentralen Verträge der Völkerbundszeit bilden die nach den Umwälzungen des Ersten Weltkrieges erfolgte völkerrechtliche Neuorientierung in schlaglichtartiger Weise ab, führen insofern gewissermaßen ein fertiges Resultat vor Augen. In anderen zeitgenössischen Quellen lässt sich aber auch ablesen, dass die veränderte Einschätzung der Frage, wer Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft sein könne, Ergebnis eines auch zu dieser Zeit noch keineswegs einfachen Bewusstseinsbildungsprozesses war. Beispielhaft ist diesbezüglich die Sichtweise von Lassa Oppenheim, eines herausragenden Vertreters der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie mit nachhaltiger wissenschaftlicher Wirkung44. Von besonderem Interesse ist hier die unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1920, erschienene dritte Auflage45 seines Standardwerks zum Völkerrecht46. In seinen Ausführungen zum Geltungsbereich des Völkerrechts („Dominion of the Law of Nations“)47 grenzte sich Oppenheim zunächst von den diesbezüglichen „Extrempositionen“ ab. Weder sei die Ansicht zutreffend, der Geltungsbereich des Völkerrechts erstrecke sich auf die gesamte Menschheit überhaupt48, noch die Meinung, nur Staaten christlicher Zivilisation seien Sub___________ 42
Abgedruckt in Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 884 ff. Abgedruckt ebd., 906 ff. 44 Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass sein zweibändiges Hauptwerk auch nach seinem Tod in regelmäßigen Neuauflagen unter der Herausgeberschaft bedeutender Völkerrechtler weitergeführt worden ist und bis heute unter dem Titel „Oppenheim’s International Law“ zu den bedeutenden Standardwerken gehört; s. zuletzt die 9. Aufl. aus dem Jahr 1992, herausgegeben und überarbeitet durch Robert Jennings und Arthur Watts. 45 Die vorhergehende Auflage datiert aus dem Jahr 1912. Die dritte Auflage erschien erst ein Jahr nach Oppenheims Tod, und der Text wurde, da nicht ganz vollendet, unter der Herausgeberschaft von Ronald F. Roxburgh ergänzt. 46 Oppenheim, International Law (in zwei Bänden, die sich einerseits unter dem Titel „Peace“ mit dem allgemein gültigen Völkerrecht, andererseits unter dem Titel „War“ mit dem Recht der Streitbeilegung, des Krieges und der Neutralität befassen). 47 Siehe zum Folgenden Oppenheim, International Law, Vol. I, 31 ff. 48 Oppenheim, ebd., 31, verweist diesbezüglich u. a. auf Bluntschli, Völkerrecht der civilisirten Staten, 63 (§ 8). An jener Stelle schreibt Bluntschli, einen ausgeprägt humanistischen Ansatz erkennen lassend: „So weit das Recht der Menschheit reicht, so weit reicht das Völkerrecht. (...) Die Ausbildung des Statsrechts (sic) ist der des Völkerrechts vorausgegangen; die Völker sorgten zunächst für sich, und waren anfangs geneigt, die 43
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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jekte des Völkerrechts49. Das herrschende internationale Leben und die Grundlagen des Völkerrechts ließen vielmehr andere Schlüsse zu: Zweifellos sei das Völkerrecht ein Produkt christlicher Zivilisation. Indessen habe sich sein Geltungsbereich in der jüngeren Entwicklung durch die Aufnahme verschiedener Staaten in die „Völkerfamilie“ („Family of Nations“) über seine ursprünglichen Grenzen hinaus ausgedehnt, angefangen bei den unabhängigen (christlichen) Staaten Lateinamerikas, Afrikas (Liberia) und der Karibik (Haiti) über die (muslimische) Türkei, das (buddhistische) Japan bis zu Staaten wie Iran (Persien), China, Thailand (Siam) und Äthiopien (Abessinien)50. Die eine Position, welche die Völkerrechtsgemeinschaft auf christliche Staaten beschränkt sehen wollte, war damit durch die Entwicklung bereits überholt worden. Andererseits führte Oppenheim dann jene Argumente ins Feld, die belegen sollten, dass die Völkerrechtsgemeinschaft auch nicht mit der Menschheit als Gesamtheit gleichgesetzt werden könne. Zu diesem Zweck knüpfte auch er noch an einem völkerrechtlichen Zivilisationskonzept an, das den nach westlichem Muster zivilisierten Staaten eine besondere Rolle bei der Konstituierung der Völkerrechtsgemeinschaft zuschrieb. Klar zum Ausdruck kommt dies in den Voraussetzungen, die er für die Aufnahme von Neumitgliedern in den Kreis der „Völkerfamilie“ (im Sinne der Völkerrechtsgemeinschaft) formulierte51: Danach sollte ein in Frage kommender Kandidat (erstens) ein zivilisierter Staat sein, der in ständiger Beziehung mit Mitgliedern der „Völkerfamilie“ stehe, der (zweitens) für sein Verhalten gegenüber anderen Staaten seine künftige Bindung an die Regeln des internationalen Rechts akzeptiere und dessen Aufnahme in den Kreis der Völkerrechtsgemeinschaft (drittens) die Zustimmung der bisherigen Mitglieder finde. Diese Regeln sollten sich dabei gewissermaßen legitimatorisch darauf zurückführen lassen, dass sich unter den zivilisierten Staaten ein Willenskonsens in Bezug auf die Erweiterung der Völkerfamilie gebildet habe52. Im Zentrum stand damit in jeder Hinsicht die Eigenschaft der „Zivilisation“: Auf dem Konsens zivilisierter Staaten gründete das Völkerrecht, aus dem Konsens zivilisierter Staaten resultierte desselben Ausdehnung, und nur zivilisierten Staaten stand die Aufnahme in die bestehende Völkerfamilie offen. Zur Beantwortung der Frage, ___________ anderen Völker als ihre natürlichen Feinde anzusehen. Spät erst erweiterte sich ihr Blick auf das Allgemeine, was sie zusammenhält, und sie lernten in den andern Völkern ihre Brüder erkennen.“ 49 Hier verweist Oppenheim, International Law, Vol. I, 31, auf von Martens, Völkerrecht, Bd. I, 181 ff. (§ 41). Zur Position von Martens’ s. auch zuvor in diesem Kap., B. II. 50 Oppenheim, International Law, Vol. I, 33 ff. 51 Dazu ebd., 32. 52 Siehe ebd.: „This extension has taken place in conformity with the basis of the Law of Nations. (...) this basis is the common consent of the civilised States (...).“
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
was in Bezug auf Letzteres als ausreichender Zivilisationsgrad zu verstehen sei, führte Oppenheim die erstgenannte Aufnahmeregel weiter aus: Nicht Zivilisation nach christlichem Verständnis sei damit gemeint, sondern maßgebend sei einzig, ob der fragliche Staat bzw. seine Angehörigen in der Lage seien, die Prinzipien des Völkerrechts zu verstehen und diesen gemäß zu handeln. Diese Fähigkeit wiederum erlange er durch den beständigen Kontakt mit anderen Staaten (und zwar Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft). Oppenheim ging dabei – wie offenbar die meisten zeitgenössischen Völkerrechtler – in Bezug auf die als nicht-zivilisiert eingestuften Völker bzw. Nationen ohne weiteres davon aus, dass solche Kontakte nicht existent waren. Es erscheint sehr fraglich, ob sich dies hinlänglich mit einem unzureichenden historischen Kenntnissstand jener Zeit erklären lässt. Jedenfalls steht fest, dass zwischen europäischen Mächten und außereuropäischen Staatswesen (Stämmen, Völkern oder Reichen) „seit dem Beginn der europäischen Expansion ein außerordentlich intensiver und vielfältiger Völkerrechtsverkehr stattgefunden“ hat53. So wird beispielsweise für verschiedene Königreiche auf den Gebieten der heutigen Staaten Nigeria, Mali und Benin berichtet, dass diese nicht nur seit Jahrhunderten untereinander einen ständigen zwischenstaatlichen Austausch unterhielten, sondern auch mit europäischen Mächten wie Portugal und Spanien54. In Bezug auf das christliche Äthiopien etwa ist außerdem überliefert, dass bereits im 14. und 15. Jahrhundert enge diplomatische Kontakte mit Portugal und England bestanden55.
Damit zeigt sich, dass Oppenheim, während er grundsätzlich die sukzessive Öffnung und Erweiterung der „Völkerfamilie“ anerkannte, diesen Prozess und – mehr noch – die Geltung überhaupt des Völkerrechts letztlich auf die „ursprünglichen“ zivilisierten Staaten westlich-europäischer Herkunft oder mindestens Prägung zurückführte. Bei genauerer Betrachtung baute sein Ansatz allerdings zunächst auf einer logischen Ungereimtheit auf: Die Erweiterung der Völkerrechtsgemeinschaft sollte sich dem Konsens der zivilisierten Staaten verdanken. Andererseits hatten auch die allfälligen künftigen Neumitglieder zivilisiert zu sein, und es stellt sich somit die Frage, warum denn gewisse zivilisierte Staaten sozusagen originäre Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft waren, während sich andere die Mitgliedschaft in diesem Kreis erst durch besondere Aufnahme verdienen mussten. Die Unterscheidung zwischen zwei ___________ 53 Siehe dazu die historische Untersuchung von Fisch, Europäische Expansion und Völkerrecht, 37 ff. (Zitat ebd., 37). Allgemein zu den Außenbeziehungen afrikanischer Staaten vor der Kolonialepoche Okoye, International Law and the New African States, 4 f., der zu folgender Einschätzung gelangt: „It has seen (...) that African communities and States have for ages had contacts with the countries of Europe and Asia, and also frequently entered into relations among themselves which were generally regulated by commonly accepted usages and certain customary rules of international law. Treaties and agreements were entered into and meant to be kept.“ (Ebd., 5). Vgl. zudem etwa den Hinweis von Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (2), auf die Gesandtschaften italienischer Städte bei muslimischen Herrschern. 54 Siehe Okeke, Theory and Practice of International Law in Nigeria, 13 ff. 55 Hierzu Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, 71.
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Kategorien zivilisierter Staaten implizierte jedenfalls, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht alle zivilisierten Nationen der Völkerrechtsgemeinschaft angehört hatten. Als am erweiterungsauslösenden Konsens beteiligt kamen entsprechend auch nur jene Staaten in Frage, die bereits nach überkommener Anschauung zum Kreis der „Völkerfamilie“ gehörten hatten. Mit anderen Worten konnten dies nur jene Staaten sein, die bereits vor der ominösen Ausdehnung Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft gewesen waren, also im Wesentlichen die europäischen Staaten sowie die USA. Bleibt die Frage, wie sich nach Oppenheim die Tatsache begründen ließ, dass die das Völkerrecht zuvor monopolisierenden Staaten zu jenem besagten Konsens fanden, der zur Erweiterung der „Völkerfamilie“ führte. Die Antwort hierzu bildete der Gedanke, dass bestimmten Staaten ein eigentlicher Zivilisationssprung geglückt sei. Ausdrücklich erwähnte er dies in Bezug auf Japan56, das „through marvellous efforts“ nicht nur zu einem „modernen“ Staat, sondern auch zu einer einflussreichen Macht geworden sei. Demgegenüber hegte er gegenüber anderen Staaten wie Persien, Thailand, China und Äthiopien Zweifel, ob deren Zivilisationsgrad für den Status voll berechtigter völkerrechtlicher Subjekte ausreichend sei57. Zwar hätten diese Staaten beträchtliche Anstrengungen unternommen, ihre Bevölkerungen zu erziehen, moderne Institutionen einzuführen und so ihre Zivilisationen auf das Niveau westlicher Vorbilder zu heben. Bis vor kurzem aber seien die Ergebnisse solcher Anstrengungen ungenügend gewesen; vielmehr seien die Zivilisationen dieser Staaten nach wie vor in einem solchen Ausmaß von jener christlicher Staaten verschieden gewesen, dass ihnen gegenüber zwischenstaatliche Beziehungen von der Art, wie sie unter christlichen Staaten bestünden58, unmöglich gewesen seien. Folglich seien diese Staaten und ihre Bevölkerungen auch nicht vollkommen in der Lage gewesen, das Völkerrecht zu verstehen und sich danach zu verhalten. Dies sei mit der Konsequenz verbunden gewesen, dass solchen Staaten die gleichberechtigte Mitgliedschaft in der „Völkerfamilie“ nicht zugestanden habe. Der entscheidende Wandel in den Verhältnissen aber sei mit dem Ersten Weltkrieg eingetreten: Während vor dem Krieg die völkerrechtliche Stellung aller nicht-christlichen Staaten mit Ausnahme59 der Türkei und Japans noch zweifelhaft gewe___________ 56
Siehe Oppenheim, International Law, Vol. I, 34. Siehe ebd., 35 sowie 180 f. 58 Diese werden ebd., 8 ff. ausgeführt. Oppenheim nennt dabei neben der Religion, welche die christlichen Staaten definitionsgemäß miteinander verband, den Austausch auf den Gebieten der Wissenschaft, der Kunst, der Landwirtschaft, der Industrie und insbesondere des Handels. 59 Hingegen unter Einschluss des christlichen Äthiopien, dessen Zivilisation als ungenügend angesehen wurde; s. ausdrücklich ebd., 180. Keine Erwähnung fanden hier die an anderer Stelle genannten christlichen (oder jedenfalls durch eine christliche Elite do57
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sen sei, seien mit dem Ende des Krieges klare Verhältnisse (im Sinne einer positiven Antwort) bezüglich des völkerrechtlichen Status der genannten Staaten eingetreten. Während Oppenheim den Umstand der mangelhaften Zivilisation mit dem Hinweis auf Erziehung und politische Institutionen begründete, ließ er umgekehrt aber offen, inwiefern die nunmehr erlangte Völkerrechtsfähigkeit auf zusätzliche zivilisatorische Errungenschaften zurückzuführen sei. Sondern bei der Begründung der einmal eingetretenen Wende nahm er nunmehr ausschließlich auf Veränderungen der politischen Lage Bezug. Dies gilt schon für die Begründung der Aufnahme Japans in den Kreis der „Völkerfamilie“. Während offen blieb, worin jene „marvellous efforts“ bestanden haben mögen, welche Japan von einer unzureichend zivilisierten zu einer zivilisierten Nation aufsteigen ließen, erwähnte Oppenheim den Krieg gegen China (1894/95)60, mit dem Japan seine Rolle als ostasiatische Großmacht sicherte; seither sei es gar unter jenen Großmächten einzureihen gewesen, welche die „Völkerfamilie“ anführten, was sich wiederum in den Friedensverträgen am Ende des Weltkriegs bestätigt habe. Auch mit Blick auf den erfolgten Aufstieg anderer nichtchristlicher Staaten in den Völkerrechtskreis verlor der Autor keine Worte mehr zu den zivilisatorischen Errungenschaften, sondern beschränkte sich auf politische Fakten61. In Bezug auf China und Thailand erwähnte er die Tatsache, dass diese im Weltkrieg auf Seiten der Alliierten gestanden hatten; in Bezug auf Persien führte er das Argument ins Feld, dass dessen Unabhängigkeit und internationale Rolle Gegenstand eines Übereinkommens zwischen Großbritannien und Russland bildete. Es erweist sich damit, dass für Oppenheim die verstärkte Universalität des Völkerrechts nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs weniger das Ergebnis einer plötzlichen umfassenden Anerkennung nicht-westlicher Staaten war, sondern vielmehr das Resultat faktischer Veränderungen im globalen politischen Machtgefüge. Vom Maßstab der Zivilisation, der nicht-westlichen Staaten die Fähigkeit bzw. Bereitschaft abverlangte, das vom europäischen Standard vorgegebene juristische Denken zu adaptieren, bedeutete dies kein Abrücken. Die alleinige Bestimmung der „originären“ Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft über die Zusammensetzung ihres Kreises war in dieser Sichtweise letztlich durch die Kraft des Faktischen aufgebrochen worden, die in der Zunahme an politischem und militärischem Potential bestand. Insofern wurden mit dem Ende des Weltkriegs die Karten tatsächlich neu gemischt. Indessen war der neue Ansatz ein positivistischer in dem Sinne, als er auf der Tatsache der ver___________ minierten) Staaten Liberia und Haiti; indessen ist wohl davon auszugehen, dass sie ebenfalls der Kategorie der ungenügend zivilisierten Staaten zugeordnet wurden. 60 Ebd., 34. 61 Siehe ebd., 35 und 181.
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schobenen Kräfteverhältnisse beruhte. Zugleich war mit ihm noch kein verändertes Verständnis von den Grundlagen der internationalen Gemeinschaft im Sinne einer die Menschheit umfassenden Einheit verbunden. In der Konzeption Oppenheims zeigt sich dies in seiner Forderung, die künftigen Neumitglieder müssten dem Kriterium der Zivilisation gerecht werden, was nach wie vor den Ausschluss bestimmter Völker implizierte. Die Zögerlichkeit, mit der die Öffnung des Verständnisses von der Völkerrechtsgemeinschaft zu jenem Zeitpunkt erfolgte, zeigte sich auch im Denken anderer zeitgenössischer Völkerrechtler. An dieser Stelle sei beispielhalber auf den britischen Autor Thomas J. Lawrence hingewiesen62. Dieser verband die übliche Feststellung, dass das „Privileg“ der Zugehörigkeit zur „Völkerfamilie“ an das Kriterium der Zivilisation nach westlichem Muster gebunden sei, mit einer bemerkenswerten Überlegung, die den machtpolitischen Kern des Konzepts besonders klar zum Ausdruck bringt: Er stellte sich die Frage, wie der Fall zu betrachten wäre, dass in einer „entlegenen Ecke der Welt“ eine unbemerkte Gemeinschaft existierte, die sowohl zivilisiert als auch unabhängig wäre und zudem (als eines der klassischen Kriterien der Staatlichkeit) ein eigenes Territorium ständig bewohnte. Den für die Zugehörigkeit zur Völkerfamilie maßgeblichen Voraussetzungen zufolge hätte es sich hierbei also um ein vollwertiges Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft handeln müssen. Allerdings widmete sich Lawrence zur Lösung des Problems nicht weiter der sich aufdrängenden Frage, wie ein Staat ohne Austausch mit anderen zivilisierten Nationen überhaupt jenen (ja angeblich nur durch den Kontakt mit der westlichen Staatenwelt erwerbbaren) Zivilisationsgrad hätte erreichen können. Vielmehr zog er den Schluss, eine solche unerwartete Erweiterung der „Völkerfamilie“ sei schlicht aus dem Grund undenkbar, „as it would soon be absorbed in a larger body, or reduced to a position of dependence on a powerful state“63.
Einen gewissen Ausdruck fand sie außerdem durchaus auch noch in der Völkerbundssatzung. Diesbezüglich ist an die Anrufung der „gegenseitigen Beziehungen der organisierten Völker“ in der Präambel zu erinnern, in der das Zivilisationskriterium zumindest mitzuklingen scheint. Auch die von Oppenheim formulierten Kriterien für die Aufnahme neuer Staaten in die „Völkerfamilie“ fanden sich in vergleichbarer Form zumindest teilweise in Art. 1 der Völkerbundssatzung wieder64. Dies galt zum einen für die Voraussetzung, dass entsprechende Kandidaten für ihre Bereitschaft „wirksame Gewähr“ zu leisten hatten, die ihnen kraft Völkerrechts zukommenden Pflichten zu beachten, zum andern für den erforderlichen Konsens (Zweidrittelsmehrheit der Bundesversammlung) hinsichtlich der Aufnahme von Neumitgliedern. Am deutlichsten äußerte sich die noch immer vorhandene Vorstellung von der Überlegenheit ei___________ 62
Siehe Lawrence, Principles of International Law, 57 f. Ebd., 58. 64 Vgl. zu diesen Regeln aus zeitgenössischer Sicht Oppenheim, International Law, Vol. I, 266 f. 63
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ner bestimmten Zivilisationsform indessen in Art. 22 Völkerbundssatzung: Danach sollten „Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von solchen Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten“, unter die Vormundschaft der „fortgeschrittenen Nationen“ gestellt werden. Namentlich sollten derartige Vorkehrungen für „gewisse Gemeinwesen, die ehemals zum Türkischen Reiche gehörten“, für mittel- und südwestafrikanische Völker sowie für „gewisse Inseln des australischen Stillen Ozeans“ in die Wege geleitet werden65.
e) Der Zwischenstand nach der Völkerbundszeit in Bezug auf die Erneuerung des Völkerrechts: grundlegende Anstöße und offene Fragen Wird im Zusammenhang mit der Entwicklung des Völkerrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Zäsur gesprochen66, so zeigt sich also, dass die damit angesprochene Universalisierung der Völkerrechtsordnung keineswegs reibungslos vor sich ging. Zunächst ist zwar nicht zu übersehen, dass durch den Schock des Ersten Weltkriegs ein Prozess ausgelöst wurde, der gegenüber dem zuvor während so langem gefestigten status quo des „Europäischen Völkerrechts“ durchaus revolutionäre Züge67 aufwies. Die Feststellung, dass die Völkerbundszeit Anstöße hervorbrachte, die im Vergleich zur völkerrechtlichen Realität der vorangegangenen Epochen zumindest das Potential eines grundlegenden Wandels aufwiesen, gilt wie gesehen in herausragender Weise für die theoretische Ächtung des Krieges als legitimes Mittel internationaler Politik. Zum gewandelten Verständnis des Völkerrechts gehörte außerdem schon zu jenem Zeitpunkt, dass das Völkerrecht als Recht der universellen internationalen Gemeinschaft dem ___________ 65 Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, dass Art. 22 Völkerbundssatzung dabei Regeln statuierte, die teilweise in Gegensatz zu dem von den westlichen Staaten in ihrer Eigenschaft als Kolonialmächte verfolgten Verhalten standen. So sollte in den besagten Gebieten der Alkoholhandel unterbunden werden und es sollte der Grundsatz der Religionsfreiheit gelten. Zum einen stellte der Alkoholhandel einen Handelszweig dar, der oftmals überhaupt erst unter dem Einfluss westlicher Zivilisation entstanden war; zum andern bildete die Missionierung die wohl bedeutendste Form zivilisatorischer Einflussnahme durch die Kolonialmächte, die wiederum selbst kaum mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit vereinbar war. 66 Vgl. zuvor, Fn. 4. 67 Vgl. etwa Bedjaoui, in: Droit international, 1 (11); Parry, in: EPIL, Vol. III, 177 (178).
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nationalen Recht der Staaten vorgehe68. Dies implizierte eine Aufweichung der strikten Vorstellung nationaler Souveränität, die noch im Rahmen des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle von 1907 eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit oder ein ständiges internationales Schiedsgericht verunmöglicht hatte69. Das Völkerbundssystem brachte auch diesbezüglich zumindest in der Theorie einen historischen Schritt mit sich. Dies, indem zur Aufrechterhaltung des Friedens der Beizug der Völkerbundsorgane zur Streitschlichtung verbindlich vorgeschrieben war70. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Entwicklung zudem erst in ihrem Anfangsstadium. Im Zentrum des begonnenen Wandels stand dabei die endgültige Abkehr von einem Völkerrecht, das bislang auf die europäischen Interessen ausgerichtet gewesen war. Die sich entwickelnde Universalität bildete dabei das Ergebnis politischer Fakten, wobei freilich zu jenem Zeitpunkt noch offen war, ob sich auf dieser Grundlage auch ein echtes universelles Rechtsverständnis einstellen würde. Immerhin fand sich bereits innerhalb des Rechtssystems des Völkerbunds auch ein klarer Hinweis darauf, dass die Öffnung hin zu einem universellen Rechtsverständnis letztlich bereits begonnen hatte: Während nach wie vor gewissen Völkern die zivilisatorische Reife für die Zugehörigkeit zur „Völkerfamilie“ abgesprochen wurde, anerkannte Art. 9 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs71 immerhin bereits explizit, dass eine grundsätzlich nicht zahlenmäßig festlegbare Mehrzahl von Zivilisationsformen und folglich auch Rechtssystemen existierte, die zur für die Völkergemeinschaft maßgeblichen Rechtsordnung beitrugen72. Die Kehrseite der Wirklichkeit in Bezug auf die Öffnung des Völkerrechtsverständnisses bestand in der Zögerlichkeit, mit welcher der Abschied von der Vorstellung erfolgte, bestimmte Nationen seien kraft ihrer Entwicklungsstufe ___________ 68
Vgl. aus zeitgenössischer Sicht etwa Burckhardt, Unvollkommenheit des Völkerrechts, 10; Nippold, Gestaltung des Völkerrechts nach dem Weltkriege, 17. 69 Der in Art. 41 ff. des Haager Abkommens vorgesehene Ständige Schiedshof wurde seiner Bezeichnung nicht gerecht, bestand er doch lediglich aus einem ständigen Sekretariat und einer Liste von Schiedsrichtern. Letztere hatte im Falle der Vorlage eines Streites vor den Schiedshof für die beteiligten Parteien allerdings keinerlei bindende Wirkung; ebensowenig bestand eine Verpflichtung, einen Streitfall dem Schiedshof zu unterbreiten. Vgl. dazu Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 611. 70 Siehe Art. 12, 13 und 15 Völkerbundssatzung; hierzu auch bereits weiter vorne in diesem Kap., C. I. 1. b). Vgl. außerdem Parry, in: EPIL, Vol. III, 177 (178 f.). 71 Text bei Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 546 ff. 72 Der die Wahl der Mitglieder des Gerichtshofs betreffende Art. 9 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs lautete: „Bei jeder Wahl ist von den Wählern darauf zu achten, dass die künftigen Mitglieder des Gerichtshofs nicht nur jedes für sich die gestellten Vorbedingungen erfüllen, sondern dass sie auch in ihrer Gesamtheit die Vertretung der hauptsächlichsten Formen der Zivilisation und der hauptsächlichsten geltenden Rechtssysteme der Welt gewährleisten.“
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und politischen Macht zur Dominanz über andere Völker berufen. Resultat und deutlichste Ausdrucksform dieser Vorstellung bildete der europäische Kolonialismus. Eine wesentliche Hürde, die sich der Entwicklung eines Völkerrechts mit universeller Geltung und Legitimation in den Weg stellte, bildete denn auch die Tatsache, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit der nicht-westlichen Völker nach wie vor unter kolonialer Herrschaft befand. Entsprechend blieb es diesen Völkern nach wie vor verwehrt, eine eigenständige Position in der Völkerrechtsgemeinschaft einzunehmen. Art. 1 Abs. 2 Völkerbundssatzung, der auch abhängigen Nationen (Dominien oder Kolonien), welche mit voller Selbstverwaltung ausgestattet waren, die Möglichkeit einräumte, Mitglieder des Völkerbundes zu werden, änderte an dieser Tatsache nichts. Denn aufgrund ihres Abhängigkeitsverhältnisses zur Kolonialmacht blieben derartige Gebiete (wie etwa Indien vor seiner Unabhängigkeit) der westlichen Interessensphäre einverleibt. Bezeichnend ist dabei, dass bis zur Auflösung des Völkerbunds im Jahr 1946 beispielsweise keine einzige afrikanische Kolonie Mitglied geworden war73. Eine nachhaltige Veränderung ergab sich für die universelle Zusammensetzung der Völkerrechtsgemeinschaft diesbezüglich erst später, mit dem Einsetzen des Prozesses der Entkolonialisierung74 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So bemerkenswert die Kontraste zwischen den verschiedenen zeitgenössischen völkerrechtlichen Denkansätzen waren, wie die Beispiele eines Oppenheim und eines Schücking zeigen, so fanden letztlich beide Positionen im damaligen Entwicklungsstand des Völkerrechts bis zu einem gewissen Grad ein reales Abbild. Während die zögerliche Haltung des einen gegenüber der Universalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft noch der weiterbestehenden kolonialen Wirklichkeit entsprach, konnte sich der andere durch die gleichwohl feststellbaren Ansätze zu einer Umgestaltung des überkommenen völkerrechtlichen Rahmens bestätigt sehen. Was beide freilich nicht voraussehen konnten, war, dass der völkerrechtliche Entwicklungsprozess schon sehr bald, nämlich durch den Zweiten Weltkrieg, in eine weitere Beschleunigungsphase gezwungen wurde.
___________ 73 Siehe den Überblick über die Mitgliedstaaten des Völkerbundes bei Knipping, System der Vereinten Nationen, Bd. II, 425. 74 Zur Rolle der Entkolonialisierung für die Völkerrechtsentwicklung noch anschließend, C. I. 2. c).
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2. Die Durchsetzung des erneuerten Völkerrechtsverständnisses im Rahmen der Vereinten Nationen a) Grundlagen gemäß der Charta der Vereinten Nationen Die Ereignisse, die den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und all das mit ihm verbundene Grauen zur Folge hatten, führten die Grenzen der geltenden Völkerrechtsordnung schonungslos vor Augen. Dem Versagen des Völkerbunds als Friedensordnung entsprach denn auch, dass nach dessen Ende keine Hoffnungen auf dessen Belebung verschwendet wurden, sondern vielmehr mit den Vereinten Nationen eine neue Organisation entstand. Nach der doppelten Erfahrung der Weltkriegskatastrophe und auf der Grundlage der entsprechenden (sich nunmehr fast zwangsläufig einstellenden75) politischen Schlüsse erhielt die Völkerrechtsordnung nunmehr mit der Charta der Vereinten Nationen ein „grundlegend verändertes Profil“76: An diesem Scheidepunkt wurde erstmals und mit grundlegender Wirkung für die weitere Rechtsentwicklung festgelegt, dass die Menschenrechte und Grundfreiheiten umfassend zu achten seien, „für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ (Art. 1 Abs. 3 UNO-Charta). Die unterschiedslose Geltung der die Menschenwürde ausmachenden wichtigsten Rechte für alle Individuen der Menschheit bildete wenig später zudem den Leitgedanken der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte77. Im Zentrum standen im Rahmen der derart erneuerten internationalen Gemeinschaft außerdem die Erneuerung des Friedensziels der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft und die Festigung des Völkerrechts als Mittel zur Friedenserhaltung. Dies kommt insbesondere im durch Art. 2 Abs. 3 und 4 UNO-Charta festgeschriebenen Bekenntnis der Mitgliedstaaten zum Ausdruck, bei ihrem Handeln gegenüber anderen Staaten ausschließlich friedliche Mittel zu verwenden78. Aus der völkerrechtlichen Ächtung des Krieges, wie sie schon von der Völkerbundssatzung angestrebt worden ___________ 75
Zum Aspekt, dass durch die Weltkriegserfahrung die ethischen Grundaussagen der UNO-Charta (Friede, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Toleranz) geprägt worden sind, s. Rendtorff, in: Präambel der UNO-Charta im Lichte der aktuellen Völkerrechtsentwicklung, 9 (9, 22). Zur Bedeutung der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs auf die Entwicklung der Menschenrechte vgl. zudem auch etwa Buergenthal/Shelton, Protecting Human Rights in the Americas, 6 f. 76 So Tomuschat, in: Eingriff in die inneren Angelegenheiten, 5 (5), der weiter ausführt, dass „die Welt des Rechts (...) gleichsam neu erschaffen“ worden sei. 77 Vgl. die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (GV-Res. 217 [III] A), wonach „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bilde. 78 Dieses Bekenntnis wird von Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (1), als „Grundnorm“ der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Weltordnung bezeichnet.
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war, sollte nunmehr ein eigentliches Recht der Staaten auf Frieden hervorgehen79. Dieser Neuanfang wurde auch als „international constitutional moment“ umschrieben80. Er beruhte auf der noch einmal grundlegend veränderten globalen politischen Lage und korrespondierte mit einer weiter veränderten Vorstellung von den Grundlagen der Völkerrechtsgemeinschaft und der Universalität der Völkerrechtsordnung81. Kommt bereits in Art. 1 Abs. 3 UNO-Charta zum Ausdruck, dass sich die Völkerrechtsordnung nunmehr auf die gesamte Menschheit erstrecken sollte, so zeigt sich das „Verblassen des Gedankens der Zivilisationsgemeinschaft“82 besonders in Art. 4 Abs. 1 UNO-Charta: Hier ist nun in Bezug auf die Voraussetzung zur Mitgliedschaft in der (organisierten) Völkerrechtsgemeinschaft der Vereinten Nationen nicht mehr von „zivilisierten“ oder „organisierten“ Völkern die Rede, sondern von „friedliebenden“ Staaten. Damit war endlich jene Öffnung des Gemeinschaftsgedankens erreicht83, die nicht nur die Basis des modernen Verständnisses von der internationalen Gemeinschaft84 bildet, sondern es letztlich jedem Staat ermöglichte, bei entsprechender Absicht auch Mitglied in der wichtigsten globalen Staatenorganisation zu werden.
___________ 79 Vgl. etwa Nastase, in: Droit international, 1291 (1296). Nachdem zuvor das Versagen des Völkerbundssystems angesprochen wurde, muss eingeräumt werden, dass in Bezug auf die übergeordnete Zielsetzung der globalen Friedenssicherung auch die Organisation der Vereinten Nationen angesichts der Vielzahl an kriegerischen Konflikten seit ihrer Gründung gewiss nicht als durchschlagend erfolgreich bezeichnet werden kann. Menk, Gewalt für den Frieden, 221 ff., spricht vom „Versagen der Organisation der Vereinten Nationen als System universeller kollektiver Sicherheit“, da das Sanktionensystem des Kapitels VII der UNO-Charta „weder im globalen noch im regionalen Maßstab eine wirkungsvolle Implementierung als Friedenssicherungsmechanismus erlebt“ habe (ebd., 221). Dies ändert allerdings nichts daran, dass das Ziel der Friedenssicherung eine zentrale Motivation für die Herausbildung internationaler Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg bildete. 80 Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (2). Zum gedanklichen Ansatz der besonderen völkerrechtlichen Verfassungsmomente s. auch im 5. Kap., C. III. 81 Vgl. bspw. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 685 ff.; ders., in: EPIL, Vol. II, 839 (842 ff.); Jennings/Watts, Oppenheim’s International Law, Vol. I, 87 ff.; Rosenne, in: RdC 2001, 9 (25 f.). 82 So Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 685. Vgl. zum Folgenden auch Röling, International Law in an Expanded World, 45 ff. 83 Vgl. auch Bedjaoui, in: Droit international, 1 (11 f.). 84 Zu diesem Begriff noch hinten, 3. Kap., A. I. 2. b).
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b) Die Konsolidierung des gewandelten Verständnisses in der Völkerrechtslehre Wie stark sich die Anschauung von der Universalität der Völkerrechtsgemeinschaft bis zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verändert hatte, zeigt auch ein Blick in die im Jahr 1948 erschienene siebte und nunmehr von Hersch Lauterpacht herausgegebene und redigierte Auflage des Oppenheimschen Standardwerks85. Die grundlegende, gegenüber dem Standpunkt zum Ende des Ersten Weltkriegs gewandelte Annahme bestand nunmehr darin, dass eine universelle, potentiell alle Staaten umfassende internationale Gemeinschaft bestehe, beruhend auf bestimmten für alle Staaten geltenden gemeinsamen Interessen86. Die verbindenden Elemente dieser Gemeinschaft könnten zwar durch den Nationalismus und die Intoleranz einzelner Staaten vorübergehend erschüttert werden – nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs brauchte der Autor dies nicht weiter auszuführen. Die Existenz einer solchen internationalen Gemeinschaft sei aber dadurch nicht in grundsätzlicher Weise in Frage zu stellen, ebensowenig wie durch bestehende kulturelle, wirtschaftliche oder politische Unterschiede zwischen den Staaten. Die zunehmende Gemeinsamkeit der Interessen zwischen den Staaten habe vielmehr dazu geführt, dass das positive Völkerrecht nunmehr „no longer recognises any distinctions in the membership of the community of nations based on religious or cultural differences“87. Im Zusammenhang mit der Erörterung der historischen Entwicklung des völkerrechtlichen Gemeinschaftsverständnisses sprach Lauterpacht, von Oppenheims Text in aller Klarheit abrückend, zudem nur noch von der „so-called Western civilisation“88. Die Folgerung, die Lauterpacht hinsichtlich der Frage der Zugehörigkeit zur Völkerrechtsgemeinschaft zog, hatte somit die Qualität eines eigentlichen Schlussstrichs: „Religion and the controversial test of degree of civilisation have ceased to be, as such, a condition of recognition of Statehood. In general, the question of the membership of the ‚Family of Nations‘, as distinguished from the position of a State as a subject of International Law, is now a matter of purely historical interest.“89
___________ 85
Oppenheim/Lauterpacht, International Law. Siehe ebd., 11 ff., 48. 87 Ebd., 45. 88 Ebd., 47. 89 Ebd. 86
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c) Die Bedeutung des Entkolonialisierungsprozesses für die Universalisierung der Völkerrechtsordnung So radikal also der Wandel tatsächlich war, den das Völkerrecht in der relativ kurzen Zeitspanne zwischen der noch zu Beginn des Ersten Weltkriegs herrschenden imperialistischen Epoche und der Gründung der Vereinten Nationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchlief, so hatte sich bis anhin allerdings eine entscheidende Barriere der Universalisierung noch nicht wesentlich gelockert. Noch immer war nämlich die koloniale Aufteilung großer Teile der Erde als Ergebnis der europäischen Expansion des 19. Jahrhunderts Realität90. Da Art. 3 und 4 UNO-Charta die Mitgliedschaft in der Organisation der Vereinten Nationen an das Kriterium (unabhängiger) Staatlichkeit anknüpften, blieb die aktive und direkte Partizipation der nicht-westlichen Sphäre in der Völkerrechtsgemeinschaft insofern auf relativ wenige Staaten beschränkt. Von „Völkern“ als mögliche Subjekte des Völkerrechts in einem Sinn, der nicht mehr nur die (theoretisch homogenen) Staatsvölker meinte91, war zwar im Zusammenhang mit dem in Art. 1 Abs. 2 UNO-Charta festgehaltenen Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker bereits die Rede92; indessen erhielt dies erst durch die spätere Entwicklung konkrete Wirkung93. Eine entscheidende Rolle für den Durchbruch des Völkerrechts zu einer universell geltenden wie auch getragenen Rechtsordnung spielte der Prozess der Entkolonialisierung94. Auf der Grundlage des in der UNO-Charta selbst verankerten Selbstbestimmungsrechts anerkannte die UNO-Generalversammlung im Jahr 1960 in einer Resolution „on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples“95 ausdrücklich den Anspruch der Kolonien auf politische Selbstbestimmung. Infolge der politischen Entwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen96, aber auch der Befreiungsbewegungen in vielen kolonia___________ 90 Zufolge Beigbeder, International Monitoring, 95, lebte im Jahr 1945 ein Drittel der Erdbevölkerung in politisch abhängigen Territorien. 91 Vgl. hierzu Elsner, Bedeutung des Volkes im Völkerrecht, 96, in Bezug auf die Verwendung des Begriffs „Völker“ in der Präambel der UNO-Charta. 92 Siehe außerdem auch Art. 55 UNO-Charta. 93 Zu dieser Entwicklung s. Elsner, Bedeutung des Volkes im Völkerrecht, insb. 94 ff. 94 Zum Folgenden s. allgemein etwa Bleckmann, in: EPIL, Vol. I, 972 ff.; Elsner, Bedeutung des Volkes im Völkerrecht, 119 ff.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 217 f., 583 ff. 95 Res. 1514 (XV) der UNO-Generalversammlung. 96 Ausschlaggebend war hier u. a., dass bis zum Jahr 1960 die Staaten, welche dem Kolonialismus kritisch gesinnt waren (vor allem die sozialistischen Staaten sowie eine Anzahl noch junger, ehemals kolonialisierter Staaten), die Mehrheit erlangt hatten; vgl. Beigbeder, International Monitoring, 95. Die Haltung der Vereinten Nationen in Bezug auf die Befreiung kolonialisierter Völker war daher nicht zuletzt durch die Anstrengun-
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len Territorien erlangten schließlich nach 1960 nahezu hundert neue Staaten die Unabhängigkeit97. Ungeachtet aller Probleme, die sich aus den bestehenden kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen oder politisch-ideologischen Differenzen unter den Staaten für die effektive Universalität der Völkerrechtsordnung nach wie vor ergaben98, war somit endlich die theoretische99 Voraussetzung dafür geschaffen, dass jede Nation sich als Sachwalterin ihrer eigenen Interessen in der Völkerrechtsgemeinschaft Gehör verschaffen konnte100. ___________ gen ihrer sozialistischen Mitgliedstaaten geprägt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit dem Anspruch auf die freie Wahl des völkerrechtlichen Status zu verbinden (sog. externes Selbstbestimmungsrecht); vgl. dazu Cassese, Self-determination of peoples, 44 ff. 97 Als ein letzter großer Schub im Entkolonialisierungsprozess kann schließlich auch die Unabhängigkeit einer Reihe von Staaten nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion anfangs der neunziger Jahre betrachtet werden, auch wenn die Eingliederung dieser Gebiete in die Sowjetunion anderen Mustern gefolgt war als die europäische Expansion des 19. Jahrhunderts. Allgemein hierzu Müllerson, International law, rights and politics, 64 ff.; spezifisch in Bezug auf die baltischen Staaten außerdem Uibopuu, in: FS Ginther, 175 ff. 98 Dazu aus zeitgenössischer Sicht Friedmann, Changing Structure of International Law, insb. 297 ff., 379 ff. In dieser berühmten Studie stellte der Autor zunächst fest, die verschiedenen die Menschheit trennenden Faktoren wie Kultur, politische Ideologie oder Stand der wirtschaftlichen Entwicklung wirkten sich in beträchtlicher Weise auf die Universalität des Völkerrechts aus. Die weiter zu ziehenden Schlüsse seien aber unterschiedlich, je nach dem, ob der völkerrechtliche Aspekt der Koexistenz oder jener der Kooperation im Vordergrund stehe. Während das Recht der Koexistenz zwischen den Staaten durch diese Unterschiede weitgehend unberührt bleibe, bildeten die ideologischen Differenzen namentlich zwischen den westlichen und den kommunistischen Staaten eine ernsthafte Bedrohung für die Universalität des Völkerrechts, soweit darunter die Bereitschaft und Fähigkeit zu wirksamer Kooperation verstanden werde. Siehe auch ders., in: RdC 1969-II, 39 (49). Die Gefahr sah Friedmann insbesondere darin, dass unter Berufung auf die ideologischen Differenzen partikulären, auch nationalen Interessen der Vorrang gegeben werde, während die Probleme der Menschheit nur durch Orientierung an einem globalen Gemeinwohl zu lösen seien; vgl. zu Letzterem ders., in: FS Jessup, 113 ff. (insb. 133 f.). 99 Es bleibt an jene Nationen bzw. Völker zu erinnern, die aus verschiedenen Gründen weder national noch international ihre Interessen im gewünschten Maß geltend zu machen vermögen. Auch sind faktische Benachteiligungen, die als Resultate kolonialer Herrschaft zu begreifen sind, auch heute nicht zu übersehen; vgl. nur etwa Cassidy, in: American Journal of Comparative Law 2003, 409 ff., in Bezug auf indigene Völker in Australien, Kanada, Neuseeland und den USA. 100 Zum Anspruch jener Nationen, die nunmehr ihre Interessen einbringen konnten, s. bspw. Anand, in: AJIL 1962, 383 (390, Hervorh. im Orig.): „The whole attitude of the ‚new‘ countries could be summarized in the liquidation of imperialism in its widest meaning, with all its political, military, economic and psychological implications. They want to change the status quo, and are striving to restructure their societies and the international society to reach a more equitable situation in which they can share the blessings of modern civilization on an equal footing. They want to modify some of the nineteenth-century conceptions of international law to bring them into conformity with the principles of the United Nations Charter.“ Vgl. auch ders., in: RdC 1986-II, 9 (118 ff.).
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d) Von der Koexistenz zur Kooperation Das quantitative Wachstum der Völkerrechtsgemeinschaft als Resultat des Entkolonialisierungsprozesses und der Entwicklung der Vereinten Nationen war äußeres Abbild des Umstandes, dass das Völkerrecht seiner Rolle als bloßes Koexistenzrecht endgültig entwachsen war. Der von Wolfgang Friedmann geprägte Begriff des Koexistenzrechts bezieht sich auf jene Epoche eines Völkerrechts, dessen einziger Zweck darin bestanden hatte, die Kompetenzen und Interessensphären der verschiedenen Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft untereinander abzugrenzen und damit die Souveränität des einzelnen Staats vor Eingriffen anderer Staaten möglichst wirkungsvoll abzusichern101. Als Rechtsbereiche, die hierzu beitragen sollten, fungierten danach die Regelung der Zugehörigkeit zur „Völkerfamilie“, die Regeln zur Abgrenzung der jeweiligen Territorien und Jurisdiktion, das Immunitätsrecht, das Recht der Staatenverantwortlichkeit, das Recht des Krieges (einschließlich des Rechts der Neutralität) sowie die formellen Regeln der Rechtsentstehung und der Erledigung von Streitigkeiten. Innerhalb dieser Regeln aber implizierte das Koexistenzvölkerrecht – jedenfalls unter den Mächtigen, welche über die Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügten – ein „laissez faire“102: Soweit sich die völkerrechtlichen Akteure nicht in die Quere kamen, waren diese frei, zu tun und zu lassen, wie ihnen beliebte; eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die Wahrnehmung gemeinsamer Anliegen oder Zielsetzungen außerhalb spezifischer vertraglicher Abmachungen existierte nicht. Friedmann stellte indessen fest, dass das Konzept des Koexistenzrechts unter den veränderten Bedingungen der internationalen Gesellschaft nicht mehr tragfähig sei103. Das Völkerrecht präsentierte sich nunmehr nicht mehr als Ordnung einiger weniger Mächte, die untereinander ein einigermaßen friedliches Auskommen bei der Verwaltung ihrer in der ganzen Welt verteilten Interessen suchten, sondern als Ordnung mit universeller Beteiligung. Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Völkerrechtsordnung war, dass sie gleichzeitig sowohl von der Vielgestaltigkeit als auch von der Gemeinsamkeit der Interessen der gesamten Menschheit geprägt war. Die Vielgestaltigkeit resultierte aus dem Umstand, dass nun eine grundsätzlich unbegrenzte Zahl von Staaten als Interes___________ 101
Siehe Friedmann, Changing Structure of International Law, 60 f.; ders., in: RdC 1969-II, 39 (91). Vgl. dazu bspw. Paulus, Internationale Gemeinschaft, 181 ff. Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (570 f.), verwendet diesbezüglich den Begriff „koordinatives Völkerrecht“. Die damit bezeichnete Epoche des Völkerrechts kann auch mit dem sog. „klassischen Völkerrecht“ gleichgesetzt werden; zu diesem Begriff vorne in diesem Kap., Fn. 4. 102 Vgl. nur etwa Cassese, International Law, 86. 103 Hierzu Friedmann, Changing Structure of International Law, 61 ff.; ders., in: RdC 1969-II, 39 (48 ff., 93).
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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senträger an der Gestaltung der internationalen Rechtsordnung partizipierte; die Gemeinsamkeit wiederum kam in der sich verstärkenden Einsicht zum Ausdruck, dass ein beschleunigtes Anwachsen von Problemen begonnen hatte, die nur gemeinsam zu bewältigen waren. Dies fing bei der Sicherung des Friedens an, bezüglich derer die beiden Weltkriege auf unwiderrufliche Weise gezeigt hatten, dass Konflikte nicht mehr nur eine Angelegenheit der Koexistenz zweier oder weniger Staaten darstellten, sondern eine unbegrenzte Ausdehnung erhalten konnten. Friedmann stand außerdem bereits unter dem Eindruck der Erkenntnis, dass das Anliegen der Friedensbewahrung auch durch die Entwicklung von Nuklearwaffen, verbunden mit der Möglichkeit der Auslöschung allen irdischen Lebens, von Bedeutung für die Menschheit als Gesamtheit geworden war104. Als weitere Phänomene, welche die Entwicklung des Völkerrechts maßgeblich zu prägen begannen, erkannte der Autor außerdem die zunehmende Ausbeutung und Verschmutzung natürlicher Ressourcen als Folge von Ursachen wie Industrialisierung, Bevölkerungsexplosion, Urbanisierung und technologischem Fortschritt105. Friedmann entwarf dabei wohl als Erster ein theoretisches Konzept, das auf der Grundlage solcher Einsichten den Wandel des Völkerrechts von einer Rechtsordnung der Koexistenz zu einer solchen der Kooperation106 postulierte. Zentral ist dabei – nicht nur nach dem Ansatz dieses Autors – der Gedanke, der Abschied vom bloßen Koexistenzrecht sei eine zwingende Folge der Tatsache,
___________ 104
Siehe Friedmann, Changing Structure of International Law, 259 f.; ders., in: RdC 1969-II, 39 (50 ff.). 105 Friedmann, Changing Structure of International Law, 16 ff.; ders., in: RdC 1969II, 39 (49, 52 ff.). Friedmann war diesbezüglich einer der ersten, die auf die Wirkungen hinwiesen, die derartige Phänomene auf die weitere Entwicklung des Völkerrechts haben würden. Vgl. auch etwa Röling, International Law in an Expanded World, XII ff.; auf diesen Autor nimmt Friedmann u. a. wiederholt Bezug, s. etwa Friedmann, Changing Structure of International Law, 66, 68, sowie später ders., in: FS Jessup, 113 (113 f.). 106 Grundlegend Friedmann, Changing Structure of International Law, 60 ff., 365 ff.; ders., in: RdC 1969-II, 39 (64, 91 ff.). Der Gedanke dieses Wandels wurde in der Folge zu einem allgemein anerkannten Ansatz der Völkerrechtslehre; vgl. anstelle vieler nur etwa Abi-Saab, in: RdC 1987-VII, 9 (319 ff.); ders., in: EJIL 1998, 248 (250 ff.); Bleckmann, in: AVR 1985, 450 (470 ff.); ders., Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 759 ff.; ders., in: AVR 1996, 218 (218 ff.); Bryde, in: GS Martens, 769 (779 f.); Tomuschat, in: RdC 1999, 9 (56 ff.); Wolfrum, in: EPIL, Bd. 9, 193 ff. Zur im Laufe der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezwungenermaßen resultierenden Einsicht, dass die Lösung der dringendsten globalen Probleme nicht nur auf eine friedliche Koexistenz, sondern darüber hinaus auf eine aktive Kooperation der Staaten und der internationalen Organisationen untereinander und miteinander angewiesen ist, s. außerdem allgemein etwa Charney, in: AJIL 1993, 529 (529 f.); Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (212 f.).
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
dass die isolierten Einzelinteressen der Staaten nunmehr durch gemeinsame Interessen überlagert würden107. Das veränderte Bedrohungspotential kriegerischer Konflikte, die abgesehen vom Überleben einzelner Völker nun die Menschheit als solche gefährdeten, bildete diesbezüglich ein krasses, aber bei weitem nicht das einzige konkrete Beispiel. Im Bereich der ebenfalls schon erwähnten Ressourcennutzung hatte sich beispielsweise die Erkenntnis ausgebreitet, dass in Bezug auf die Regelung des Fischfangs in den Meeren die traditionell im Rahmen des Koexistenzvölkerrechts garantierte Freiheit der Hohen See nicht mehr genügte. Im Gefolge der Verbesserung der Fangmethoden und des quantitativen Anstiegs der Erträge hatte sich die neue Situation eingestellt, dass die verschiedenen nationalen Interessen aufgrund der Erschöpflichkeit dieser Ressource durch die bloße Gewähr der freien Betätigung nicht mehr befriedigt werden konnten. Neben den partikulären nationalen Nutzungsinteressen an der Ressource Fisch war somit der Schutz derselben zu einem gemeinsamen Interesse aller geworden108. Als erforderlich erwies sich damit freilich in zunehmendem Maß auch die Bereitschaft zu gemeinschaftlicher Anstrengung im Rahmen völkerrechtlicher Zusammenarbeit. Mit dem stetigen Anwachsen der Völkerrechtsgemeinschaft war zugleich die Basis dafür gegeben, dass die Entwicklung des Kooperationsvölkerrechts unter zunehmend universeller Beteiligung erfolgte, was ebenfalls einen deutlichen Kontrast zur vergangenen Epoche des Koexistenzvölkerrechts bildete.
___________ 107
Einen ausgeprägten derartigen Ansatz vertritt bspw. Georges Abi-Saab, wie in folgendem Zitat bezüglich des Unterschieds zwischen Koexistenz- und Kooperationsrecht zum Ausdruck kommt: „The law of coexistence is (...) an approach to legal regulation which endeavours to establish a minimum of order between antagonistic entities that challenge any authority superior to themselves and which perceive their relations as a ‚zero sum game‘ where one’s gain is immediately perceived as another’s loss. It is a law which has to manage the disintegration of a community, where the only common interest it can assume is in the rules of the game (as in a game of poker) which permit each to play against the others in order to gain at their expense. In contrast, the approach of the law of cooperation is based on the awareness among legal subjects of the existence of a common interest or common value which cannot be protected or promoted unilaterally, but only by a common effort. In other words, it is based on a premise or an essential presumption, which is the existence of a community of interests or of values.“ So Abi-Saab, in: EJIL 1998, 248 (251); ganz ähnlich bereits ders., in: RdC 1987-VII, 9 (321). 108 Zu diesem Beispiel aus dem Bereich der Ressourcennutzung Friedmann, Changing Structure of International Law, 17; Röling, International Law in an Expanded World, XII.
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II. Konkrete Wirkungsweisen der universalisierten Völkerrechtsordnung Hervorzuheben ist, dass das in der Richtung einer fortschreitenden Universalisierung erneuerte Völkerrechtsverständnis nicht nur ein theoretisches Konstrukt bildete, sondern sich tatsächlich zunehmend in den Entwicklungen der völkerrechtlichen Praxis konkretisierte. Das Koexistenzvölkerrecht war unmittelbar mit dem „klassischen“ Souveränitätsgedanken verknüpft, der den Staaten die Freiheit einräumte, in ihren internen Belangen und innerhalb ihres Territoriums grundsätzlich nach Belieben zu schalten und zu walten. Aus der Perspektive eines Völkerrechtsverständnisses, das bestimmte Belange als dem alleinigen nationalen Interesse enthoben und vielmehr der Ebene gemeinsamer Anliegen zuzurechnen betrachtet, erscheint indessen offensichtlich, dass ein solches Souveränitätskonzept zwangsläufig modifiziert werden musste109. Der entsprechende Wandel wird dabei durch eine zunehmende Flexibilisierung des Souveränitätsbegriffs gekennzeichnet110. Am klarsten kommt dies in diversen Veränderungen zum Ausdruck, die den Geltungsbereich des Völkerrechts für den einzelnen Staat betreffen.
1. Zwingende Normen des Völkerrechts Ein wichtiger Schritt bestand zum einen in der Anerkennung des völkerrechtlichen ius cogens, also von völkerrechtlichen Normen, deren Bedeutung als derart grundlegend einzustufen ist, dass sie von den Staaten in jedem Fall und zwingend zu beachten sind111. Gerade aus der Erfahrung des Zweiten Welt___________ 109 Vgl. bspw. Beyerlin, in: FS Bernhardt, 937 (939 f.); Handler Chayes/Chayes/ Mitchell, in: Sustainable Development and International Law, 75 (75 f.); Perrez, Cooperative Sovereignty, 46 ff. 110 Zur Entwicklung des völkerrechtlichen Souveränitätsbegriffs allgemein etwa Bartelson, Genealogy of sovereignty; Beyerlin, in: FS Bernhardt, 937 (938 ff.); Camilleri/Falk, End of Sovereignty?, 11 ff.; Jackson, in: AJIL 2003, 782 ff.; Jennings, in: State, Sovereignty, and International Governance, 27 ff.; Schachter, in: FS Wang Tieya, 671 ff.; Schrijver, in: Sustainable Development and Good Governance, 80 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 25 ff.; Wildhaber, in: FS Eichenberger, 131 ff. Zur Entwicklung insbesondere vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Bemühungen um den Schutz der Umwelt Perrez, Cooperative Sovereignty. Vgl. ferner auch das 5. Kap., C. II. 2., m.w.N. 111 Siehe zum Folgenden aus der völkerrechtlichen Literatur anstelle vieler bspw. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 844 ff.; Brownlie, Principles of Public International Law, 488 ff.; Danilenko, Law-Making in the International Community, 211 ff.; Frowein, in: EPIL, Vol. III, 65 ff.; Heintschel von Heinegg, in: Völkerrecht, 112 (186 ff.); Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht; Klein, in: FS Ress, 151 ff.; Kolb, Théorie du ius cogens international; Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 5 ff.; Oeter, in: LA Wildhaber, 499 (503 ff.); Paulus, in: Nordic Journal of International Law 2005, 297 ff.; Shelton, in: International Law, 145 (150 ff.); dies., in: AJIL
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
kriegs erwuchs in verstärktem Maß die Einsicht112, dass der Verwerflichkeit des potentiellen Handelns einzelner Staaten auch mit den Mitteln des Völkerrechts entgegenzutreten sei, was die Anerkennung bestimmter zwingender Regeln erforderlich machte. Als diesem „zwingenden Völkerrecht“ zuzuordnende und solchermaßen der Disposition der Staaten entzogene Regeln sind insbesondere das Aggressions- bzw. Gewaltverbot zwischen den Staaten, das Verbot des Völkermordes, das Verbot der Rassendiskriminierung, die Gebote des humanitären Völkerrechts113 sowie weitere elementare Menschenrechte wie etwa der Schutz vor Folter114 und die Freiheit vor Sklaverei und Menschenhandel115 zu nennen. Dabei lassen sich die entsprechenden Normen dahingehend zusammenfassen, dass sie zentrale Rechte der Existenz, der Gleichheit und der Selbstbestimmtheit umfassen, sei es von Staaten, Volksgruppen oder auch Einzelnen116. Die zwingende Geltung derartiger völkerrechtlicher Normen erlangte in der Zeit nach117 dem Zweiten Weltkrieg in zunehmendem Maß die Anerkennung internationaler und nationaler Gerichte118. Sie fand zudem Eingang in die Kodi___________ 2006, 291 (297 ff.); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 328 ff.; Werksman/Khalastchi, in: International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 181 (184 ff.). Ablehnend gegenüber einer besonderen hierarchischen Stellung des „ius cogens“ demgegenüber bspw. Hillgruber, in: JöR 2006, 57 (83 ff.). 112 In diesem Sinne Charney, in: AJIL 1993, 529 (543); Frowein, in: EPIL, Bd. III, 65 (66). 113 Darunter fallen die wichtigsten Verbote und Gebote des Rechts der bewaffneten Konflikte, wie sie hauptsächlich in den vier Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949 sowie in den Zusatzprotokollen zu diesen Konventionen aus dem Jahr 1977 statuiert sind; s. hierzu bspw. Werksman/Khalastchi, in: International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 181 (193 f.). 114 Vgl. zum zwingenden Charakter dieses Rechts Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 293 f. 115 Hierzu ebd., 296 ff. 116 Siehe zusammenfassend ebd., 320 ff. 117 Für Hinweise auf die Anerkennung zwingenden Völkerrechts aus der Zeit vor 1945 s. ebd., 109 ff. 118 Zur internationalen Praxis sogleich im Text. Für die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts s. BVerfGE 18, 441 (449). Für die Rechtsprechung US-amerikanischer Gerichte s. den Fall Filartiga v. Pena-Irala, US Court of Appeals, Second Circuit, Urteil vom 30.6.1980, 630 f. 2d 876. Beide zitiert nach Frowein, in: EPIL, Vol. III, 65 (66); für weitere Beispiele zur US-amerikanischen Rechtsprechung Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 123. Eine besonders konsequente Rechtsprechung in Bezug auf die Wirkungen zwingenden Völkerrechts verfolgt das schweizerische Bundesgericht. BGE 108 Ib 408 bspw. betraf die Frage, ob die Schweiz Häftlinge an einen Staat (konkret Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur) ausliefern dürfe, in dem die Verletzung seiner grundlegenden Menschenrechte drohe. Das Gericht stellte fest, die Auslieferung sei nicht zulässig, wenn die Gefahr bestehe, dass im betreffenden Land die aufgrund allgemeiner Prinzipien des Völkerrechts geltenden Menschenrechte verletzt würden. Einen ähnlichen Fall (Auslieferung eines Kurden in die Türkei) betraf auch BGE 109 Ib 64, insb. E. 6b/aa; hier hielt das Bundesgericht unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Begriff des zwingenden Völkerrechts fest, das Verbot der Folter oder
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fikation des völkerrechtlichen Vertragsrechts durch die Wiener Konvention über das Recht der Verträge119. Hinsichtlich der Gründe für die Ungültigkeit völkerrechtlicher Verträge schreibt Art. 53 VRK fest, dass eine Übereinkunft, die im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht, nichtig ist. Art. 64 VRK hält außerdem fest, dass die Ungültigkeit auch nachträglich eintritt, wenn eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts entsteht. Von besonderer Bedeutung sind die Normen des zwingenden Völkerrechts schließlich auch gemäß dem im Jahr 2001 verabschiedeten Kodifikationsentwurf der UNO-Völkerrechtskommission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit für völkerrechtswidrige Handlungen120: Gemäß dessen Art. 40 und 41 werden schwerwiegende Verletzungen von Verpflichtungen aus „ius cogens“ mit besonderen Sanktionen verknüpft, so insbesondere mit dem Verbot, die durch eine derartige Rechtsverletzung geschaffene Lage als rechtmäßig zu anerkennen121. Aufschlüsse über die Rolle, die bei der Anerkennung zwingenden Völkerrechts die Hinwendung zu einem universellen Verständnis der Völkerrechtsgemeinschaft und somit des Völkerrechts überhaupt spielte, vermittelt gerade die Praxis des Internationalen Gerichtshofs. Stefan Kadelbach weist in seiner umfassenden Untersuchung zum völkerrechtlichen „ius cogens“ darauf hin122, dass schon in frühesten Stellungnahmen des IGH die Vorstellung von elementaren, in der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft gültigen Rechtserwägungen präsent ist, die schließlich das gedankliche Fundament für die Anerkennung einer unabdingbar geltenden Völkerrechtsschicht bildet. Als Beispiel nennt er diesbezüglich bereits das Urteil des Gerichtshof zum allerersten Streitfall, mit dem dieser sich zu befassen hatte. Im 1949 entschiedenen Korfukanal-Fall123 hielt ___________ unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (wie in Art. 3 EMRK niedergelegt) sei beim Entscheid über ein Auslieferungsbegehren zu beachten. In BGE 117 Ib 337 unterstrich das Gericht, völkerrechtliches „ius cogens“ gehe entgegenstehendem Vertragsrecht vor. Vgl. zur Praxis des Bundesgerichts auch Müller/Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 105, m.w.N. 119 SR 0.111. Vgl. dazu Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (286 f.), der darauf hinweist, dass die Niederlegung des „ius cogens“-Konzepts in der Wiener Vertragsrechtskonvention gewisse Mängel aufweist. So bleibt nach dem „cold formalism“ (a.a.O., 286) von Art. 53 VRK insbesondere offen, welche gemeinschaftlichen Werte durch zwingendes Völkerrecht geschützt werden sollen. Dies aber sei auf den Umstand zurückzuführen, dass zwar ein allgemeiner Konsens betreffend die Notwendigkeit von „ius cogens“ bestehe, die tatsächlichen materiellen Zuordnungen jedoch umstritten blieben. Zur Problematik s. auch Carrillo-Salcedo, in: RdC 1996, 35 (136 ff.). 120 Für den Text s. GV-Res. 56/83 vom 12. Dezember 2001. 121 Art. 41 Ziff. 2 ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit. 122 Zum Folgenden s. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 114 ff. Allgemein zur Rechtsprechung des IGH in Bezug auf völkerrechtliches „ius cogens“ außerdem auch Frowein, in: EPIL, Vol. III, 65 (66, 68). 123 The Corfu Channel Case, ICJ Rep. 1949, 4 ff.
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der IGH fest, die Pflicht Albaniens, fremde (in casu britische) Flotteneinheiten vor einem in der Meerenge von Korfu – albanischem Hoheitsgewässer – befindlichen Minenfeld zu warnen, gründe auf bestimmten allgemeinen und wohl anerkannten Prinzipien, zu denen „elementary considerations of humanity“ gehörten124. In seinem ersten Gutachten zum völkerrechtlichen Status Südwestafrikas125 aus dem Jahr 1950 befand der Gerichtshof weiter, die durch Art. 22 Völkerbundssatzung nach dem Ersten Weltkrieg für Kolonialgebiete der unterlegenen Mächte126 vorgesehene Rechtsinstitution des Treuhandmandats sei nicht nur im Interesse der konkret betroffenen Völker geschaffen worden, sondern in dem der Menschheit im Allgemeinen127. Der Gerichtshof nahm dabei direkten Bezug auf die in Art. 22 Abs. 1 Völkerbundssatzung enthaltene Formulierung, das Wohlergehen dieser Völker bilde „eine heilige Aufgabe der Zivilisation“ („a sacred trust of civilization“)128. Weil dem so sei, bestünden aber auch die mit der Ausübung des Mandats verbundenen Pflichten des Treuhänders (so u. a. der Schutz vor Sklaverei oder Zwangsarbeit) unabhängig von der Tatsache, dass der Völkerbund als das mit der Überwachung des Mandats betraute Organ nicht mehr existierte129. Insofern tönte in der Argumentation des Gerichtshofs an, dass bestimmte völkerrechtliche Bestimmungen, an deren Verwirklichung ein Interesse der Menschheit an sich besteht, in unbedingter Weise gelten sollen. Die erste ausdrückliche Nennung zwingender Völkerrechtsnormen durch den Internationalen Gerichtshof datiert zwar erst aus dem Jahr 1986. Im Urteil ___________ 124
Siehe ICJ Rep. 1949, 4 (22). International Status of South-West Africa, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1950, 128 ff. 126 Art. 22 Abs. 1 Völkerbundssatzung sprach von „Kolonien und Gebieten, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von solchen Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten“. Solche Gebiete bzw. die ansässigen Völker sollten unter die Vormundschaft der „fortgeschrittenen Nationen“ gestellt werden. Im Gutachten des IGH ging es um zweierlei von der Generalversammlung der Vereinten Nationen unterbreitete Fragen. Zum einen betraf es die Fragestellung, ob das für das ehemals deutsche Südwestafrika (das heutige Namibia) Großbritannien übertragene und durch Südafrika stellvertretend ausgeübte Mandat auch unter dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen (Art. 75 ff. UNO-Charta) weiter bestehe; zum andern stand zur Diskussion, wie nunmehr der völkerrechtliche Status Südwestafrikas zu verstehen sei, insbesondere im Hinblick auf die durch Südafrika ausgeübte Rechtsposition. 127 Siehe ICJ Rep. 1950, 128 (132). 128 Nicht zur Debatte stand dabei freilich die grundsätzliche Frage, inwiefern es angebracht war, von der (jedenfalls vorläufigen) Unfähigkeit der betreffenden Völker auszugehen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. 129 Siehe ICJ Rep. 1950, 128 (133). 125
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zum Fall Nicaragua vs. USA130 kam der Gerichtshof zum Schluss, für die Geltung des zwischenstaatlichen Verbots der Gewaltanwendung spreche nicht nur dessen Statuierung in Art. 2 Abs. 4 UNO-Charta, sondern auch die regelmäßige Praxis der Staaten, dieses als „fundamental or cardinal principle“ des Völkergewohnheitsrechts zu betrachten131. Auch beide am Streitfall beteiligte Parteien bezeichneten das Gewaltverbot als Bestandteil des „ius cogens“. Weiter wurde auf die gängige Praxis der ILC hingewiesen, im Rahmen ihrer Bemühungen zur Völkerrechtskodifikation das Prinzip dem zwingenden Völkerrecht zuzuordnen. Indessen fanden sich implizite Hinweise auf die zwingende Geltung bestimmter Normen bereits in der früheren Rechtsprechung des IGH, so insbesondere im sogenannten „Barcelona Traction“-Fall132. In diesem Urteil legte der Gerichtshof die Grundlage für die Anerkennung von völkerrechtlichen Verpflichtungen, die der einzelne Staat nicht nur gegenüber einem bestimmten anderen Staat, sondern gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Gesamtheit zu erfüllen hat133. Leitmotiv ist hier wie auch bei der Anerkennung zwingenden Völkerrechts die Feststellung134, dass Werte und Interessen existie___________ 130 Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua vs. United States of America), ICJ Rep. 1986, 14 ff. 131 Siehe ICJ Rep. 1986, 14 (100 f., Para. 190). 132 Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium vs. Spain), ICJ Rep. 1970, 3 ff. 133 Ebd., 3 (32, Para. 33 f.). Zu diesem Urteil noch eingehender sogleich, 2., hinsichtlich der Kategorie der völkerrechtlichen Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“. 134 Einen entgegengesetzten Ansatz verfolgt Kolb, Théorie du ius cogens international, 181 ff. Der Autor betrachtet dabei das öffentliche Interesse der Völker („utilitas publica gentium“), welches der Unabdingbarkeit zwingender Völkerrechtsnormen zugrundeliegt, primär als Willenssache der beteiligten Völkerrechtssubjekte. Das öffentliche Interesse wird dabei mit dem Willen der Staaten gleichgesetzt, einem bestimmten völkerrechtlichen Regime zwingende Wirkung beizumessen (ebd., 183). Eine Konsequenz daraus sei, dass dieses allgemeine Interesse keineswegs mit Faktoren wie Werten, Ethik, Sozialmoral oder Grundwerten der internationalen Gemeinschaft verbunden sei (ebd., 184). Entsprechend seien die beteiligten Parteien bei der Definition des gemeinsamen Interesses, welches das „ius cogens“ ausmacht, vollkommen frei. Auch ohne das moderne Völkerrecht auf naturrechtliche Grundlagen stützen zu wollen (zu derartigen Argumenten noch hinten, 3. Kap., A. II. 2. b) bb)), so ist zu diesem Ansatz doch zu bemerken, dass er wichtige Aspekte der Völkerrechtsentwicklung beiseite schiebt. Nicht zu übersehen ist nämlich, dass sich die kollektive „opinio iuris“, der Willen der Völkerrechtsgemeinschaft, der auch der Geltung zwingenden Völkerrechts zugrundeliegt, nicht zuletzt darauf bezieht, dass bestimmte gemeinsame Wertvorstellungen mit besonderem Schutz versehen werden sollen. Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (291 ff.), weist auch darauf hin, dass nicht zufällig (gerade auch in der Rechtsprechung des IGH) offen bleibe, in welchen Rechtsbildungsprozessen völkerrechtliches „ius cogens“ formell entsteht. Letztlich sei der zwingende Charakter der dieser besonderen Rechtsschicht zugeordneten Normen eben auf bestimmte Wertvorstellungen zurückzuführen, denen eine besondere Relevanz für die Gemeinschaft beigemessen wird. Die mit diesem Geltungsgrund letztlich verbundenen Probleme (faktisch bestehende Uneinig-
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
ren, die allen Staaten gemeinsam sind und insofern die Universalität der Völkerrechtsgemeinschaft widerspiegeln. Die veränderte Wirkungsweise des „universalisierten“ Völkerrechts kommt in dessen zwingenden Gestaltungsformen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Die Tragweite des Wandels besteht dabei nicht zuletzt darin, dass sich für die Staaten sowohl in den Beziehungen untereinander als auch in ihrem jeweiligen internen Bereich ganz konkrete Auswirkungen ergeben. Angesprochen sind damit auch die Wirkungen „erga omnes“ des Völkerrechts sowie dessen Implikationen in innerstaatlichen Belangen der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft.
2. Wirkungen des Völkerrechts „erga omnes“ Die Herausbildung von Gemeinschaftspflichten aller Staaten kommt auf spezifische Weise im völkerrechtlichen Konzept der Wirkungen „erga omnes“ zum Ausdruck. Dieses bezieht sich auf die Frage der Durchsetzung von völkerrechtlichen Normen, denen eine besonders hohe normative Geltungskraft zukommt. Bestimmte völkerrechtliche Pflichten werden demnach als derart wesentlich angesehen, dass sie nicht nur im Verhältnis zwischen den unmittelbar an einem bestimmten Vorgang beteiligten Staaten gelten, sondern „erga omnes“, also gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft. Die Unterscheidung zwischen Verpflichtungen gegenüber einzelnen Staaten und solchen gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Gesamtheit („towards the international community as a whole“) wurde vom IGH im Rahmen des bereits erwähnten „Barcelona Traction“-Falles in einem „obiter dictum“ geprägt135. Der Zusammenhang zum Konzept des „ius cogens“ ist dabei, wie ebenfalls bereits angedeutet, sehr nah: Beide Konzepte beruhen auf dem Gedanken, dass ge___________ keiten bezüglich des Inhalts von „ius cogens“, Uneinlösbarkeit der Forderung nach strikter prozeduraler Legitimation zwingender Normen) werden dabei eingeräumt; sie stehen in einer derartigen Sichtweise der Geltung zwingenden Völkerrechts aber auch nicht entgegen. 135 Siehe ICJ Reports 1970, 3 (32, Para. 33 f.); vgl. hierzu ausführlich Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 1 ff. Allgemein zum Konzept der Verpflichtungen „erga omnes“ außerdem anstelle vieler Annacker, in: AJPIL 1994, 131 ff.; Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 ff.; Felder, Beihilfe im Recht der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit, 28 ff.; Frowein, in: FS Mosler, 241 ff.; Günther, Klagebefugnis der Staaten, 88 ff.; Meron, in: RdC 2003, 9 (259 ff.); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 40; Zemanek, in: Max Planck UNYB 2000, 1 ff. Zur Bedeutung von Normen mit Wirkung „erga omnes“ als Ausdruck der Herausbildung einer internationalen Gemeinschaft Carrillo-Salcedo, in: RdC 1996, 35 (132 ff., 140 ff.). Spezifisch in Bezug auf die gerichtliche Durchsetzung derartiger Verpflichtungen vor dem IGH Annacker, Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen.
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meinsame Interessen aller Staaten existieren und dass diese Interessen auch bestimmte grundlegende Werte implizieren136. Sowohl der Gedanke der zwingenden Geltung bestimmter völkerrechtlicher Regeln als auch jener der Geltung einer Verpflichtung gegenüber jedem beliebigen Staat verlangt daher eine Unabdingbarkeit der entsprechenden Norm. Die Verletzung einer zwingenden Norm des Völkerrechts wirkt sich demnach auch „erga omnes“ aus, in dem Sinne als „eine solche Rechtsverletzung alle Staaten der Völkergemeinschaft betrifft und nicht nur den unmittelbar verletzten Staat“137. Dies bringt mit sich, dass auch ein nur mittelbar (nämlich durch die Beeinträchtigung des Allgemeininteresses) betroffener Staat berechtigt ist, im Rahmen der völkerrechtlich zulässigen Gegenmaßnahmen auf die Rechtsverletzung zu reagieren138. Als Normen, die derartige grundlegende Werte enthalten, können beispielsweise das Aggressionsverbot, das Verbot des Völkermords sowie Grundsätze des Schutzes zentraler Menschenrechte wie etwa des Schutzes vor Sklaverei und des Schutzes vor Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit genannt werden139. Zum einen stellt das Aggressionsverbot eine grundlegendste Regel des friedlichen Verhältnisses zwischen den Staaten dar, zum andern handelt es sich um Normen, die gewissermaßen zum „wichtigsten Kern der Menschenrechte“140 gehören. Gerade am Beispiel der grundlegenden Normen des ___________ 136
Siehe Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 72, 189, auf der Grundlage eines ausgedehnten Vergleichs der beiden Konzepte (ebd., 43 ff., 189 ff.). Zum Aspekt, dass sowohl durch „ius cogens“ als auch durch Normen mit Wirkung „erga omnes“ gemeinschaftliche Interessen der Staaten zum Ausdruck kommen, Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (285 ff.). Zum Verhältnis von Verpflichtungen „erga omnes“ zum zwingenden Völkerrecht zudem auch Günther, Klagebefugnis der Staaten, 109 ff., sowie Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 112. 137 Doehring, Völkerrecht, 22. Vgl. auch Frowein, in: FS Mosler, 241 (244), unter Hinweis auf das Urteil des IGH zur „Teheraner Geiselaffaire“, ICJ Reports 1980, 42, Para. 92. 138 Vgl. etwa Doehring, Völkerrecht, 22; insb. zur Frage der Zulässigkeit von Repressalien aufgrund einer mittelbaren Betroffenheit Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, 92 f.; Frowein, in: FS Mosler, 241 (246 ff.). Spezifisch zur Frage der Rechte nicht unmittelbar betroffener Staaten bei der Durchsetzung von Menschenrechten mit Wirkung „erga omnes“ bspw. Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (177 ff.). Die Frage, wie weit solche Maßnahmen in einem konkreten Fall gehen dürfen, stellte sich außerordentlich deutlich im Zusammenhang mit der militärischen Intervention der NATOStaaten in Kosovo im Jahr 1999; s. dazu etwa Nolte, in: ZaöRV 1999, 941 (insb. 948, m.w.N.). 139 Diese Normen nannte der IGH im „Barcelona Traction“-Fall, ICJ Reports 1970, 3 (32, Para. 34), als Beispiele für eine Geltung „erga omnes“. Vgl. für einen Überblick über weitere (mögliche) völkerrechtliche Regeln mit Wirkung „erga omnes“ Günther, Klagebefugnis der Staaten, 118 ff. 140 Frowein, in: FS Mosler, 241 (244). Vgl. auch Günther, Klagebefugnis der Staaten, 110.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
Menschenrechtsschutzes zeigt sich mit aller Deutlichkeit, warum diese als Verpflichtungen „erga omnes“ zu verstehen sind141. Es geht hier nicht in erster Linie um Rechte und Pflichten der Staaten im Verhältnis untereinander, sondern um gemeinsame Werte und Interessen der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft142, deren Durchsetzung letztlich jedem einzelnen Menschen zugute kommen kann. Der Schutz der Menschenrechte und die Sicherung des Friedens bilden als Kernanliegen des Völkerrechts143 naturgemäß den bedeutendsten Hintergrund für die Existenz von Verpflichtungen „erga omnes“. Die Frage, ob völkerrechtliche Normen bestehen, die einen wesentlichen Ausdruck gemeinsamer Interessen und grundlegender Werte bilden, kann sich allerdings auch in weiteren Bereichen des Völkerrechts (die freilich mittelbar mit den beiden genannten Kernanliegen verbunden sind) stellen. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen: Zu den fundamentalsten menschlichen Bedürfnissen gehören auch sauberes Trinkwasser, gesunde Atemluft, fruchtbarer Boden sowie klimatische Bedingungen, die ihm nicht nur das Überleben, sondern ein menschenwürdiges Leben in bestmöglicher Gesundheit ermöglichen144. Auch die Zerstörung der Umwelt und somit der menschlichen Lebensgrundlagen kann einem Eingriff in Menschenrechte gleichkommen, der Fluchtbewegungen auslösen und Anlass zu Migration sein kann145. Sowohl für den Menschenrechtsschutz als auch für den Umweltschutz kann damit gelten, dass es um grundlegende Interessen der Menschheit geht146, und bei beidem ist letztlich das fundamentale Recht auf Leben als eigentliche rechtliche Grundlage zu betrachten147. ___________ 141
Spezifisch zu den Wirkungen „erga omnes“ von Menschenrechten Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (166 ff.); Dinstein, in: AVR 1992, 16 ff.; Oellers-Frahm, in: AVR 1992, 28 ff.; Shapira, in: AVR 1992, 22 ff.; Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 139 ff. 142 Zu Staatengemeinschaftsinteressen im Zusammenhang mit Verpflichtungen „erga omnes“ allgemein Annacker, Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen, 31 ff.; Günther, Klagebefugnis der Staaten, 69 ff. 143 Wie gerade in der Charta der Vereinten Nationen überaus deutlich zum Ausdruck kommt. 144 Zum Ausdruck kommt dies etwa in Art. 24 Abs. 2 Bst. c des Übereinkommens über die Rechte des Kindes. Danach haben die Vertragsstaaten bei der Verwirklichung des Rechts des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit im Rahmen der gesundheitlichen Grundversorgung u. a. die Gefahren und Risiken der Umweltverschmutzung zu berücksichtigen. 145 Vgl. dazu noch hinten, 3. Kap., A. I. 1. c) aa). 146 Vgl. Kiss, in: Environmental change and international law, 199 (199); Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 155 f. 147 Siehe Cançado Trindade, in: Environmental change and international law, 244 (271 ff.).
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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Auf das Konzept der Wirkungen „erga omnes“ wird im Verlauf der Untersuchungen noch ausführlicher in Bezug auf seine mögliche Rolle im Rahmen völkerrechtlicher Entwicklungsprozesse zurückzukommen sein148. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sich auch in den Wirkungen „erga omnes“ die fortschreitende Universalisierung des Völkerrechts äußert. Dies, indem den isolierten Interessen der einzelnen Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft anerkanntermaßen Werte und Interessen der gesamten Menschheit gegenübergestellt werden. Mit dieser Entwicklung hat sich das moderne Völkerrecht noch weiter von der bloßen Koexistenzordnung des klassischen Völkerrechts entfernt149.
3. Innerstaatliche Wirkungen des Völkerrechts Das Konzept des „ius cogens“ ist zunächst deutlichster Ausdruck einer mit dem Wandel des Souveränitätsgedankens sich mehr und mehr einstellenden innerstaatlichen Wirkung des Völkerrechts150. Besonders ausgeprägt kommt dies in der schweizerischen Bundesverfassung zum Ausdruck, die zwingendes Völkerrecht ausdrücklich als materielle Schranke künftiger Verfassungsrevisionen bezeichnet151 und damit die betreffenden Kerngehalte der Völkerrechtsordnung über nationales Recht jeglicher Stufe stellt152. Indessen wird es auch über diesen spezifischen (und relativ beschränkten) Bereich von Regeln mit höchster normativer Bedeutung hinaus zunehmend zu einem Merkmal des modernen Völkerrechts, dass für die beteiligten Staaten Verpflichtungen entstehen, die gerade auch innerstaatliches Handeln erfordern. Die materiellen Bereiche, die von solcher innerstaatlichen Wirkung des Völkerrechts potentiell erfasst werden153, haben sich dabei in gleichem Maße ausgeweitet wie sich das Verständnis der internen Souveränität der Staaten gewandelt hat. Dieser Wandel lässt sich auch an der abnehmenden Bedeutung des Begriffs des sogenannten „domaine réservé“ ablesen, mit dem jene Bereiche des inner___________ 148
Siehe dazu insb. im 5. Kap., C. I. Vgl. auch Carrillo-Salcedo, in: RdC 1996, 35 (140 f., 146). 150 Doehring, Völkerrecht, 17, bezeichnet es sogar ganz grundsätzlich als „Selbstverständlichkeit“, dass das Völkerrecht auch die innerstaatliche Beachtung seiner Normen fordert. 151 Siehe Art. 139 Abs. 2, Art. 193 Abs. 4 und Art. 194 Abs. 2 BV. 152 Dazu Thürer, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 179 (183 ff.). 153 Vgl. für eine entsprechende Aufzählung etwa Cottier, in: SZIER 1999, 403 (416 ff.), der Beispiele aus den Bereichen des Menschenrechtsschutzes, des humanitären Völkerrechts, des Völkerstrafrechts, der Praxis des Sicherheitsrats zu Kapitel VII der UNO-Charta, des Umweltvölkerrechts sowie der sog. „good governance“ nennt. 149
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
staatlichen Rechts bezeichnet werden, die alleinige Angelegenheiten der einzelnen Staaten sind und demnach von völkerrechtlicher Normierung ausgeschlossen154. Während es nach früherem Verständnis letztlich die einzelnen Staaten selbst waren, die diesen Bereich je für sich definierten, kann heute ein solcher „domaine réservé“ nur in dem Ausmaß existieren, als das Völkerrecht überhaupt dafür Raum lässt. Dabei ist wesentlich, dass das Völkerrecht heute in verschiedener Weise Normen kennt, die für einen bestimmten Staat auch dann gelten, wenn er diese nicht ausdrücklich anerkannt hat155. So kann sich beispielsweise ein Staat nicht durch die Erklärung, er habe nie zugestimmt, von der innerstaatlichen Wirkung der zwingenden Normen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ausschließen156. Auf dieser Basis argumentierte auch eine Entscheidung des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien aus dem Jahr 1998: Im sogenannten Furundzija-Urteil157 hielt das Gericht fest, die zwingende völkerrechtliche Norm des Folterverbots wirke sich nicht nur auf zwischenstaatliche Rechtsverhältnisse aus (indem etwa bei einem Verstoß gegen „ius cogens“ völkerrechtliche Verträge nichtig sind), sondern auch auf das innerstaatliche Recht sowie auf die Rechtsstellung des Einzelnen. So resultiere aus dem zwingenden Charakter des Folterverbots, dass innerstaatlichen Rechtsakten, die gegen diese Norm verstießen, die völkerrechtliche Anerkennung zu verwehren sei158. Deutlich wird die angesprochene Entwicklung außerdem, wenn völkerrechtliche Vereinbarungen unmittelbar darauf hinzielen, die Vertragsstaaten zu innerstaatlichen Maßnahmen zu verpflichten159. Von Bedeutung ist dabei, dass in ___________ 154 Zum Begriff ebd., 403 (408 ff.), m.w.N. Spezifisch zum Verschwinden des „domaine réservé“ im Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (170 f.); zur Kollision des Konzepts des „domaine réservé“ mit der Tatsache heutiger globaler Interdependenz außerdem Perrez, Cooperative Sovereignty, 150 ff. 155 Dazu allgemein Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 ff. 156 Zur Bedeutung von völkerrechtlichem „ius cogens“ in diesem Zusammenhang ebd., 195 (306 f.). 157 Abgedruckt in ILM 38 (1999), 317 ff. 158 Siehe Para. 155 f. des Urteils. Entsprechend könnten sich gemäß dem Urteil etwa Einzelne, die der Folter verdächtigt werden, nicht durch Berufung auf solche innerstaatliche Rechtsakte rechtfertigen. Zum Entscheid etwa Oeter, in: LA Wildhaber, 499 (506 f.); Paulus, in: Nordic Journal of International Law 2005, 297 (319). 159 Dies bedeutet noch nicht, dass das Völkerrecht unmittelbar in den innerstaatlichen Rechtsordnungen anwendbar sein solle. Vielmehr steht es den verpflichteten Staaten in der Regel frei, wie sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen im Einzelnen nachkommen, was keine direkte Übernahme des Völkerrechts ins nationale Recht voraussetzt. Ein entsprechendes allgemeines Gebot kennt das Völkerrecht jedenfalls nicht; möglich ist aber immerhin in einem konkreten Fall eine vertragliche Pflicht zur unmittelbaren Anwendung. Siehe entsprechend Doehring, Völkerrecht, 17 f.
C. Die Universalität des Völkerrechts als globale Kooperationsordnung
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bestimmten Bereichen des Völkerrechts, so gerade beim Umweltschutz160 und beim Menschenrechtsschutz161, durch völkerrechtliche Normierung Anliegen aufgegriffen werden, deren Bedeutung sich nicht auf den einzelnen Staat beschränkt, sondern zunehmend als von universeller Tragweite zu begreifen sind. Dabei ist es oftmals gerade das Handeln im innerstaatlichen Bereich, das darüber entscheidet, ob einem konkreten Problem wirksam begegnet werden kann. – Das Völkerrecht liefert einen häufig unabdingbaren, aber kaum jemals ausreichenden Rahmen.
___________ 160 Ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine Problematik von globaler Tragweite einen völkerrechtlichen Normierungsprozess auslöst, dessen Wirksamkeit jedoch gleichzeitig entscheidend davon abhängt, ob und in welchem Ausmaß konkrete Handlungspflichten auf der innerstaatlichen Ebene resultieren, findet sich im Bereich des Umweltschutzes mit dem völkerrechtlichen Klimaregime: Entscheidend für den Erfolg der völkerrechtlichen Bemühungen um den Schutz des Klimas ist letztlich, dass die verpflichteten Staaten auf der innerstaatlichen Ebene die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Zielsetzungen der völkerrechtlichen Ebene zu verwirklichen. Der Beitrag des Völkerrechts besteht darin, von den verpflichteten Parteien ein Handeln auf der innerstaatlichen Ebene mit dem Ziel bestimmter, dem einzelnen Staat zurechenbarer Wirkungen zu verlangen (im gegebenen Fall insbesondere einer Senkung bzw. – ja nach angesprochenem Staat – Stabilisierung der nationalen Treibhausgasemissionen). Die Klimaproblematik wird im 4. Kap., C., noch eingehend unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für die vorliegend untersuchten Entwicklungen des Völkerrechts behandelt werden. 161 Im Kontext des Klimaschutzes geht es darum, durch die Vorgabe nationaler Handlungspflichten ein globales Anliegen wahrzunehmen; die innerstaatliche Wirkung des Völkerrechts ist insofern das Mittel zur Erreichung eines primären Ziels auf der übergeordneten Ebene eines die Gemeinschaft betreffenden Problems. Demgegenüber kann die Zielsetzung völkerrechtlicher Regelungen aber auch in den innerstaatlichen Wirkungen an sich bestehen. Diese gehen besonders weit, wenn die Rechtsstellung des einzelnen Individuums ins Blickfeld des Völkerrechts rückt.
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
D. Zusammenfassung Das vorliegende 1. Kapitel hat einen Überblick über die Entwicklungslinien vermittelt, entlang derer sich das Völkerrecht zu einer universellen Rechtsordnung im heute gültigen Sinn ausgebildet hat. Danach stellt das Völkerrecht heute eine rechtliche Ordnung dar, die allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft in gleicher Weise Schutz bieten soll, unter der allgemeinen Zielsetzung, so wirksam wie möglich die grundlegenden Menschheitsinteressen zu wahren. Insofern, als das geltende Völkerrecht auf einer universalistischen Konzeption aufbaut, zeigt ein historischer Rückblick, dass sich Ansätze für ein derartiges Rechtsverständnis bereits erstaunlich früh finden lassen. Im theologisch und philosophisch fundierten Denken der herausragenden Vertreter frühklassischer Völkerrechtslehre wie Francisco de Vitoria und Francisco Suárez, aber auch Hugo Grotius oder Christian Wolff bildete die universelle Gemeinschaft der gesamten Menschheit den Horizont für die Geltung des „ius gentium“. Dabei führte die Suche nach den theologischen, naturrechtlichen und moralischen Geltungsgründen des Völkerrechts zur Erkenntnis, dass die Völkergemeinschaft ein objektiver Maßstab der Gerechtigkeit verbinde, der im gemeinsamen Wohl zu sehen sei. Mit dem Gedanken des vom Völkerrecht zu gewährleistenden Gemeinwohls als Richtschnur für die Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Staaten untereinander war außerdem die Einsicht verbunden, dass zwischen der Christenheit und der übrigen Welt grundsätzlich ein gleichberechtigtes Verhältnis bestand. Die Entwicklungen der Weltgeschichte wie auch des Völkerrechts selbst folgten derartigen theoretischen Entwürfen in keiner Art und Weise. Aus dem Blickwinkel einer Betrachtungsweise, die nach der Universalität des Völkerrechts fragt, erweist sich Letzteres bis in das 20. Jahrhundert hinein vielmehr als eine höchst einseitige, an den partikulären Interessen bestimmter Staaten orientierte Ordnung. So liest sich die Geschichte des modernen Völkerrechts als eine solche der Ausbreitung christlich-europäischer Rechtsvorstellungen, gestützt auf die Hegemonie der europäischen Mächte, welche mit dem Beginn der kolonialen Eroberung globale Ausmaße annahm. Die Anschauung, die internationale Gemeinschaft sei keineswegs allumfassend, sondern eine geschlossene, faktisch auf die christlich-europäischen Staaten beschränkte Gesellschaft, prägte die völkerrechtliche Praxis über das 19. Jahrhundert hinaus bis zum Ende des klassischen Völkerrechts. Punktuelle faktische Veränderungen in der Zusammensetzung der Völkerrechtsgemeinschaft hatten zwar dazu geführt, dass die Zugehörigkeit zur Christenheit als Kriterium für die Mitgliedschaft im privilegierten Kreis der „Völkerfamilie“ durch die Zurechnung zu den zivilisierten Nationen abgelöst worden war. Indessen blieb
D. Zusammenfassung
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es dabei, dass nach dem Rechtsverständnis des „europäischen Völkerrechts“ der überwiegenden Mehrheit der Völker und Gemeinwesen die Rechtsfähigkeit abgesprochen wurde, mit allen schlimmen Folgen für den „nichtzivilisierten“ Teil der Menschheit. Welche Konsequenzen die Tatsache nach sich zog, dass das klassische Völkerrecht der Durchsetzung der partikulären Interessen einiger Weniger gewidmet war, zeigt sich am krassesten an den Beispielen des Sklavenhandels und der territorialen Besitzergreifung durch die europäischen Kolonialmächte. Von den humanistisch inspirierten Modellen einer universell gültigen Rechtsordnung, die sich dem gemeinsamen Wohl aller Völker verpflichtet sieht, war die Wirklichkeit zu jenem Zeitpunkt denkbar weit entfernt. Soweit tatsächlich eine völkerrechtliche Ordnung bestand, beschränkte sich ihr Zweck im Wesentlichen darauf, die Interessensphären unter den politisch einflussreichen Mächten im Rahmen einer misstrauischen Koexistenz abzugrenzen. Die entscheidenden Veränderungen in Richtung einer nachhaltigen Öffnung des Völkerrechts spielten sich im 20. Jahrhundert ab, letztlich ausgelöst durch die Erfahrung zweier Weltkriege innert kurzer Zeit. In der zeitgenössischen völkerrechtlichen Lehre begannen sich zur Zeit des Ersten Weltkriegs erste theoretische Ansätze für ein erneuertes Völkerrechtsverständnis abzuzeichnen. Diese schlossen aus der Erkenntnis einer zunehmenden internationalen Interdependenz auf die Notwendigkeit einer Interessensolidarität unter den Staaten (Schücking). Der einsetzende Bewusstseinswandel erfolgte zwar noch mit einer gewissen Zögerlichkeit, wie sich am Beispiel eines der prominentesten Vertreter der Völkerrechtstheorie (Oppenheim) zeigen lässt; auch in der Völkerbundssatzung als Ausdruck des unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herrschenden Konsenses unter den Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft fand dies seinen Niederschlag. Der von Autoren wie Schücking propagierte Gedanke vom Völkerrecht als Grundlage einer globalen Friedensordnung wurde durch den Ausbruch eines neuerlichen Weltkrieges zunächst ebenso ad absurdum geführt wie der Völkerbund als organisatorisches Fundament für die Friedenssicherung versagt hatte. Andererseits zeigte es sich, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der begonnene völkerrechtliche Entwicklungsprozess erst recht beschleunigt wurde. Zunächst entstand mit der Charta der Vereinten Nationen jener nachhaltig wirkende rechtliche und institutionelle Rahmen, der die Grundlagen für die weitere Universalisierung der Völkerrechtsordnung zu bilden vermochte, aufbauend auf der Gleichberechtigung unter den Völkern, der umfassenden Achtung der Menschenrechte, der Erneuerung des Friedensziels der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft und der Festigung des Völkerrechts als Mittel zur Friedenserhaltung. Die dem Völkerrecht aufgetragene Zielsetzung wie auch die Öffnung des völkerrechtlichen Gemeinschaftsgedankens lassen sich darin ablesen, dass in Bezug auf die Voraussetzung zur Mitgliedschaft in der organisierten Völker-
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1. Kap.: Die universelle Geltung des Völkerrechts
rechtsgemeinschaft der Vereinten Nationen nunmehr von „friedliebenden“ Staaten die Rede war. Eine wesentliche Hürde, die sich der endgültigen Durchsetzung des Gedankens der universellen Geltung und Legitimation des Völkerrechts noch in den Weg stellte, bildete freilich die Tatsache, dass die koloniale Beherrschung einer Vielzahl von Völkern nach wie vor nicht überwunden war. Der Prozess der Entkolonialisierung brachte diesbezüglich die Wende, die es vielen Völkern erst ermöglichte, in der Völkerrechtsgemeinschaft eine eigenständige Position als Sachwalter ihrer eigenen Interessen einzunehmen. Zu den grundlegenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gehört außerdem ganz wesentlich, dass das Koexistenzvölkerrecht (dessen einziger Zweck darin bestanden hatte, die Interessensphären der verschiedenen Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft möglichst wirkungsvoll untereinander abzugrenzen) angesichts der immer deutlicher werdenden Interdependenz der Staaten durch das Kooperationsvölkerrecht abgelöst wurde. Die rechtliche Ermächtigung einer Vielzahl von Nationen im Gefolge der Entkolonialisierung trug ebenfalls in erheblichem Maß dazu bei, dass das Völkerrecht nicht mehr als Angelegenheit relativ weniger Staaten begriffen werden konnte, sondern sich zu einer Ordnung des kooperativen Interessenausgleichs unter universeller Beteiligung entwickelte. Zentral für das moderne, solchermaßen neu orientierte Völkerrecht ist der Gedanke, der Abschied vom bloßen Koexistenzrecht sei eine zwingende Folge der Tatsache, dass die isolierten Einzelinteressen der Staaten nunmehr durch gemeinsame Interessen überlagert würden (Friedmann). Die Universalität der modernen Völkerrechtsordnung äußert sich besonders deutlich in verschiedenen konkreten Wirkungsweisen, die allesamt auch einen grundlegenden Wandel des völkerrechtlichen Souveränitätskonzepts widerspiegeln. Als solche, den Geltungsbereich des Völkerrechts für den einzelnen Staat betreffende Phänomene lassen sich das zwingende Völkerrecht („ius cogens“), die Geltungskraft bestimmter völkerrechtlicher Verpflichtungen gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft („erga omnes“) sowie die Einwirkungen völkerrechtlicher Regelung auf die Sphäre des innerstaatlichen Rechts hervorheben. Bei der Anerkennung zwingenden Völkerrechts wie auch von Wirkungen „erga omnes“ fungiert in der Rolle des Leitmotivs die Feststellung, dass Werte und Interessen existieren, die allen Staaten gemeinsam sind und insofern die Universalität der Völkerrechtsgemeinschaft reflektieren. Auch im Schrumpfungsprozess jenes Bereichs des nationalen Rechts, der als alleinige Angelegenheit des einzelnen Staats und daher von völkerrechtlicher Normierung ausgeschlossen betrachtet wird, kommt die stetige Universalisierung des Völkerrechts zum Ausdruck: Die Universalität bzw. Globalität von Problemen verlangt zunehmend nach der Universalität auch der Geltung völkerrechtlicher Lösungsansätze. Vor diesem Hintergrund verfestigt sich der Konsens, dass in den ein-
D. Zusammenfassung
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schlägigen Bereichen die Wirkung des Völkerrechts nicht mehr durch Vorbehalte im Sinne des Konzepts vom „domaine réservé“ ausgeklammert werden darf.
2. Kapitel
„Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess A. „Globalisierung“ als Herausforderung des Völkerrechts Auch wenn ihre genauen Konsequenzen im Einzelnen noch Diskussionen aufwerfen mögen, so besteht doch Einigkeit in Bezug auf die allgemeine Bedeutung und Tragweite der soeben kurz umrissenen Entwicklungsschritte des Völkerrechts. Sie verkörpern mit ihren jeweiligen spezifischen Implikationen die veränderten Wirkungsweisen des Völkerrechts, das im Zuge der politischen und sozialen Prozesse des 20. Jahrhunderts und auf der Grundlage eines sich zunehmend öffnenden Souveränitätsverständnisses einen umfassenden Wandel durchlaufen hat. Insoweit baut das moderne Völkerrecht auf Grundlagen auf, die sich im Laufe der Entwicklung des 20. Jahrhunderts zunehmend konsolidiert haben. Indessen mehren sich heute die Hinweise darauf, dass das Völkerrecht in einem weiteren Entwicklungsprozess begriffen ist, dem ebenfalls die Dimension eines Wandels mit weitreichenden Auswirkungen zukommen könnte. Jedenfalls wird diesbezüglich nach dem zuvor umrissenen Entwicklungsschritt vom Koexistenz- zum Kooperationsrecht von einem erneuten völkerrechtlichen Paradigmenwechsel gesprochen1. Der Wandel, den das völkerrechtliche Konzept der Souveränität im Laufe des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat, ist unmittelbar mit der Einsicht verknüpft, dass immer stärker werdende gegenseitige Abhängigkeiten der Staaten bestehen. Die Erfahrung einer globalen Ausdehnung der politischen Herausforderungen spiegelt sich unter anderem im Begriff der „Globalisierung“ wider. Im Laufe der letzten Jahre in schon fast inflationärer Weise in Gebrauch gekommen, bezeichnet der Ausdruck verschiedenste Phänomene internationaler Vernetzung, ja sogar eines „tiefgreifenden weltpolitischen Wandels“2. Dabei ist es ___________ 1
Siehe etwa Kadelbach, in: ZaöRV 2004, 1 (13); Petersmann, in: LA Oppermann, 367 (368). 2 Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (14). Der Prozess der Globalisierung begann freilich keineswegs von heute auf morgen, sondern beruht historisch auf verschiedensten Ursa-
A. „Globalisierung“ als Herausforderung des Völkerrechts
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gerade die staatliche Souveränität, die erneut im Zentrum eines Veränderungsprozesses zu stehen scheint3: Während dem Phänomen der Globalisierung die verschiedensten Erscheinungsformen zugerechnet werden, geht es letztlich durchweg darum, dass – gerade wegen des transnationalen Rahmens der diversen angesprochenen Aspekte – von einem „Ausbruch des Politischen aus dem kategorialen Rahmen des Nationalstaates“4 die Rede ist: „Globalisierung meint (...) die Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden“.5
Mit anderen Worten bildet den Kern des Phänomens der Globalisierung ein Bedeutungsverlust des souveränen Nationalstaats6, ja sogar der Vorgang einer eigentlichen „Denationalisierung“ bzw. „Entstaatlichung“7. Unter den verschie___________ chen, die sich dabei in jüngerer Zeit gegenseitig ergänzen und wohl auch potenzieren; s. für eine derartige historische Betrachtungsweise etwa Mazlish, in: IJGLS 1999, 5 (5 f.). Unabhängig von den neuen Dimensionen, welche die Globalisierung im 20. Jahrhundert erreicht hat, ist zudem auch daran zu erinnern, dass deren Ursprünge sehr viel weiter zurückreichen; vgl. Kamto, in: Revue Hellénique de Droit International 2000, 457 (458). So weist Fisch, Europäische Expansion und Völkerrecht, 475, darauf hin, dass als erster Ausdruck von Globalisierung die Entwicklung im 15. Jahrhundert betrachtet werden kann, die den Anfang der europäischen Expansion bildete: „Die europäische überseeische Expansion hat die Welt zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert in einen einheitlichen Kommunikationszusammenhang verwandelt.“ Auch insofern, als mit dem Begriff der Globalisierung auf die Tatsache einer Bewusstseinserweiterung hingewiesen wird, passt dieses Anfangsphänomen einer beginnenden Globalisierung ins Bild. Dies, indem es aus europäischer Sicht wesentlich mit der Revolutionierung des aus der Antike übernommenen Weltbildes verbunden war; s. dazu Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, 64 ff. 3 Siehe zu den spezifischen Auswirkungen des Globalisierungsprozesses auf die staatliche Souveränität Jayasuriya, in: IJGLS 1999, 425 ff.; Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 55 ff.; Šimonovi , in: Georgia Journal of International and Comparative Law 2000, 381 ff. 4 Beck, Globalisierung, 13. 5 Ebd., 28 f. In dieser Richtung auch Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (16), der als „politisches Strukturmuster der Globalisierung“ das „Auftreten transnationaler Akteure, die Entstehung neuartiger, weil jenseits der Souveränitätslogik liegender völkerrechtlicher Problemlagen sowie das Schwinden von Ansatzpunkten staatlicher Integration“ nennt. 6 Vgl. Hobe, in: AVR 1999, 253 (269). 7 Vgl. Aman, in: IJGLS 1999, 397 (407 ff.); Auby, in: Mélanges Jeanneau, 563 (563 f.); Delbrück, in: IJGLS 1993, 9 (11); Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 35 ff.; Hobe, in: AVR 1999, 253 (257); Kamto, in: Revue Hellénique de Droit International 2000, 457 (459); Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (586 f.). Siehe außerdem auch Habermas, in: Postnationale Konstellation, 91 ff.; Hobe, in: Der Staat 1998, 521 (522); Sur, in: EJIL 1997, 421 (429). Vgl. aber auch die kritischen Bemerkungen zur Denationalisierungsthese von Dunne, in: IJGLS 1999, 17 (23 ff.). Andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Globalisierung keineswegs einen Rückgang staatlicher Regulierung mit sich bringe, s. Koller, in: ZSR NF 2000 II, 313 (320). Der Bedeutungsverlust
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
densten Bereichen, in denen eine derartige Entwicklung geortet wird, steht häufig die Sichtweise der Globalisierung als ökonomisches Phänomen im Vordergrund8. Andere genannte Bereiche9 sind jene der Kommunikation und des Transports, der Gesellschaft, der Kultur, der Politik sowie der Ökologie; unter dem Eindruck des Anschlags auf das New Yorker World Trade Center vom 11. September 2001 wurde zudem auch der grenzüberschreitende Terrorismus als Ausdrucksform von Globalisierung bezeichnet10. Dabei ist freilich evident, dass die verschiedenen Dimensionen oftmals eng zusammenhängen11, was insbesondere für die ökonomischen sowie die ökologischen Aspekte der Globalisierung hervorzuheben ist. Letztere – von Dolzer als „strikt negativ zu bewertende Form der Globalisierung“ bezeichnet12 – bilden auch das vielleicht wichtigste Beispiel dafür, wie sich politische Entscheidungsprozesse auf der internationalen Ebene wandeln; dies, indem durch die Offensichtlichkeit glo-
___________ des Nationalstaats auf der internationalen Ebene muss freilich nicht zwangsläufig auch zu einem Abbau innerstaatlicher Regulierung führen, so dass hier kein Widerspruch vorzuliegen braucht. Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (27), weist zudem auf gleichzeitig bestehende „Renationalisierungstendenzen“ hin, was bedeute, dass sich einzelne Staaten verstärkt darum bemühten, ihre „Machtpositionen zu sichern bzw. auszubauen oder Macht- und Souveränitätseinbußen abzuwehren oder zu kompensieren“. 8 Siehe etwa Anghie, in: NYUJILP 2000, 243 (246 ff.); Bovet, in: ZSR NF 2000 II, 277 (283 ff.); Hofstetter, in: ZSR NF 2000 II, 361 (365 ff.); Stern, in: Role of Law in International Politics, 247 (247 ff.). Regelmäßig wiederkehrende Stichworte sind dabei das außerordentliche Wachstum internationaler Märkte, die Internationalisierung der Produktion (insbesondere im Sinne einer globalen Verlagerung der Produktionsstandorte nach Wirtschaflichkeitskriterien), eine Zunahme des internationalen Kapitalverkehrs sowie eine Tendenz zu Privatisierung und Liberalisierung. Vgl. zu den wirtschaftlichen Implikationen der Globalisierung auch Cottier/Wüger, in: Herausgeforderte Verfassung, 241 (247 ff.); Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (18 f.); Koller, in: ZSR NF 2000 II, 313 (317 ff.). 9 Zu den verschiedenen Facetten des Globalisierungsphänomens allgemein nur etwa Auby, in: Mélanges Jeanneau, 563 (564 ff.); Beck, Globalisierung, 37 ff.; Cottier/Wüger, in: Herausgeforderte Verfassung, 241 (247 ff.); Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (15 ff.); Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (38 f.); Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 19 ff.; Hobe, in: AVR 1999, 253 (253 ff.); Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 13 ff.; Mazlish, in: IJGLS 1999, 5 ff.; Šimonovi , in: Georgia Journal of International and Comparative Law 2000, 381 (385 ff.). 10 So durch Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (2). 11 Was etwa Mazlish, in: IJGLS 1999, 5 (6), betont. 12 Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (39), unter Hinweis auf die sechs globalen Problemfelder des Klimawandels, des Abbaus der Ozonschicht, des Verlusts der Biodiversität, der Bedrohung der Wälder, der Verschlechterung der Qualität internationaler Gewässer sowie der Ausbreitung wüstenartiger Gebiete; dies im Gegensatz etwa zu Formen der Globalisierung in den Bereichen der Wirtschaft und der Kultur, die problematische Aspekte aufweisen, aber nicht durchwegs negativ zu bewerten sind.
A. „Globalisierung“ als Herausforderung des Völkerrechts
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baler Problemlagen13 nicht nur der Zwang zur internationalen Zusammenarbeit weiter verstärkt wird, sondern sich auch die daran beteiligten Akteure vermehren, da neben den Staaten zunehmend Nichtregierungsorganisationen eine starke Rolle spielen14. Dies wird auch als Entwicklung hin zu einer globalen Zivilgesellschaft gedeutet15, wobei Voraussetzung hierfür eine Globalisierung der politischen Öffentlichkeit ist, mit einem entsprechenden, weitgehend durch die Massenmedien hergestellten öffentlichen Bewusstsein der Globalität politischer Abläufe16. Während die Kernbedeutung oder das „politische Strukturmuster“17 sowie die diversen Erscheinungsformen der Globalisierung einigermaßen benennbar erscheinen, besteht allerdings eine Vielzahl unterschiedlicher Einschätzungen in Bezug auf die Tragweite und die Folgen des Phänomens. Dabei rufen die ökonomischen Aspekte der Globalisierung die deutlichsten Differenzen hervor; umstritten ist hier insbesondere die Frage, welche Vor- und Nachteile die wirtschaftliche Globalisierung mit sich bringt18. Gerade aus der Sicht der ___________ 13 Beck, Globalisierung, 73 ff., spricht dabei vom Entstehen einer „Weltrisikogesellschaft“. 14 Die zunehmende Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als politische Akteure zeigt sich ausgeprägt in den Bereichen des internationalen Menschenrechtsschutzes sowie des Umweltschutzes; vgl. Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (16 f.). Umfassend zur Rolle der NGOs in Foren der internationalen Umweltpolitik Oberthür et al., Participation of Non-Governmental Organisations in International Environmental Governance; s. ferner Gillespie, in: RECIEL 2006, 327 ff., sowie Gupta, in: ZaöRV 2003, 459 ff. Allgemein zur sich entwickelnden Bedeutung der NGOs im Völkerrecht etwa Charlesworth/Chinkin, Boundaries of International Law, 88 ff., 99 ff.; Hobe, in: IJGLS 1997, 191 ff.; ders., in: AVR 1999, 152 ff.; Kamminga, in: State, Sovereignty, and International Governance, 387 ff.; Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (576 f.); Slaughter, in: RdC 2000, 9 (96 ff.); Suy, in: State, Sovereignty, and International Governance, 373 (374 ff.); Thürer, in: Non-State Actors as New Subjects of International Law, 37 (41 ff.). 15 Vgl. Charlesworth/Chinkin, Boundaries of International Law, 90 ff.; Müller, in : KJ 2004, 194 (199 ff.); Thürer, in: Non-State Actors as New Subjects of International Law, 37 (54); s. auch (v.a. in Bezug auf die Herausbildung einer internationalen Zivilgesellschaft im Bereich des Systems der Vereinten Nationen) von Schorlemer, in: Lexikon der Vereinten Nationen, 199 (201 f.). 16 Siehe dazu Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (19 ff.). Chinkin, in: Role of Law in International Politics, 131 (131 ff.), spricht in diesem Zusammenhang von den zwei Ebenen einer Globalisierung „von oben“ (durch wirtschaftliche Akteure), der eine solche „von unten“ (durch eine sich entwickelnde internationale Zivilgesellschaft) gegenüberstehe (unter Bezugnahme auf Falk, in: Transnational Law and Contemporary Problems, 333 ff.); vgl. zu diesem Aspekt auch Mertus, in: NYUJILP 2000, 537 (547 ff.). 17 Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (16). 18 Vgl. bspw. Mertus, in: NYUJILP 2000, 537 (547 ff.), die darauf hinweist, dass mit der wirtschaftlichen Globalisierung neue Formen von Abhängigkeit entstehen, nunmehr verstärkt auf einer transnationalen Ebene. Kritisch zu den Auswirkungen gerade im weiteren Bereich des Schutzes der Menschenrechte äußert sich auch Alston, in: EJIL 1997, 435 (442 ff.). Siehe demgegenüber für eine (an den Ansprüchen und Interessen
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
wirtschaftlich benachteiligten Staaten des Südens wirkt sich diese oftmals negativ aus, verstärke sie doch die bereits bestehenden Ungleichgewichte gegenüber den Industriestaaten des Nordens19. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun von Bedeutung, dass der Begriff der Globalisierung – bei aller Unklarheit insbesondere hinsichtlich der tatsächlichen Wirkungen des Phänomens – in direkte Beziehung zur derzeitigen Entwicklung des Völkerrechts gesetzt wird20. Einerseits wird dabei angemerkt, dass bestimmte Grundlagen der Globalisierung gerade durch die Entwicklung des Völkerrechts gelegt wurden21: So seien im Laufe der Entwicklung des Völkerrechts zu einem „Kooperationsvölkerrecht“ jene institutionellen Rahmenbedingungen entstanden, die überhaupt erst globales Handeln ermöglichen. Andererseits wird Globalisierung als entscheidender Faktor eines völkerrechtlichen Entwicklungsprozesses verstanden, der im Zuge einer zunehmenden Notwendigkeit globaler Regelung22 zur Entstehung universeller Verfassungsstrukturen führe23.
___________ der Industrienationen orientierte) ausgesprochen positive Sichtweise bspw. Henkel, in: VN 1995, 193 ff. 19 Siehe dazu die Ausführungen von Aginam, in: IJGLS 2000, 603 ff.; Anghie, in: NYUJILP 2000, 243 (246 ff., m.w.N.); Fidler, in: IJGLS 1999, 191 ff. Beck, Globalisierung, 20 ff., weist außerdem darauf hin, dass auch in den Industrienationen lediglich eine Minderheit vom mit der Globalisierung in Zusammenhang gebrachten Wirtschaftswachstum profitiere. 20 Siehe allgemein etwa von Bogdandy, in: ZaöRV 2003, 853 ff.; Cottier/Hertig, in: Max Planck UNYB 2003, 261 (267 ff.); Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 137 ff.; Hobe, in: AVR 1999, 253 ff.; Kadelbach, in: ZaöRV 2004, 1 ff. 21 Vgl. Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (29 ff.). 22 Vgl. Cottier/Wüger, in: Herausgeforderte Verfassung, 241 (243). 23 Siehe etwa Biaggini, in: ZSR NF 2000 I, 445 (453); Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 199 f. Nach Hobe, in: AVR 1999, 253 (281), wirkt sich die Globalisierung zugunsten der Entstehung eines „Weltinnenrechts“ aus.
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre
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B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre I. Einleitung Angesprochen ist damit eine Entwicklung, die sich auf der Ebene des Völkerrechts abspielt, dabei aber – so die (zahlenmäßig laufend zunehmenden) Vertreter des diesbezüglichen Theorieansatzes – Züge tragen soll, die begrifflich nur durch eine Anleihe bei der bislang dem nationalen Recht vorbehaltenen, dem internationalen Recht dagegen verschlossenen Kategorie des Verfassungsrechts1 erfassbar scheinen. So ist es in der völkerrechtlichen2 Literatur mittlerweile geläufig3, vom Einzug eines völkerrechtlichen „Verfassungsgedankens“4 auszugehen und damit von einer „Konstitutionalisierung“ bzw. „constitutionalization“5 der völkerrechtlichen Ordnung oder – allgemeiner noch – von „grenzüberschreitenden Konstitutionalisierungsprozes___________ 1 Tatsächlich galten die Begriffe der Verfassung und des Völkerrechts lange als nicht miteinander vereinbar, weil grundsätzlich unterschiedlichen Sphären zugehörig; s. Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (555 f.). 2 Aus philosophischer Sicht zudem etwa Habermas, in: Der gespaltene Westen, 113 ff. Von einer internationalen Verfassungsordnung ist ferner heute zuweilen auch in anderen Bereichen internationalen Rechts die Rede, so etwa bezüglich des internationalen Privatrechts; s. dazu Grundmann, in: RIW 2002, 329 (insb. 331), der Verfassungsrecht als „Grundordnung aller Bereiche des Rechts, des öffentlichen wie des Privatrechts“ versteht, um dann auch für das internationale Privatrecht eine Ordnung zu skizzieren, die institutionelle und materielle Verfassungsfragen beantworte. 3 Vgl. zum Folgenden etwa auch Biaggini, in: ZSR NF 2000 I, 445 (450 ff.); Bryde, in: Der Staat 2003, 61 ff.; Cottier/Hertig, in: Max Planck UNYB 2003, 261 (275 ff.); de Wet, in: ICLQ 2006, 51 ff.; Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (5, 8 f.); ders., in: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 231 (241 f., 249 ff.); Fischer-Lescano, in: ARSP 2002, 349 ff.; ders., in: ZaöRV 2003, 717 ff.; Hingst, Auswirkungen der Globalisierung, 199 f.; Kadelbach, in: ZaöRV 2007, 599 (606 f.); Kotzur, in: AVR 2004, 353 (370 ff.); Paulus, in: ZaöRV 2007, 695 (697 ff.); Pernice, in: FS Tomuschat, 973 (978 ff.); Peters, in: GYIL 2001, 25 (35 f.); Ruiz Fabri/Grewe, in: Etudes Gautron, 189 (196 ff.); Schilling, Constitutionalization of General International Law; Thürer, in: SZIER 1995, 455 (456 ff.); Uerpmann, in: JZ 2001, 565 ff.; Walter, in: GYIL 2001, 170 ff. Ausdrücklich ablehnend gegenüber der Annahme einer Konstitutionalisierung der internationalen Gemeinschaft bzw. des Völkerrechts hingegen Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (577). Kritische Positionen vertreten auch etwa Haltern, in: AöR 2003, 511 ff., sowie Kälin, in: recht 2005, Sonderheft, 42 (insb. 45 ff.). 4 Vgl. Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (3 f.). 5 Vgl. zur Verwendung des Begriffs der „Konstitutionalisierung“ bzw. „constitutionalization“ etwa Cass, in: EJIL 2001, 39 ff.; Cottier (Michael), in: SZIER 1999, 403 (412 f.); Fassbender, in: Lexikon der Vereinten Nationen, 492 (494 f.); Frowein, in: RdC 1994-IV, 345 (355 ff.); ders., in: BerDGV 1999, 427 (passim); Giegerich, in: ZaöRV 1995, 713 (717); Grewlich, Konstitutionalisierung des „Cyberspace“, 54; Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (79).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
sen“6 zu sprechen. Der gleichen begrifflichen Ebene entstammt außerdem ein ganzer Reigen von Bezeichnungen, mit welchen das allfällige Resultat einer derartigen Entwicklung umschrieben wird: So ist etwa die Rede von „konstitutionellen Regelungssystemen“7, der „evolving constitution of the international community“8, von „punktuellen, allmählich entstehenden neuen globalen Verfassungsstrukturen“9, von „international constitutional law“10, von „Verfassungsvölkerrecht“11, von „universalem Verfassungsrecht“12, von einem „Recht der Weltgemeinschaft“13, einem „Verfassungsrecht“14 bzw. der „Verfassung“15 der (universellen) Völkerrechtsgemeinschaft, der „Verfassungsordnung“ des Völkerrechts16 oder sogar von einem „Weltinnenrecht“17 sowie einer sich abzeichnenden „Weltverfassung“18 bzw. „Globalverfassung“19. Mit diesen Bezeichnungen inhaltlich verwandt ist außerdem der in der völkerrechtlichen Literatur ebenfalls immer häufiger auftretende Begriff eines „international public order“20. Ist hier von den Stimmen die Rede, die zur Entstehung einer derartigen Verfassungsbegrifflichkeit des Völkerrechts beitragen, so ist damit grundsätzlich eine neuere Entwicklung gemeint, die im Wesentlichen in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass vereinzelte Autoren den Begriff der Verfassung schon vor Jahrzehnten in die völkerrechtliche Diskussion ein-
___________ 6
So die Bezeichnung eines im Jahr 1999 abgehaltenen Symposiums des MaxPlanck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Vgl. zum Begriff etwa Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 (901). 7 Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (438 f.). 8 Handl, in: Development and Developing International and European Law, 59 (59). 9 Cottier (Thomas)/Wüger, in: Herausgeforderte Verfassung, 241 (242). 10 So bereits Friedmann, Changing Structure of International Law, 153 ff.; außerdem Allott, in: EJIL 1999, 31 (insb. 37 f.). 11 Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (5); Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 185 f. 12 Lücke, in: AVR 1997, 1 (passim). 13 Cottier (Michael), in: SZIER 1999, 403 (415). 14 Bleckmann, in: EuGRZ 1994, 149 (154 f.). 15 Siehe Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 13 ff., wo von der „Verfassung der universellen Völkerrechtsgemeinschaft“ die Rede ist. 16 Bleckmann, in: EuGRZ 1994, 149 (154); Thürer, in: SZIER 1995, 455 (456). 17 Zu dieser Frage etwa Hobe, in: Der Staat 1998, 521 (522), m.w.N. 18 So etwa Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (21); Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 32 ff. und passim, spricht abwechselnd vom Völkerrecht als „Weltverfassungsrecht“ sowie als „Weltverfassung“, die durch bestimmte völkerrechtliche Normen gebildet werde. 19 Fischer-Lescano, in: ZaöRV 2003, 717 ff. 20 Entsprechende deutschsprachige Bezeichnungen sind „internationaler“ bzw. „völkerrechtlicher ordre public“; vgl. hierzu noch hinten in diesem Kap., B. III. 3. b) bb), mit den diesbezüglichen Nachweisen.
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre
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brachten. Als Beispiel sei hier zum einen auf Lassa Oppenheim aufmerksam gemacht, der in seinen Überlegungen zur Zukunft des Völkerrechts nach dem Ersten Weltkrieg ausführte, die Durchführung periodischer Friedenskonferenzen reiche zur dauerhaften Sicherung des Friedens nicht aus, sondern die internationale Gemeinschaft müsse sich selbst mit einer Verfassung ausstatten21. Auch Alfred Verdross schließlich sprach bereits in der Zwischenkriegszeit von einer „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“22. Er verstand darunter „jene Normen, die den Aufbau, die Gliederung und die Zuständigkeitsordnung“ der durch das Völkerrecht begründeten Gemeinschaft23 festschreiben. Mit der Verwendung des Verfassungsbegriffs solle zum Ausdruck gebracht werden, dass „auch das Völkerrecht keine bloße Sammlung von einzelnen Bruchstücken ist, die keinen inneren Zusammenhang aufweisen, sondern eine harmonische Ordnung von Normen bildet, die in einer einheitlichen Grundordnung verankert sind“24.
Die zwischen den zuvor aufgezählten Begriffen bestehenden semantischen Nuancen weisen darauf hin, dass die verschiedenen Autorinnen und Autoren vom Resultat des Konstitutionalisierungsprozesses mit unterschiedlichem Optimismus und auch mit mehr oder weniger Zurückhaltung sprechen. Auf der einen Seite der Bandbreite befinden sich hier solche Standpunkte, die (erst) von sich punktuell und allmählich bildenden verfassungsähnlichen Strukturen ausgehen; gewissermaßen auf der gegenüberliegenden Seite der Meinungsskala liegt die Annahme einer sich gegenwärtig (bereits) entwickelnden oder gar schon entstandenenen – wie auch immer im Einzelnen verstandenen – „Weltverfassung“. Zwischen solchen Ansätzen besteht zumindest auf den ersten Blick eine doch erhebliche Differenz. Es soll hier das Augenmerk indessen weniger auf die konkrete Begrifflichkeit gerichtet werden als vielmehr auf die in den angeführten Hinweisen zum Ausdruck kommende Gemeinsamkeit, dass eine bestimmte Tendenz beobachtet, beschrieben und auf ihre Relevanz für die Zukunft des Völkerrechts hin analysiert wird. In Bezug auf Letzteres schwingt jedenfalls selbst in der vorsichtigsten Wortwahl die Erkenntnis mit, dass der fragliche Prozess ein tiefgreifender ist. In den nachfolgenden Abschnitten wird ___________ 21 Siehe Oppenheim, Future of International Law, 18 ff. Der Autor versah seine Forderung mit einer Liste von neun Punkten, die in einer Verfassung der internationalen Gemeinschaft geregelt sein müssten. Im Vordergrund stand dabei, den Staaten ihre gleichberechtigte Rolle bei der Beteiligung an den Friedenskonferenzen zu sichern. Dies sollte etwa durch die Festschreibung von eigentlichen Diskursrechten geschehen: „Every participant state has the right to be heard at the Conferences, to bring forward proposals, to make motions, and to speak on the proposals and motions of other participants.“ (Ebd., 19, Regel 4). Oppenheim legte sodann Wert auf die Feststellung, dass eine derartige Verfassung in keiner Weise die nationale Souveränität oder die Gleichheit unter den Staaten beeinträchtigen würde (ebd., 20). 22 So der Titel eines im Jahre 1926 erschienenen Werks von Verdross. Zum Folgenden s. auch den Kommentar von Suy, in: FS Bernhardt, 267 (268 ff.). 23 Verdross, Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, V. 24 Ebd.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
noch im Einzelnen zu verfolgen sein, welche diversen Merkmale mit diesem Prozess effektiv in Verbindung gebracht werden. Festzuhalten bleibt vorläufig – und hierin besteht die Anknüpfung an die im 1. Kapitel skizzierten Entwicklungslinien des modernen Völkerrechts: Offenbar soll es sich um einen Vorgang handeln, der sich nicht nur ganz wesentlich an der Konzeption einer universellen Geltungskraft des Völkerrechts anlehnt. Sondern die explizite begriffliche Anleihe bei der Kategorie des Verfassungsrechts lässt darüber hinaus antönen, dass bestimmte mit der Universalität des Völkerrechts verbundene Vorstellungen noch weiter vorangetrieben werden sollen. Als derartige Aspekte, welche durch die Verfassungsterminologie impliziert werden, lassen sich insbesondere nennen: eine nochmals intensivierte Bezugnahme auf den Gemeinschaftsgedanken als Basis der Völkerrechtsordnung; eine weitere Verdichtung des normativen Rahmens der internationalen Gemeinschaft; eine zusätzliche Betonung der Abstützung auf gemeinsame Werte und Ziele.
II. Materieller und formeller Konstitutionalisierungsbegriff 1. Die Regel: ein offener materieller Verfassungsbegriff Der Frage nach dem Gegenstand des Verfassungsrechts der internationalen Gemeinschaft wird in der Literatur in der Regel ein an materiellen Gesichtspunkten orientierter und damit grundsätzlich offener Verfassungsbegriff zugrundegelegt. Die Verwendung des Konstitutionalisierungsbegriffs für die Beschreibung eines völkerrechtlichen Prozesses erfolgt dabei in einer Weise, welche die Bedeutung von „Verfassung“ nicht auf eine formale Quelle reduziert, sondern die Rechtsnatur und die Funktion der fraglichen Regeln in den Vordergrund stellt25. In welchen Ausgestaltungen diese Sichtweise der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung auftritt, wird sich noch bei der Betrachtung der Aussagen zeigen, die sich in der völkerrechtlichen Lehre zu den verschiedenen materiellen Bereichen finden26. An dieser Stelle sei erst auf die gemeinsame Linie hingewiesen, welche diese Positionen zu verbinden scheint. Danach sollen jene Regeln, welchen für die internationale Gemeinschaft eine konstitutionelle Tragweite zukommt, aus der Gesamtheit der Völkerrechtsnormen geschöpft ___________ 25
Vgl. Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (217). Auf dieser Grundlage dürfte u. a. auch die Position von Allott, in: EJIL 1999, 31 (37 f.), beruhen; zu dessen Ansatz auch noch hinten in diesem Kap., B. III. 3. a). In dieselbe Richtung ging etwa auch schon die Völkerrechtstheorie von Georges Scelle, der im Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Verfassungsbegriff auf die Substanz und nicht auf die Form der entsprechenden Regeln abstellte; s. dazu Diggelmann, Anfänge der Völkerrechtssoziologie, 211. 26 Siehe anschließend in diesem Kap., B. IV.
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre
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werden27. Maßgebend für die tatsächliche Zurechnung einer Regel zu den Normen mit konstitutionellem Charakter sollen dabei sowohl deren Inhalt als auch deren Zweck im Rahmen der betreffenden völkerrechtlichen Teilordnung sein28. Welche konkreten Grundsätze dabei jeweils in den unterschiedlichsten Bereichen in Frage kommen, wäre dann auf der Grundlage noch zu definierender Kriterien zu bestimmen. Als Beispiel dafür, dass eine „Verfassung“ keineswegs von vorneherein mit einem bestimmten formellen Dokument gleichzusetzen ist, wird regelmäßig das nationale Verfassungsrecht Großbritanniens angeführt29. Dies wird mit dem Hinweis ergänzt, dass eine (allfällige) Verfassung der internationalen Gemeinschaft dem britischen System30 insofern ähneln würde, als die Völkerrechtssubjekte nie zusammengekommen sind, um bewusst eine rechtliche Grundlage zu schaffen, in welcher die wichtigsten Regeln der internationalen Gemeinschaft wiedergegeben sind31. Hinzufügen ließe sich dem, dass auch in einem Verfassungssystem, das an sich eine geschriebene höchste Rechtsquelle kennt, neben den positivrechtlich niedergelegten Grundsätzen weiteres ungeschriebenes Verfassungsrecht existieren kann32.
___________ 27
Vgl. Hintersteininger, in: Völkerrechtsordnung und Völkerrechtsethik, 55 (75). Zu diesem Maßstab des materiellen Verfassungsbegriffs vgl. Hoffmeister, in: Der Staat 2001, 349 (351). 29 Vgl. etwa Aubert, in: Espace constitutionnel européen, 15 (20 f.); ausführlicher zu den damit verbundenen Fragen Ridley, in: Espace constitutionnel européen, 37 ff. Ein weiteres Beispiel stellt die Verfassungsordnung Israels dar, s. Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. 30 Das keine kodifizierte und damit in einem autoritativen Text niedergelegte Verfassung kennt. Sondern das britische Verfassungsrecht besteht aus einem Konglomerat von als grundlegend und daher als verfassungsmäßig betrachteten Regeln, die verschiedenen Quellen entstammen. Vgl. dazu Barendt, Introduction to Constitutional Law, 33: „It is a jumble of diffuse statutes and court rulings, supplemented by extra-legal conventions and practices.“ 31 Siehe Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (218 f.); vgl. dazu auch Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 21. 32 Wie die schweizerische Verfassungspraxis nachdrücklich belegt, in der ungeschriebenes Recht traditionell eine wichtige Rolle spielt; s. hierzu anstelle vieler nur die grundlegenden Ausführungen von Huber, in: Rechtsquellenprobleme im schweizerischen Recht, 95 ff. Hier hat das Bundesgericht unter der alten Bundesverfassung von 1874 das geschriebene Recht in bedeutender Weise weiterentwickelt, so namentlich durch die Anerkennung einer Reihe von ungeschriebenen Grundrechten (persönliche Freiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Sprachenfreiheit sowie zuletzt Recht auf Existenzsicherung). Zum Ausdruck kommen dabei, wie Müller, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 621 (623), schreibt, die sich wandelnden Bedürfnisse und Rechtsüberzeugungen der Rechtsgemeinschaft. Die richterlichen Konkretisierungen des Grundrechtskatalogs sind mittlerweile in der seit dem 1.1.2000 geltenden neuen Bundesverfassung von 1999 inkorporiert. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Schließung von Verfassungslücken sowie die Konkretisierung des Geschriebenen auch weiterhin eine bedeutende Rolle spielen werden. Die einen Autoren 28
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
2. Die Ausnahme: die UNO-Charta als Anknüpfungspunkt eines formellen Verfassungsbegriffs Demgegenüber wird nun aber teilweise auch ein eingeschränkter völkerrechtlicher Verfassungsbegriff verwendet33, dessen Anknüpfungspunkt die Charta der Vereinten Nationen bildet. Die UNO-Charta wird dabei nicht nur als ein Bestandteil (nebst anderen) einer materiellen Gesamtverfassung34 betrachtet, sondern als formelle Hauptquelle der Verfassungsordnung des Völkerrechts, als die eigentliche „constitution of the international community“35. ___________ gehen hiervon aus, indem sie auf die weiterhin bestehenden offenen Formulierungen im Bereich der Grundrechte hinweisen; s. Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Demgegenüber prognostiziert Müller, a.a.O., 621 (623), die Bedeutung ungeschriebener Grundrechte werde „in der neuen Verfassung eher gering bleiben, da der Text im Grundrechtsbereich eigentliche Generalklauseln aufweist, die eine Fortbildung des Grundrechtsschutzes innerhalb des Wortlauts der Verfassung ermöglichen“. Das Phänomen ungeschriebenen Verfassungsrechts spielt im Übrigen auch in den Verfassungssystemen anderer Staaten eine bedeutende Rolle; zum deutschen Verfassungsrecht vgl. zuletzt etwa Schäfer, Ungeschriebene Freiheitsrechte, 13 ff., 103 ff., sowie Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, passim; zum italienischen und zum französischen Verfassungsrecht Ponthoreau, Reconnaissance des droits non-écrits, passim. 33 Desweitern wird der Begriff der Verfassung teilweise auch verwendet, um jene Verträge zu bezeichnen, welche weitere wichtige internationale Organisationen „konstituieren“. Beispiele hierfür bilden etwa die ILO, die FAO oder die WHO. Vgl. dazu Petersmann, in: FS Steinberger, 291 (302); allgemein zum konstitutionellen Charakter solcher Statuten außerdem Suy, in: FS Bernhardt, 267 ff. 34 Vgl. Frowein, in: RdC 1994-IV, 345 (355 ff.). In dieser Richtung auch der Ansatz von Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 21, der dabei die allgemeinen materiellen Verfassungsgrundsätze in den Vordergrund rückt, denen die UNO-Charta unterworfen sei (ebd., 35). Letzterer stützt sich dabei auf eine Unterscheidung, die er bereits in seinem frühen Werk den Überlegungen zur völkerrechtlichen „Verfassung“ zugrundegelegt hatte; s. Verdross, Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, V: „Unter dem Ausdrucke ‚Verfassung‘ versteht man bald eine Verfassungsurkunde (Verfassung im formellen Sinne), bald jene Normen, die die Grundordnung einer Gemeinschaft regeln (Verfassung im materiellen Sinne) oder aus diesen bloß die oberste Norm oder Normengruppe, die Grundnorm (Verfassung im ‚rechtslogischen‘, rechtssystematischen Sinne).“ 35 So insbesondere Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (passim). Der Autor geht bei seiner Einschätzung der UNO-Charta davon aus, diese erfülle alle wesentlichen Kriterien, die idealerweise eine Verfassung ausmachten (a.a.O., 569 ff.); eine zentrale Rolle kommt dabei der Funktion des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen als Organ zu, das der Durchsetzung der in der UNO-Charta niedergelegten Verfassungsordnung dient. Siehe zum Ganzen auch ders., UN Security Council Reform, insb. 89 ff., sowie ders., in: EuGRZ 2003, 1 (5). Zur Bedeutung des Sicherheitsrates als zentrales Verfassungsorgan der Charta auch Frowein, in: RdC 1994-IV, 345 (355 ff.). Vgl. zur Verfassungsqualität der Charta zudem Dupuy, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law 1997, 1 ff., der freilich auch darauf hinweist, dass der Bezeichnung der UNOCharta als die Verfassung der internationalen Gemeinschaft auch ein metaphorischer Aspekt innewohne (a.a.O., 30). Kritisch zur Verfassungsqualität der Charta äußert sich Paulus, Internationale Gemeinschaft, 286 ff., 318, der auf die (mit Ausnahme der Be-
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Dies schließt zwar nicht völlig aus, dass neben den in der UNO-Charta niedergelegten (Verfassungs-)Grundsätzen weiteres materielles Verfassungsrecht besteht. Denn der Ansatz anerkennt, dass ein weitergehender (und nach wie vor andauernder) Konstitutionalisierungsprozess im Gang sei, wodurch die Charta als (primäre) Verfassungsquelle materiell ergänzt werde. Indessen bringt die Zuerkennung eines formellen Verfassungsstatus der Charta bestimmte dogmatische Konsequenzen in Bezug auf diese inhaltliche Weiterentwicklung mit sich36: Grundsätze, deren Verfassungsqualität in Erwägung gezogen wird, – seien es nun in bestimmten völkerrechtlichen Verträgen37 niedergelegte Regeln, solche des Völkergewohnheitsrechts oder allgemeine Rechtsgrundsätze – sollen danach gegenüber der UNO-Charta akzessorischen Charakter haben. Zur materiellen internationalen Verfassungsordnung gehörten also jene Grundsätze außerhalb der UNO-Charta, welche die dort enthaltenen Regeln und Zielsetzungen inhaltlich konkretisieren und/oder weiterentwickeln. Dem dabei entstehenden Bild einer Hierarchie mit der Charta an der Spitze entspricht, dass diese auch jederzeit gegenüber einem derogierenden Einfluss sonstigen Rechts immun sein soll38. Die Charta soll demnach für die Völkerrechtsgemeinschaft eine ähnliche Leitfunktion einnehmen, wie sie auf nationaler Ebene der nationalen Verfassung zukommt. ___________ fugnisse des Sicherheitsrats) mangelnde „institutionelle Vergemeinschaftung“ im Rahmen der Vereinten Nationen hinweist. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 221, bezeichnen die UNO-Charta als „gegenwärtige Verfassung der universellen Völkerrechtsgemeinschaft“, wobei aber nicht klar ersichtlich ist, wie sie deren Verhältnis zu sonstigen, nicht explizit in der Charta aufgeführten materiellen Verfassungsprinzipien sehen (vgl. ebd., 59 ff. und 72, sowie die Position von Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 35). Franck, in: LA Eitel, 95 ff., bejaht den konstitutionellen Charakter der UNO-Charta auf der Basis einer Unterscheidung zwischen (bloß) normativen und konstitutiven Instrumenten (die insofern qualifiziert normativ seien, als sie sich dadurch auszeichneten, dass sie einen Gesellschaftsvertrag zwischen Personen bzw. – hier – Staaten im Hinblick auf einen ständigen Interaktionsprozess bildeten). Danach erfülle die Charta die vier wesentlichen Kriterien einer konstitutiven Übereinkunft: (a) Beständigkeit in dem Sinne, dass ein Rückzug vom Vertrag nicht vorgesehen bzw. nur beschränkt möglich ist; (b) Dauerhaftigkeit, indem Änderungen nur unter besonders qualifizierten Voraussetzungen vorgenommen werden können; (c) Vorrang des konstitutiven Instruments gegenüber allen anderen Übereinkünften; (d) institutionelle Selbständigkeit, indem die Charta mit dem Sekretariat, der Generalversammlung und insbesondere dem Sicherheitsrat drei Organe vorsehe, die mit bestimmten eigenständigen (d. h. nicht von der Zustimmung aller im Einzelfall konkret Betroffenen abhängigen) Handlungskompetenzen im Interesse der Gemeinschaft ausgestattet seien. 36 Zum Folgenden Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (588). 37 Fassbender, ebd., nennt beispielsweise die beiden UNO-Menschenrechtspakte sowie die Genozidkonvention. 38 So ausdrücklich Franck, in: LA Eitel, 95 (98 f.), unter Hinweis auf Art. 103 UNOCharta.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
III. Konstitutionalisierung als strukturelle Entwicklung des Völkerrechts Richtet sich der Blick auf die Frage, welche verschiedenen Elemente mit dem beobachteten Prozess der Herausbildung von Verfassungsstrukturen des Völkerrechts in Verbindung gebracht werden, so zeigt sich, dass zwei hauptsächliche Argumentationsweisen unterschieden werden können. Zum einen wird die Feststellung eines Konstitutionalisierungsprozesses mit dem Hinweis auf bestimmte materielle Entwicklungen des Völkerrechts untermauert; zum andern werden aber auch Entwicklungen genannt, die sich als Veränderungen der allgemeinen Strukturen sowie bestimmter allgemeiner Grundlagen des Völkerrechts verstehen lassen. Auf beides ist im Folgenden einzugehen, wobei zuerst die strukturellen Argumente beleuchtet werden sollen, ergeben sich doch aus diesen gewisse Vorgaben für die in der Literatur genannten materiellen Kriterien39.
1. Das gewandelte völkerrechtliche Souveränitätskonzept als strukturelle Ausgangslage Die Basis, auf der überhaupt an eine Entwicklung völkerrechtlicher Verfassungsstrukturen gedacht werden kann, wird zunächst in ganz grundlegender Weise durch den Wandel der völkerrechtlichen Souveränität40 gebildet. Diese Feststellung wird in der Völkerrechtslehre in verschiedener Weise konkretisiert. So etwa durch den Hinweis, der zunehmende Abbau des sogenannten „domaine reservé“41, also eines Bereichs von Materien, die als in der alleinigen Regelungskompetenz der Staaten liegend und demnach von völkerrechtlicher Normierung von vorneherein ausgeschlossen betrachtet werden, bilde einen Ausdruck von Konstitutionalisierung42. Insofern wird im Zusammenhang mit dem Wandel des völkerrechtlichen Souveränitätskonzepts auch von einer zunehmenden „Permeabilität“ des Staates gegenüber Entwicklungen im internatio-
___________ 39 Zur Konstitutionalisierung als materielle Entwicklung des Völkerrechts daher anschließend in diesem Kap., B. IV. 40 Zum Wandel völkerrechtlicher Souveränität schon im 1. Kap., C. II. Zum Zusammenhang zwischen diesem Wandel und der Konstitutionalisierung des Völkerrechts neben den nachfolgend genannten Nachweisen auch Fassbender, in: Lexikon der Vereinten Nationen, 492 (494 f.). 41 Dazu auch im 1. Kap., C. II. 3. 42 Vgl. Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (170); in dieser Richtung auch Cottier, in: SZIER 1999, 403 (408 ff.), der außerdem die Wirkung bestimmter völkerrechtlicher Prinzipien für den innerstaatlichen Bereich als Kriterium der Konstitutionalisierung hervorhebt (ebd., 413, 415).
B. Konstitutionalisierung als Topos der Völkerrechtslehre
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nalen Umfeld und einem Abbau dessen „Souveränitätspanzers“ gesprochen43. Diesbezüglich ergibt sich ein erster Hinweis darauf, dass sich im Konstitutionalisierungsprozess die bereits vor längerem begonnene Loslösung – Emanzipation, wenn man so will – des Völkerrechts vom alles bestimmenden Willen der Staaten als wichtigste Völkerrechtssubjekte weiter akzentuieren soll44.
2. Ausdruck der gemeinsamen Interessen bzw. des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft Sowohl das Konzept des zwingenden Völkerrechts als auch jenes der Verpflichtungen „erga omnes“ gründen bereits auf dem Gedanken45, dass in der Gemeinschaft der Staaten gemeinsame Interessen existieren, deren rechtliche Durchsetzung besonders wichtig, ja im Falle der hinter dem „ius cogens“ stehenden grundlegenden Werte sogar absolut unerlässlich ist. Die Beachtung, die gemeinsame Interessen und Werte der internationalen Gemeinschaft damit in Völkerrechtstheorie und -praxis bereits erfahren haben, verstärkt sich nun im Rahmen des Konstitutionalisierungsdiskurses noch deutlich46. Abgesehen von der allgemeinen Feststellung, dass die Wirkung „erga omnes“, die grundlegenden Rechten und Pflichten zugeschrieben wird, an sich schon ein Indiz für den Vorgang der Konstitutionalisierung sei47, soll insofern den Allgemeininteressen bzw. dem Gemeinwohl der Staatengemeinschaft eine immer deutlichere Rolle zukommen. So wird die Orientierung an gemeinschaftlichen Interessen bzw. ___________ 43
Siehe Bothe, in: BerDGV 1999, 449 (Diskussionsbeitrag), der dabei allerdings nicht von einer Voraussetzung, sondern von einer Folge der Konstitutionalisierung spricht. 44 Vgl. auch Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (31), wonach der „Weg zum internationalen Verfassungsrecht“ als Ausdruck von Tendenzen der Völkerrechtsentwicklung zu verstehen sei, „die über das nach wie vor souveränitätszentrierte Kooperationsrecht hinausweisen“. 45 Siehe bereits im 1. Kap., C. II. 2. Vgl. zudem etwa Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (32). 46 Kritisch zum Konzept einer „Werteordnung“, die mit dem Konstitutionalisierungsprozess verbunden werde, äußert sich allerdings Schöbener, in: KJ 2000, 557 (insb. 577 ff.). Danach sei die Berufung auf grundlegende Werte der Rechtsordnung nicht zuletzt ein rhetorisches Mittel zur Rechtfertigung des (zum Schutz der Menschenrechte vom Autor als problematisch eingestuften) Instruments der humanitären Intervention (a.a.O., 578). 47 Siehe Nolte, in: ZaöRV 1999, 941 (948), unter Bezugnahme auf Frowein, in: RdC 1994-IV, 345 (423 ff.). Vgl. zudem Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (591 ff.); Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (14); in Bezug auf den Teilbereich des Umweltvölkerrechts auch Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 174. Zumindest implizit in dieser Richtung wohl auch Cottier, in: SZIER 1999, 403 (413), der als Kriterium für den Beitrag eines völkerrechtlichen Prinzips zur „verfassungsmäßigen Werteordnung“ u. a. dessen Verbindlichkeit für alle Völkerrechtssubjekte nennt.
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am Gemeinwohl als ein wesentliches Kriterium und daher als ein Maßstab der verschiedenen damit in Verbindung gebrachten materiellen Entwicklungen betrachtet48. Der Richter des IGH Alvarez betonte schon im Jahre 1951, im Rahmen seiner abweichenden Meinung zum Rechtsgutachten des IGH betreffend die Frage der Zulässigkeit von Vorbehalten zur Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes49, bestimmte multilaterale Übereinkommen mit universeller Geltung (insbesondere solche zum Schutz der Menschenrechte) bildeten Bestandteile einer entstehenden internationalen Verfassungsordnung, weil sie sich neben ihrer universellen Geltung unter anderem gerade folgendermaßen auszeichneten: „They are not established for the benefit of private interests but for that of the general interest (...)“50. Während diese Aussage ihrer Zeit weit vorauseilte, wird die „Zunahme von Normen, die ein gemeinsames Interesse der Staatengemeinschaft verkörpern“51 heute immer verbreiteter als Kennzeichen des Entstehens von verfassungsähnlichen Strukturen der modernen Völkerrechtsordnung bezeichnet. Der Ansatz, Allgemeininteressen oder das Gemeinwohl der Staatengemeinschaft als Ausdruck der Verfassung der internationalen Gemeinschaft zu begreifen52, wird außerdem mit dem Gedanken verknüpft, dass den Konstitutionalisierungsprozess so etwas wie die Entstehung einer „objektiven Wertordnung“53 kennzeichnet. Dieser Vorgang wird verschiedenen völkerrechtlichen Bereichen zugeschrieben, so namentlich dem Gewaltverbot (das die Rolle einer Grundnorm für die gesamte Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen spielt) sowie dem Schutz der Menschenrechte54. Der Hinweis auf grundlegende Werte impliziert dabei auch, dass der Konstitutionalisierungsprozess als eine in eminenter Weise qualitative Entwicklung gesehen wird. In diesem Zusammenhang wird auch ___________ 48 So ausdrücklich Hintersteininger, in: Völkerrechtsordnung und Völkerrechtsethik, 55 (76). Deutlich in dieser Richtung auch Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 34, 37 f., 67, die sich dabei auf Rawls, in: Idee der Menschenrechte, 53 (62), bezieht. 49 Advisory Opinion: Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, ICJ Reports 1951, 15 ff. 50 ICJ Reports 1951, 49 (51). 51 Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (78 f.). 52 So ausdrücklich etwa Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (428; 446, These 1); Hintersteininger, in: Völkerrechtsordnung und Völkerrechtsethik, 55 (75 f.); Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 34, 37 f., 67, unter ständiger Bezugnahme auf Rawls, in: Idee der Menschenrechte, 53 (62). In dieser Richtung auch Cottier, in: SZIER 1999, 403 (412 f.); in Bezug auf den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz Giegerich, in: ZaöRV 1995, 713 (717 f.). 53 Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (insb. 14, 21). 54 Siehe ebd., 8 ff.
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betont, dass sich der Konstitutionalisierungsbegriff abhebe von einem Verständnis des Völkerrechts als reines Koordinationssystem, das einzig auf dem Willen der Staaten aufbaut und darüber hinaus (in extremster Sichtweise) nicht an höhere Werte gebunden ist55. Die als Merkmal der Konstitutionalisierung festgestellte zunehmende Orientierung des Völkerrechts an grundlegenden Werten, die allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft gemeinsam sein sollen, führt gar zu Bezeichnungen wie „Wertegemeinschaft“ und „soziale Ordnung des Völkerrechts“56.
3. Auswirkungen auf die völkerrechtliche Normenhierarchie a) Systematische Vorrangstellung des Völkerverfassungsrechts Beim Aspekt der Orientierung an gemeinsamen Werten setzt im Zusammenhang mit der Konstitutionalisierungsthese auch die Feststellung an, dass das Völkerrecht einer verstärkten Hierarchisierung57 unterliege. So beschreibt Philip Allott das internationale Recht als hierarchisch gestuftes System, das aus den drei Ebenen des internationalen Verfassungsrechts bzw. Völkerverfassungsrechts, des allgemeinen Völkerrechts sowie des Rechts der Nationen als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft bestehe58. Dabei wird dem Völkerverfassungsrecht gegenüber den beiden anderen Ebenen eine systematische Vorrangstellung zugeschrieben, die sich über das allgemeine Völkerrecht auch in konkreter Weise bis auf das nationale Recht auswirke. Ein wesentliches Kennzeichen des derart gestalteten internationalen Rechtssystems ist im von Allott entwickelten Modell die Ausrichtung am allgemeinen Wohl der Gesell___________ 55
Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (428). Vgl. auch Handl, in: FS Ginther, 59 (82 f.), der von einem Primat der grundlegenden Werte der internationalen Gemeinschaft als Ausdruck der Verfassungsordnung der internationalen Gemeinschaft spricht. 56 Siehe Hofmann, in: BerDGV 1999, 452 ff. (Diskussionsbeitrag); dabei soll der mit dem Konstitutionalisierungsprozess assoziierten objektiven Wertordnung eine universell bindende Wirkung zukommen, hätten sich doch alle Staaten zur Durchsetzung dieser Werte verpflichtet. In dieser Richtung auch die Argumentation von Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (21). 57 Für einen Überblick zur Diskussion über die völkerrechtliche Hierarchisierungsthese Shelton, in: AJIL 2006, 291 ff.; vgl. außerdem etwa de Wet, in: ICLQ 2006, 51 (57 ff.). Auf kritische Aspekte im Zusammenhang mit einer Hierarchie völkerrechtlicher Normen weisen Weiler/Paulus, in: EJIL 1997, 545 ff., hin: Einerseits erscheint die Existenz eines einheitlichen, hierarchisch gestalteten Rechts als eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der gemeinsamen Werte der internationalen Gemeinschaft; andererseits bestehen aber auch (v.a. kulturell bedingte) Wertkonflikte, welche die Akzeptanz einer Hierarchie des internationalen Rechts nachhaltig erschweren (s. insb. 564 f.). 58 Vgl. Allott, in: EJIL 1999, 31 ff. (insb. 37 f.); ders., Health of Nations, 297 ff.
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schaftsmitglieder. Dieses soll sowohl die gemeinsamen Interessen der verschiedenen vom System umfassten gesellschaftlichen Subsysteme als auch aller menschlichen Individuen umfassen: „The international legal system, as a systematic totality, (...) reconciles the respective common interests of all subordinate societies with the common interest of all human beings in the survival and prospering of the human species (...).“59
Auf die Hinwendung zu den gemeinsamen Interessen soll mithin die Hierarchie des Völkerrechts und die Herausbildung völkerverfassungsrechtlicher Grundsätze zurückgehen. Oberster Bezugspunkt des Völkerrechts wären danach nicht mehr – wie noch in einem vorwiegend am Souveränitätsprinzip orientierten System – die einzelnen Staaten, sondern die dem Gemeinwohl aller Mitglieder verpflichtete Völkerrechtsgemeinschaft60. Im Zusammenhang mit Stimmen, welche die hierarchische Vorrangstellung eines völkerverfassungsrechtlichen Normbestands betonen, ist auch auf den bereits von Alfred Verdross vertretenen Ansatz hinzuweisen, die wichtigsten Grundsätze der völkerrechtlichen Normbildung als Verfassungsregeln der internationalen Gemeinschaft aufzufassen. Solche seien in jenen Regeln zu erkennen, „die uns sagen, welche Personen als Erzeuger und Adressaten von völkerrechtlichen Normen in Betracht kommen, ferner jene, die bestimmen, in welchem Verfahren diese Normen gebildet werden können, schließlich die Norm, welche uns darüber Auskunft gibt, ob dem Normeninhalt bestimmte Grenzen gezogen sind (jus cogens)“61. Diese Regeln werden von ihm als die „notwendigen Normen“ des völkerrechtlichen Verfassungsrechts bezeichnet, dies im Gegensatz zu den „anderen verfassungsrechtlichen Normen“, welche die fundamentalen Rechte und Pflichten der Staaten im Umgang untereinander enthalten und die dabei der spezifischen Zielsetzung der Erhaltung des Friedens dienen62. Regeln der völkerrechtlichen Rechtserzeugung soll also nach Verdross zum einen der Vorrang innerhalb eines bestimmten Bestandes von verfassungsrechtlichen Normen (der die „notwendigen“ sowie die „anderen“ Verfassungsnormen umfasst) zukommen. Zum anderen impliziert dies weiter, dass der Korpus verfassungsrechtlicher Normen auch gegenüber allen weiteren, nicht mit verfassungsrechtlichem Rang ausgestatteten (da keine fundamentalen Rechte und Pflichten der Staaten statuierenden und insofern gewöhnlichen) Be___________ 59 Allott, in: EJIL 1999, 31 (38); ders., Health of Nations, 299. Vgl. auch bereits ders., Eunomia, 3 ff. 60 Vgl. auch Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (170), der dabei auch auf den Zusammenhang zur Entstehung einer Normenhierarchie hinweist. 61 Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 21. Vgl. hierzu auch Ginther, in: FS Verdross, 91 (92), wonach die „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ jene Grundsätze bilden, „die von den Staaten als Voraussetzung einer rechtlichen Regelung ihrer Beziehungen ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt“ worden sind. 62 Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 21, 31 ff.
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stimmungen des Völkerrechts eine hierarchisch übergeordnete Stellung einzunehmen hat.
b) Faktoren der Hierarchisierung Der Gedanke einer völkerrechtlichen Normenhierarchie findet sich im Übrigen in verschiedenen weiteren Beobachtungen, die in der Literatur im Zusammenhang mit der Konstitutionalisierungsthese beschrieben werden.
aa) Ablehnung einzelstaatlicher Vorbehalte gegen völkerrechtliche Verträge mit Gemeinwohlrelevanz Dies gilt zunächst einmal für die Feststellung, dass der Konstitutionalisierungsprozess bestimmte Auswirkungen auf die Praxis von Staaten, zu völkerrechtlichen Verträgen Vorbehalte anzubringen, mit sich bringe: Vor allem im Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes63, in Ansätzen aber auch des Umweltvölkerrechts64, stoßen Vorbehaltserklärungen einzelner Staaten zu in multilateralen Abkommen enthaltenen missbeliebigen Regeln auf zunehmenden Widerspruch durch andere Vertragsparteien. Derartige Opposition kann einerseits gegen tatsächlich deklarierte Vorbehalte erwachsen, andererseits mehren sich die Beispiele für völkerrechtliche Verträge, die solche einseitige Änderungen des Vertragsinhalts ausdrücklich von vornherein ausschließen65. Einen wesentlichen Grund dieser Tendenz dürfte die sich immer stärker verwurzelnde Einsicht der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft bilden, dass die entsprechenden völkerrechtlichen Regeln gerade allgemeinen Interessen dienen. Nationale Vorbehalte gründen demgegenüber auf partikulären Interessen einzelner Staaten und sind daher mit der effektiven Verfolgung des All-
___________ 63 Hierzu Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (437), sowie Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 187 ff., m.w.N. Allgemein zur Problematik der Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen zudem auch Frowein, in: FS Skubiszewski, 403 (405 ff.); spezifisch zu den Problemstellungen im Bereich des Menschenrechtsschutzes Giegerich, in: ZaöRV 1995, 713 ff., sowie Lorz, in: Der Staat 2002, 29 ff. 64 Vgl. Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (17 f.). 65 Kokott, ebd. (Fn. 52), nennt verschiedene umweltvölkerrechtliche Abkommen, so etwa Art. 18 Ozonschichtkonvention, Art. 24 Klimakonvention, Art. 37 Biodiversitätskonvention sowie Art. 39 des Cartagena-Protokolls über biologische Sicherheit. Aus dem Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes (im weiteren Sinn) sind außerdem etwa Art. 120 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs sowie Art. 19 Minenverbotskonvention zu nennen.
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gemeininteresses nicht vereinbar66. Soweit die Herausbildung einer völkerrechtlichen Hierarchie der Normen zur Debatte steht, impliziert die einseitige Ablehnung völkerrechtlicher Regeln schließlich immer auch eine Durchbrechung derselben; dies ist gerade dann besonders relevant, wenn es sich bei den fraglichen Prinzipien um solche mit allfälliger konstitutioneller Ausstrahlung handelt.
bb) Begriff eines „internationalen ordre public“ Im Zusammenhang mit der Hierarchisierungsthese fällt die Aufmerksamkeit außerdem auf den Begriff eines „internationalen ordre public“ bzw. „international public order“67. Damit werden zusammenfassend jene völkerrechtlichen Prinzipien oder Regeln bezeichnet, deren Durchsetzung für die internationale Gemeinschaft von höchster Bedeutung sind68. Insofern als sich der Begriff also gewissermaßen auf den rechtlichen Grundstock der internationalen Gemeinschaft bezieht, überschneidet sich seine Bedeutung offensichtlich mit jenem der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung69, wobei allerdings die genaue Abgrenzung offen bleibt. So bezeichnet Juliane Kokott den internationalen „ordre public“ einerseits als „Bestandteil eines sich entwickelnden internationalen Verfassungsrechts“70, andererseits spricht sie davon, der Konstitutionalisierungsprozess und das damit zusammenhängende Konzept übergeordneter Gemeinschaftsinteressen bildeten den „Rahmen für Erwägungen über einen völkerrechtlichen ordre public“71. Insofern ist unklar, welcher der beiden Begriffe nun unter Bezugnahme auf den andern definiert werden könnte. Festzuhalten sind aber jedenfalls die Parallelen, welche zwischen dem Begriff eines „völker___________ 66 Vgl. auch Kokott, ebd., wonach die restriktive Haltung gegenüber Vorbehalten als Ausdruck der zunehmenden Akzeptanz universeller, objektiver Werte zu sehen sei. Der Richter Alvarez hatte im Übrigen bereits im Jahr 1951 in seiner abweichenden Meinung zum Gutachten des IGH betreffend die Zulässigkeit von Vorbehalten zur VölkermordKonvention festgehalten, Vorbehalte seien nicht mit bestimmten multilateralen Übereinkommen vereinbar, weil ansonsten das von diesen Verträgen verfolgte allgemeine und soziale Interesse in Frage gestellt würde; s. ICJ Reports 1951, 49 (53). 67 Vgl. zur Theorie des „internationalen ordre public“ etwa Jaenicke, in: BerDGV 1967, 77 (insb. 80 f., 85 ff.); Kokott, in: BerDGV 1997, 71 ff.; Mosler, in: RdC 1974-IV, 1 (33 f.); Tomuschat, in: RdC 1999, 9 (85 ff.). 68 Siehe zum Begriff besonders Mosler, in: RdC 1974-IV, 1 (33 ff., insb. 34). Vgl. dazu auch Hailbronner, in: AVR 1992, 2 (3). 69 Vgl. etwa Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (598), der von „‚konstitutionellen‘ Prinzipien“ des Völkerrechts und einem internationalen „ordre public“ im selben Atemzug spricht. 70 Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (77). 71 Ebd., 71 (79).
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rechtlichen ordre public“ und jenem einer „Verfassung der internationalen Gemeinschaft“ bestehen. Von Bedeutung ist dabei, dass auch der internationale „ordre public“ sich materiell an bestimmten grundlegenden Werten und an gemeinsamen Interessen der internationalen Gemeinschaft orientieren soll72 und ihm damit die Funktion einer objektiven Wertordnung des Völkerrechts zugemessen wird. Als Kernbereich dieser Entwicklung wird der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz betrachtet73. Auf der Ausrichtung an den Grundwerten der internationalen Gemeinschaft beruht auch die Feststellung, dass im Begriff des völkerrechtlichen „ordre public“ außerdem deutlich das Bestehen einer völkerrechtlichen Normenhierarchie zum Ausdruck komme: Danach seien dieser Kategorie insbesondere die zwingenden Normen des Völkerrechts zuzurechnen, die im Konfliktsfall anderweitig bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen verdrängen74. Darüber hinaus wird auch zwischen einem völkerrechtlichen „ordre public“ im engeren Sinn und einem solchen im weiteren Sinn unterschieden, woraus eine hierarchische Rangordnung auch unter den Normen, die dem „ordre public“ angehören, resultieren soll75: Danach wird die erste Kategorie durch zwingende Völkerrechtsnormen gebildet, die sämtlichen allfälligen anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehen. Zur zweiten Hierarchiestufe werden dann weitere Regeln einer internationalen öffentlichen Ordnung gezählt, denen zwar nicht die gleiche Rechtskraft wie den Normen der ersten Kategorie zukommen soll, die aber gleichwohl als Verpflichtungen „erga omnes“ betrachtet werden76. ___________ 72
Vgl. ebd., 71 (77); in dieser Richtung auch Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 184 f. Auch bereits Jaenicke, in: BerDGV 1967, 77 (96), hebt hervor, zum „völkerrechtlichen ordre public“ könnten jene „Grundsätze und Normen“ gerechnet werden, die „in erster Linie den gemeinsamen Interessen und Zielen der Völkerrechtsgemeinschaft zu dienen bestimmt sind“. 73 Siehe Kälin, in: BerDGV 1993, 9 ff.; Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (79 ff.); Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 184 f. Es wird auch von der Möglichkeit eines regionalen „ordre public“ gesprochen; vgl. etwa Peters, in: EuGRZ 1999, 650 (656 f.), im Zusammenhang mit der EMRK. 74 So bereits Jaenicke, in: BerDGV 1967, 77 (96); vgl. auch Carrillo-Salcedo, in: EJIL 1997, 583 (589 f.), sowie Kälin, in: BerDGV 1993, 9 (39 f.). Siehe außerdem Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (74 f.), die als Beispiel die Verdrängung einer staatsvertraglich bestehenden Auslieferungsverpflichtung durch das zum völkerrechtlichen „ordre public“ gehörende Folterverbot nennt: Im Fall Soering gegen Vereinigtes Königreich (s. die Wiedergabe des Urteils in EuGRZ 1989, 314 ff.) kam der EGMR zum Schluss, Großbritannien dürfe einen deutschen Staatsangehörigen nicht an die USA ausliefern, wo diesem die Todesstrafe drohte, da ansonsten das Verbot der Folter oder sonstiger unmenschlicher Behandlung oder Strafe gem. Art. 3 EMRK verletzt würde. 75 Zum Ganzen Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (75, 85 ff.). 76 Hierzu sollen nach Kokott, ebd., 71 (88), etwa alle völkergewohnheitsrechlich anerkannten Menschenrechte gezählt werden.
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cc) Auswirkungen auf die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre Mit der Hierarchisierung des Völkerrechts, die sich auf der Basis der immer deutlicheren Betonung der Gemeinschaftsinteressen abspielt, ist schließlich die Vermutung verbunden, dass auch gewisse Auswirkungen auf die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre resultieren. In diese Richtung weist der Ansatz von Kokott: Danach äußere sich im Konstitutionalisierungsprozess eine Abkehr von einem rein positivistischen Völkerrechtsverständnis, das die Staatenpraxis in den Vordergrund stellt, während gleichzeitig ein zunehmender Rückgriff auf überpositive, universelle Werte zu verzeichnen sei77. Dies wirke sich auch auf die Bedeutung der völkerrechtlichen Rechtsquellen aus: Während die Bedeutung der Staatenpraxis für die Rechtserzeugung zurückgehe, werde in erster Linie die Rechtsprechung aufgewertet; Ähnliches gelte zudem auch für die Völkerrechtslehre als völkerrechtliche Rechtsquelle. Die Feststellung impliziert wohl die Erwartung, dass es der Rechtsprechung und der Lehre am ehesten – eher als der Praxis der Staaten – zuzutrauen sei, gewissermaßen die Wertgrundlagen des Völkerrechts (und insbesondere auch des Vertragsrechts) zu erkennen und weiter zu stärken. Art. 38 Abs. 1 Bst. d IGHStatut78, wonach Rechtsprechung und Lehre lediglich „Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen“ bilden, erhielte aus diesem Blickwinkel eine gewisse kontrafaktische Note. Wie Charney ausführt79, sei allerdings auch zu beachten, dass Art. 38 IGH-Statut keineswegs eine unverrückbare Kodifikation der völkerrechtlichen Rechtsquellen darstelle. Zum einen komme dieser Bestimmung nämlich grundsätzlich nur für die Belange des IGH Verbindlichkeit zu, und zum andern unterliege selbstverständlich auch sie zeitgemäßer Auslegung sowie Weiterentwicklung.
IV. Konstitutionalisierung als materielle Entwicklung des Völkerrechts 1. Rahmenbedingungen der materiellen Entwicklung: Konstitutionalisierung als unabgeschlossener Prozess Begriffe wie „constitution of the international community“, „Verfassungsordnung des Völkerrechts“ und Ähnliches, die für die Umschreibung des aus dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess hervorgehenden Resultats verwendet werden, erwecken den Eindruck, dass neben bestimmten strukturellen Aspekten des Phänomens auch (bereits) eine materielle Entwicklung ___________ 77
Vgl. Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (8). SR 0.193.501. 79 Charney, in: New Trends in International Law-Making, 171 (174 ff.). 78
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eingesetzt hat. Lässt man die mit dem Verfassungsbegriff verbundenen Konnotationen80 vor dem inneren Auge vorbeiziehen, so könnte sich gar die Erwartung einstellen, dass allenfalls schon so etwas wie eine besondere „völkerverfassungsrechtliche Rechtsmasse“ entstanden ist, die auch eine gewisse normative Kohärenz aufweist. Abgesehen von der Verwendung einer allgemeinen Begrifflichkeit, die solche Erwartungen überhaupt erst entstehen lässt, sind diesbezügliche Einschätzungen der Völkerrechtswissenschaft jedoch noch von beträchtlicher Zurückhaltung geprägt81. Dabei wird etwa auch in grundsätzlicher Weise auf die Unvollkommenheit und Unabgeschlossenheit des als Konstitutionalisierung umschriebenen Prozesses hingewiesen82: Dessen feststellbaren Ansätze sind zufolge Frowein nämlich keineswegs umfassend, sondern erfassen „die unterschiedlichsten Teile des Völkerrechts und der Welt in unterschiedlicher Weise“83. Der Prozess der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung gleiche dabei bezüglich seiner Langwierigkeit und der derzeitigen Unvollkommenheit in auffallender Weise den langsamen Verfassungsbildungsprozessen auf der staatlichen Ebene, standen sich doch auf den Territorien heutiger Staaten vor der Vollendung ihrer Verfassungseinheit häufig ebenfalls eine Mehrzahl souveräner Organismen sowie auch unterschiedliche Rechtsstrukturen gegenüber84. Eine weitere einschränkende Überlegung, der die Darlegung materieller Erscheinungsformen des völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses von vornherein unterliegt, betrifft gemäß Neuhold außerdem die ungleiche normative Verdichtung völkerrechtlicher Regelung in den verschiedenen materiellen Bereichen85.
2. Völkerrechtliche Bereiche der materiellen Entwicklung Das Bewusstsein, dass die allgemeinen Rahmenbedingungen des behaupteten völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses mit unterschiedlichsten offenen Fragen verbunden sind, schließt freilich in keiner Weise aus, dass sich in der einschlägigen Literatur heute vielfache Hinweise auf konkrete materielle Entwicklungen finden lassen, die als Ausdruck einer stattfindenden Verfas___________ 80
Zu diesen auch noch hinten in diesem Kap., D. III. 1. a). Siehe bspw. Thürer, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 37 (50), wonach eine Differenzierung zwischen völkerrechtlichem Verfassungsrecht und einfachem Völkerrecht erst rudimentär erkennbar sei. 82 Vgl. Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (428); Neuhold, in: BerDGV 1999, 462 f. (Diskussionsbeitrag). 83 Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (428). 84 Siehe ebd. 85 Neuhold, in: BerDGV 1999, 462 (Diskussionsbeitrag). 81
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sungsentwicklung gedeutet werden. Derartige Aussagen beziehen sich auf die unterschiedlichsten Rechtsbereiche; wie sich im Folgenden zeigt, scheint bei aller Diversität der inhaltlichen Perspektiven den meisten die Einschätzung zugrunde zu liegen, dass die völkerrechtliche Konstitutionalisierung als ein Prozess zu verstehen sei, der auf die „Wertgrundlagen“ der internationalen Gemeinschaft fokussiert ist und zugleich auf deren weitere Festigung hinzielt.
a) Schutz der Menschenrechte In besonderer Weise kommen solche „Wertgrundlagen“ der Völkerrechtsgemeinschaft in der Anerkennung der Menschenrechte zum Ausdruck, wie dies im Rahmen der UNO-Charta, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie einer Vielzahl von weiteren Übereinkommen der Fall ist86. Tatsächlich bildet der völkerrechtliche Schutz der Menschenrechte denn auch jenen Bereich, in dem der Konstitutionalisierungsprozess am häufigsten geortet wird.
aa) Überblick Diesbezüglich hielt der Richter des IGH Alvarez schon im Jahre 1951 (in seiner bereits zitierten abweichenden Meinung zum Rechtsgutachten des Gerichtshofs betreffend die Frage der Zulässigkeit von Vorbehalten zur GenozidKonvention) fest, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen multilateralen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte seien kraft ihrer universellen Geltung Bestandteile einer „Constitution of international society“, eines „new international constitutional law“87. Diese aus damaliger Sicht – erst wenige Jahre nach der Einleitung des endgültigen Öffnungsprozesses der Völkerrechtsgemeinschaft im Schoss der Vereinten Nationen – wohl noch als geradezu utopisch zu bezeichnende Anschauungsweise hat sich heute zu einer weit verbreiteten Einschätzung entwickelt. Zu beachten ist diesbezüglich auch die Argumention betreffend den mit dem völkerrechtlichen Verfassungstopos nahe verwandten Begriff des internationalen „ordre public“88. Auch dieser orientiert sich, mit dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz als Kernbereich der Entwicklung, materiell an grundlegenden Werten der in-
___________ 86 Vgl. etwa Frowein, in: FS Mosler, 241 (241); Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (238). Allgemein zur „Bedeutung internationaler Menschenrechtsgarantien für eine sich verfassende Völkergemeinschaft“ Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 157 ff. 87 ICJ Reports 1951, 49 (51). Vgl. dazu Giegerich, in: ZaöRV 1995, 713 (717 f.). 88 Siehe dazu vorne in diesem Kap., B. III. 3. b) bb), mit den entsprechenden Nachweisen.
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ternationalen Gemeinschaft, und es wird ihm dabei die Funktion einer objektiven Wertordnung des Völkerrechts zugemessen.
So werden Menschenrechtsverträge je nach ihrem räumlichen Geltungsbereich als „Kodifikationen des Grundrechtskatalogs der jeweiligen Staatengemeinschaft“ betrachtet, besonders in den engeren Kontexten der verschiedenen Regionalorganisationen, sodann im Rahmen der Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen aber auch auf einer universelle Ebene89. Die Belege für eine völkerrechtliche Konstitutionalisierung (hier im Sinne der Entstehung regionaler Verfassungsstrukturen) werden dabei besonders im Zusammenhang mit regionalen Entwicklungen hervorgehoben90. Am klarsten soll die Herausbildung einer menschenrechtsbezogenen verfassungsähnlichen Struktur danach im Rahmen des durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschaffenen Systems sein91. Als Belege für die Rolle des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes bei der Herausbildung universeller Verfassungsstrukturen werden des Weiteren verschiedene spezifische Entwicklungen genannt, die allesamt ein stetig wachsendes Gewicht der Menschenrechte auf der internationalen Ebene dokumentieren: Dies gilt zunächst für den zunehmenden Widerspruch durch andere Staaten, auf den Vorbehaltserklärungen einzelner Parteien zu Menschenrechtsverträgen stoßen92. In den Zusammenhang der Herausbildung einer Verfassung der internationalen Gemeinschaft wird außerdem auch die Beobachtung gerückt, dass dem Allgemeininteresse immer stärkere Nachachtung verschafft wird, das an der Verfolgung von Verletzungen grundlegendster Normen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes besteht. Das Bemühen um eine verbesserte Durchsetzung dieser Grundsätze zeigt sich etwa anhand der Einrichtung inter___________ 89 Vgl. Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (168 f.). Dazu auch die Bemerkung von Bleckmann, in: EuGRZ 1994, 149 (155), zum „Verfassungsrecht der Völkerrechtsgemeinschaft“ zählten „vor allem auch die universellen und europäischen Menschenrechtsverträge“. Nach Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (598), bildet sich eine Art konstitutioneller völkerrechtlicher Ordnung gerade anhand von „Kerngrundsätzen des Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts“ heraus. Gemäß Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 18, bilden Menschenrechte „auch konstitutive Elemente der internationalen Ordnung, und „zentrale menschenrechtliche Schutzanliegen“ versteht der Autor als „Kern eines Verfassungsvölkerrechts“; dabei gelte für das „Verfassungsvölkerrecht“ wie schon für innerstaatliches Verfassungsrecht, dass die Grundrechte „unabdingbare Legitimationsgrundlagen jeder rechtlichen Ordnung“ seien. In ähnlicher Richtung auch die Argumentation von Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, insb. 32 ff., 71 ff. 90 Zu den folgenden Belegen Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (436 ff.). 91 Zur besonderen Bedeutung als Ausdruck eines Konstitutionalisierungsprozesses, die in der völkerrechtlichen Lehre dem System der EMRK beigemessen wird, sogleich im Text, bb). 92 Siehe Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (437), sowie Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (17 f.).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
nationaler Strafgerichtshöfe, verbunden mit der Androhung von strafrechtlicher Verfolgung der Verletzung elementarer Menschenrechte auch in internen Konflikten93. Im Kontext der Menschenrechte in einem weiteren Sinn, der auch die politischen Rechte erfasst, gehört schließlich noch die Bedeutung erwähnt, die der zunehmenden Verwirklichung demokratischer Grundsätze bzw. eines eigentlichen „Demokratieprinzips“ als Element der Konstitutionalisierung beigemessen wird94.
bb) Die besondere Rolle der EMRK im regionalen europäischen Rahmen Im spezifischen Menschenrechtsbereich lässt sich wie bereits erwähnt das durch die EMRK95 für den regionalen europäischen Rahmen herbeigeführte System des Grundrechtsschutzes als konkreter Ausdruck des Entstehens regionaler Verfassungsstrukturen betrachten96. So wird etwa argumentiert, die ___________ 93 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (9 f.); Handl, in: FS Ginther, 59 (insb. 62 f., 82 f.). Nach Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (18), kommt in den Entwicklungen im Bereich des internationalen Strafrechts die Konzeption des Völkerrechts als Wertordnung zum Ausdruck, wobei „nunmehr nicht nur von den Staaten, sondern auch unmittelbar von den Einzelnen die Beachtung der grundlegendsten Werte“ verlangt werde. 94 Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (431 f.), unter Hinweis auf die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu Haiti; s. zu diesen und deren Bedeutung bei der Herausbildung eines völkerrechtlichen Demokratieprinzips zudem auch Cottier, in: SZIER 1999, 403 (434 f.), m.w.N. Konkrete Erwähnung finden dabei etwa das in Art. 25 Bst. b des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgeschriebene allgemeine Wahlrecht der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mitsamt der Verpflichtung der Staaten zur Beachtung bestimmter Mindeststandards bei der Durchführung der Wahlen; zudem die weitere Konkretisierung des Wahlrechts als ein Kernelement pluralistischer Demokratie für die OSZE-Staaten durch die „Charta von Paris für ein neues Europa“ aus dem Jahr 1990 (vgl. Frowein, in: BerDGV 1999, 427 [431, Fn. 11]). Siehe außerdem auch Lang, in: VN 1998, 195 ff., zur Rolle des ähnlich wie Art. 25 IPBPR lautenden Art. 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Anerkennung eines Menschenrechts auf Demokratie. 95 SR 0.101. 96 So bezeichnete etwa das schweizerische Bundesgericht bereits im Jahr 1996, in BGE 122 II 373, Erw. 2d, die EMRK als „instrument constitutionnel de l’ordre public européen“; s. hierzu auch Epiney, in: AJP 1997, 350 (352). Von einem „im echten Sinne konstitutionellen Charakter“ und einem „großen Konstitutionalisierungserfolg“ spricht im Zusammenhang mit der EMRK Frowein, in: BerDGV 1999, 427 (436); vgl. auch schon ders., in: RdC 1994-IV, 345 (358 ff.). Zum „constitutional aspect“ der EMRK auch Bernhardt, in: Human Rights and Judicial Review, 297 (302 ff.). Allgemein zur EMRK im Verhältnis zu nationalem wie auch zu europäischem Verfassungsrecht Grabenwarter, in: VVDStRL 2001, 290 ff. Zur Integrationswirkung der EMRK im gesamteuropäischen Kontext außerdem Kälin, in: FS Schindler, 529 ff. Zur Rolle der EMRK als möglicher Kern einer künftigen europäischen Verfassung Alkema, in: Mélanges Ryssdal, 41 ff.; Carrillo-Salcedo, in: European System for the Protection of Human
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EMRK stelle mittlerweile weit mehr als einen bloßen völkerrechtlichen Vertrag dar, nämlich „eine Art ‚Teilverfassungssystem Europas‘“97. Begründet wird dies etwa damit, der EMRK komme eine den staatlichen Verfassungen vergleichbare „bürgerbezogene“ Schutzfunktion zu98. Eine weitere Argumentation geht dahin, sie erfülle im Wesentlichen die idealtypischen Funktionen einer modernen Verfassung99, selbst wenn sie sich dabei auf bestimmte, sich aus ihren Zielsetzungen ergebende Aspekte konzentriere. Der mit Letzterem verfolgte Ansatz, den behaupteten Verfassungscharakter der EMRK aus einem Vergleich mit den wesentlichen Funktionen von (primär) nationalstaatlichen Verfassungen herzuleiten, stützt sich allerdings gezwungenermaßen auf eine sehr eingeschränkte Definition der einzelnen Verfassungskriterien. Zu einer Auffassung der EMRK als „Teilverfassung“, welche auf das Schema nationalstaatlicher Verfassungsfunktionen verzichtet, führt demgegenüber eine von Christian Walter entwickelte Analyse der verfassungsgerichtlichen Funktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie sie sich insbesondere nach einem Urteil aus dem Jahre 1999 präsentiert100. Die dabei zugrunde liegende Betrachtungsweise des Verfassungsbegriffs ist ebenfalls eine funktionale, beschränkt sich allerdings auf den Aspekt der Verfassungsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit dem Grundrechtsschutz101. Im Fall Chassagnou et al. gegen Frankreich102 gelangte der EGMR zur Entscheidung, ein französisches Gesetz, das die Zwangsmitgliedschaft bestimmter Grundeigentümer in kommunalen Jagdvereinigungen vorsah, verstoße gegen verschiedene ___________ Rights, 15 (19); Müller, in: Mélanges Ryssdal, 957 ff.; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 14. Zum Ganzen ferner bspw. auch Tietje, in: DVBl. 2003, 1081 (1085 f.); Uerpmann, in: JZ 2001, 565 (570 f.). 97 Siehe Hoffmeister, in: Humboldt-Forum Recht, Beitrag 5/1999, 3; ähnlich ders., in: Der Staat 2001, 349 (353 ff.); vgl. auch Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 186, sowie Wyss, in: AJP 1995, 285 (296 ff.). 98 So Hoffmeister, in: Der Staat 2001, 349 (352 f.). 99 Hoffmeister, in: Humboldt-Forum Recht, Beitrag 5/1999, 2 ff., nennt folgende sechs Kriterien: die Etablierung eines Regierungssystems, das Verhältnis zwischen Regierung und Rechtsunterworfenen, die zeitlich unbeschränkte Geltung der Verfassung, die Festlegung von Regierungszielen, die umfassende Rechtsbindung von Organen und Rechtsunterworfenen sowie die Stellung an der Spitze der Normenhierarchie. 100 Zum Folgenden Walter, in: ZaöRV 1999, 961 (962 ff.). Vgl. außerdem auch etwa Breitenmoser, Diskussionsbeitrag, in: Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 317 (322), der den EGMR (bereits im Jahr 1990) als – neben dem EuGH – eines von zwei „de facto Verfassungsgerichten“ auf der gesamteuropäischen Ebene bezeichnete. 101 Dabei werden Belange berührt, die von Hoffmeister, in: Humboldt-Forum Recht, Beitrag 5/1999, 2 ff., zu jenen Verfassungsfunktionen gezählt werden, die das Verhältnis zwischen Regierung und Rechtsunterworfenen sowie die Normenhierarchie betreffen. 102 Siehe ECHR Reports 1999-III, 21 ff.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
durch die EMRK geschützte grundrechtliche Garantien103. Die Entscheidung des Gerichtshofs impliziert aber auch, dass ein Erlass des französischen Gesetzgebers auf seine Vereinbarkeit mit geltendem Verfassungsrecht überprüft wurde. Zum hier interessierenden zentralen Aspekt des Urteils wird dies vor dem Hintergrund, dass die französische Verfassung für Gesetzeserlasse des nationalen Parlaments nach deren Inkrafttreten grundsätzlich gerade keine Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht104. Das Urteil des EGMR bringt daher für das französische Verfassungsrecht ein Resultat mit sich, das die geltende nationale Verfassung für sich alleine genommen105 gar nicht zulassen würde: Auf dem Umweg über eine Kontrolle der Konventionsmäßigkeit durch den EGMR wird letztlich die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüft, obgleich Letzteres vom französischen Verfassungsgeber gar nicht vorgesehen ist. Dabei ist auch der Umstand mitentscheidend, dass den Urteilen des Gerichtshofs aufgrund der Verpflichtung der Vertragsstaaten zu deren Beachtung106 ein hohes Maß an Autorität zukommt. Dies schlägt sich innerstaatlich in der Regel auch in der Berücksichtigung entsprechender, in einem Urteil geäußerter Kritik durch den Gesetzgeber positiv nieder107. Das Beispiel zeigt, dass die EMRK nicht zuletzt durch die konkrete Praxis des EGMR eine Funktion übernehmen kann, die für den Grundrechtsbereich jener einer eigentlichen, die nationalen Verfassungen ergänzenden Teilverfassung gleichkommt. Das Beispiel des Urteils Chassagnou bildet einen konkreten Anhaltspunkt dafür, welche Konsequenzen sich aus der Entwicklung der EMRK zu einem regionalen Teilverfassungssystem ergeben können. Diese Entwicklung wird nicht nur durch die entsprechende (völkerrechtliche und verfassungsrechtliche) Lehre als bereits weit fortgeschritten betrachtet108. So spricht auch der Präsident des EGMR Wildhaber im Zusammenhang mit der Rolle des Gerichtshofs von der Erfüllung einer „Verfassungsaufgabe“ („constitutional mission“)109 und misst ___________ 103 Nämlich gegen das Eigentumsrecht (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls), die Vereinigungsfreiheit (Art. 11) sowie (in Bezug auf diese beiden Rechte) das Diskriminierungsverbot (Art. 14). 104 Vgl. Walter, in: ZaöRV 1999, 961 (963 f., m.w.N.). Es zeigt sich damit eine Parallele zur Verfassungslage in der Schweiz gem. Art. 190 BV. 105 Ausgeklammert sei an dieser Stelle, inwiefern die nationale Verfassung als materielle Gesamtheit auch die aus der EMRK fließenden Garantien umfasst. 106 Siehe Art. 46 Abs. 1 EMRK. 107 Siehe Walter, in: ZaöRV 1999, 961 (965). Vgl. auch Bleckmann, in: EuGRZ 1994, 149 (153), wonach sich (sinngemäß) aus den auch innerstaatlichen Wirkungen der Urteile des EGMR faktisch der Status eines Verfassungsgerichts „mit ‚innerstaatlichem‘ Charakter“ ergebe. 108 Vgl. die Nachweise zuvor in Fn. 96 f. 109 Wildhaber, in: EuGRZ 2002, 569 (570 f.), sowie ders., in: HRLJ 2002, 161 (162 f.).
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der EMRK insofern die Bedeutung eines konstitutionellen Fundaments für den Aufbau einer europäischen „öffentliche Ordnung“ („public order“)110 bei. Nimmt man solche Einschätzungen zum Nenner, so setzt die Funktion der EMRK als regionaler Konstitutionalisierungskontext eine möglichst konkrete Tragweite der einzelnen grundrechtlichen Garantien sowie eine starke Stellung des Gerichtshofs im Hinblick auf die Durchsetzung derselben voraus. Von der Erfüllung dieser Voraussetzungen scheinen die Stimmen, die dem System der EMRK konstitutionellen Charakter zusprechen, in zweierlei Hinsicht auszugehen111: Zum einen zeichnet sich die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag dadurch aus, dass ihre materiellen Bestimmungen, mit denen die menschenrechtlichen Garantien zugunsten der Einzelnen festgeschrieben werden, direkt anwendbar („self-executing“) sind112. Zum andern gewährleistet das Beschwerdesystem der EMRK in einzigartiger Weise113 die Beachtung der vertraglichen Vorgaben auf der innerstaatlichen Ebene der Mitgliedstaaten. Dies, indem die betroffene Vertragspartei verpflichtet ist, sich nach einem ergangenen Ent___________ 110
Ebd., 569 (571 f.), bzw. 161 (163 f.). Auch kritische Stimmen ziehen nicht grundsätzlich in Zweifel, dass der EMRK ein zunehmend konstitutioneller Charakter zukommt. Sondern aufgeworfen wird lediglich die Frage, ob die herrschende Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs sowie Reformpläne für die Weiterentwicklung des EGMR den konstitutionellen Ansprüchen an das System in jeder Hinsicht gerecht zu werden vermögen. Anlass zu derartigen kritischen Überlegungen bietet insbesondere die festzustellende Zurückhaltung des Gerichts bei der Kontrolle des vertragsstaatlichen Handelns auf der Grundlage der Praxis des nationalen Beurteilungsspielraums („margin of appreciation“ bzw. „marge d’appréciation“). Zur Problematik ausführlich Scheyli, in: EuGRZ 2003, 455 ff., m.w.N. Vgl. in diesem Zusammenhang auch etwa Calliess, in: AfP 2000, 248 (253), der durch die Anwendung des Konzepts vom nationalen Beurteilungsspielraum die „Leitbildfunktion, ja Maßstabswirkung” der Rechtsprechung des EGMR in Frage gestellt sieht. Besonders weit holt in seiner Kritik Benvenisti, in: NYUJILP 1999, 843 ff., aus: Dieser Autor argumentiert, die ausgedehnte Anwendung der „margin of appreciation“-Doktrin durch den EGMR schwäche die Anstrengungen zur Universalisierung der Menschenrechte, indem die (an sich regional begrenzte) Rechtsprechung des Gerichts einen starken Einfluss auf die Praxis anderer Organe zum Schutz der Menschenrechte ausübe. Vgl. hierzu im Übrigen auch Mahoney, in: HRLJ 1998, 1 (4), sowie den Überblick über die Kritik bei Clayton/Tomlinson, The Law of Human Rights, 285. 112 Vgl. Theusinger, Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention, 37 f.; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 46 f. Für das Verhältnis etwa des schweizerischen Rechts zur EMRK gilt im Übrigen, dass der Konvention zumindest Gesetzesrang zukommt; dies hat zur Folge, dass durch sie sämtliche staatlichen Organe unmittelbar verpflichtet werden, die enthaltenen materiellen Garantien auch ohne konkrete Aufforderung durch die betroffenen Individuen anzuwenden. Siehe hierzu Villiger, ebd., 43 ff., 49 f. 113 Siehe Villiger, ebd., 14, der einzig die Amerikanische Menschenrechtskonvention als ansatzweise an die Ausgestaltung des EMRK-Systems heranreichend bezeichnet. Vgl. zudem auch Carrillo-Salcedo, in: European System for the Protection of Human Rights, 15 (19 f., 24). 111
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
scheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach dem Urteilsspruch zu richten (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Dies impliziert, dass sie im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung die erforderlichen Maßnahmen ergreifen muss, die zur Durchführung der Entscheidung und zur Vermeidung künftiger gleichgelagerter Fälle angezeigt sind114. Insgesamt betrifft die Anwendung der Konvention im innerstaatlichen Recht notwendigerweise sowohl die Ebene der Rechtsetzung als auch jene der Rechtsanwendung durch die Behörden und Gerichte115. Es kann zudem auf eine mögliche weitere Entwicklung hingewiesen werden, deren Reichweite allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzbar ist: Zumindest nach dem Wortlaut der EMRK hat der EGMR keine Möglichkeit116, Anordnungen im Hinblick auf die innerstaatliche Durchsetzung seiner Urteile zu treffen117. Dem Fehlen einer entsprechenden ausdrücklichen Kompetenz entsprechend hat sich der EGMR bislang höchste Zurückhaltung auferlegt, konkrete Maßnahmen im Hinblick auf die Abhilfe bei einer festgestellten Konventionsverletzung anzuordnen118. Indessen zeichnet sich mit dem Urteil Asanidse vs. Georgien119 aus dem Jahr 2004 ab, dass sich der Gerichtshof von seinem bisherigen Standpunkt verabschiedet haben könnte, wonach er über keinerlei Befugnis verfüge, konkrete Abhilfemaßnahmen anzuordnen120. Im erwähnten Urteil nennt der EGMR erstmals eine konkrete Verpflichtung
___________ 114
Vgl. aus der Praxis des EGMR etwa die Entscheidung des EGMR im Fall Norris vs. Ireland, Series A 142, Para. 50. Hier stellte der Gerichtshof bezüglich der für den irischen Staat aus dem Urteil resultierenden Konsequenzen fest: „It will be for Ireland to take the necessary measures in its domestic legal system to ensure the performance of its obligation under Article 53 (...).“ Zu den Wirkungen, die sich aus den Urteilen des Gerichtshofs für die betroffenen Staaten ergeben, allgemein Bernhardt, in: European System for the Protection of Human Rights, 25 (36 ff.), sowie Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 149, jeweils m.w.N. zur Praxis des Gerichtshofs. 115 Siehe Polakiewicz, in: Human Rights Law Journal 1996, 405 (407 f.). 116 Anders als etwa der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention; vgl. deren Art. 63 Abs. 1. Zu den möglichen Maßnahmen im Hinblick auf die Vollstreckung von Urteilen des InterAmerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte s. Engel, in: EuGRZ 2003, 122 (125 f.). Zum Regionalsystem des Menschenrechtsschutzes der Amerikanischen Menschenrechtskonvention auch sogleich, cc). 117 Demgegenüber ist es Sache des Ministerkomitees des Europarats, die Überwachung der Durchführung der Urteile zu gewährleisten (Art. 46 Abs. 2 EMRK). 118 Siehe Breuer, in: EuGRZ 2004, 257 (257). 119 Vgl. den Urteilstext in deutscher Übersetzung in EuGRZ 2004, 268 ff. 120 Dies ergibt sich gewissermaßen als „Kehrseite“ auch aus der zuvor, Fn. 114, zitierten Passage des Urteils Norris vs. Ireland (Para. 50). Ausdrücklich der EGMR im diesbezüglichen „leading case“ Marckx vs. Belgien, wo festgehalten wurde, die Entscheidung des Gerichtshofs könne „nicht durch sich selbst die strittigen Vorschriften abändern oder ändern. Sie hat im Wesentlichen Feststellungscharakter und überlässt dem Staat die Wahl der Mittel in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung, um die ihm aus Art. 53 obliegende Verpflichtung zu erfüllen.“ (Para. 58; Urteilstext in deutscher Übersetzung in EuGRZ 1979, 454 ff.) Für Hinweise zu den Auswirkungen des Urteils Marckx auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs s. Breuer, in: EuGRZ 2004, 257 (258); vgl. außerdem auch die entsprechenden Hinweise im Urteil Marckx selbst, Para. 202.
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des betreffenden Mitgliedstaats nach Feststellung einer Konventionsverletzung, nämlich die frühest mögliche Freilassung des Beschwerdeführers durch die georgischen Behörden. Da, wie Breuer feststellt, der Urteilsspruch maßgeblich von bestimmten Besonderheiten des Einzelfalls geprägt wurde121, ist allerdings (auch mangels dogmatischer Vertiefung im Urteil selbst) noch unklar, wie der EGMR seine Praxis weiterführen wird122.
cc) Ausblick: Ansätze für vergleichbare regionale Entwicklungen außerhalb Europas? Fällt die Rede in der Literatur auf regionale Konstitutionalierungsprozesse im konkreten Bereich des Schutzes der Menschenrechte, so bildet das System der EMRK in Anbetracht seiner materiellen und institutionellen Dichte das herausragende Beispiel. Während die EMRK bezüglich der innerstaatlichen Wirkung völkerrechtlicher Garantien zum Schutz der Menschenrechte denn auch das mit Abstand wirksamste System darstellen dürfte123, besteht eine gewisse Hoffnung, dass die Bedeutung solcher Einwirkungen auch in anderen regionalen Schutzsystemen zunimmt, namentlich im Rahmen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention124. Anlass hierzu bietet insbesondere das im Jahr 2001 ergangene Urteil des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Chumbipuma Aguirre et al. vs. Peru (sog. „Barrios Altos“Fall)125. In dieser Entscheidung nahm der Gerichtshof erstmals zum in bestimmten lateinamerikanischen Staaten verbreiteten Problem Stellung, dass die gerichtliche Verfolgung von krassen Menschenrechtsverletzungen durch den Erlass von Amnestiegesetzen verhindert wird bzw. wurde. Am Ursprung des Falls stand die Ermordung von 15 Menschen (die – fälschlicherweise – der Mitgliedschaft in der Untergrundbewegung „Sendero Luminoso“ verdächtigt worden waren) im Jahr 1991 durch Mitglieder der peruanischen Armee, geschehen in einem Viertel von Lima namens Barrios Altos. Ein 1995 eingeleitetes
___________ 121 So weist der Gerichtshof selbst darauf hin, im gegebenen Fall lasse die festgestellte Konventionsverletzung „aufgrund ihrer Natur keinerlei echte Wahl hinsichtlich der zu ihrer Beendigung zu ergreifenden Maßnahmen“ (Urteil Marckx, Para. 202). 122 Siehe dazu Breuer, in: EuGRZ 2004, 257 (insb. 259 ff., mit dem Fazit auf S. 263). 123 Vgl. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 14. 124 Häberle, in: FS Zuleeg, 80 (83), bezeichnet die Amerikanische Menschenrechtskonvention (wie auch das afrikanische Pendant) als Teilverfassungen für die betreffenden Regionen „in nuce“. Allgemein zu den Verpflichtungen, die sich aus der Amerikanischen Menschenrechtskonvention für deren Vertragsstaaten ergeben, Buergenthal/ Shelton, Protecting Human Rights in the Americas, 431 ff., mit Ausschnitten aus der relevanten Praxis des Gerichtshofs; ebd., 617 ff., findet sich auch ein Abdruck der Konvention. 125 Barrios Altos Case, Judgment of September 3, 2001, IACtHR, Series C No. 83 (2001). Abgedruckt in ILM 41 (2002), 93 ff. Zu den Hintergründen des Falles s. auch den einleitenden Kommentar von Cerna, in: ILM 2002, 91 f.
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Untersuchungsverfahren gegen die Verantwortlichen des Massakers wurde gleich zweifach durch Amnestiegesetze des peruanischen Kongresses aufgehalten. Das erste dieser Gesetze sprach zunächst eine allgemeine Amnestie für alle Mitglieder von Armee und Polizei sowie Zivilpersonen aus, die zwischen 1980 und 1995 Menschenrechtsverletzungen begangen hatten. Der zweite Erlass schließlich bezweckte offensichtlich die Einstellung des konkreten Verfahrens im „Barrios Altos“-Fall, nachdem die mit den Untersuchungen befasste Richterin die Anwendung des ersten Gesetzes wegen mangelnder Verfassungskonformität verweigert hatte126.
Der Gerichtshof hielt in seinem einstimmig gefällten Urteil unter anderem fest, dass die peruanischen Amnestiegesetze nicht mit der Amerikanischen Menschenrechtskonvention vereinbar seien und somit keine rechtliche Wirkung hätten127; weiter wurde der peruanische Staat dazu aufgefordert, die Untersuchung des Falles weiterzuführen und die Verantwortlichen zu bestrafen128. Der peruanische Oberste Gerichtshof leistete dem wenig später insofern Folge, als er die Wiedereröffnung des Falles anordnete und die betreffenden Amnestiegesetze außer Kraft setzte129. Vergleichbare Effekte für die innerstaatliche Ebene hatte der ebenfalls im Jahr 2001 ergangene Entscheid des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Mayagna (Sumo) Awas Tingni vs. Nicaragua130. Hier hatte die indigene Gemeinschaft der Mayagna-Indianer den Staat Nicaragua dahingehend verklagt, dieser habe bei der Vergabe von Holzschlagrechten auf von der Gemeinschaft beanspruchtem Land den von der Amerikanischen Menschenrechtskonvention garantierten Anspruch auf Rechtsschutz (Art. 25) sowie das Recht auf Eigentum (Art. 21) verletzt. Der Gerichtshof gab dieser Klage statt und auferlegte zugleich dem Staat Nicaragua die Pflicht, im Rahmen seines nationalen Rechtssystems die gesetzgeberischen, administrativen wie auch sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, die für die Anerkennung und den Schutz der Eigentumsrechte der indianischen Gemeinschaft erforderlich sind131. Die Antwort auf die Frage, ob mit derartigen Teilerfolgen eine Entwicklung hin zu einem mit der EMRK vergleichbaren regionalen Mechanismus angesto___________ 126
Die Richterin konnte sich dabei auf eine in der peruanischen Verfassung festgeschriebene Pflicht der Justizbehörden berufen, Gesetzen die Anwendung zu verweigern, welche die Verfassung verletzen könnten; vgl. Para. 2 (k) des Urteils. 127 Para. 51, Ziff. 4, des Urteils. 128 Para. 51, Ziff. 5, des Urteils. 129 Siehe Cerna, in: ILM 2002, 91 (92). 130 Caso de la Comunidad Mayagna (Sumo) Awas Tingni vs. Nicaragua, Sentencia del 31 de agosto de 2001, Corte I.D.H. (Ser. C) No. 79 (2001). Für den Urteilstext (in spanischer Sprache) s. ; für eine inoffizielle englische Übersetzung außerdem ; Adressen gültig am 31.3.2008. Zu diesem Urteil auch Beyerlin, in: ZaöRV 2005, 525 (527 f., 531 f.). 131 Para. 173, Ziff. 3 und 4, des Urteils.
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ßen sei, dem zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls die Qualifikation als konstitutionelles Teilsystem zukommen könnte, ist offen. Anzumerken ist auch, dass abgesehen von der Amerikanischen Menschenrechtskonvention derzeit kein anderes regionales Teilsystem (als mögliche rechtliche Grundlagen sind die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker132 sowie die Arabische Charta der Menschenrechte133 zu nennen) existiert, das eine vergleichbare rechtliche Tragweite erreicht. In Bezug auf die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker ist anzumerken, dass diese zwar instutionelle Einrichtungen vorsieht, welche die Grundlage für ein Schutzsystem bilden könnten134. Allerdings hat die entsprechende Afrikanische Menschenrechtskommission vergleichsweise geringere Kompetenzen und nimmt diese zudem, wie Steiner und Alston kritisch anmerken135, nur zögernd wahr. Die genannten Autoren bezeichnen das regionale System der Afrikanischen Charta daher als das im Vergleich mit den europäischen und amerikanischen Regionalsystemen am wenigsten weit entwickelte136. Noch weiter von einem wirksamen Schutzsystem entfernt ist schließlich die Arabische Charta der Menschenrechte, befindet sich diese doch – anders als die Afrikanische Charta – noch nicht einmal in Kraft. Zudem findet sie offenbar – bezeichnenderweise – gerade von arabischen Menschenrechtsorganisationen keine einhellige Unterstützung137.
b) Umweltschutz Die Feststellung bezüglich des Bereichs der Menschenrechte, dass dieser in besonderer Weise auf den grundlegenden Werten der internationalen Gemeinschaft aufbaue, gilt in mancher Hinsicht auch für den völkerrechtlichen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Letztlich bildet der wirksame Schutz der Umwelt die Voraussetzung nicht nur für ein menschenwürdiges Dasein, sondern gar für das Überleben des Menschen überhaupt. Vor diesem Hintergrund wird denn auch die Verdichtung der völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der Umwelt als Ausdruck der Herausbildung völkerverfassungsrechtlicher Strukturen verstanden138. Wenngleich schon bedeutend früher von einem „world public ___________ 132
Abgedruckt bspw. bei Brownlie/Goodwin-Gill, Basic Documents on Human Rights, 728 ff. 133 Abgedruckt bspw. bei Brownlie/Goodwin-Gill, Basic Documents on Human Rights, 774 ff. 134 Dazu im Einzelnen Ouguergouz, African Charter on Human and Peoples’ Rights, 481 ff.; vgl. auch Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 13. 135 Steiner/Alston, International Human Rights in Context, 920 ff. 136 Ebd., 354, 920. 137 Für entsprechende Hinweise Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 14, mit Fn. 36. 138 Vgl. etwa Thürer, in: SZIER 1995, 455 (465).
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order of the environment“ die Rede war139, so geht diese Tendenz insbesondere auf den Entwicklungsschritt zurück, den die im Jahre 1992 in Rio de Janeiro abgehaltene UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung mit sich brachte140. Inwiefern das umweltbezogene Völkerrecht geeignet ist, materiell zu einem allfälligen völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess beizutragen, wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch Gegenstand ausführlicher Überlegungen sein141. An dieser Stelle kann vorläufig auf den besonderen argumentativen Ansatz zugunsten des Bestehens von völkerrechtlichem Umweltverfassungsrecht von Jörg Lücke142 hingewiesen werden: Danach existiere ein „universales Verfassungsrecht“, das auf einem Grundkonsens aller Staaten über den Umweltschutz und andere Fragen143 beruhe. Die Hauptargumentation geht dabei dahin, dass das nationale Recht sämtlicher Staaten explizit oder zumindest implizit den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Verfassungsziel kenne, womit der Umweltschutz zum „konstitutionellen Gemeingut aller Staaten“ und damit zu einem „Baustein eines universalen Verfassungsrechts“144 werde. Die wichtigste umweltbezogene Norm des universalen Verfassungsrechts stelle dabei der (aus den nationalen Rechtsordnungen abgeleitete) allgemeine Rechtsgrundsatz einer Pflicht zum Schutz der globalen Umwelt dar145. In diesem Grundsatz komme außerdem – über das bloße Eigeninteresse jedes einzelnen Staats am Schutz der globalen Umweltgüter hinaus – ein Staatengemeinschaftsinteresse Ausdruck, wobei sich dieses Interesse auch auf die Interessen künftiger Generationen erstrecke146.
___________ 139
Schneider, World public order of the environment, passim, verwandte den Begriff bereits im Jahre 1979, also relativ früh in der Entwicklung des Umweltvölkerrechts, die erst mit der ersten globalen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen von Stockholm im Jahre 1972 richtig an Fahrt gewonnen hatte (zur Geschichte des Umweltvölkerrechts s. Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 19 ff., sowie dies., Umweltvölkerrecht, 25 ff., jeweils m.w.N.). 140 Zur damit verbundenen rechtlichen Entwicklung allgemein etwa Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 15 ff.; Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 28 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 52 ff. 141 Siehe das 4. Kap. 142 Zum Folgenden Lücke, in: AVR 1997, 1 (5 ff.). 143 Ebd., 1 (8). 144 Ebd., 1 (7). 145 Ebd., 1 (9 ff.). 146 Ebd., 1 (13 f.).
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c) Weltwirtschaft und -handel Das Wirtschaftsvölkerrecht ist sowohl mit dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz als auch mit dem Umweltvölkerrecht aufs engste verknüpft, überschneiden sich doch die Problemstellungen häufig. Zugleich ist davon auszugehen, dass auch das internationale Wirtschafts- und Handelsrecht auf den selben Werten der internationalen Gemeinschaft beruht wie andere Kernbereiche des Völkerrechts147. Eine Argumentation, welche die Bedeutung des Wirtschafts- und Handelsvölkerrechts im Rahmen einer möglichen allgemeinen Konstitutionalisierung des Völkerrechts besonders betont, verfolgt vor allem148 Ernst-Ulrich Petersmann. Der Ansatz beruht auf der Einschätzung, dass auf internationaler Ebene genauso wie im nationalen Recht den verschiedenen Freiheitsgarantien (insbesondere der Handelsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot) sowie dem Grundsatz der friedlichen Streitbeilegung eine herausragende Verfassungsfunktion zukomme149. Nachdem diese Verfassungselemente völkerrechtlich erstmals wirksam nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des GATT niedergelegt worden seien150, bildeten sie heute auch die Pfeiler des WTO-Vertrags151, dem im Rahmen des internationalen Handelsrechts nunmehr eine Vorrangstellung zukomme. Diese besondere Rolle beruhe dabei, so Petersmann, nicht zuletzt auf der Herausbildung einer Normenhierachie, welche die Verfassungsfunktionen des WTO-Vertrags unterstütze, wobei der funktionierende Streitbeilegungsmechanismus als zentrale Einrichtung fungiere152. Gerade in der ___________ 147 Vgl. etwa Beck, Differenzierung von Rechtspflichten, 193 ff.; Odendahl, Recht auf Entwicklung, 178 ff. Bezüglich des Verhältnisses zwischen umwelt- und wirtschaftsbezogenem Völkerrecht kommt dies etwa in der Präambel des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation zum Ausdruck, nach der die Entwicklung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen unter den Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Konzept der Nachhaltigen Entwicklung stehen soll. An gleicher Stelle wird auch auf die besonderen Anliegen der Entwicklungsländer hingewiesen, deren möglichst gleichberechtigtes Verhältnis zu den Industriestaaten ein wesentliches Element des gesamten Völkerrechts darstellt. 148 Für einen Überblick über weitere Vertreter der auf die WTO bezogenen Konstitutionalisierungsdebatte s. Cottier/Hertig, in: Max Planck UNYB 2003, 261 (272 ff.). Vgl. zudem etwa Benedek, in: BerDGV 2001, 283 ff.; Cottier, in: recht 2005, Sonderheft, 50 (52 ff.); Dunoff, in: EJIL 2006, 647 ff.; Duvigneau, in: Außenwirtschaft 2001, 295 ff.; Hilf, in: BerDGV 2001, 257 ff.; Trachtman, in: EJIL 2006, 623 ff. 149 Siehe Petersmann, in: EJIL 1995, 161 (165 ff.). 150 Vgl. ebd., 161 (168). 151 SR 0.632.20. 152 Dazu Petersmann, in: Northwestern Journal of International Law & Business 1996-97, 398 (446 ff.); zu den verschiedenen Verfassungsfunktionen, welche das WTORecht erfüllen soll, ders., in: ZaöRV 2005, 543 (554 ff.). Vgl. spezifisch zu den Impli-
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Wahrscheinlichkeit, dass die vorhandenen rechtlichen Mechanismen die Durchsetzung der als Verfassungsregeln der internationalen Gemeinschaft bezeichneten Prinzipien (wie etwa des Gewaltverbots oder des Schutzes der Menschenrechte) ermöglichten, sei nämlich der Maßstab für die Verfassungsqualität einer rechtlichen Ordnung zu sehen153. Petersmann bezweifelt dabei allerdings – im Gegensatz zu seiner Einschätzung des WTO-Vertrags – die Verfassungsqualität des allgemeinen Völkerrechts wie auch der UNO-Charta, weil weitgehend die rechtlichen Mechanismen fehlten, welche die Durchsetzung der als Verfassungsprinzipien der internationalen Gemeinschaft bezeichneten Grundsätze tatsächlich ermöglichen würden154. Als positive Beispiele nennt er demgegenüber angesichts entsprechender Durchsetzungsmechanismen die verfassungsähnlichen Systeme der EMRK sowie des Europäischen Gemeinschaftsrechts155. Auf seine sehr positive Einschätzung des WTO-Systems als Struktur mit Verfassungsfunktionen im Bereich des internationalen Wirtschafts- und Handelsrechts stützt der Autor schließlich auch den Vorschlag, dass die gesamte internationale Verfassungsordnung mit der UNO-Charta im Zentrum nach diesem Vorbild reformiert werde, insbesondere im Hinblick auf ein kohärentes System der Streitbeilegung156. Die Herausbildung einer Art „Weltwirtschaftsverfassung“ auf der Grundlage des WTO-Systems soll demnach also als Vorbild für die konstitutionelle Weiterentwicklung der gesamten Völkerrechtsordnung dienen157. Vorsichtiger äußert sich demgegenüber etwa Martin Nettesheim, der „im Lichte konstitutioneller Maßstäbe“ zur Einschätzung gelangt, die WTO stehe im Prozess der Konstitutionalisierung erst am Anfang158. So erachtet der Autor ___________ kationen der Rechtsprechung des WTO Appellate Body auf die Konstitutionalisierung im Bereich des internationalen Handelsrechts außerdem auch Cass, in: EJIL 2001, 39 ff. 153 Vgl. zu dieser Einschätzung auch die Bemerkung von Tomuschat, in: RdC 1993IV, 195 (218), wonach eine effektive verfassungsmäßige Ordnung auch voraussetze, dass gemeinschaftliche Institutionen bestehen, welche die Durchsetzung dieser Ordnung garantieren. 154 Petersmann, in: Michigan Journal of International Law 1998, 1 (12 f.). 155 Ebd., 1 (insb. 16 ff.). Zum Ganzen auch ders., in: NYUJILP 1998-99, 753 (770 ff.); vgl. außerdem ders., in: LA Oppermann, 367 (370). 156 Vgl. Petersmann, in: Northwestern Journal of International Law & Business 1996-97, 398 (457 ff., 468 f.); ders., in: Michigan Journal of International Law 1998, 1 (19 ff.); ders., in: NYUJILP 1998-99, 753 ff. 157 Vgl. dazu auch Cottier/Wüger, in: Herausgeforderte Verfassung, 241 (243), wonach die Welthandelsorganisation, die sich sukzessive zu einem „Verfassungsinstrument“ entwickle, das wichtigste Beispiel für die Entwicklung globaler Verfassungsstrukturen darstelle. 158 Nettesheim, in: LA Oppermann, 381 (393 und passim), auf der Basis einer verfassungstheoretischen Untersuchung des WTO-Statuts.
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die mit der WTO-Ordnung verbundene Herausbildung „politischer Herrschaft“ als zu schwach, um den mit dem Begriff der Verfassung zwingend verbundenen Voraussetzungen zu genügen. Nicht nur in diesem Kriterium zeigt sich, dass der Autor bei der Beantwortung der Frage nach dem konstitutionellen Charakter der WTO auf einen relativ strikt am verfassungsstaatlichen Muster orientierten Konstitutionalisierungsbegriff Rückgriff nimmt. Zu den Elementen des konstitutionellen Maßstabs, die er in der WTO-Ordnung nicht verwirklicht sieht, zählt er neben der Begründung politischer Herrschaftsgewalt159 den Umstand, dass – wie dies zu den Eigenarten staatlicher Hoheitsgewalt gehöre – keine „Rechtsetzungs- und sonstige Handlungsbefugnisse mit Individualwirksamkeit“ bestünden160. Auch könne von einer ausreichenden normhierarchischen Gliederung des WTO-Rechts bislang nicht ausgegangen werden161. Immerhin aber konzediert Nettesheim dem Standpunkt von Petersmann, dass mit der Einrichtung eines verbindlichen Streitbeilegungsverfahrens ein „rechtsstaatlich geprägtes Prozedere“ Einzug gehalten habe, was denn auch einen Konstitutionalisierungsschritt impliziere162.
___________ 159 Im Sinne einer mit einem Gestaltungsauftrag, aber auch mit Gestaltungsfreiheit einhergehenden Kompetenz der eingesetzten Organe zu „politisch gestaltendem Handeln“; ebd., 381 (394). 160 Mit anderen Worten bänden die Bestimmungen des WTO-Rechts zwar die Staaten als Vertragspartner, aus ihnen resultiere aber keine unmittelbare Berechtigung und Verpflichtung einzelner Individuen und Unternehmen; ebd., 381 (397, 398). 161 Ebd., 381 (393). 162 Ebd., 381 (395 f.).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der Europäischen Union Der Blick auf die Völkerrechtslehre hat Hinweise darauf vermittelt, in welchen begrifflichen Kategorien über das Phänomen einer Herausbildung verfassungsartiger Elemente im völkerrechtlichen Rahmen nachgedacht wird. Auf dieser Grundlage ist nun die Frage von Interesse, ob sich die Bedeutung, die dem Konstitutionalisierungsbegriff im internationalen Kontext beigemessen wird – beziehungsweise beigemessen werden könnte –, weiter präzisieren lässt. Um hier zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen, bietet sich angesichts einer mittlerweile weit fortgeschrittenen Entwicklung auf regionaler europäischer Ebene1 die Möglichkeit an, das Beispiel eines grenzüberschreitenden Konstitutionalisierungsprozesses in einem supranationalen Kontext näher zu beleuchten. Den Blick auf die konstitutionelle Dynamik des europäischen Einigungsprozesses zu vernachlässigen hieße außer Betracht zu lassen, dass aus einem derartigen Vergleich möglicherweise Erkenntnisse und Rückschlüsse für den Prozess auf der weiteren Ebene der Völkerrechtsordnung gewonnen werden könnten2. In ihrer „Zwischenlage“3 zwischen der utopisch anmutenden Vorstellung von einer universellen Verfassungsordnung der internationalen Gemeinschaft und dem traditionellen, aber in seiner Verwendbarkeit bei der Lösung globaler Problemstellungen beschränkten Bild der nationalen Verfassung bildet der regionale Einigungsprozess der Europäischen Union ein bislang einmaliges4 An___________ 1
Die Europäische Union wird zurecht als verfassungsmäßig am weitesten fortgeschrittenes Beispiel regionaler „Governance“ bezeichnet; s. bspw. Kirkham/Cardwell, in: European Public Law 2006, 403 (403). 2 Vgl. auch Grewlich, in: RIW 2001, 641 (642), der davon spricht, die Parallele zwischen der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung und der „europäischen Verfassungsdebatte“ dränge sich geradezu auf. Petersmann, in: Michigan Journal of International Law 1998, 1 (insb. 16 ff.), nennt das verfassungsähnliche System des Europäischen Gemeinschaftsrechts (wie auch jenes der EMRK) als Modell für eine allgemeine völkerrechtliche Ordnung, in der die Verfassungsregeln der internationalen Gemeinschaft tatsächlich durchgesetzt würden. Vgl. außerdem etwa Frowein, in: RdC 1994-IV, 345 (358), wonach das Phänomen eines internationalen Konstitutionalisierungsprozesses im Vorgang der europäischen Integration in ganz besonderer Weise sichtbar werde. 3 Vgl. Beutler, in: KJ 1996, 52 (58). 4 Vgl. auch etwa Neisser, in: FS Adamovich, 525 (525). Der besondere Charakter ergibt sich u. a. auch aus dem Umstand, dass es „einen der europäischen Integration nach 1945 vergleichbaren umfassenden und gleichzeitig irgendwo begrenzten Einigungsprozess einer großen regionalen Staatengruppe in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat“; s. Oppermann, Europarecht, 336, unter Hinweis auf ähnliche, aber gescheiterte Unterfangen. Einen jüngsten Versuch, einen umfassenden regionalen Integrationsprozess in Gang zu bringen, bildet die Gründung der Afrikanischen Union, deren konstituierende Akte am 26. Mai 2001 in Kraft getreten ist; s. hierzu Packer/Rukare, in: AJIL 2002, 365 ff. Während damit gemäß den formulierten Zielsetzungen eine dem europäi-
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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schauungsobjekt. Auch wenn sich aus dem supranationalen Charakter der EU bedeutende Unterschiede ergeben, die einem Vergleich der rechtlichen Verdichtungsprozesse von vornherein gewisse Grenzen setzen, so soll daher im Folgenden nach den wesentlichen Merkmalen der europäischen Verfassungsdiskussion gefragt werden. Die Debatte5 über die Frage eines sich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union abspielenden Konstitutionalisierungsprozesses wurde und wird dabei in zweierlei Hinsicht geführt: Gegenstand der Diskussion bildet einerseits das im Zuge der europäischen Integration seit längerem wahrnehmbare und sich empirisch mehr und mehr verdeutlichende Phänomen einer „allmählichen institutionellen Verdichtung hin zu verfassungsartigen Strukturen“6. Andererseits aber begann sich die Diskussion ungefähr seit dem Jahr 20007 zunehmend auf die Frage einer formellen Verfassungsgebung für die EU im Sinne der Niederlegung der grundlegenden Normen in einem eigentlichen Verfassungstext zu konzentrieren. Handelt es sich bei beiden Fragekreisen um verfassungsrechtliche und -politische Problemstellungen, so geht es doch um grundsätzlich Unterschiedliches: Die eine Ebene der Verfassungsdebatte richtet sich auf die Kernfrage, inwie___________ schen Einigungsprozess ähnliche Entwicklung angestrebt wird, ist die Zukunft der Afrikanischen Union absolut ungewiss. Die genannten Autoren vergleichen die Organisation zum heutigen Zeitpunkt mit einer „leeren Hülle“ (a.a.O., 365 [377]). Bereits anlässlich der zweiten ordentlichen Versammlung der Afrikanischen Union, am 11. Juli 2003, wurde ein Protokoll betreffend Ergänzungen der konstituierenden Akte verabschiedet; s. Maluwa, in: Netherlands International Law Review 2004, 195 ff. 5 Zu diesem seit längerem diskutierten und kommentierten Prozess existiert eine umfangreiche, mittlerweile kaum mehr überschaubare Literatur. Siehe diesbezüglich nur die Beiträge von Bieber, in: Vom Schuman-Plan zum Vertrag von Amsterdam, 331 ff.; Blumann, in: Mélanges Jeanneau, 277 ff.; Donatsch, Europäische Union auf dem Weg zur Verfassunggebung?; Häberle, in: DVBl. 2000, 840 ff.; Hertel, in: JöR 2000, 233 ff.; Huber, in: VVDStRL 2001, 194 ff.; Lübbe-Wolff, in: VVDStRL 2001, 246 ff.; Petersmann/Ziegler, in: Herausgeforderte Verfassung, 479 ff.; Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 ff.; Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 ff.; Pache, in: EuR 2002, 767 ff.; Pernice, in: CMLR 1999, 703 ff.; ders., in: JöR 2000, 205 ff.; ders., in: VVDStRL 2001, 148 ff.; ders., in: FS Steinberger, 1319 ff.; Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 ff.; Weiler, Constitution of Europe, insb. 221 ff. Grundlegend die breit angelegten Untersuchungen von Häberle, Europäische Verfassungslehre, sowie Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. Gewissermaßen eine „neutrale“ (nämlich US-amerikanische) Sichtweise der Problematik vermitteln bspw. Dinnage/Murphy, Constitutional Law of the European Union, insb. 83 ff. Vgl. außerdem die weiteren spezifischen Hinweise im Rahmen des nachfolgenden Texts. 6 Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 (901). Vgl. auch etwa die Feststellung von Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1688), wonach „Europa sich tatsächlich auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung befindet und diese juristische Terminologie der sachlichen Entwicklung angemessen ist“. 7 Zu den Auslösern dieser Fokussierung noch anschließend, II.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
weit die bereits erfolgte politisch-institutionelle Evolution der – mittlerweile vertraglich mit dem Dach der Europäischen Union versehenen – Europäischen Gemeinschaften zugleich auch einen Verfassungsbildungsprozess darstelle und ob damit auch bereits eine rechtliche Grundordnung mit Verfassungsqualität vorliege. Währenddessen geht es bei der Diskussion über eine formelle EUVerfassung heute nach wie vor um Fragestellungen „de constitutione ferenda“. Das Scheitern des am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Europäischen Verfassungsvertrags8 hat nachhaltig gezeigt, dass die Wünschbarkeit eines formellen Verfassungsdokuments an sich stark umstritten ist; diese Einschränkung wird nach den jüngsten Erfahrungen noch für unbestimmte Zeit weiter gelten. Im Hinblick auf die angestrebte vergleichende Betrachtung der konstitutionellen Entwicklungen auf der allgemein-völkerrechtlichen sowie auf der gemeinschaftlich-europäischen Ebene ist zuerst auf die besondere rechtlich-institutionelle Ausgangslage des gemeinschaftlichen Konstitutionalisierungsprozesses einzugehen (I.). Die Bemühungen um die Inkraftsetzung eines formellen Verfassungsdokuments der EU sollen anschließend kurz gestreift werden (II.). Indessen geht es wie ausgeführt vorliegend darum, Aufschlüsse für die Beantwortung der Frage zu gewinnen, unter welchen Bedingungen in einem internationalen Kontext eine materielle (und gerade nicht eine von einer formellen Verfassungsquelle abhängige9) Verfassungsidee keimfähig ist. Wichtiger als die Debatte über eine formelle Verfassungsgebung ist aus dieser Perspektive daher die Frage nach dem Bestehen einer gemeinschaftlichen Verfassungsordnung unter den Vorzeichen, wie sie sich unabhängig von einem (allenfalls künftigen) eigentlichen EU-Verfassungsdokument präsentieren (III.).
I. Rechtlich-institutionelle Ausgangslage des gemeinschaftlichen Konstitutionalisierungsprozesses Die beiden erwähnten Diskussionsebenen gemeinschaftlicher Konstitutionalisierung sind von der spezifischen Ausgangslage geprägt, welche aus den rechtlich-institutionellen Eigenarten der Europäischen Union sowie der Europäischen Gemeinschaften resultiert.
___________ 8
Für das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags wäre – im Einklang mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften – die Ratifizierung durch sämtliche Mitgliedstaaten der EU vorausgesetzt gewesen (Art. IV-447 VE). Nachdem die Ratifikation in Frankreich und in den Niederlanden im Mai und Juni 2005 durch Referenden abgelehnt worden war, erwies sich die Inkraftsetzung als aussichtslos. Siehe dazu noch anschließend, II. 9 Vgl. die entsprechenden Überlegungen vorne in diesem Kap., B. II.
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Besonderheit der Europäischen Union im sogenannten „Maastricht-Urteil“10 mit dem Begriff „Staatenverbund“11 zum Ausdruck zu bringen versucht, womit die EU als ein Zwischengebilde zwischen Bundesstaat und Staatenbund charakterisiert wird: Einerseits wird damit betont, dass die EU „keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat“12 darstelle; andererseits aber bilde die EU eben gerade auch einen „engeren Rechtsverbund einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft“13. Damit ist zugleich auch evident, dass die EU – wie auch schon die Europäischen Gemeinschaften – in ihrer Eigenheit nicht ohne weiteres in die klassischen staatsrechtlichen sowie völkerrechtlichen Kategorien passt14.
1. Zur Frage der Staatlichkeit der EU Für die verschiedenen „Verfassungsfragen“ im Zusammenhang mit der Thematik grenzüberschreitender Konstitutionalisierungsprozesse ist zunächst insbesondere die auch im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthaltene Feststellung von Belang, dass es sich bei der Europäischen Union nicht um ein Gebilde mit Staatsqualität handelt15. Zwar bildete der Unionsvertrag von Maastricht16 eine neue Stufe für die Verbindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften17, indessen erfüllt die damit entstandene Union die ___________ 10
BVerfGE 89, 155 ff.; Auszüge aus der Entscheidung in EuGRZ 1993, 429 ff., sowie in EuZW 1993, 667 ff. In diesem Urteil aus dem Jahre 1993 verwarf das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag von Maastricht teils als unzulässig bzw. wies diese teils als unbegründet zurück. Damit wurde der Weg dafür geebnet, dass Deutschland den EUV (als letzter der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften) ratifizieren konnte. 11 So wiederholt in BVerfGE 89, 155 (181 ff.). Der Begriff ist in der deutschen Europarechtslehre inzwischen geläufig; vgl. dazu, insbesondere auch in seiner Prägung durch das Maastricht-Urteil, bspw. Häberle, in: DVBl. 2000, 840 (841); Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 855 (873); Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 (904 f.); Pernice, in: JöR 2000, 205 (208), m.w.N.; Tomuschat, in: EuGRZ 1993, 489 (491 f.); Tsatsos, in: EuGRZ 1995, 287 (292). Der Begriff des „Staatenverbunds“ begegnet allerdings auch erheblicher Kritik, vermöge er doch „kaum den Besonderheiten der EU gerecht zu werden“; s. Hilf, Kommentar zu Art. A EUV, in: Recht der Europäischen Union, Altband I, Rdnr. 34, m.w.N. 12 BVerfGE 89, 155 (188). 13 BVerfGE 89, 155 (183). 14 Vgl. bspw. Oppermann, Europarecht, 335. 15 Vgl. nur Blanke, in: DÖV 1993, 412 (414 ff.); Everling, in: DVBl. 1993, 936 (941 f.); Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 (904); Oppermann, in: Staatenverbund der EU, 87 (90 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 103 ff. 16 Vertrag über die Europäische Union (EUV; ABl. 1992 C 191, 1). 17 Siehe auch Art. 1 Abs. 2 (ex-Art. A Abs. 2) EUV in der durch den Vertrag von Amsterdam konsolidierten Fassung.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
klassischen Elemente18 der Staatlichkeit (Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt) nicht. Bezüglich der drei Europäischen Gemeinschaften (EG – zuvor EWG –, EGKS und EAG) hatte sich die Frage der Staatlichkeit in dieser Form nie gestellt19. Entsprechende Unklarheiten entstanden erst seit der Entstehung der EU durch das Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages im Jahre 1993 und die damit erfolgte „Überdachung“ der Europäischen Gemeinschaften, welche die Frage aufwarf, ob die Gemeinschaft damit „in das Stadium der Staatswerdung getreten“20 sei. So wurde diesbezüglich etwa angeführt, der Maastrichter Vertrag habe „ein staatsähnliches Gemeinwesen mit grundsätzlicher Allzuständigkeit“ konzipiert und das damit „angelegte politische System“ tendiere „zur staatlichen Reglementierung“21. Wird zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage allerdings der Maßstab der klassischen Staatskriterien angelegt, lässt sich die Frage kurz folgendermaßen beantworten22: –
Die Gemeinschaft hat zwar eine territoriale Ausdehnung, die sich aus der räumlichen Geltung des EGV23 nach dessen Art. 299 ergibt. Aus dieser Bestimmung resultiert allerdings zugleich auch, dass dieses Gebiet lediglich von den Mitgliedstaaten abgeleitet ist, kann es sich doch aufgrund einer einzelstaatlichen Entscheidung verändern. Entsprechend erfuhr das Gemeinschaftsgebiet durch die deutsche Vereinigung eine Vergrößerung um das Territorium der DDR24.
___________ 18 Wie sie sowohl die Staatsrechts- als auch die Völkerrechtslehre kennen. Siehe für die Staatsrechtswissenschaft anstelle vieler nur etwa – aus der schweizerischen Literatur – Haller/Kölz, Allgemeines Staatsrecht, 6 ff.; Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1 ff. Für die Völkerrechtslehre etwa Brownlie, Principles of Public International Law, 70 ff.; Doehring, Völkerrecht, 26 ff.; Nguyen Quoc/Daillier/ Pellet, Droit international public, 399 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 223 ff. Aus verfassungsrechtlicher Sicht zum völkerrechtlichen Staatsmodell außerdem Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 591 (602 ff.). Eine Reihe weiterer verfassungsrechtlicher Staatlichkeitskriterien, die als Maßstab an die EU im heutigen Zustand angelegt werden, entwickelt Haack, Verlust der Staatlichkeit, 115 ff., 173 ff. 19 Zur mangelnden Staatsqualität der Europäischen Gemeinschaften s. aber gleichwohl explizit Bleckmann, Europarecht, 76 ff. 20 Blanke, in: DÖV 1993, 412 (414). 21 So Rupp, in: NJW 1993, 38 (40). Vgl. hierzu aber die Kritik von Oppermann, in: Staatenverbund der EU, 87 (90, Fn. 10), diese Einschätzung setze sich mit den klassischen staats- sowie völkerrechtlichen Kriterien der Staatlichkeit zu wenig auseinander. 22 Zu den folgenden Punkten Blanke, in: DÖV 1993, 412 (414 ff.); Everling, in: DVBl. 1993, 936 (941 f.); Oppermann, in: Staatenverbund der EU, 87 (90 f.); ders., Europarecht, 339. 23 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (BGBl. II, 766). 24 Vgl. Everling, in: DVBl. 1993, 936 (941).
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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–
Hinter der Union steht nicht ein „europäisches Staatsvolk“, was vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass die mit dem Maastrichter Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft nach Art. 17 Abs. 1 EGV von der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates abhängig ist und auch nur parallel zu dieser bestehen kann. Auch übt die Union keine personelle Souveränität über die Unionsbürgerinnen und -bürger aus; die zwischen der Union und ihren Bürgerinnen und Bürgern bestehenden, Rechte und Pflichten umfassenden Beziehungen sind denn auch auf die enumerativ im EGV genannten Bereiche begrenzt25.
–
Es besteht auch keine eigene Unionsgewalt, die insbesondere mit einer umfassenden Rechtsetzungsgewalt verbunden wäre. Die Rechtsetzungsbefugnisse der Gemeinschaft sind vielmehr durch die Mitgliedstaaten in den völkerrechtlichen Verträgen, welche die drei Gemeinschaften sowie die EU begründen, festgelegt und begrenzt26. Das Gewaltmonopol verbleibt folglich bei den Mitgliedstaaten, und jeder gemeinschaftliche Rechtsakt setzt eine explizite oder jedenfalls auf dem Wege der Auslegung nachweisbare Rechtsgrundlage im Rahmen der Verträge voraus.
Staatlichkeit ist außerdem nicht ohne Rechtspersönlichkeit denkbar, die allerdings der Europäischen Union in ihrer heutigen Form ebenfalls überwiegend abgesprochen wird27. Gegen die Annahme einer eigenen Rechtspersönlichkeit der EU spricht etwa gerade der Umstand, dass ihr auf internationaler Ebene eine eigenständige Handlungsfähigkeit fehlt. Eine internationale Rechtspersönlichkeit haben lediglich die – auch unter dem Dach der EU weiterbestehenden – Europäischen Gemeinschaften, womit die Union nur durch diese überhaupt (nach innen wie nach außen) handlungsfähig ist. Nur die Europäischen Gemeinschaften stellen denn auch Völkerrechtssubjekte dar, nicht aber die EU28. ___________ 25
Vgl. Art. 17 Abs. 2 EGV. Dabei können die spezifischen Rechte und Pflichten auch aus dem sonstigen Primärrecht hervorgehen und zudem im sekundären Gemeinschaftsrecht konkretisiert werden; s. Oppermann, Europarecht, 93 f. 26 Sog. „Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit“, Art. 5 EUV bzw. Art. 5 Abs. 1 EGV; vgl. Oppermann, Europarecht, 197; s. auch ebd., 336, wonach die Begrenztheit der Befugnisse der EG diese „essentiell von Formen der Staatlichkeit unterscheidet“. 27 Vgl. Everling, in: DVBl. 1993, 936 (941); Oppermann, in: Staatenverbund der EU, 87 (90). S. zum Folgenden zudem auch Hilf, Kommentar zu Art. A EUV, in: Recht der Europäischen Union, Altband I, Rdnr. 25 ff.; Pliakos, in: RTDE 1993, 187 (208 ff.). Vgl. aber auch Trüe, in: ZEuS 2000, 127 ff., die argumentiert, gerade durch den Amsterdamer Vertrag sei die Rechtspersönlichkeit der EU von neuem bestätigt worden (hier, insb. in Fn. 3, auch m.w.N. zu sonstigen wissenschaftlichen Stimmen, die sich zugunsten einer zumindest teilweisen Rechtspersönlichkeit der EU aussprechen). 28 Vgl. neben der soeben angeführten Literatur bspw. auch Bleckmann, Europarecht, 84 f., sowie Oppermann, Europarecht, 722 f. Vgl. außerdem aber auch die in eine andere Richtung (Zuerkennung einer eigenen – und zwar ausschließlichen – Völkerrechtssubjektivität der EU) zielende Argumentation von v. Bogdandy/Nettesheim, in: EuR 1996, 3
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Dabei handelte es sich ursprünglich um drei Gemeinschaften (EG, EAG und EGKS), deren Zahl sich mit dem Auslaufen der vertraglich vorgesehenen Dauer des EGKSV von fünfzig Jahren am 23. Juli 2002 auf zwei reduziert hat29. Gemäß dem am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Reformvertrag von Lissabon soll die Union künftig mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sein30. Diesen Ansatz verfolgte auch bereits der am 29. Oktober 2004 unterzeichnete (in der Folge aber gescheiterte) Verfassungsvertrag der EU31.
2. Völkerrechtliche Einordnung der EG/EU Im Hinblick auf die vergleichende Betrachtung der auf den beiden unterschiedlichen Ebenen der völkerrechtlichen Staatengemeinschaft einerseits sowie der EU andererseits sich abspielenden „Konstitutionalisierungsprozesse“ ist außerdem auch die Abgrenzung der EG/EU bezüglich ihrer Rechtsnatur gegenüber „gewöhnlichen“ zwischenstaatlichen Bindungen von Belang. Dadurch wird der besondere Charakter der grundsätzlich ebenfalls auf völkerrechtlichen Verträgen beruhenden europäischen Integration hervorgehoben.
a) „Novität“ des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum Völkerrecht Zunächst ist festzuhalten, dass es sich sowohl beim Vertrag über die Europäische Union als auch bei den Verträgen zur Begründung der Europäischen Gemeinschaften um völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften handelt. Zumindest bezüglich der Europäischen Gemeinschaften32 ist außerdem zu erwähnen, dass diesen (in Verbindung ___________ (23 ff.); zugunsten einer Völkerrechtspersönlichkeit der EU auch Köck/Fischer, Recht der Internationalen Organisationen, 571. 29 Vgl. Art. 97 EGKSV; mit der Beendigung des Vertrags am 23. Juli 2002 ist auch die EGKS als Rechtspersönlichkeit erloschen; vgl. hierzu Kokott, in: EUV/EGV, 2530 (Rdnr. 1). 30 Siehe Art. 1 Ziff. 55 des Vertrags von Lissabon, der einen entsprechenden, neu einzusetzenden Art. 46a EUV vorsieht. 31 Art. I-7 EVV; vgl. hierzu Fassbender, in: AVR 2004, 26 ff. Zum Verfassungsvertrag wie auch zum Vertrag von Lissabon noch anschließend, II. 32 Demgegenüber ist nicht so eindeutig, ob auch die EU den Charakter einer internationalen Organisation hat, kommt ihr doch, wie soeben gesehen, keine internationale Rechtspersönlichkeit zu. Zugunsten einer Einschätzung der EU als internationale Organisation argumentieren gleichwohl Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 11 f.: Zum einen entspreche die EU dennoch der Definition einer internationalen Organisation. Zum andern sei das Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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mit ihrer internationalen Rechtspersönlichkeit) der Charakter von internationalen Organisationen zukommt33. Allerdings unterscheidet sich die Organisationsform der Europäischen Gemeinschaften gegenüber „traditionellen“ durch zwischenstaatliche Übereinkunft begründeten internationalen Organisationen durch spezifische qualitative Merkmale: So hat der EuGH bereits im Jahre 1963 das Gemeinschaftsrecht als „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ charakterisiert34. Als Elemente, welche die „Novität“ des Gemeinschaftsrechts gegenüber herkömmlichen völkerrechtlichen Regimen ausmachen, sind gemäß dem Urteil zu nennen35: das Ziel der „Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft“; die „Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt“; die Einschränkung der Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten zugunsten der Gemeinschaft; außerdem der Umstand, dass Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Diese Konzeption wurde durch die spätere Entwicklung bestätigt und weiter verfestigt36: So formulierte der EuGH in weiteren Grundsatzurteilen etwa das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht37 sowie das Prinzip der Staatshaftung für durch Verletzung des Gemeinschaftsrechts verursachte Schäden38. Als ein weiterer bedeutender Schritt, der die Besonderheit des Gemeinschaftsrechts gegenüber „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Vertragswerken von neuem deutlich belegte, kann schließlich die Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Maastrichter Vertrag betrachtet werden39.
___________ betreffend die Rechtspersönlichkeit der EU kein Grund, ihr diese abzusprechen; vielmehr sei es möglich, dass ihr die Rechtspersönlichkeit kraft ihrer „implied powers“ zukomme. 33 Vgl. Bernhardt, in: LA Seidl-Hohenveldern, 25 (insb. 34 f.); Meng, Recht der Internationalen Organisationen, 52, 89 ff.; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 8. 34 EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, 3 (25). Vgl. hierzu und zum Folgenden Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (1 f.); s. hier auch die Bemerkung, die Einschätzung des Gemeinschaftsrechts als „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ sei nach wie vor gültig. 35 EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, 3 (24 f.). 36 Dazu Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (2). 37 Vgl. das entsprechende Grundsatzurteil des EuGH, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251. 38 Vgl. EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357. 39 Siehe Art. 2, 3. Spiegelstrich, des EUV in der konsolidierten Fassung des Vertrags von Amsterdam (ex-Art. B, 3. Spiegelstrich) sowie Art. 17-22 (ex-Art. 8-8e) EGV.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
b) Insbesondere: Supranationalität der EG/EU Zusätzlich zur Charakterisierung der Europäischen Gemeinschaften als internationale Organisationen rechtfertigen deren rechtlichen und institutionellen Besonderheiten40 außerdem die Qualifikation als supranationale Organisation. Dabei lassen sich insbesondere die folgenden Merkmale aufzählen, die hierzu beitragen41. Deren gemeinsamer Nenner besteht in ihrem Beitrag zur vergleichsweise großen Kompetenzfülle der Gemeinschaft sowie in einer entsprechenden Minderung der Souveränität der Mitgliedstaaten. –
Den deutlichsten Ausdruck findet der supranationale Charakter in der autonomen Rechtsetzungsgewalt der Gemeinschaft. Den gemeinschaftlichen Organen kommt dabei die Befugnis zu, Recht zu setzen, das für alle Mitgliedstaaten unmittelbare Verbindlichkeit entfaltet und gegenüber nationalem Recht unbedingten Vorrang beansprucht. Die Rechtsetzungsgewalt der Gemeinschaft wirkt sich damit gegebenenfalls auch unmittelbar auf die Rechte und Pflichten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten aus.
–
Die Durchsetzung des damit resultierenden autonomen Gemeinschaftsrechts ist durch umfassende Rechtsschutzmechanismen gewährleistet. Zu diesen tragen sowohl die (durch den Europäischen Gerichtshof sowie durch das Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften ausgeübte) übergeordnete europäische Gerichtsbarkeit als auch die nationalen Gerichte bei.
–
Die materiellen Bereiche, in welchen den Gemeinschaftsorganen vorrangige Kompetenzen zukommen, umfassen weite Teile dessen, was normalerweise in die Zuständigkeit des einzelnen Staates fällt42.
–
Die Willensbildung im Rahmen der Gemeinschaft geschieht in einem gewissen Ausmaß durch (einem gemeinsamen europäischen Interesse verpflichtete) Gemeinschaftsorgane, die gegenüber den Mitgliedstaaten selb-
___________ 40
Die auch die „Novität“ der gemeinschaftlichen Rechtsordnung ausmachen. Zum Folgenden etwa Bleckmann, Europarecht, 80; Breitenmoser, in: ZaöRV 1995, 951 (972 ff.); Oppermann, Europarecht, 337 ff.; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 8 f. Zum Begriff und zu den Kriterien der Supranationalität allgemein etwa Chapuis, Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen, 11 ff., 26 ff. Für eine spezifisch individualrechtliche Interpretation der Bedeutung der Supranationalität der Gemeinschaft s. außerdem Weiler, in: Espace constitutionnel européen, 413 (419 ff.). 42 Die Breite der Aufgabenbereiche, in welchen der EU Kompetenzen zukommen, ist dabei mittlerweile enorm; vgl. nur Oppermann, Europarecht, 337. 41
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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ständig sind. Dabei ist in gewissen Fällen auch die „Möglichkeit souveränitätsüberspringender Mehrheitsentscheidungen“43 gegeben. –
Die Gemeinschaft ist außerdem in finanzieller Hinsicht insofern autonom, als sie sich nicht (mehr) durch die Beiträge der Mitgliedstaaten, sondern vollständig durch eigene Einnahmen finanziert44.
Einzelne dieser Kriterien werden teilweise auch im Rahmen anderer zwischenstaatlicher Vertragswerke erfüllt45; so sind beispielsweise auch mit der EMRK oder mit dem WTO-System in den jeweiligen spezifischen Regelungsbereichen weitreichende internationale Rechtsschutz- bzw. Streitbeilegungsmechanismen verbunden. Demgegenüber besteht die den supranationalen Charakter verdeutlichende spezifische Eigenart der EU darin, dass die genannten Merkmale hier akkumuliert zu Tage treten; die Union wird damit zu einer „besonders intensiven Staatenverbindung sui generis“46, wobei sie sich strukturell sowohl vom herkömmlichen Organisationstypus des Staates als auch von jenem der internationalen Organisation in bedeutendem Maße unterscheidet47. Hervorzuheben ist außerdem, dass die (sich aus der autonomen Rechtsetzungsgewalt der Gemeinschaft ergebende) gemeinsame überstaatliche Rechtsordnung, die der supranationalen Staatengemeinschaft eigen ist48, in struktureller Hinsicht einen besonderen „Mischcharakter“ aufweist49: Einerseits beruht die im Primärrecht50 niedergelegte Gemeinschaftsordnung auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen und richtet sich mit ihren Bestimmungen, soweit diese die Integration der verschiedenen Mitgliedstaaten in den Gemeinschaftsverband regeln, auch an die einzelnen Staaten. Andererseits aber beschränkt sich die Herrschaftsgewalt der supranationalen Ordnung gerade nicht auf das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, sondern erfasst in bedeutendem Ausmaß auch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger und integriert mithin auch diese in die beson___________ 43
Oppermann, Europarecht, 338. Die vollständige Finanzierung aus Eigenmitteln und damit die Unabhängkeit von Beiträgen der Mitgliedstaaten ist seit 1995 der Fall, vgl. Oppermann, Europarecht, 311. Zu den hauptsächlichen Einnahmequellen der EU ebd., 314 f. 45 Vgl. Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 8. 46 Oppermann, Europarecht, 339. 47 Vgl. v. Bogdandy, in: Humboldt-Forum Recht, Beitrag 5/1997, 1 sowie insb. 5 ff., der aufgrund der spezifischen Eigenheiten der in der EU verwirklichten supranationalen Herrschaftsform vorschlägt, „das bislang zweipolige Verhältnis der Organisationstypen internationale Organisation – Staat zu einem dreipoligen Verhältnis zu erweitern“, wobei der dritte Pol als „supranationale Union“ bezeichnet werden solle. 48 Vgl. allgemein Chapuis, Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen, 31 ff., 196 ff. 49 Zum Folgenden Hertel, in: JöR 2000, 233 (245 ff.). 50 Also in den verschiedenen die Europäischen Gemeinschaften sowie die Europäische Union konstituierenden Verträgen. 44
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dere Rechtsgemeinschaft. In der gemeinschaftlichen Rechtsordnung resultiert damit eine Verbindung aus völkerrechtlichen Strukturen sowie traditionell nur bei Staaten vorhandenen Strukturelementen51. Als Merkmal des Mischcharakters des supranationalen Ordnungsgefüges erweist sich dabei erstens der Umstand als solcher, dass die zwei verschiedenen Gewaltverhältnisse in derselben gemeinsamen Rechtsordnung verzahnt sind52. Darüber hinaus widerspiegelt sich der Mischcharakter auch in der unterschiedlichen Legitimationsbasis zweier sich unterscheidender Rechtsmassen: Soweit die Vereinbarungen lediglich die Einbindung der Mitgliedstaaten in das überstaatliche Gefüge bewirken – ohne dabei die Rechte und Pflichten der Einzelnen direkt zu betreffen –, entspricht das Verfahren des zwischenstaatlichen Vertragsschlusses den (völkerrechtlichen) Gepflogenheiten. Vertragssubjekte (Vertragsschließende) und Vertragsobjekte (Vertragsadressaten) sind sich hier gleich, und die Frage nach der Legitimität der supranationalen Ordnung beantwortet sich hinsichtlich zwischenstaatlicher Rechtsverhältnisse ohne weiteres mit dem Hinweis auf diesen Umstand. Indessen richtet sich die andere Rechtsmasse des supranationalen Gefüges auch an Individuen, nämlich an die (jedenfalls teilweise) unmittelbar betroffenen Bürgerinnen und Bürger der beteiligten Staaten, wobei dem Gemeinschaftsrecht sogar Vorrang gegenüber dem jeweiligen nationalen Recht zukommt. Auch hier bildet die Identität zwischen Herrschaftsbegründenden und Herrschaftsunterworfenen die grundlegende Voraussetzung legitimer Herrschaft und stellt dabei zugleich das Idealbild des im modernen Verfassungsstaat Angestrebten dar53. Wird dieses Bild auf den Rahmen der supranationalen Gemeinschaft übertragen, so setzt eine mit dem verfassungsstaatlichen Ideal vergleichbare Legitimationsbasis der Rechte und vor allem der Pflichten der Einzelnen freilich voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger auch hier am Willensakt, der dem Herrschaftsverhältnis zugrunde liegt, partizipieren. Insofern ist allerdings festzuhalten, dass die supranationale Ordnung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der EU auf dem völkerrechtlichen Vertragsschluss der Mitgliedstaaten gründet. Es stellt sich dabei die Frage, ob damit eine ausreichende Legitimationsbasis der die einzelnen Bürgerinnen und Bürger betreffenden Rechtsmasse der supranationalen Ordnung gegeben sei. ___________ 51
Siehe Classen, in: AöR 1994, 238 (240 f.). Bezüglich der mit den beiden Rechtsmassen verbundenen unterschiedlichen Integrationsziele (einerseits Integration der Mitgliedstaaten in den Gemeinschaftsverband, andererseits der einzelnen Bürgerinnen und Bürger) spricht Hertel, in: JöR 2000, 233 (246 f.), auch davon, der doppelte Integrationsprozess bilde das zentrale Abgrenzungsmerkmal des supranationalen Ordnungsmodells gegenüber dem Staat sowie den klassischen internationalen Organisationen. 53 Vgl. hierzu auch noch hinten in diesem Kap., D. III. 1., zur Verwendbarkeit des Verfassungsbegriffs im internationalen Kontext. 52
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II. Zur Diskussion über eine formelle Verfassung der EU Beim Blick auf die europäische Verfassungsdebatte geht es wie bereits angesprochen54 darum, Erkenntnisse für allfällige Rückschlüsse auf die völkerrechtliche Konstitutionalisierungsthematik zu gewinnen. Daraus folgt, dass eine mögliche Entwicklung hin zu einer formellen Verfassung der EU von geringerer Bedeutung ist als die Frage, inwiefern bereits heute vom Bestehen einer Verfassung im rein materiellen Sinn gesprochen werden könne. Gleichwohl ist festzustellen, dass die in den letzten Jahren geführte Diskussion über einen allfälligen formellen Verfassungstext der EU Fragen aufgeworfen hat, die auch für den vorliegenden Untersuchungskontext von Interesse sind. So führt gerade die mit dem Hinweis auf den Mischcharakter der supranationalen Rechtsordnung der EU verbundene Frage nach der demokratischen Legitimität von Regeln, die unmittelbare Wirkung für die Einzelnen entfalten, zu den Hintergründen des Verlangens nach einer formellen Verfassung für die EU. Hinter der Verfassungsforderung steht nämlich nicht zuletzt die Feststellung eines „europäischen Demokratiedefizits“55: So wird darauf hingewiesen, dass einerseits das innerstaatliche Recht und letztlich auch der rechtliche Alltag der Bürgerinnen und Bürger durch die Normen des Gemeinschaftsrechts (und dabei nicht zuletzt auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs56) stark geprägt sind. Andererseits aber bestehen im Rahmen der institutionalisierten Verfahren für die direkt betroffenen Individuen nur geringe Möglichkeiten der Einflussnahme. Letzteres wird auch dadurch akzentuiert, dass das ___________ 54
Siehe die einführenden Vorbemerkungen in diesem Unterkapitel C., vor I. Siehe Grimm, in: JZ 1995, 581 (582, 586 f.); ders., in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 509 (516 ff.). Zum Folgenden außerdem – anstelle vieler und mit unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Relevanz eines derartigen Defizits – etwa auch Classen, in: AöR 1994, 238 ff.; Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 103 ff.; Cottier/Scarpelli, in: FS Bieber, 37 (42 f.); Epiney/Siegwart/Cottier/Refaeil, Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 122 ff.; Hrbek, in: GS Grabitz, 171 ff.; Keller/Siegwart, in: SJE/ASDE 2003, 321 (322 ff.); Lübbe-Wolff, in: VVDStRL 2001, 246 ff.; Mackenzie-Stuart, in: Mélanges Schockweiler, 389 ff.; Müller, in: ZSR NF 1991 I, 103 (107 ff.); Pernice, in: Handbuch des Staatsrechts, 225 (255 f.); ders., in: Die Verwaltung 1993, 449 (451 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 626 ff.; Petersmann/Ziegler, in: Herausgeforderte Verfassung, 479 (483 f., 486); Piris, in: RTDE 1994, 1 (13 ff.); Randelzhofer, in: Staatenverbund der EU, 39 ff. Allgemein zum Begriff des Demokratiedefizits im Übrigen Diggelmann, Liberaler Verfassungsstaat und Internationalisierung der Politik, 67 ff. 56 Eine entscheidende Rolle spielt der EuGH insbesondere bei der Entwicklung von Grundsätzen, die auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht hinzielen; vgl. zur Frage, inwiefern der EuGH dabei auch eine Funktion der Verfassungsfortbildung ausübt, Winter, in: Verfassungen für ein ziviles Europa, 45 (66 ff.). 55
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von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Europäische Parlament unter den derzeitigen institutionellen Gegebenheiten nur einen schwachen Einfluss auf die wesentlichen Entscheidungsverfahren hat57. Damit nimmt dieses nicht jene spezifische Funktion ein, wie sie einem Parlament in einem repräsentativen Demokratiemodell58 zukommen würde. Indem Sachkompetenzen von den Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft verlagert werden59, gleichzeitig aber die wesentlichen Entscheidungen auf der europäischen Ebene in der Verantwortung der nationalen Regierungsvertreter liegen, lässt sich im Ergebnis in Bezug auf die Rechtsetzung gar von einer eigentlichen „Entparlamentarisierung“ sprechen60. Nicht zuletzt auf der konstatierten Legitimationsschwäche des gemeinschaftlich gesetzten Rechts, und dabei insbesondere des europäischen Primärrechts, basiert denn auch das Verlangen nach einer Verfassung für die Europäische Union61. Derartige Forderungen werden bereits seit längerem erhoben, wobei seit dem Jahr 1984 erste Resultate in der Form mehrerer vom Europäischen Parlament initiierter Verfassungsentwürfe entstanden62. Angefacht wurde die Diskussion schließlich nicht zuletzt durch die deutsche Regierung, deren damaliger Außenminister Fischer vor dem Hintergrund der institutionellen Reformen der EU (welche sich im Hinblick auf deren Erweiterung um verschie___________ 57 Siehe Grimm, in: JZ 1995, 581 (582). Vgl. aber auch etwa Classen, in: AöR 1994, 238 (250 ff.), der u. a. argumentiert, das Europäische Parlament sei in den zentralen Bereichen, in denen Rechte der Bürgerinnen und Bürger betroffen seien, zur Mitentscheidung befugt (ebd., 252). 58 Hierzu Scheyli, Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie, 117 ff., m.w.N. 59 So werden bspw. gemäß Kirchhof, in: JZ 2004, 981 (984), achtzig Prozent des in Deutschland verbindlichen Wirtschaftsrechts durch die EU beschlossen. 60 Siehe Kirchhof, ebd., sowie Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 627. Ausführlich zur Entparlamentarisierungsthese und zu möglichen Mitteln zur Gegensteuerung Dieringer, in: Verfassung für Europa, 167 ff.; zur Rolle der Parlamente „im europäischen Entscheidungsgefüge“ zudem Schröder, in: EuR 2002, 301 ff. 61 Vgl. Grimm, in: JZ 1995, 581 (582). Für einen Überblick zu derartigen Forderungen Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 21 ff.; weitere Nachweise zu den verschiedenen Positionen, die in der Debatte eingenommen werden bzw. wurden, ob die EU eine „Verfassung“ brauche oder nicht, auch bei Pernice, in: JöR 2000, 205 (206). Pointiert zugunsten einer „europäischen Verfassungsgebung“ nach einem besonderen Verfahren äußerte sich etwa Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (insb. 294 ff.). Gegen das Projekt einer formellen Verfassungsgebung – zumindest im damaligen Zeitpunkt – argumentierte bspw. Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 ff. Dezidiert gegen eine europäische Verfassung im formellen Sinn auch Grimm, a.a.O., 581 (insb. 590 f.). Kritisch zu den Hintergründen der politischen Forderung nach einer Verfassung für die EU Hertel, in: JöR 2000, 233 (236 f.). 62 Nachweise hierzu bei Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (291), sowie Hertel, in: JöR 2000, 233 (233, Fn. 3).
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dene mittel- und osteuropäische Staaten aufdrängten63) seit dem Jahr 1999 mehrfach dazu anregte, die Debatte um eine „Europäische Verfassung“ zu konkretisieren64. Die Debatte um eine „Europäische Verfassung“ betrifft inhaltlich unter anderem65 wichtige institutionelle Fragen, so etwa betreffend die Veränderungen im institutionellen System im Hinblick auf die Erweiterung der EU oder betreffend die Funktion und die Verantwortlichkeit der Europäischen Kommission. Am raschesten gediehen die diskutierten Verfassungspläne zunächst im Bereich der Grundrechte: Der Europäische Rat beschloss im Juni 199966, im Hinblick auf die Ergänzung des bereits bestehenden Grundrechtsschutzes67 bis Ende des Jahres 2000 eine Europäische Grundrechts-Charta auszuarbeiten. Anlässlich des EU-Gipfels von Nizza wurde schließlich im Dezember 2000 auch feierlich eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union68 proklamiert. Während zunächst noch unklar war, welchen normativen Charakter die Charta schließlich haben würde69, war von ihr bereits zu jenem Zeitpunkt als erster Schritt hin zur Verwirklichung einer (formellen) Europäischen Verfassung die Rede70. ___________ 63
Vgl. Pernice, in: JöR 2000, 205 (207). Vgl. die Ansprache des ehemaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer vor dem Europa-Parlament vom 21.7.1999, abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 45/1999; zit. nach Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1679). Siehe auch die am 12.5.2000 an der Humboldt-Universität in Berlin gehaltene Rede „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“; zum Text s. Fischer, in: Verfassungsrechtliche Reformen zur Erweiterung der Europäischen Union, 171 ff. Die Anregungen Fischers sind allgemein vor dem Hintergrund der Bemühungen der seinerzeitigen deutschen Regierung zu sehen, das Projekt der Verwirklichung einer „Europäischen Verfassung“ im Sinne einer formellen Urkunde zu propagieren; s. hierzu die Hinweise bei Hertel, in: JöR 2000, 233 (233); Pernice, in: JöR 2000, 205 (206 f.). Zufolge Pernice, in: FS Steinberger, 1319 (1320), sei die an der Humboldt-Universität gehaltene Rede Fischers als entscheidender Anstoß für das Ingangkommen der Diskussion über ein formelles Verfassungsdokument zu betrachten. 65 Die Literatur zu Teilfragen der Verfassungsdebatte ist längst ins Unüberschaubare gewachsen. Zu weiteren Gegenständen der Debatte s. insofern lediglich die Übersichten, die etwa folgende Autoren vermitteln: Pache, in: EuR 2002, 767 ff.; Ruffert, in: EuR 2004, 165 ff.; Scholz, in: ZG 2002, 1 (6 ff.); Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1678 ff.); Zuleeg, in: Der Staat 2002, 359 ff. 66 Siehe die Dokumentation des Beschlusses in: EuGRZ 1999, 364 ff. 67 Wie er auf nationaler Ebene sowie auf Gemeinschaftsebene durch die Rechtsprechung des EuGH gewährleistet wird; s. Pernice, in: DVBl. 2000, 847 (849 f.), m.w.N. Zum gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz (als Element einer bereits bestehenden „Verfassungsordnung“ der EU) noch ausführlicher anschließend in diesem Kap., C. III. 2. b) bb). 68 ABl. 2000 C 364, 1. 69 Vgl. zur damaligen Ausgangslage etwa Pernice, in: DVBl. 2000, 847 (852 ff.). 70 So vom Europäischen Rat selbst, s. Weber, in: NJW 2000, 537 (538); zudem auch vom Europäischen Parlament, s. dessen Entschließung vom März 2000 betreffend die 64
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Tatsächlich konkretisierten sich in der Folge die Bestrebungen zur europäischen Verfassungsbildung rasch71: Mit der Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union72 berief der Europäische Rat im Dezember 2001 einen Konvent ein, um – nicht zuletzt im Hinblick auf die Erweiterung der EU73 – „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“74. Die Ausführung dieses Auftrags75 durch den Europäischen Konvent76 resultierte im Entwurf eines Verfassungsvertrags77, der im Juli 2003 dem Europäischen Rat übergeben wurde78. Wesentliche inhaltliche Merkmale dieses Dokuments ___________ Erarbeitung der Grundrechte-Charta der EU, insb. Paragraph 1, wiedergegeben in: EuGRZ 2000, 189 ff.; zu Letzterem auch Pernice, in: DVBl. 2000, 847 (848). Vgl. des Weiteren zu diesbezüglichen Stimmen auch Pernice, in: JöR 2000, 205 (206 f.), m.w.N.; Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1684 f.). Von einem prozeduralen „Meilenstein in der Verfassungsentwicklung Europas“ sprach in diesem Zusammenhang Hobe, in: EuR 2003, 1 (10 f.). Zu den Vorteilen der Niederlegung eines Grundrechtskatalogs im Rahmen einer besonderen Europäischen Verfassungsgebung auch bereits Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (295 f.). Gemäß Mayer, in: RTDE 2003, 175 (194), sei die konstitutionelle Dimension der Charta (auch) darin zu sehen, dass sich die Gemeinschaft durch sie ihrer gemeinsamen Werte versichere; ähnlich Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 8. 71 Die unerwartete Geschwindigkeit der Entwicklung zeigt sich etwa in der noch im Jahre 1999 von Oeter, in: ZaöRV 1999, 901 (903), geäußerten Ansicht, die Debatte um eine europäische Verfassung „de lege ferenda“ weise „zutiefst utopische Züge“ auf. 72 Erklärung zur Zukunft der Union (Erklärung Nr. 23 der von der Konferenz in Nizza angenommenen Erklärungen; ABl. 2001 C 80, 85). 73 Zu dieser „geopolitischen Vorgegebenheit“ der Konventsaufgabe Tsatsos, in: FS Häberle, 223 (226 ff.). 74 Siehe die Dokumentation der Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union in: EuGRZ 2002, 662 ff.; die zitierte Passage findet sich in Abs. III der Erklärung („Die Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas“). 75 Vgl. zu den diversen Aspekten dieses Auftrags etwa Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, 23 ff. Zur Entstehung und zu den Hintergründen der Konventsidee Oppermann, in: Verfassung für Europa, 191 (194 ff.). Spezifisch zu legitimationstheoretischen Aspekten des Konvents (durch Einbeziehung der politischen Öffentlichkeit) Peters, in: EuR 2004, 375 (382 ff.); aus demokratietheoretischer Perspektive zudem Beyer, Konvent zur Zukunft Europas. Allgemein ferner Klinger, Konvent. 76 Zur Arbeit des Konvents Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, 33 ff.; Große Hüttmann, in: Verfassung für Europa, 137 ff.; Tsatsos, in: FS Fleiner, 749 ff. 77 Entwurf (des Europäischen Konvents) eines Vertrags über eine Verfassung für Europa (CONV 850/03). 78 Der Europäische Konvent schloss seine Arbeit am 10. Juli 2003 mit der Annahme des endgültigen Verfassungsentwurfs ab. Zum Verfassungsentwurf des Konvents bspw. Calliess/Ruffert, in: EuGRZ 2004, 542 (546 ff.); Einem, in: EuR 2004, 202 ff.; Jaag, in: EuZ 2003, 104 ff.; Köck, in: Verfassung für Europa, 225 (228 ff.); Mayer, in: Integration 2003, 398 ff.; Meyer/Hölscheidt, in: EuZW 2003, 613 (614 ff.); Schwarze, in: EuR 2003, 535 ff.; Thürer, in: SJE/ASDE 2003, 305 ff.; verschiedene Beiträge in Busek/Hummer (Hrsg.), Europäischer Konvent, sowie Schwarze (Hrsg.), Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents.
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bildeten gemäß dem abschließenden Bericht des Konventsvorsitzes „eine Verschmelzung und Umstrukturierung der bestehenden Verträge in Form eines Verfassungsentwurfs und eine einzige Rechtspersönlichkeit für die Europäische Union“79. Dabei sollte sich auch die der Grundrechte-Charta – wie zuvor erwähnt – schon früh zugedachte Rolle eines Nukleus einer formellen EU-Verfassung verwirklichen, indem die Charta als zentrales Element in den Konventsentwurf integriert wurde80. Anlässlich der Tagung des Europäischen Rats in Brüssel vom Juni 2004 einigten sich die Mitgliedstaaten auf den Vertragstext für die EU-Verfassung81. Am 29. Oktober 2004 wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa82 schließlich in Rom durch die Staats- und Regierungschefs der damals fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Mit der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags schien sich der europäische Konstitutionalisierungsprozess definitiv auf dem Geleise einer verfahrensförmigen Verfassungsgebung83 weiterzubewegen. Das Bild erwies sich indessen als trügerische Momentaufnahme. Das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags setzte die Ratifizierung durch sämtliche Mitgliedstaaten voraus84; dies nach Durchlaufen der jeweiligen durch innerstaatliches Verfassungsrecht vorgegebenen Verfahren, womit die Ratifikationen zu einem erheblichen Teil von nati-
___________ 79
Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rats, Ziff. 7 (CONV 851/03). 80 Von einem „Meilenstein in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union“ sprach im Zusammenhang mit der beabsichtigten Inkorporation der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag Grabenwarter, in: EuGRZ 2004, 563 (570). Als „größte Errungenschaft des Konvents“ sahen dies Meyer/Hölscheidt, in: EuZW 2003, 613 (618). Zufolge Kingreen, in: EuGRZ 2004, 570 (576), festigte die Einfügung der GrundrechteCharta „den Übergang von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einem politischen Gemeinwesen“. Zu den Funktionen der in der Charta niedergelegten Grundrechte im Verfassungsvertrag auch Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 7 ff.; allgemein zur Bedeutung der Charta als Teil des Verfassungsvertrags zudem Schmitz, in: EuR 2004, 691 ff. 81 Der Vertragstext basierte im Wesentlichen auf dem Verfassungsentwurf des Konvents. 82 ABl. 2004 C 310, 1. Zu diesem allgemein etwa Fischer, Europäischer Verfassungsvertrag, 109 ff.; Obwexer, in: ecolex 2004, 674 (684 ff.); Papier, in: EuGRZ 2004, 753 ff.; Schwarze, in: European Public Law 2006, 199 ff.; Streinz/Ohler/Herrmann, Neue Verfassung für Europa, 18 ff. Jeweils verschiedene Beiträge ferner in den Sammelbänden Hofmann/Zimmermann (Hrsg.), Verfassung für Europa; Höreth/Janowski/ Kühnhardt (Hrsg.), Europäische Verfassung. 83 Zum Begriff Donatsch, Europäische Union auf dem Weg zur Verfassunggebung?, 164 ff., 220 f. 84 Art. IV-447 EVV.
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onalen Referenden abhängig waren85. Nachdem der Verfassungsvertrag bereits von zehn Staaten ratifiziert worden war, geriet der Prozess am 29. Mai und 1. Juni 2005 ins Stocken, als sich die Stimmberechtigten Frankreichs86 und der Niederlande87 gegen die Ratifikation des Verfassungsvertrags entschieden. Das Resultat des Ratifikationsprozesses des Verfassungsvertrags war schließlich zum Anfang des Jahres 2007 wie folgt88: Von insgesamt siebenundzwanzig Mitgliedstaaten ratifizierten achtzehn das Dokument89; in zwei Staaten wurde die Ratifikation durch Referenden abgelehnt90; sieben Staaten erklärten als Konsequenz, die Ratifikation nicht weiter zu verfolgen91. In der Folge kam das Projekt der formellen Konstitutionalisierung der EU im „Jahr der Entscheidung“92 (vorläufig) vollständig zum Stillstand, indem der Europäische Rat anlässlich seiner Tagung vom 21./22. Juni 2007 in Brüssel entschied: „Das Verfassungskonzept, das darin bestand, alle bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung ‚Verfassung‘ zu ersetzen, wird aufgegeben.“93 Gleichzeitig wurde eine zu diesem Zweck einberufene Regierungskonferenz durch den Europäischen Rat beauftragt, bis zum Ende des Jahres 2007 einen als Reformvertrag bezeichneten „Vertrag zur Änderung der bestehenden Verträge“ auszuarbeiten94. Am ___________ 85
Für grundlegende theoretische Überlegungen zur Rolle dieser Referenden s. Schmitz, in: EuR 2003, 217 ff. Vgl. außerdem etwa de Burca, in: European Law Journal 2006, 6 ff.; Mayer, in: EuZW 2003, 321; Ruffert, in: EuR 2004, 165 (195 ff.). 86 Zur verfassungsrechtlichen Ausgangslage in Frankreich s. Walter, in: EuGRZ 2005, 77 ff.; der abgelehnte Entwurf des verfassungsändernden Gesetzes im Hinblick auf die Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrags ist abgedruckt in: EuGRZ 2005, 183. 87 Zur niederländischen Volksabstimmung und ihren Folgen Besselink, in: European Public Law 2006, 345 ff. 88 Zur damaligen Situation im Ratifizierungsprozess Mayer, in: JZ 2007, 593 ff.; Vedder/Heintschel von Heinegg, in: Europäischer Verfassungsvertrag, 35 (38 ff.). 89 Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg (nach Referendum), Malta, Österreich, Slowakei, Slowenien, Spanien (nach Referendum), Ungarn, Zypern sowie (durch den Beitritt zur EU mit dem 1. Januar 2007) Bulgarien und Rumänien. 90 Frankreich und Niederlande. 91 Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Schweden, Tschechien, Vereinigtes Königreich. 92 Vedder/Heintschel von Heinegg, in: Europäischer Verfassungsvertrag, 35 (40). 93 Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007 (Dok. 11177/07), Anlage I, Ziff. 1; Text abgedruckt in: EuGRZ 2007, 378 ff. 94 Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007 (Dok. 11177/07), Ziff. 8 ff. sowie Anlage I, Ziff. 1. Vgl. zum Mandat des Europäischen Rats an die Regierungskonferenz Chalmers, in: ELRev 2007, 441 f.; Rabe, in: NJW 2007, 3153 ff.; Richter, in: EuZW 2007, 631 ff.; Terhechte, in: EuZW 2007, 521; Weber, in: EuZW 2008, 7 (7); ferner die „Editorial Comments“, in: CMLR 2007, 1229 ff.
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13. Dezember 2007 erfolgte in Lissabon die Unterzeichnung des Reformvertrags95. Dieser zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass er – wie durch den Europäischen Rat vorgegeben96 – rein äußerlich keinen Verfassungscharakter aufweist, insbesondere jede entsprechende Begrifflichkeit vermeidet. Allerdings bestimmte das Mandat zur Ausarbeitung des Reformvertrags auch, dass „die auf die Regierungskonferenz 2004 zurückgehenden Neuerungen“97 – mit anderen Worten der Inhalt des gescheiterten Römer Verfassungsvertrags – übernommen werden sollten. Formell geschieht dies, indem die bestehenden Verträge in Kraft bleiben, aber entsprechend ergänzt werden. Während der EUV dabei weiterhin unter dieser Bezeichnung gelten soll, ist allerdings vorgesehen, den EGV in „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ umzubennen98. Hervorzuheben ist ferner, dass die Grundrechte-Charta nicht direkt in die bestehenden Verträge integriert, indessen mittels eines Verweises gleichwohl als rechtsverbindlich erklärt werden soll99. Die Tatsache, dass die wesentliche Substanz des Verfassungsvertrags durch den Reformvertrag von Lissabon in das Primärrecht eingegliedert werden soll, obwohl das formelle Verfassungsprojekt gescheitert ist, hat zu Kritik geführt. So wurde angemerkt, im Ergebnis handle es sich um „eine Verfassung ohne die übliche Rhetorik“100. Es wird abzuwarten sein, ob der Reformvertrag von Lissabon – und damit auch die gewählte Vorgehensweise, die untrennbar mit der Vorgeschichte des Scheiterns des Römer Verfassungsvertrags verbunden ist – die erforderliche Akzeptanz in den Mitgliedstaaten der EU finden wird. Vorgesehen ist, dass der Vertrag (und mit ihm die neue Struktur des Primärrechts) spätestens bis zu den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 in Kraft tritt101. Hierfür ist – wie ehedem beim Verfassungsvertrag – die Ratifizierung durch sämtliche Mitgliedstaaten erforderlich102. ___________ 95
Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl. 2007 C 306, 1). 96 Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007 (Dok. 11177/07), Anlage I, Ziff. 3. 97 Ebd., Ziff. 1. 98 Ebd., Ziff. 2. 99 Art. 6 Abs. 1 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 8 Vertrag von Lissabon. 100 Terhechte, in: EuZW 2007, 521. Als „mehr oder weniger clandestin“ bezeichnet Heinig, in: JZ 2007, 905 (905), die Überführung des Inhalts des Verfassungsvertrags in die europäischen Verträge durch den Reformvertrag. Vgl. auch Weber, in: EuZW 2008, 7 (14), der allerdings Anzeichen für eine nunmehr „realistische Verfassungspolitik“ sieht. 101 Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007 (Dok. 11177/07), Ziff. 11. 102 Art. 6 Vertrag von Lissabon (Schlussbestimmungen).
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III. Bestehen einer materiellen gemeinschaftlichen Verfassungsordnung? Von der Debatte über eine formelle Verfassungsgebung für die EU ist die Frage zu unterscheiden, ob und in welchem Rahmen in materieller Hinsicht eine gemeinschaftliche Verfassungsordnung existiere: Bereits bestehende normative Strukturen bilden den Anlass für die These, es habe (längst schon) ein Verfassungsbildungsprozess eingesetzt und die rechtliche Grundordnung der Gemeinschaft weise auch bereits Verfassungsqualität auf. Nachfolgend ist in einem ersten Schritt kurz darzustellen, auf welchem rechtskulturellen Hintergrund eine allfällige materielle Verfassungsordnung der EG/EU aufbaut (1.). Danach ist zunächst darauf einzugehen, aus welchen verschiedenen Elementen eine solche Verfassungsordnung gemäß jenen Stimmen aus der Verfassungs- und Europarechtslehre bestehen kann und soll, die vom tatsächlichen, materiellen Vorhandensein einer gemeinschaftlichen Verfassungsordnung im normativen Sinn ausgehen (2.). Daran anschließend wird es dann aber auch darum gehen, die wesentlichen Problemstellungen zu betrachten, die mit der Annahme des Bestehens einer derartigen „Verfassungsordnung“ verbunden sind bzw. in der Literatur diskutiert werden (3.).
1. Wurzeln einer möglichen gemeinschaftlichen Verfassungsordnung: „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ Wird ganz allgemein von „europäischem Verfassungsrecht“ gesprochen, so sind zunächst verschiedene mögliche Bedeutungsschichten unterscheidbar103: Zum einen kann darunter das verstanden werden, worauf sich das Interesse der Untersuchungen dieses Kapitels im Wesentlichen richtet, nämlich das (möglicherweise bereits existierende) „Gemeinschafts- bzw. Unionsverfassungsrecht“104, welches – da den überstaatlichen Rahmen der EG/EU betreffend – einem supranationalen Konstitutionalisierungsprozess entspringt. Zweitens kann sich der Begriff auch auf das Resultat eines allfälligen anderen grenzüberschreitenden Konstitutionalisierungsprozesses beziehen, wobei insbesondere an das durch die EMRK herbeigeführte System eines europäischen Grundrechtsschutzes zu denken ist. Drittens schließlich kann der Begriff auch in einem weit ausholenden Sinn verstanden werden, der sozusagen die gemeinsamen gesamteuropäischen Verfassungsgrundlagen meint; dabei umfasst der damit angesprochene geographische Zusammenhang ausdrücklich mehr als den Geltungsbereich des vertraglichen Gebildes der „Europäischen Union“, nämlich die ge___________ 103 Vgl. zum Folgenden Müller-Graff/Riedel, in: Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 9 (13). 104 Ebd.
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samte Ausdehnung des „Europa“ genannten kulturellen, sozialen, historischen, aber auch politischen Raumes105. Auf dieser zuletzt genannten Dimension des allgemeinen Begriffes „europäisches Verfassungsrecht“ beruhen sowohl der eine wie auch der andere der genannten möglichen grenzüberschreitenden Konstitutionalisierungsprozesse im europäischen Raum, also auch eine allfällig sich herauskristallisierende gemeinschaftliche „Verfassungswirklichkeit“ der EG/EU. Eine derartige „Grundlagentheorie“, welche gewissermaßen die Wurzeln einer möglichen gemeinschaftlichen Verfassungsordnung beschreibt, hat insbesondere106 Peter Häberle entworfen. Von ihm stammt der diesbezüglich grundlegende Begriff eines „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“107. Dessen Kernaussage besteht in Folgendem: „Es gibt zwar noch (?) kein Europäisches Verfassungsrecht, weil Europa als solches kein Verfassungsstaat ist, wohl aber gibt es ein wachsendes Ensemble von einzelnen Verfassungsprinzipien, die den verschiedenen nationalen Verfassungsstaaten ‚gemeinsam‘ sind, geschrieben oder ungeschrieben.“108
Diese „gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien“ wurzeln nach Häberle in gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellungen, die aus einer gemeinsamen europäischen Geschichte hervorgegangen sind. Die Vorstellung von den Wurzeln eines gemeinsamen rechtskulturellen Erbes109 Europas soll sich dabei explizit in verschiedensten Rechtsquellen finden110 – so in diversen Dokumenten von der Satzung des Europarates über die EMRK bis zur Einheitlichen Europäische Akte111, in der Rechtsprechung des EuGH wie auch nationaler Verfassungsgerichte und schließlich auch in der Staats- und Europarechtslehre. Als Beispiele für einzelne gemeineuropäische Verfassungsprinzipien werden „vor allem ein___________ 105 Wobei kritisch anzumerken ist, dass gerade in der europarechtlichen Literatur die Bezeichnungen „Europa“ und „europäisch“ häufig – allerdings offensichtlich zu kurz greifend – als Synonyme für die EG/EU verwendet werden. 106 Siehe bspw. auch Rousseau, in: Mélanges Ardant, 27 ff. 107 Siehe zum Folgenden Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 33 ff.; ders., in: Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 11 ff. Vgl. zum Begriff auch Funk, in: Espace constitutionnel européen, 399 ff. In wesentlicher Anlehnung an Häberles Begriff geht zudem Mikunda-Franco, in: JöR 2002, 21 ff., der Frage nach, inwiefern (auch) von einem „Gemeinislamischen Verfassungsrecht“ der islamischen Staaten gesprochen werden könne. 108 Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 (262); Hervorh. im Orig. 109 Zu einer gemeinsamen „Europäischen Rechtskultur“ ausführlich Häberle, Europäische Rechtskultur, 9 ff.; zudem auch ders., in: DVBl. 2000, 840 (842 ff.). In enger Anlehnung an das Werk Häberles außerdem Skouris, in: Welt des Verfassungsstaates, 85 ff., zur kontinentalen europäischen Verfassungskultur. 110 Zum Folgenden Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 (263 ff.), mit jeweiligen Beispielen. 111 ABl. 1987 L 169, 1.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
zelne verfassungsstaatliche Verfassungsprinzipien, wie Menschenrechte, Demokratie (...), Staatszwecke wie Rechts- und Sozialstaat“ genannt112. Die am Schöpfungsprozess des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ Beteiligten113 sind dabei zunächst die nationalen Verfassungsgeber als Urheber der normativen Geltung im innerstaatlichen Rahmen; an der schöpferischen Konkretisierung und Weiterentwicklung sind dann aber auch die nationalen wie auch die europäischen Verfassungsgerichte (EuGH und EGMR) und schließlich auch die Verfassungsrechtslehre beteiligt. Als Ergebnis des jahrhundertelangen Prozesses der Herausbildung einer gemeinsamen Rechtskultur, in der sich „Einheit und Vielfalt“ verbinden114, sieht Häberle die „Konstituierung Europas“115. Das Element der Vielfalt, das zur europäischen Rechtskultur ebenfalls gehört, wird in den Überlegungen, die Dominique Rousseau zum Begriff eines „europäischen Verfassungserbes“ anstellt116, besonders hervorgehoben117: Danach sei das europäische Verfassungserbe auch gerade durch die Verschiedenartigkeit sowohl der Institutionen als auch der Rechtskultur stark geprägt. Dies äußere sich beispielsweise darin, dass zwar grundsätzlich die gleichen Freiheitsrechte verfassungsmäßig verankert seien, die Anschauungen darüber, welche konkrete Bedeutung diesen in der rechtlichen Praxis zukomme, teilweise aber deutliche Unterschiede aufwiesen118. Rousseau weist außerdem darauf hin, dass das europäische Verfassungserbe auch untrennbar mit dem politischen Erbe Europas verbunden ist, welches indessen – historisch, aber auch aus ___________ 112
Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 (263). An anderer Stelle (ebd., 266) nennt Häberle außerdem noch Grundsätze wie „kommunale Selbstverwaltung und Subsidiarität, Toleranz und Minderheitenschutz, Regionalismus bzw. Föderalismus“. Vgl. für eine Untersuchung gemeinsamer Gegenstände mit Verfassungsrang in den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU auch Violini, in: Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 33 (35 ff.). Im selben Band auch die Darstellungen (möglicher) einzelner „gemeineuropäischer Verfassungsprinzipien“ durch Müller-Graff (ebd., 53 ff.), Riedel (ebd., 77 ff.), Lorz (ebd., 99 ff.) und Arnold (ebd., 123 ff.). Nach Rousseau, in: Mélanges Ardant, 27 (28), zielt das kollektive „europäische Verfassungserbe“ („patrimoine constitutionnel européen“) in eine gemeinsame Richtung: „réaliser l’idéal démocratique“. 113 Vgl. Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 (266 ff.). 114 Vgl. Häberle, Europäische Rechtskultur, 26 ff. 115 Häberle, in: EuGRZ 1991, 261 (266). 116 Rousseau, in: Mélanges Ardant, 27 ff. 117 Siehe ebd., 29 ff. 118 Vgl. ebd., 31. Als Beispiel wird u. a. das Recht auf Leben genannt, das in den verschiedenen europäischen Staaten im Hinblick auf die Frage des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen verbunden ist. Die überall anerkannte Freiheit des Individuums und der persönlichen Lebensgestaltung führt außerdem etwa nicht überall zu den gleichen Folgen betreffend die rechtlich möglichen Formen des Zusammenlebens von homosexuellen Paaren.
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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jüngster Zeit erst – auch mit dunklen Flecken der Barbarei und der Unmenschlichkeit versehen ist119. Der gemeinsame Fundus der verschiedenen nationalen Verfassungen und damit der Bestand des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ wirkt sich schließlich gerade für das europäische Gemeinschaftsrecht in besonderer Weise aus, wie Jürgen Schwarze anmerkt120: So haben sich zum einen die ungeschriebenen Verfassungs- und Verwaltungsgrundsätze des Europarechts an den gemeinsamen Rechts- und Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten ausgerichtet. Eine derartige Orientierung an „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ sieht etwa Art. 6 Abs. 2 EUV ausdrücklich für den Bereich der Grundrechte vor121. Beispiele für grundrechtliche Ansprüche, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten der EU zu entnehmen sind, sind gemäß dem Gericht erster Instanz etwa das Recht auf eine geordnete Verwaltung, welches wiederum einen Anspruch auf die sorgfältige und unparteiische Behandlung einer Beschwerde impliziere122, sowie das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf123. Dabei wies das Gericht weiter darauf hin, dass diese Ansprüche mittlerweile auch in die Grundrechte-Charta der EU (konkret Art. 41 Abs. 1 sowie Art. 47) eingegangen sind.
Diese gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten der EU ist zwar an sich nicht mit dem „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ im Sinne Häberles gleichzusetzen, umfasst dieses doch auch den rechtskulturellen Hintergrund der nicht in der EU vereinten Staaten Europas124. Indessen dürfte es praktisch unmöglich sein, die Verfassungstradition der EU-Staaten materiell von jener der Nichtmitglieder in genereller Weise abzugrenzen, sind doch die rechtskulturellen Wurzeln im einen wie im andern Fall die gleichen. So unterscheidet sich der rechtskulturelle Hintergrund etwa der Schweiz und Österreichs nicht aufgrund des Umstands, dass der eine Staat derzeit nicht der EU angehört, während der andere dieser mit dem Beginn des Jahres 1995 beigetreten ist. Auch die Tatsache, dass die ehemals sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas während rund vier Jahrzehnten eine eigene Entwicklung durchliefen, konnte diese
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Ebd., 31 f. Vgl. Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1681). 121 Schwarze, ebd., nennt außerdem Art. 288 Abs. 2 EGV, der für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft für Schäden, die durch deren Organe oder Bediensteten verursacht werden, ebenfalls auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze verweist, welche den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. 122 EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil Telekommunikation Service GmbH), Slg. 2002, II313, Rdnr. 48. 123 Ebd., Rdnr. 57. 124 Siehe hierzu die Überlegungen von Häberle, Europäische Rechtskultur, 13 ff., zur Dynamik und Offenheit des Europabegriffs. 120
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
nicht nachhaltig von den mit dem übrigen Europa gemeinsamen rechtskulturellen Wurzeln abtrennen, reichen diese doch mehr als zwei Jahrtausende zurück125.
Dies gilt jedenfalls soweit, als angenommen werden kann, dass nicht gerade auf der Gemeinschaftsebene eine eigene, gesonderte Verfassungstradition entstanden ist, die dann nur die Mitgliedstaaten der EU umfassen würde. Eine solche eigene, sich vom übrigen rechtskulturellen Erbe der europäischen Verfassungsstaaten klar unterscheidende Verfassungstradition erscheint als eher unwahrscheinlich – zum einen aufgrund der vergleichsweise kurzen Dauer des Bestehens der EG/EU, zum anderen angesichts der Tatsache, dass die Existenz einer supranationalen gemeinschaftlichen „Verfassungsordnung“ nach wie vor nicht in jeder Hinsicht klar ist. Auch das europäische Gemeinschaftsrecht gründet damit zu einem bedeutenden Teil auf dem weiteren rechtskulturellen Hintergrund des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“. Außerdem ist noch zu bemerken, dass zwischen dem „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ und dem europäischen Gemeinschaftsrecht auch in umgekehrter Richtung ein Austausch festzustellen ist126, so dass von einer Wechselwirkung gesprochen werden kann. Sozusagen in einer zweiten Entwicklungsphase habe das Gemeinschaftsrecht nämlich, so Schwarze127, damit begonnen, auf die nationalen Verfassungsordnungen zurückzuwirken, und trage damit – wie dies etwa auch durch die Praxis der Strassburger Organe zur EMRK oder den nationalen Verfassungsvergleich geschieht – mittelbar selbst wieder zur Weiterbildung des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ bei.
2. Mögliche Elemente einer bestehenden „Verfassungsordnung“ der EU Schon im Jahr 1969 beschrieb Walter Hallstein die Gemeinschaftsordnung als ungeschriebene Verfassung, die aus einer Summe von als verbindlich anerkannten „Regeln und Grundurteilen“ bestehe; dabei seien diese Normen zum Teil im Gründungsvertrag und in den Verordnungen niedergelegt und kämen teilweise in Gewohnheiten zum Ausdruck128. Die Einschätzung, der bestehenden rechtlichen Grundordnung der EG/EU komme nebst den sonstigen Funktionen, welche die einzelnen darunter zu nennenden Normen jeweils erfüllen, als ___________ 125 Vgl. Häberle, Europäische Rechtskultur, 21. Einerseits kann folglich auch gleichsam von einer Rückkehr dieser Staaten in die europäische Rechtskultur gesprochen werden, s. ebd., 15; andererseits ist aber auch zu bedenken, dass auch das sozialistische Element einen (nunmehr vor allem historischen) Bestandteil der europäischen politischen und rechtlichen Kultur darstellt. 126 Zum Folgenden Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1681). 127 Ebd. 128 Vgl. Hallstein, Unvollendeter Bundesstaat, 39 ff. (insb. 41).
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Gesamtes Verfassungsqualität zu, wird heute vielfach – wenn auch nicht umfassend und in jeder Hinsicht – geteilt. Sie kumuliert dabei in der Feststellung in Bezug auf die aktuelle „Verfassungswirklichkeit“ der EU, diese bilde – bereits, wie in der diesbezüglichen Diskussion betont wird – eine „‚Verfassungsgemeinschaft‘ sui generis“129. Bedeutung entfaltet dies nicht zuletzt auch für die zuvor erwähnte Diskussion über eine Verfassung der EU im formellen Sinn. Denn von manchen Autoren wird die Frage nach dem Sinn und der Notwendigkeit einer formellen Verfassungsgebung gerade unter Hinweis auf das schon heutige Bestehen einer gemeinschaftlichen Grundordnung mit normativem Verfassungscharakter als obsolet betrachtet130. So äußert sich etwa Hertel folgendermaßen: „Eine normative Europäische Verfassung ist längst schon vorhanden. (...) Ob es einmal zur Verwirklichung der (...) Forderung nach Erarbeitung und Verabschiedung eines Europäischen Verfassungsdokuments kommen wird, ist für die verfassungsrechtliche Weiterentwicklung des supranationalen Herrschaftsmodells daher unerheblich.“
Im Einzelnen werden die folgenden Elemente als (potentielle) Bausteine einer verfassungsmäßigen Grundordnung der EG/EU betrachtet.
a) Verträge Als Verfassung der Europäischen Union131 werden zunächst oftmals die völkerrechtlichen Verträge, welche die (ursprünglich) drei Europäischen Gemeinschaften132 begründeten, sowie die Verträge zu deren Änderung (Vertrag von Maastricht über die Europäische Union133, Vertrag von Amsterdam134 sowie Vertrag von Nizza135) bezeichnet136. So nannte (noch in Bezug auf die ___________ 129
Häberle, in: DVBl. 2000, 840 (841). Vgl. bspw. Pernice, in: JöR 2000, 205 (217). 131 Bzw. vor dem Inkrafttreten des Unionsvertrags von Maastricht der Europäischen Gemeinschaft. 132 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäische Atomgemeinschaft (EAG). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Geltung des Vertrags zur Gründung der EGKS (EGKSV) nach dessen Art. 97 am 23. Juli 2002 endete, womit auch die EGKS als Rechtspersönlichkeit erloschen ist; vgl. Kokott, in: EUV/EGV, 2530 (Rdnr. 1). 133 Vertrag über die Europäische Union (EUV; ABl. 1992 C 191, 1). 134 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (ABl. 1997 C 340, 1). 135 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (ABl. 2001 C 80, 1). 136 Vgl. zum Ganzen Grimm, in: JZ 1995, 581; Pernice, in: JöR 2000, 205 (213); Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125; ders., in: NJW 1999, 1 (2); Steinberger, in: 130
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Europäischen Gemeinschaften) auch der EuGH den (heute durch den EG-Vertrag ersetzten) EWG-Vertrag die „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“137. In einem Gutachten hielt der Gerichtshof außerdem fest, der EWG-Vertrag stelle, „obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar“138. Des Weiteren führte er aus: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes haben die Gemeinschaftsverträge eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind (...). Die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen.“139
Im Zusammenhang mit der Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge führt der Gerichtshof also zum einen die „Novität“ der durch sie geschaffenen gemeinschaftlichen Rechtsordnung an. Die weiter vom EuGH genannten Merkmale der gemeinschaftlichen Rechtsordnung (Übertragung von Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten zugunsten der Gemeinschaft und damit einhergehend der Vorrang des Gemeinschaftsrechts; Rechtssubjektivität auch der Bürgerinnen und Bürger, verbunden mit einer weit gehenden unmittelbaren Geltung der gemeinschaftlichen Rechtsordnung für die Einzelnen) gehören im Übrigen auch zu den Kriterien, welche die Qualifikation der Europäischen Gemeinschaft als supranationale Organisation ausmachen. Die hier vom Gerichtshof angesprochenen Kriterien lassen sich dabei auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass sie – einerseits als Ursache (Übertragung von Souveränitätsrechten an die Gemeinschaft), andererseits als notwendige Wirkung (Primat des Gemeinschaftsrechts, Rechtssubjektivität der Einzelnen) – einen Ausdruck der autonomen Rechtsetzungsgewalt darstellen, welcher der supranationalen Gemeinschaft zukommt. Inhaltlich weiter gehen in der Regel die Begründungen, die für den Verfassungscharakter des primären Gemeinschaftsrechts in der wissenschaftlichen Literatur vorgebracht werden. Hinweisen auf die höchste Stellung der Verträge in der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie140 sowie auf deren Bedeu___________ VVDStRL 1991, 9 (18 ff.); Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1681); Thun-Hohenstein, Vertrag von Amsterdam, 14 ff. Siehe auch die Hinweise auf die Entwicklung dieser Begrifflichkeit in weiteren, früheren Verfahren vor dem EuGH bei Hertel, in: JöR 2000, 233 (238). 137 EuGH, Rs. 294/83 (Parti écologiste „Les Verts“), Slg. 1986, 1339, Rdnr. 23. 138 Gutachten 1/91 des Gerichtshofs zur Frage der Vereinbarkeit des Entwurfs zum EWR-Abkommen mit dem EWG-Vertrag, Slg. 1991, I – 6079, Rdnr. 21. 139 Ebd. 140 Vgl. Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (125 f.).
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tung als Grundlage für die Kompetenzverteilung141, sowohl im Verhältnis der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten als auch innergemeinschaftlich zwischen den verschiedenen Gemeinschaftsorganen, folgen weitere materiellrechtliche Überlegungen: So wird darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff „Verfassung“ im Zusammenhang mit den Gründungsverträgen der EG/EU gerade die damit errichtete „Wert- und Institutionenordnung“ gekennzeichnet wird142. Als Vertragsbestimmungen, welche zu dieser Ordnung beitrügen und zugleich materiell verfassungsrechtlicher Natur seien, werden dabei etwa genannt143: die Grundfreiheiten der Bürgerinnen und Bürger aufgrund von Art. 43 und Art. 49 EGV; das Gleichstellungsgebot von Art. 141 EGV; die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue gem. Art. 10 EGV und den nach der Rechtsprechung des EuGH daraus folgenden Pflichten144 zur loyalen Zusammenarbeit145 bzw. Solidarität146; das Subsidiaritätsprinzip gem. Art. 5 EGV; das Prinzip der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten gem. Art. 6 Abs. 3 EUV. Außerdem werden etwa verschiedene generelle Verfassungsthemen und -funktionen angeführt, die in den einzelnen (dabei als Teilverfassungen bezeichneten) Verträgen enthalten seien, so eine Machtbeschränkungsfunktion, eine Machtlegitimationsfunktion, eine (sich auf die Individuen sowie auf die Völker beziehende) Integrationsfunktion, eine Identifikationsfunktion sowie eine Funktion der Bekräftigung von Grundwerten wie insbesondere der in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Prinzipien der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit147. Art. 6 EUV wird im Übrigen auch als „Verfassungsfragment“ einer „Unionsverfassung“ bezeichnet, da er wesentliche Strukturelemente einer solchen „Verfassung“ (nämlich betreffend die zentralen Grundlagen der Union – Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit –, die Achtung der nationalen Identität, den Grundrechtsschutz sowie die Mittelausstattung der Union) enthalte148.
___________ 141
Vgl. ebd., 125 (126 ff.). Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (293). 143 Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (128). 144 Zu den Gehalten von Art. 10 (ex-Art. 5) EGV im Einzelnen Zuleeg, in: Kommentar EUV/EGV, Bd. 1, 262 ff. 145 Vgl. bspw. EuGH, Rs. 230/81 (Luxemburg/Europäisches Parlament), Slg. 1983, 255, insb. Rdnr. 37. 146 Vgl. bspw. EuGH, Rs. 6/69 und 11/69 (Kommission/Frankreich), Slg. 1969, 523, Rdnr. 14 ff. 147 Siehe im Einzelnen Häberle, in: DVBl. 2000, 840 (841 f.). 148 Siehe Beutler, in: Kommentar EUV/EGV, Bd. 1, 75 (79 ff.). 142
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
b) Allgemeine Rechtsgrundsätze aa) Überblick Die Gründungsverträge mit den in ihnen enthaltenen Prinzipien bzw. Funktionen mit Verfassungscharakter sind allerdings nicht die einzigen Bestandteile dessen, was als „Verfassungssystem der Gemeinschaft“ bezeichnet wird149. So werden zum materiellen Gemeinschaftsverfassungsrecht auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze gezählt, die ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht darstellen150. Diese können keiner geschriebenen Quelle des Gemeinschaftsrechts entnommen werden, sondern werden primär in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt151. Dabei handelt es sich einerseits um Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind152; andererseits sind diese auch eng mit grundlegenden Prinzipien des Gemeinschaftsrechts, so insbesondere den in Art. 6 Abs. 1 EUV niedergelegten Grundsätzen (Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit), verbunden153. Die Rolle als Element der „Verfassungsordnung“ wird den allgemeinen Rechtsgrundsätzen aufgrund ihres materiellen Gehaltes und ihrer Tragweite im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zugesprochen. Gerade die Nähe der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu tragenden Prinzipien der Union zeigt ihre fundamentale Bedeutung, die sie gleichsam in den Rang eines „gemeinschaftlichen ius cogens“154 rückt. Die Tragweite der allgemeinen Rechtsgrundsätze äußert sich überdies in deren Vorrangstellung sowohl im Verhältnis zu Handlungen der Gemeinschaft als auch – soweit es sich um die Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen handelt – zu Rechtsakten nationaler Behörden155.
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Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (2 f.). Zur Rolle der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Bestandteil des „Verfassungsrechts“ der EU Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (128 f.). Allgemein zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Bestandteil des ungeschriebenen Primärrechts etwa Oppermann, Europarecht, 185 ff. 151 Hierzu ausführlich Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 209 ff. 152 Dieses Kriterium allgemeiner Rechtsgrundsätze nennt Art. 288 Abs. 2 EGV ausdrücklich für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft; s. auch den gleichlautenden Art. 188 Abs. 2 EAGV. 153 Vgl. Oppermann, Europarecht, 186, der in diesem Zusammenhang von „Strukturprinzipien der EU“ spricht. 154 Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (128). 155 Siehe ebd., unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in der Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609. 150
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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Zu den durch die Rechtsprechung des EuGH anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit156, der Grundsatz des Vertrauensschutzes oder das Prinzip der gegenseitigen Gemeinschaftstreue unter den Mitgliedstaaten157. Besonders hervorzuheben sind außerdem die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgarantien, die unter den allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine eigene Teilkategorie bilden158. Grundrechte bilden einen wesentlichen Bestandteil von Verfassungen159, und soweit sie in der Form allgemeiner Rechtsgrundsätze auftreten, kommt daher mittelbar auch der Verfassungscharakter der Letzteren besonders zum Ausdruck.
bb) Die gemeinschaftlichen Grundrechte im Besonderen Bis zur Proklamation der Charta der Grundrechte durch den EU-Gipfel vom Dezember 2000 in Nizza kannte die Gemeinschaftsrechtsordnung keinen eigentlichen geschriebenen Katalog von Grundrechten. Immerhin ist auf Art. 6 Abs. 1 und 2 EUV hinzuweisen, die allgemeine Bekenntnisse zur Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sowie der durch die EMRK gewährleisteten Grundrechte enthalten. Zudem sind im Primärrecht einige punktuelle grundrechtliche Garantien ausdrücklich niedergelegt, insbesondere im Rahmen der speziellen Diskriminierungsverbote des EGV: Zu nennen sind vor allem die Verbote der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 141 EGV) und aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV); außerdem gibt Art. 13 EGV dem Rat unter bestimmten Voraussetzungen die Kompetenz zur Ergreifung geeigneter Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts sowie wegen verschiedener weiterer Gründe (Rasse, ethnische Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung).
___________ 156 Dieser zunächst durch die Rechtsprechung des EuGH anerkannte allgemeine Rechtsgrundsatz hat in Art. 5 (ex-Art. 3b) EGV mittlerweile auch Eingang ins geschriebene Primärrecht der EU gefunden. Vgl. zu diesem Grundsatz etwa Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 280 ff. 157 Zu diesen und weiteren durch den EuGH anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen Oppermann, Europarecht, 187; Schilling, in: EuGRZ 2000, 3 (17 ff.); spezifisch zum Grundsatz der Unionstreue Unruh, in: EuR 2002, 41 ff. 158 Dazu Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 212 f., 253 ff.; Oppermann, Europarecht, 188 ff.; Pernice, Kommentar zu Art. 164 EGV, 17 ff.; Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (129); Schilling, in: EuGRZ 2000, 3 (11 ff.). Allgemein zum Grundrechtsschutz auf der Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts außerdem etwa Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 125 ff.; Hirsch, in: Europäischer Grundrechtsschutz, 9 ff.; ders., in: Mélanges Schockweiler, 177 ff.; Jaeckel, in: ELRev 2003, 508 ff.; Kingreen, in: Kommentar zu EUV und EGV, 54 (61 ff.); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. 159 Vgl. im Kontext der europäischen Verfassungsdiskussion etwa Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 5.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Zu erwähnen sind schließlich noch die weitreichenden Parallelen zu grundrechtlichen Garantien, welche die persönlichen Grundfreiheiten des gemeinsamen Binnenmarktes160 aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung zugunsten der Einzelnen aufweisen161. Es mag sich die Frage stellen, inwiefern sich aus dem Fehlen einer Grundrechtskodifikation für den Grundrechtsschutz im Recht der EG Defizite ergeben. Genannt wird etwa162 ein Problem der Rechtssicherheit, indem der EuGH bei der Prüfung grundrechtlicher Schutzansprüche jeweils das in Frage kommende Grundrecht „‚finden‘ und ausformen“ müsse. Zudem seien die insofern ungeschriebenen Grundrechte für die Grundrechtsträger nicht „sichtbar“, was unter dem Aspekt der in Art. 1 Abs. 2 EUV festgelegten Prinzipien der Transparenz und der Bürgernähe problematisch sei.
Somit oblag es letztlich der Rechtsprechung des EuGH, soweit erforderlich die Grundrechtsgehalte des Gemeinschaftsrechts zu konkretisieren163. Methodisch erfolgte diese Entwicklung durch die Einbeziehung von Grundrechten in die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft, was der Gerichtshof in einer ständig ausgebauten Rechtsprechung zunehmend bekräftigte164. Die Erkenntnisquelle bzw. Grundlagen dieser Rechtsprechung bildeten dabei zunächst die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitglied-
___________ 160
Also die subjektiven Rechte, die in der Freiheit des Warenverkehrs (Art. 28 EGV), der Freizügigkeit des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin (Art. 39 EGV), der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) sowie in der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) zum Ausdruck kommen. 161 Die Grundfreiheiten werden daher teilweise auch als „echte Grundrechte“ eingestuft; vgl. die entsprechenden Nachweise bei Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 126, Fn. 190. Als Grundrecht wird im Urteil des EuGH in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rdnr. 129, ausdrücklich das (sich auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beziehende) Recht auf freien Zugang zur Beschäftigung bezeichnet; vgl. im Übrigen auch schon EuGH, Rs. 222/86 (Unectef), Slg. 1987, 4097, Rdnr. 14. Zur Frage des Verhältnisses zwischen den Grundfreiheiten und den Grundrechten allgemein etwa Epiney, a.a.O., 126 f.; Hirsch, in: Europäischer Grundrechtsschutz, 9 (14 f.); ders., in: Mélanges Schockweiler, 177 (183 ff.); Schilling, in: EuGRZ 2000, 3 (4 f.). 162 Zum Folgenden s. Calliess, in: EuZW 2001, 261 (261 f., 268). Zur Frage der Notwendigkeit eines eigenen Grundrechtskatalogs für die EG weiter etwa Stein, in: FS Steinberger, 1425 (1429 ff.). 163 Allerdings wird dies teilweise auch gerade als Defizit des europäischen Grundrechtsschutzes betrachtet, indem grundsätzlich als unbefriedigend empfunden wird, dass dieser auf „Richterrecht“ angewiesen sei; s. diesbezüglich die soeben in Fn. 162 angegebene Literatur. 164 Siehe Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (129). Vgl. für eine Zusammenfassung der Rechtsprechung insb. EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rdnr. 14 f., sowie bspw. auch EuGH, Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609, Rdnr. 17; zuletzt EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659, Rdnr. 71. Zu den Ursprüngen und zur Entwicklung von gemeinschaftlichen Grundrechten durch den EuGH etwa Lenz, in: EuGRZ 1993, 585 (585 ff.); Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 255 ff.
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staaten“165, später zudem auch die „internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“166. Zum einen dienen als Basis der Grundrechtskonkretisierung durch den EuGH also die entsprechenden Garantien, welche die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kennen. Zum andern stützt sich der EuGH auch auf Abkommen betreffend den Schutz der Menschenrechte, wobei in der Praxis die EMRK bei weitem im Vordergrund steht167. Zu denken ist zudem aber auch an mögliche Quellen wie die Europäische Sozialcharta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie die Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche und politische Rechte168.
Die Bedeutung der EMRK für die Grundrechtspraxis der EU ist heute in Art. 6 Abs. 2 EUV auch explizit festgeschrieben169. Gemäß dem Vertrag von Lissabon soll die EU zudem künftig – vorbehältlich des Inkrafttretens des Reformvertrags – der EMRK beitreten170.
Auf diesen Grundlagen anerkannte der EuGH in seiner Rechtsprechung als gemeinschaftliche Grundrechte171 verschiedene materielle Garantien, so einen allgemeinen Gleichheitssatz172, das Recht auf Achtung der Menschenwürde173, ___________ 165
Vgl. EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125, Rdnr. 4. Zu beachten ist dabei noch, dass die Gewährleistung dieser Grundrechte sich überdies „auch in die Struktur und Ziele der Gemeinschaft einfügen“ muss (ebd.). 166 So erstmals EuGH, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491, Rdnr. 13. 167 Vgl. zuletzt etwa EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659, Rdnr. 71, mit Hinweisen zur Praxis des EuGH. 168 Vgl. Oppermann, Europarecht, 191. 169 Dies, auch wenn die EG formell nicht Vertragspartei der EMRK ist; vgl. auch das Gutachten 2/94 des EuGH betreffend den Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten; wiedergegeben in: EuGRZ 1996, 197 ff. 170 Art. 6 Abs. 2 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 8 des Vertrags von Lissabon (vgl. zuvor Art. I-9 Abs. 2 EVV). Voraussetzung eines solchen Beitritts ist im Übrigen, dass der EU selbst – und nicht nur wie bisher den Europäischen Gemeinschaften – Völkerrechtssubjektivität zukommt; diese Bedingung würde durch den gem. Art. 1 Ziff. 55 des Vertrags von Lissabon neu einzusetzenden Art. 46a EUV erfüllt, wonach die EU künftig eigene Rechtspersönlichkeit besitzen soll (vgl. auch bereits Art. I-7 EVV). 171 Zur Grundrechtspraxis des EuGH mit Nachweisen zu den einzelnen Urteilen etwa Kokott, in: AöR 1996, 599 ff.; Lenz, in: EuGRZ 1993, 585 (587 ff.); Oppermann, Europarecht, 190; Pernice, Kommentar zu Art. 164 EGV, 26 ff.; allgemein Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. 172 Siehe EuGH, verb. Rs. 117/76, 16/77 (Quellmehl), Slg. 1977, 1753, Rdnr. 7 f. 173 Siehe EuGH, Rs. C-377/98 (Niederlande/Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, I-7079, Rdnr. 70 ff.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
das Recht auf Unversehrtheit der Person174, den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frau und Mann175, die (verschiedene Aspekte umfassende) Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung176, das Eigentumsrecht177, die Religionsfreiheit178, die Meinungsfreiheit179 sowie das Recht auf Achtung der Privatsphäre und der Wohnung180; hinzu kommen außerdem verschiedene Verfahrensgrundrechte wie etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör181, das Recht auf einen fairen Prozess182 sowie das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz183. Mit der am 7. Oktober 2000 verabschiedeten Grundrechte-Charta hat die Entwicklung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht eine neue Stufe erreicht184. Zwar kommt der Charta zum heutigen Zeitpunkt noch keine rechtliche Verbindlichkeit zu185. So hielt das Europäische Gericht erster Instanz in seiner Rechtsprechung fest, die Grundrechte-Charta habe „keine rechtliche Bindungswirkung“186. Allerdings, so das Gericht weiter, zeige die Charta „die Bedeutung der in ihr genannten Rechte in der Gemeinschaftsordnung“187. Die damit angesprochene Wirkung, welche der Charta bereits im Zustand mangelnder Verbindlichkeit (im strikten rechtlichen Sinn) zukommt, lässt sich als Stütz___________ 174
Siehe ebd. Siehe etwa EuGH, Rs. 149/77 (Defrenne III), Sgl. 1978, 1365, Rdnr. 26/29. 176 Darunter fallen etwa die Handels- und Wirtschaftsfreiheit, s. EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1134 ff.); die Wettbewerbsfreiheit, s. EuGH, Rs. 240/83 (Freier Warenverkehr – Altöle), Slg. 1985, 531, Rdnr. 9 ff.; die Berufsfreiheit, s. etwa EuGH, Rs. 234/85 (Keller), Slg. 1986, 2897, Rdnr. 8 ff. 177 Siehe EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rdnr. 17 ff. 178 Siehe EuGH, Rs. 130/75 (Prais), Slg. 1976, 1589 (1598 f.). 179 Siehe EuGH, Rs. C-100/88 (Oyowe und Traore), Slg. 1989, 4285, Rdnr. 16. 180 Dieses Grundrecht im Sinne von Art. 8 EMRK wird bspw. indirekt in EuGH, Rs. 136/79 (National Panasonic), Slg. 1980, 2033, Rdnr. 17 ff., angesprochen; vgl. Pernice, Kommentar zu Art. 164 EGV, 30. Zur Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK vgl. EuGH, Rs. 249/86 (Wohnverhältnisse), Slg. 1989, 1263, Rdnr. 10 ff. 181 Siehe etwa EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche), Slg. 1979, 461, Rdnr. 9. 182 Siehe etwa EuGH, Rs. 98/79 (Pecastaing), Slg. 1980, 691, Rdnr. 8 ff. 183 Siehe etwa EuGH, Rs. 222/86 (Unectef), Slg. 1987, 4097, Rdnr. 14 ff. 184 Allgemein zur Charta und zu ihrer Bedeutung für den Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht anstelle vieler etwa Calliess, in: EuZW 2001, 261 ff.; Grabenwarter, in: EuGRZ 2004, 563 ff.; Mayer, in: RTDE 2003, 175 ff.; Streinz, in: EUV/EGV, 2571 (2573 ff.). 185 Vgl. allgemein etwa Calliess, in: EuZW 2001, 261 (267); Kingreen, in: Kommentar zu EUV und EGV, 54 (61); Streinz, in: EUV/EGV, 2571 (2573 f.). Zu beachten ist dabei nicht zuletzt, dass Art. 6 Abs. 2 EUV, der die Quellen des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes nennt, die Charta nicht erwähnt. 186 Siehe EuG, verb. Rs. T-377/00, T-379/00, T-380/00, T-260/01 und T-272/01 (Philip Morris International), Slg. 2003, II-1, Rdnr. 122. 187 Ebd. 175
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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funktion im Sinne einer Interpretations- und Argumentationshilfe verstehen188. Streinz hat in diesem Zusammenhang treffend davon gesprochen, die Charta entfalte bereits vor ihrer unmittelbaren Verbindlichkeit „eine influenzierende Wirkung als Hilfsmittel zur inhaltlichen Konkretisierung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als Rechtserkenntnisquelle für die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EUV“189. Gemäß dem Reformvertrag von Lissabon soll die Grundrechte-Charta künftig zwar nicht direkt in die bestehenden Gemeinschaftsverträge integriert, aber mittels eines Verweises als rechtsverbindlich erklärt werden190. Damit geht der Vertrag von Lissabon zurückhaltender vor als der nunmehr aufgegebene Verfassungsvertrag, sah jener doch vor, die Charta als eigenen Teil in den Verfassungsvertrag aufzunehmen191. Gemäß dem Verfassungsvertrag wäre die Charta somit im Status eines eigenständigen Bestandteils des Primärrechts192 rechtlich bindend geworden. Indem durch den vom Vertrag von Lissabon vorgesehenen künftigen Art. 6 Abs. 1 EUV (neue Fassung) festgehalten wird, die Charta der Grundrechte und die Verträge seien „rechtlich gleichrangig“, ist indessen auch nach dieser Konzeption klargestellt, dass die Charta eine eigentliche „Kodifikation“ der für die gemeinschaftliche Rechtsordnung geltenden Grundrechtsgarantien bilden soll193. Über die Verbindlichkeit der in der Grundrechte-Charta niedergelegten Garantien als Verfassungsbestandteil hinaus hielt der Verfassungsvertrag im Übrigen fest194, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den
___________ 188
Im Urteil EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil Telekommunikation Service GmbH), Slg. 2002, II-313, Rdnr. 48 und 57, wirkt sich dies insofern aus, als das Gericht darauf hin weist, dass gewisse, den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gemeinsame allgemeine Rechtsgrundsätze bzw. rechtsstaatliche Grundsätze (konkret der Anspruch auf die sorgfältige und unparteiische Behandlung einer Beschwerde sowie das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf) nunmehr durch die Grundrechte-Charta (konkret Art. 41 Abs. 1 sowie Art. 47) „bekräftigt“ bzw. „bestätigt“ werden. Vgl. in Bezug auf Art. 47 GR-Charta auch EuG, Rs. T-177/01 (Jégo-Quéré et Cie SA), Slg. 2002, II-2365, Rdnr. 42. 189 Streinz, in: EUV/EGV, 2571 (2574). 190 Art. 6 Abs. 1 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 8 Vertrag von Lissabon. 191 Siehe Art. I-9 Abs. 1 EVV. 192 Vgl. Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, 195; Obwexer, in: ecolex 2004, 674 (684 f.). 193 In der Literatur findet sich ohnehin die Einschätzung, aus der Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH lasse sich bereits heute – also ungeachtet sowohl des Vertrags von Lissabon wie auch des gescheiterten Verfassungsvertrags – ableiten, dass die Grundrechte (jedenfalls im Umfang der von der EMRK vorgegebenen Garantien) Bestandteil des gemeinschaftlichen Primärrechts geworden seien; vgl. etwa Kingreen, in: Kommentar zu EUV und EGV, 54 (67, m.w.N.), sowie Schärf, in: ecolex 2004, 668 (668, 670). 194 Siehe Art. I-9 Abs. 3 EVV.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts bilden sollten. Diese Festschreibung ist im Hinblick auf die Verbindlichkeit der letztgenannten Kategorie ohnehin nicht (mehr) erforderlich195, da die Charta im Wesentlichen die vom EuGH entwickelten Grundrechtsgehalte kodifiziert196 und somit zwischen ihren Garantien einerseits sowie den durch die EMRK und die gemeinsame Verfassungsüberlieferung vorgegebenen Grundrechtsgehalten andererseits weitgehende Deckungsgleichheit herrscht197. Indem sich der Verfassungsvertrag auf das normative Fundament der gemeinschaftlichen Grundrechte198 bezog, erinnerte er aber immerhin an die Verbindung zur besonderen Rechtskategorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze, auf welche sich die Geltung der gemeinschaftlichen Grundrechte heute noch stützt.
c) Einzelverfassungen der Mitgliedstaaten Den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU kommt, wie soeben gesehen, gerade im Zusammenhang mit ihrer Funktion als Erkenntnisquelle bei der Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze eine wichtige Rolle zu. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit den gemeinschaftsrechtlich geltenden Grundrechten, was sowohl in der Praxis des EuGH als auch in der Nennung der „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ durch Art. 6 Abs. 2 EUV zum Ausdruck kommt. Es wird daher auch davon gesprochen, zum „Verfassungssystem der Gemeinschaft“ gehörten neben den Verträgen sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen außerdem auch die Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten199, dies im Sinne einer „mittelbaren Verfassungsgrund___________ 195
Vgl. auch Calliess, in: EuZW 2001, 261 (268). Vgl. etwa Griller, in: Grundrechte für Europa, 131 (132); Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 4. 197 Dies erklärt sich schon aus dem Umstand, dass Aufgabe des die Charta ausarbeitenden Grundrechte-Konvents lediglich war, schon Vorhandenes zusammenzufassen, nicht aber, Neues zu schaffen; s. Fischer, Vertrag von Nizza, 268. Vgl. dazu auch folgenden Satz aus der Präambel der GR-Charta: „Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“ 198 Hierzu etwa Merli, in: FS Adamovich, 449 ff., der (bereits vor der geplanten Inkorporation der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag) davon sprach, die EU sei Mitglied im Verfassungsverbund, welchen die EMRK bezüglich der Grundrechte bilde. 199 Vgl. Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (2 f.). 196
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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lage“ der Rechtsordnung der Gemeinschaft. Durch die Funktion der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung geht von den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten also gewissermaßen eine Wirkung im Ensemble aus200, welche sich wiederum in deren Bedeutung einer „mittelbaren Verfassungsgrundlage“ der EU auswirkt.
d) Das Konzept des „Europäischen Verfassungsverbundes“ In den vorangehenden Ausführungen hat sich nicht zuletzt die Vielschichtigkeit dessen gezeigt, was zur Beschreibung der aktuellen „Verfassungswirklichkeit“ der EU angeführt wird. Ein Konzept einer Europäischen Verfassungsordnung, das gerade dieser Vielschichtigkeit in besonderem Maße gerecht zu werden versucht, hat Ingolf Pernice unter dem Begriff des „Europäischen Verfassungsverbundes“ entwickelt201. Die Kernaussage des Konzepts besteht in der These, die nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten einerseits und das gemeinschaftliche Primärrecht andererseits ergänzten sich auf der Grundlage des gegebenen supranationalen Zusammenschlusses zu einem Ganzen, zu einer „europäischen Gesamtordnung“202, in der innerstaatliches Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht eine „materielle Einheit“203 bildeten. In der Bezeichnung „Verfassungsverbund“ soll dabei zum Ausdruck kommen, dass es sich um ein Rechtssystem 204 handle, in dem sich zwei Verfassungsebenen, jene des nationalen Verfassungs-
___________ 200 Dies lässt sich auch als eine Parallele zum – einen über die EU hinausgehenden Rahmen betreffenden – „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ im Sinne Häberles sehen; vgl. hierzu vorne in diesem Kap., C. III. 1. 201 Zum Folgenden Pernice, in: JöR 2000, 205 (214 ff., m.w.N. in Fn. 58), sowie ders., in: VVDStRL 2001, 148 (163 ff.); s. zum Begriff des „Europäischen Verfassungsverbunds“ auch bereits ders., in: Espace constitutionnel européen, 225 (261 ff.); ders., in: EuR 1996, 27 (29 ff.); ders., Kommentar zu Art. 23 GG, 342 ff.; s. zudem die Ergänzung des deutschsprachigen Begriffs durch die englische Bezeichnung „multilevel constitutionalism“, ders., in: CMLR 1999, 703 (insb. 707), sowie ders., in: ELRev 2002, 511 (insb. 514 ff.). Für Hinweise auf ähnliche Begriffsbildungen s. außerdem ders., in: DVBl. 2000, 847 (848). Zum Konzept vgl. auch etwa Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 207 ff., welche im Übrigen davon spricht, „die Situierung der europäischen Verfassung in einem Verfassungsverbund“ sei „der Schlüssel zum Verständnis ihrer Eigenschaften, Funktionen und ihrer Legitimation“ (ebd., 765). Für einen Versuch, das Konzept der Mehrebenenverfassung („multilevel constitutionalism“) im globalen Kontext anzuwenden, s. Pernice, in: FS Tomuschat, 973 ff. 202 Pernice, in: JöR 2000, 205 (214). 203 Pernice, in: EuR 1996, 27 (33). 204 Siehe Pernice, in: DVBl. 2000, 847 (848).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
rechts und jene des gemeinschaftlichen Primärrechts205, komplementär206 ergänzen: „Mitgliedstaatliche Verfassungen und europäisches Primärrecht sind im supranationalen Verfassungskontext eingebunden, sie stehen nicht isoliert neben- oder übereinander, sondern sind aufeinander bezogen und eng miteinander verbunden.“207
Die konkrete Bedeutung des im Konzept des Europäischen Verfassungsverbunds zum Ausdruck kommenden Rechtssystems erschließt sich zunächst einmal aus der Perspektive der einzelnen Mitgliedstaaten der EU: –
Der konzeptionelle Aspekt, dass der Verfassungsverbund aus den zwei verfassungsrechtlichen Teilebenen des nationalen und des gemeinschaftlichen Rechts besteht, hat einerseits zur Folge, dass die für den einzelnen Mitgliedstaat geltende Verfassungswirklichkeit von jener eines anderen EUStaats verschieden sein kann. Dies insofern, als sich die nationalen Verfassungen trotz einer gewissen Einheitlichkeit – zumindest graduell – voneinander materiell unterscheiden.
–
Gleichzeitig aber verbinden sich die beiden Ebenen auch zu einer für alle Mitgliedstaaten charakteristischen gemeinsamen Verfassungsordnung. Diese Homogenität verdankt der Verfassungsverbund zum einen dem Umstand, dass er auf den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Verfassungstraditionen beruht208, wie sie auch dem Begriff des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“209 zugrunde liegen. Auf der Grundlage dieser Verfassungstraditionen stellt die Mitgliedschaft in der EU an die einzelnen Staaten bestimmte Homogenitätsanforderungen in Bezug auf die zu beachtende materielle Wertordnung210; dies bringt Art. 6 Abs. 1 EUV zum Ausdruck, der die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit nennt. Zum anderen spielt auch die Einbindung in den supranationalen Kontext eine zentrale Rolle211, die dazu
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Die Betrachtung des Primärrechts als die eine Verfassungsebene im Europäischen Verfassungsverbund impliziert auch, dass den Verträgen Verfassungscharakter zukommt. 206 Pernice spricht daher auch von „Komplementärverfassungen“, die sich zur Grundordnung der EU zusammenfinden, s. ders., in: JöR 2000, 205 (217). 207 Ebd., 205 (216), m.w.N. 208 Pernice, in: EuR 1996, 27 (33). 209 Zu diesem von Häberle geprägten Begriff vorne in diesem Kap., C. III. 1. 210 Vgl. Pernice, in: Espace constitutionnel européen, 225 (262 f.). Zum „Erfordernis homogener Wertungsgrundlagen“ als Legitimationsvoraussetzung der EG/EU auch Thürer, in: VVDStRL 1991, 97 (128 ff.). 211 Voraussetzung der Verschmelzung von nationalem und europäischem Verfassungsrecht ist nämlich die Übertragung von mitgliedstaatlichen Hoheitsrechten an
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führt, dass die nationalen Rechtstraditionen mit den supranationalen Normen der Gemeinschaftsverfassung zu einem einheitlichen Ganzen verschmelzen212. –
Die damit im Verfassungsverbund gegebene materielle Einheit der Gesamtverfassung wirkt sich aus der Sicht der Mitgliedstaaten außerdem auf den Prozess der weiteren Fortbildung der jeweiligen Verfassungswirklichkeit aus, resultiert doch aus jeder Änderung der Gemeinschaftsverfassung gleichzeitig auch eine materielle Änderungen jeder einzelnen nationalen Verfassung213.
Das Rechtssystem des Europäischen Verfassungsverbundes bringt schließlich auch aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger konkrete Auswirkungen mit sich: In jedem Mitgliedstaat sind die Individuen nämlich einer einheitlichen Rechtsordnung unterworfen. Diese geht aus der Verbindung der beiden Verfassungsebenen des Verbundsystems zur für den jeweiligen Staat geltenden Verfassungswirklichkeit hervor und setzt sich folglich aus den Regeln des Gemeinschaftsrechts sowie des jeweiligen innerstaatlichen Rechts zusammen214. Diese Einheitlichkeit ist nicht mit gänzlicher Uniformität zu verwechseln, bestehen doch zwischen den Staaten im Rahmen der zuvor erwähnten graduellen Abweichungen unter den nationalen Verfassungsordnungen gewisse Variationen. Gleichzeitig ist aber auch ein Mindestmaß einheitlicher Verfassungswirklichkeit garantiert, wie die vorhin ebenfalls angesprochenen Homogenitätsanforderungen zeigen.
Einen spezifischen Ausdruck findet das verfassungsrechtliche Verbundsystem schließlich auch im politischen Status der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten, wird doch deren nationale Staatsbürgerschaft gemäß Art. 17 Abs. 1 EGV durch die Unionsbürgerschaft ergänzt215. Die beiden unterschiedlichen Perspektiven des Mitgliedstaats einerseits und des Individuums andererseits, aus welchen sich das System des Europäischen Verfassungsverbundes betrachten lässt, finden außerdem einen gemeinsamen ___________ die gemeinschaftlichen Organe, wie dies für die supranationale Organisation charakteristisch ist; vgl. Pernice, in: Espace constitutionnel européen, 225 (261 f.). 212 Vgl. Pernice, in: EuR 1996, 27 (33). 213 Ebd., 27 (30), unter Bezugnahme auf Frowein, in: EuR 1995, 315 (322). Vgl. auch Pernice, in: JöR 2000, 205 (214), wo als Beispiel dafür, dass die „vertragliche“ Konstituierung der EG bzw. der EU auch eine materielle Änderung jeder innerstaatlichen Verfassung darstellt, auf Art. 44 Abs. 3 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes hingewiesen wird. Danach stellt der Beitritt zur EU eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ dar, die zwingend einer Volksabstimmung bedarf. Zum Begriff der „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ im Zusammenhang mit dem Beitritt Österreichs zur EU Öhlinger, Verfassungsrecht, 81 f. 214 Vgl. Pernice, in: EuR 1996, 27 (29). 215 Vgl. Pernice, in: JöR 2000, 205 (215 f.); dazu auch ders., in: CMLR 1999, 703 (720 ff.).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Bezugspunkt bei der Betrachtung der Frage, wie in dieser Komplementärverfassung die öffentliche Gewalt konstituiert sei. Diesbezüglich ist mit dem Konzept des Europäischen Verfassungsverbundes die Feststellung verbunden, dass die öffentliche Gewalt aufgrund der europäischen Verfassungsdimension auf einer zusätzlichen Ebene konstituiert werde216: Weil auch auf der weiteren Ebene der supranationalen Gemeinschaft Hoheitsgewalten ausgeübt werden, kann sich die Legitimation und damit die Konstituierung öffentlicher Gewalt nicht mehr allein auf der nationalen Ebene abspielen. Maßgebend für die Legitimation ist danach nicht allein die Rolle der Bürgerinnen und Bürger (bzw. des Volkes) des einzelnen Staates, sondern vielmehr der Bürgerinnen und Bürger (bzw. der Völker) aller Mitgliedstaaten der EU. Dieser Ansatz, nach dem öffentliche Gewalt auf supranationaler und nationaler Ebene sowie (je nach dem) weiteren Stufen im föderalen Aufbau des einzelnen Mitgliedstaates217 konstituiert sei, geht außerdem mit einer bestimmten Betrachtungsweise der Souveränität einher. Danach stellt die Europäische Union ein föderales System dar, in dem die Souveränität eine geteilte ist218. Die Theorie der geteilten Souveränität besagt dabei zum einen, dass Volkssouveränität (als Grundlage demokratischer Legitimation) auf unterschiedlichen Ebenen verwirklicht wird – entsprechend der Aufteilung eines föderalen Gemeinwesens in verschiedene Stufen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Dies, indem die Bürgerinnen und Bürger auf den diversen Ebenen ihre jeweiligen partizipativen Rechte wahrnehmen und damit den jeweiligen politischen Prozess mit demokratischer Legitimation versehen. Zum andern bezieht sich das Konzept der geteilten Souveränität im Zusammenhang mit der EU auch auf das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und der Union: Im gleichen Ausmaß, wie die Mitgliedstaaten im Rahmen der europäischen Integration Teile ihrer Souveränität zugunsten der Gemeinschaft „ausgegliedert“ haben, sind entsprechende Hoheitsrechte des supranationalen Verbundes entstanden219. Damit ist denn auch die (sich ursprünglich auf das Außenverhältnis zu anderen
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Zum Folgenden Pernice, in: EuR 1996, 27 (30 f.). So in Deutschland auf der Ebene der Bundesländer. In der Schweiz fände dies seine Entsprechung in der Rolle der Kantone. 218 Vgl. Pernice, in: EuR 1996, 27 (30 f.), m.w.N., unter Hinweis auf den Begriff der geteilten Souveränität insb. von Thomas Fleiner; s. außerdem auch schon Pernice, in: EuR 1991, 273 (274 ff.); ders., in: Die Verwaltung 1993, 449 (478 f.). Zum Konzept der geteilten Souveränität auch ausführlich Epiney/Siegwart/Cottier/Refaeil, Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 126 ff., sowie – auch in begriffshistorischer Perspektive – Oeter, in: ZaöRV 1995, 659 (664 ff.). 219 Vgl. Epiney/Siegwart/Cottier/Refaeil, Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 128 ff. 217
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Staaten beziehende) staatliche Souveränität220 keine ungeteilte mehr, womit auch keine Rede mehr von einer alle möglichen Belange umfassenden „Allzuständigkeit“ des einzelnen Staates sein kann221. Die (vorübergehend) versuchte Entwicklung in Richtung einer formellen Europäischen Verfassung schließlich wurde als zwar nicht notwendiger, aber insgesamt wichtiger Schritt im „dynamischen Prozess“ der Europäischen Mehrebenenverfassung („multilevel constitutionalism“)222 betrachtet. Dabei war gerade nach der geplanten Inkorporierung der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag auch bereits von einem „Grundrechtsverbund“ die Rede, welchen europäische und mitgliedstaatliche Grundrechte bilden sollen223.
3. Schwerpunkte der Kontroverse um eine bestehende „Verfassungsordnung“ der EU Während Klarheit darüber herrscht, welches die Elemente einer möglicherweise bereits bestehenden gemeinschaftlichen Verfassungsordnung sein könnten224, und auch Vorstellungen in Bezug auf das Zusammenspiel der einzelnen Elemente in einem konstitutionellen Konzept entwickelt worden sind225, ist die Diskussion über die Frage, ob die Verfassungsqualität der vorhandenen Ordnung auch tatsächlich gegeben sei, noch keineswegs abgeschlossen. Die Argu___________ 220 Auch dieser Aspekt der Souveränität leitet sich im Übrigen letztlich – jedenfalls wenn ein demokratisches Staatsverständnis zugrunde gelegt wird – aus der Volkssouveränität ab, im internationalen Kontext in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Staatsvölker. 221 Vgl. Pernice, in: Die Verwaltung 1993, 449 (475). Es ist freilich darauf hinzuweisen, dass die „Bedingtheit des Staates“ (ebd.) sich nicht nur auf den supranationalen Kontext bezieht, sondern dass die Souveränität des einzelnen Staates auch aus allgemeiner völkerrechtlicher Sicht heute keine unbeschränkte mehr ist. Vielmehr werden immer mehr auch ursprünglich „innerstaatliche Bereiche“ durch völkerrechtliche Regeln erfasst, so dass nicht mehr von vornherein von einer ausschließlichen Regelungsbefugnis der einzelnen Staaten ausgegangen werden kann; vgl. hierzu Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 71 ff. (insb. 74, m.w.N.). 222 Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 5. 223 So Kingreen, in: EuGRZ 2004, 570 (576). In dieser Richtung in Bezug auf die Rolle von Grundrechten im Europäischen Verfassungsverbund auch Pernice/Kanitz, Fundamental Rights and Multilevel Constitutionalism in Europe, 3 und 19 f.; vgl. außerdem auch Pernice, in: FS Steinberger, 1319 (1335), wonach sich in der GrundrechteCharta „die materielle Einheit des Rechts im europäischen Verfassungsverbund“ widerspiegle. Es ist davon auszugehen, dass diese Einschätzung auch auf die (im Falle des Inkrafttretens) künftige Rechtslage unter dem Reformvertrag von Lissabon übertragen wird. 224 Siehe soeben, 2. a) bis c). 225 Siehe soeben, 2. d).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
mente jener, die den Verfassungscharakter der geltenden Grundordnung der EU ablehnen oder doch in Zweifel ziehen, kreisen dabei im Wesentlichen um die Frage der demokratischen Legitimation als Kriterium des Verfassungsbegriffs und dessen Verwendung im Kontext des Gemeinschaftsrechts. Weiter ist festzustellen, dass sich die darüber (besonders in der deutschen Lehre226) geführte Diskussion vor allem um die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge, also des geschriebenen primären Gemeinschaftsrechts, dreht. Die wohl pointierteste und die Debatte zugleich am nachhaltigsten beeinflussende Kritik an der Annahme eines Verfassungscharakters der Gemeinschaftsverträge stammt von Dieter Grimm227: Zwar anerkennt er, dass den Verträgen als Grundlage und Rahmen mit umfassendem Geltungsanspruch, auf den sich die Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung des sekundären Gemeinschaftsrechts stützt, die Stellung einer Grundordnung zukomme228. Auch erfüllten die Verträge weitere Funktionen, die auf der nationalen Ebene den Verfassungen zukommen, so namentlich hinsichtlich der Konstituierung der öffentlichen Gewalt der EU und damit der „Verrechtlichung politischer Herrschaft“ auf der gemeinschaftlichen Ebene229. Als Inhalte, die im nationalen Recht Verfassungsrang hätten, erwähnt er außerdem die Festlegung der Ziele der Union sowie die Bestimmung deren Organe, Kompetenzen und Verfahren. Gleichwohl aber wendet sich Grimm gegen einen – wie er ihn in Teilen der Lehre erblickt – „unbekümmerten Umgang mit dem Verfassungsbegriff“ im Zusammenhang mit dem primären Gemeinschaftsrecht230. Dabei weist er zunächst auf die grundsätzliche Frage der Ablösbarkeit des Verfassungsbegriffs vom klassischen Staatskontext hin231, womit sich ein erster Anhaltspunkt für die ___________ 226 Überblicke zur Debatte in Deutschland finden sich etwa bei Hobe, in: EuR 2003, 1 (3 ff.), sowie Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1682 ff., m.w.N.); vgl. im Übrigen die zu den nachfolgenden Darlegungen im Einzelnen angeführte Literatur. Von der deutschen Diskussion sind auch Stellungnahmen von Autorinnen und Autoren aus anderen Ländern maßgeblich geprägt, vgl. bspw. Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 ff.; ders., in: NJW 1999, 1 ff.; Tsatsos, in: EuGRZ 1995, 287 ff.; die französischen Autorinnen Ruiz Fabri/Grewe, in: Etudes Gautron, 189 (199), heben hervor, dass die Diskussion einer europäischen Konstitutionalisierung in der deutschen Lehre angehoben habe, bevor sie dann auch im übrigen europäischen Raum um sich gegriffen habe. 227 Zum Folgenden Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?; ders., in: JZ 1995, 581 (584 ff.); ders., in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 509 (513 ff.). Die wesentlichen Grundaussagen der in den erwähnten Publikationen aus dem Jahr 1995 vertretenen Position finden sich auch in einer jüngeren, im Jahr 2004 veröffentlichten Abhandlung wieder, s. Grimm, in: FS Badura, 145 (insb. 160 ff., 165 ff.). Insofern hat sich an der von Grimm geäußerten Kritik auch unter dem Eindruck der jüngeren europäischen Verfassungsdiskussion und -entwicklung nichts Grundlegendes geändert. 228 Grimm, in: JZ 1995, 581 (585). 229 Ebd., 581 (586). Entsprechend auch Grimm, in: FS Badura, 145 (165). 230 Grimm, in: JZ 1995, 581 (586, mit Fn. 25). 231 Ebd., 581 (584 f.).; vgl. auch Grimm, in: FS Badura, 145 (145 ff.).
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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von ihm hauptsächlich festgestellte Problematik ergibt. Der von Grimm letztlich gezogene Schluss, zur Beschreibung der Funktion der Verträge für die gemeinschaftliche Rechtsordnung sei kein Verfassungsbegriff angebracht232, gründet nämlich insbesondere233 auf dem Argument mangelhafter Legitimation der Verträge: „Die Verträge sind (...) keine Verfassung im Vollsinn des Begriffs. Die Differenz liegt in der Rückführung auf den Willen der Mitgliedstaaten statt auf den des Unionsvolks. (...) Die europäische öffentliche Gewalt ist keine vom Volk abgeleitete, sondern eine staatenvermittelte. Da die Verträge auf diese Weise keinen internen, sondern einen externen Zurechnungspunkt haben, sind sie auch nicht Ausdruck der Selbstbestimmung einer Gesellschaft über Form und Ziel ihrer politischen Einheit. Soweit es bei der Verfassung um die Legitimation von Herrschaft durch die Herrschaftsunterworfenen geht, bleiben die Verträge also hinter ihr zurück.“234
Während also die Verträge zufolge einem eigentlichen Verfassungsbegriff auf einem Akt beruhen müssten, der dem (Staats-)Volk zugeschrieben werden könne, fehle dem primären Gemeinschaftsrecht eine derartige Legitimationsquelle. Nicht „ein europäisches Volk“ habe sich selbst eine Verfassung gegeben, sondern es seien die einzelnen Mitgliedstaaten, auf welche die gemeinschaftliche Grundordnung zurückzuführen sei und von denen diese auch weiterhin abhängig bleibe235. Der von Grimm vertretenen Position stehen die Argumente jener gegenüber, welche der Grundordnung der Europäischen Union zunehmenden Verfassungscharakter bescheinigen. In terminologischer und zugleich materieller Hinsicht wird hier angeführt, dass mit dem Verfassungsbegriff eine spezifische, „durch die Gründungsverträge errichtete Wert- und Institutionenordnung“ bezeichnet ___________ 232 Zu diesem Schluss und den diesbezüglich wesentlichen Argumenten Grimm, in: JZ 1995, 581 (586). 233 Erwähnt wird nebenbei auch das Argument, den Verträgen fehle eine Grundrechtsordnung; s. ebd., 581 (585). Freilich hält Grimm gleichzeitig auch fest, dass Grundrechte einen üblichen, nicht aber einen unerlässlichen Bestandteil von Verfassungen darstellten. Aus heutiger Sicht wäre freilich auf die geplante Gleichstellung der Grundrechte-Charta mit dem Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon bzw. auf die zuvor vorgesehene Inkorporation der Charta in den Verfassungsvertrag hinzuweisen; in seiner im Jahr 2004 geäußerten Kritik am konstitutionellen Charakter des europäischen Integrationsprozesses ging Grimm denn auch auf die Thematik nicht (mehr) ein, s. ders., in: FS Badura, 145 (165 f.). 234 Grimm, in: JZ 1995, 581 (586). Entsprechend auch ders., in: FS Badura, 145 (165). 235 In seiner neueren (vgl. soeben, Fn. 233) Stellungnahme räumt Grimm, in: FS Badura, 145 (165), nun immerhin ein, aufgrund ihrer rechtlichen Verdichtung sei die Europäische Union „ein konstitutionsfähiges Gebilde“. Allerdings, so Grimm weiter (ebd., 166), würde eine Überführung der Verträge in eine „Verfassung im Vollsinn des Begriffs“ zugleich implizieren, dass sich die EU „auch unter der Hand von einem Staatenverbund in einen Bundesstaat verwandelt“.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
werde, die zudem – als formelles Kriterium – an der Spitze der für die EU geltenden Rechtsordnung stehe236. Die Verwendung des Verfassungsbegriffs sei auch neuen Entwicklungen zu öffnen, die sich mit den herkömmlichen Mustern der Staatlichkeit nicht erklären ließen237. Gerade das Phänomen der Supranationalität erfordere es, die im Ansatz Grimms zum Ausdruck kommende „etatistische Verengung des Verfassungsbegriffs“238 zu revidieren. Der Begriff „Verfassung“ sei nämlich keineswegs zwingend auf den Staat fixiert239; seine Verwendung im Zusammenhang mit den spezifischen, ein supranationales Herrschaftsgebilde eigener Art konstituierenden Strukturmerkmalen der EU bedeute denn auch keinerlei Gleichsetzung mit einer Staatsverfassung240. Ein zentrales Element nicht nur der Argumentation Grimms, sondern auch der „verfassungsbejahenden“ Gegenposition bildet sodann die Beantwortung der Frage, inwiefern von demokratischer Legitimation als Kriterium der Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge die Rede sein könne241. Freilich gelangt die verfassungsfreundliche Meinung zu einer entsprechend positiven Einschätzung: Die gegebene Tatsache, dass es sich bei den Gemeinschaftsverträgen um völkerrechtliche Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der EG bzw. der EU handelt, wird dabei nicht als Hindernis einer demokratischen Legitimierung sowohl der einzelnen Verträge als auch der durch sie bewerkstelligten Gesamtordnung betrachtet. Vielmehr wird gerade die im Akt der Ratifikation sich äußernde Zustimmung der beteiligten Staaten zum jeweiligen Vertrag (bzw. zu einer Vertragsänderung oder -ergänzung) als Beleg für die ver___________ 236 So Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (293); vgl. auch ders., in: Espace constitutionnel européen, 313 (313). 237 Zu den folgenden, direkt auf die Position Grimms Bezug nehmenden Argumenten Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1682); in derselben Richtung auch Pernice, in: JöR 2000, 205 (213). 238 Siehe Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1682). Vgl. auch Hertel, in: JöR 2000, 233 (240 ff.), wonach die Orientierung an Modellen nationaler Staatsverfassungen ein Grundproblem der Forderungen nach einer Europäischen Verfassung bilde. Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (130), nennt die Behauptung, Demokratie könne „nur im Rahmen eines Staates, nicht aber in einem überstaatlichen Rahmen funktionieren“, einen empirisch nicht belegten „dogmatischen Vorbegriff“. 239 So im Ergebnis auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, insb. 163 ff. 240 Vgl. auch Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (131), der zugunsten der Verwendung des Verfassungsbegriffs anführt, eine terminologische Verwirrung sei nicht anzunehmen. Denn es stehe doch fest, „dass die Gemeinschaftsverfassung sich grundlegend von nationalen Verfassungen unterscheidet, ebenso wie die Gemeinschaft nicht mit einem Staat verwechselt werden kann“. 241 Kritisch von einem „legitimistischen Verfassungsbegriff“ spricht in diesem Zusammenhang Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 220, die dementsprechend die Frage der Legitimität überhaupt nicht als Maßstab zur Beantwortung der Frage verwenden will, ob eine Verfassung vorliege (vgl. auch ebd., 63 ff.).
C. Konstitutionalisierung im supranationalen Rahmen der EU
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langte demokratische Legitimation ins Feld geführt242. Dabei wird durchaus auch anerkannt, dass der so verstandenen Gemeinschaftsverfassung im Vergleich zur Verfassung eines Staates eine direkte demokratische Legitimation fehle243; zugleich wird aber betont, dass die Verträge mit ihrer jeweiligen Ratifizierung „zumindest indirekt eine qualifizierte nationalstaatliche Legitimierung erfahren“ hätten244. Hervorgehoben wird auch, dass das nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten für die Ratifikation in der Regel ein qualifiziertes Verfahren vorsehe, handle es sich dabei um besondere parlamentarische Mehrheiten oder gar um Volksabstimmungen245. In der Argumentation noch einen Schritt weiter geht im Rahmen der Begründung seines Konzepts des Europäischen Verfassungsverbundes Ingolf Pernice246. Danach beruhe die „Unionsgrundordnung“247 auf mehr als nur völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Mitgliedstaaten, nämlich auf einem „vertraglich strukturierten ‚Gesamtakt‘ verfassungsmäßig vorbehaltener Integrationsgewalt der Bürger der Mitgliedstaaten“248. In der Formel kommt zunächst jenes Kriterium zum Ausdruck, auf das sich auch die zuvor angesprochenen Argumente anderer Autoren stützen: Das Fundament der EU soll durch den Willen der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten – mithin die „Volkssouveränität“249 – gebildet werden, wobei der Wille des „Volkes“ durch die für den Vertragsschluss zuständigen Organe jedes Mitgliedstaats zum Ausdruck gebracht werde250. Soweit damit auf die Ratifikation als verbindlicher Schluss___________ 242
In dieser Richtung etwa die Argumentationen von Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (293); Pernice, in: JöR 2000, 205 (208 ff., s. insb. auch 220); Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (130); ders., in: NJW 1999, 1 (2 f.). 243 So Rodríguez Iglesias, in: EuGRZ 1996, 125 (130). 244 Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (3). 245 Vgl. Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (293); Rodríguez Iglesias, in: NJW 1999, 1 (3). Eine qualitative Unterscheidung, wie sie gerade der schweizerischen Verfassungstheorie geläufig ist, zwischen dem legitimatorischen Wert einer Volksabstimmung und jenem einer bloß indirekten Partizipation des Volkes im Rahmen eines rein parlamentarischen Verfahrens wird demgegenüber nicht vorgenommen. 246 Zu diesem Konzept eingehender zuvor in diesem Kap., C. III. 2. d). Zum Folgenden insb. Pernice, in: JöR 2000, 205 (208 ff.); vgl. auch ders., in: VVDStRL 2001, 148 (163 ff.). 247 Pernice, in: JöR 2000, 205 (208), unter Hinweis auf Tsatsos, in: EuGRZ 1995, 287 ff. 248 Pernice, in: JöR 2000, 205 (208). 249 Vgl. auch ebd., 205 (212). 250 Ebd., 205 (208 f.). Aus der Aussage geht nicht hervor, ob es eine Rolle spielen soll, wie die Zustimmung zum völkerrechtlichen Ratifikationsakt innerstaatlich ausgestaltet ist – in der Form eines Referendums, das die unmittelbare Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ermöglicht, oder als Entscheidung in der alleinigen Kompetenz des Parlaments; vgl. auch die Bemerkungen zuvor in Fn. 245. Zu demokratietheoretischen Aspekten der Unterscheidung zwischen direkter Beteiligung der Bürgerinnen und Bür-
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
akt der Zustimmung des einzelnen Staatsvolkes251 abgestellt wird, ist das legitimatorische „Mehr“ gegenüber bloßen völkerrechtlichen Verträgen, das der Gemeinschaftsverfassung als Ganzes nach Pernice zugrunde liegen soll, freilich noch nicht erklärt. Dieses erschließt sich erst durch folgendes zusätzliches Argument: Der durch die Gemeinschaftsverträge in Gang gesetzte (und weiterhin ablaufende) Konstituierungsprozess der EG/EU soll nämlich „als Ausdruck eines Schritt für Schritt sich konsolidierenden europäischen contrat social verstanden werden“252. Der „Gesamtakt“ der Herausbildung einer gemeinschaftlichen Verfassungsordnung soll also dadurch besonders qualifiziert sein, dass die verschiedenen Staatsvölker im Rahmen ihrer – wie auch immer nach dem nationalen Verfassungsrecht jeweils beschaffenen – Zustimmung zu den Gemeinschaftsverträgen mehr im Sinn haben als (lediglich) die Sanktionierung (irgendwelcher) völkerrechtlicher Übereinkommen. Mit der Berufung auf einen „contrat social“ der beteiligten Völker wird zum Ausdruck gebracht, dass sich die demokratische Legitimation gerade auch auf das Element der Supranationalität der Gemeinschaft – mitsamt den damit verbundenen Implikationen – bezieht. Zu diesem Element gehört nach Pernices Konzept des Europäischen Verfassungsverbundes eines ganz wesentlich: Durch die „Integrationsverfassung“253 werde eine öffentliche Gewalt legitimiert und konstituiert, die sowohl für die beteiligten Staaten als auch für deren Bürgerinnen und Bürger unmittelbare Auswirkungen entfalte254. Gerade in diesem Punkt kommt am deutlichsten zum Ausdruck, dass die Bürgerinnen und Bürger (bzw. die Völker) der Mitgliedstaaten nach dem Ansatz des „contrat social“ Verantwortung nicht nur für ihre relativ partikulären nationalen Belange, sondern ebenso für Anliegen im Rahmen des supranationalen „Verbundes“ wahrnehmen sollen255. Damit aber werde demokratische Legitimation auch auf der überstaatlichen Ebene bewirkt. ___________ ger an politischen Entscheidungsprozessen einerseits und repräsentativen Formen politischer Entscheidungsfindung andererseits Scheyli, Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie, 117 ff. 251 Vgl. Pernice, in: JöR 2000, 205 (220), wonach „die mitgliedstaatlichen Ratifikationsakte (...) Kontrolle und Bestätigung, Ausdruck des demokratisch gebildeten Willens der Bürger eines jeden Mitgliedstaats, das gemeinsame ‚Ja‘ zu dem Vertrag mit den Bürgern der anderen Mitgliedstaaten“ sind. 252 Pernice, in: JöR 2000, 205 (209), Hervorh. im Orig.; s. auch ders., in: CMLR 1999, 703 (709), sowie ders., in: VVDStRL 2001, 148 (161, 167, 187). 253 Pernice, in: JöR 2000, 205 (209). 254 Hierzu bereits zuvor in diesem Kap., C. III. 2. d). 255 Vgl. auch Weiler, in: Espace constitutionnel européen, 413 (419 ff., insb. 426), wonach die Bedeutung der Supranationalität der Gemeinschaft aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zuletzt in folgendem liegt: „Supranationality assumes a new, additional meaning which refers (...) to the ability of the individual to rise above his or her national closet.“
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im völkerrechtlichen Kontext Die Feststellung, der Verfassungsbegriff habe sich „heute schon längst von seiner traditionellen Staatsfixiertheit gelöst“1, scheint kaum mehr bestritten zu werden, sei dies nun mit Blick auf die supranationale Ebene der europäischen Integration2 oder auf Entwicklungen in weiteren internationalen Zusammenhängen3. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist nun allerdings der Frage besondere Aufmerksamkeit zu widmen, welches die Möglichkeiten und Bedingungen dieser Entwicklung des Verfassungstopos hin zum völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsbegriff seien. Dabei darf zunächst nicht übersehen werden, dass der Ausgangspunkt der Entwicklung bei einer bestimmten, auf den Staat bezogenen Begriffstradition liegt (I.). Aufbauend auf den Erkenntnissen, welche sich aus der Betrachtung der supranationalen Konstitutionalisierungsebene ergeben (II.) ist schließlich danach zu fragen, welche Schlüsse sich für die Verwendung des Verfassungsbegriffs im Kontext des allgemeinen Völkerrechts ergeben (III.).
I. Grundelemente der Verfassung im Verfassungsstaat Zwar kann grundsätzlich gesagt werden, eine „Verfassung“ im empirischen Sinn besitze jedes irgendwie geartete Gemeinwesen, das sich selbst ein Statut gegeben hat, welches die wesentlichen Regeln des Zusammenlebens enthält4. „Verfassung“ stellt indessen, bedingt durch eine konsequente, nunmehr rund zweihundert Jahre alte Tradition5, auch – und vor allem – einen normativen Be___________ 1 Häberle, in: FS Zuleeg, 80 (85). Vgl. allgemein zur „Definitionsbreite des modernen Verfassungs-Begriffs“ auch etwa Mohnhaupt, in: Verfassung, 1 (1 ff.). 2 Siehe bspw. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 93 ff. 3 Siehe bspw. Biaggini, ZSR NF 2000 I, 445 (insb. 463). 4 Zur Gegenüberstellung von empirischer und normativer Verfassung Grimm, in: Staatslexikon, Bd. 5, 633 (633). Von faktischer und normativer Verfassung spricht Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 40 ff. 5 Vgl. dazu etwa Grimm, in: Staatslexikon, Bd. 5, 633 (633 f.), wonach die Verfassung im normativen Sinn ein Produkt der bürgerlichen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sei; s. auch ders., in: FS Badura, 145 (145 f.); ferner etwa Troper, in: Etudes Timsit, 177 ff. Die tatsächliche Verwendung des Verfassungsbegriffs in Bezug auf ein Gemeinwesen konnte am Beginn dieser Verfassungstradition noch wesentlich unklarer sein, als sie es heute in der Regel ist: Vgl. dazu den Hinweis von Allot, in: CMLR 1997, 439 (444), wonach in Hegels aus dem Jahr 1802 stammender Schrift „Die Verfassung Deutschlands“ mit der Verwendung des Verfassungsbegriffs „The Constitution or, perhaps, Constituting of Germany“ gemeint sein könnte. Derartige Zweifel an der normativen Bedeutung des Begriffs „Verfassung“ stellen sich heute jedenfalls bei dessen Verwendung im Zusammenhang mit einem Staat nicht mehr.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
griff dar, der sich auf ein staatliches Gemeinwesen, genauer auf den Verfassungsstaat6 bezieht7. Auf der Bezugnahme auf den Staat beruhen dabei sowohl der konkrete begriffliche Gehalt als auch die Funktionen der Verfassung in diesem normativen Sinn: Begrifflich bezeichnet die Verfassung8 in der Regel jenen Normenkomplex, der die normative rechtliche Grundordnung9 des Staates bildet, „die Einrichtung und Ausübung der Staatsgewalt sowie die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft grundlegend regelt“10. Typische Bestandteile sind dabei Bestimmungen zur Struktur und zu den Zielen des Staates, über die Einrichtung und die Ausübung der Staatsgewalt (Organisations- und Verfahrensregeln) sowie zum Verhältnis zwischen dem Staat und den Individuen, die sich zu diesem Gemeinwesen zusammenfinden (insbesondere die das Verhältnis staatlicher Zwangsgewalt zu individueller Freiheit regelnden Grundrechte)11. Diese begrifflichen Elemente finden sich auch in den Funktionen wieder, die der Verfassung zugeschrieben werden12: –
mit der Bestimmung der entsprechenden Organe und Verfahren soll die Verfassung die staatliche Gewalt organisieren (Organisationsfunktion);
___________ 6
Also eines Staats, dessen Herrschafts- und Entscheidungsgewalt in der Verfassung sowohl ihre rechtlichen Grundlagen als auch ihre rechtlichen Grenzen findet. Zum Begriff bspw. Böckenförde, in: GS Schnur, 137 (137 ff.); Seiler, Souveräner Verfassungsstaat, 120 ff. 7 Siehe zur Bezugnahme des normativen Verfassungsbegriffs auf den Verfassungsstaat auch etwa Hertel, Supranationalität, 34 ff.; Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, 333. 8 Zum (normativen) Verfassungsbegriff allgemein etwa Aubert, Bundesstaatsrecht, Bd. I, 108 f.; Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (292); Grimm, in: Staatslexikon, Bd. 5, 633 ff.; ders., in: JZ 1995, 581 (582 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 44 ff.; Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 3 f.; Tschannen, Staatsrecht, 42 ff.; Violini, in: Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 33 ff.; Walter, in: ZaöRV 1999, 961 (966 ff.). Einen „idealen“ Verfassungsbegriff entwickelt – im Hinblick auf dessen Verwendung als Maßstab zur Überprüfung der Verfassungsqualität der UNO-Charta – Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (569 ff.). 9 Zum Begriff s. Kägi, Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. 10 Grimm, in: Staatslexikon, Bd. 5, 633 (633). 11 Zu den – je nach Optik – typischen oder auch notwendigen Bestandteilen einer normativen Verfassung Constantinesco, in: Espace constitutionnel européen, 97 ff.; Frowein, in: Espace constitutionnel européen, 71 ff.; Grimm, in: JZ 1995, 581 (584); Müller, in: Espace constitutionnel européen, 133 ff. 12 Vgl. zum Folgenden anstelle vieler etwa Aubert, in: Espace constitutionnel européen, 15 (16 f.); Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse. Vol. I, 466 f.; Pernice, in: VVDStRL 2001, 148 (158 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 78 ff.; Reimer, Verfassungsprinzipien, 74 ff.; Schuppert, in: FS Badura, 529 (534 ff.); Tschannen, Staatsrecht, 50 ff.; Walter, in: DVBl. 2000, 1 (5).
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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–
die Legitimationsfunktion zielt auf die Legitimierung der staatlichen Machtausübung durch Verfahren der Herrschaftsbegründung, die eine Partizipation der Herrschaftsunterworfenen gewährleisten;
–
die Begrenzungsfunktion dient der Begrenzung der verfassungsmäßig begründeten Gewalt: hinsichtlich des Verhältnisses unter den verschiedenen Organen durch Gewaltenteilung, in Bezug auf das Verhältnis der staatlichen Organe zu den Bürgerinnen und Bürgern durch Grundrechte;
–
in der Integrationsfunktion kommt zum Ausdruck, dass die Verfassung, indem sie die grundlegenden gemeinsamen Werte konstituiert, die Stiftung von gesellschaftlicher Identität und Integration zu ermöglichen sucht13.
Die Benennung der verschiedenen Verfassungsfunktionen vermag zwar keine allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen, sondern unterliegt der Variabilität unterschiedlicher Verfassungsverständnisse14. Gleichwohl lassen sich zwei hauptsächliche Gruppen von Verfassungsfunktionen unterscheiden, wie Pierre Tschannen für das schweizerische Verfassungsrecht ausführt15: –
Danach zielt einerseits eine „instrumentale“ Funktionsschicht darauf hin, politische Macht zu rationalisieren, indem die organisatorischen und prozeduralen Regeln des politischen Prozesses festgelegt werden, durch welchen Recht entsteht. Dabei geht es auch und gerade darum, den Widerstreit der Interessen derart zu kanalisieren, dass ein gesamtgesellschaftlich tragfähiger Konsens resultiert.
–
Andererseits soll eine „materiale“ Funktionsgruppe die staatliche Willensbildung am Maßstab inhaltlicher Gerechtigkeit ausrichten. Dies erfordert, dass die Verfassung im Hinblick auf die Programmierung der Sozialordnung auf bestimmten Grundentscheidungen aufbaut, die sich am gesellschaftlichen Ziel des Gemeinwohls orientiert.
Dabei ist hervorzuheben, dass die Herstellung von Legitimation für beide Gruppen von Verfassungsfunktionen wesentlich ist. Der Frage der Legitimation staatlicher Herrschaftsausübung kommt auch insofern eine besondere Rolle
___________ 13
Insbesondere hierzu Aubert, in: Espace constitutionnel européen, 15 (17); Müller, in: Espace constitutionnel européen, 133 (147); Walter, in: DVBl. 2000, 1 (5), unter Hinweis auf die kritischen Argumente von Haltern, in: JöR 1997, 31 ff.; unter Berücksichtigung der problematischen (da potentiell totalitären) Aspekte der Integrationsfunktion außerdem auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 85 ff. 14 Wobei geschichtliche und politische Faktoren ebenso wie das entsprechende politische System die Variabilität bestimmen; vgl. hierzu etwa Tschannen, Staatsrecht, 50. 15 Zum Folgenden ebd., 50 ff.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
zu16, als sich an ihr die Organisation der staatlichen Gewalt genauso zu orientieren hat, wie die wirksame Begrenzung staatlicher Gewalt eine Voraussetzung legitimer Herrschaft bildet. Der Gedanke der Legitimation bildet also gewissermaßen den Kern des am Verfassungsstaat orientierten normativen Verfassungsbegriffs17. Dabei wird einerseits dem Willen des Staatsvolkes die Bedeutung einer eigentlichen Legitimationsbasis zugesprochen, aus der sich (in prozeduraler Hinsicht) die in der Verfassung niedergelegte öffentliche Gewalt ableitet18. Zugleich ist aber, wie der Ansatz von Tschannen klarstellt, für die Legitimität der durch die Verfassung vermittelten Ordnung unerlässlich, dass sie sich (im Rahmen ihrer „materialen“ Funktionen) an einer bestimmten Werteordnung orientiert. Letztere kann im demokratischen Verfassungsstaat moderner Prägung nicht beliebig ausfallen. Die Menschenwürde bildet diesbezüglich den Ausgangsund ständigen Orientierungspunkt19. Soweit damit die ethischen Fundamente der Verfassung angesprochen sind, so beschränken sich diese außerdem nicht darauf, das Wohl des Einzelnen zum Maßstab zu nehmen. Jene zentrale, unabdingbare Rolle, welche für das Individuum die Menschenwürde einnimmt, spielt für die Ebene des Gesamtgesellschaftlichen das Gemeinwohl: „Die Idee des Gemeinwohls ist mit der Konstitution der rechtlichen Gemeinschaft ursprünglich verbunden, ja sie geht jener sogar voraus: Das gemeine Wohl fordert und legitimiert die Rechtsgemeinschaft.“20 Der Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimität der rechtlichen Ordnung und jener „übergreifenden ___________ 16 Siehe auch Hertel, Supranationalität, 34, wonach der Verfassungsbegriff überhaupt „erst durch die Verbindung mit dem Gedanken der Legitimation von Herrschaft“ einen normativen Anspruch erlange. 17 Vgl. etwa Grimm, in: JZ 1995, 581 (586 f.). 18 Dies manifestiert sich im Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes; s. hierzu etwa Böckenförde, in: Begriff der Verfassung, 58 ff. 19 Siehe diesbezüglich für das schweizerische Verfassungsrecht Rhinow, Bundesverfassung 2000, 34, wonach die Menschenwürde (Art. 7 BV) einerseits „oberstes Konstitutionsprinzip“ des Staates und seiner Verfassung sei und mithin den „Leitstern“ der übrigen verfassungsgestaltenden Prinzipien (so u. a. freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie, Sozialstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit, Nachhaltigkeit, Weltoffenheit) bilde; desgleichen ders., Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 32. Zur Bedeutung diverser Grundrechtsgewährleistungen für die normative Entfaltung der Menschenwürde Müller, in: Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, 63 (65 ff.). Allgemein zur Bedeutung der Menschenwürde im schweizerischen Verfassungsrecht zudem etwa Mastronardi, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 233 ff.; Wilms, in: FS Steinberger, 1015 ff. Zum deutschen Verfassungsrecht grundlegend Häberle, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 815 ff.; vgl. außerdem etwa Enders, Menschenwürde in der Verfassungsordnung, insb. 377 ff.; Isensee, in: AöR 2006, 173 (insb. 209 ff.); v. Münch, in: FS Rauschning, 27 ff.; Stern, in: FS Badura, 571 ff. 20 Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 237. Vgl. zum Gemeinwohl als Staatszweck bspw. auch Uerpmann, Öffentliches Interesse, 20 f., sowie Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 199 ff.
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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normativen Orientierung“21, welche das Konzept des Gemeinwohls vermittelt, lässt sich dabei durch folgende allgemeine Formel umschreiben: „Regierung durch das Volk verlangt, dass die Bürger Einfluss auf die Politik haben, Regierung für das Volk, dass die Politik den Interessen der Bürger, und zwar möglichst aller Bürger, gerecht wird.“22 Dabei sind beide Aspekte – das Ziel der Regierung durch das Volk und das Ziel der Regierung für das Volk – als Wesensausdruck des demokratisch-rechtsstaatlichen Gemeinwesens aufzufassen. Als der Verfassung vorausgehendes „Fundamentalprinzip der politischen Ethik“ sowie als „allgemeinstes Leitbild, das die Staatsethik dem staatlichen und politischen Handeln aufweist, der Legitimationsgrund der Staatlichkeit“23 überdacht das Gemeinwohl das gesamte staatliche Recht. Als allgemeine Leitidee zur Beantwortung der normativen Frage24, welches die Ziele von Staat (als Gemeinwesen, in dem sich Menschen zusammenschließen) und Recht (als Regeln, nach denen sich das Handeln der Menschen in diesem Gemeinwesen richtet) sein sollen, ist es im Stufenbau der staatlichen Rechtsordnung – ebenso wie die Menschenwürde – letztlich auch der Verfassung übergeordnet25. Indessen beschränkt sich der Begriff des Gemeinwohls aus rechtlicher Sicht keineswegs auf den hohen Abstraktionsgrad, der das Gemeinwohl als ethisches Fundamentalprinzip und oberster Staatszweck kennzeichnet. Sondern das Gemeinwohl manifestiert und konkretisiert sich normativ im öffentlichen Interesse26, in all dessen Ausprägungen, die im staatlichen Gemeinwesen wirksam sind, seien dies beispielsweise Interessen des Umweltschutzes oder der sozialen Wohlfahrt. Insbesondere werden die liberalen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger an das Wohl der Allgemeinheit gebunden, wird der Handlungsspielraum der Einzelnen bei der Ausübung ihrer Grundrechte durch das Gemeinwohl begrenzt. Denn das Gemeinwohl (bzw. das öffentliche Interesse) ___________ 21
So von Arnim, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 63 (69). Ebd. Vgl. zudem auch Isensee, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 95 (101). Die Formel von den beiden demokratisch-rechtsstaatlichen Zielen „Regierung durch das Volk und Regierung für das Volk“ geht, wie von Arnim (a.a.O.) anmerkt, auf Abraham Lincoln zurück. 23 Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (4). Zum Gemeinwohl als Legitimationsgrund des Staates auch Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 199. 24 Siehe Brugger, in: FS Quaritsch, 45 ff.; ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 44 ff. 25 Brugger, in: FS Quaritsch, 45 (48). 26 Zur begrifflichen Gleichsetzung von öffentlichen Interessen und Gemeinwohl bspw. Häberle, in: Rechtstheorie 1983, 257 (257); zum Verständnis des Gemeinwohls als Gesamtheit der öffentlichen Interessen Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (11). 22
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
fungiert als Legitimationsgrund für die Beschränkung von Grundrechten27. In den öffentlichen Interessen widerspiegeln sich bestimmte materielle Wertmaßstäbe der demokratischen Gesellschaft28, die in bestimmten Fällen der Grundrechtsausübung entgegenstehen können. Als Beispiel kann diesbezüglich die – von der deutschen Grundrechtslehre29 so genannte – Sozialpflichtigkeit oder Sozialbindung des Eigentums angeführt werden: Das grundrechtlich geschützte private Eigentum ist nicht mit dem privatrechtlichen Eigentumsbegriff identisch, sondern wird durch die gesamte Rechtsordnung konstituiert30. „Die Verfassung legt dem Eigentum Verpflichtungen zugunsten der Allgemeinheit auf.“31 Nach der schweizerischen Bundesverfassung ergibt sich dies aus der logischen Verknüpfung zwischen Art. 36 Abs. 2, der allgemein die Rechtfertigung durch ein öffentliches Interesse als Einschränkungsvoraussetzung von Grundrechten festhält, und der jeweiligen Grundrechtsnorm (Art. 26 im Falle der Eigentumsgarantie32). Das deutsche Grundgesetz wiederum nennt in Art. 14 Abs. 2 die Bindung des Eigentums an das Gemeinwohl sogar ausdrücklich: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Eigentumsbeschränkungen dürfen allerdings umgekehrt auch nicht weiter gehen, als es das Gemeinwohl gebietet33, und entsprechend ist gemäß Art. 14 Abs. 3 GG auch eine Enteignung nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig.
___________ 27 Für die schweizerische Grundrechtstheorie s. Müller, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 621 (637); zum „Leitbild des gemeinwohlgemäßen Gebrauchs der grundrechtlichen Freiheit“ nach dem deutschen Grundgesetz etwa Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 353 (436 ff.). 28 Siehe Wyss, Öffentliche Interessen, 204, m.w.N. Zu Gerechtigkeitsvorstellungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse zudem Uerpmann, Öffentliches Interesse, 197 ff. 29 Vgl. bspw. Bryde, in: Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 883 (928 f.); Depenheuer, in: Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 1629 (1734 ff.); Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 353 (439 ff.); Leisner, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1023 (1075 ff.); ders., Sozialbindung, passim. 30 Das schweizerische Bundesgericht hat diesen Gedanken in BGE 105 Ia 330 Erw. 3c folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Die Eigentumsgarantie gewährleistet das Eigentum (...) nicht unbeschränkt, sondern nur innert den Schranken, die ihm im öffentlichen Interesse durch die Rechtsordnung gezogen sind.“ Für die schweizerische Grundrechtslehre vgl. Georg Müller, in: Kommentar zur Bundesverfassung, Rz. 22; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 596 ff.; Riva/Müller-Tschumi, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 765 (768 f.); Saladin, Grundrechte im Wandel, 351 f. Zur Bedeutung der in Deutschland geläufigen Konzeption der Sozialbindung des Eigentums für das schweizerische Recht s. Hänni, in: VVDStRL 1991, 252 (270). 31 Riva/Müller-Tschumi, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 765 (769). 32 Vgl. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 599. 33 Siehe bspw. BVerfGE 87, 114 (138 f.).
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
175
Auf die Bedeutung des Gemeinwohls im demokratischen Verfassungsstaat wird im Übrigen an anderer Stelle, im Zusammenhang mit Fragen der inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls, noch weiter einzugehen sein34.
II. Grundelemente der Verfassung im supranationalen Rahmen der Europäischen Union Aus der Beobachtung, dass die Verfassung im demokratischen Verfassungsstaat die öffentliche Gewalt konstituiert, erschließt sich die zentrale Rolle, welche der Legitimationsfunktion hier zukommt. Der Ausfüllung dieser Verfassungsfunktion dienen einerseits die institutionellen Mechanismen, welche die prozedurale Rationalisierung staatlicher Macht sicherstellen sollen, andererseits die Orientierung des gesamten staatlichen Handelns am gesellschaftlichen Gemeinwohl. Soweit der Begriff der normativen Verfassung also den Gedanken der Legitimation, präziser noch demokratischer Legitimation, impliziert, wird letztlich das Verhältnis zwischen dem konstituierten Gemeinwesen und den beteiligten Individuen in den Mittelpunkt gerückt. Damit freilich stellt sich notwendigerweise die Frage, ob dieser Begriff überhaupt vom Staat als seinem Bezugspunkt losgelöst werden kann35. Oder anders gefragt: Kann von einer Verfassung in einem normativen Sinn die Rede sein, wenn das verfasste „Gemeinwesen“ die Grenzen des ursprünglichen Bezugsrahmens sprengt und internationale Dimensionen annimmt? Während die Frage der „Verfassungsfähigkeit“ des zu verfassenden Gemeinwesens auf der Ebene des Staates prinzipiell nicht in Frage steht, wird diese im supranationalen Kontext zu einem zentralen Thema36. Dabei hat die Betrachtung der Konstitutionalisierungsdiskussion in Bezug auf die Europäische Union gezeigt, dass selbst die kritischsten Stimmen, welche sich gegen die Zuerkennung einer Verfassungsqualität des primären Gemeinschaftsrechts stellen, dessen grundsätzliche Verfassungsfunktionalität anerkennen: So räumt auch Dieter Grimm ein, die Verträge erfüllten Funktionen, die auf der nationalen Ebene den Verfassungen zukommen, so insbesondere in Bezug auf die Konstituierung der öffentlichen Gewalt der EU und damit der „Verrechtlichung politischer Herrschaft“ auf der gemeinschaftlichen Ebene37. Des Weiteren gelte dies auch für die Festlegung der Ziele der Union sowie die ___________ 34
Hinten, 3. Kap., A. II. 1. Allgemein zu dieser Frage Grimm, in: JZ 1995, 581 (584 ff.); Walter, in: ZaöRV 1999, 961 (966 ff.). 36 Vgl. dazu Petersen, in: ZaöRV 2004, 429 ff. (438 ff.). 37 Grimm, in: JZ 1995, 581 (586). Entsprechend auch – in einer neueren Stellungnahme aus dem Jahr 2004 – ders., in: FS Badura, 145 (165). 35
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Bestimmung deren Organe, Kompetenzen und Verfahren. Indessen sei es die Frage der demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsverträge, welche der Verfassungsqualität entgegenstehe. Dies, indem die gemeinschaftliche Grundordnung nicht – gestützt auf einen entsprechenden verfassungsgebenden Akt – dem Willen des „europäischen Volkes“ zugeschrieben werden könne. Die Gegenposition stellt sich währenddessen hauptsächlich auf den Standpunkt, mit dem jeweiligen nationalen Ratifikationsakt gehe auch eine zumindest indirekte demokratische Legitimierung der Gemeinschaftsverträge einher. Darüber hinaus will das von Ingolf Pernice entwickelte Konzept des Europäischen Verfassungsverbundes38 hinsichtlich der Konstituierung der supranationalen öffentlichen Gewalt der EU eine besondere legitimatorische Wirkung darin erkennen, dass die beteiligten Staatsvölker mit ihrer Zustimmung zu den Gemeinschaftsverträgen die Schaffung eines europäischen „contrat social“ beabsichtigten. Es fällt auf, dass bei der Beurteilung bzw. Begründung der Verfassungsqualität der gemeinschaftlichen Grundordnung beide Positionen – also nicht nur die ablehnende, sondern ebenso die zugunsten des Verfassungscharakters argumentierende – auf die Herstellung von Legitimität durch den Volkswillen und somit kraft der Souveränität des Volkes abstellen. Weitgehende39 Einigkeit scheint somit jedenfalls in Bezug darauf zu bestehen, dass die Verfassungsqualität einer rechtlichen Grundordnung nicht nur auf der staatlichen Ebene – wo die Verfassung die Rechtsstellung des Individuums durch die Konstituierung staatlicher Zwangsgewalt am unmittelbarsten prägt – sondern auch auf der supranationalen Ebene der EU von der demokratischen Legitimation durch Zustimmung der Rechtsunterworfenen abhängt. Denn in der supranationalen Rechtsstruktur – so im Kern die Begründung – erstreckt sich die aus dem Gemeinschaftsrecht resultierende Herrschaftsgewalt ebenfalls direkt auf die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, es existiert mithin auf der supranationalen Ebene eine eigenständige öffentliche Gewalt. Die öffentliche Gewalt bildet zunächst eines der klassischen Staatselemente40. Dabei ist für die dieser Gewalt Unterworfenen deren konkrete Ausgestaltung – und insbesondere, welchen Schranken sie unterliegt –, von elementarer Bedeutung, bemisst sich daran doch die individuelle Freiheit der Einzelnen. ___________ 38
Vgl. ebd. Anders hingegen insb. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 35, 524 ff., 580 ff., 773 ff., die davon ausgeht, dass die Legitimität einer – europäischen – Verfassungsordnung nicht zwingend von einer bereits im Voraus („ex ante“) gegebenen Zustimmung der betroffenen Individuen abhänge. Demgegenüber schlägt sie ein „Modell der Legitimation durch Bewährung“ aufgrund des realen, „ex post“ zu bewertenden Outputs der Verfassungsordnung vor. 40 Vgl. die Nachweise zuvor in diesem Kap., C. I. 1., Fn. 18. 39
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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Die Frage der Konstituierung der öffentlichen Gewalt bildet also gewissermaßen einen Angelpunkt der Beziehungen zwischen Individuen und Gemeinwesen41. In Anbetracht dessen ist es denn auch grundsätzlich nachvollziehbar, an die Verfassungsqualität einer gemeinschaftlichen Grundordnung, welche eine weitere Ebene öffentlicher Gewalt mit sich bringt, den Maßstab der demokratischen Legitimation anzulegen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung – welche den Voraussetzungen völkerrechtlicher Konstitutionalisierung nachgeht – ist die Frage unerheblich, wie überzeugend jene Konzepte sind, welche die Legitimation einer (bereits bestehenden) gemeinschaftlichen Verfassungsordnung auf die Zustimmung der Rechtsunterworfenen und damit auf das Prinzip der Volkssouveränität zu gründen versuchen. Hingegen ist die Feststellung hier von erheblicher Relevanz, dass sich offensichtlich gewisse – in einem bedeutenden Argumentationsaufwand sich äußernde – Schwierigkeiten ergeben, die Legitimation der Gemeinschaftsverfassung ohne Weiteres aus einem prozedural zustandegekommenen Volkswillen abzuleiten. Mit anderen Worten ist im Vergleich zur Herstellung von Legitimität in den verfassungsstaatlich vorgegebenen Kanälen gerade der Rekurs auf jene Schicht von Verfassungsfunktionen erhöhten Schwierigkeiten ausgesetzt, die darauf hinzielen, die Legitimation der Verfassungsordnung prozedural zu sichern. Erweisen sich somit – begrifflich wird hier auf die entsprechende verfassungsstaatliche Funktionseinteilung42 zurückgegriffen – die instrumentalen Verfassungsfunktionen als nicht hinreichend oder zumindest in ihrer Wirkung nicht unbestritten, so muss der materialen Funktionsschicht, welche den Aspekt der prozeduralen Gerechtigkeit mit jenem der inhaltlichen Gerechtigkeit ergänzt, eine verstärkte Rolle zukommen. Die Orientierung einer Verfassungsordnung am Gemeinwohl erhält somit auf der supranationalen Ebene noch eine zusätzliche Bedeutung: Die im Vergleich zu den nationalen Rechtsordnungen schwächere demokratische Legitimation des europäischen Rechts lässt sich nur durch jene Verfassungsfunktionen wettmachen, welche dem Gemeinwohl verpflichtet sind43. (Wobei freilich daran zu erinnern ist, dass die instrumentale Ebene alleine für die Legitimationsherstellung ohnehin – auch im verfassungsstaatlichen Rahmen – nicht ausreicht, sondern durch die materiale Funktionsgruppe begleitet werden muss.)
___________ 41 Zur „Polarität“ zwischen der (durch die Grundrechte gewährleisteten) Freiheit der Individuen und der Staatsgewalt etwa Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 591 (652 f.). Zur Bedeutung des Rechtsschutzes des Bürgers und der Bürgerin gegenüber der öffentlichen Gewalt Sobota, Prinzip Rechtsstaat, 201 ff. 42 Siehe zuvor, Text bei Fn. 15, unter Verwendung der Begrifflichkeit gemäß Tschannen, Staatsrecht, 50 ff. 43 Vgl. in dieser Richtung Hofmann, in: JöR 2002, 1 (17). Allgemein zur Legitimationswirkung gemeinsamer Werte der Union Calliess, in: JZ 2004, 1033 (1040).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Damit ist die Orientierung am Gemeinwohl als Kriterium für die Verfassungsfähigkeit der EU angesprochen. Dem Gemeinwohl als „regulatives Prinzip“, als Leitbild der Verfassungswirklichkeit44, wie es auf der verfassungsstaatlichen Ebene eine zentrale Rolle spielt, kommt auch im supranationalen Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zu45. Diesbezüglich sei den nachfolgenden Überlegungen das Diktum von Peter Häberle vorangestellt, wonach das europäische Verfassungsrecht – wie das nationalstaatliche auch – ohne den Topos des Gemeinwohls nicht auskomme46. Der Begriff der „Gemeinschaft“ an sich impliziert schon eine gewisse Orientierung an gemeinsamen Interessen. Dies wird auch im supranationalen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union47 deutlich. Wie bereits der Blick auf die Hintergründe der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft zeigt48, stand von Beginn an der Gedanke im Zentrum, dass neben die partikulären, vor allem wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen einzelner Staaten ein gemeinsames Interesse der Beteiligten zu treten habe. Dabei war es die noch äußerst präsente Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, welche die Chancen besonders deutlich machte, die sich aus einer ganz grundsätzlich erneuerten Basis der Beziehungen unter den europäischen Staaten ergeben würden. Das Ziel der Friedenserhaltung kann denn auch als die eigentliche Triebfeder der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft bezeichnet werden. So wird im sogenannten Schuman-Plan, in welchem erstmals der Gedanke konkretisiert wurde, die deutsche und die französische Kohle- und Stahlindustrie in einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammenzulegen, herausgestrichen, dass die Fusion der (wirtschaftlichen) Interessen der ehemaligen Kriegsgegner die Grundlage für die künftige Aufrecht___________ 44
So Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (13). Zur grundsätzlichen Übertragbarkeit von Rechtsfiguren, die vor dem Hintergrund der staatlichen Verfassungswirklichkeit entwickelt wurden, auf Verfassungsfragen der gemeinschaftlichen Ebene von Bogdandy, in: FS Badura, 1033 (1042 f.). Von einer solchen Übertragbarkeit sei auszugehen, da „die unionale und die mitgliedstaatlichen Verfassungen dasselbe zentrale Problem“ beträfen, nämlich „das Phänomen einseitiger Macht als Angelpunkt einer jeden Verfassungsordnung“. Konkret zur Übertragung des Gemeinwohlkonzepts von der nationalstaatlichen auf die supranationale Ebene Häberle, Europäische Verfassungslehre, 317, 378, sowie Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 432. 46 Häberle, Europäische Verfassungslehre, 317, 377 f. Die Tauglichkeit der Orientierung am Gemeinwohl als Legitimitätskriterium verneinend demgegenüber Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 569 ff., 774. 47 Zur Umsetzung der Gemeinschaftsidee in den Zielen der Europäischen Union Kotzur, in: DÖV 2005, 313 ff. 48 Vgl. zum Folgenden etwa Oppermann, Europarecht, 11 f., sowie Schmale, in: Vom Schuman-Plan zum Vertrag von Amsterdam, 5 (insb. 21 ff.). 45
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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erhaltung des Friedens bilden solle49. In Art. 2 EGV widerspiegelt sich diese Zielsetzung nach wie vor, indem es als Aufgabe der Gemeinschaft bezeichnet wird, durch die Durchführung bestimmter gemeinsamer Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft „den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“. Auf dieser Grundlage erstreckt sich heute der Gedanke der Gemeinsamkeit von Interessen, denen sich die Politik der Gemeinschaft zu widmen hat, gemäß Art. 3 EGV auf eine Vielzahl von Bereichen zwischen der gemeinsamen Handelspolitik über spezifische Wirtschaftsbelange, Anliegen der Sozial- oder Umweltpolitik bis zu Zielen der Außenpolitik. Einige wenige konkrete Beispiele vermögen dabei die Vielfalt der Orientierung an gemeinsamen Werten und Interessen zu illustrieren50: –
Einen Ausdruck der Verwirklichung gemeinschaftlicher Interessen im Innern bildet etwa das Anliegen, bestimmten gemeinsamen Werten zur Durchsetzung zu verhelfen, nämlich den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen „Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“51 sowie insbesondere auch jenen, die in den Grundrechten enthalten sind52. Die besondere Funktion dieser Grundwerte als verbindende Elemente der Gemeinschaft zeigt sich auch darin, dass nach Art. 7 EUV eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze durch einen Mitgliedstaat zu bestimmten Sanktionen gegen denselben führen kann. Die Frage der Wahrung dieser materiellen Wertordnung durch einen einzelnen Mitgliedstaat stellte sich konkret und in bis dahin beispielloser Weise im Zusammenhang mit der Regierungsbeteiligung der (dem Vorwurf des Rechtsextremismus ausgesetzten) Freiheitlichen Partei
___________ 49
Siehe die auszugsweise Wiedergabe des in einer Regierungserklärung des französischen Außenministers Robert Schuman im Jahre 1950 vorgestellten Plans bei Oppermann, Europarecht, 11. 50 Zu den verschiedenartigen Ausgestaltungen und Konkretisierungen eines „europäischen Gemeinwohls“ außerdem allgemein Häberle, Europäische Verfassungslehre, 317 ff., 377 ff.; ders., in: Das Öffentliche heute, 157 ff.; ders., in: FS Steinberger, 1153 ff.; ders., in: Kleine Schriften, 334 (345); ders., in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. III, 99 (112 ff.). Zur EU als Wertegemeinschaft zudem etwa Calliess, in: JZ 2004, 1033 ff.; Speer, in: DÖV 2001, 980 ff.; verschiedene Beiträge in Blumenwitz/Gornig/Murswiek (Hrsg.), Europäische Union als Wertegemeinschaft. 51 Art. 6 Abs. 1 EUV. 52 Die Grundrechte gehören zu den Bereichen, in denen die gemeinsamen Grundwerte der Gemeinschaft am konkretesten zum Ausdruck kommen. Wesentlich ist dabei nicht zuletzt, dass sie u. a. den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ (Art. 6 Abs. 2 EUV) entspringen. Zu den gemeinschaftlichen Grundrechten ausführlicher vorne in diesem Kap., C. III. 2. b) bb).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
in Österreich ab dem Januar 200053. Die Sanktionsmöglichkeit von Art. 7 EUV hat sich durch den Vertrag von Nizza noch verstärkt, wurde das entsprechende Verfahren doch durch eine präventive Regelung ergänzt54. Danach kann nun der EU-Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Parlaments oder der Kommission, nach Zustimmung des Parlaments sowie mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte durch einen Mitgliedstaat besteht, und an diesen Mitgliedstaat geeignete Empfehlungen richten. –
Die Berufung auf das – insofern funktional mit dem öffentlichen Interesse gleichzusetzende – Gemeinwohl dient weiter als Rechtfertigung für die Beschränkung von Grundfreiheiten55. So hat der EuGH als Gemeinwohlziele der Gemeinschaft, welche Grundrechtseingriffe rechtfertigen können, die Durchsetzung des Binnenmarktprinzips, die ökonomische Stabilität des Agrarmarkts, den Umweltschutz, die Durchsetzung von Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt sowie den Schutz der öffentlichen Gesundheit und von Menschenleben anerkannt56.
–
Einen Ausdruck der Gemeinschaft nach außen bildet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auf den gemeinsamen Werten und grundlegenden Interessen der Gemeinschaft beruht und auf deren Wahrung hinzielen soll57. Dabei sollen die Mitgliedstaaten im Geist gegenseitiger politischer Solidarität zusammenarbeiten und sich „jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte“ enthalten58.
–
Inwiefern im Rahmen der Gemeinschaft gemeinsame Politiken entwickelt und verfolgt werden, in deren Zentrum die gemeinsamen, teilweise aber auch differenzierten Interessen der Mitgliedstaaten stehen, zeigt schließlich das Beispiel des Auftretens der EU in der globalen Klimaschutzpolitik: Die ___________
53 Siehe zu den dabei in Bezug auf die „Verfassungsgrundsätze“ des Art. 6 Abs. 1 EUV aufgeworfenen Rechtsfragen Hummer/Obwexer, in: EuZW 2000, 485 (insb. 486 f.); s. außerdem auch den von Martti Ahtisaari, Jochen Frowein und Marcelino Oreja im Auftrag der übrigen damaligen vierzehn Mitgliedstaaten der EU erstatteten Bericht über die Vorgänge in Österreich, wiedergegeben in: EuGRZ 2000, 404 ff. 54 Hierzu Speer, in: DÖV 2001, 980 (987 f.). 55 Zum Folgenden Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 133 f.; Uerpmann, Öffentliches Interesse, 250 ff. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 319 f., 380 f., spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gemeinwohljudikatur“ des EuGH. 56 Siehe Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 134, mit den entsprechenden Nachweisen. 57 Vgl. Art. 11 Abs. 1, 1. Spiegelstrich EUV. 58 Art. 11 Abs. 2 EUV.
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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Verpflichtungen zu einer mengenmäßigen Reduktion bzw. Begrenzung der Treibhausgasemissionen, die das Kyoto-Protokoll zur Klimakonvention59 für die Industriestaaten vorsieht, sollen nach den Vorstellungen der EU durch ihre Mitgliedstaaten gemeinsam erfüllt werden60. Die Grundlage hierfür bildet die durch Art. 4 Kyoto-Protokoll gegebene Möglichkeit der sogenannten gemeinsamen Erfüllung („joint fulfilment“)61. Danach gelten die in Anlage B des Protokolls festgelegten Verpflichtungen von Industriestaaten als erfüllt, wenn sich diese zum Zweck der Umsetzung in einer Gruppe zusammenschließen und ihre Emissionen dabei insgesamt die Summe aller auf sie entfallenden individuellen Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen nicht übersteigen62. Die Möglichkeit, aus dem Kyoto-Protokoll resultierende Verpflichtungen gemeinsam als Staatengruppierung zu erfüllen, geht auf eine Initiative der EU zurück63. Dabei gelten innerhalb der EU selbst nach einem internen Lastenteilungsplan unterschiedliche Reduktionspflichten64. Demzufolge hat ein Teil der EU-Staaten die Treibhausgasemissionen um unterschiedliche Mengen zu senken65, andere müssen ihren Ausstoß stabil halten66, während wiederum anderen eine Erhöhung der Emissionen in unterschiedlichem Ausmaß zugestanden wird67. ___________ 59 Zur globalen Klimaschutzpolitik, zur Klimakonvention und ihrem Zusatz-Protokoll von Kyoto noch ausführlich im 4. Kap., C. 60 Vgl. diesbezüglich etwa Bail/Marr/Oberthür, in: EUDUR, Bd. II (1. Teilbd.), 254 (287). 61 In Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll. Die gemeinsame Erfüllung bildet einen der Flexibilisierungsmechanismen, welche die Verwirklichung der Emissionsreduktions- und Begrenzungsverpflichtungen der Industriestaaten unterstützen sollen; s. auch Art. 4 Abs. 2 Bst. a (letzter Satz) Klimakonvention, der das Instrument der gemeinsamen Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen unter Industriestaaten („joint implementation“) vorsieht. Vgl. zum Ganzen Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 249 ff., m.w.N.; spezifisch zum Mechanismus der gemeinsamen Erfüllung auch Bail/Marr/ Oberthür, in: EUDUR, Bd. II (1. Teilbd.), 254 (272), sowie Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 141 ff. 62 Art. 4 Abs. 1 Kyoto-Protokoll. 63 Vgl. insbesondere Breier, EuZW 1999, 11 ff.; s. außerdem auch Bail, EuZW 1998, 457 (461); Keller/Rosenmund, URP 1999, 353 (372 ff.); Yamin, in: RECIEL 1998, 113 (121). 64 Siehe hierzu die Entscheidung 2002/358/EG, ABl. 2002 L 130, 1. Vgl. außerdem die Schlussfolgerungen des Rates zu einer Gemeinschaftsstrategie im Bereich der Klimaänderungen, Dok. 9702/98 vom 19.6.1998; des Weiteren die folgende Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Politische Konzepte und Maßnahmen der EU zur Verringerung der Treibhausgasemissionen – zu einem europäischen Programm zur Klimaänderung (ECCP) vom 8.3.2000, KOM (2000) 88 endg. 65 Bspw. Deutschland und Dänemark um 21 Prozent. 66 So Finnland und Frankreich. 67 So Griechenland, Irland, Portugal (dessen Steigerung der Emissionen bis zu 27 Prozent betragen darf) und Spanien.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Für die Gesamtheit der EU-Staaten gilt demgegenüber nach Anlage B des Protokolls die Vorgabe, ihre Emissionen um durchschnittlich acht Prozent zu reduzieren68. Die Möglichkeit der gemeinsamen Erfüllung nach Art. 4 Kyoto-Protokoll ist demnach für die EU von großer Bedeutung: Einerseits nimmt die EU damit das gemeinsame (umweltpolitische) Interesse ihrer Mitgliedstaaten an einem wirksamen Klimaschutz wahr; andererseits verfolgt sie aber auch das gemeinsame (ökonomische) Interesse des Ausgleichs unter den Mitgliedstaaten gemäß dem gemeinschaftlichen Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts69. Allgemein lässt sich die sukzessive Entwicklung der Orientierung an gemeinsamen – „gemeinschaftlichen“ – Interessen der Mitgliedstaaten außerdem deutlich am supranationalen Charakter der Gemeinschaft ablesen. Dies, indem Supranationalität sich auf der zwischenstaatlichen Ebene als fortgeschrittenste Organisationsform betrachten lässt, in der zum Ausdruck kommt, dass neben die Interessen der Einzelnen (hier einzelner Staaten) ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten (hier der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft) tritt. Der Gedanke, dass dabei auch dem gemeinsamen Handeln aller (zur Verwirklichung der gemeinsamen Interessen) gegenüber dem individuellen Handeln des Einzelnen (zur Verwirklichung der partikulären Interessen) der Vorrang gebühren muss, widerspiegelt sich schließlich in rechtlicher Hinsicht im Umstand, dass dem Gemeinschaftsrecht (als Resultat gemeinsamen Handelns) in einem bestimmten Ausmaß Priorität gegenüber nationalem Recht (als Ausfluss individuellen Handelns) zukommt. Die Gemeinschaftsbezogenheit zeigt sich dementsprechend auch in dem Merkmal des supranationalen Ordnungsrahmens70, dass die Willensbildung in gewissem Maß durch (einem gemeinsamen europäischen Interesse verpflichtete) Gemeinschaftsorgane geschieht, die gegenüber den Mitgliedstaaten selbständig sind. Der Gedanke, dass über Einzelinteressen hinaus im Rahmen der Gemeinschaft eine Ausrichtung am Gesamtwohl besteht, dürfte im Übrigen auch ausgeprägt im Ansatz von Pernice zum Ausdruck kommen, wonach dem Europäischen Verfassungsverbund ein „contrat social“ der Staatsvölker der Europäischen Union zugrunde liege71. Im
___________ 68 Vgl. auch Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll sowie die Liste der verpflichteten Industriestaaten in Anlage I. Die Reduktion der emittierten Mengen von insgesamt sechs Treibhausgasen (s. Anlage A) bezieht sich nach Art. 3 Abs. 1 auf den Zeitraum zwischen 2008 und 2012, mit dem Stand des Jahres 1990 als Vergleichswert. 69 Vgl. Art. 158 ff. EGV sowie Art. 2 EUV. 70 Dazu eingehender vorne in diesem Kap., C. I. 2. b). 71 Vgl. Pernice, in: JöR 2000, 205 (209); ders., in: CMLR 1999, 703 (709); ders., in: VVDStRL 2001, 148 (161, 167, 187). Zum Konzept des Europäischen Verfassungsverbunds eingehender vorne in diesem Kap., C. III. 2. d).
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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Ergebnis scheint es sogar berechtigt, die EU als „Gemeinwohlverbund“72 zu bezeichnen.
III. Zur Verwendbarkeit der Verfassungselemente im Kontext des allgemeinen Völkerrechts 1. Ausgangslage a) Ausgangslage (1): Assoziationen der völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsdiskussion Wie angesprochen wurde73, herrscht in der völkerrechtlichen Literatur eine mittlerweile breit angelegte Diskussion über einen bestimmten, je nachdem als mehr oder weniger fortgeschritten eingestuften Entwicklungsprozess des Völkerrechts sowie verschiedenste diesem zugerechnete Teilphänomene. Diesbezüglich wird ziemlich einhellig die Begrifflichkeit eines völkerrechtlichen „Konstitutionalisierungsprozesses“ und damit einer völkerrechtlichen „Verfassungsordnung“ als Resultat desselben verwandt. Dabei beruht dies offensichtlich auf Assoziationen zu bestimmten, aus einem nichtvölkerrechtlichen Kontext wohlbekannten Vorgängen und Kategorien, die sowohl durch die Betrachtung des Phänomens als Gesamtheit als auch der einzelnen Faktoren wachgerufen werden. Die Glieder der entsprechenden Assoziationskette scheinen dabei in etwa durch die folgenden Begriffe bzw. Beobachtungen gebildet zu werden: –
der heute etablierte Begriff einer „internationalen Gemeinschaft“;
–
die verbreitete Feststellung, dass diese Gemeinschaft auf bestimmten grundlegenden Werten aufbaut;
–
die Feststellung einer Verdichtung und Verankerung dieser Werte in normativen Bestimmungen;
–
die Feststellung einer stetigen quantitativen Zunahme solcher Normen;
–
der Eindruck, es bilde sich ein ganzer Komplex, wenn nicht gar ein Kodex solcher Normen heraus;
–
das auf der Verwurzelung im nationalstaatlichen Rechtsdenken beruhende, im kollektiven juristischen Bewusstsein verankerte Bild einer „Verfassung“ als Grundkodex einer Gemeinschaft;
___________ 72 73
So Calliess/Ruffert, in: EuGRZ 2004, 542 (545 f.). Siehe vorne in diesem Kap., B. I.
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–
2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
die Vorstellung einer Hierarchie der Normen, mit den völkerrechtlichen „Verfassungsnormen“ an der Spitze.
b) Ausgangslage (2): unterschiedliche Realität konstitutioneller Durchsetzungsgewalt – keine eigenständige Stufe hoheitlicher Gewalt auf der nicht-supranationalen internationalen Ebene Gleichzeitig ist aber auch nicht zu übersehen, dass der traditionelle Verfassungsbegriff in ganz grundlegender Weise auf Elementen beruht, die nicht ohne Weiteres auf eine internationale Ebene übertragbar sind. Dabei zeigt der Blick auf die grundlegenden Verfassungselemente im nationalstaatlichen sowie im supranationalen Rahmen, dass dem Ausmaß der Konstituierung hoheitlicher Gewalt eine ganz entscheidende Bedeutung zukommt. Die mit der tradierten Bezugnahme auf den Staat einhergehende Betonung der Legitimationsfunktion einer Verfassung knüpft an der Begründung staatlicher Hoheitsgewalt an. Die Tatsache, dass aus dem europäischen Integrationsprozess eine eigene Ebene öffentlicher Gewalt (mit entsprechenden Implikationen für die Unionsbürgerinnen und -bürger) resultiert, bildet zudem auch auf der supranationalen Diskussionsebene den Angelpunkt74. Letztlich lässt sich somit sowohl für die staatliche wie auch für die supranationale Ebene die Formel verwenden, als „Verfassung“ sei die „rechtliche Grundordnung eines mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Personenverbandes“ zu verstehen75. Auf einem anderen Boden bewegt sich die Verfassungsdiskussion demgegenüber, sobald sie sich in die Sphäre des allgemeinen Völkerrechts begibt. Verdeutlichen lässt sich dies durch folgende Gegenüberstellung des supranationalen und des allgemeinen internationalen Ordnungsrahmens. Auf eine ausdrückliche Gegenüberstellung des im Verfassungsstaat geltenden Ordnungsrahmens mit dem völkerrechtlichen kann währenddessen (an dieser Stelle) insofern verzichtet werden, als die entsprechenden Differenzen umso größer ausfallen würden.
Die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ausgangslagen lässt sich treffend mit dem durch Hertel verwendeten Bild vom „Mischcharakter“76 der supranationalen Rechtsordnung der EU illustrieren: Danach richtet sich die (auf völkerrechtlichen Verträgen beruhende) Gemeinschaftsordnung nicht nur auf das Verhältnis der beteiligten Vertragsparteien untereinander sowie zur entstande___________ 74
Vgl. von Bogdandy, in: FS Badura, 1033 (1042 f.). So Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung, 182, 184. 76 Vgl. Hertel, in: JöR 2000, 233 (245 ff.); s. hierzu auch vorne in diesem Kap., C. I. 2. b). 75
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nen Gemeinschaft, sondern betrifft in einem bedeutenden Ausmaß auch Rechte und Pflichten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten. Damit sind in ein und derselben Rechtsordnung sowohl völkerrechtliche als auch traditionell im staatlichen Rahmen auftretende Strukturelemente vereinigt77. Zwar resultieren heute auch im allgemeinen Völkerrecht in zunehmendem Ausmaß Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse der einzelnen Individuen; indessen zeichnet sich die supranationale Gemeinschaftsordnung dadurch besonders aus, dass hier, gestützt auf die autonome Rechtsetzungsgewalt der Gemeinschaft und den unbedingten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht, die Einwirkungen auf die Rechtsstellung des Einzelnen in einer mit den „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Gegebenheiten nicht vergleichbaren Dichte erfolgen. Aus dieser Inanspruchnahme der einzelnen Bürgerin und des einzelnen Bürgers entsteht die Einschätzung, dass im supranationalen Rahmen des Gemeinschaftsrechts ein besonderer Legitimationsbedarf besteht: Weil auf der Ebene der Gemeinschaftsordnung eine zusätzliche Stufe öffentlicher Gewalt entsteht78, welcher die Einzelnen unterworfen sind, stellt sich die Notwendigkeit ein, die Legitimität dieses Vorganges zu gewährleisten. Um die Frage, zu welchem Grad dem Kriterium der demokratischen Legitimation im gemeinschaftlichen Konstitutionalisierungsprozess Rechnung getragen wird bzw. zu tragen sei, kreist denn wie gesehen auch die hauptsächliche Kontroverse über das Bestehen einer „Verfassungsordnung“ der EU79. Auf dem ausgeprägten supranationalen Charakter der Gemeinschaft bzw. auf den besonderen rechtlichen Folgen des supranationalen Verbunds beruht also letztlich die Vehemenz, mit der die Frage nach der Legitimation der Verfassungsordnung der EU verfolgt wird. Hier zeigt sich auch der wesentliche Unterschied zu den Grundlagen der Konstitutionalisierungsdiskussion auf der allgemeinen völkerrechtlichen Ebene einer weiteren internationalen Gemeinschaft: Die (allfällig bereits bestehende) gemeinschaftliche europäische Verfassungsordnung präsentiert sich als Ergebnis eines supranationalen Prozesses, verbunden mit der Konstituierung einer besonderen öffentlichen Gewalt und den entsprechenden weitreichenden Konsequenzen für die Einzelnen. Demgegenüber lässt sich bezüglich des allgemeinen völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses zum heutigen Zeitpunkt allenfalls auf eine Verfassungsordnung schließen, die sich auf bestimmte Kernelemente beschränkt und (insbesondere) bislang nur schwache Durchsetzungsmechanismen kennt. Vor allem aber lässt sich aus dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess keine ___________ 77
Vgl. auch Classen, in: AöR 1994, 238 (240 f.). Vgl. dazu sowohl Grimm, in: JZ 1995, 581 (585), als auch Pernice, in: EuR 1996, 27 (30 f.); s. auch vorne in diesem Kap., C. III. 2. d). 79 Siehe zuvor in diesem Kap., C. III. 3. 78
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Hoheitsgewalt ableiten, die jener der einzelnen Staaten gleichkäme oder diese sogar überlagerte, wie dies im supranationalen Verfassungskontext der EG bzw. der EU der Fall ist: Während im supranationalen Rahmen eindeutig Herrschaftsbefugnisse der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten bestehen (was die Ausübung von Hoheitsrechten mit unmittelbarer innerstaatlicher Geltung impliziert80), sind die souveränen Staaten auf der Ebene des allgemeinen Völkerrechts keiner übergeordneten Instanz mit umfassender Durchsetzungskompetenz unterworfen. Zur Verdeutlichung dieser Feststellung seien kurz die folgenden Beispiele angeführt, die als prominente Bezugspunkte des völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsdiskurses gelten können: –
So stößt die Aussage, das WTO-System bilde eine mit Verfassungsfunktionen versehene rechtlich-institutionelle Ordnung81, auf die Einschränkung, dass eine politische Herrschaft, verbunden mit der Konstituierung eigenständiger hoheitlicher Gewalt, nicht gegeben ist. Denn trotz der besonderen Durchsetzungsmechanismen im Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten des WTO-Vertrags bestehen keine Organbefugnisse, die sich unmittelbar auf die Rechtsstellung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger auswirken würden82: Die Bestimmungen des WTO-Rechts binden zwar die Staaten als Vertragspartner, aus ihnen resultiert aber keine unmittelbare Berechtigung und Verpflichtung einzelner Individuen und Unternehmen83.
–
Vergleichbares gilt auch für die Einschätzung, das mit der Europäischen Menschenrechtskonvention herbeigeführte System eines regionalen Grundrechtsschutzes sei Ausdruck des Entstehens regionaler Verfassungsstrukturen84. Das Beschwerdesystem der EMRK gewährleistet die Durchsetzung der vertraglich garantierten Rechte insofern, als die Vertragsstaaten verpflichtet sind, auf der innerstaatlichen Ebene tätig zu werden, soweit dies die Konvention verlangt, was gegebenenfalls auch die Umsetzung eines Entscheids des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte impliziert. Auch hier wirkt sich die Funktion der Vertragsüberwachungsorgane indessen nicht direkt auf die Individuen selbst aus, muss der durch die Konven-
___________ 80
Siehe dazu etwa Grimm, in: JZ 1995, 581 (585); Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, insb. 137 ff., unter Bezugnahme auf die entsprechende Rechtsprechung des EuGH. 81 Grundlegend dazu Petersmann, in: EJIL 1995, 161 (165 ff.). Vgl. auch vorne in diesem Kap., B. IV. 2. c), m.w.N. zur entsprechenden Literatur. 82 Hierzu Nettesheim, in: LA Oppermann, 381 (insb. 397, 398). 83 Dem entspricht, dass das Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WTO rein zwischenstaatlich organisiert ist, also Privaten, Nichtregierungsorganisationen oder sonstigen internationalen Organisationen nicht offensteht; s. zur Parteifähigkeit vor den Streitschlichtungsorganen der WTO etwa Oesch, in: recht 2004, 192 (196 f.). 84 Hierzu ausführlicher, mit Hinweisen auf die entsprechende Literatur, vorne in diesem Kap., B. IV. 2. a) bb).
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tion vermittelte grundrechtliche Schutzanspruch doch auf der Ebene des nationalen Rechts verwirklicht werden. Denn es steht dem EGMR nach heutigem Stand nicht zu, konkrete Anordnungen zugunsten des rechtssuchenden Individuums zu erlassen85. –
An hoheitlicher Gewalt mit Wirkung für die Individuen mangelt es schließlich auch dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dessen Kompetenzen teilweise als Ansätze in der Richtung einer konstitutionellen Gewalt interpretiert werden86. Soweit dabei die Durchsetzungsgewalt des Sicherheitsrats gegenüber den Staaten im Bereich der Friedenssicherung zum „konstitutionellen Maßstab“ genommen wird, ist außerdem zu bemerken, dass die entsprechende Praxis offensichtlich den partikulären politischen Interessen der im Rat vertretenen Staaten unterworfen ist und auch äußerst uneinheitlich gehandhabt wird.
Die folgende, mehr als dreißig Jahre alte Aussage von Herrmann Mosler87 erscheint daher in Bezug auf das Völkerrecht noch immer gültig: „The prerequesite of an international order has been, and still is today, the coexistence of many organised units which are not subordinate to any superior authority.“
An die Idee einer geteilten Souveränität jedenfalls, wie dies das Konzept des Europäischen Verfassungsverbundes im Sinne von Pernice für das Nebeneinander zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Verfassungen postuliert, ist bezüglich des Verhältnisses zwischen einer allfälligen völkerrechtlichen Verfassungsordnung und dem nationalen Verfassungsrecht bislang nicht zu denken.
c) Ausgangslage (3): unterschiedliche Basis konstitutioneller Konsensfindung Hinzuweisen ist außerdem auf den folgenden Unterschied bezüglich der Grundlagen der beiden betrachteten Konstitutionalisierungsvorgänge: Der aus der europäischen Integration resultierende Prozess und damit die gemein___________ 85
Soweit der EGMR im Urteil Asanidse vs. Georgien aus dem Jahr 2004 erstmals eine konkrete Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats nach Feststellung einer Konventionsverletzung (nämlich die frühestmögliche Freilassung des Beschwerdeführers durch die georgischen Behörden) nennt, so ist zweierlei festzuhalten: Zunächst ist der Urteilsspruch, wie Breuer, in: EuGRZ 2004, 257 (insb. 259 ff.), ausführt, maßgeblich von bestimmten Besonderheiten des Einzelfalls geprägt, womit denn auch keineswegs klar ist, ob und wie der EGMR seine Praxis weiterführen wird. Zum anderen kommt die Benennung der entsprechenden Maßnahme zur Durchsetzung des Urteilsspruchs noch keineswegs einer hoheitlichen Anordnung gleich. 86 Siehe insbesondere Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (574 ff.). 87 Mosler, in: RdC 1974-IV, 1 (17).
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
schaftliche Verfassungsordnung wurzeln in einem bestimmten Nährboden, der im Sinne Häberles als „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“88 bezeichnet werden kann. Dies meint den Hintergrund einer gemeinsamen, über den Rahmen der EG/EU weit hinausgehenden europäischen Rechtskultur, die auf gemeinsamen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen beruht, die wiederum aus einer gemeinsamen Geschichte hervorgegangen sind. Die Idee einer derartigen kulturellen Abstützung des Rechts und insbesondere einer Verfassungsordnung, welche die gemeinsamen Wertgrundlagen wiedergibt, lässt sich in dieser Form nicht auf die internationale Gemeinschaft des Völkerrechts übertragen. Die Völkerrechtsordnung und damit auch eine „Verfassung“ der internationalen Gemeinschaft sind vielmehr mit der Tatsache konfrontiert, dass unter den Staaten eine gesellschaftliche, religiöse und kulturelle Vielfalt besteht, die nicht zuletzt in Kernbereichen des Völkerrechts wie dem Schutz der Menschenrechte die Ursache bedeutender Differenzen ist89. Auf die Problematik der Konsensfindung auf der Grundlage unterschiedlicher rechtskultureller Traditionen wird an anderer Stelle noch näher einzugehen sein90.
2. Folgerungen a) Reduzierte Anforderungen an die konstitutionelle Legitimationsfunktion auf der nicht-supranationalen internationalen Ebene Im Hinblick auf die Verwendung des Verfassungsbegriffs für die allgemeine völkerrechtliche – also nicht-supranationale – Ebene stellt sich die Frage, welche Rolle den möglichen Verfassungsfunktionen hier zukommt bzw. zukommen kann. Dabei fallen jene Funktionen, die an spezifischen Aspekten der Staatlichkeit anknüpfen, von vornherein außer Betracht. So ist offensichtlich, dass der Organisationsfunktion, welche sich auf die Organe und Verfahren im Verfassungsstaat bezieht, für einen völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsbegriff keine Relevanz zukommen kann. Auch die Integrationsfunktion orientiert sich – soweit sie auf den inneren Zusammenhalt einer konkreten Gesellschaft hinzielt – an Erwartungen, deren Erfüllung primär im begrenzten sozialen Raum des einzelnen Staats geleistet werden kann. Weniger klar ist diese Ausscheidung möglicher Verfassungsfunktionen demgegenüber für die Legitimationsfunktion (die sich auf Begründung von Macht richtet) sowie für die Be___________ 88
Dazu ausführlicher vorne in diesem Kap., C. III. 1., mit den entsprechenden Nachweisen. 89 Vgl. allgemein etwa Chevallier, in: Mélanges Ardant, 325 (328); Neuhold, in: BerDGV 1999, 462 (Diskussionsbeitrag); aus afrikanischer Sicht bspw. Makau wa Mutua, in: Virginia Journal of International Law 1996, 589 ff. 90 Siehe hinten, 3. Kap., A. II. 2.
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grenzungsfunktion (die der Beschränkung von Macht dient). Jedenfalls zeigt die auf den supranationalen Kontext der EU bezogene Verfassungsdiskussion, dass die konstitutionelle Legitimationsfunktion auch in einem nicht-staatlichen Rahmen eine zentrale Rolle zu spielen vermag. Aus der (durch die Betrachtung der nationalen sowie der supranationalen Verfassungskonzepte gewonnenen) Feststellung, dass aus der Konstituierung hoheitlicher Gewalt besondere Legitimationsanforderungen an die Verfassungsordnung resultieren, ergeben sich denn auch konkrete Schlüsse für die Bedeutung des Verfassungsbegriffs auf der weiteren internationalen Ebene. Der Frage der Legitimation als Voraussetzung des Verfassungsbegriffs lassen sich zunächst auch auf der völkerrechtlichen Ebene durchaus gewisse Bedeutungsgehalte zuordnen. Entsprechendes deutete schon der Richter des IGH Alvarez in seiner abweichenden Meinung zum Rechtsgutachten des IGH aus dem Jahr 1951 betreffend die Zulässigkeit von Vorbehalten zur Genozid-Konvention an91. Danach, so die hier interessierende Aussage, trage zum (von Alvarez postulierten) verfassungsrechtlichen Charakter bestimmter multilateraler Übereinkommen mit universeller Geltung – insbesondere solcher zum Schutz der Menschenrechte – unter anderem auch deren Entstehungsprozess bei: „(...) these conventions are not merely formulated under the auspices of the United Nations, but in its Assemblies; they are discussed there at length by all States, who have the opportunity to comment upon them as they see fit; and the conventions which are proposed by these Assemblies can be modified by them up to the last moment. The decisions of these Assemblies are taken upon a majority vote (Art. 18 of the Charter). (...) This rule of the majority vote is (...) in conformity with our ideas of international organization, of the interdependence of States and of the general interest; national sovereignty has to bow before the will of the majority by which this general interest is represented.“92
Damit wird dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass Legitimation durch Beachtung eines bestimmten Verfahrens, das den beteiligten Rechtssubjekten die Möglichkeit zur Partizipation vermittelt, selbst im Rahmen der internationalen Rechtsordnung nicht nur wünschenswert, sondern – jedenfalls auf der Stufe der Vereinten Nationen – auch möglich sei93. Soweit dieser Ansatz ein an demokratischen Vorstellungen ausgerichtetes Partizipationsverständnis impliziert, ist dieses allerdings noch auf die Rolle der Staaten beschränkt. Gleichzeitig stellen sich Legitimationsfragen auf der völ___________ 91 Zum Gutachten des IGH s. ICJ Reports 1951, 15 ff.; zur zitierten „dissenting opinion“ ebd., 49 ff. 92 ICJ Reports 1951, 49 (51 f.). 93 Wobei sich allerdings die Frage stellt, ob die internationalen Rechtsetzungsmechanismen diesem Anspruch auch tatsächlich gerecht werden; vgl. zur Problematik aus heutiger Sicht und im spezifischen Bereich des internationalen Umweltrechts Bodansky, in: AJIL 1999, 596 ff.
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kerrechtlichen Ebene aber in zunehmendem Maß; dies auch deshalb, weil sich die innerstaatlichen Auswirkungen völkerrechtlicher Verpflichtungen mehren, die kontrahierenden Staaten also unter Umständen durch völkerrechtlichen Vertragsschluss mittelbar auch ihren Bürgerinnen und Bürgern Pflichten auferlegen und Rechte verschaffen. Nicht nur die Staaten als traditionelle Völkerrechtssubjekte, sondern auch die insofern teilweise direkt betroffenen Individuen müssten also an sich in eine völkerrechtliche Legitimationstheorie mit einbezogen werden. Die zunehmende Bedeutung, welche Nichtregierungsorganisationen bei der Entstehung völkerrechtlicher Regelungen beigemessen wird94, kann zumindest als eine Tendenz in dieser Richtung verstanden werden. Allerdings ist das soeben Gesagte in einer – für die hier angestellten Überlegungen entscheidenden – Hinsicht einzuschränken: Die für die Vehemenz der Verfassungsdiskussion auf der Ebene der supranationalen Gemeinschaft verantwortliche Konstituierung einer eigenen Hoheitsgewalt fällt, wie vorhin ausgeführt, für den völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess im heutigen Stand außer Betracht. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass sich mangels einer vergleichbaren Konstituierung politischer Herrschaft auf einer weiteren, nichtsupranationalen völkerrechtlichen Ebene keine derart konkreten Legitimationsprobleme wie im Kontext der europäischen Integration stellen, mithin der Legitimationsdruck nicht gleich hoch ist. Dies hat zur Folge, dass das gänzliche Fehlen partizipativer Mechanismen95 (soweit die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger der Staaten an internationalen Rechtsetzungsprozessen betreffend) bzw. die erst ansatzweise entsprechende Einbeziehung der Zivilgesellschaften (soweit die Beteiligung nichtstaatlicher Organisationen betreffend) nicht in gleichem Maße als negatives Argument hinsichtlich der Verfassungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft gelten kann. Damit soll keineswegs nahe gelegt werden, dass sich Fragen der Legitimation auf der Ebene des Völkerrechts nur dann stellen könnten, wenn hier ein mit staatlichen Verhältnissen zumindest ansatzweise vergleichbares „Regierungssystem“ bestünde96. Indessen ist festzustellen, dass im Vergleich zu den verfas___________ 94
Vgl. allgemein Charnovitz, in: AJIL 2006, 348 ff.; Hobe, in: IJGLS 1997, 191 ff.; ders., in: AVR 1999, 152 ff. Einen umfassenden Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen der Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen an entscheidungsrelevanten Prozessen bieten (für den spezifischen Bereich der internationalen Umweltpolitik) Oberthür et al., Participation of Non-Governmental Organisations in International Environmental Governance, insb. 205 ff. 95 Einmal abgesehen von allfällig mit partizipativen Mechanismen ausgestatteten innerstaatlichen Ratifikationsverfahren. 96 Zur Frage, ob die „verfasste“ internationale Gemeinschaft ein „system of governance“ darstelle, Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (216 ff.). Vgl. außerdem auch Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (574 ff.).
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sungsstaatlichen wie auch zu den supranationalen Verfassungskriterien das auf dem völkerrechtlichen Verfassungsbegriff lastende Gewicht um einen bedeutenden Faktor geringer ist: Mangels der Notwendigkeit, für eine eigene Stufe hoheitlicher Gewalt Legitimation herzustellen, brauchen an die legitimatorische Wirksamkeit eines allgemeinen völkerrechtlichen Verfassungsbegriffs nicht gleich hohe Anforderungen wie im supranationalen Rahmen (und schon gar nicht wie für den am Verfassungsstaat orientierten normativen Verfassungsbegriff) gestellt zu werden. Zwar fehlen legitimatorisch wirksame Prozedere auf der allgemeinen völkerrechtlichen Ebene in noch ausgeprägterer Weise97 als in der supranationalen Gemeinschaftsordnung, bezüglich derer dies im Vergleich zu den verfassungsstaatlichen Gegebenheiten bereits als Manko festgestellt worden ist. Andererseits ist aber eben auch die Notwendigkeit einer prozeduralen Sicherstellung von Legitimität im völkerrechtlichen Kontext bei weitem nicht die gleiche. Dies hat auch Folgen für die potentielle Bedeutung der Gemeinwohlorientierung als Verfassungskriterium. Kommt ihr schon im supranationalen Kontext (angesichts der gegenüber der staatlichen Ebene erhöhten Schwierigkeiten, die Legitimitation der Verfassungsordnung prozedural zu sichern) eine verstärkte Rolle als materielles Regulativ zu98, so akzentuiert sich dies auf der Ebene des allgemeinen Völkerrechts noch zusätzlich: Zum einen ruft die Schwäche prozeduraler Legitimationsfaktoren danach, die Frage nach dem Geltungsgrund konstitutioneller Ordnungsinhalte – letztlich ersatzweise – unter verstärkter Bezugnahme auf materiale Kriterien zu beantworten. Zum andern erleichtert das Fehlen jener konstitutionellen Wirkung, hoheitliche Gewalt zu vermitteln, auch die Akzeptanz der Einsicht, dass das materielle Kriterium der Orientierung am Gemeinwohl als derzeit einziger möglicher Maßstab für die Verfassungsqualität völkerrechtlicher Ordnung übrig bleibt.
b) Notwendigkeit einer Reduktion des Verfassungsbegriffs an sich Den theoretischen Schwierigkeiten, auf welche die Verwendung eines normativen Verfassungsbegriffs außerhalb dessen ursprünglichen (nämlich verfassungsstaatlichen) Rahmens stößt, steht die verbreitete faktische Verwendung der Begrifflichkeit gegenüber. Dabei besteht diese Verwendung hauptsächlich darin, den Entwicklungsprozess einer zunehmenden Verdichtung völkerrechtlicher Regeln, in denen bestimmte Grundwerte der internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck kommen, zu benennen. Angesichts des fest verankerten Denkens in den Mustern nationaler Rechtssysteme und der entsprechend sich ein___________ 97 98
Zu Legitimationsproblemen des Völkerrechts eingehender im 3. Kap., A. II. 2. a). Siehe vorne in diesem Kap., D. II.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
stellenden Assoziationen bei der Betrachtung des völkerrechtlichen Phänomens bildet der Rückgriff auf den Verfassungsbegriff in semantischer Hinsicht einen durchaus verständlichen (wenn auch nicht zwingenden) Schritt. Problematisch erscheint allerdings zum einen, dass dabei der normativen Beladung des Begriffs der Verfassung in den seltensten Fällen Rechnung getragen wird99. Zum anderen wird eine Banalisierung des Verfassungskonzepts beklagt, indem es in unscharfer und unsystematischer Weise verwendet werde100. Durch semantische Beliebigkeit aber, so etwa Nettesheim, erleide der Verfassungsbegriff Schaden101. Grimm wiederum stellt sich in Bezug auf die Ebene des allgemeinen Völkerrechts auf den Standpunkt, der „im Begriff der Verfassung enthaltene Anspruch“, eine spezielle Form der Verrechtlichung von Herrschaft herbeizuführen, lasse sich „auf der Weltebene nicht einmal annäherungsweise verwirklichen“102. Gewiss trifft es zu, dass die Verwendung der Verfassungsbegrifflichkeit im allgemeinen völkerrechtlichen Kontext einer bedeutenden Ausweitung des Verfassungsverständnisses gleichkommt103, soweit der historische Sinn der Verfassung in der „Verrechtlichung der öffentlichen Gewalt“ bestand104. Insofern werden denn auch tatsächlich die herkömmlichen Pfade einer bestimmten, der politischen Theorie entstammenden Verwendungstradition105 verlassen. Es stellt sich aber die Frage, ob dies auch zum Schluss führen muss, die Begrifflichkeit sei rundweg abzulehnen. Dies wäre unter Umständen zu bejahen, würde die Begriffswahl dazu dienen, bestimmte damit assoziierte Attribute vorzutäuschen, so etwa die Existenz eines höchsten Legitimitätskriterien genügenden, umfassenden Normenkomplexes. Im Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess ist jedenfalls solches aber nicht zu erkennen. Für die Verwendung der Begrifflichkeit spricht demgegenüber einmal die grundsätzliche Überlegung, dass nicht einzusehen ist, weshalb ein bestimmter ___________ 99
Vgl. auch Biaggini, ZSR NF 2000 I, 445 ( 464 f.). Siehe die durch Ruiz Fabri/Grewe, in: Etudes Gautron, 189 (insb. 200 ff.), geübte Kritik an der völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsdebatte. 101 Nettesheim, in: LA Oppermann, 381 (390); vgl. für die Position des Autors, die Annahme einer Konstitutionalisierung der internationalen Gemeinschaft bzw. des Völkerrechts abzulehnen, auch ders., in: JZ 2002, 569 (577). 102 Grimm, in: FS Badura, 145 (166 f.). Zum mit dem Konstitutionalisierungs- bzw. Verfassungsbegriff verbundenen „Anspruchsniveau“, so der Autor weiter, „gehören der demokratische Ursprung, der Vorrang und die umfassende Geltung“ (ebd., 164). 103 Vgl. Häberle, in: FS Zuleeg, 80 (85), der von der „Expandierung des Verfassungsbegriffs“ spricht, wobei dies unter Befreiung von der „traditionellen Staatsfixiertheit“ erfolge. 104 So Grimm, in: FS Badura, 145 (145). 105 Vgl. Nettesheim, in: LA Oppermann, 381 (390). 100
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Begriff nicht wandelbar sein soll106. Dies gilt jedenfalls unter der Prämisse, dass offengelegt wird, in welcher Weise und mit welcher Absicht eine begriffliche Anleihe an einem vorbestehenden Konzept erfolgt. Zugunsten einer solchen Anbindung spricht im vorliegenden Kontext außerdem, dass die Diskussion der bestehenden begrifflichen Probleme es gerade ermöglicht, die Mängel bzw. konstruktiven Lücken des betrachteten Prozesses oder Phänomens zu erkennen107. Letzteres gilt wie gesehen insbesondere in Bezug auf die besondere Problematik der Legitimation geltenden Rechts, sowohl im supranationalen wie auch im nicht-supranationalen internationalen Rahmen. Weiter scheint der Begriff der Konstitutionalisierung bzw. der Verfassungsbildung prädestiniert, ein wesentliches Merkmal der zu beschreibenden Erscheinung zu veranschaulichen: Gemeint ist der (in unterschiedlichen Teilbereichen verschieden weit fortgeschrittene) Prozess einer zunehmenden Verdichtung übergreifender normativer Entscheidungen, die auf umfassende (universelle oder zumindest regionale) Geltung hinzielen. Der Begriff der Konstitutionalisierung – als Ausdruck eines im Gang befindlichen Wandels – erlangt dabei nicht zuletzt auch dadurch Berechtigung, dass er die Prozesshaftigkeit der gemeinten Entwicklung108 unterstreicht. Entscheidend ist also die Rechenschaft darüber, welche Bedeutungsgehalte der gewählten Begrifflichkeit zukommen sollen. Die entsprechende Wahl allerdings ist keineswegs frei, sondern hat sich an den Grenzen des auszumessenden Gegenstands zu orientieren. Worin diese Grenzen beim hauptsächlichen Betrachtungsobjekt der vorliegenden Untersuchung, der aus der „völkerrechtlichen Konstitutionalisierung“ hervorgehenden rechtlichen Ordnung bzw. der „Verfassung der internationalen Gemeinschaft“, liegen, wurde soeben herausgearbeitet: Im Ergebnis entfallen auf einer nicht-supranationalen völkerrechtli___________ 106
In dieser Richtung, bezogen auf die Verfassungsdiskussion im Rahmen der EG/EU, auch die dezidierte Stellungnahme von Bieber, in: Verfassungsrecht im Wandel, 291 (292 f., 300). Vgl. in diesem Zusammenhang auch etwa die in einer Ansprache vor dem Europa-Parlament im Juli 1999 gemachte Aussage des damaligen deutschen Außenministers Fischer, man solle sich „von einem strikten rechtlichen Verständnis freimachen und unter ‚Verfassung‘ eher eine Zusammenstellung der Werte und der Grundprinzipien europäischen Zusammenlebens (...) begreifen“; abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 45/1999, zit. nach Schwarze, in: DVBl. 1999, 1677 (1679). Diese Gedanken lassen sich („mutatis mutandis“) auch auf die nicht-supranationale internationale Verfassungsdebatte übertragen. 107 Vgl. diesbezüglich Weiler, Constitution of Europe, 223: „(...) constitutionalism is (...) but a prism through which one can observe a landscape in a certain way, an academic artefact with which one can organize the milestones and landmarks within the landscape (indeed, determine what is a landmark or milestone) (...).“ 108 Vgl. in Bezug auf die Prozesshaftigkeit des mit dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungskonzept Gemeinten auch Cottier/Hertig, in: Max Planck UNYB 2003, 261 (296 ff.).
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chen Ebene all jene Verfassungsfunktionen, die mit der Konstituierung hoheitlicher Gewalt in Verbindung stehen. Im Hinblick auf die weitere Verwendung des Verfassungsbegriffs im völkerrechtlichen Kontext zeigt sich somit, dass aus den Grenzen des Betrachtungsgegenstands die Notwendigkeit einer engeren Fassung der Begrifflichkeit resultiert. Zumal in Relation zum ursprünglichen Ausgangspunkt (dem strikt normativen Verfassungsbegriff des Verfassungsstaats), aber auch im Vergleich zum begrifflichen Zwischenschritt (dem supranationalen Verfassungsbegriff) kommt dies einer deutlichen Reduktion gleich. Reduziert sind auf der nichtsupranationalen internationalen Ebene dabei nicht nur die Anforderungen an die Legitimation der Verfassungsordnung, sondern der Verfassungsbegriff an sich. Wichtig – und dies gilt nach allem bisher Gesagten für die völkerrechtliche Debatte noch stärker als für die auf die EU bezogene – ist dabei primär die Bedeutung, die dem Konzept der Verfassung bzw. der Konstitutionalisierung zukommt109. Was für dieses Konzept wesentlich ist, hat Robbers in exemplarischer Weise ausgedrückt: „Der Begriff und die Geltungsweise von Verfassung muss von der Aufgabe der Verfassung und ihrer Funktion in konkreten Umständen her bestimmt werden. Zunächst ist Existenzgrund der Verfassung die Herstellung, Gewährleistung und Strukturierung von Gemeinschaft. (...) Sie ist gefestigte Form der Gemeinschaft. Als solche kommt sie nicht ohne Bezug auf gemeinschaftsrelevante Werte aus, ja, sie erhält Wirklichkeit erst durch sie.“110
Wenngleich sich die Aussage auf die Ebene der nationalen Verfassung bezieht, so lässt sich der wesentliche Gedanke auch in die internationalen Kontexte des Völkerrechts und des Gemeinschaftsrechts übertragen, kommt hier doch zum Ausdruck, was als Kern des Verfassungsbegriffs überhaupt verstanden werden kann. Das Zitat bringt mithin auf den Punkt, was sich als zentrale Erkenntnis der angestellten Betrachtungen der Konstitutionalisierungsprozesse des Völkerrechts und des europäischen Gemeinschaftsrechts herauskristallisiert: Als Kern jeder „Konstitutionalisierung“, von den strikten normativen Gehalten des nationalstaatlichen Verfassungsbegriffs abstrahierend, erweist sich – ausgehend von der Zielsetzung der Gemeinschaftsbildung – die Idee der Gemeinschaftswerte und der Gemeinschaftsinteressen111. Dabei stellt die „Verfassung“ den rechtlichen Grundstock jener Bestimmungen dar, welche die Gemeinschaftswerte und -interessen definieren und die zentralen Grundsätze enthalten, mittels derer die Ziele der jeweiligen Gemeinschaft verwirklicht ___________ 109 In dieser Richtung auch Thürer, in: Non-State Actors as New Subjects of International Law, 37 (53). 110 Robbers, in: FS Benda, 209 (215). 111 Ähnlich auch Kotzur, in: LA Häberle, 289 (291 ff., 300 f.).
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werden sollen. Die Orientierung an den gemeinsamen Interessen – oder, begrifflich die ethische Komponente stärker betonend, dem Gemeinwohl – der am betreffenden Prozess Beteiligten ist auch im internationalen Rahmen ein entscheidendes Merkmal der Bildung einer Verfassungsordnung. Der Prozess der Verfassungsbildung kann dabei als rechtliche Manifestation jener (in der Regel sehr langsamen) Entwicklung betrachtet werden, in der einzelne Subjekte sich einander immer weiter annähern, bis schließlich neben die Wahrnehmung bloß partikulärer Interessen der Einzelnen die gemeinsame Verfolgung von gemeinsamen Interessen tritt, welche die Grundlage einer dauerhaften Rechtsgemeinschaft darstellt112. Die Frage, warum eine solche Entwicklung ausgelöst wird, führt zu unterschiedlichen möglichen Antworten: Historische Prozesse, darunter durchaus auch zufällige, mögen bei der Bildung einer konstitutionellen Gemeinschaft eine Rolle spielen; zu denken ist an die mehr oder weniger geglückte Entstehung von Staaten, die dann aufgrund späterer politischer Entwicklungen wieder auseinanderfallen, womit eine bestehende Verfassungsgemeinschaft wieder aufgelöst wird. Oftmals indessen dürfte die Bildung einer Gemeinschaft im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung gerade nicht auf mehr oder weniger zufälligen Faktoren beruhen, sondern vielmehr auf der gewachsenen Einsicht, dass gewisse gemeinsame Interessen der Beteiligten sich nur – oder jedenfalls besser – durch gemeinsames Handeln verwirklichen lassen, womit die Basis für die Akzeptanz der Ausrichtung dieses Handelns am allgemeinen Wohl gelegt ist. Die Rolle, welche die Einsicht in die Notwendigkeit der gemeinschaftlichen Verfolgung gewisser Interessen für die Auslösung des Konstitutionalisierungsprozesses spielen kann, ist dabei gerade auf der internationalen Ebene offensichtlich: Die Erfahrung zweier globaler Kriege innert dreier Jahrzehnte bildete letztlich den Ausgangspunkt der konstitutionellen Entwicklung sowohl für die völkerrechtliche Ebene (mit der Entstehung der Vereinten Nationen als zentralem Ereignis) als auch für die gemeinschaftlich-europäische (mit dem Anstoß zur Begründung der Europäischen Gemeinschaft). Die immer stärker zunehmende Interdependenz der Staaten vor dem Hintergrund von Problemstellungen, die alle nationalen Grenzen überschreiten und dabei nicht nur regionale, ___________ 112
Vgl. zur Bedeutung der Gemeinwohlorientierung für den (langsamen) Prozess der Verfassungsbildung die folgende Aussage von Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (218): „At its very origins, every community relies to a great extent on its individual members. Only gradually do institutions arise that discharge for the community certain functions that affect the common interest.“ Im Anschluss daran gelangt er zur Feststellung: „(...) the concept of constitution denotes the existence of a legal framework to regulate the relations between the various actors making up the group to which it applies. (...) a constitutional order may step by step centralize the main functions of governance, thereby strengthening the protection that common interests enjoy.“
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
sondern gar globale Dimensionen annehmen, bildet sodann den Katalysator, der die Entwicklung in jüngerer Zeit vorantreibt. Schließlich zeigt sich im Vergleich des gemeinschaftsrechtlichen Prozesses mit den völkerrechtlich vorhandenen Möglichkeiten gerade die Bedeutung der materiellen Basis einer konstitutionellen Entwicklung: Sowohl die Organisation der Vereinten Nationen113 als auch der europäische Integrationsprozess114 haben historisch den gleichen Ausgangspunkt – die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs – und die Herstellung friedlicher Beziehungen unter den Staaten als gemeinsames Ziel. Die Frage, warum aus diesen grundsätzlich ähnlichen Ausgangslagen zweierlei, sich letztlich doch beträchtlich unterscheidende Entwicklungen hervorgegangen sind, scheint angesichts des heutigen Stands der Dinge weit hergeholt und mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen politischen Realitäten im westeuropäischen Rahmen einerseits und dem globalen andererseits schnell erklärt. Indessen kommt in den von vornherein unterschiedlichen Entwicklungschancen der beiden internationalen Vergemeinschaftungsprojekte deutlich zum Ausdruck, worin das materielle Fundament eines Konstitutionalisierungsprozesses besteht. Aus dem Blick auf die Entwicklung im Rahmen der europäischen Integration resultiert die Erkenntnis, dass die dortige, im supranationalen Rahmen heute unvergleichlich weiter gehende Instutionalisierung der Verfolgung gemeinschaftlicher Interessen sich nur auf der Basis der Tatsache entwickeln konnte, dass über bestimmte gemeinsame Grundwerte und Ziele hinaus noch ein zusätzlicher Faktor vorgegeben war und ist. Während gemeinsame Interessen auch auf einer weiteren internationalen Ebene vorhanden waren, konnte sich die Gemeinsamkeit der Interessen im Kontext der europäischen Integration in einer Art und Weise und mit einer Geschwindigkeit etablieren, die sich nur mit einer gewissen Homogenität der Interessenlage im regionalen europäischen Rahmen erklären lässt115. Im Völkerrecht hat sich demgegenüber die Einsicht, dass die vereinte Verfolgung gemeinsamer Interessen unabdingbar sei, erst später durchgesetzt, ausgelöst durch das Entstehen globaler Problemstellungen wie etwa der Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen, beschleunigt schließlich durch die weitgehende Auflösung der Blockbildung des Kalten Krieges.
___________ 113 Vgl. zu den Hintergründen der Entstehung der Vereinten Nationen etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 69 ff., 79 ff. 114 Zur historischen Ausgangslage bei der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft zuvor in diesem Kap., D. II. 115 Siehe auch Kotzur, in: LA Häberle, 289 (292 f.).
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c) Vom normativen zum konzeptionellen Verfassungsbegriff: die Orientierung am Gemeinwohl als konstitutioneller Maßstab Die Reduktion des Verfassungsbegriffs im Hinblick auf dessen völkerrechtliche Verwendung führt somit zu folgendem Ansatz: In Abgrenzung insbesondere zum am Verfassungsstaat orientierten, strikt normativen Topos, aber auch zur supranationalen Variation soll den weiteren Untersuchungen ein konzeptioneller Verfassungsbegriff zugrundegelegt werden. Darunter ist ein Verfassungsbegriff zu verstehen, der sich auf den materiellen Kern konstitutioneller Vergemeinschaftung beschränkt, nämlich die normative Leitentscheidung der sich konstituierenden Gemeinschaft, sich an gemeinsamen Werten und Interessen zu orientieren und somit das Gemeinwohl als Maßstab der gemeinsamen rechtlichen Ordnung zu akzeptieren. Konzeptionell bzw. auf den konzeptionellen Kern reduziert ist dieser Verfassungsbegriff insofern, als er mit dem Gemeinwohl am normativen Kristallisationspunkt des ursprünglichen (also verfassungsstaatlichen) Verfassungskonzepts überhaupt anknüpft116. Was damit vom strikt normativen Verfassungsbegriff des Verfassungsstaats im Prozess seiner Reduktion übrig bleibt, ist, was er gerade ermöglicht: Mit ihm lässt sich die Gesamtheit jener rechtlichen Bestimmungen umschreiben, welche vermitteln, dass ausgehend von einer Vielzahl unterschiedlicher (nationaler) Traditionen und Interessen eine (internationale) Gemeinschaft wächst, die ihren rechtlichen Zusammenhalt durch die Berufung auf die Gemeinsamkeit bestimmter Werte und Interessen findet. In dieser semantischen Fähigkeit liegt die Einzigartigkeit des Begriffs, womit er sich – trotz gegebener Mängel – für die Verwendung (auch) im völkerrechtlichen Kontext qualifiziert. In seiner weitgehenden Abstraktion vom normativen Verfassungstopos des Verfassungsstaats ist der „konzeptionelle Verfassungsbegriff“ auch „postnational“117 zu nennen: Dies jedenfalls, soweit damit „die Abkehr vom traditionellen Begriff der Verfassung deutlich“ gemacht und zugleich „dem Wandel, den das ___________ 116 Die Idee des Gemeinwohls als Ausgangspunkt und normative Grundlage staatlicher Vergemeinschaftung, welche sich in der Gemeinschaftsverfassung widerspiegelt (bzw. widerspiegeln muss), geht bis auf Aristoteles zurück; vgl. diesbezüglich etwa Schultze, in: Lexikon der Politik, Bd. 1, 137 (137 f.). Aus der Frage, wie das Gemeinwohl beschaffen ist bzw. wie und durch wen es zu definieren ist, ergeben sich auch das Problem der Legitimation politischer Macht sowie die Notwendigkeit der Organisation und Beschränkung politischer Herrschaft: Der Streit um die politische Macht lässt sich letztlich als Kampf um die Kompetenz zur Definition des Gemeinwohls verstehen; „souverän war und ist – so können wir vereinfachend formulieren – wer das jeweilige Gemeinwohl definiert“, so Schuppert, Staatswissenschaft, 225. 117 Zum Begriff Pernice, in: VVDStRL 2001, 148 (155). Grundlegend Habermas, in: Postnationale Konstellation, 91 ff.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
klassische Bezugsobjekt von Verfassung, der Staat, erlebt hat“, Rechnung getragen werden soll118. Danach soll der traditionelle Begriff der Verfassung also insofern ergänzt bzw. erneuert werden, als die engen Grenzen der Bezugnahme auf Staat und Nation gesprengt werden, um so den tatsächlichen Entwicklungen gerecht werden zu können. Dem ist allerdings beizufügen, dass der Ausdruck „postnational“ nach diesem Verständnis keineswegs impliziert, auf die Funktionsfähigkeit der Staaten (und ihrer Verfassungen) ließe sich letztlich verzichten119. Weiter bedeutet die hier entwickelte Reduktion und Konzentration des Verfassungsbegriffs nicht, dass ihm in allen spezifischen Bereichen völkerrechtlicher „konstitutioneller“ Entwicklung der genau gleiche Sinn zukommen muss. Sondern auf der Basis des konzeptionellen Verfassungsbegriffs ist durchaus möglich, dass in solchen Bereichen, die sich durch eine fortgeschrittenere konstitutionelle Entwicklung auszeichnen, weitere, zusätzliche Verfassungskriterien hinzukommen können. Der konzeptionelle Verfassungsbegriff ist als flexible Form zu verstehen: Soweit es darum geht, beispielsweise mit Blick auf die in den Teilverfassungssystemen der WTO oder der EMRK verwirklichten organisatorisch-institutionellen Mechanismen, bestimmte spezifische Ausprägungen völkerrechtlicher Konstitutionalisierung zu beschreiben, lässt er sich mit den entsprechenden Charakteristika ergänzen. Gleichzeitig ist eine begriffliche Flexibilität auch unter dem Aspekt gefordert, dass der Bedeutungsgehalt des gemeinsamen Wohls nicht in jedem spezifischen Verfassungskontext der exakt gleiche sein kann. So hebt sich der regionale grundrechtsbezogene Verfassungskontext der EMRK nur schon deshalb von jeder anderen konstitutionellen Entwicklung120 ab, als er aus dem besonderen Fundament gemeineuropäischer Traditionen wie auch Zukunftserwartungen wächst.
IV. Schlüsse für das weitere Vorgehen: Prüfungskriterien für ein Minimum konstitutioneller Realität Die Frage nach der Verwendbarkeit des Konstitutionalisierungsbegriffs im internationalen Kontext führt somit zu einer positiven, wenn auch eingeschränkten Antwort: Eine Verwendung ist unter der Prämisse eines im erläuterten Sinne reduzierten, „konzeptionellen“ Verfassungsbegriffs möglich. Aus ___________ 118
Pernice, in: VVDStRL 2001, 148 (155). Vgl. die entsprechende Kritik am Begriff der „postnationalen Verfassung“ von Badura, in: VVDStRL 2001, 353 (354). In diesem Zusammenhang ist auch auf Häberle, in: FS Zuleeg, 80 (90), zu verweisen, der hervorhebt, dass der Verfassungsstaat als kulturelle „Heimstatt“ für seine Bürgerinnen und Bürger unverzichtbar bleibt. 120 Gemeint sind an dieser Stelle andere nicht-supranationale Konstitutionalisierungsprozesse, so dass hier vom spezifischen Vorgang innerhalb der EU abzusehen ist. 119
D. Mögliche Grundelemente der Konstitutionalisierung im Völkerrecht
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dieser methodischen Weichenstellung resultiert für die weitere Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung gewissermaßen ein Basistest konstitutioneller Realität. Grundlage dieses Tests ist folgende These: Was auf der völkerrechtlichen Ordnungsebene als (reduziertes) Kriterium der Verfassungsfähigkeit der sich konstituierenden Gemeinschaft in Frage kommt, ist die Fähigkeit, das Gemeinwohl zu definieren, entsprechende normative Grundentscheidungen zu treffen, aus diesen konstitutionelle Normen zu entwickeln und schließlich für deren Durchsetzung besorgt zu sein. Daraus ergeben sich folgende Kriterien, die im Verlauf der weiteren Untersuchungen zu prüfen sind: 1.
Lässt sich ein allgemeines Wohl bestimmen, und welche Gehalte weist es auf?
2.
Werden auf dieser Grundlage normative Grundentscheidungen getroffen?
3.
Führt dies zur Entwicklung konstitutioneller Normen mit dem Ziel, die am Gemeinwohl orientierten normativen Grundentscheidungen zu verwirklichen?
4.
Werden die konstitutionellen Normen durchgesetzt bzw. durch die Rechtssubjekte beachtet? Als Ausdruck des konzeptionellen Verfassungsbegriffs und Resultat der entsprechenden Reduktion geben diese Kriterien zugleich den Mindeststandard dessen wieder, was als konstitutionelle Ordnung verstanden werden kann.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
E. Zusammenfassung Die sich verstärkende internationale Abhängigkeit wie auch der Bedeutungsverlust des souveränen Staats finden ihr Sinnbild heute im Begriff der „Globalisierung“. Auf der Ebene des Völkerrechts wiederum wird im Zusammenhang mit der Notwendigkeit globaler Regelung (bereits seit einiger Zeit, heute aber in zunehmendem Maß) von der Entstehung universeller Verfassungsstrukturen als Resultat eines Prozesses internationaler Konstitutionalisierung gesprochen. Die Verwendung der konstitutionellen Begrifflichkeit beruht dabei auf Assoziationen, die der nationalstaatlichen Verfassungstradition entstammen (Konstituierung einer Gemeinschaft auf der Basis bestimmter Werte; Verankerung dieser Werte in normativen Bestimmungen, die sich zu einem gemeinschaftlichen Grundkodex verdichten). Anzeichen einer derartigen „Verfassungsordnung“ der internationalen Gemeinschaft werden in der völkerrechtlichen Literatur namentlich in den Bereichen des Menschenrechtsschutzes (mit der EMRK als herausragendem Beispiel eines regionalen Teilverfassungssystems), des Wirtschafts- und Handelsvölkerrechts (im Rahmen des WTO-Systems) sowie des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen geortet. Indessen ist nicht zu übersehen, dass der traditionelle Verfassungsbegriff in ganz grundlegender Weise auf Elementen beruht, die nicht ohne Weiteres auf eine internationale Ebene übertragbar sind. Um diesbezüglich zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen, bietet sich der grenzüberschreitende Konstitutionalisierungsprozesses im supranationalen Kontext der der Europäischen Union als bislang einmaliges Anschauungsobjekt an. Ein wesentliches Resultat der entsprechenden Betrachtungen beschlägt die Frage, auf welche Weise einer konstitutionellen Ordnung in einem nicht-staatlichen Rahmen Legitimation vermittelbar sei. Hier lässt sich Legitimität nicht in gleichem Maße prozedural herstellen wie im Verfassungsstaat, wo als Legitimationsfaktor der Volkswille verfahrensmäßig aktivierbar ist. Entsprechend verstärkt sich die Rolle inhaltlicher Gerechtigkeitskriterien, in deren Zentrum das normative Leitbild des Gemeinwohls steht, als materielles Regulativ im Verfassungsbildungsprozess. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ergeben sich wesentliche Schlüsse aus der Gegenüberstellung der Charakteristika supranationaler Konstitutionalisierung einerseits und der (derzeitigen) Möglichkeiten nicht-supranationaler internationaler Konstitutionalisierung andererseits. Dabei ist der wesentliche Unterschied in Folgendem zu sehen: Ist die Rede von einer (bereits bestehenden oder auch erst entstehenden) Verfassungsordnung der EU, so ist damit das Ergebnis eines Prozesses gemeint, dessen zentraler Faktor die Konstituierung einer eigenständigen öffentlichen Gewalt bildet. Demgegenüber lässt sich aus dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungs-
E. Zusammenfassung
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prozess keine Hoheitsgewalt ableiten, die jener der einzelnen Staaten gleichkäme oder diese sogar überlagerte, sind doch hier die souveränen Staaten keiner übergeordneten Instanz mit umfassender Durchsetzungskompetenz unterworfen. Für die Frage der Verwendbarkeit des Verfassungsbegriffs auf einer allgemeinen völkerrechtlichen, nicht-supranationalen Ebene führt die Feststellung, dass aus der Konstituierung hoheitlicher Gewalt (im nationalen wie auch im supranationalen Rahmen) besondere Legitimationsanforderungen an die Verfassungsordnung resultieren, zu folgendem Schluss: Im Vergleich zu den verfassungsstaatlichen wie auch zu den supranationalen Verfassungskriterien stellen sich an einen für die völkerrechtliche Ebene verwendbaren Verfassungsbegriff bezüglich der legitimatorischen Wirksamkeit reduzierte Anforderungen; dies, da hier die Notwendigkeit entfällt, für eine eigene Stufe hoheitlicher Gewalt Legitimation herzustellen. Für das Verfassungskriterium der Gemeinwohlorientierung hat dies zur Folge, dass sich seine Rolle als materielles Regulativ auf der Ebene des allgemeinen Völkerrechts noch verstärkt. Nicht nur ist die Frage nach dem Geltungsgrund konstitutioneller Ordnungsinhalte angesichts schwacher prozeduraler Legitimationsfaktoren unter verstärkter Bezugnahme auf materiale Kriterien zu beantworten. Sondern das Fehlen der konstitutionellen Wirkung, hoheitliche Gewalt zu vermitteln, macht es auch einfacher, das materielle Kriterium der Orientierung am Gemeinwohl als primären (da im Ergebnis bislang einzigen) Maßstab für die Verfassungsqualität völkerrechtlicher Ordnung zu akzeptieren. Die Notwendigkeit einer Reduktion im Vergleich zum verfassungsstaatlichen Ausgangspunkt, aber auch zum supranationalen Zwischenschritt gilt außerdem im Hinblick auf die nicht-supranationale internationale Ebene auch für den Verfassungsbegriff an sich. Am Anfang jeder „Konstitutionalisierung“ stehen die Zielsetzung der Gemeinschaftsbildung und somit die Idee der Gemeinschaftswerte und der Gemeinschaftsinteressen. Kern konstitutioneller Vergemeinschaftung ist daher die normative Leitentscheidung der sich konstituierenden Gemeinschaft, sich an gemeinsamen Werten und Interessen zu orientieren und somit das Gemeinwohl als Maßstab der gemeinsamen rechtlichen Ordnung zu akzeptieren. Die daraus resultierende „Verfassung“ wiederum bildet den rechtlichen Grundstock jener Bestimmungen, welche die Gemeinschaftswerte und -interessen definieren und die zentralen Grundsätze enthalten, mittels derer die Ziele der jeweiligen Gemeinschaft verwirklicht werden sollen. Auf dieser Basis lässt sich von einem konzeptionellen Verfassungsbegriff sprechen, in Abgrenzung sowohl zum am Verfassungsstaat orientierten, strikt normativen Topos, aber auch zum supranationalen Verfassungsbegriff.
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2. Kap.: „Konstitutionalisierung“ als internationaler Prozess
Die Frage nach der Verwendbarkeit des Konstitutionalisierungsbegriffs im allgemeinen völkerrechtlichen Kontext führt somit zu einer positiven, aber zugleich eingeschränkten Antwort: Eine Verwendung ist unter der Voraussetzung der dargelegten Reduktion möglich. Der konzeptionelle Verfassungsbegriff gibt dabei den Mindeststandard dessen wieder, was als konstitutionelle Ordnung verstanden werden kann. Damit liefert der konzeptionelle Verfassungsbegriff einen Basistest konstitutioneller Realität, dessen Prüfungsschritte sich in folgender These zusammenfassen lassen: Was auf der völkerrechtlichen Ordnungsebene als (reduziertes) Kriterium der Verfassungsfähigkeit der sich konstituierenden Gemeinschaft in Frage kommt, ist die Fähigkeit, das Gemeinwohl zu definieren, entsprechende normative Grundentscheidungen zu treffen, aus diesen konstitutionelle Normen zu entwickeln und für deren Durchsetzung besorgt zu sein.
3. Kapitel
Vorfragen zur normativen Wirksamkeit völkerrechtlicher Gemeinwohlorientierung Die Untersuchung des Entwicklungsstands völkerrechtlicher Konstitutionalisierung erfordert nach den Überlegungen des 2. Kapitels in einem ersten Prüfungsschritt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen sich ein allgemeines Wohl der zu konstituierenden Gemeinschaft bestimmen lässt (A.). Bevor anschließend im 4. Kapitel dazu übergangen werden kann, das bestehende Recht darauf hin zu untersuchen, ob die Bestimmung des Gemeinwohls sich auch in konkreten normativen Entscheidungen niederzuschlagen vermag, ist in einem Zwischenschritt die Klärung einer weiteren Vorfrage erforderlich: Ausgehend von der Feststellung, dass sich jede Rechtsordnung – so auch die völkerrechtliche – aus Bestimmungen von unterschiedlicher normativer Qualität zusammensetzt, ist für die Suche nach den möglichen konstitutionellen Elementen des geltenden Völkerrechts eine normtheoretische Planskizze zu entwerfen (B.).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls Im Zusammenhang mit der Bestimmung eines völkerrechtlich bedeutsamen Gemeinwohls ist als erstes zu fragen, welche praktischen Interessen als Basis für eine grenzüberschreitende Gemeinwohlorientierung geeignet sind (I.). Allerdings reicht eine rein faktische Betrachtungsweise nicht aus, um das Gemeinwohl in rechtlicher Hinsicht zu definieren; denn das Gemeinwohl ist Wertvorstellungen unterworfen, und dessen inhaltliche Bestimmung im Hinblick auf eine normative Wirksamkeit ist daher untrennbar mit Legitimationsfragen verbunden (II.). Schließlich ist außerdem eine begriffliche Abgrenzung erforderlich, indem mit dem Konzept der „Solidarität“ nicht zuletzt in einem internationalen Kontext eine Kategorie mit potentiellen inhaltlichen und funktionellen Überschneidungen vorhanden ist (III.).
I. Grundlagen der Orientierung am Gemeinwohl im Völkerrecht 1. „Gemeinsame Interessen“ als Basis grenzüberschreitender Vergemeinschaftung a) Die Gemeinsamkeit von Interessen und Werten als Grundlage rechtlicher Verpflichtungen Wie bereits mehrfach angesprochen wurde, beruht das moderne Völkerrecht in ganz wesentlicher Weise auf der Erkenntnis, dass bestimmte Fragen oder Problemstellungen grenzüberschreitend wirken – sei dies in regionaler oder gar globaler Hinsicht – und dabei eine überwiegende Mehrheit, wenn nicht gar alle Staaten betreffen1. Mit anderen Worten existieren Interessen oder Werte, die den meisten oder gar allen Staaten gemeinsam sind. Für derartige Belange, deren Schutz nur durch internationale Zusammenarbeit – im Gegensatz zur alleinigen Verfolgung nationaler Eigeninteressen – gewährleistet werden kann2, hat ___________ 1 Schon Max Huber begriff das Völkerrecht als Ausdruck gemeinsamer Interessen; s. Huber, in: JöR 1910, 56 (63), wonach das Völkerrecht „den rechtlichen Niederschlag dauernder Kollektivinteressen der Staaten“ darstelle. Vgl. zur Position Hubers auch Paulus, Internationale Gemeinschaft, 179 ff. 2 In grundlegender Weise äußerte sich diesbezüglich bereits in den sechziger Jahren Friedmann, Changing Structure of International Law (367, Hervorh. im Orig.): „Unlike the traditional law of nations, which is predicated on the assumption of conflicts of national interests, co-operative international law requires a community of interests. The challenge posed by the changes in the structure of contemporary international society does not eliminate the pivotal importance of self-interest in international relations; it does, however, radically affect the dimensions and objectives of self-interest. The emerging international organisations are tentative expressions of new world-wide interests in
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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die Völkerrechtslehre den Begriff der „gemeinsamen Interessen“ geprägt3. Konkrete rechtliche Auswirkungen hat dieses Konzept insofern, als jenen Rechtsgütern, denen ein derartiges besonderes Interesse beigemessen wird, in der Völkerrechtsordnung auch eine verstärkte Rechtsstellung zufallen soll4. Denn hier seien nicht nur die in einem konkreten Fall unmittelbar beteiligten Staaten, sondern die gesamte Staatengemeinschaft daran interessiert, dass die bestehenden Rechtspflichten beachtet werden. Der Gedanke, dass dem einzelnen Staat aufgrund des Bestehens gemeinsamer Werte und Interessen Verpflichtungen gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft zukommen können, bildet auch die Grundlage5 der beiden Konzepte des „ius cogens“ sowie der Wirkungen des Völkerrechts „erga omnes“6. Sowohl jene grundlegenden Normen, die von den Staaten in jedem Fall zwingend zu beachten sind (wie etwa das Aggressionsverbot, das Verbot des Völkermordes oder das Verbot der Rassendiskriminierung), als auch jene völkerrechtlichen Pflichten, die (ohne gleich zwingenden Charakter aufzuweisen) von derart wesentlichem Gehalt sind, dass sie nicht nur im Verhältnis zwischen den unmittelbar an einem bestimmten Vorgang beteiligten Staaten, sondern gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft gelten, stellen einen Ausdruck gemeinsamer Interessen und grundlegender Werte dar7. Die Frage, was im gemeinsamen Interesse aller liege, ist für eine unbestimmte Zahl von möglichen Antworten offen8. Ein Blick darauf, wie sich gemeinsame Interessen in einzelnen materiellen Rechtsbereichen manifestieren, muss demgemäß von vornherein beispielhaft ausfallen. Immerhin lässt sich aber feststellen, dass sich in bestimmten Bereichen besonders viele entsprechende faktische und rechtliche Problemstellungen bündeln. Dies gilt in herausragender Weise für den Schutz der Menschenrechte sowie für den (in mancher Hinsicht damit zusammenhängenden) Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, die daher im Folgenden näher betrachtet werden sollen.
___________ security, survival and co-operation for the preservation and development of vital needs and resources of mankind.“ 3 Siehe zum Begriff und seiner Entwicklungsgeschichte ausführlich Paulus, Internationale Gemeinschaft, 9 ff. Vgl. außerdem etwa Beyerlin, in: ZaöRV 1996, 602 (606); Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (insb. 797); Matz, in: ZaöRV 2002, 17 ff. 4 Vgl. Tietje, in: AVR 1995, 266 (281 f.). 5 Vgl. auch Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (285 ff.). 6 Zu den beiden Konzepten allgemein bereits im 1. Kap., C. II. 1. und 2. 7 Spezifisch zu Staatengemeinschaftsinteressen im Zusammenhang mit Verpflichtungen „erga omnes“ Annacker, Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen, 31 ff.; Günther, Klagebefugnis der Staaten, 69 ff.; Kirgis, in: AJIL 1990, 525 (insb. 527). 8 Vgl. Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (235).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
b) Menschenrechte als Gegenstand gemeinsamer Interessen Das Anliegen des Schutzes der Menschenrechte als Ganzes bildet ein Interesse, das die gesamte Menschheit – dies ungeachtet unterschiedlicher kultureller Standpunkte in Bezug auf die konkrete Tragweite bestimmter Menschenrechte im Einzelnen – und damit die gesamte internationale Gemeinschaft9 teilen. Menschenrechte richten sich zwar im Einzelnen in der Regel auf die Bewahrung bestimmter grundlegender Rechte von Individuen, sei es das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Nahrung oder auch das Recht zur Teilhabe bei grundlegenden politischen Entscheidungen. Gemeinsam ist ihnen aber letztlich allen, dass ihre Wahrung den Einzelnen zu einem menschenwürdigen Dasein verhilft und insofern im Dienst der Menschenwürde steht10. Nicht zuletzt die potentielle Betroffenheit eines jeden einzelnen Individuums durch die Verletzung solcher Garantien zeigt, dass die Gewährleistung derartiger Individualrechte grundsätzlich im gemeinsamen Interesse aller liegt. Darin liegt letztlich die Universalität der Menschenrechte begründet11. Menschenrechte können außerdem auch Garantien enthalten, die von vornherein nicht nur dem Einzelnen, sondern Gruppen zukommen sollen: Während es sich bei den Menschenrechten der „ersten Generation“ um die Freiheits- und politischen Rechte handelt, welche die Freiheit des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat bestimmen, und die Rechte der „zweiten Generation“ bestimmte wirtschaftliche und soziale (ein bestimmtes Tätigwerden des Staates voraussetzender) Ansprüche der Einzelnen umfassen, erweitern die sogenannten Rechte der „dritten Generation“ die auf das Individuum fokussierte Perspektive um jene von Gruppenrechten12. Darunter werden insbesondere das Recht auf Frie___________ 9 Zur Bedeutung des Menschenrechtsschutzes als Anliegen im allgemeinen Interesse aller Staaten auch Paulus, Internationale Gemeinschaft, 253 ff., sowie Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (242 f.). 10 Vgl. bspw. Mbaya, in: FS Kriele, 49 (49): „Die Menschenrechte stellen die fundamentalen Rechte dar, die jeder Mensch besitzt, eben weil er ein Mensch ist. Rechte, die er haben muss, um das Leben eines Menschen führen zu können, ein Leben, das eines Menschen würdig ist. Der Gedanke der gleichen Würde eines jeden menschlichen Seins ist die Grundlage der Menschenrechte.“ Zur Bedeutung der Menschenwürde als Grundlage aller Menschenrechte auch Riedel, in: Constitutionalism, Universalism and Democracy, 25 (37). 11 Vgl. Kriele, in: ARSP Beiheft 51, 47 (47): „Wenn wir unter Menschenrechten die Rechte verstehen, die dem Menschen kraft seines Menschseins zustehen, dann können wir keine Menschen oder Menschengruppen davon ausnehmen. Es liegt im Begriff der Menschenrechte, dass wir sie nur universal oder gar nicht denken können. Die Universalität der Menschenrechte bestreiten, heißt, die Menschenrechte bestreiten.“ 12 Vgl. zu den Rechten der „dritten Generation“ etwa Alston, in: Netherlands International Law Review 1982, 307 ff.; ders., in: AJIL 1984, 607 ff.; Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (796 ff.); Henkin, Politics and Values, 196 ff.; Taylor Saito, in: Uni-
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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den, das Recht auf Entwicklung, das Recht auf eine gesunde Umwelt sowie allgemein das Recht auf Selbstbestimmung gezählt13. Hintergrund der Forderung nach Menschenrechten als Gruppenrechte sind dabei gemäß Riedel die kollektiven Unrechtserfahrungen betroffener Gruppen14. Indem die Erfahrung kollektiven Unrechts in all seinen Erscheinungsformen ein universell verbreitetes Phänomen ist, ist überdies das Potential dafür angelegt, dass solche Gruppenrechte auch über das einzelne Kollektiv hinaus schließlich allgemeine Akzeptanz erfahren15. Gerade die Bemühungen um die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit dürften wohl jenen Bereich des Völkerrechts bilden, in dem sich sowohl das Bewusstsein der Gemeinsamkeit eines Anliegens bildete als auch der anschließende Schritt unternommen wurde, konkrete rechtliche Vorkehren zum Schutz desselben zu treffen16. Sichtbares Resultat sind dabei nicht zuletzt die Vereinten Nationen mit ihren verschiedenen Organen und Institutionen, deren Entstehung durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die schließlich unausweichliche Wahrnehmung der Friedenssicherung als gemeinsames Anliegen aller Staaten entscheidend beeinflusst wurde17. Dies kommt auch in der Charta der Vereinten Nationen zum Aus___________ versity of Miami Inter-American Law Review 1996/97, 387 (395 ff.); außerdem diverse Beiträge bei Alston (ed.), Peoples’ Rights. Für die Verwendung des Begriffs „Menschenrechte der dritten Dimension“ plädiert Riedel, in: EuGRZ 1989, 9 ff., bestehe doch beim Begriff der „dritten Generation“ die Gefahr, dass damit die Ersetzung früherer Menschenrechtsgarantien gemeint sei bzw. tatsächlich angestrebt werde, was jedoch abzulehnen sei. Generell kritisch in Bezug auf das Konzept der Gruppenrechte äußert sich etwa Jones, in: Human Rights Quarterly 1999, 80 ff., der u. a. auf die Schwierigkeiten einer Abgrenzung von Rechten bestimmter (unterschiedlich definierter) Gruppen zu individuellen Menschenrechten auf der einen Seite sowie Gemeinschaftszielen der Menschheit überhaupt auf der anderen Seite hinweist. 13 Auch ein Recht auf Teilhabe am gemeinsamen Erbe der Menschheit erfährt in diesem Zusammenhang teilweise Erwähnung, vgl. etwa Riedel, in: EuGRZ 1989, 9 (15 f.). Eine gewisse logische Berechtigung der soeben (Fn. 12) angesprochenen Kritik von Jones zeigt sich hier freilich deutlich: Inwiefern eine Trennung zwischen dem gemeinsamen Menschheitserbe als Anliegen eben gerade der Menschheit als Gesamtheit einerseits und einem Teilhaberecht besonderer Gruppen (welche ja notwendigerweise Bestandteil der allumfassenden Kategorie Menschheit sind) am gemeinsamen Menschheitserbe andererseits möglich sein soll, ist nicht recht ersichtlich. 14 Riedel, in: Ethik der Menschenrechte, 295 ff. 15 Riedel, ebd., 295 (295), weist dabei auch darauf hin, dass Unrechtserfahrungen und entsprechende Verletzungen individueller wie auch kollektiver Art ganz allgemein den Ursprung menschenrechtlicher Verbürgungen bilden. Ähnlich Kriele, in: ARSP Beiheft 51, 47 (insb. 61), wonach die Universalität der Menschenrechte u. a. „auf der (insofern universalen) menschlichen Natur, die den Zustand der Rechtlosigkeit als Unrecht erfährt“ beruhe. 16 Vgl. Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (236 f.). 17 Vgl. etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 69 ff., 79 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
druck, in deren Art. 1 Abs. 1 die Friedenssicherung die alles überdachende Zielsetzung darstellt. Der internationale Frieden und in letzter Konsequenz das Recht auf Leben jedes einzelnen Individuums werden außerdem in der modernen Welt durch die Möglichkeit der atomaren Vernichtung in einem Ausmaß bedroht, welche die gesamte Menschheit zugleich betrifft und ihre Wahrung in drastischer Weise als kollektives Anliegen der gesamten internationalen Gemeinschaft sichtbar werden lässt. Zum Ausdruck kommt diese Erkenntnis auch in den verschiedenen Verträgen zur Eindämmung der Gefahren, die durch Atomwaffen ausgehen18. So enthält etwa die Präambel des Abkommens zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Südpazifik19 die Aussage, die Vertragsparteien handelten in der Überzeugung „that all countries have an obligation to make every effort to achieve the goal of eliminating nuclear weapons, the terror which they hold for humankind and the threat which they pose to life on earth“. In Hinsicht auf Beispiele für konkrete Wirkungen, welche die Feststellung der Gemeinsamkeit von Interessen im Bereich der Menschenrechte mit sich bringt, sei schließlich an die Geltungskraft von völkerrechtlichen Verträgen im Bereich des Menschenrechtsschutzes erinnert. In diesem Zusammenhang lässt sich zunächst auf die bereits erwähnte20 Ablehnung hinweisen, auf welche Vorbehalte einzelner Staaten gegen völkerrechtliche Verträge im Bereich des Menschenrechtsschutzes stoßen. Als entsprechende Wirkung soll hier außerdem die Rolle menschenrechtlicher Verträge in Fällen der Staatensukzession bzw. des Eintritts eines (neuen) Staats in die Rechtsstellung eines anderen (d. h. des Vorgängerstaats)21 erwähnt werden. So stellt sich die Frage, in welchen Fällen ein – etwa durch Sezession, Dismembration oder die Entstehung durch Unabhängigkeit eines ehemals abhängigen Gebiets (Kolonie) – neu entstandener Staat in vertragliche Rechte und Pflichten des Vorgängerstaats nachfolgt22. Die Freiheit neuer Staaten, über die Fortgeltung, die Modifizierung oder das Außerkrafttreten von Verträgen des Vorgängerstaats zu entscheiden, findet ihren stärksten Ausdruck im Prinzip der „tabula rasa“, wonach aus ehemaligen Kolonien entstandene Staaten von bisher ___________ 18 Zur Bedeutung der Atomwaffenproblematik für die gemeinsamen Interessen der internationalen Gemeinschaft aus Umweltsicht Tietje, in: AVR 1995, 266 (insb. 285 ff.). 19 „South Pacific Nuclear Free Zone Treaty“, aus dem Jahr 1985 (ILM 24 [1985], 1442 ff.). Vgl. bspw. auch die Präambel des „Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons“ aus dem Jahr 1968 (UNTS Nr. 10485, Vol. 729, 169 ff.). 20 Siehe im 2. Kap., B. III. 3. b) aa). 21 Vgl. zum Begriff und zu den Arten der Staatensukzession Fastenrath, in: BerDGV 1995, 9 (9, 14 ff.). 22 Zur Fragestellung anstelle vieler etwa Heintschel von Heinegg, in: Völkerrecht, 92 (126 ff.).
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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auf ihrem Gebiet kraft Verpflichtung des Vorgängerstaats (d. h. der ehemaligen Kolonialmacht) geltenden Verträgen freigestellt sind23. Für die Fortgeltung von völkerrechtlichen Verträgen in den unterschiedlichsten Fallkonstellationen der Staatensukzession scheint sich heute – zumal mit der (nach der Dekolonisierungswelle der sechziger und siebziger Jahre) erneuten Häufung von Sukzessionsfällen in den neunziger Jahren aufgrund der Entwicklungen in der Sowjetunion, in Jugoslawien, in der Tschechoslowakei oder auch in Osttimor – eine Reihe von völkergewohnheitsrechtlichen Regeln zu entwickeln24. Dabei hat sich in Bezug auf völkerrechtliche Verträge zum Schutz von Menschenrechten ___________ 23 Vgl. zum materiellen Gehalt des „tabula rasa“-Prinzips (bzw. der „clean slate rule“) für die Kategorie der sog. „newly independent states“ Art. 16 Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Rechte und Pflichten aus Verträgen (ILM 17 [1978], 1488 ff.). Aus Art. 2 Abs. 1 Bst. f der genannten Konvention geht hervor, dass es sich bei „newly independent states“ um Staaten handelt, deren Territorien vor ihrer Unabhängigkeit von einem anderen Staat abhängig war, mithin ehemals kolonial beherrschte Gebiete gemeint sind; vgl. hierzu Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 23 f., 225 ff., m.w.N. Die Frage, ob das „tabula rasa“-Prinzip auch für Staaten gelten soll, die nicht der Kategorie der „newly independent states“ bzw. ehemaligen Kolonien zuzurechnen sind, wird durch Art. 34 der Wiener Konvention negativ beantwortet. Danach gilt für Staaten, die durch alle Arten von Separation entstanden sind – außer in Fällen, da dies Ziel und Zweck des Vertrags widersprechen würde oder dessen Anwendungsbedingungen grundlegend ändern würde (Art. 34 Abs. 2) – grundsätzlich das Prinzip der Vertragskontinuität; zur Abgrenzung zwischen Art. 16 und Art. 34 der Wiener Konvention über die Staatennachfolge s. Schweisfurth, in: BerDGV 1995, 49 (193 f.). Eine missverständliche Praxis hat diesbezüglich bislang das schweizerische Bundesgericht verfolgt. So heißt es in dem aus dem Jahr 1979 datierenden (die Weitergeltung des zwischen der Schweiz und Großbritannien abgeschlossenen Auslieferungsvertrags für Rechtsverhältnisse zwischen der Schweiz und Südafrika betreffenden) BGE 105 Ib 286, 291: „Grundsätzlich beginnt ein neu entstandener Staat (z.B. eine Kolonialmacht) sein Dasein als Völkerrechtssubjekt ohne an diese Verträge gebunden zu sein (Art. 15 des Kodifikationsentwurfs [der ILC zur Staatennachfolge in Bezug auf Verträge, Anm. des Verf.]; Prinzip der ‚tabula rasa‘, bzw. ‚clean slate rule‘). […] Ein bilateraler Vertrag, der zwischen dem Gebietsvorgänger und einer Gegenpartei abgeschlossen worden war, behält zwischen dieser Gegenpartei und dem neu entstandenen Staat seine Gültigkeit nur, wenn diese beiden Staaten übereinkommen, den Vertrag aufrechtzuerhalten“. Das Bundesgericht scheint damit von einem allgemeinen Vorrang des „tabula rasa“-Prinzips auszugehen, ist dabei allerdings, soweit es sich auf den ILC-Entwurf beruft, sehr ungenau. Denn bereits Art. 15 des ILC-Entwurfs (vgl. ILC Yearbook XV [1974], Vol. II, Part One, 174 ff., insb. 211 ff.) bezog sich – wörtlich dem Art. 16 der späteren Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Rechte und Pflichten aus Verträgen entsprechend – einzig auf die Kategorie der „newly independent states“. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang freilich auch, dass die Wiener Konvention gerade wegen des Gewährens eines Sonderrechts zugunsten der „newly independent states“ kritisch beurteilt wird. So äußert Fiedler, in: FS Kriele, 1371 (1376 f.), zwar Verständnis für diese „historisch-politisch nachvollziehbare Privilegierung“; doch habe dies zu einer „inneren Unausgewogenheit der Kodifikationen“ des Rechts der Staatensukzession geführt; vgl. weiter etwa Kamminga, in: EJIL 1996, 469 (470 ff.). 24 Siehe dazu die entsprechenden Thesen von Schweisfurth, in: BerDGV 1995, 49 (218 ff.).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
herauskristallisiert, dass solchen Konventionen bei den Regeln der Staatensukzession eine besondere Rolle zukommt. So bildet das Bekenntnis zu anerkannten menschenrechtlichen Grundsätzen des Völkerrechts durch neu entstandene Staaten zunehmend eine zentrale Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staaten durch die internationale Gemeinschaft. In gewisser Hinsicht einen Wendepunkt bildete diesbezüglich das Vorgehen der Europäischen Gemeinschaft betreffend die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, das in der Folge auch auf die neu entstandenen Staaten Osteuropas, insbesondere der ehemaligen Sowjetunion, ausgedehnt wurde25. Nach den von der EG und deren Mitgliedstaaten für diese Problemstellung im Jahr 1991 formulierten „Guidelines on the Recognition of New States in Eastern Europe and in the Soviet Union“26 setzte die Anerkennung der betreffenden neuen Staaten voraus, dass diese die in der UNO-Charta, der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) und der KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa (1990) niedergelegten Verpflichtungen unter anderem27 in Bezug auf die Menschenrechte respektieren. Zwar wird in der Schlussakte von Helsinki das Bekenntnis zur Erfüllung der „Verpflichtungen (…), wie diese festgelegt sind in den internationalen Erklärungen und Abkommen auf diesem Gebiet“ durch den Nebensatz „soweit sie an sie gebunden sind“ relativiert28. Indessen ist kaum vorstellbar, wie die Nichtweitergeltung eines für den Vorgängerstaat geltenden völkerrechtlichen Vertrags in Bezug auf den Nachfolgestaat mit diesem grundlegenden Bekenntnis der KSZE-Dokumente und folglich auch mit den erwähnten Guidelines der EG hätte vereinbar sein können. Inhaltlich liefen die Richtlinien der EG für die Anerkennung von neuen Staaten somit darauf hinaus, dass jene menschenrechtliche Verträge ihrer Vorgängerstaaten zu übernehmen hatten.29 ___________ 25
Hierzu und zum Folgenden Fiedler, in: FS Kriele, 1371 (1377 ff.). Siehe ILM 31 (1992), 1486 f. 27 Genannt werden außerdem das Rechtsstaatsprinzip (rule of law) und das Demokratieprinzip. 28 KSZE-Schlussakte von Helsinki; Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, Abschnitt VII: Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit (Text in Fastenrath, Dokumente der KSZE, Dok. Nr. A1). 29 Die Praxis ist dem allerdings nur ein Stück weit gefolgt. Schweisfurth, in: BerDGV 1995, 49 (209), weist darauf hin, dass zwar etwa Russland in Bezug auf die universellen menschenrechtlichen Verträge und die Genfer Konventionen des humanitären Völkerrechts eine pauschale Rechtsnachfolgeerklärung abgegeben habe; auch hätte alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie der Bundesrepublik Jugoslawien ihre Rechtsnachfolge in Bezug auf die Genfer Konventionen und – mit Ausnahme Aserbeidschans – deren beiden Zusatzprotokolle erklärt. Indessen hätten von insgesamt siebzehn Nachfolgestaaten der UdSSR und der Bundesrepublik Jugoslawien lediglich neun ausdrücklich ihre Rechtsnachfolge zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 26
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
211
Auf ein Prinzip der automatischen Nachfolge in menschenrechtliche Verträge berief sich auch Bosnien-Herzegowina im vom IGH im Jahr 1996 beurteilten Fall zur Anwendung der Genozid-Konvention30 (Bosnien-Herzegowina vs. Jugoslawien). Gestützt auf den Standpunkt, es existiere ein derartiges Prinzip, folgerte Bosnien-Herzegowina, es sei unmittelbar mit seinem Eintritt in die Unabhängigkeit Vertragspartei der Genozid-Konvention geworden31. Die jugoslawische Seite bestritt diese Wirkung der Staatensukzession. Der Gerichtshof selbst sah sich schließlich – bedauerlicherweise, angesichts der Gelegenheit, in dieser Frage eine Klärung herbeizuführen32 – nicht veranlasst, sich diesbezüglich explizit zu äußern33. Als verzichtbar erwies sich eine derartige Stellungnahme des IGH, da Bosnien-Herzegowina wenige Monate nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1992 eine ausdrückliche Nachfolgeerklärung in Bezug auf die Anbindung an die Genozid-Konvention abgegeben hatte. Von Interesse ist gleichwohl, wie sich der Gerichtshof, wenn auch unter Ablehnung einer präjudiziellen Wirkung in Bezug auf die Geltung eines Prinzips der automatischen Sukzession für bestimmte Typen völkerrechtlicher Verträge, in diesem Zusammenhang weiter vernehmen ließ: Durchaus andeutungsvoll wies er auf sein bereits im Jahr 1951 erstattetes Rechtsgutachten betreffend die Zulässigkeit von Vorbehalten zur Genozid-Konvention34 hin, unter Wiedergabe zweier Passagen bezüglich des rechtlichen Charakters des Abkommens. Danach hatte der IGH bereits damals festgestellt35, im Rahmen einer derartigen Konvention hätten die vertragschließenden Staaten keinerlei eigene Interessen; vielmehr hätten diese samt und sonders lediglich ein gemeinsames Interesse, nämlich die Verwirklichung der hohen Zielsetzungen, welche die „raison d’être“ der Konvention bildeten. Entsprechend könne man in einer Konvention dieses Typs nicht von individuellen Vorteilen oder Nachteilen für Staaten oder von einem perfekten vertraglichen Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten sprechen. Und weiter: Ziel und Zweck der Genozid-Konvention implizierten, dass es die Absicht der Generalversammlung (der Vereinten Nationen) und der beitretenden Staaten gewesen sei, es sollten sich so viele Staaten ___________ sowie zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erklärt. 30 Für den Text dieser Konvention SR 0.311.11. 31 ICJ Reports 1996, 611, Para. 21. 32 Vgl. demgegenüber aber die Ausführungen des Richters Weeramantry in seiner Separate Opinion, ebd., 640 ff., der sich ebenfalls bedauernd darüber äußert, dass der Gerichtshof in der Frage der automatischen Staatensukzession im Falle der GenozidKonvention nicht Stellung bezog. 33 Ebd., 612, Para. 23. 34 ICJ Reports 1951, 15 ff. 35 Zum Folgenden ICJ Reports 1996, 611 f., Para. 22, unter wörtlicher Zitierung aus ICJ Reports 1951, 23 f.
212
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
wie möglich beteiligen. Der völlige Ausschluss eines oder mehrerer Staaten von der Konvention aber würde nicht nur deren Tragweite beschränken, sondern die Autorität der moralischen und humanitären Prinzipien beeinträchtigen, die deren Basis bildeten. Mit dieser sehr spezifischen Bezugnahme auf das einige Jahrzehnte alte Gutachten macht der IGH im Urteil betreffend die Anwendung der Genozid-Konvention von 1996 – ungeachtet des Abstands von einer expliziten Äußerung zur zugrunde liegenden Fragestellung – jedenfalls zweierlei deutlich: Zum einen gibt der IGH zu erkennen, dass er der Tendenz offen gegenüber steht, einer bestimmten Kategorie von Verträgen, insbesondere im weiteren Bereich des Menschenrechtsschutzes, bezüglich des Zustandekommens (und der Auflösung) der vertraglichen Bindung einen besonderen Charakter beizumessen. Zum andern ist im Kontext der Überlegungen dieses Unterkapitels von besonderer Bedeutung, dass der IGH sich dieser Position gestützt auf die Feststellung annähert, dass diese Kategorie gemeinsame Werte und Interessen aller Staaten widerspiegelt und dass gerade deshalb der Schluss zu ziehen ist, derartige Verträge seien der Disposition des einzelnen Staats zu entziehen. Weitaus deutlicher als der IGH selbst äußerte sich im genannten Fall der Richter Weeramantry in seiner Separate Opinion36: Beim heutigen Entwicklungsstand der Menschenrechte könne der Ansicht nicht mehr gefolgt werden, es bestehe kein Prinzip der automatischen Sukzession zu Verträgen des Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts. Ansonsten würde die bedenkliche Situation entstehen, dass ein Staatsvolk, das während Jahren unter dem Schutz eines Menschenrechtsvertrags stand, dessen plötzlich beraubt würde, wie wenn es sich um besondere Privilegien handelte, die von der betreffenden Regierung nach Lust und Laune entzogen werden könnten37. Und weiter: „The rights and obligations guaranteed by the Genocide Convention are non-derogable, for they relate to the right to life, the most fundamental of human rights, and an integral part of the irreducible core of human rights. It relates not merely to the right to life of one individual, but to that right en masse.“38
Die angeführten Beispiele lassen sich durch weitere Hinweise ergänzen39. So hat die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen im Jahr 1993 eine ___________ 36
ICJ Reports 1996, 640 ff. Ebd., 649. 38 Ebd., 651 f.; Hervorh. im Orig. Vgl. zu dieser Position Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 562, der einzelne der von Weeramantry vorgebrachten Argumente in Frage stellt, im Ergebnis aber gleichwohl konzediert, die in der Separate Opinion gemachten Ausführungen bereiteten „den dogmatischen Boden“ für eine Staatenpraxis, welche „deutlich zu einer automatischen Fortgeltung universeller Verträge im Bereich des Menschenrechtsschutzes neigt“. 39 Noch weiter über die nachfolgenden Hinweise hinaus führt außerdem der Überblick bei Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 543 ff.; vgl. außerdem auch Poupart, in: Succession d’Etats, 465 (471 ff.), sowie Shaw, International Law, 885 ff. 37
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
213
Resolution40 verabschiedet, in welcher zum Ausdruck kommt, dass Nachfolgestaaten auch ohne ausdrückliche Sukzessionserklärung durch völkerrechtliche Menschenrechtsverträge gebunden sein sollen, soweit diese Abkommen auch bereits für den jeweiligen Vorgängerstaat galten41. Auch eine weitere Resolution42 der UNO-Menschenrechtskommission aus dem Jahr 1994 betont den besonderen Charakter menschenrechtlicher Verträge. Für den besonderen Bereich der Verträge des humanitären Völkerrechts ist schließlich zu erwähnen, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz traditionell die Ansicht vertrat, ein Nachfolgestaat sei automatisch durch die einschlägigen Verträge gebunden, welche für den Vorgängerstaat galten, es sei denn der neu entstandene Staat spreche sich ausdrücklich gegen die Weitergeltung aus43. Eine gewisse Relativierung erfuhr diese Haltung des IKRK, nachdem die Verhandlungen über den von der ILC vorgelegten Entwurf für die Konvention über die Staatennachfolge in Rechte und Pflichten aus Verträgen ergeben hatten, dass von der Geltung des „tabula rasa“-Prinzips für die Kategorie der „newly independent states“44 keine Ausnahme – auch nicht für die Genfer Konventionen – eingeführt werden sollten45. Indessen ist das IKRK später im Zusammenhang mit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens dann wieder davon ausgegangen, dass die betreffenden Nachfolgestaaten automatisch an die Genfer Konventionen samt Zusatzprotokollen gebunden blieben, soweit diese auf dem jeweiligen Territorium zuvor bereits gegolten hatten46. In der völkerrechtlichen Literatur wird vor diesem Hintergrund seit einigen Jahren postuliert, dass Verpflichtungen des einzelnen Staats, welche aus den wichtigsten menschenrechtlichen Verträgen auf universeller oder auch regionaler Ebene resultieren, durch einen Vorgang der Staatennachfolge unberührt bleiben47. Wilfried Fiedler weist denn auch darauf hin, das Recht der ___________ 40
Res. 1993/23 vom 4.3.1993: „Succession of States in respect of international human rights treaties“. 41 Vgl. zur hier erwähnten Praxis der UNO-Menschenrechtskommission Poupart, in: Succession d’Etats, 465 (473 ff.), sowie Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 543 f. 42 Res. 1994/16 vom 25.2.1994. 43 Siehe Kamminga, in: EJIL 1996, 469 (473). 44 Zum „tabula rasa“-Prinzip und zur Kategorie der „newly independent states“ im Rahmen der Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Rechte und Pflichten aus Verträgen zuvor in diesem Kap., Fn. 23. 45 Hierzu Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 581 f., m.w.N. 46 Vgl. ebd., 583 ff. 47 So ausdrücklich Kamminga, in: EJIL 1996, 469 (482 f.). In dieser Richtung aber auch Künzli, Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte, 123 f.; Poupart, in: Succession d’Etats, 465 (489 f.); Shaw, in: Finnish Yearbook of International Law 1994, 34 (84); optimistisch Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (357); von einer „strong tendency“
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Staatensukzession habe „durch die Aufwertung der völkerrechtlichen Anerkennung und ihrer inhaltlichen Orientierung eine substantielle Veränderung zugunsten der Menschenrechte erfahren (…). Über die völkerrechtliche Anerkennung und ihre inhaltlichen Voraussetzungen ist die Dimension der Menschenrechte in das gesamte Recht der Staatensukzession hineingewachsen und zu einem Teil des Gesamtvorgangs der Staatensukzession geworden.“48 Des Weiteren sei die Tendenz zur Vertragskontinuität im Zusammenhang mit der Frage der Fortgeltung universeller oder regionaler humanitärer Vertragswerke besonders stark, so dass sich hier sogar die „Frage nach der Entstehung einer entsprechenden völkergewohnheitsrechtlichen Regel“ stelle49. Eben diese Frage hat Bruno Simma noch um eine Stufe pointierter formuliert, indem er zur Diskussion stellt, ob bereits die Existenz einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel anzunehmen sei, welche nach der Kontinuität von Verpflichtungen aus menschenrechtlichen Verträgen verlangt50. In einer diesbezüglichen Einschätzung folgert Simma zwar noch, es sei wohl noch zu früh, von Völkergewohnheitsrecht zu sprechen, verrät gleichwohl aber beträchtlichen Optimismus, wenn er die Möglichkeit ins Auge fasst, dass eine derartige Regel bereits auf dem Weg der Entstehung sein könnte51.
___________ in Richtung einer automatischen Bindung spricht Koskenniemi, in: Succession d’Etats, 65 (108). Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 572 f., weist im Zusammenhang mit der Feststellung, dass bei den im Rahmen der Vereinten Nationen abgeschlossenen universellen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte „stets“ von einer automatisch eintretenden Nachfolge in solche Verträge auszugehen sei, sogar auf deren „quasi-konstitutionelle Stellung innerhalb der organisierten Staatengemeinschaft“ hin. 48 Fiedler, in: FS Kriele, 1371 (1382). 49 Ebd., 1371 (1389). 50 Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (357). 51 Ähnlich auch die Folgerung von Poupart, in: Succession d’Etats, 465 (489). Eine entgegengesetzte – freilich nicht näher begründete – Position scheint das schweizerische Bundesgericht einzunehmen, indem es in BGE 123 II 511, 518 f., zum Ausdruck bringt, die Freiheit eines neu entstandenen Staats, seine Zustimmung zu Verträgen des Vorgängerstaats zu geben oder nicht, erstrecke sich auch auf menschenrechtliche Verträge, in casu den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe: „En tant qu’Etat successeur de l’ancienne URSS, la République du Kazakhstan est libre d’exprimer ou non son consentement à être liée par les traités auxquels l’Etat dont elle est issue est partie. L’expression de ce consentement peut prendre la forme d’une simple déclaration de succession. (…) Jusqu’ici, le Kazakhstan n’a pas exprimé, selon les modalités décrites, son consentement à être lié par le Pacte ONU II ou par la Convention des Nations-Unies contre la torture (…).“
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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c) Der Schutz der Umwelt als Gegenstand gemeinsamer Interessen Die häufigste und auch konkreteste Verwendung findet der Begriff des gemeinsamen Interesses im Bereich des Schutzes der Umwelt52. Dies gründet in bestimmten Fakten, wobei die Tatsache eine herausragende Rolle spielt, dass gerade Umweltbedrohungen mit großen Gefahrenpotentialen nicht an territorialen Grenzen haltmachen53.
aa) Faktische Grundlagen: der Schutz der Umwelt als Anliegen im Interesse aller Umweltbelange lassen sich hinsichtlich ihrer politischen und rechtlichen Dimensionen nicht zuletzt nach ihrer räumlichen Reichweite unterscheiden. Von globaler Bedeutung ist das Phänomen des Klimawandels: Für dieses gilt die Feststellung in geradezu exemplarischer Weise, dass räumliche Grenzen, insbesondere die durch den Menschen definierten nationaler Territorien, in Bezug auf bestimmte Umweltgefahren bedeutungslos sind. Die möglichen Klimaveränderungen bedrohen die Grundlagen menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde, läuft doch deren gesamtes ökologisches System Gefahr, nachhaltig geschädigt zu werden. Aufgrund der in den letzten drei Jahrzehnten beobachteten Entwicklungen sind in erster Linie die folgenden Faktoren zu nennen54: –
Die Zunahme durchschnittlicher Temperaturen wirkt sich auf die Menge und die globale Verteilung der Niederschläge aus, womit die Veränderung ___________ 52
Vgl. allgemein etwa Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 ff.; Lücke, in: AVR 1997, 1 (13 f.); Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 201 ff. 53 Nach Streinz, in: UTR 1999, 319 (323), bildet diese Feststellung heute schon einen „Gemeinplatz“, vergleichbar etwa mit der grenzüberschreitenden Wirkung von Rundfunkwellen. 54 Hierzu bilden die Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), eines globalen, der Klimakonvention beigeordneten wissenschaftlichen Ausschusses, die umfassendste und am breitesten abgestützte Quelle. Im Jahr 2007 ist der mittlerweile vierte Zustandsbericht des IPCC erschienen; sämtliche Veröffentlichungen des Ausschusses sind unter zugänglich (Adresse gültig am 31.3.2008). Vgl. aus der unerschöpflichen Literatur ferner bspw. die zusammenfassenden Darstellungen bei Oberthür/Ott, Kyoto-Protocol, 3 ff.; Rahmstorf/Schellnhuber, Klimawandel, 29 ff., 54 ff.; UNEP, Global Environment Outlook 2000, 24 ff.; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Klimaschutzstrategien, 9 ff.; ders., Sicherheitsrisiko Klimawandel, 59 ff. Zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen bspw. auch die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderung, BBl 1993 II 121. Siehe zu einzelnen Gesichtspunkten zudem die in den nachfolgenden Fußnoten angegebenen Literaturangaben, jeweils m.w.N.
216
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
des Klimas erhebliche Auswirkungen auf die Verfügbarkeit der Ressource Süßwasser55 mit sich bringt. Zu den Folgen dieser Veränderung gehören unter anderem negative Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und damit auf die Ernährungssicherheit56. –
Die für die Nahrungsmittelversorgung wichtige terrestrische Vegetation wird durch den Klimawandel und die steigende Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre zudem auf weitere Weise beeinflusst. So wirkt sich der Anstieg der Lufttemperaturen auf die Produktivität, aber auch auf die Artenzusammensetzung und die Verbreitung der Arten aus57. Da der Anpassungsfähigkeit der Arten Grenzen gesetzt sind, können Ökosysteme und deren biologische Vielfalt durch Klimaveränderungen irreversible Schäden erleiden58.
–
Die anthropogene Erwärmung der Erde lässt befürchten, dass der Meeresspiegel in einem Ausmaß ansteigt, dass küstennahe Gebiete und Inseln gefährdet werden59. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist der Meeresspiegel bereits um 15 bis 20 cm angestiegen, was einen in den tausend Jahren zuvor auch nicht annähernd erreichten Wert bildet. In der Klima- und Meereswissenschaft besteht daher Einigkeit, dass der beobachtete Meeresspiegelanstieg überwiegend auf die globale Erwärmung zurückzuführen ist. Brennpunkte der Gefährdung durch den Meeresspiegelanstieg sind zum einen tief liegende Inseln und Küstenregionen, zum andern Gegenden, wo sich Meeresanstieg und Absinken der Landmasse addieren.
–
Spätestens die ungewöhnliche Hurrikan-Saison des Jahres 2005 – mit dem Hurrikan „Katrina“, der an der US-amerikanischen Küste Zerstörungen bisher unbekannten Ausmaßes anrichtete – hat die Gefahr durch tropische Wirbelstürme verstärkt in den Blickpunkt des Interesses gerückt. In den letzten Jahrzehnten wurde eine deutliche Zunahme der Stärke tropischer Wirbelstürme beobachtet, die wissenschaftlich vor allem auf den Anstieg der tropischen Meerestemperaturen zurückgeführt wird, was wiederum eine Folge des Klimawandels ist60.
–
Klimabedingte Umweltdegradation bildet bereits heute eine wesentliche Ursache von Migration, wobei Menschen in erheblicher Zahl gezwungen
___________ 55
Zur Bedeutung dieser Ressource noch sogleich. Zu diesem Aspekt etwa Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Klimaschutzstrategien, 14. 57 Ders., Sicherheitsrisiko Klimawandel, 71 f. 58 Ders., Klimaschutzstrategien, 11. 59 Zum Folgenden ders., Zukunft der Meere, 33 ff. 60 Vgl. ebd., 38 ff. 56
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
217
werden, ihre angestammten Lebensräume zu verlassen61. Mit der solchermaßen verursachten Migration geht eine Reihe von Folgeproblemen einher, so insbesondere eine beträchtliche Erhöhung des Konfliktpotentials in den betroffenen Regionen62. –
Der Klimawandel bringt weitreichende Risiken für die menschliche Gesundheit mit sich. So verursacht er gemäß einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation schon heute jährlich 150.000 Todesopfer, vermittelt durch vermehrtes Auftreten von Krankheiten wie Malaria sowie durch Unterernährung63.
–
Sämtliche erwähnten Faktoren wirken sich schließlich ökonomisch äußerst negativ aus. Eine Studie des britischen Ökonomen Nicholas Stern ist jüngst zur Einschätzung gelangt, dass bei einem ungebremsten Klimawandel volkswirtschaftliche Folgen zu erwarten sind, die sich mit jenen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise vergleichen lassen64.
Die Problematik des Klimawandels erweist sich im wahrsten Sinne des Wortes als global65. Angesichts der räumlichen Ausdehnung und der potentiellen Tragweite der Gefahrenlage teilt die gesamte Menschheit und folglich die internationale Gemeinschaft als Ganzes das Anliegen, die bereits heute spürbaren Auswirkungen zu mildern und die künftig drohenden Folgen abzuwenden. Am Schutz der Atmosphäre besteht mit anderen Worten ein bezüglich der räumlichen Reichweite größtmögliches gemeinsames Interesse. Neben einem derartigen global geteilten Anliegen, wie es der Schutz von Atmosphäre und Klima der Erde darstellt, zeigt sich die Interdependenz der Völker und Staaten in Bezug auf die natürlichen Lebensgrundlagen aber auch in den engeren Räumen regionaler Nachbarschaft. Die Bedeutung, welche der Nutzung der Ressource Süßwasser zukommt, bildet hier das vielleicht eindrücklichste Beispiel.
___________ 61
Beispiele hierfür sind zahlreich und betreffen unterschiedlichste Weltregionen. In der Studie Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 130 ff., werden als besonders signifikante Beispiele der indische Subkontinent (insbesondere Bangladesch) sowie die Region nordafrikanischer Mittelmeerraum/Sahelzone hervorgehoben. 62 Ebd.; vgl. außerdem etwa Bauer, in: Entwicklung und ländlicher Raum 2006, Nr. 4, 7 ff. 63 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Klimaschutzstrategien, 19. 64 Stern, Economics of Climate Change. 65 Vgl. auch Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 30, m.w.N.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Wasser ist als Quelle des Lebens unersetzlich66. Dabei gehört die Versorgung mit gesundem Wasser zwar heute in den meisten Industrienationen zu den Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens; indessen trägt eine solche begrenzte Wahrnehmung in keiner Weise der Bedrohung Rechnung, der diese Ressource in der Realität ausgesetzt ist67. Die Abhängigkeit des Menschen vom Wasser sowie die laufend stärkere Beanspruchung dieser Ressource68 stehen der Tatsache gegenüber, dass nutzbares Süßwasser ein außerordentlich begrenztes Gut ist69. Die nutzbaren Wasservorkommen sind zudem regional sehr ungleich verteilt, und Süßwasser droht somit zum Objekt von Verteilungskämpfen zu werden70. Die Fakten zur Verfügbarkeit von Wasserressourcen zeigen, dass es dem einzelnen Staat diesbezüglich nicht erlaubt sein darf, einzig seine partikulären ___________ 66
Dies gilt für nahezu jede Lebensform, in besonderem Maß aber für die Existenz des Menschen: Die Abhängigkeit menschlichen Lebens und Überlebens von der natürlichen Ressource Wasser dürfte – anders als etwa die Bedeutung sauberer Luft als Umweltbedingung, die sich erst mit Beginn der Industrialisierung zu einem Problem entwickelte – zu den „Urerfahrungen“ der Menschheit gehören. Siehe für einen Überblick zur Bedeutung der Ressource Wasser etwa Gleick, in: Water in Crisis, 3 ff. 67 Vgl. etwa Leisinger, Sechste Milliarde, 110 ff., m.w.N.; Tilzer, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 277 ff.; UNEP, Global Environmental Outlook 2000, 41 ff. 68 So sind wir Zeugen eines in der Menschheitsgeschichte bislang beispiellosen Bevölkerungswachstums, dessen Ende nicht absehbar ist. Der zunehmende Bedarf an Wasser wird weiter dadurch akzentuiert, dass der mengenmäßige Wasserverbrauch aufgrund der fortwährenden Industrialisierung noch stärker als die Entwicklung der Bevölkerungszahlen ansteigt. So vergrößerte sich der weltweite Süßwasserkonsum zwischen den Jahren 1900 und 1995 um das Sechsfache und damit doppelt so schnell wie die Weltbevölkerung; vgl. UNEP, Global Environmental Outlook 2000, 41. 69 Die menschlicher Nutzung zur Verfügung stehende Wassermenge bleibt bei ständigem Anstieg des Verbrauchs die gleiche, wodurch die Verfügbarkeit dieser Ressource laufend sinkt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Nutzbarkeit der Wasserressourcen für die Bedürfnisse des Menschen nicht ohne weiteres gegeben ist. So bestehen die Wasserreserven der Erde zu nur 2,5 Prozent aus Süßwasser, wovon wiederum der größte Teil aus dem Eis der beiden Polarregionen sowie der Gletscher gebildet wird. Mit anderen Worten ist der weitaus überwiegende Teil der Wasservorkommen für den Menschen überhaupt nicht oder nur unter enormen technischen Anstrengungen nutzbar. Das für die menschlichen Bedürfnisse realistischerweise verfügbare Süßwasser stellt demgegenüber den winzigen Bruchteil von nur einem Prozent der gesamten Süßwasserreserven oder 0,007 Prozent der Wassermenge des Planeten Erde dar. Siehe dazu Leisinger, Sechste Milliarde, 111 ff. 70 Dem entspricht, dass zahlreiche zwischenstaatliche Verträge gerade in Krisenregionen Bezug auf die Nutzung des Süßwassers nehmen. So statuiert etwa der im Oktober 1994 abgeschlossene Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien (ILM 34 [1995], 43 ff.), zwei Ländern, die unter enormem Wassermangel leiden, eine gegenseitige Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei der Nutzung der von beiden Parteien beanspruchten Wasserreserven (Art. 6). Vgl. zu diesem Vertrag Baker Röben, in: YIEL 1995, 189 (189 f.). Allgemein zur Bedeutung von Wasser als Gegenstand möglicher Verteilungskämpfe Leisinger, Sechste Milliarde, 125 ff.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Interessen zu verfolgen. Besonders dort, wo Süßwasser eine knappe Ressource darstellt, ist deren gleichberechtigte Nutzung ein vitales Interesse aller Beteiligten. Festzuhalten ist schließlich, dass die regionale Verfügbarkeit von Süßwasser auch durch die Folgen des Klimawandels beeinflusst wird. Als drittes Beispiel für die Allgemeinheit ökologischer Interessenlagen lässt sich ein Phänomen nennen, das gewissermaßen eine Überschneidung der soeben genannten globalen und regionalen Aspekte bildet. Das Problem der Desertifikation (bzw. Wüstenbildung) wird in unseren Breitengraden bis heute eher am Rande wahrgenommen, prägt jedoch die Lebensbedingungen eines bedeutenden Teils der Weltbevölkerung71. Die davon ausgehende Bedrohung besteht in der Verödung und somit dem Produktivitätsverlust von Land, das (trotz seiner Trockenheit) land-, forst- oder viehwirtschaftlich genutzt wird. Das Phänomen ist zwar in der Geschichte der Menschheit keineswegs neu72, akzentuiert sich heute aber vor allem aufgrund der Zunahme der Weltbevölkerung in einem bislang noch nie dagewesenen Ausmaß73. Der Vorgang der Desertifikation stellt insgesamt eine komplexe Vernetzung verschiedenster Faktoren dar, wobei auch der sozio-ökonomische Aspekt eine wichtige Rolle spielt. Der gerade in den ärmsten Ländern herrschende Bevölkerungsdruck und die Notwendigkeit, sich das Nötigste zum Leben zu verschaffen, führen zu einer permanenten Übernutzung der aufgrund der klimatischen Bedingungen verletztlichen Umwelt. Eine wesentliche Rolle scheint zudem auch der Wandel des Erdklimas zu spielen74, zu dessen Erscheinungen eine weitere Verringerung ___________ 71 Vgl. zum Folgenden etwa Adeel et al., Re-thinking Policies to Cope with Desertification; Burns, in: Michigan Journal of International Law 1995, 831 (832 ff.); Danish, in: IJGLS 1995, 133 ff.; s. auch Para. 12.2 der Agenda 21. Das Phänomen der Desertifikation tritt in Trockengebieten auf, dass heißt in klimatischen Zonen der Erde, die durch geringe Niederschläge gekennzeichnet sind, und betrifft ungefähr ein Viertel der Landmasse der Erde. In von der Desertifikation bedrohten Trockengebieten lebt rund ein Sechstel der Menschheit, und mindestens ein Fünftel der globalen Agrarproduktion wird hier erzielt. Der Problematik wird auf rechtlicher Ebene mit einem spezifischen völkerrechtlichen Abkommen, der sog. Desertifikationskonvention, begegnet: Das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika, wie die Konvention mit vollem Wortlaut heißt, wurde im Jahr 1994 verabschiedet und trat am 26.12.1996 in Kraft. 72 Burns, in: Michigan Journal of International Law 1995, 831 (832), weist u. a. auf das historische Beispiel des akkadischen Reiches in Mesopotamien hin, das vor mehr als 4000 Jahren aufgrund der Verödung des produktiven Bodens zugrunde ging. 73 So veröden beispielsweise in China jedes Jahr mehr als 2000 km2 ehemals kultivierten Landes; rund vierzig Prozent der Fläche Indiens sowie fünfundachtzig Prozent der Fläche Kenias sind von der Wüstenbildung betroffen; vgl. ebd., 831 (833 f.). 74 Vgl. die Hinweise auf entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse des Intergovernmental Panel on Climate Change bei Brauch, in: Klimawandel und Konflikte, 11 (32 ff.).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
der Niederschläge in Regionen gehört, die bereits unter einem chronischen Wassermangel leiden. Die Problematik der Wüstenbildung ist schließlich die wohl bedeutendste Ursache für Migrationsbewegungen, die durch Umweltbedrohungen und -schädigungen ausgelöst werden75. Der klimabedingte Umweltstress führt mittelbar – nicht zuletzt durch die Mitverursachung von Migration – außerdem zu einer Erhöhung der Anfälligkeit auf politische Krisen und Konflikte in den betroffenen Regionen76. Die verschiedenen mit dem Phänomen der Wüstenbildung zusammenhängenden Probleme zeigen, dass sich mögliche Gemeinsamkeiten der Interessen mit Umweltbezug nicht alleine auf bestimmte spezifische Umweltmedien beschränken. Die Gemeinsamkeit der Interessen stellt sich nämlich hier gerade dadurch ein, dass über einzelne Umweltmedien hinaus sich verschiedene Faktoren überschneiden und zu einer besonderen Konstellation führen. Im konkreten Fall der Desertifikation gehören zu diesen Faktoren in ökologischer Hinsicht insbesondere die Problemstellungen des Klimawandels (auf der Ursachenseite) sowie der Nutzung und des Schutzes der natürlichen Ressourcen Wasser, Boden und biologische Vielfalt (auf der Ursachen- wie auch auf der Folgenseite)77. Die Gemeinsamkeit der Interessen, die sich in diesem Zusammenhang für die internationale Gemeinschaft ergibt, ist – ebenso wie der Kreislauf von Ursachen und Wirkungen der Problematik – auf verschiedenen Ebenen zu sehen: Ökologisch (wie auch ökonomisch) bildet die Wüstenbildung eine überaus ernste Bedrohung der erwähnten natürlichen Ressourcen in den betroffenen Staaten. Dabei sind die Dimensionen sowohl in ökologischer Hinsicht wie auch in Bezug auf die Folgeproblematik der Migration grenzüberschreitend. Die unmittelbaren ökologischen und sozialen Folgen dieser Fluchtbewegungen78 ___________ 75 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 124 ff. Zur Migrationsproblematik im Zusammenhang mit Umweltbedrohungen allgemein auch Perrez, Cooperative Sovereignty, 221 f.; Plummer, in: IJGLS 1996, 231 ff.; spezifisch im Zusammenhang mit der Problematik der Wüstenbildung Burns, in: Michigan Journal of International Law 1995, 831 (847 f.). Regional zeigt sich hier das Bild eines fatalen Kreislaufs: Armut und Unterernährung, die durch die ökologischen Folgen der Desertifikation verstärkt werden, führen zu Fluchtbewegungen hin zu – tatsächlich oder nur vermeintlich – weniger stark betroffenen Gebieten, wo dadurch der Bevölkerungsdruck (weiter) erhöht und damit der Prozess der Wüstenbildung wiederum in Gang gesetzt oder zusätzlich beschleunigt wird (s. Burns, a.a.O.). 76 Vgl. Brauch, in: Klimawandel und Konflikte, 11 (52 ff.), m.w.N.; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 124 ff. 77 Zu den Zusammenhängen vgl. auch Odendahl, in: AVR 2001, 82 (90 ff.). 78 Burns, in: Michigan Journal of International Law 1995, 831 (847), weist darauf hin, dass bspw. in Burkina Faso und in Niger jeweils ein Sechstel der Bevölkerung durch die Folgen der Desertifikation zur Aufgabe des Bodens und zur Migration gezwungen worden ist.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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sind in erster Linie in den Staaten der jeweiligen Region spürbar. Indessen betrifft die menschenrechtliche Dimension der Desertifikationsproblematik, die sich in der Armut, Unterernährung und allen weiteren Folgeerscheinungen für die betroffene lokale Bevölkerung äußert, die internationale Gemeinschaft als Gesamtheit. Der umweltvölkerrechtliche Ansatz des gemeinsamen Interesses tritt im Übrigen in Vertragswerken und sonstigen völkerrechtlichen Dokumenten häufig in der Form des Gedankens des „common concern of humankind“ auf. Damit wird herausgestrichen, dass aufgrund der bestehenden ökologischen Interdependenzen die Notwendigkeit des Schutzes der jeweiligen Umweltmedien, so insbesondere des Klimas oder der biologischen Vielfalt, über alle Staatsgrenzen hinaus sämtliche Mitglieder der internationalen Gemeinschaft betrifft79. Als besonderer materieller Bereich80 lässt sich dabei die Kategorie der globalen gemeinsamen Güter („global commons“) betrachten, die auch als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ („common heritage of humankind“) bezeichnet werden. Unter globalen gemeinsamen Gütern81 werden jene Räume bzw. Ressourcen verstanden, die nicht der territorialen Souveränität einzelner Staaten unterworfen sind (so die Hohe See, der Meeresboden und -untergrund außerhalb nationaler Hoheitsgewässer, die Antarktis, der Weltraum); dabei ergibt sich das gemeinsame Interesse an diesen Bereichen daraus, dass sie für das ökologische ___________ 79
Vgl. etwa die Präambeln der Klimakonvention sowie der Biodiversitätskonvention; in der Präambel der Desertifikationskonvention ist demgegenüber vom „urgent concern of the international community“ die Rede, in der Präambel und in Art. 2 Abs. 3 Bst. g der Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities von der „international community as a whole“ sowie in der Präambel des Umweltschutzprotokolls zum Antarktisvertrag zudem vom „interest of mankind as a whole“. Zum Begriff des „common concern of mankind“ Biermann, Saving the Atmosphere, 10 ff.; ders., in: AVR 1996, 426 ff.; Durner, Common Goods, 234 ff.; Jurgielewicz, Global Environmental Change and International Law, 65 ff.; Kiss, in: Structure and Process of International Law, 1069 (1083 ff.); Kiss/Shelton, International Environmental Law, 15 f., 379 f.; Krohn, Bewahrung tropischer Regenwälder durch völkerrechtliche Kooperationsmechanismen, 277 ff.; Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 201 ff. Zu Begriff und Konzept des „common heritage“ umfassend Baslar, Concept of the Common Heritage of Mankind in International Law. 80 Zum Schutz der staatsfreien Räume als besonderer materieller Bereich im Rahmen des Konzepts „common concern of mankind“ Günther, Klagebefugnis der Staaten, 125 ff. Die beiden Autoren Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (90 f.), sowie Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (240 ff.), führen das Konzept des „common heritage of humankind“ als Beleg für die Bedeutung an, die allgemeinen Interessen der internationalen Gemeinschaft zukommt. 81 Vgl. zum Begriff der „global commons“ Barboza, in: RdC 1994-III, 291 (392 ff.); Clancy, in: IJGLS 1998, 601 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Gleichgewicht der Erde eine besondere Rolle spielen82 oder bestimmte nutzbare natürliche Ressourcen enthalten, die für die gesamte Menschheit von besonderem Wert sind83. In Bezug auf die rechtlichen Bedingungen der Nutzung dieser „global commons“ hat sich insbesondere84 in der Seerechtskonvention85, aber auch in den Vertragswerken zur Nutzung des Weltraums86 sowie der Antarktis87 das Konzept des „common heritage of humankind“88 entwickelt. Dieses beruht auf dem Gedanken, dass die in den staatsfreien Räumen vorhandenen Ressourcen der gesamten Menschheit, unter Einschluss künftiger Generationen, zur Verfügung stehen sollen und deren Nutzung daher Regelungen unterworfen sein müssen, die den gemeinsamen Interessen aller Rechnung tragen. Dabei sollen bei der Nutzung der staatsfreien Räume oder der in ihnen enthaltenen ___________ 82
So heben bspw. Art. 2 Abs. 3 Bst. b und Art. 4 Abs. 3 Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities die mögliche Bedeutung von Umweltschädigungen in der Antarktis für die gesamte globale Umwelt und insbesondere für das globale Klima besonders hervor. 83 Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass in einer im Jahr 2001 verabschiedeten Deklaration der UNESCO über kulturelle Vielfalt davon die Rede ist, die kulturelle Diversität sei ein gemeinsames Erbe der Menschheit („common heritage of humanity“) und komme als solches der biologischen Diversität in ihrer Bedeutung gleich (Art. 1). Allerdings geht daraus nicht weiter hervor, inwiefern diese Aussage dem bereits bestehenden Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit im ökologischen Sinn folgen will. Auch ist nicht ersichtlich, welche rechtliche Wirkung aus einer solchen Anknüpfung überhaupt resultieren könnte, da die kulturelle Vielfalt keine nutzbare Ressource oder umgrenzten Raum bildet, der bestimmten Nutzungsregeln unterworfen werden könnte. 84 Vgl. aber auch etwa Kap. II Art. 29 der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1974 durch GV-Res. 3281 (XXIX) verabschiedeten Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 85 Siehe insb. Art. 136 ff. Seerechtskonvention (ILM 21 [1982], 1261 ff.). Dazu etwa Barboza, in: RdC 1994-III, 291 (394 f.); Bautista Payoyo, Cries of the Sea, 165 ff.; Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (241 f.). 86 Dazu Franck, Fairness in International Law, 399 ff.; Pannatier, L’Antarctique et la protection internationale de l’environnement, 217 ff.; Tan, in: Yale Journal of International Law 2000, 145 ff.; Stocker, Prinzip des Common Heritage of Mankind, 87 ff. 87 Siehe Franck, Fairness in International Law, 401 ff.; Joyner, Governing the Frozen Commons; Pannatier, L’Antarctique et la protection internationale de l’environnement, insb. 191 ff.; Stocker, Prinzip des Common Heritage of Mankind, 66 ff. 88 Zum Begriff des „common heritage of humankind“ Anand, in: Indian Journal of International Law 1997, 1 ff.; Dolzer, in: Living Law of Nations, 331 (insb. 337 f.); Fitschen, in: United Nations, 149 ff.; Jagels-Sprenger, Grundsatz „gemeinsames Erbe der Menschheit“, insb. 49 ff.; Kewenig, in: FS Schlochauer, 385 ff; Macdonald, in: FS Bernhardt, 153 ff.; Mann Borgese, in: LA Oda, Vol. 2, 1313 ff.; Mercure, in: Canadian Yearbook of International Law 1995, 281 (285 ff.); Pannatier, L’Antarctique et la protection internationale de l’environnement, 210 ff.; Pinto, in: FS Skubiszewski, 249 ff.; umfassend Stocker, Prinzip des Common Heritage of Mankind; zur historischen Entwicklung des Konzepts Odendahl, Umweltpflichtigkeit, 252 ff.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
223
Ressourcen allgemein die Belastungen der Umwelt vermieden oder jedenfalls so gering wie möglich gehalten werden89.
bb) Insbesondere: der Bezug zum Schutz der Menschenrechte als übergreifender Aspekt der Gemeinsamkeit der Interessen beim Umweltschutz Das soeben Gesagte enthielt bereits Hinweise auf menschenrechtliche Anliegen. Der Bezug zum Schutz der Menschenrechte erweist sich denn auch bei näherer Betrachtung als herausragender Aspekt der Gemeinsamkeit der Interessen beim Umweltschutz. Die Anliegen des Schutzes der Umwelt einerseits und des Schutzes der Menschenrechte andererseits verbindet eine nahe Verwandtschaft: Die Befriedigung fundamentalster Bedürfnisse des Menschen setzt sauberes Wasser, reine Luft, fruchtbaren Boden oder eine intakte Ozonschicht voraus90, und insofern sind Umweltbedingungen zugleich menschliche Lebensbedingungen. Menschenwürdig sind Lebensumstände (unter anderem) dann, wenn ein Leben in Freiheit gewährleistet ist; darüber hinaus müssen aber auch die zum Leben notwendigen natürlichen Ressourcen in ausreichender Menge und in gesundheitlich unbedenklicher Qualität vorhanden sein. Die Bedrohung der menschlichen Gesundheit impliziert in letzter Konsequenz eine Bedrohung des menschlichen Lebens, und insofern wird durch die vielfältigen potentiellen Gesundheitsschädigungen, die von der Zerstörung der Umwelt ausgehen, ein konkreter Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Umweltschutz deutlich91. Diesen Gesichtspunkt hebt das im Jahr 1999 verabschiedete Protokoll über Wasser und Gesundheit zum Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen92 besonders hervor. Ziel dieses Protokolls ist es, das genannte Übereinkommen, welches den umweltvölkerrechtli-
___________ 89 Siehe Art. 145 Seerechtskonvention (ILM 21 [1982], 1261 ff.); Art. 3 Abs. 2 Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag (ILM 30 [1991], 1461 ff.); Art. 2 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 2, 3 Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities (ILM 27 [1988], 868 ff.); Art. 9 des Vertrags über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper (SR 0.790). 90 Zur Rolle der natürlichen Ressourcen für die Gesundheit und das Wohlergehen des Menschen etwa Hill/Targ, in: Boston College Environmental Affairs Law Review 2000, 1 (2 ff.). 91 Siehe zu den Zusammenhängen zwischen Gesundheit, Menschenrechten und dem Schutz der Umwelt Jamieson, in: IJGLS 1997, 99 ff., sowie Juss, in: IJGLS 1997, 121 ff. 92 Text des Protokolls abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
chen Bereich des Gewässerschutzes beschlägt, spezifisch mit Regeln zu ergänzen, welche die Bedeutung von Wasser (insbesondere als Trinkwasser) für die menschliche Gesundheit gewährleisten sollen. Angesichts der herausragenden Rolle, welche die Ressource Wasser auch in menschenrechtlicher Hinsicht spielt, wird auch diskutiert, ob in einer globalen „Weltwassercharta“ oder gar in einer Weltwasserkonvention ein ausdrückliches „Recht auf Wasser“ völkerrechtlich verankert werden solle93.
Auch die Zerstörung der Umwelt und somit der menschlichen Lebensgrundlagen bildet sodann einen Eingriff in Menschenrechte, der – genauso wie andere Menschenrechtsverletzungen – Fluchtbewegungen auslösen und Anlass zu Migration sein kann94. Die zuvor erwähnte Wüstenbildung und deren Folgen für die betroffene Bevölkerung bilden dabei nur ein Beispiel unter vielen anderen. Massive Umweltzerstörungen zählen auch zu den regelmäßigen Auswirkungen kriegerischer Ereignisse95. Gerade in den Entwicklungsländern zeigt sich zudem nach wie vor, dass zwischen Problemen des Umweltschutzes und solchen der wirtschaftlichen Entwicklung enge Zusammenhänge bestehen, wobei Unterentwicklung und Umweltzerstörung einen eigentlichen Kreislauf von Ursache und Wirkung bilden96. Die Zielsetzungen der Bekämpfung der Umweltzerstörung und der Bekämpfung der Armut decken sich hier oftmals97. Bei den untrennbar verbundenen98 Anliegen des Schutzes der Umwelt und der Menschenrechte geht es um grundlegende Interessen der Menschheit, die folglich von allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft geteilt werden. Die Gemeinsamkeit der entsprechenden Interessen äußert sich darin, dass sowohl für den Menschenrechtsschutz als auch für den Umweltschutz letztlich das fundamentale Recht auf Leben99 als eigentliche rechtliche Grundlage betrachtet ___________ 93
Hierzu etwa Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (112 ff.); Smets, in: Environmental Policy and Law 2000, 248 ff. 94 Vgl. etwa bereits den Schlussbericht der Sonderberichterstatterin Zohra Ksentini der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1994, Ziff. 154160 (Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities; ECOSOC, Dokument Nr. E/CN.4/Sub.2/1994/9). Siehe außerdem die Nachweise zuvor in Fn. 75. 95 Dazu Drumbl, in: Fordham International Law Journal 1998, 122 (123); Falk, in: Revue belge de droit international 1973, 1 ff.; Schmitt, in: AVR 1999, 25 ff. 96 Vgl. bereits Ziff. 4 der Präambel zur Stockholm-Deklaration der im Jahr 1972 abgehaltenen Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen. 97 Siehe Gillespie, International Environmental Law, Policy and Ethics, 174 f.; vgl. außerdem etwa Bass/Bigg/Bishop/Tunstall, in: RECIEL 2006, 39 ff. 98 Siehe etwa Kiss, in: Environmental change and international law, 199 (199). Vgl. auch die ebenso knappe wie treffende Bemerkung von Richter Weeramanty in seiner „separate opinion“ zum Gabcíkovo-Nagymaros-Fall, Kap. B.(b), abgedruckt in ILM 1998, 162 (215): „Environmental rights are human rights.“ 99 Siehe bspw. Art. 6 Abs. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 2 Abs. 1 EMRK.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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werden kann100. Deutlich macht den Zusammenhang zwischen Umweltschutz und Menschenrechten auch etwa Art. 24 Abs. 2 Bst. c des Übereinkommens über die Rechte des Kindes101, wonach die Vertragsstaaten bei der Verwirklichung des kindlichen Rechts auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit im Rahmen der gesundheitlichen Grundversorgung unter anderem die Gefahren und Risiken der Umweltverschmutzung zu berücksichtigen haben102. Die Auswirkungen von Umweltzerstörungen können auch einem Eingriff in völkerrechtlich garantierte wirtschaftliche und soziale Rechte gleichkommen, so in den Anspruch auf Gesundheit und Wohlbefinden, welcher durch Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert und in verschiedenen Übereinkommen103 konkretisiert wird. Auch können sich aus verschiedenen spezifischen, völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten rechtliche Ansprüche mit direktem Umweltbezug ergeben104. Die spezifische Bedeutung, die bestimmten Menschenrechten für die Bewahrung einer gesunden Umwelt zukommen kann, zeigt sich ganz konkret im Rahmen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf einzelne Garantien der EMRK105. Die EMRK schreibt zwar keine eigenständige Garantie einer gesunden Umwelt fest; indessen können die Bewahrung einer gesunden Umwelt im Allgemeinen oder der Schutz bestimmter einzelner Umweltmedien in bestimmten Fällen notwendige Voraussetzungen für die Verwirklichung der in der Konvention verankerten Rechte bilden106.
___________ 100
Vgl. Cançado Trindade, in: Environmental change and international law, 244 (271 ff.); Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, 47 ff., m.w.N. Dass das Recht auf Leben als grundlegendstes aller Menschenrechte durch die Schädigung oder dauerhafte Zerstörung der Umwelt akut gefährdet sein kann, bedarf angesichts der heute bestehenden Risiken und nach vielen entsprechenden Erfahrungen (erinnert sei nur an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder an die Chemieunglücke in Seveso und Bhopal) keiner weiteren Erläuterung. 101 SR 0.107. 102 Hierzu Jansen, in: Right of the Child to a Clean Environment, 209 ff. 103 Siehe etwa Art. 12 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Art. 24 Übereinkommen über die Rechte des Kindes; Art. 11 Europäische Sozialcharta. Zum Zusammenhang zwischen Umweltschutz und Bewahrung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte allgemein Sands, Principles of International Environmental Law, 297 ff. 104 Einen allgemeinen Überblick zu umweltbezogenen Rechten in menschenrechtlichen Übereinkommen gibt Churchill, in: Human Rights Approaches to Environmental Protection, 89 ff. Siehe ferner auch Beyerlin, in: ZaöRV 2005, 525 ff. 105 Hierzu umfassend Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, 55 ff. Vgl. außerdem im Einzelnen Beyerlin, in: ZaöRV 2005, 525 (528 f.); Calliess, in: ZUR 2000, 246 (249 ff.); Déjeant-Pons, in: FS Eissen, 79 ff.; Desgagné, in: AJIL 1995, 263 ff.; Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 164 ff.; Kley-Struller, in: EuGRZ 1995, 507 ff.; Rest, in: NuR 1997, 209 ff.; Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (74 ff.); ders., in: FS Roellecke, 245 (255 f.); Wildhaber, in: Umwelt, Wirtschaft und Recht, 149 (151 ff.). 106 Im Vordergrund steht hier das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Diesem kommt gemäß der Rechtsprechung der Kon-
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
2. Soziale Grundlagen der Gemeinwohlorientierung des Völkerrechts Aus dem Bestehen gemeinsamer Interessen ergeben sich Schlüsse in Bezug auf das soziale Substrat, das die Basis einer konstitutionellen Vergemeinschaftung auf der Ebene des Völkerrechts bilden könnte.
a) Tatsache und Bewusstsein sozialer Beziehungen zwischen Staaten Die Gemeinsamkeit von Interessen ist ein wichtiger Grund für das Bestehen von sozialen Beziehungen; dies gilt auch in internationalen Belangen. Dabei scheint heute angesichts der bestehenden und – gerade im Prozess der Globalisierung107 – weiter zunehmenden Interdependenzen zwischen den Staaten108 die Bewusstwerdung gemeinsamer Interessen in der internationalen Gemeinschaft ein bisheriges Höchstmaß erreicht zu haben109. An dieser grundsätzlichen Feststellung vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass in Bezug auf den konkreten Inhalt oder die Verwirklichung eines spezifischen Interesses die Meinungen unter den Beteiligten stark auseinandergehen können110. ___________ ventionsorgane in Fällen mit Umweltbezug die Rolle einer Immissionsschutzgarantie zu, sofern erhebliche Beeinträchtigungen der Privat- und Familiensphäre der Betroffenen auf dem Spiel stehen. Diesbezüglich besteht eine mittlerweile umfangreiche Rechtsprechung; s. hierzu die soeben genannte Literatur. Unter den sonstigen von der EMRK gewährleisteten Rechten, die im Zusammenhang mit Umweltbeeinträchtigungen potentiell eine Rolle spielen können, sind die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK besonders zu nennen. Aus diesen kann ein indirekter verfahrensrechtlicher Schutz von Umweltanliegen resultieren, indem sie (sofern es um zivil- oder strafrechtliche Belange im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK geht) auch bei Verfahren mit Umweltbezug zum Tragen kommen; s. diesbezüglich Kley-Struller, in: EuGRZ 1995, 507 (509 f.), sowie ders., in: EuGRZ 1999, 177 (178 ff.). 107 Vgl. Jouanjan, in: EuGRZ 2004, 362 (370), wonach durch das Phänomen der Globalisierung der „territoriale Rahmen der sozialen Beziehungen“ relativiert werde. Zum Verhältnis von Globalisierung und zwischenstaatlicher Interdependenz auch Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (38 ff.). 108 Inwiefern derartige Interdependenzen die sozialen Beziehungen im internationalen Rahmen bestimmen, macht Zemanek, in: EPIL, Vol. II, 1021 (1021), deutlich: „Interdependence is primarily a social phenomenon. On the international level the term describes the fact that States are mutually dependent on each other in ensuring the subsistence and advancement of their nations.“ Allgemein zu den Gründen, aber auch zu den Grenzen der zunehmenden zwischenstaatlichen Interdependenzen bspw. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 55 ff. Zu spezifischen Interdependenzen im Bereich der natürlichen Lebensgrundlagen Perrez, Cooperative Sovereignty, 115 ff. 109 Vgl. etwa Franck, Fairness in International Law and Institutions, 11 ff. 110 Wie sich etwa bei internationalen umwelt- sowie entwicklungspolitischen Verhandlungen regelmäßig zeigt. Beispielhaft sind hier die Schwierigkeiten bei der Entwicklung des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes; dazu noch ausführlich im 4. Kap., C. II. und III.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Die reale Möglichkeit einer Überlagerung individueller durch gemeinsame Interessen ergibt sich schon aus der bloßen Tatsache, dass der Einzelne (sei es ein Individuum oder ein Staat) nicht alleine ist, sondern in der Regel – die bezogen auf die Ebene der Staaten ohne jede Ausnahme ist – in der Gesellschaft anderer, die gleiche oder ähnliche Interessen teilen. Insofern bilden gemeinsame Interessen die Grundlage einer Gesellschaft, und eine „gesellschaftliche“ Betrachtungsweise kann auch auf das von der Gemeinsamkeit bestimmter Interessen geprägte Nebeneinander der Staaten angewandt werden111. Philip Allott spricht in seiner Philosophie des Völkerrechts in diesem Zusammenhang von der internationalen Gesellschaft der gesamten Menschheit, von der „society of all societies“112. Die zunehmende Durchdringung des Völkerrechts durch Bezeugungen der Gemeinsamkeit der Interessen lässt sich als allmähliche Herausbildung eines sozialen Bewusstseins hinsichtlich der internationalen Rechtsordnung verstehen113. Dabei spielt das Recht insofern eine zentrale Rolle, als es (neben allen sonstigen Faktoren, die der Bewusstseinsbildung im Hinblick auf das Erkennen der gemeinsamen Interessen dienen114) in einer Gesellschaft am konkretesten die Bestimmung und auch die Verwirklichung des gemeinsamen Interesses ermöglicht115.
b) Internationale Gemeinschaft als soziales Konzept Die Betrachtung des gesellschaftlichen Ganzen im Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen ist im Völkerrecht bereits seit längerem116 mit dem ___________ 111
Zu gemeinsamen Interessen als Grundlage einer Gesellschaft und insbesondere auch der Gesellschaft der internationalen Gemeinschaft Allot, in: EJIL 1999, 31 (insb. 36 ff., 50); Arend, Legal Rules and International Society, 191 f., unter Hinweis auf Bull, Anarchical Society, 13. Ansätze zu einer solchen Sichtweise lassen sich bereits in der Völkerrechtstheorie Georg Jellineks am Ausgang des 19. Jahrhunderts beobachten; s. dazu von Bernstorff, Glaube an das universale Recht, 30 f. 112 Siehe Allott, Eunomia, 3 f., 117 ff., sowie ders., in: EJIL 1999, 31 (31, 32). 113 Siehe Simma, in: RdC 250 1994-VI, 217 (234). 114 Allott, in: EJIL 1999, 31 (36), nennt die Bereiche der Informationsvermittlung sowie ganz grundlegend des Bildungssystems. 115 Ebd.; vgl. auch ders., in: IJGLS 1998, 331 ff. Zum Verhältnis zwischen der Gemeinsamkeit von Interessen und rechtlicher Regelung auch Arend, Legal Rules and International Society, 192. Siehe aber auch Simma/Paulus, in: EJIL 1998, 266 (267 f.), wonach das Vorhandensein von Recht allein als Kitt einer Gemeinschaft nicht ausreiche, sondern insbesondere auch ein gesellschaftlicher Konsens zur Befolgung der rechtlichen Regeln notwendig sei. 116 Verdross, Quellen des universellen Völkerrechts, 14 f., wies sogar darauf hin, dass der Gedanke der internationalen Gemeinschaft bereits im Mittelalter das „ius gentium“ geprägt habe, wobei die Erhaltung des Friedens das die Völker verbindende Interesse
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Konzept der „internationalen Gemeinschaft“ verbunden117. Die Verwendung des Begriffs erfolgt heute für sämtliche Bereiche des Völkerrechts in der jeweiligen Literatur geradezu gewohnheitsmäßig, wenn es darum geht, die Gesamtheit der Staaten und der weiteren völkerrechtlichen Subjekte zu benennen, welche die Beteiligten der internationalen Ordnung sind. Rückgriffe auf den Begriff sind auch in der völkerrechtlichen Praxis zahlreich118. So hat der Internationale Gerichtshof wiederholt an den Begriff angeknüpft; hervorzuheben ist darunter119 insbesondere die Unterscheidung zwischen Verpflichtungen gegenüber einzelnen Staaten und solchen gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Gesamtheit („towards the international community as a whole“) im „obiter dictum“ zum sog. „Barcelona Traction“-Fall120. Von besonderer Bedeutung ist außerdem die wiederholte Bezugnahme auf die internationale Gemeinschaft in der Präambel des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs121 („determined [...] to establish an independent International Criminal Court in relationship with the United Nations system, with jurisdiction over the most serious crimes of concern to the international community as a whole“). Der Hinweis auf die Tragweite der zu verfolgenden Verbrechen für die gesamte internationale Gemeinschaft impliziert, dass sämtliche Mitglieder dieser Gemeinschaft in das zu schaffende völkerstrafrechtliche System eingebunden sein müssen, sollen die Bemühungen um eine entscheidende Stärkung des humanitären Völkerrechts tatsächlich erfolgreich sein.
Ebenso häufig ist zudem der Appell der Öffentlichkeit an die internationale Gemeinschaft in politischen Situationen von großer Dringlichkeit, in denen sozusagen das Eingreifen einer höchsten internationalen Instanz gefordert erscheint122. Es stellt sich aber die Frage, ob der Begriff einen rechtlichen Gehalt aufweise oder ob es sich lediglich um ein rhetorisches Konstrukt von bloßem politischem Wert handle123. ___________ gebildet habe. Der Begriff und die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft haben sich dabei über die Jahrhunderte hinweg entsprechend den politischen Veränderungen laufend gewandelt, wie Abi-Saab, in: FS Wang Tieya, 31 ff., ausführt. 117 Zum Begriff der internationalen Gemeinschaft grundlegend Paulus, Internationale Gemeinschaft, 9 ff.; außerdem etwa Lachs, in: Mélanges Virally, 349 ff.; Mosler, in: RdC 1974-IV, 1 ff.; Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (569 f.); Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (243 ff.); Simma/Paulus, in: EJIL 1998, 266 ff.; Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (219 ff., 232 ff.); ders., in: AVR 1995, 1 ff.; ders., in: RdC 1999, 9 (72 ff.). Siehe außerdem Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 19 f., wonach in der internationalen Gemeinschaft die Gemeinschaftsbezogenheit des Völkerrechts zum Ausdruck komme. 118 Siehe die Hinweise bei Tomuschat, in: AVR 1995, 1 (1 ff.). 119 Vgl. außerdem auch ICJ Reports 1949, 185, sowie ICJ Reports 1980, 43, Para. 92; zu beidem Paulus, Internationale Gemeinschaft, 2. 120 ICJ Reports 1970, 32, Para. 33 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Paulus, Internationale Gemeinschaft, 369 ff. 121 ILM 37 (1998), 1002 ff. 122 Vgl. auch Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (569). 123 Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (232); ders., in: RdC 1999, 9 (72 f.).
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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In allgemeiner Weise kommt im Begriff der internationalen Gemeinschaft zunächst schlicht die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit insbesondere der Staaten als hauptsächliche Akteure im internationalen Rahmen zum Ausdruck. Die Bereitschaft der Beteiligten zur Kooperation untereinander bildet letztlich eine Grundlage des neuzeitlichen Völkerrechts überhaupt124. Dabei stützt sich diese Bereitschaft wiederum auf die bereits angesprochene Einsicht, dass gemeinsame Interessen bestehen, welche sich im Alleingang nicht oder zumindest in weniger erfolgversprechender Weise verwirklichen lassen. Ingrid Detter hat die Frage aufgeworfen125, ob überhaupt von einer „internationalen Gemeinschaft“ die Rede sein könne, und ob nicht vielmehr lediglich der Begriff „internationale Gesellschaft“ verwendet werden solle, um den Organismus der internationalen Beziehungen zu bezeichnen. Angesichts der realen Differenzen unter den Mitgliedern der internationalen Gesellschaft sei ein Begriff, der eine äußerst enge Bindung von Individuen auf der Basis friedlicher, freundschaftlicher Beziehungen und allseits geteilter gemeinsamer Werte impliziere, nicht wirklich angemessen. Diese Sichtweise beruht sicherlich auf berechtigter Skepsis. Es kann ihr andererseits (abgesehen von Zweifeln an der semantischen Unterscheidbarkeit der beiden Begriffe126) entgegengehalten werden, dass es gerade die Tatsache ist, dass die internationale Gesellschaft durch gemeinsame Anliegen von existentieller Bedeutung zusammengeschweißt wird, die auch das Bild einer Gemeinschaft evoziert. Letztlich ist es die in vielfältiger Weise manifeste Verletzlichkeit des Menschen, die über alle trennenden Belange hinaus auch auf der Ebene internationaler Beziehungen eine (Schicksals-)Gemeinschaft entstehen lässt. Die „internationale Gemeinschaft“ lässt sich damit als Größe verstehen, die nicht nur die Staaten als Einheiten politischer Organisation umfasst, sondern in
___________ 124 Was auch in der zentralen Bedeutung des Kooperationsprinzips für das Völkerrecht zum Ausdruck kommt. So stellt die Pflicht zur Kooperation heute ein allgemeines Prinzip des Völkerrechts dar, das in einer Vielzahl völkerrechtlicher Quellen statuiert wird; Beispiele sind hier Art. 1 Abs. 3 UNO-Charta sowie etwa die Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (GV-Res. 2625 [XXV] vom 24.10.1970). Für den Bereich des Umweltvölkerrechts sind die Nennungen des Prinzips in Grundsatz 24 Stockholm-Deklaration sowie in Grundsatz 27 Rio-Deklaration grundlegend. Zur Entwicklung des Völkerrechts zur globalen Kooperationsordnung vorne, 1. Kap., C. 125 Siehe Detter, Concept of International Law, 24 f. Die Frage kann allerdings auch in die politologische und soziologische Diskussion der internationalen „Gemeinschaft“ bzw. „Gesellschaft“ zurückverfolgt werden; vgl. dazu die Ausführungen von Paulus, Internationale Gemeinschaft, 45 ff. 126 Die auch Detter, Concept of International Law, 25 (Fn. 127), selbst einräumt.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
letzter Konsequenz die gesamte Menschheit127. Dabei ist der Begriff der internationalen Gemeinschaft auch in rechtlichen Konzepten enthalten, die (wie jene des „common concern of humankind“ sowie des „common heritage of humankind“) mit der begrifflichen Kategorie der „Menschheit“ bestimmte normative Wirkungen verknüpfen128. Einen weiterführenden Hinweis auf einen konkreten rechtlichen Gehalt des Begriffs gibt Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention129. Dieser bestimmt, dass völkerrechtliche Verträge, die gegen zwingendes Völkerrecht verstoßen, nichtig sind, und bezeichnet dabei die Annahme und Anerkennung einer Norm durch die internationale Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit als Voraussetzung deren zwingenden Charakters. Hinter dieser Regel steht der in Bezug auf die Kriterien des „ius cogens“ allgemein anerkannte Gedanke, dass bestimmte grundlegende Werte allen Staaten gemeinsam sind und daher universelle Geltung beanspruchen, und dass den rechtlichen Grundsätzen, in denen diese Werte normativen Niederschlag finden, demnach gegenüber allen anderen Normen und Verhaltensweisen Vorrang zugemessen werden muss130. Dies impliziert (bzw. Art. 53 VRK geht mit der Bezugnahme auf den Begriff der internationalen Gemeinschaft ausdrücklich von dieser Annahme aus) außerdem, dass auch auf der internationalen Ebene ein Organismus vorhanden sei, dessen Existenz sich (unter anderem) dadurch äußert, dass seine Mitglieder bestimmten Werten und (darauf aufbauend) Rechtsregeln eine absolute Geltungskraft beimessen. Wenn auch nicht in Bezug auf die spezifische Ausgestaltung und Funktionsweise, so doch hinsichtlich der Bedeutung des Kollektivs für die Entstehung allgemeingültiger Normen ist der Organismus „internationale Gemeinschaft“ auf der zwischenstaatlichen Organisationsebene somit mit dem Volk in seiner Rolle als Ursprung jener Normen vergleichbar, die für die beteiligten Individuen auf der nationalstaatlichen Ebene gelten131.
___________ 127 Siehe auch Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (234). Dies kommt auch in der bereits zitierten Aussage von Philip Allott bezüglich der internationalen Gesellschaft zum Ausdruck, diese sei die Gesellschaft der gesamten Menschheit, die „society of all societies“; Allott, Eunomia, 3 f., 117 ff., sowie ders., in: EJIL 1999, 31 (31, 32). 128 In dieser Richtung auch Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (226 f.), sowie ders., in: AVR 1995, 1 (5 f.). 129 Vgl. zu diesem Aspekt Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (222 ff., 232); ders., in: AVR 1995, 1 (1 f.). 130 Vgl. dazu die Nachweise im 1. Kap., C. II. 1. 131 Ähnlich Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (234 f.).
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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II. Die inhaltliche Bestimmung des „Gemeinwohls“ als Grundproblem der Gemeinwohlorientierung 1. Einführung zur Veranschaulichung: Bedeutung und Bestimmungsfragen des Gemeinwohls auf der Ebene des demokratischen Verfassungsstaats Die Orientierung an einem gemeinsamen Wohl ist zunächst eine Vorstellung, die sich – in einem nach innen gewandten Sinn – auf die gesellschaftliche Organisationsform des Staates richtet. Demgegenüber bildet die Idee eines Gemeinwohls, das Staatsgrenzen transzendiert, das Resultat einer jüngeren Entwicklung132. Auch in diesem Zusammenhang ist – wie schon hinsichtlich des Verfassungsbegriffs – nicht davon auszugehen, dass sich der Begriff und das damit verbundene Konzept ohne Weiteres von der einen auf die andere Ebene übertragen lassen. Ebenso gilt aber wiederum, dass die Rolle, welche der Topos im staatlichen Kontext spielt, dem Betrachter einen Einblick in grundlegende Fragestellungen vermittelt.
a) Begriffliche und konzeptionelle Grundlagen Der Begriff des Gemeinwohls133 als gemeinsame Ziele oder Werte umfassender Zweck, zu dessen Verwirklichung bestimmte Individuen eine (staatliche) Gemeinschaft eingegangen sind, lässt sich bis zur antiken Polis des Aristoteles zurückverfolgen. Die Verfassung eines Gemeinwesens hat nach der aristotelischen Auffassung dem Glück der als Gemeinschaftsmitglieder berechtigten Individuen zu dienen134. Dabei ist der Polis eigen, dass die Beteiligten ihr Glück ___________ 132
Zwar lassen sich philosophisch fundierte Gemeinwohlvorstellungen, die von einem universell gültigen Wohl der Menschheit ausgehen, bereits in der frühklassischen Völkerrechtslehre finden. Deren Bedeutung für die Staatenpraxis blieb aber äußerst gering. Vgl. dazu das 1. Kap. 133 Zum Begriff s. allgemein etwa Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 5 ff., 49 ff.; von Arnim/Brink, Methodik der Rechtsbildung, 53 ff.; Häberle, in: Rechtstheorie 1983, 257 (268 ff.); Hofmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. III, 25 ff.; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (4 ff.); ders., in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 95 (104 ff.); Kerber/Schwan/Hollerbach, in: Staatslexikon, Bd. 2, Sp. 857 ff.; Koller, in: Rechtsphilosophische Kontroversen der Gegenwart, 115 ff.; Mastronardi, Verfassungslehre, 293 ff.; Petrella, Bien commun, 16 f.; Schultze, in: Lexikon der Politik, Bd. 1, 137 ff.; Schuppert, Staatswissenschaft, 215 ff.; Schwemmer, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, 729 ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie, 192 ff.; ders., in: Gemeinwohl – Bien commun, 3 ff.; Stolleis, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, Sp. 1061 ff. Insbesondere zur historischen Entwicklung des Begriffs Cheneval, in: Gemeinwohl – Bien commun, 15 ff.; Fisch, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 43 ff. 134 Vgl. Böckenförde, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. III, 43 (47); Schultze, in: Lexikon der Politik, Bd. 1, 137 (137 f.).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nicht mehr alleine im Bereich des Privaten suchen, sondern dieses Glück ist nurmehr in der gemeinsamen (und daher staatlichen) Sicherung des besonderen Guts Gemeinwohl erreichbar. Die Verwirklichung des Gemeinwohls hängt dabei auch von der Mitwirkungsmöglichkeit des einzelnen Individuums kraft bestimmter Rechte (wie auch Pflichten) ab. Diese Mitwirkung beschränkt sich in der aristotelischen Gemeinwohlkonzeption jedoch auf das Streben nach dem Gemeinwohl, während dessen Inhalt objektiv vorgegeben ist: Die Gemeinschaftsmitglieder sind berechtigt, am Gemeinwohl teilzuhaben, sie haben sich aber auch dem Gedanken eines bereits vorbestimmten allgemeinen Wohls unterzuordnen. Eine derartige „apriorische“ Vorstellung vom Wesen des Gemeinwohls kann in einem pluralistischen, demokratisch verfassten Gemeinwesen ganz offensichtlich keinen Raum haben135. Die Begriffe des Gemeinwohls und der Gemeinschaft sind hier nicht nur dadurch miteinander verbunden, dass die Gemeinschaft es erlaubt, nach (vorbestimmten) Zielen zu streben, welche die Einzelnen aus eigener Kraft nicht zu erreichen vermögen. Denn zugleich kann auch die Frage, worin das gemeinschaftliche Wohl im Konkreten bestehe, nur im politischen Konsens der Gemeinschaftsglieder geklärt werden. In der Bestimmung der spezifischen Gemeinwohlgehalte des Gemeinwesens liegt dabei die „politische Grundfrage“136 überhaupt, die letztlich sämtliche Belange des öffentlichen Lebens betrifft. Diese kann je nach den historischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen137. Die Einschätzung, das Gemeinwohl sei eine „Sache des ganzen Gemeinwesens im Unterschied zu den Sonder- und Eigenbelangen seiner Glieder, sowohl der Individuen als auch der Gruppen“138, verweist auf die Pluralität des gesellschaftlichen Hintergrunds139, vor dem sich die inhaltliche Frage stellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Individualisierung und Pluralisierung140 der Gesellschaft heute in zunehmendem Maß zu einer Diversifizierung gesellschaftlicher Inte___________ 135
Vgl. etwa Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 431: Danach werde das Gemeinwohl in verfassungsstaatlichen Demokratien „nicht als präexistentes, nur aufzufindendes gedacht, sondern als Produkt konstitutionell verankerter Verfahren und als täglich neue Umsetzung der in den grundlegenden Staatszielbestimmungen formulierten Orientierungspunkte (Sozialstaat, Umweltschutz, Gleichheitsprinzip, Grundrechte als Staatsaufgaben)“. 136 Baruzzi, Politische Philosophie, 117. 137 Vgl. Brugger, in: FS Quaritsch, 45 (48). Zur Wandelbarkeit des Gemeinwohlverständnisses auch noch sogleich, b). 138 Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (11). 139 Siehe zum Folgenden auch Scheyli, Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie, 17 ff. 140 Vgl. für einen repräsentativen Überblick zu entsprechenden gesellschaftlichen Diagnosen etwa Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft, 110 ff.; Volkmann, Solidarität, 7 ff., m.w.N.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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ressenlagen und politischer Konzeptionen führt141. Die Verständigung über gemeinsame Werte und damit auch die Entscheidung darüber, was als Gemeinwohl anzusehen sei, werden damit nicht einfacher, können sie doch in einer Demokratie nur in einem ständigen, offenen Prozess unter aktiver Mitwirkung aller autonomen Interessengruppen erfolgen142. Demokratie setzt als notwendigen Grundkonsens voraus, dass die Geltung der herrschenden Rechtsordnung auf der „elementaren Zustimmung aller“ beruht143. Entsprechend richtet sich denn auch an den demokratischen politischen Prozess die Erwartung, dass „alle Betroffenen gleiche Chancen haben, ihre Ansprüche auf Selbstbestimmung und Mitgestaltung des Gemeinwesens wirksam geltend zu machen“144. Dabei schließt die Bereitschaft zur Orientierung am gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohl keineswegs die Verfolgung persönlicher Interessen durch das einzelne Individuum aus; – sondern die Aufgabe von Partikularinteressen ist nur soweit verlangt, als dies ein sinnvoller Ausgleich zwischen Eigeninteressen einerseits und den gemeinsamen Interessen innerhalb der betreffenden Gemeinschaft andererseits erfordert. Selbstlosigkeit ist somit nicht notwendigerweise ein Charaktermerkmal des dem Gemeinwohl verpflichteten Individuums145. Das Verhältnis des Gemeinwohls zu den Privatinteressen der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen ist demnach ein zweifaches: Einerseits besteht sein Wesen gerade darin, den vielfachen Einzelinteressen übergeordnete gemeinsame Werte und Ziele zum Ausdruck zu bringen und damit dem gesellschaftlichen Ganzen, der Gemeinschaft, zu dienen. Andererseits aber kann das Gemeinwohl auch nicht unabhängig von den Partikulärinteressen bestehen, bildet doch deren Artikulierung die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass im politischen Diskurs überhaupt eine Annäherung an die inhaltliche Bedeutung des Gemeinwohls stattfinden kann146. Denn im demokratischen Verfassungsstaat erfolgt die Bestimmung des Gemeinwohls im demokratischen Diskurs der Bürgerinnen und Bürger, dies im Gegensatz zu einer obrigkeitsstaatlichen Ord___________ 141 Vgl. Fijalkowski, in: FS Fijalkowski, 147 (147); Mastronardi, in: ZSR NF 1998 II, 317 (353). 142 Siehe bspw. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 324; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (34, 39 f.); ders., in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 95 (107 f.). Zur Bedeutung von Argumentation und Kommunikation als Strukturbedingung der Orientierung am Gemeinwohl Busshoff, Gemeinwohl als Wert und Norm, 29 ff. 143 Zu diesem Grundkonsens Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 23 ff. Vgl. dazu auch Tschentscher, in: recht 2005, Sonderheft, 31 (32 f.). 144 Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 94. 145 Vgl. in diesem Zusammenhang Heintzen, in: VVDStRL 2003, 220 (238), wonach „zwischen Gemeinwohl und der enger gefassten, durch das Merkmal der Selbstlosigkeit konstituierten Gemeinnützigkeit (…)“ zu unterscheiden sei. 146 Vgl. Hösle, Moral und Politik, 909.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nung, in der autoritativ bestimmt wird, was zum Wohle aller sei147. Die Bestimmung des Gemeinwohls ist insofern im demokratischen Verfassungsstaat wesentlich an die institutionalisierten Entscheidungsverfahren gekoppelt148.
b) Berufung auf das Gemeinwohl als Garantie materieller Gerechtigkeit? Es fragt sich allerdings, ob mit der Berufung auf das Gemeinwohl von vornherein auch ein erhöhter Gerechtigkeitsgedanke verbunden ist. Gerade totalitäre Systeme haben sich in der Vergangenheit dadurch ausgezeichnet, dass sie in ausgeprägter Weise Rekurs auf den Gemeinwohlbegriff genommen haben149; so bildete die Formel „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ ein zentrales Rechtsprinzip des Dritten Reiches150. Indessen finden sich auch in demokratisch konstituierten Verfassungsstaaten Beispiele für Missbräuche des Gemeinwohlkonzepts. So zeigt die Verfassungsgeschichte der USA, dass der Supreme Court in einem Urteil aus dem Jahr 1896 die Praxis der Rassensegregation auf das gesellschaftliche Gemeinwohl abstützte151. Im entsprechenden Fall (Plessy vs. Ferguson152), welcher die Grundlage für die sogenannte „separate but equal“-Doktrin bildete153, hatte der Gerichtshof die Frage zu entscheiden, ob die von einem Gesetz des Staates Louisiana vorgesehene Trennung von Weißen und Farbigen bei der Beförderung mit der Eisenbahn verfassungsmäßig sei.
___________ 147
Müller, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 621 (638). Zur Bedeutung verfahrensmäßiger Willensbildungsprozesse für das verfassungsstaatliche Gemeinwohlkonzept bspw. von Arnim/Brink, Methodik der Rechtsbildung, 64 ff. 149 Zum ideologischen Missbrauch des Gemeinwohlbegriffs durch totalitäre Systeme, insb. den Nationalsozialismus, etwa Fisch, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 43 (51 f.); Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3 (5); umfassend Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. 150 Siehe Fisch, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 43 (51). Die Anrufung des Gemeinwohls findet sich außerdem im Begriff der „Volksgemeinschaft“, deren (angeblichen) Interessen die nationalsozialistische Ideologie einen absoluten Vorrang gegenüber sonstigen (kollektiven oder individuellen) Interessen zusprach; vgl. hierzu Majer, Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte, 5 ff., sowie dies., Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, 117 ff.; umfassend Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. Die Konsequenz dieser Gemeinwohlideologie für jene, die sich ihr verweigerten oder als der betreffenden „Gemeinschaft“ unwürdig betrachtet wurden, ist am Eingangstor zum Konzentrationslager Buchenwald in die Worte gefasst: „Jedem das Seine.“ 151 Zum Folgenden s. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, 41 ff., 174. 152 163 U.S. 537 (1896). 153 Vgl. hierzu Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 128 f.; Nowak/Rotunda, Constitutional Law, 648 ff.; Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court, 52 ff.; Sunstein, Partial Constitution, 42 ff. 148
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Das Gesetz bestimmte, die Eisenbahngesellschaften hätten für Passagiere weißer und farbiger Hautfarbe zwar gleichwertige, aber unterschiedliche Zugsabteile bereitzustellen. Verstöße gegen die an die Passagiere gerichtete Vorschrift, diese getrennten Abteile zu benützen, waren außerdem mit strafrechtlichen Folgen bedroht. Der spätere Kläger Plessy, ein Bürger dunkler Hautfarbe, hatte sich dieser Anordnung widersetzt und war bestraft worden. Der Supreme Court hatte sich in der Folge unter anderem mit der Frage zu befassen, ob das fragliche Gesetz gegen das 14. Verfassungsamendment verstoße, das die Gleichheit der Rassen vor dem Gesetz festschreibt. Die Mehrheit des Gerichts verneinte dies mit dem Hinweis auf die Zweckmäßigkeit bestimmter Bestimmungen zur Segregation der Rassen. Eine solche sei dann gegeben, wenn das fragliche Gesetz nicht die Unterdrückung einer bestimmten Klasse bezwecke, sondern vielmehr die Förderung des gesellschaftlichen Gemeinwohls. Im Hinblick auf die Beurteilung wiederum, ob und inwieweit ein Gesetz auf das Gemeinwohl hinziele, räumte das Gericht der Legislative einen beträchtlichen Spielraum ein. Die Frage nach dem Inhalt des Gemeinwohls sei im Rückgriff auf die etablierten Sitten und Traditionen und im Hinblick auf die Erhaltung des Friedens und der öffentlichen Ordnung zu beantworten, wozu in bestimmten Lebensbereichen auch die Trennung der Rassen gehören könne154.
Deutlich wird mit diesem Entscheid des US-Supreme Court einerseits, dass der Inhalt des Gemeinwohls eine Frage der gesellschaftlichen Einschätzung bildet, die freilich wiederum historisch wandelbar ist. Andererseits zeigt sich, dass die Berufung auf das Gemeinwohl dann missbräuchlich sein kann, wenn sie den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen impliziert. Mit anderen Worten konnte der Supreme Court nur darum zur Prämisse gelangen, die Institution der Rassentrennung wirke sich zugunsten des Gemeinwohls aus, indem er einen Gemeinwohlbegriff anwandte, der weit überwiegend auf die angeblichen Interessen der weißen Bevölkerungsmehrheit abstellte. Die mit diesem Urteil anerkannte „separate but equal“-Doktrin hatte tiefgreifende Folgen, bildete sie doch bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Grundlage für die Rassentrennung in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens in den Südstaaten. Erst im Jahr 1954 stellte sich die entscheidende Kehrtwendung ein, indem der Supreme Court die Untauglichkeit der Rassentrennung zur Förderung des Gemeinwohls feststellte155, womit der Gemeinwohlbegriff auf gesamtgesellschaftliche Grundlagen gestellt wurde156.
Das Verhältnis zwischen Gemeinwohlkonzept und materieller Gerechtigkeit kann ferner auch dann Zweifeln unterworfen sein, wenn zwar kein eigentlicher Missbrauch vorliegt, aber immerhin die Wahl des konkreten Gerechtigkeitsmaßstabs auf dem Spiel steht. So bezieht sich ein weiteres wichtiges Beispiel aus der Rechtsprechungsgeschichte zum US-amerikanischen Verfassungsrecht, ___________ 154
Siehe 163 U.S. 537, 550 f. (1896). Urteil des Supreme Court im Fall Brown vs. Board of Education; 347 U.S. 483 (1954). Hier ging es um die Frage, ob der Ausschluss farbiger Schulkinder von bestimmten Schulen verfassungsmäßig sei, was der Supreme Court nunmehr unter Berufung auf das Gleichheitsgebot des 14. Amendments verneinte. 156 Vgl. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, 174 f. 155
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
das den Wandel des höchstrichterlichen Gemeinwohlverständnisses widerspiegelt, auf die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von wirtschaftslenkenden Gesetzen mit sozialpolitischer Stoßrichtung157. Der Fall Lochner vs. New York158 aus dem Jahr 1905 bildete die Basis für eine Rechtsprechung des Supreme Court, welche gesetzliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit, die einen Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder von sozial Schwächeren bezweckten, regelmäßig mit der Begründung als verfassungswidrig erklärten, diese Einschränkung der Freiheitsrechte sei nicht durch das öffentliche Interesse bzw. durch das Gemeinwohl gerechtfertigt. Im genannten Fall ging es um die Frage, ob die durch ein Gesetz des Bundesstaats New York vorgesehene Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit von Bäckern auf höchstens zehn Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich gegen die im 14. Amendment159 enthaltene Vertragsfreiheit verstoße. Der die Mehrheitsmeinung des Gerichts referierende Richter hielt zunächst die Voraussetzungen für die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Eingriffes fest; danach wäre dies der Fall gewesen, wäre das Gericht zur Einschätzung gelangt, die gesetzliche Beschränkung der Vertragsfreiheit im Bäckergewerbe diene der Sicherheit und Gesundheit der Bäcker und entspreche insofern einem öffentlichen Interesse; rein arbeitsrechtlichen und anderweitigen sozialpolitischen Zielsetzungen wurde hingegen die Eignung als Ausdruck des Gemeinwohls abgesprochen. Weil die Mehrheit des Gerichts das Gesetz – anders als vom Gesetzgeber selbst behauptet – nicht als den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Angestellten bezweckend erachtete, erklärte sie das Gesetz für verfassungswidrig. Das durch die sogenannte Lochner-Rechtsprechung geprägte eingeschränkte Verständnis des Gemeinwohls (bzw. öffentlichen Interesses) hatte während rund dreißig Jahren Bestand und führte beispielsweise dazu, dass Gesetze zum Schutz gegen willkürliche Entlassung, zur Einführung eines Mindestlohnes für Frauen sowie zur staatlichen Regulierung von Preisen als verfassungswidrig taxiert wurden160. Den Wendepunkt bildete diesbezüglich der Fall West Coast Hotel vs. Parrish161, der vom Supreme Court im Jahr 1937 entschieden wurde162. Hier befand das Gericht nun, ein Gesetz des Staates Washington, das für Frauen einen Mindestlohn vorschrieb, sei trotz Einschränkung der Vertragsfreiheit verfassungsmäßig. Dies, weil der Schutz der Frauen vor der Ausbeutung durch unfaire Arbeitgeber im öffentlichen Interesse liege. Der Entscheid markierte einen bedeutenden Wandel der unter den Richtern des Supreme Court verbreiteten Wertvorstellungen von einem „laissez faire“-Konzept
___________ 157 Zum Folgenden s. ebd., 45 ff., sowie bspw. Nowak/Rotunda, Constitutional Law, 374 ff. 158 198 U.S. 45 (1905). 159 Dies im Rahmen der in Absatz 1, Satz 2, 2. Teilsatz des 14. Amendments enthaltenen sogenannten „substantive due process“-Klausel („nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law“). 160 Dazu die Nachweise bei Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, 50; vgl. zur sog. „Lochner period“ außerdem auch Sunstein, Partial Constitution, 45 ff. 161 300 U.S. 379 (1937). 162 Sunstein, Partial Constitution, insb. 49 ff., spricht in diesem Zusammenhang von der „revolution of 1937“. Zur Bedeutung des Falls als Wendepunkt in der Rechtsprechung des Supreme Court s. auch Nowak/Rotunda, Constitutional Law, 385 f.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
237
hin zu einem Rechtsverständnis, das den Auswirkungen des Rechts auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr blind gegenüberstand163. Dies implizierte zwangsläufig eine Erweiterung des zuvor stark limitierten Gemeinwohlbegriffs auf eine grundsätzlich offene Zahl von Anliegen sozialer Natur.
c) Modelle zur Bestimmung des Gemeinwohls Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass im Verfassungsstaat der Frage besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist, auf welche Weise das Gemeinwohl bzw. die gesellschaftlichen Belange mit Gemeinwohlrelevanz bestimmt werden. Auf entsprechende Grundlagen – aus welchen sich die zentrale Bedeutung des demokratischen Diskurses ergibt – wurde bereits im Zusammenhang mit Begrifflichem hingewiesen164. Das zuvor zum Gemeinwohlbegriff Ausgeführte findet sich in konzentrierter Form in drei verschiedenen Typen von Gemeinwohlkonzepten wieder, wie sie etwa durch Gunnar Folke Schuppert beschrieben werden165: –
Danach unterstellen substanzialistische, geschlossene Gemeinwohlkonzepte, dass ein „objektives, gar transhistorisches“ Gemeinwohl existiere. Mit den Grundsätzen eines freiheitlichen Verfassungsstaates und der hier notwendigen Offenheit des politischen Prozesses sind sie nicht vereinbar.
–
Den Gegenentwurf zu diesem Modell bilden prozedurale Gemeinwohlkonzepte, welche die Bestimmung des allgemeinen Wohls ausschließlich der Rationalität diskursiver Verfahren überlassen wollen. Ein typspezifisches Problem dieser Konzepte sei allerdings deren Maßstabsarmut, gewissermaßen das Fehlen eines inhaltlichen Kompasses für die verfahrensmäßige Gemeinwohlbestimmung.
–
Zwischen diese beiden Gegenpole gilt es nach Schuppert drittens Konzepte mit materialen Gemeinwohlgehalten zu schalten. Dabei handelt es sich um prozedurale Konzepte, die indessen (im Unterschied zu reinen Verfahrenskonzepten) mit bestimmten materialen Vorgaben angereichert sind. Diesen Modellen komme angesichts des Ungenügens der beiden erstgenannten Konzeptgruppen die Funktion einer „Zwischendecke“ zu, durch welche rein formale Gemeinwohlmodelle von rein substanzialistischen getrennt werden; dies basierend auf der Annahme, „dass es auch unterhalb der sub-
___________ 163 Vgl. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, 54; Sunstein, Partial Constitution, 50 f. 164 Siehe zuvor in diesem Kap., A. II. 1. a). 165 Zum Folgenden Schuppert, Staatswissenschaft, 218 ff., insb. 227, unter Bezugnahme u. a. auf Münkler/Bluhm, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. IV, 9 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
stanzialistischen Ebene materiale Gemeinwohlgehalte geben kann und gibt“166. Ganz offensichtlich ist ein substanzialistisches Gemeinwohlverständnis am stärksten der Gefahr des Missbrauchs unterworfen; so setzten die nationalsozialistischen Machthaber auf eine substanzialistische Gemeinwohlvorstellung in reinster Form, verbunden mit der Entwürdigung des Gemeinwohls als ideologische Richtschnur eines totalitären Systems167. Ein verfahrensbezogenes Verständnis von Gemeinwohl steht dagegen auf dem Fundament der Erkenntnis, „dass der Gemeinwohltatbestand im freiheitlichen Verfassungsstaat zwingend nur als inhaltlich offener Gemeinwohltatbestand verstanden werden kann“168. In diesem Zusammenhang ist auch angeregt worden, nicht von „dem Gemeinwohl“ im Singular zu sprechen, sondern von „Gemeinwohlbelangen“ im Plural, als Summe einer nicht von vornherein begrenzten Zahl von Aspekten des allgemeinen Wohls169. Auch das Bekenntnis zur Inhaltsoffenheit und geltungszeitlichen Relativität des Gemeinwohlbegriffs schließt indessen nicht aus, dass gestützt auf ein rein prozedurales Gemeinwohlkonzept selbst bei ausgefeilten Verfahren mangels materieller Schranken (auch krasse) Ungerechtigkeit resultiert, wie das Beispiel der Rassendiskriminierung in den USA gezeigt hat170. Hier setzen die Kritik an der Substanzlosigkeit der rein prozeduralen Gemeinwohlermittlung171 wie auch, daran anknüpfend, die Idee der „materialen Zwischendecke“ im Sinne Schupperts an: Auch bei einem verfahrensorientierten Gemeinwohlverständnis bedarf es danach eines „Kerns an gemeinsam anerkannten Wertvorstellungen“, welcher die Basis einer von Einzelinteressen geleiteten Diskussion über die konkreten Gemeinwohlziele des Staates zu bilden vermag172. Mit anderen Worten ergibt sich aus der Feststellung, die Berufung auf das Gemeinwohl alleine gewährleiste noch keine materielle Gerechtigkeit, für die ___________ 166
Schuppert, Staatswissenschaft, 227. Siehe hierzu die Nachweise zuvor in diesem Kap., Fn. 149. 168 Schuppert, Staatswissenschaft, 226. Zur notwendigen Inhaltsoffenheit des Gemeinwohlbegriffs im Verfassungsstaat auch Engel, in: Rechtstheorie 2001, 23 ff.; Kohler, in: Gemeinwohl – Bien commun, 63 (69); vgl. außerdem auch bereits zuvor in diesem Kap., A. II. 1. a), m.w.N. 169 Siehe Hofmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. III, 25 (25 f.). 170 Dazu zuvor in diesem Kap., A. II. 1. b). Es ließen sich beliebig viele Beispiele für rein verfahrensmäßig akzeptable Entscheide finden, die zu einem Ausschluss einer (wichtigen) Bevölkerungsminorität von der Bestimmung und Sicherung des Gemeinwohls geführt haben. 171 Vgl. für eine entsprechende Kritik auch Engel, in: Rechtstheorie 2001, 23 (insb. 34). 172 So Fisch, in: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, 43 (53). 167
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Wahl des zu verfolgenden Gemeinwohlkonzepts der Schluss, dass auch in einem prozeduralen Modell gewisse inhaltliche Leitplanken unverzichtbar sind173. Offen ist damit allerdings noch, wie diese Leitplanken selbst beschaffen sein sollen. Dabei führt dies zum Dilemma, zwar von der Offenheit des Gemeinwohlbegriffs auszugehen, ihm aber möglicherweise über den Umweg der Unverzichtbarkeit bestimmter Gehalte gleichwohl ein Korsett anzulegen. Mit anderen Worten gerät auch die Frage, was unverzichtbar sei, in Gefahr, zum Ansatzpunkt für die Oktroyierung von Ideen zu werden. Abhilfe vermag hier einzig eine Beschränkung auf gesamtgesellschaftlich konsentierte Grundwerte zu schaffen. Diese müssen – soll ihnen tatsächlich die Funktion einer materiellen Schranke gegen Ungerechtigkeit zukommen – zugleich dem eigentlichen Kern allen legitimen Rechts verpflichtet sein, nämlich der Anerkennung der Menschenwürde und der schwächsten Glieder der Gesellschaft174.
d) „Gemeinsinn“ als motivationale Voraussetzung der Gemeinwohlorientierung Letztlich ist die Verwirklichung jeglicher materialer Gemeinwohlgehalte auch von einer Ressource auf der personalen Ebene abhängig: Prozesse inhaltlicher Gemeinwohlkonkretisierung sind zumal im Hinblick auf die Wahrung bestimmter Kerngehalte auf den Gemeinsinn der beteiligten Akteure angewiesen175: „Das Gemeinwohl hat nur dann eine Chance anerkannt zu werden, wenn eine ausreichende Zahl von Personen bereit ist, auf eigene Interessen um höherer willen zu verzichten.“176 Gleichzeitig sollen die Beteiligten aber auch erwarten dürfen, dass auch andere zu Verzichten auf egoistische Präferenzen bereit sind177. Insofern ist bei der Annäherung an das Gemeinwohl eine gewisse Bereitschaft zum Kompromiss erforderlich, sowohl bei der inhaltlichen Bestimmung als auch beim Streben um die gemeinschaftliche Verwirklichung der gesetzten Ziele. Riccardo Petrella spricht in seiner politischen Verteidigungs___________ 173 Im Rahmen einer konkreten Verfassung führt dies zum von Häberle, in: Kleine Schriften, 354 (357 f.), folgendermaßen beschriebenen Resultat: „Das Gemeinwohl ist erst ein Ergebnis, ein Resultat, ein Destillat vieler in Verfahren gewonnener Vorgänge, aber die verfassungsstaatliche Verfassung trifft durchaus auch schon inhaltliche Gemeinwohlaussagen.“ 174 Exemplarisch diesbezüglich die neue schweizerische Bundesverfassung von 1999, in deren Präambel der Verfassungsgeber festhält, er sei sich „gewiss, dass (…) die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. 175 Münkler/Bluhm, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. IV, 9 (10). 176 Hösle, Moral und Politik, 909. Vgl. dazu auch Habermas, Faktizität und Geltung, 641, wonach im Gemeinwesen den „rechtlich nicht erzwingbaren Motiven und Gesinnungen eines am Gemeinwohl orientierten Bürgers“ eine entscheidende Rolle zukomme. 177 Vgl. Hösle, Moral und Politik, 911; Habermas, Faktizität und Geltung, 641.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
schrift des Gemeinwohls davon, zu dessen Voraussetzungen gehöre die Anerkennung der „Existenz des Anderen“178: „C’est parce qu’il existe un ‚toi‘ (l’altérité) que le ‚moi‘ existe.“ Der gegenseitige Respekt der individuellen Interessen sowie das Eingeständnis des gegenseitigen Angewiesenseins ermöglichen danach überhaupt erst das Erkennen der gemeinschaftlichen Perspektive. Herfried Münkler und Karsten Fischer bezeichnen deshalb den Gemeinsinn als „motivationale Voraussetzung jedweder normativen Gemeinwohlorientierung“179. Gemeinwohl und Gemeinsinn seien dabei zirkulär miteinander verbunden: Das Gemeinwohl bilde einen „normativen Orientierungspunkt sozialen Handelns“; im Gemeinsinn wiederum finde die Bereitschaft ihren Ausdruck, „sich an diesem normativen Ideal tatsächlich zu orientieren“180.
2. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls auf der Ebene des Völkerrechts a) Legitimationsprobleme im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gemeinwohls Die Feststellung, dass der konkrete Inhalt des Gemeinwohls nicht einfach feststeht, sondern eine Frage der (sich möglicherweise ändernden) Wertungen und Vorstellungen der Beteiligten ist, wiederholt sich notwendigerweise auch auf der internationalen Ebene181. Hierfür spricht nur schon die Überlegung, dass die Verwendung eines substanzialistischen Gemeinwohlkonzepts – neben allen sonstigen damit verbundenen Problemen – auf die Akzeptanz eines universell gleichförmigen Menschheitsinteresses hinauslaufen würde. Ist eine solche Interessengleichheit schon im (relativ) homogenen gesellschaftlichen Rahmen jedes einzelnen Staates nicht der Fall und bildet das Gemeinwohl bereits hier zwingend einen Hauptgegenstand der gesellschaftlichen Konsensfindungsprozesse, so ergeben sich für die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft noch erhöhte Schwierigkeiten. Die enormen wirtschaftli___________ 178
Petrella, Bien commun, 16. Münkler/Fischer, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 9 (10), unter Berufung auf Parsons, System moderner Gesellschaften, 22; s. auch Münkler/Fischer, in: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften: Berichte und Abhandlungen, 237 (238); vgl. weiter auch Kaufmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 19 (33). Ähnlich auch Bonvin/Kohler, in: Gemeinwohl – Bien commun, IX (XVII), sowie Kohler, in: Gemeinwohl – Bien commun, 63 ff. 180 Münkler/Fischer, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 9 (9). 181 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von Oxman, in: New Trends in International Lawmaking, 21 (26 f.); zur Problematik außerdem auch Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (29 ff.). 179
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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chen und sozialen Disparitäten in der Staatengemeinschaft182 wie auch historisch, kulturell oder religiös bedingte Abweichungen zwischen den Wertvorstellungen183 führen international zu einer noch größeren Bandbreite der Interessen als im vergleichsweise beschränkten nationalen Rahmen184. Angesichts der Tatsache, dass die einzelnen Staaten zunächst Vertreter ihrer partikulären Interessen sind, setzt daher auch eine völkerrechtliche Gemeinwohlorientierung für die Bestimmung dessen, was als allgemeines Wohl gelten soll, das Vorhandensein gewisser Mechanismen der Konsensbildung voraus. Auf der Basis eines nicht-substanzialistischen Gemeinwohlverständnisses wären dabei die vielzählig möglichen Fragen nach den Gemeinwohlinhalten auch hier in einem möglichst offenen politischen Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzung, unter Einbeziehung aller potentiell Betroffenen und Interessierten, zu klären185. Zur Bestimmung der allgemeinen Interessen bzw. des Gemeinwohls der jeweiligen Gemeinschaft dienen im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaats (jedenfalls zur Ergänzung der materiellen Grundwerte) die auf dem Demokratieprinzip basierenden Verfahren. Demgegenüber sind die Bedingungen für eine solche inhaltliche Konkretisierung auf der Ebene des völkerrechtlichen Gemeinwohlbegriffs weniger günstig186. Zwar kommen bestimmte internationale Institutionen als Instrumente der politischen Konsensbildung und Entscheidfindung in Betracht, wie etwa Staatenkonferenzen zur Verhandlung völkerrechtlicher Verträge sowie – nach ein___________ 182
Bautista Payoyo, Cries of the Sea, 15 ff., spricht vom „International Law of Global Disparities“. 183 Zur kulturellen Differenzierung, der sich das Völkerrecht gegenüber sieht, bspw. Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (572 f.). Der Konsens darüber, was als Gemeinwohl zu betrachten sei, kann unter Umständen auch jenen Restriktionen aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Auffassungen der verschiedenen Staaten bzw. Staatengruppen unterliegen, die sich im Menschenrechtsbereich zeigen und gesellschaftliche, kulturelle oder auch religiöse Hintergründe haben. 184 Hier liegt im Übrigen auch ein wesentlicher Unterschied zwischen völkerrechtlicher und gemeinschaftlicher Konstitutionalisierung: So kann auf der Ebene der europäischen Integration insofern von einer gewissen Homogenität des Verfassungsverbundes die Rede sein, als die gemeinschaftliche Verfassungsordnung auf den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Verfassungstraditionen beruht; s. Pernice, in: EuR 1996, 27 (33), sowie ders., in: Espace constitutionnel européen, 225 (262 f.). Während dem Gemeinschaftsrecht ausdrücklich eine materielle Wertordnung zugrundegelegt wird und sich die diesbezügliche Konstitutionalisierung zudem auf die Grundlagen des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ im Sinne Häberles abstützen kann, bewegt sich die völkerrechtliche Konstitutionalisierung auf dem Boden der universellen kulturellen, religiösen, sozialen und politischen Diversität. 185 Vgl. in Bezug auf dieses sich auf die demokratischen Verfahren des Verfassungsstaats abstützende Bild Calliess, in: ZUR 2000, 246 (246). 186 Siehe allgemein etwa Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 53 f.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
mal erfolgtem Inkrafttreten von Abkommen – die institutionalisierten Vertragsstaatenkonferenzen und sonstigen Gremien zur Umsetzung und weiteren Entwicklung vertraglicher Regime. Zu nennen sind außerdem die beratenden und beschlussfassenden Gremien im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer diversen Sonderorganisationen, mit der UNO-Generalversammlung als wichtigstem Organ, das dem Gemeinschaftsinteresse der Staaten zu gewissem Grad Ausdruck zu verleihen vermag187. Solche Institutionen können insofern als zunehmend demokratisch bezeichnet werden188, als im Zuge einer verstärkten Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen189 immer mehr auch zivilgesellschaftliche Interessengruppierungen ihre Anliegen einbringen können. Eine verstärkte Öffnung der Entscheidungsprozesse zugunsten der demokratischen Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen wird konkret beispielsweise für den Bereich der WTO angestrebt: Diesbezüglich hat die International Law Association die Schaffung von beratenden Komitees empfohlen, durch die sowohl parlamentarische Vertretungen der Mitgliedstaaten als auch Delegationen zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse in die Entscheidungsprozesse der globalen Handelspolitik eingebunden werden könnten190.
Indessen ist nicht zu übersehen, dass die völkerrechtlichen Entscheidfindungsmechanismen insbesondere hinsichtlich verbindlicher Beschlussfassung nach wie vor praktisch ausschließlich durch die Staaten als primäre Völkerrechtssubjekte dominiert sind. Zwar scheint sich in Bezug auf die vorbereitende Meinungsbildung dank der Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen an den meisten einschlägigen internationalen Zusammenkünften eine Öffnung der Diskussionsforen und damit eine gewisse Demokratisierung durchzusetzen. Gleichzeitig bleiben die eigentliche Willensbildung sowie die normativ erst wirksame Entschlussfassung191 aber eine ausschließliche Sache der beteiligten Staaten (bzw. ihrer Delegationen). Dies kommt nicht nur in den eigentlichen ___________ 187
So Frowein, in: FS Doehring, 219 (222 f.). Vgl. etwa Riedel, in: FS Roellecke, 245 (269). Skeptisch bspw. Pescatore, in: ZaöRV 2004, 591 (592). 189 Dazu bspw. Charlesworth/Chinkin, Boundaries of International Law, 99 ff.; Hobe, in: IJGLS 1997, 191 ff.; ders., in: AVR 1999, 152 ff.; Thürer, in: Non-State Actors as New Subjects of International Law, 37 (41 ff.). 190 Vgl. Petersmann, in: EJIL 2002, 621 (647 f.), unter Bezugnahme auf ILA, Report of the 69th Conference, 2000, 18 ff. Der Autor, a.a.O. (650), weist dabei darauf hin, dass nicht zuletzt auch die demokratische Legitimation internationaler Konstitutionalisierung wesentlich von demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger bei der Ausübung von (internationalen) Regierungsgewalten (im Rahmen von internationalen Organisationen) abhängt. Zum Ansatz von Petersmann in Bezug auf das internationale Handelsrecht als Element internationaler Konstitutionalisierung auch vorne, 2. Kap., B. IV. 2. c). 191 Zur Unterscheidung zwischen politischer Meinungsbildung einerseits sowie Willensbildung und Entscheidfällung andererseits aus demokratietheoretischer Sicht Scheyli, Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie, 83 ff. 188
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Abstimmungs- und Vertragsabschlussverfahren zum Ausdruck, an denen ausschließlich die Vertragsparteien partizipieren; sondern dies zeigt sich mitunter auch bereits bei vorbereitenden Beratungen im Rahmen der maßgeblichen Gremien einer Konvention, von denen die Nichtregierungsorganisationen ausgeschlossen werden192. Weiter lassen sich – abgesehen von der Konzentration der Entscheidungsverantwortung bei den Staaten – weitere Schwächen des Systems erwähnen. So ist zunächst zu bedenken, dass an der völkerrechtlichen Entscheidfindung auch Staaten beteiligt sind, deren innerstaatliche politische Systeme den Anforderungen an eine „good governance“193 nicht oder allenfalls in schwachen Ansätzen gerecht werden. Auch bei Zugrundelegung eines niedrigen demokratischen Standards kann daher kaum gesagt werden, die Völker derartiger Staaten seien auf der Ebene völkerrechtlicher Beschlussfassung repräsentativ durch die Delegierten ihrer Regierungen vertreten. Soweit Nichtregierungsorganisationen in bestimmte Prozesse einbezogen werden, betreffen gewisse Einschränkungen außerdem auch deren eigene demokratische Legitimität: Selbst Organisationen, die sich darauf berufen, die Interessen wenn nicht der gesamten Zivilgesellschaft, so doch der Gesamtheit ihrer eigenen Mitglieder zu vertreten, weisen intern oftmals unzureichende demokratische Strukturen auf194. Bemängelt wird ferner, dass die Mehrheit der wichtigen Nichtregierungsorganisationen hauptsächlich westlich geprägt ist195; die legitimatorische Wirkung ihrer Beteiligung an Entscheidungsprozessen lässt sich somit schon unter diesem Gesichtspunkt ___________ 192 So waren die Nichtregierungsorganisationen beispielsweise von den informellen Beratungen ausgeschlossen, die Ende Juni 2001 zur Vorbereitung des zweiten Teils der sechsten Vertragsstaatenkonferenz der Klimakonvention abgehalten wurden, um die Verhandlungspositionen in Bezug auf die Zukunft des Kyoto-Protokolls zur Klimakonvention zu klären. Siehe zu dieser Vorbereitungskonferenz die Berichterstattung in Linkages Journal 6 (2001), Nr. 7, 4 f., abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008). Vgl. zur Rolle der NGOs im institutionellen Rahmen der Klimakonvention außerdem die politologisch fokussierte Untersuchung von Oberthür et al., Participation of Non-Governmental Organisations in International Environmental Governance, 117 ff. 193 Damit sind Grundsätze eines demokratischen und rechtsstaatlichen Staatswesens gemeint, welche die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen dem Staat einerseits und den Bürgerinnen und Bürgern andererseits betreffen. Zum Begriff s. etwa Dolzer, in: ZaöRV 2004, 535 ff.; Rudolf, in: FS Tomuschat, 1007 ff.; weiter die Beiträge von Ginther, in: Sustainable Development and Good Governance, 150 ff.; Ginther/de Waart, ebd., 1 ff.; Hossain, ebd., 15 (20 ff.); Sands/Werksman, ebd., 178 ff.; Tolentino, ebd., 137 ff. 194 Vgl. Oberthür et al., Participation of Non-Governmental Organisations in International Environmental Governance, 218 ff. Im umweltpolitischen Bereich trifft die Kritik u. a. eine der mitgliederstärksten Organisationen überhaupt, Greenpeace, das seinen Mitgliedern keinerlei Mitbestimmungsrechte einräumt; s. ebd., 221, Fn. 52, m.w.N. 195 Siehe bspw. Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (14).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nicht ohne weiteres aus einer Vertretung der „globalen Zivilgesellschaft“ herleiten196. Die völkerrechtliche Entscheidungsfindung ist folglich insgesamt mit dem Legitimationsstandard, wie er in Verfassungsstaaten mit lebendigen demokratischen Systemen erreicht wird, bislang in keiner Weise vergleichbar, auch wenn (mit den soeben erwähnten Einschränkungen) Ansätze in der richtigen Richtung festzustellen sind197.
b) Gesamtgesellschaftlich konsentierte materielle Leitplanken eines völkerrechtlichen Gemeinwohlkonzepts? aa) Ausgangslage und Fragestellung Mit Blick auf die in Frage kommenden Gemeinwohlkonzepte resultiert aus den Überlegungen zu prozessualen Legitimationsfragen der Schluss, dass für die völkerrechtliche Ebene (nachdem ein substanzialistisches Modell von vornherein auszuschließen ist) ein rein prozedurales Gemeinwohlverständnis schon mangels entsprechend ausgebauter Verfahren keine Option darstellt; dies abgesehen von der Feststellung im Sinne Schupperts, eine rein verfahrensmäßige Gemeinwohlbestimmung leide unter Maßstabsarmut und komme daher nicht ohne materielle Ergänzung aus198. Im völkerrechtlichen Kontext zeigt sich somit besonders deutlich, dass einzig ein mit materiellen Fundamenten versehenes Gemeinwohlkonzept in Frage kommt. Zwar lässt sich nicht sagen, dass hier überhaupt keine verfahrensförmige Verständigung über das allgemeine Wohl möglich sei: Im Rahmen der institutionalisierten Deliberation in den Gremien der Vereinten Nationen oder in den internationalen Verhandlungen, die zum Abschluss völkerrechtlicher Regime führen, werden durchaus auch normative Gemeinwohlentscheidungen vorbereitet und getroffen. Indessen manifestiert sich im fast gänzlichen Ausschluss nichtstaatlicher, zivilgesellschaftlicher Subjekte von der normativ wirksamen Entscheidfindung ein erheblicher Mangel an demokratischer Qualität völkerrechtlicher Rechtsetzung. ___________ 196
Vgl. Oberthür et al., Participation of Non-Governmental Organisations in International Environmental Governance, 219, m.w.N. 197 Allgemein zur Legitimationsproblematik im Völkerrecht Falk/Strauss, in: Stanford Journal of International Law 2000, 191 ff.; Franck, in: AJIL 1988, 705 ff.; Kokott, in: LA Eitel, 381 (409 ff.); Sommermann, in: FS Tomuschat, 1051 ff.; eingehend zur Problematik im spezifischen Bereich des Umweltvölkerrechts Bodansky, in: AJIL 1999, 596 ff.; zum Problem des Legitimationsdefizits der Gemeinwohlorientierung jenseits nationaler Grenzen auch Seelmann, in: Gemeinwohl – Bien commun, 3 (13). 198 Vgl. zuvor in diesem Kap., A. II. 1. c).
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Dies ist der Hintergrund, vor dem sich nunmehr die Frage stellt, ob auf der Ebene des Völkerrechts und der internationalen Gemeinschaft jener Kern gesamtgesellschaftlich konsentierter Grundwerte existiere, welche – in Anlehnung an die Idee der „materialen Zwischendecke“ im Sinne Schupperts199 – als Mindestanforderungen und inhaltliche Leitplanken für ein völkerrechtliches Gemeinwohlkonzept dienen könnten.
bb) Mögliche Vorbehalte Bei der Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung dürfen bestimmte Vorbehalte, die dem Konzept des Gemeinwohls entgegengebracht werden, nicht außer Betracht gelassen werden, gewinnen sie doch in internationalen Zusammenhängen noch an spezifischer Bedeutung: Ist von einem gesellschaftlichen Gemeinwohl die Rede, so impliziert dies die Annahme der Interessenneutralität oder zumindest eines möglichen Interessenausgleichs. Gegen diese Annahme jedoch wurde der Vorwurf erhoben, in ihr verkleide sich eine Ideologie der Harmonie. Diese diene mit der Verharmlosung oder gar Leugnung gesellschaftlicher Interessenkonflikte letztlich zur Verschleierung des Herrschaftsanspruchs eines bestimmten Teils der Gesellschaft, indem deren partikuläre Interessen als Gemeinwohl definiert würden200. Auch die Frage nach dem Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft zeigt, dass dieser kritische Ansatz nicht einfach beiseite geschoben werden kann. So erinnert die globale Verteilung des Wohlstands201 an die Situation in einzelnen Staaten, in denen eine verschwindend kleine Minderheit in völlig unverhältnismäßiger Weise von den vorhandenen Ressourcen profitiert und dementsprechend wirtschaftliches und soziales Wohlergehen ein Privileg darstellt. Auf einer ganz ähnlichen Ausgangslage beruht letztlich der Umstand, dass auf der internationalen Ebene Entwicklungsländer einerseits und Industriestaaten andererseits häufig stark gegensätzliche Anliegen geltend machen. Dabei gerät beispielsweise der Appell, im Interesse des Gemeinwohls der gesamten Menschheit eine schonende Ressourcennutzung zu betreiben, aus Sicht der Entwicklungsländer allzu leicht in den Ver-
___________ 199
Ebd. Vgl. Schultze, in: Lexikon der Politik, Bd. 1, 137 (140 ff.). 201 Besonders deutlich kommt dies etwa im Bereich des Gesundheitswesens zum Ausdruck: Hier besteht ein überaus großes Gefälle zwischen dem Standard in den reichsten Industrienationen und jenem in den Entwicklungsländern. Letztere sehen sich oft vor das Problem gestellt, dass selbst die wichtigsten Medikamente und Behandlungsmethoden unerschwinglich oder gar nicht verfügbar sind. Siehe hierzu aus völkerrechtlicher Sicht Aginam, in: IJGLS 2000, 603 ff., sowie Fidler, in: IJGLS 1999, 191 ff. 200
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
dacht, im Grunde die Wahrung partikulärer Interessen (nämlich primär der Industriestaaten) anzupeilen202. Einer solchen Kritik sieht sich unvermeidlich auch der (in eine ähnliche Richtung wie die Idee inhaltlicher Leitplanken des Gemeinwohls gehende) Ansatz ausgesetzt, nach einer naturrechtlichen Grundlegung des materiellen Völkerrechts zu fragen, wie er etwa von Juliane Kokott vertreten wird203. Brisanz erlangt der Ansatz nicht zuletzt dann, wenn aus der Orientierung des Völkerrechts an bestimmten gemeinsamen Werten und Interessen der internationalen Gemeinschaft204 abgeleitet wird, das Gewaltverbot gemäß Art. 2 Ziff. 4 UNOCharta sei im Licht naturrechtlicher Wertvorstellungen, die sich auf den Schutz der Menschenrechte richten, zu betrachten205. Dies hat konkrete argumentative Konsequenzen: So könnten sich auf dieser Grundlage auch militärische Interventionen mit humanitärer Zielsetzung, die nicht durch eine der bislang anerkannten Ausnahmen vom Gewaltverbot gerechtfertigt sind (wie beim Beispiel der NATO-Intervention in Kosovo), mit dem Argument verteidigen lassen, die intervenierenden Staaten dürften die Wahrung ethisch begründeter Werte durchsetzen. Ob eine solche Folgerung dem Konsens der Staatengemeinschaft entspricht, ist fraglich. Des Weiteren ist auf die gesellschaftlich, kulturell und religiös begründeten Widersprüche unter den Staaten hinzuweisen, die gerade im Bereich des Menschenrechtsschutzes das Potential aufweisen, einer Verständigung über völkerrechtliche Gemeinwohlgehalte entgegenzustehen206. In Bezug auf die Frage, ob – und wenn ja, welchen – Menschenrechten universelle Geltung zukommen solle207, wird aus der Sicht von nicht-westlichen Kritikern etwa vorgebracht208, ___________ 202 Es ist eine häufig anzutreffende Kritik, auf der Ebene der internationalen Politik sei eine ideologische Hegemonie der westlichen Industriestaaten festzustellen. Diese schlage sich zudem auch darin nieder, dass jene Staaten den Entwicklungsländern die von der internationalen Gemeinschaft zu erreichenden Ziele diktierten. Dazu allgemein etwa Chibundu, in: IJGLS 1999, 79 ff.; in Bezug auf Menschenrechtsfragen Makau wa Mutua, in: Virginia Journal of International Law 1996, 589 ff.; in Bezug auf Umweltschutzfragen Geisinger, in: Boston College Environmental Affairs Law Review 1999, 43 ff. Tatsächlich wird teilweise die Ansicht vertreten, Europa, insbesondere die EU, sowie die USA müssten bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts und des gesamten politischen Rahmens der internationalen Beziehungen eine Führungsrolle einnehmen; s. explizit Petersmann, in: NYUJILP 1998-99, 753 (788); ders., in: Michigan Journal of International Law 1998, 1 (23). 203 Zum Folgenden Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 ff. 204 Vgl. dies., in: BerDGV 1997, 71 (77). 205 Dies., in: Recht und Internationalisierung, 3 (10 ff.). 206 Vgl. auch Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (13 f.). 207 Zur Frage der Universalität der Menschenrechte in einer kulturell fragmentierten Welt allgemein etwa Baderin, International Human Rights and Islamic Law, 23 ff.; Fastenrath, in: FS Tomuschat, 153 ff.; Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (9 ff.); Steiner/Alston, International Human Rights in Context, 366 ff., m.w.N.
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der internationale Menschenrechtsdiskurs basiere im Wesentlichen auf den politischen Traditionen Europas und ziele letztlich darauf hin, den westlichen Werten universelle Geltung zu verschaffen. Auf der Ebene eines mit kultursoziologischen Überlegungen unterlegten Konzepts der kulturellen Relativität von Menschenrechten wird des Weiteren auch vorgebracht209, Menschenrechte könnten schon aus dem Grund nicht absolute Geltung beanspruchen. Dies, indem rechtliche Verhaltensnormen von vornherein durch einen bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund bedingt seien, wobei letztlich jede Kultur moralisch gleichwertig sei. Eine weitere Ebene der Kritik an der Formulierung des konkreten Gehalts der Menschenrechte wird zudem etwa aus feministischer Sicht erhoben, seien doch gerade im Völkerrecht die Perspektive der Frauen und somit auch deren spezifische Anliegen nur schwach entwickelt210. Einen gewissen Eindruck von der Heterogenität der Positionen bezüglich des Menschenrechtsschutzes vermittelt schon der Vergleich zwischen den wichtigsten regionalen Dokumenten (Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, Amerikanische Menschenrechtskonvention, Arabische Charta der Menschenrechte sowie EMRK)211. So liegt in der Afrikanischen Menschenrechtscharta212 ein wichtiger Schwerpunkt auf kollektiven Rechten der Völker213. Dies lässt sich zunächst mit den Erfahrungen der Unterdrückung erklären – wie etwa Art. 20 nahelegt, der ein „Recht auf Existenz“ aller Völker festschreibt, unter Anfügung eines Rechts kolonisierter oder unterdrückter Völker, sich von ihren Herrschaftsfesseln zu befreien. Schließlich scheint in der starken Bezugnahme auf die Rechte der Völker eine besondere kulturelle Perspektive anzuklingen, wie der nigerianische Völkerrechtler Emmanuel G. Bello ausführt214. Danach sei die Anrufung kollektiver Rechte zum einen damit zu begründen, dass in afrikanischen Kulturen das Individuum in hohem Maß als Teil einer Gruppe wahrgenommen werde und demnach Individualrechte letztlich nur durch die Rechte der Gemeinschaft legitimierbar seien. Zum andern hat der Ansatz, neben den traditionellen, den einzelnen Menschen schützenden Menschenrechten existierten
___________ 208 Siehe bspw. Makau wa Mutua, in: Virginia Journal of International Law 1996, 589 ff.; vgl. dazu auch etwa Fassbender, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 231 (264). 209 Vgl. die Hinweise bei Riedel, in: Constitutionalism, Universalism and Democracy, 25 (29 ff.); Shestack, in: Human Rights Quarterly 1998, 201 (228 ff.), bei scharfer Kritik des Autors gegenüber dem Konzept des „Cultural Relativism“. 210 Zur feministischen Kritik des Völkerrechts etwa Charlesworth/Chinkin, Boundaries of International Law, 231 ff.; Hernández-Truyol, in: GYIL 2001, 113 ff.; Peters, in: GYIL 2001, 25 (34 f.). 211 Vgl. zum Folgenden auch Belser, White Man’s Burden, 602 ff.; Chevallier, in: Mélanges Ardant, 325 (328). 212 Zum Inhalt der Charta allgemein etwa Ouguergouz, African Charter on Human and Peoples’ Rights; Steiner/Alston, International Human Rights in Context, 354 ff. 213 Siehe insb. Art. 19 ff. 214 Bello, in: RdC 1985-V, 9 (32).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
auch Garantien, die Gruppen zukommen (sog. Rechte der dritten Generation wie insbesondere das Recht auf Frieden, das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Selbstbestimmung oder auch das Recht auf eine gesunde Umwelt), gerade in Afrika am deutlichsten Zustimmung gefunden. Der Umstand, dass der Schutz der Gemeinschaft im afrikanischen Kontext eine besonders starke Rolle spielt, zeigt sich schließlich noch in der ausgeprägten Bedeutung, welche in der Afrikanischen Menschenrechtscharta dem Schutz der Familie beigemessen wird215. So wird die Familie nicht nur als „natural unit and basis of society“ (Art. 18 Abs. 1) bezeichnet, was in etwa wohl auch dem in Europa herrschenden sozialen Konsens entsprechen würde216. Sondern deutlich weiter gehend wird ihr sogar die Rolle eines „custodian of morals and traditional values recognized by the community“ (Art. 18 Abs. 2) beigemessen, und entsprechend soll der Staat ihr seinen Schutz angedeihen lassen. Die Arabische Charta der Menschenrechte217 schließlich stellt in Art. 1 ebenfalls bestimmte kollektive Rechte der Völker218 an die Spitze des Katalogs der rechtlichen Garantien; allerdings lässt sie dem dann – im Gegensatz zur Afrikanischen Menschenrechtscharta – keine weiteren inhaltlichen Konkretisierungen folgen. Auffallend ist aus westlicher Sicht außerdem die Präsenz religiöser und politischer Bezugnahmen, so in der Anrufung Gottes und allgemein des Glaubens in der Präambel; Gleiches gilt etwa für die Statuierung eines Rechts auf ein Leben in einem kulturellen Umfeld, in welchem der arabische Nationalismus eine „Quelle des Stolzes“ bildet (Art. 35). Zum andern ist das Verhältnis der Charta zur Todesstrafe hervorzuheben, deren Regelung alleine drei Artikel (Art. 10-12) gewidmet sind: In Art. 10 wird festgehalten, dass die Todesstrafe einzig „für die schwersten Verbrechen“ verhängt werden dürfe; weiter werden gewisse Regeln niedergelegt, die im Zusammenhang mit der Verhängung und Durchführung der Todesstrafe beachtet werden müssen219. Die Arabische Charta der Menschenrechte enthält damit eine eindeutige Anerkennung der Todesstrafe, die bei Beachtung bestimmter Mindeststandards mit dem Schutz der Menschenrechte konform ist. In klarem Gegensatz dazu steht die EMRK, gemäß
___________ 215
Vgl. ebd., 9 (33). Nicht über diese Ebene hinaus geht im Übrigen auch die Arabische Charta der Menschenrechte (Art. 38 Bst. a: „The family is the basic unit of society [...]“.), deren Familienbild sich damit ebenfalls klar von jenem der Afrikanischen Menschenrechtscharta unterscheidet. Den allgemeinen Konsens der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf die soziale Rolle der Familie dürfte dagegen die Präambel des Übereinkommens über die Rechte des Kindes zum Ausdruck bringen; danach wird die Familie „als Grundeinheit der Gesellschaft und natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder“ betrachtet. 217 Vgl. allgemein etwa Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 13 f. 218 Genannt werden das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen, das Recht auf freie Wahl der politischen Strukturen sowie das Recht auf freie Verfolgung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung. 219 Gemäß Art. 10 muss Verurteilten das Recht zum Gnadenersuch zustehen; Art. 11 hält fest, dass die Todesstrafe nicht für politische Vergehen verhängt werden darf. Schranken für die Durchführung der Strafe gelten nach Art. 12 außerdem für Personen unter 18 Jahren, Schwangere sowie Mütter innert einer Frist von zwei Jahren nach Geburt eines Kindes. 216
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deren sechsten Zusatzprotokolls die Todesstrafe jedenfalls in Friedenszeiten verboten ist220.
cc) Kollektive und individuelle Menschheitsinteressen als Ziele eines universellen völkerrechtlichen Grundkonsenses Es folgt die wesentliche Frage, ob solche Differenzen ausschließen, dass ein universeller Konsens in Bezug auf bestimmte Werte besteht oder zumindest ein entsprechender Verständigungsprozess stattfindet. Immerhin ist das Völkerrecht jene Rechtsordnung, die in ganz ausgeprägter Weise auf zwischenstaatlicher (somit interkultureller) Kommunikation beruht und aus der Kraft des (auch stillschweigenden) Konsenses schöpft221. Die Frage wird denn auch zu verneinen sein222. Unterstützung verdient vielmehr die Position223, auch kulturelle, ethnische, religiöse und politische Unterschiede und die daraus resultierenden Divergenzen schlössen nicht aus, dass ein Grundkonsens über die Notwendigkeit besteht, jene grundlegenden gemeinsamen Interessen zu schützen, welche das Überleben der Menschheit erfordert. Die „grundsätzliche Frage, ob sich Angehörige verschiedener Kulturen überhaupt auf einem gemeinsamen Boden der Verständigung begegnen können und worin diese universale, alle verbindende Gemeinsamkeit gegebenenfalls besteht“224, findet hierin – jedenfalls für die Belange des Völkerrechts – eine tragfähige Beanwortungsgrundlage. Diese Feststellung lässt sich auf unterschiedliche völkerrechtliche Problemstellungen münzen, bei denen derartige Gemeinschaftsanliegen betroffen sind. Soweit unmittelbar das Überleben der Menschheit als Gesamtes in Frage steht, stehen der Bereich der Friedenssicherung (angesichts der Existenz von Massenver___________ 220 Siehe Art. 1 und 2 des Protokolls Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe aus dem Jahr 1983 (anders noch Art. 2 Abs. 1 der EMRK selbst, der bis zum Inkrafttreten des sechsten Zusatzprotokolls die Todesstrafe zuließ; die EMRK ist insofern Spiegelbild eines diesbezüglichen Bewusstseinswandels im europäischen Rahmen; vgl. hierzu Peters, in: EuGRZ 1999, 650 [651, 655 f.]; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 451). 221 Vgl. etwa Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 34. Zur besonderen Bedeutung der Konsensbildung im Völkerrecht bspw. auch Hillgruber, in: AVR 2002, 1 (1); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 9, 324. 222 In dieser Richtung auch Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (572 f.), wonach trotz der kulturellen Differenzierung, vor der sich das Völkerrecht sieht, auch die Möglichkeit eines Konsenses gegeben sei. 223 Siehe Tomuschat, in: RdC 1993-IV, 195 (237 f.); vgl. hierzu auch Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (9); in gleicher Richtung auch Fastenrath, in: FS Tomuschat, 153 (168 f., 178 f.). 224 Habermas, in: „Die Zeit“ vom 8.12.1995, 59.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nichtungswaffen225) sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (angesichts global wirkender Probleme wie etwa des Klimawandels) im Vordergrund. Der Zusammenhang zwischen gemeinsamen Menschheitsanliegen, entsprechenden ethischen Überlegungen und dem Geltungsanspruch des Völkerrechts wird auch in der Praxis des Internationalen Gerichtshofs angesprochen, so besonders in dessen Gutachten zur Frage der Legalität der Androhung des Einsatzes oder des Einsatzes von Atomwaffen226. Das Bewusstsein, dass der Einsatz atomarer Waffen die Menschheit als Gesamtes in ihrer Existenz bedroht227, führte zur von der Mehrheit des Gerichts geteilten grundsätzlichen Einschätzung228, dass die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen gegen das in bewaffneten Konflikten zu beachtende Völkerrecht und insbesondere gegen die Grundsätze und Regeln des humanitären Rechts verstößt. In den diversen persönlichen Erklärungen und Sondermeinungen, welche die meisten der vierzehn Mitglieder des Gerichts dem Gutachten anfügten, kommt zum Ausdruck, dass diese Einschätzung in einem völkerrechtlichen Verständnis der Beteiligten wurzelt, das von universell gültigen ethischen Grundlagen der Völkerrechtsordnung ausgeht229. So führte etwa der Richter Ranjeva in seiner „separate opinion“ aus: „The law of nuclear weapons is one of the branches of international law which is inconceivable without a minimum of ethical requirements expressing the values to which the members of the international community as a whole subscribe. The survival of mankind and of civilization is one of these values. (...) On the great issues of mankind the requirements of positive law and of ethics make common cause, and nuclear weapons, because of their destructive effects, are one such issue.“230
Die Feststellung lässt sich aber auch auf das Anliegen des einzelnen Individuums übertragen, nicht nur jenes der Menschheit generell, sondern auch sein eigenes Überleben gesichert zu sehen: Wird der Schutz menschlichen Lebens, wie er im Gemeinschaftsanliegen des Überlebens der Menschheit enthalten ist, als Zielsetzung ernst genommen, so kann er nicht auf die kollektive Dimension beschränkt sein, sondern muss auch einen entsprechenden Anspruch der Einzelnen (sowohl auf das Überleben im Kollektiv als auch als einzelnes Individuum) implizieren; das Erste würde ohne das Zweite geradezu pervertiert, ___________ 225
Vgl. auch Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes,
226. 226
ICJ Reports 1996, 226 ff. Zum hier angesprochenen Aspekt Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (590 ff., insb. 592 ff.). 227 Siehe Para. 36 des Gutachtens: „(...) it is imperative for the Court to take account of the unique characteristics of nuclear weapons, and in particular their destructive capacity, their capacity to cause untold human suffering, and their ability to cause damage to generations to come.“ 228 Zum Verständnis des entscheidenden Passus des Gutachtens (Para. 105, insb. Abs. 2E) s. Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (590). 229 Vgl. neben dem nachfolgenden Zitat auch die weiteren Hinweise bei Thürer, in: ZaöRV 2000, 557 (592 ff.). 230 ICJ Reports 1996, 294 (296).
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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würde dies doch den Wert des einzelnen Lebens und damit auch den Gedanken der Menschenwürde ausschließen, der die Würde des einzelnen Menschen zwingend in sich trägt231. – Die Überlegung ist hier insofern relevant, als damit auch die Bedeutung universell verstandener Menschenrechte unterstrichen wird: Die Sicherung der menschlichen Existenz, im Kollektiv wie auch als Individuum, ist ein Anliegen, das im wahrsten Sinne „menschlich“ ist und somit grundsätzlich nicht kulturell, sozial, religiös oder sonstwie bedingt232. Auf diesem Boden lässt sich vorbringen, dass Menschenrechte in Wirklichkeit nicht eine partikuläre, insbesondere westliche Konzeption darstellen, sondern universell verbreiteten Vorstellungen entspringen233. Tatsächlich scheint ___________ 231 Der Gedanke, dass die Menschenwürde ohne die Rechte des Individuums undenkbar ist, kommt im Völkerrecht bereits in der Präambel der UNO-Charta zum Ausdruck, wo von „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ die Rede ist; auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht in der Präambel von der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“; ähnlich ist auch die Formulierung in der Präambel des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, wonach „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde (...) die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, in der Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Diese Sichtweise spielt – nicht zuletzt historisch bedingt – im deutschen Verfassungsrecht eine besondere Rolle. Siehe dazu etwa Zippelius, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2132 (2132), wonach die Menschenwürde der „Eigenwert“ ist, „der dem Menschen um seiner selbst, nicht um anderer Güter und Zwecke willen zukommt“. Zur Bedeutung der Menschenwürde als „absoluter Eigenwert des Menschen“ auch Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 161 (161 ff.). Oft zitiert ist dabei eine Formulierung, die der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Jahr 1948 – offenkundig unter dem Eindruck der Auswirkungen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes – in einer Leitentscheidung verwandte (s. BayVerfGHE 1, 29 [insb. 32]): Danach verkörpere der Mensch als Person „einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen rechtlichen und politischen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber eigenständig und unantastbar ist“; vgl. dazu etwa Häberle, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 815 (825 ff.). Der Eigenwert des einzelnen Menschen bildet sodann bspw. auch für den verfassungsrechtlichen Gehalt der Menschenwürde in der Schweiz den zentralen Ansatzpunkt; vgl. etwa Mastronardi, in: JöR 1979, 469 (469). 232 Die Tatsache, dass der „Wert“ des einzelnen menschlichen Lebens unter bestimmten kulturellen, religiösen, sozialen oder auch politischen Vorzeichen erfahrungsgemäß sehr unterschiedlich bemessen wird, ändert an diesen Überlegungen nichts. 233 Hierzu eingehend Murumba, in: FS Weeramantry, 207 ff., der hervorhebt, dass Menschenrechte ein die diversen Kulturen transzendierendes Konzept darstellen: „After all, human rights themselves are, in the final analysis, a cross-cultural invention. Without culture, there would be no human rights.“ (a.a.O., 240). Entsprechend bilde die kulturelle Diversität der Menschenrechte nicht nur kein Hindernis für deren Universalität, sondern könne vielmehr eine Chance für deren Stärkung bergen. Siehe außerdem Ramcharan, in: LA van Boven, 239 (241 f.), m.w.N., wonach Vorstellungen wie Freiheitsrechte, Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichstellung der Frauen oder Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern auch in frühen afrikanischen und asiatischen Zivilisationen
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
sich die Diskussion über die Universalität bzw. die Relativität der Menschenrechte zuletzt dahingehend entwickelt zu haben, dass heute ein Konsens über die Existenz bestimmter Kerngehalte besteht234, die für die gesamte Menschheit gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen235. Dies kommt beispielsweise in der 2001 verabschiedeten Deklaration der UNESCO über kulturelle Vielfalt236 zum Ausdruck, nach deren Art. 4 die Tatsache der kulturellen Diversität237 nicht angerufen werden darf, um völkerrechtlich garantierte Menschenrechte zu verletzen oder deren Tragweite zu schmälern238. Im Übrigen ist freilich auch nicht zu übersehen, dass (im Ergebnis ungeachtet der erwähnten Diskussion) die Universalität bestimmter Menschenrechte schon seit längerem auch auf einer konkreten normativen Ebene zum Ausdruck kommt. Die Geltung zwingender menschenrechtsschützender Normen des Völkerrechts zeigt dies deutlich239. ___________ vorhanden waren. Dabei sei auch zu bedenken, dass das Gedankengut der westlichen Zivilisationen selbst durch Impulse aus anderen Kulturkreisen beeinflusst worden sei. Allgemein zu verschiedenen Rechtsvorstellungen, die universelle Wirkung haben (könnten) außerdem Weeramantry, in: LA Oda, 1491 (1505 ff.). Insbesondere in Bezug auf die persönliche Freiheit des Individuums Franck, in: AJIL 1997, 593 ff. 234 Dem steht auch nicht entgegen, dass, wie es Alston, in: EJIL 1997, 435 (442), kritisiert hat, die Legitimation der Menschenrechte oft in Bezug zu deren Bedeutung für das Funktionieren eines freien Marktes gesetzt wird. Mithin wird der „Wert“ der Menschenrechte weniger als ein ethischer aufgefasst, sondern vielmehr über einen ökonomischen „Nutzen“ definiert, welcher aus deren Beachtung resultiert. Der ethische Imperativ der Unverletztlichkeit der Menschenwürde, der die Funktion und die Geltung der Menschenrechte begründet (vgl. etwa Müller, Grundrechte, 1 ff.), wird somit durch das Argument wirtschaftlicher Effizienz in den Hintergrund gedrängt. Dies aber ist weniger eine Frage des Konsenses bezüglich der universellen Geltung an sich der Menschenrechte, sondern des Grundes für deren Beachtung im Einzelfall. 235 Vgl. hierzu etwa Ibhawoh, in: Legal Cultures and Human Rights, 85 (85); Riedel, in: BerDGV 1993, 156 (Diskussionsbeitrag, 158). Zudem zeigt sich, dass bestimmte menschenrechtliche Konzepte, die auf den ersten Blick „westliche“ Werte zu vermitteln scheinen, sich durchaus in unterschiedlichen kulturellen Traditionen nachweisen lassen; s. etwa Bielefeldt, in: Gesellschaftsgestaltung unter dem Einfluss von Grund- und Menschenrechten, 118 ff., zum Beispiel der Geltung des menschenrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes im islamischen Raum. 236 ILM 41 (2002), 57 ff. 237 Die im Übrigen eine Tatsache darstellt, welche für die Menschheit überhaupt charakteristisch ist. Über deren Schützenswürdigkeit herrscht Einigkeit, wie insbesondere auch in der UNESCO-Deklaration klar zum Ausdruck kommt (s. etwa Art. 1: „[...] As a source of exchange, innovation and creativity, cultural diversity is as necessary for humankind as biodiversity for nature. In this sense, it is the common heritage of humanity and should be recognized and affirmed for the benefit of present and future generations.“). 238 Ähnlich lautet Art. 2 der im Jahr 2005 abgeschlossenen Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Diese ebenfalls im Rahmen der UNESCO abgeschlossene Konvention nimmt direkten Bezug auf die erwähnte Deklaration über kulturelle Vielfalt; sie befindet sich noch nicht in Kraft. 239 Zu nennen sind etwa die Verbote des Völkermords, der Folter, der Leibeigenschaft, der Zwangsarbeit und der Sklaverei sowie das Recht auf rechtliches Gehör. Dazu
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Wo es um den Schutz der ihm kraft seiner Würde als Mensch zustehenden Rechte geht, ist das Berührtsein des Einzelnen am unmittelbarsten240. Im Rahmen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes wird auch der einzelne Mensch zum Subjekt des Völkerrechts241; die zuvor ausschließliche und potentiell unbeschränkte Rechtsgewalt des einzelnen Staates über das Individuum wird damit zumindest gemäß den geltenden völkerrechtlichen Grundlagen durchbrochen242. Zwar sind die Staaten die originären Rechtssubjekte des Völkerrechts, indessen muss im Zentrum letztlich der Mensch stehen243. Die dem Individuum zustehende Menschenwürde ist somit Maßstab und Zweck der Völkerrechtsordnung244. Der diesbezügliche Konsens kommt in einer Vielzahl von zentralen völkerrechtlichen Dokumenten zum Ausdruck. An erster Stelle steht dabei die Charta der Vereinten Nationen, in deren Präambel ___________ Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 22 (23); Kälin, in: BerDGV 1993, 9 (39 f.); Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 177 ff. 240 Vgl. allgemein etwa Koller, in: Recht auf Menschenrechte, 228 ff.; Müller, in: Fragen des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes, 45 ff. 241 Wie in grundlegender Weise durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck gebracht wird; vgl. hierzu Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 5. 242 Vgl. Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (13 f.), die diesen Entwicklungsschritt als „Individualisierung“ des Völkerrechts bezeichnen. Eine ganz andere Frage bleibt freilich, ob sich dies auch auf die tatsächliche nationale Praxis auswirkt. Dass diese den völkerrechtlichen Vorgaben oftmals nicht folgt, braucht an dieser Stelle angesichts der unzähligen Menschenrechtsverletzungen, die auch durch staatliche Organe begangen werden, nicht weiter ausgeführt zu werden. 243 Exemplarisch sind diesbezüglich folgende Aussagen des Richters A. A. Cançado Trindade in seiner Concurring Opinion, Para. 12, zum Gutachten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend das Recht auf Information über konsularischen Beistand (IACtHR, The Right to Information on Consular Assistance. In the Framework of the Due Process of Law, Advisory Opinion OC-16/99, Series A No. 16): „The profound transformations undergone by international law, in the last five decades, under the impact of the recognition of universal human rights, are widely known and acknowledged. The old monopoly of the State of the condition of being subject of rights is no longer sustainable, nor are the excesses of a degenerated legal positivism, which excluded from the international legal order the final addressee of juridical norms: the human being. The need is acknowledged nowadays to restore to this latter the central position – as subject of domestic as well as international law – from where he was unduly displaced, with disastrous consequences, evidenced in the successive atrocities committed against him in the last decades. (…)“. (Hervorh. im Orig.) Vgl. hierzu auch Mennecke, in: GYIL 2001, 430 (468). 244 Vgl. etwa Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 158, 226 f., wonach anthropologische Prämisse der internationalen Gemeinschaft (wie auch des Verfassungsstaats) die Menschenwürde sei; s. außerdem ders., in: LA Häberle, 289 (298). Gemäß Schefer, Kerngehalte von Grundrechten, 185, erweist sich die Wahrung der Menschenwürde als „letzter Maßstab, an dem sich auch die Ordnung der internationalen Gemeinschaft misst“. Thürer, in: FS Ress, 307 (312), spricht davon, das Konzept der Menschenwürde sei „zentral für die moderne Logik des Völkerrechts“.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
von der Würde und dem Wert der menschlichen Persönlichkeit die Rede ist. Exemplarisch ist sodann die Aussage in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wonach „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bilde. Die explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde setzt sich außerdem in den völkerrechtlichen Dokumenten zum Schutz der Menschenrechte vielfach fort245, so etwa im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, in den beiden Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, im Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sowie im Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Jedenfalls implizit wird die Würde des Menschen außerdem in vielen weiteren Dokumenten angerufen246, von der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Genozidkonvention) über die Europäische Menschenrechtskonvention, das Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau, die Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung247 bis zum Statut des Internationalen Gerichtshofes, um nur einige wenige zu nennen. Trotz der Vorbehalte, die gegen die Idee eines gleichförmigen internationalen Gemeinwohls teilweise zu Recht vorgebracht werden, zeigt sich somit, dass kollektive und individuelle Menschheitsinteressen geeignet sind, einen universellen Grundkonsens bezüglich konkreter völkerrechtlicher Gemeinwohlgehalte zu begründen248. Offen ist einzig, auf welche Gegenstände sich ein derartiger Konsens im Einzelnen erstreckt. Die Antwort ist – mit Ausnahme bestimmter Gehalte mit zwingendem Charakter – nicht abschließend zu beantworten, sondern bleibt den (bereits im Gang befindlichen wie auch künftigen) Prozessen der Konsensbildung unterworfen. Aufschluss darüber, welche potentiellen Gemeinwohlbelange durch die Völkerrechtsgemeinschaft tatsächlich im Einzelnen als solche anerkannt werden, vermag nur eine eingehende Analyse der konkreten Rechtsbereiche zu verschaffen249.
___________ 245 Siehe die jeweiligen Präambeln der Dokumente. Ein umfassender Überblick findet sich bei Marhaun, Menschenwürde und Völkerrecht, 148 ff. 246 Vgl. jeweils insb. die Präambeln zu den Dokumenten. 247 Siehe hier insb. die Grundsätze 1, 5, 20 und 23. 248 In ähnlicher Richtung die Argumentation von Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (insb. 10 ff.); s. außerdem ders., in: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 231 (261 f.) 249 Ein entsprechender Versuch wird – für den spezifischen Rechtsbereich des völkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen – im 4. Kapitel unternommen.
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dd) Möglichkeit von Gemeinwohlkonsensen unterhalb der universellen Ebene Im Zusammenhang mit der Bestimmung des konkreten Gehalts des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft stellt sich allerdings noch die Frage, ob Universalität ein vorauszusetzendes Attribut dieses allgemeinen Wohls darstelle, ob dieses mit anderen Worten jeweils notwendigerweise ein globales sein müsse. In diese Richtung weisen zumindest die vorhergehenden Überlegungen zum Bereich der Menschenrechte, deren Gehalt im Wesentlichen unteilbar ist, soweit Garantien auf dem Spiel stehen, die den Einzelnen kraft ihres Menschseins zustehen. Zu anderen Schlüssen führt zumindest teilweise das Beispiel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen bzw. der Umwelt. Hier kann die materielle Bestimmung des Gemeinwohls in hohem Maß von der konkreten Problemstellung abhängig sein, und dabei auch von deren konkreten räumlichen Reichweite. So haben die Problematik des Klimawandels oder jene der Zerstörung der Ozonschicht eine globale räumliche Dimension, während die Nutzung vieler Ressourcen, etwa von Süßwasser, vergleichsweise lokal begrenzte Fragen aufwirft. Am Beispiel der mit den verschiedenen Umweltmedien zusammenhängenden Problemstellungen zeigt sich daher, dass die internationale Gemeinschaft als soziales System sich in unterschiedliche Subsysteme aufgliedern kann, deren Ausdehnung sich aus der räumlichen Tragweite eines bestimmten Interessenbereichs ergibt. Je nach dem können die verschiedenen sozialen Subsysteme oder regionalen Teilgemeinschaften dabei auch unterschiedliche Zusammensetzungen aufweisen. Die Schweiz etwa ist ohne jeden Zweifel in Bezug auf das Anliegen des Klimaschutzes ein Glied der globalen Interessengemeinschaft. Die Interessenlage der gesamten internationalen Gemeinschaft wird dabei durch den Umstand geprägt, dass letztlich sämtliche Staaten in irgendeiner Form250 von den negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, wie groß oder klein auch immer ihr tatsächlicher Beitrag zu den Ursachen des Problems sei. Demgegenüber ist die Schweiz im Hinblick auf die Nutzung von Wasserressourcen in einem relativ kleinen geographischen Raum in gemeinsame Interessen mit den Nachbarstaaten eingebunden. In Bezug auf diese natürliche Ressource ist sie also Teil eines regionalen Subsystems der internationalen Gemeinschaft, in dem die Bestimmung des Gemeinwohls – auch wenn dabei bestimmte allge___________ 250 Wenn auch unterschiedlich stark. So bedroht der durch die anthropogene Erwärmung der Erde verursachte Anstieg des Meeresspiegels primär küstennahe Gebiete und Inseln. Die Gefahr, die den dabei besonders betroffenen kleinen Inselstaaten droht, besteht in nichts weniger als der Auslöschung ihrer Existenz: Durch das Ansteigen des Meeresspiegels drohen sie von der Erdoberfläche zu verschwinden; s. dazu Burns, in: Dickinson Journal of Environmental Law and Policy 1997, 147 ff., sowie Neroni Slade, in: Environmental Policy and Law 2001, 157 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
meine völkerrechtliche Regeln zu beachten sind251 – in gewissem Maße von den lokalen Gegebenheiten innerhalb dieser Teilgemeinschaft abhängt. Die Bestimmung des Gemeinwohls im völkerrechtlichen Rahmen kann demnach je nach der fraglichen Interessen- und Faktenlage sowohl von universeller als auch von kleinräumigerer Tragweite sein. Während in mancher Hinsicht nur die Universalität des Gemeinwohls den Besonderheiten der Problematik gerecht zu werden vermag – die Verringerung der Bedrohung durch Nuklearwaffen sowie der Schutz des Klimas und der Ozonschicht stechen hier als Beispiele hervor –, lässt sich ein allgemeines Interesse in anderen Fällen nur in einem regionalen Kontext formulieren.
c) Gemeinsinn als motivationale Voraussetzung der Gemeinwohlorientierung auf völkerrechtlicher Ebene Auch die Verfolgung gemeinsamer Interessen der Staatengemeinschaft hat ihren Ausgangspunkt zunächst bei den individuellen Interessen der einzelnen Staaten252. Aufgrund des besonderen Charakters bestimmter Anliegen konnte sich allerdings ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die individuellen Interessen verschiedener Einzelstaaten nicht nur übereinstimmen, sondern durch ihre gemeinsame Verfolgung zugleich auch besser wahrzunehmen sind. Dabei ist nochmals an die zwei hauptsächlichen, soeben erwähnten Ausgangslagen zu denken, welche die Gemeinsamkeit von Interessen vorbestimmen: Der Grund dafür, dass eine bestimmte Angelegenheit nicht nur von partikulärem, sondern von allgemeinem Interesse ist, kann zum einen im Umstand liegen, dass sie für alle an der internationalen Gemeinschaft Beteiligten eine potentielle Bedeutung hat253, wie dies bei der Zielsetzung des Klimaschutzes ausgeprägt der Fall ist. Die Gemeinsamkeit des Interesses besteht diesfalls darin, dass alle (wenn auch unter Umständen in unterschiedlich konkretem Ausmaß, wie die Klimaproblematik ebenfalls zeigt254) von der Verwirklichung ___________ 251 So gilt hier insbesondere das völkergewohnheitsrechtliche Prinzip der fairen und gleichmäßigen Nutzung der gemeinsamen Wasserressourcen. Näher zu den für die Nutzung von gemeinsamen (Wasser-)Ressourcen geltenden völkerrechtlichen Grundsätzen im 4. Kap., B. IV. 252 Vgl. zum Folgenden auch Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (792 f., 807). 253 Was freilich nicht ausschließt, dass die tatsächliche Wahrnehmung einer solchen Problematik (und folglich auch das politische Handeln) durch die Staaten trotz grundsätzlicher Betroffenheit sehr unterschiedlich sein kann; vgl. Gillespie, International Environmental Law, Policy and Ethics, 27, 176. 254 Es sei nochmals an das Beispiel gewisser Inselstaaten oder Staaten mit tiefliegenden Küstengebieten erinnert, die durch die Folgen des Klimawandels, konkret das Ansteigen des Meeresspiegels, sehr viel unmittelbarer bedroht sind als andere Länder.
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des Zieles profitieren bzw. durch dessen Verfehlung geschädigt werden. Zum andern kann der Grund der Gemeinsamkeit aber auch darin bestehen, dass das Nutzungsinteresse an einem bestimmten teilbaren Gut255, beispielsweise der Ressource Süßwasser, von einer bestimmten Anzahl Interessenten geteilt wird. Das Verhalten der Beteiligten muss hier folglich derart ausfallen, dass die Konkurrenz zwischen den verschiedenen partikulären Interessen der Tatsache der Gemeinsamkeit gerecht wird, was im Konfliktfalle durch entsprechende rechtliche Regeln gewährleistet werden muss. Bei beiden Ausgangslagen (die sich potentiell auch überschneiden) zeigt sich, dass die Gemeinsamkeit der Interessen aus der faktischen Übereinstimmung der Anliegen resultiert256. Es ist die Einsicht in die positiven Auswirkungen gemeinsamen Handelns bzw. die ersichtlichen negativen Folgen egoistischen und rein konkurrenzorientierten Verhaltens, welche die Akzeptanz eines gemeinsamen Standpunktes ermöglicht. So kann sich das Interesse an der Nutzung einer bestimmten Ressource insbesondere mit dem Anliegen verbinden, eine Entwicklung zu verhindern, die „the tragedy of the commons“ genannt wird257: Dass eine frei zugängliche Ressource im Übermaß ausgebeutet wird, weil die Nutzerinnen und Nutzer selbst dann noch ihren partikulären Nutzungsinteressen freien Lauf lassen, wenn ihnen bekannt ist, dass sie dadurch die Zerstörung der Ressource verursachen. Partikuläre und gemeinsame Interessen gelangen dabei primär deshalb in Einklang, da sie sich letztlich gegenseitig überlagern258, und zwar in deutlich erkennbarer Weise. Insofern beruht die Bereitschaft zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen also auf pragmatischen Motiven. Es fragt sich indessen, ob die Akzeptanz einer faktischen Koinzidenz bestimmter Interessen bereits mit einer völkerrechtlichen Orientierung am Gemeinwohl gleichgesetzt werden kann. Soll Gemeinwohlorientierung die Basis einer rechtlich verfassten Gemeinschaft bilden, so erfordert dies nach den für die verfassungsstaatliche Ebene ___________ 255 Teilbare Güter sind wohl die meisten, aber nicht alle natürlichen Ressourcen. Zu denken ist an die Sonnenenergie, die in nach menschlichem Ermessen unbeschränkter Menge zur Verfügung steht, sowie an das „Gut“ des intakten Klimasystems, das die Summe einer Vielzahl von verschiedenen Faktoren darstellt (vgl. Art. 1 Ziff. 3 Klimakonvention). 256 Vgl. auch Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 53, wonach sich die Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft „wegen der Identifizierung der Fremdinteressen mit den Eigeninteressen“ entwickelten. 257 Zum Folgenden Thompson, in: Environmental Law 2000, 241 (242); vgl. zur „tragedy of the commons“ außerdem bspw. Perrez, in: Arizona Journal of International and Comparative Law 1998, 515 (552 ff.). 258 Vgl. Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (89, 94).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
geltenden Überlegungen259 von den beteiligten Akteuren eine ganz wesentliche Prädisposition auf der personalen Ebene: Die Verfolgung geteilter Interessen darf nicht einzig aufgrund egoistischer Präferenzen erfolgen, sondern muss – wenigstens grundsätzlich – auf das Motiv des Gemeinsinns bauen können. Bringt ein bestimmter Akteur die Voraussetzung des Gemeinsinns – zu verstehen als Bereitschaft zu gemeinwohlorientiertem Handeln, d. h. zur Befolgung der entsprechenden gemeinwohlrelevanten Normen260 – nicht mit, so wird er nur dann im allgemeinen Interesse handeln, wenn er einen unmittelbaren Eigennutzen daraus zu ziehen glaubt. Indessen kann nur dann von einer Gemeinschaft in einem politischen, konstitutioneller Ordnung zugänglichen Sinn gesprochen werden, wenn der Anspruch auf das Wohl aller Gemeinschaftsglieder durch die Beteiligten gegenseitig anerkannt ist261. Dies impliziert die grundsätzliche Bereitschaft, im Einzelfall die egoistischen Präferenzen zugunsten des Wohls der Gemeinschaft zurückzustellen. Zwischen der reinen Interessenverfolgung und der Orientierung am Gemeinwohl besteht mithin ein qualitativer Unterschied, der auf der Ebene einer völkerrechtlichen Gemeinschaftsordnung genauso zu beachten ist wie auf jener eines einzelnen verfassungsstaatlichen Gebildes. Offen bleibt an dieser Stelle der vorliegenden Untersuchung allerdings noch, ob und in welchem Ausmaß sich der für eine konstitutionell wirksame Orientierung am Gemeinwohl unabdingbare internationale Gemeinsinn auch tatsächlich manifestiert.
III. Begriffliche Abgrenzung: zum Verhältnis zwischen Gemeinwohlorientierung und internationaler Solidarität Nachdem bislang der Bedeutung des Gemeinwohls als Kriterium völkerrechtlicher Konstitutionalisierung nachgegangen wurde, ist nunmehr noch die Befassung mit einem Begriff erforderlich, der nicht nur eine gewisse inhaltliche Verwandtschaft zum Gemeinwohlgedanken aufweist, sondern dem in der internationalen Rhetorik an sich gar bis jetzt ein ungleich größeres Gewicht zukommt. Angesprochen ist damit der in internationalen Belangen häufige Appell an die Solidarität der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft untereinander262. Dabei läuft die Frage vorliegend darauf hinaus, ob der Begriff der ___________ 259
Siehe zuvor in diesem Kap., A. II. 1. d), mit den entsprechenden Nachweisen. Vgl. Kaufmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 19 (33), sowie Münkler/Fischer, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 9 (9). 261 Vgl. Kaufmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 19 (33). 262 Nach Schücking, Internationale Rechtsgarantien, 6, geht das Prinzip der internationalen Solidarität auf den deutschen Völkerrechtler Karl von Kaltenborn zurück, der 1847 in einer Kritik der geltenden völkerrechtlichen Ordnung den folgenden 260
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Solidarität geeignet ist, in konstitutioneller Hinsicht eine dem Gemeinwohlkriterium vergleichbare Wirkung zu entfalten.
1. Der Begriff internationaler Solidarität in der völkerrechtlichen Praxis Gerade angesichts von Interessenkonflikten, die dem in vielen internationalen politischen Prozessen sich wiederholenden Muster folgen, dass sich ökonomisch starke und schwache Staaten gegenüberstehen, bildet die Anrufung der internationalen Solidarität gewissermaßen ein rhetorisches Standardmittel263. Unterschiedlich erscheint allenfalls dessen Verwendung im Diskurs. Die einen bauen auf den Begriff als jene grundlegende ethische Maxime, auf die sie ihren politischen Anspruch stützen; andere greifen auf ihn eher als letztes verzweifeltes Argument zurück, wenn sich jede andere Überzeugungsarbeit als fruchtlos erwiesen hat. Der allgemeine politische Diskurs braucht sich allerdings nicht unbedingt auf der normativen Ebene der völkerrechtlichen Praxis niederzuschlagen. In einem ersten Schritt ist daher danach zu fragen, in welcher Gestalt der Begriff der Solidarität, der auch als „Lebenselixier der internationalen Gemeinschaft“ bezeichnet worden ist264, im Völkerrecht auftritt.
a) Solidarität als expliziter Begriff der völkerrechtlichen Praxis In der Charta der Vereinten Nationen als fundamentalem Dokument der internationalen Gemeinschaft fehlt der Hinweis auf eine wie auch immer geartete Zielsetzung der Solidarität. Gleiches gilt auch für die wichtigsten die Charta konkretisierenden völkerrechtlichen Dokumente im Bereich des Schutzes der Menschenrechte sowie der Friedenssicherung (zu nennen sind etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder die Erklärung der Vereinten Nationen über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten). ___________ Satz geäußert habe: „Wir betrachten die internationale Gemeinschaft als das Höhere, der Staat ist das Glied derselben.“ 263 Preuss, in: Solidarität, 399 (407), stellt gar die Frage, ob der Begriff der internationalen Solidarität nicht sogar ein „vulgarisiertes Schlagwort“ geworden sei. 264 So Tomuschat, in: AVR 1995, 1 (20), der allerdings auch nicht unerwähnt lässt, dass das Maß dieser Solidarität realistisch eingeschätzt werden müsse. Vgl. auch Cullet, in: EJIL 1999, 549 (558), wonach das Solidaritätsprinzip eine der ethischen Grundlagen zwischenstaatlicher Beziehungen sei.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Eine Ausnahme bildet allerdings das Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus dem Jahr 1989. Im Zusammenhang mit der Erwägung, dass Kinder im Geiste der in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Werte erzogen werden sollten, wird in dessen Präambel neben den Idealen des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit und der Gleichheit auch der Gedanke der Solidarität genannt. Daraus ließe sich ableiten, dass ein Ideal der Solidarität jedenfalls implizit265 zu den von der UNO-Charta verfolgten Zielsetzungen gehört266. Allerdings bleibt mit dieser allgemeinen Bezugnahme in der Kinderrechtskonvention offen, welche konkreten Aspekte der Gedanke der Solidarität umfassen soll. Die – soweit ersichtlich – zumindest quantitativ ausgeprägteste explizite Verwendung des Solidaritätsbegriffs in der völkerrechtlichen Praxis zum weiteren Bereich des Menschenrechtsschutzes findet sich in der Durban-Deklaration der Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz aus dem Jahr 2001267. In der Präambel ist von Solidarität zunächst als allgemeinem Wert der „Menschheitsfamilie“ die Rede, wobei dieser in den Kontext eines Gleichheitsideals unter den Menschen und Völkern gestellt wird268: Danach sei die „Idee einer Menschheitsfamilie zu verwirklichen, die auf Gleichberechtigung, Würde und Solidarität gründet, und das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Menschenrechte, der Ausrottung von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz und der Verwirklichung echter Chancengleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen und Völker zu machen“. Das Postulat der Solidarität findet sich in der Durban-Deklaration außerdem in diversen weiteren Zusammenhängen269: In Paragraph 4 bekundet die Konferenz ihre „Solidarität mit den Menschen Afrikas in ihrem fortdauernden Kampf gegen Rassismus (...)“; in Paragraph 5 wird Solidarität als einer von verschiedenen Werten (neben Respekt, Toleranz und Multikulturalismus270) bezeichnet, welche die „sittliche Grundlage und Inspiration“ für den weltweiten Kampf gegen Rassismus bilden sollen; Paragraph 55 enthält einen Appell zur Solidarität bei der Wahrnehmung der ge-
___________ 265
Zur Solidarität als implizitem Begriff der völkerrechtlichen Praxis sogleich, b). Dieser Gedanke findet sich ausdrücklich in Art. 23 Abs. 1 der African Charter on Human and Peoples’ Rights, der davon spricht, das Prinzip der Solidarität unter den Staaten sei implizit in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben. 267 Text abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008). 268 Der Zusammenhang zwischen Solidarität einerseits sowie Gerechtigkeit und Gleichheit andererseits findet sich auch in Para. 106 Durban-Deklaration. 269 Die nachfolgenden Bezugnahmen werden ähnlich außerdem in einem gleichzeitig verabschiedeten Aktionsprogramm wiederholt; vgl. dort die Paragraphen 34, 115, 130, 158 sowie 218. 270 Auch in Para. 83 Durban-Deklaration wird Solidarität zusammen mit den Werten der Toleranz und des Respekts genannt. 266
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meinsamen Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen; in Paragraph 96 wird Solidarität zusammen mit gegenseitigem Verständnis, sozialer Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte als Beistandteil einer anzustrebenden Kultur des Friedens bezeichnet; in Paragraph 122 schließlich wird der „Geist der Solidarität“ mit internationaler Zusammenarbeit in Verbindung gebracht.
Vorderhand zeigen diese Bezugnahmen auf den Solidaritätsbegriff freilich erst, dass damit ein bestimmter moralisch fundierter Wert angerufen wird. Dabei geschieht dies allerdings auch im Zusammenhang mit einem gleichbleibenden Oberthema (Rassismus) in ganz unterschiedlichen Bedeutungen, in denen sich nicht ohne weiteres ein allgemeiner und doch konkreter Sinn des Solidaritätsbegriffs entschlüsseln lässt. Ausgesprochen vage bleibt die Verwendung des Solidaritätsbegriffs auch in der im Jahr 2005 im Rahmen der UNESCO verabschiedeten Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen271. Hier ist in Art. 1 Bst. i davon die Rede, die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit und Solidarität im Geiste der Partnerschaft bilde eines der Ziele des Abkommens. Unter den leitenden Grundsätzen der Konvention wird weiter unter anderem das Prinzip der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit aufgelistet (Art. 2 Ziff. 4), welches darauf hinzielen solle, die Staaten, insbesondere die Entwicklungsländer, zu befähigen, ihre Mittel kulturellen Ausdrucks zu entwickeln und zu stärken. Im besonderen Bereich des Umweltvölkerrechts erfährt der Begriff der Solidarität – seiner hier besonders häufigen Anrufung als moralische Maxime in internationalen Diskursen zum Trotz – in den wichtigsten völkerrechtlichen Dokumenten erstaunlich wenig Präsenz272. Selbst in ausgesprochen programmatischen Quellen wie der Weltcharta der Natur oder den Deklarationen der beiden UNO-Gipfelkonferenzen über Umwelt und Entwicklung von Stockholm (1972) und Rio de Janeiro (1992) ist der Begriff nicht explizit enthalten. Selbst die anlässlich des Erdgipfels von Rio im Jahr 1992 verabschiedete Agenda 21, ein äußerst breit angelegtes Aktionsprogramm zur Umsetzung des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung, erwähnt den Begriff eher beiläufig und in sehr allgemeiner Weise. Solidarität wird dabei als Kern einer globalen Partnerschaft zur Bewältigung der Herausforderungen in Bezug auf Fragen der Umwelt und der Entwicklung bezeichnet: „(...) for the success of this new partnership, it is important to overcome confrontation and to foster a climate of genuine cooperation and solidarity.“273
___________ 271 Abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008). 272 Vgl. zum Folgenden auch Odendahl, Umweltpflichtigkeit der Souveränität, 216 ff.; Wolfrum, in: FS Tomuschat, 1087 (1093 ff.). 273 Agenda 21, Para. 2.1.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Eine ebenfalls sehr vage bleibende Bezugnahme findet sich in Art. 3 Bst. b der Desertifikationskonvention274, wo im Zusammenhang mit der Verbesserung der Zusammenarbeit und des Einsatzes von finanziellen, technischen und sonstigen Ressourcen von einem „spirit of international solidarity and partnership“ gesprochen wird. In Art. 4 Abs. 1 Bst. b wird außerdem zusätzlich zu einer allgemeinen internationalen Solidarität jene zwischen den vom Phänomen der Wüstenbildung besonders betroffenen afrikanischen Staaten angerufen. Schließlich taucht der Begriff in der Präambel des relativ wenig beachteten „Agreement on the Conservation of Cetaceans of the Black Sea, Mediterranean Sea and Contiguous Atlantic Area“ auf, wo im Zusammenhang mit dem Postulat internationaler Zusammenarbeit ebenfalls vom „spirit of solidarity“ unter den Vertragsparteien die Rede ist. Im Bereich des Wirtschafts- und Entwicklungsvölkerrechts gestaltet sich die Situation recht ähnlich, indem auch hier explizite Aussagen zu einem Grundsatz internationaler Solidarität in bedeutenden Quellen eher selten sind275. Selbst in den wichtigsten programmatischen, internationale Gerechtigkeitsanliegen aufgreifenden Deklarationen der Vereinten Nationen wie der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung276, der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten277 oder der Erklärung über das Recht auf Entwicklung278 ist ein derartiger Grundsatz nicht ausdrücklich niedergelegt worden. Eine Ausnahme bildet hier beispielsweise die Rom-Deklaration des Welternährungsgipfels von 1996279, die den Begriff der Solidarität in einen Zusammenhang mit dem Prinzip internationaler Kooperation in Bezug auf die Ernährungssicherheit stellt. Auch hier bleibt indessen völlig offen, welche konkrete inhaltliche Bedeutung dem Solidaritätsbegriff im fraglichen Zusammenhang zukommen soll bzw. mit welchen spezifischeren Zielen oder gar Rechten und Pflichten der Völkerrechtssubjekte jener in Verbindung gebracht wird.
___________ 274 Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika. 275 Vgl. hierzu auch Wolfrum, in: FS Tomuschat, 1087 (1096 ff.). 276 GV-Res. 3201 (S-VI) aus dem Jahr 1974; abgedruckt in Knipping/v. Mangoldt/Rittberger, System der Vereinten Nationen, Bd. I/1, 496 ff. 277 GV-Res. 3281 (XXIX) aus dem Jahr 1974; abgedruckt in Knipping/v. Mangoldt/Rittberger, System der Vereinten Nationen, Bd. I/1, 544 ff. 278 GV-Res. 41/128 aus dem Jahr 1986; abgedruckt in Knipping/v. Mangoldt/Rittberger, System der Vereinten Nationen, Bd. I/1, 606 ff. 279 Text abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008).
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Gehaltvoller erscheinen diesbezüglich auf den ersten Blick die Ergebnisse des im Jahr 2002 abgehaltenen Weltgipfels von Johannesburg über Nachhaltige Entwicklung280 zu sein, soweit dieser neben umweltpolitischen auch entwicklungspolitische Fragen behandelte, insbesondere der Armutsbekämpfung. Die Johannesburg-Deklaration über Nachhaltige Entwicklung281 enthält zunächst in Paragraph 17 ein allgemeines Bekenntnis zur Solidarität: „Recognizing the importance of building human solidarity, we urge the promotion of dialogue and cooperation among the world’s civilizations and peoples, irrespective of race, disabilities, religion, language, culture and tradition.“
Während dieser Formulierung wie üblich – abgesehen von der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Solidaritätsziel einerseits und internationaler Kommunikation und Kooperation andererseits – ebenfalls nichts Genaueres über die Inhalte des Solidaritätsbegriffs entnommen werden kann, enthält das zweite Johannesburger Dokument, der Johannesburg-Plan zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklung282, ein konkretes Postulat. Dieser politische Aktionsplan stellt in Paragraph 6 (b) im Zusammenhang mit anderen Bemühungen um die Beseitigung der Armut die Errichtung eines Weltsolidaritätsfonds im Schoß der Vereinten Nationen in Aussicht283. Ziel dieses Fonds soll es sein „to eradicate poverty and to promote social and human development in the developing countries“284. In unmittelbarer Nähe zum Wirtschafts- und Entwicklungsvölkerrecht steht schließlich ein Bereich völkerrechtlicher Regelungsbestrebungen, der sich erst in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausbreitung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien herausgebildet hat. So ___________ 280
Vgl. dazu allgemein Laubner, in: GYIL 2002, 417 ff. Text in United Nations, Report of the World Summit on Sustainable Development, 1 ff. 282 Text ebd., 6 ff. 283 Das Postulat eines Weltsolidaritätsfonds zum Zweck der Armutsbekämpfung findet sich im Übrigen auch bereits in Para. 157 des Aktionsprogramms von Durban der Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz vom Jahr 2001. 284 Allerdings bleibt offen, inwiefern dies einen Auftrag an die Vereinten Nationen darstellt. Einerseits soll die Generalversammlung über die Modalitäten der Einrichtung eines solchen Fonds entscheiden, andererseits werden aber keinerlei weitere Kriterien oder konkretere Zielsetzungen angeführt, die dabei zu berücksichtigen wären. Die Tatsache, dass unter den Staaten in Bezug auf dieses Postulat anlässlich der Johannesburger Konferenz in keiner Weise Einigkeit herrschte (vgl. dazu den Kommentar in ENB Vol. 22, Nr. 51, 6), äußert sich auch darin, dass der freiwillige Charakter der Beiträge zum Fonds betont wird. Dies wird außerdem verstärkt durch den in Para. 6 (b) Johannesburg-Plan weiter enthaltenen Aufruf, der Privatsektor sowie einzelne Bürgerinnen und Bürger sollten sich mit Beiträgen beteiligen; dies dürfte auf der Ebene völkerrechtlicher Finanzierungsmechanismen eine bislang einzigartige Vorgehensweise darstellen. Das weitere Schicksal dieses Weltsolidaritätsfonds ist insofern völlig offen. 281
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
scheint mit dem unter der Ägide der International Telecommunication Union (ITU) und mit ausdrücklicher Unterstützung der Generalversammlung der Vereinten Nationen285 durchgeführten ersten Weltinformationsgipfel („World Summit on the Information Society“) der Grundstein für ein eigentliches Informationsvölkerrecht286 gelegt zu sein. In diesem spezifischen Bereich hat nun die zuvor gemachte Feststellung, dass auch auf dem weiteren Feld des Wirtschaftsund Entwicklungsvölkerrechts eher selten auf ein Ziel der Solidarität Bezug genommen wird, in jüngster Zeit eine gewisse Relativierung erfahren. Der erste, im Dezember 2003 in Genf abgehaltene Teil dieser Konferenz287 hat mit der Genfer Deklaration über die Informationsgesellschaft288 und einem parallel verabschiedeten Aktionsplan289 zwei Grundlagendokumente hervorgebracht, welche – jedenfalls vom Ansatz her – in offenkundiger Anlehnung an die einschlägigen Deklarationen in anderen Bereichen290 die Zielsetzungen und Grundsätze festhalten, welche künftig die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie im Hinblick auf eine gerechte globale Informationsgesellschaft bestimmen sollen. Auffälliges Merkmal ist dabei eine wiederholte Bezugnahme auf internationale Solidarität, dies vor zweifachem Hintergrund: Einerseits wird festgehalten, dass der aus der Revolution der Informationstechnologie resultierende Nutzen heute zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern, aber auch innerhalb bestimmter Gesellschaften, höchst ungleich verteilt ist (sog. „digital divide“)291. Andererseits wird daran erinnert, dass Grundlage der Informationsgesellschaft letztlich die (durch Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegte) Meinungsäußerungsfreiheit bildet, welche das Recht auf Informationsverbreitung wie auch auf Informationsempfang umfasst292. Zur Bildung einer offenen und umfassenden Informationsgesellschaft sollen dabei unter anderem neue Formen der Solidarität beitragen, wobei die Deklaration zur Überbrückung des „digitalen Grabens“ zu einer eigentlichen „digitalen Solidarität“ globalen Maßstabs aufruft293. Letztere wiederum soll nicht zuletzt ___________ 285
Siehe GV-Res. 56/183 vom 21.12.2001. Für eine vorläufige Bestandesaufnahme bereits vor dem Weltinformationsgipfel bestehender internationaler Regelungsansätze s. Mayer, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2002, 93 (94 ff.). 287 Der Weltinformationsgipfel wurde in zwei Teilen abgehalten (vgl. GV-Res. 56/183), wobei die zweite Zusammenkunft im November 2005 in Tunis stattfand. 288 Dok. Nr. WSIS-03/GENEVA/DOC/4-E. 289 Dok. Nr. WSIS-03/GENEVA/DOC/5-E. 290 Zu nennen sind etwa die zuvor erwähnten Deklarationen von Rio, Rom und Johannesburg. 291 Vgl. Para. 10 Genfer Deklaration. 292 Para. 4 Genfer Deklaration. 293 Para. 17 und 67 Genfer Deklaration. 286
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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durch das Bekenntnis der angesprochenen Akteure (Staaten, privater Wirtschaftssektor, Zivilgesellschaft und Weitere) zum an die Genfer Deklaration anknüpfenden Aktionsplan erreicht werden, der nichts weniger als eine „Digital Solidarity Agenda“ enthalten soll294. In diesem Zusammenhang wird schließlich noch ein „Digital Solidarity Fund“ genannt295, der – ausdrücklich auf freiwilliger Basis – finanzielle Ressourcen zugunsten noch nicht näher bestimmter Maßnahmen bereitstellen soll. Der im Rahmen dieser jüngeren Entwicklungen schon fast inflationäre Umgang mit dem Solidaritätsbegriff kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztlich – jedenfalls bislang – nicht ersichtlich ist, ob damit (insbesondere für die Staaten als angesprochene Akteure) konkrete völkerrechtliche Verpflichtungen einhergehen sollen.
b) Solidarität als implizites Prinzip der völkerrechtlichen Praxis Die insgesamt eher seltene und bislang wenig gehaltvolle explizite Bezugnahme auf den Begriff der Solidarität schließt allerdings nicht von vornherein aus, dass eine Maxime internationaler Solidarität in impliziter Weise Gegenstand des Völkerrechts ist296. Entsprechende Hinweise finden sich insbesondere in den soeben erwähnten Deklarationen der Vereinten Nationen, deren erklärte Zielsetzung es ist, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen auf eine Basis globaler Verteilungsgerechtigkeit zu stellen297. Dabei gibt die Präambel der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung die Stoßrichtung folgendermaßen vor: Angestrebt wird danach eine internationale Ordnung, die „auf Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, wechselseitiger Abhängigkeit, dem gemeinsamen Interesse und der Zusammenarbeit aller Staaten unabhängig von ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beruht, die Ungleichheiten behebt und bestehende Ungerechtigkeiten besei-
___________ 294
Para. 61 Genfer Deklaration sowie Kap. D des Aktionsplans. Para. 61 Genfer Deklaration. 296 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (287), stellt in diesem Zusammenhang einen Vergleich mit dem Konzept des „ius cogens“ an, das in der Regel ebenfalls nicht ausdrücklich genannt wird, aber dennoch das gesamte Völkerrecht durchdringt. Vgl. allgemein zum Solidaritätsbegriff als primär impliziter Bestandteil des Völkerrechts auch Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 233 ff.; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 272 ff.; Tomuschat, in: EPIL, Vol. IV, 460 ff. Verschiedene Völkerrechtsbereiche, welchen der Solidaritätsgedanke immanent bzw. in denen er teilweise gar als „tragendes Strukturelement“ erscheinen soll, nennt Hilpold, in: JöR 2007, 195 (196 ff.). 297 Vgl. dazu Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 65 ff.; kritisch Wildhaber, in: FS Furgler, 277 ff. 295
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
tigt, die die Aufhebung der sich vertiefenden Kluft zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern ermöglicht und eine sich stetig beschleunigende wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Frieden und Gerechtigkeit für die heutigen und die kommenden Generationen gewährleistet (...)“.
Der Feststellung der bestehenden Probleme (Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern) sowie des allgemeinen faktischen Hintergrunds einer alle Staaten betreffenden internationalen Interdependenz und Gemeinsamkeit der Interessen wird also ein politisches Programm mit ethischen Komponenten gegenübergestellt. Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden sind die Pfeiler, welche die Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsanliegen der heutigen wie auch der künftigen Generationen stützen sollen. Im Zentrum steht dabei die diesen Werten verpflichtete Kooperation der Staatengemeinschaft, was in der Erklärung noch weiter verdeutlicht wird. So sollen „das politische, wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der heutigen und der künftigen Generationen“298 bzw. die „Sicherung des Wohlstands für alle“299 durch die gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staaten erreicht werden. Von Seiten der ökonomisch wohlhabenden Industriestaaten soll diese Zusammenarbeit dabei durch die Gewährung von Hilfeleistungen an die Entwicklungsländer geprägt sein. Diese Hilfe soll „frei von irgendwelchen politischen und militärischen Bedingungen“300 sein sowie als Vorzugsbehandlung der Entwicklungsländer den allgemein herrschenden Grundsatz der Gegenseitigkeit durchbrechen301. Diese Zielsetzungen einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung werden in der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten weiter untermauert. In einem Kapitel über die Grundlagen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen wird dabei als einer der von den Staaten bei der Gestaltung ihrer wirtschaftlichen, politischen und sonstigen Beziehungen zu beachtenden Grundsätze die „Förderung der internationalen sozialen Gerechtigkeit“ genannt302. Den hauptsächlichen Maßstab der angestrebten sozialen Gerechtigkeit bildet die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern, und zu deren Gunsten sollen sich daher besondere Maßnahmen auswirken: Deren Außenhandel soll mit zusätzlichen Vorteilen unterstützt werden303, etwa ___________ 298
Para. 3 der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung. 299 Para. 4 Bst. b der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung. 300 Para. 4 Bst. k der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung. 301 Para. 4 Bst. n der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung. 302 Kap. I Bst. m Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 303 Kap. II Art. 14 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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durch nicht auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit beruhende Zollpräferenzen von Seiten der Industriestaaten304, und die Industriestaaten sollen den Entwicklungsländern technologische wie auch finanzielle Ressourcen zukommen lassen305. Zur die verschiedenen Maßnahmen überdachenden Maxime wird schließlich der Grundsatz erhoben, dass im Hinblick auf die Erreichung einer gerechten internationalen Ordnung alle Mitglieder der Staatengemeinschaft mitwirken sollen: „Die internationale Zusammenarbeit für die Entwicklung ist das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Aufgabe aller Staaten. Jeder Staat soll an den Anstrengungen der Entwicklungsländer zur Beschleunigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung mitwirken, indem er ihnen entsprechend ihren Entwicklungsbedürfnissen und -zielen, unter strenger Achtung der souveränen Gleichheit der Staaten und ohne ihre Souveränität beeinträchtigende Bedingungen günstige äußere Bedingungen einräumt und sie aktiv unterstützt.“306
Zu bemerken ist freilich, dass die genannten Resolutionen der UNO-Generalversammlung in ihren progressivsten Abschnitten, soweit sie sehr weit gehende Pflichten der Industriestaaten und entsprechende Rechte der Entwicklungsländer (beispielsweise im Rahmen von Zollpräferenzen) postulieren, von Seiten der meisten Industriestaaten offene Ablehnung erfahren haben307. Andererseits bringen diese Quellen in konzentrierter Form jene Elemente zum Ausdruck, die in der völkerrechtlichen Literatur verbreitet als Quintessenzen eines dem geltenden Völkerrecht zugrunde liegenden Solidaritätsgedankens aufgefasst werden. Als zentraler Aspekt der Entwicklung und eigentlicher Aus___________ 304
Kap. II Art. 18 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. Siehe insb. Kap. II Art. 13, 22 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 306 Kap. II Art. 17 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 307 So wurde die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten nur von drei OECD-Staaten (Australien, Neuseeland und Schweden) angenommen; s. Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung, 47 ff. Beispielhaft etwa die Aussage von Wildhaber, in: FS Furgler, 277 (282): „Jedenfalls scheinen individuelle, auf das Recht auf Entwicklung gestützte Forderungsberechtigungen ausgeschlossen. Wer wollte im Ernste behaupten, dass einzelne Drittweltländer (oder gar ihre Staatsangehörigen) konkrete völkergewohnheitsrechtliche Forderungsrechte gegen einzelne oder alle industrialisierten Staaten auf spezifische Geldleistungen, Präferenzzölle, Technologietransfer usw. geltend machen könnten?“ Vgl. dazu auch Kälin, in: Schweizerischer Juristenverein, Referate und Mitteilungen 1986, 249 (309 f.); Oppermann, in: LA Jaenicke, 681 (683 ff.); Scheuner, in: FS Menzel, 251 (276 f.); Wälde, in: International Legal Issues Arising, 1301 (1301 f.). Dieser Haltung entspricht auch die Position, aus einem allfälligen völkerrechtlichen Solidaritätsprinzip könnten keine spezifischen Forderungen von Seiten der Entwicklungsländer zulasten der Industriestaaten abgeleitet werden; in dieser Richtung etwa Oppermann, in: Reforming the International Economic Order, 24 (26 f.); ebd., 24 (28), zudem auch ablehnend zur Forderung einer allgemeinen nicht-reziproken Vorzugsbehandlung von Entwicklungsländern. 305
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
druck eines völkerrechtlichen „Prinzips der internationalen Solidarität“ wird dabei die „Verantwortung der ökonomisch fortgeschrittenen Länder für unterentwickelte Staaten“ und damit eine eigentliche Sozialverantwortlichkeit im Rahmen der Staatengemeinschaft verstanden308. Repräsentativ für den wohl häufigsten Ansatz, Solidarität als dem geltenden Völkerrecht zugrunde liegendes „Prinzip“ zu belegen, lässt sich hier eine Abhandlung von Ronald St. John Macdonald309 betrachten. Dieser stützt sich einerseits auf die mit ethischen Zielsetzungen unterlegten Formen der internationalen Kooperation, wie sie insbesondere in den UNO-Deklarationen zur neuen internationalen Wirtschaftsordnung und zum Recht auf Entwicklung postuliert werden. Andererseits wird der Kritik, die von Seiten der Industriestaaten an jenem Modell erhoben wurde, durch die Einbeziehung aller Staaten – somit auch der Entwicklungsländer – in die aus dem Prinzip resultierenden Verpflichtungen begegnet. Der in seiner allgemeinen Stoßrichtung auch von anderen Autorinnen und Autoren310 verfolgte Ansatz stützt sich bei seinem Verständnis von Solidarität als völkerrechtliches Prinzip zunächst auf die Ausgangslage einer zunehmenden globalen Interdependenz vor allem in ökonomischen und ökologischen Belangen311. Die Tatsache der Notwendigkeit, das ___________ 308 So in Bezug auf die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 76 f., unter Hinweis auf Tomuschat, in: VN 1975, 93 (97); vgl. auch Macdonald, in: FS Lalive, 275 (293); Scheuner, in: FS Menzel, 251 (270 ff.). 309 Macdonald, in: FS Lalive, 275 ff. 310 Siehe nachfolgend die jeweiligen Nachweise zu einzelnen Punkten. In eine andere Richtung geht dagegen ein bspw. von Partsch, in: EuGRZ 1991, 469 ff., verfolgter Ansatz. Als Indizien für eine Zunahme „internationaler Solidarität“ wertet er diverse als positiv einzustufende Entwicklungen in verschiedensten Völkerrechtsbereichen, insbesondere die Stärkung des internationalen Schutzes der Menschenrechte und die Zunahme humanitärer Interventionen in bewaffneten Konflikten und/oder humanitären Katastrophensituationen. Nicht zuletzt sollen dabei auch militärische Interventionen auf der Basis von Entscheidungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (konkret hervorgehoben wird das militärische Eingreifen im Rahmen des zweiten Golfkriegs nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak) einen Ausdruck „gesteigerte(r) Solidarität zwischen den Mitgliedern der Völkergemeinschaft“ bilden (a.a.O., 471). 311 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (287); in Bezug auf ökologische Belange s. bspw. auch Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (797 ff.); vorwiegend in Bezug auf wirtschaftliche Problemstellungen Bedjaoui, in: Droit international, 1247 (1255 ff.), sowie Scheuner, in: FS Menzel, 251 (272 f.). In diese Richtung geht außerdem auch Para. 3.2. der Resolution der ILA aus dem Jahr 1986 zu „Legal Aspects of a New International Economic Order“ bezüglich der Bedeutung eines „principle of solidarity“ (wiedergegeben in ILA, Report of the sixty-second Conference Held at Seoul 1986, 1 ff.): „The principle of solidarity reflects the growing interdependence of economic development, the growing recognition that States have to be made responsible for the external effects of their economic policies and the growing awareness that underdevelopment of national economies is also harmful to other nations and endangers the maintenance of peace.“ Daran anknüpfend Bulaji , Principles of International Development Law, 252; s. dazu außerdem
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Wohlergehen und sogar das Überleben der Menschheit etwa durch den Schutz der Umwelt zu sichern, lässt sich danach als gemeinsames Interesse von derartiger Intensität betrachten, dass eine Pflicht der Staaten entsteht, sich im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger solidarisch zu verhalten312. Damit besteht bereits auf einer faktischen Schicksalsebene jene (internationale) Gemeinschaft, deren Vorhandensein als logisch notwendige Voraussetzung von (internationaler) Solidarität begriffen wird313. Zum eigentlichen Grund für die Idee internationaler Solidarität wird hier die Erkenntnis, dass es im allgemeinen Interesse der internationalen Gemeinschaft liegt, die gesetzten Ziele mit dem Mittel der Zusammenarbeit zu erreichen. Den Anknüpfungspunkt für die Argumentation, dass der Gedanke internationaler Solidarität in der völkerrechtlichen Praxis in konkreten normativen Bestimmungen enthalten sei, bilden denn auch die diversen internationalen Kooperationspflichten der Staaten, um gemeinsame Ziele wie die Sicherung des Friedens und des Wohlergehens der internationalen Gemeinschaft zu erreichen. Der Gedanke internationaler Solidarität wird dabei gewissermaßen als eigentliche Grundlage des modernen Kooperationsvölkerrechts dargestellt: „(...) the modern-day network of treaties and declarations can be readily understood as an effort on the part of member states to create an international law of cooperation, built on the assumption of the necessity of international solidarity.“314
Anhaltspunkte für die These, dass der Grundsatz internationaler Solidarität ein dem geltenden Völkerrecht in der Gestalt von Kooperationspflichten zugrunde liegendes Prinzip bilde315, werden schon der Charta der Vereinten Nationen entnommen316. Die Friedenssicherung als Hauptziel der Charta, aber auch das in Art. 55 enthaltene Gebot zur Förderung der globalen Wohlfahrt verlangten nämlich solidarisches Verhalten in der Form gemeinsamer Verant___________ auch Makarczyk, Principles of a New International Economic Order, 178 ff., sowie Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 103 ff. 312 Siehe Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (799), unter Hinweis auf Scheuner, in: FS Menzel, 251 (274). 313 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (275); vgl. auch Cullet, in: EJIL 1999, 549 (558). 314 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (288); vgl. auch ebd., 275 (290). 315 Zum Zusammenhang zwischen dem Solidaritätsprinzip und internationaler Kooperation s. auch Virally, in: RdC 1967-III, 1 (66). 316 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (288 f.). Siehe außerdem auch Cullet, in: EJIL 1999, 549 (559); Kälin, in: Schweizerischer Juristenverein, Referate und Mitteilungen 1986, 249 (305 f.); Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 106, 356. Lediglich von einer „feeble expression“ dafür, dass das Solidaritätsprinzip in der UNO-Charta festgehalten sei, spricht Zemanek, in: RdC 1997, 9 (61). Von den Prinzipien der Solidarität und der freundschaftlichen Beziehungen unter den Staaten, die implizit in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt seien, spricht im Übrigen ausdrücklich Art. 23 Abs. 1 der African Charter on Human and Peoples’ Rights; diese bringt freilich unmittelbar die Position der afrikanischen Entwicklungsländer zum Ausdruck.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
wortung der Staaten für die Erreichung dieser Ziele; dies werde dann insbesondere mittels der in verschiedener Weise (so durch Art. 1 Abs. 3 sowie etwa Art. 13) statuierten Verpflichtung der Staaten zur internationalen Zusammenarbeit weiter konkretisiert. Die Rolle von Kooperationspflichten als Ausdruck des Solidaritätsprinzips wird außerdem mit dem Hinweis auf die besonders weit gehenden Kooperationspostulate zugunsten der Entwicklungsländer (und insbesondere der wirtschaftlich Schwächsten unter diesen) untermauert, wie sie in der Erklärung der Vereinten Nationen zur Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten sowie der Erklärung über das Recht auf Entwicklung enthalten sind317. Nach Macdonald finden sich Ausdrucksformen des „Solidaritätsprinzips“ schließlich in großer Zahl im Rahmen der Kooperationspflichten des Wirtschafts- sowie des Umweltvölkerrechts. Dabei beschränkt er die entsprechende Zuordnung nicht alleine auf den Austausch finanzieller und technologischer Ressourcen zugunsten der Entwicklungsländer, sondern versteht den Bereich von rechtlichen Formeln, die als Ausdruck einer übergeordneten Solidaritätsmaxime verstanden werden könnten, sehr breit. So sollen aus dem Bereich des Umweltvölkerrechts neben der allgemeinen Kooperationspflicht selbst Prinzipien wie das Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen oder (am Beispiel des Montreal-Protokolls zur Ozonschutzkonvention) Kommunikations- und Informationspflichten die Geltung des übergeordneten Solidaritätsprinzips belegen318. In einem weiteren Schritt wird dann allerdings auch betont, dass das völkerrechtliche Solidaritätsprinzip nicht auf das Kooperationsanliegen der Unterstützung der Entwicklungsländer durch die Industriestaaten beschränkt werden dürfe319. Das Prinzip sei also nicht so zu verstehen, dass wirtschaftlich schwache Entwicklungsländer ohne Verpflichtungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft seien; vielmehr umfasse die Pflicht zur aktiven Kooperation alle Mitglieder der Staatengemeinschaft, denn nur so könnten die gemeinschaftlichen Ziele globalen Friedens und Wohlergehens erreicht werden. Hier widerspiegelt sich eine Gewichtsverschiebung von jenem „einseitig“ zugunsten der Entwicklungsländer wirkenden – und daher von den Industriestaaten abgelehnten – Solidaritätskonzept, wie es in den diversen UNO-Deklarationen der siebziger Jahre in Bezug auf die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung postuliert worden war, zu einem grundsätzlich alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verpflichtenden Ansatz320. Dies schließt frei___________ 317
Macdonald, in: FS Lalive, 275 (290 ff.). Ebd., 275 (299 f.). 319 Ebd., 275 (297); vgl. auch Scheuner, in: FS Menzel, 251 (273, 274 f.). 320 Vgl. Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (237 f.). 318
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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lich auch nicht aus, dass in humanitären Notsituationen – in denen hauptsächlich Entwicklungsländer auf die Hilfeleistung anderer Staaten bzw. der internationalen Gemeinschaft angewiesen sind – aus einem so verstandenen völkerrechtlichen Solidaritätsprinzip eine unbedingte Beistandspflicht der wohlhabenderen Staaten hervorgeht321. Von zentraler Bedeutung ist bei allem die Annahme einer ethischen Ausrichtung der internationalen Kooperation322. Diese stützt sich auf die Feststellung, dass in allen genannten Dokumenten Verpflichtungen zur internationalen Zusammenarbeit statuiert werden, um bestimmte Zielsetzungen zu erreichen, die als Gemeinschaftswerte bezeichnet werden können. Macdonald betrachtet daher außerdem die besondere Kategorie der Verpflichtungen „erga omnes“ als Ausdruck des allgemeinen völkerrechtlichen Solidaritätsprinzips323: Die besondere qualitative Eigenschaft der Verpflichtungen „erga omnes“ bestehe darin, dass sie das bilaterale Muster von Rechten und Pflichten hinter sich ließen, indem sie gemeinsamen Anliegen der gesamten Staatengemeinschaft Geltung verschafften324. Am deutlichsten komme dies in den Normen des zwingenden Völkerrechts zum Ausdruck, die als Anerkennung der Notwendigkeit verstanden werden könnten, gemeinsame Werte und Standards zu beachten325. Der aus den gesamten Überlegungen zur Bedeutung des völkerrechtlichen Solidaritätsprinzips gezogene Schluss ist denn auch: „the obligations of solidarity devolve on all states“326.
c) Interessenwahrnehmung als zentraler Aspekt eines völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts Die hier interessierende Frage bezüglich eines derartigen völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts lautet, in welchem Verhältnis dieses zum Ansatz der konstitutionellen Gemeinwohlorientierung steht. Für die Beantwortung wesentlich ist dabei die Rolle, die im Rahmen des geschilderten Solidaritätsverständnisses den verschiedenen involvierten Interessen zukommt. Einen Eindruck davon vermitteln etwa die beiden folgenden Aussagen:
___________ 321
Vgl. hierzu Bryde, in: Neuordnung der Weltwirtschaft?, 29 (42 ff.). Siehe auch Scheuner, in: FS Menzel, 251 (270 ff.). 323 Macdonald, in: FS Lalive, 275 (277, 285 ff.). 324 Ebd., 275 (285). 325 Ebd., 275 (286). 326 Ebd., 275 (301). 322
272
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
„Solidarity is first and foremost a principle of cooperation which identifies as the goal of joint and separate state action an outcome that benefits all states, or at least does not interfere seriously with the interests of other states.“327 „Solidarity is neither charity nor welfare; it is an agreement among equals that they will all refrain from actions that would significantly interfere with the realization of common goals and fundamental interests. Solidarity requires an understanding that every member of community must consciously and constantly conceive of its own interests as being inextricable from the interests of the whole.“328
Hier kommt zum Ausdruck, dass die Interessenwahrnehmung einen zentralen Aspekt dieses Solidaritätsverständnisses bildet329. Die Maxime „Solidarität“ bedeutet danach, dass jeder einzelne Staat bei seinem völkerrechtlich relevanten Handeln zum einen die allfällig betroffenen Interessen anderer Staaten und zum anderen die gemeinsamen Interessen der gesamten internationalen Gemeinschaft zu berücksichtigen hat. Da die Pflicht des einzelnen Staats zu solidarischem Verhalten gegenüber allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft besteht, sind es zudem die gemeinsamen Interessen aller, welchen im Zweifelsfall das größere Gewicht zukommen muss als den Interessen eines einzelnen anderen Staats. Zugleich verlangt das Prinzip internationaler Solidarität nach diesem Verständnis aber auch nicht, dass der einzelne Staat in seinem Verhalten gegenüber anderen Staaten von seinen eigenen Interessen vollkommen zu abstrahieren hat. Vielmehr ist Ziel solidarischen Handelns gegenüber anderen Staaten und der internationalen Gemeinschaft, dass die gemeinsamen Interessen aller gewahrt werden, was auch ein entsprechendes Interesse des Handelnden mit einschließt. Das Prinzip der Solidarität verlangt lediglich Handeln gemäß der Einsicht, dass auch das eigene Interesse Bestandteil des größeren Ganzen ist und somit die ___________ 327
Ebd., 275 (277). Ebd., 275 (301). 329 Ähnlich auch Cullet, in: EJIL 1999, 549 (558): „Solidarity is an expression by members of a community that they have common interests and that they should contribute to their realization and furtherance. It implies a sense of partnership among all actors in solving issues which are of interest or concern to the community at large.“ Vgl. auch Odendahl, Umweltpflichtigkeit der Souveränität, 217; Makarczyk, Principles of a New International Economic Order, 180, gestützt auf Para. 3.2. der ILA-Resolution „Legal Aspects of a New International Economic Order“ (s. auch zuvor in diesem Kap., Fn. 311). Von „bloße(r) Interessensolidarität“ spricht in Bezug auf die Bedeutung eines völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts Simma, Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 306. Eine Gleichsetzung von gemeinsamen Interessen und dem Konzept internationaler Solidarität findet sich bei Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, Droit international public, 60. Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (800), stellt außerdem fest, gemeinsame Interessen bildeten den Kern des Konzepts der als Solidaritätsrechte bezeichneten sog. Menschenrechte der dritten Generation (Recht auf Frieden, Selbstbestimmungsrecht, Recht auf Entwicklung, Recht auf eine gesunde Umwelt); vgl. hierzu auch Taylor Saito, in: University of Miami Inter-American Law Review 1996/97, 387 (397). 328
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
273
Wahrung der Gemeinschaftsinteressen im eigenen Wohl liegt. Das der völkerrechtlichen Ordnung als zugrunde liegend verstandene Solidaritätskonzept impliziert mit anderen Worten, dass solidarisches Handeln die Wahrnehmung eigener Interessen mit einschließt, solange diese mit den übergeordneten Gemeinschaftsinteressen vereinbar sind. Dem entspricht der Schluss, zu welchem Raimund Schütz in seiner Untersuchung zum Bestand an Solidarrechten und -pflichten im Bereich des Wirtschaftsvölkerrechts gelangt, „dass Solidaranforderungen nur dann völkerrechtliche Formen annehmen, wenn sie die Interessenlage aller beteiligten Völkerrechtssubjekte zum gegenseitigen Nutzen berücksichtigen“330. Solidarität erweist sich in der internationalen Praxis demnach insgesamt keineswegs als Ausdruck nicht-reziproker Verhaltensformen, wie sie in den Forderungen der Entwicklungsländer, niedergelegt in den Deklarationen der Vereinten Nationen rund um die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, ursprünglich postuliert worden sind. Vielmehr legt Schütz dar, dass die „Solidarstrukturen“ im Bereich des Rechts internationaler Wirtschaftsbeziehungen grundsätzlich reziprok angelegt seien331. Zu dieser Folgerung führt etwa der Umstand, dass der Transfer finanzieller Ressourcen von Industriestaaten zu Entwicklungsländern regelmäßig auf der Basis von Effizienzauflagen erfolgt, die dem Geberstaat oder der beteiligten internationalen Organisation das Recht zusichern, bestimmte Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Entwicklungsziels zu verlangen332. Dabei besteht das von den Geberstaaten verfolgte Eigeninteresse333, das mit der Einflussnahme auf die Verwendung der finanziellen Mittel gesichert werden soll, primär in der Erwartung langfristig positiver Rückwirkungen auf die eigene Wirtschaft334. Für bestimmte Staaten, insbesondere die USA335, spielen zudem außen- und sicherheitspolitische Interessen eine wichtige Rolle. Zu erwähnen ist im Übrigen noch, dass selbst die von den Entwicklungsländern eingebrachten und von den Industriestaaten großmehrheitlich so deutlich abgelehnten diversen UNO-Erklärungen im Zusammenhang mit der Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung bei der Frage der Reziprozität nicht völlig konsequent sind. Zwar finden sich einerseits die erwähnten Einbrü___________ 330
Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 365. Für eine Zusammenfassung des Ergebnisses der entsprechenden Untersuchungen s. Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 365 ff. 332 Dazu in Bezug auf den Transfer finanzieller Ressourcen im Einzelnen ebd., 134 ff., sowie zusammenfassend 236 ff. 333 Siehe ebd., 236, 367. 334 Vgl. auch Simma, Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 301 f. 335 Vgl. Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 199 f., m.w.N. 331
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
che ins Reziprozitätskonzept, so mit dem allgemeinen Postulat der nicht-reziproken Vorzugsbehandlung der Entwicklungsländer336 und insbesondere der Forderung nach nicht-reziproken Zollpräferenzen zugunsten derselben337. Andererseits wird selbst in der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten als Grundsatz ausdrücklich festgehalten, die wirtschaftlichen, politischen und sonstigen Beziehungen der Staaten untereinander müssten einem gerechten Nutzen dienen, der auch gegenseitig sein soll338. Insbesondere gilt dies für den internationalen Handel, der „unbeschadet der allgemeinen nicht diskriminierenden und nicht auf Gegenseitigkeit beruhenden Präferenzen zugunsten der Entwicklungsländer auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens (...) abgewickelt werden soll“339. Die Einschätzung, dass auch die bestehenden völkerrechtlichen Solidaritätskonzepte nicht auf altruistische Motivationen der Mitglieder der Staatengemeinschaft abstellen, kommt somit deutlich im Reziprozitätsgrundsatz zum Ausdruck340.
2. Weitere Solidaritätskonzepte im Vergleich a) Sozialphilosophische Grundlagen Die grundsätzliche Orientierung an Eigeninteressen und der (darauf aufbauende) reziproke Charakter von zwischenstaatlichen Beziehungen, die als Ausdrucksformen eines völkerrechtlichen Konzepts internationaler Solidarität verstanden werden, fallen durchaus nicht von Werten ab, die mit dem Begriff der Solidarität in anderen Kontexten in Verbindung gebracht werden. Zunächst kann zwar unter Umständen unklar sein, welche Ziele hinter der umgangssprachlichen, auch politischen, Verwendung341 des Solidaritätsbegriffs ___________ 336 Siehe Para. 4 Bst. n der Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung; in gleichem Sinn auch Kapitel II Art. 19 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 337 Kapitel II Art. 18 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 338 Kap. I Bst. e Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 339 Kap. II Art. 26 Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. 340 Zu diesem Zusammenhang auch Simma, Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 307. Allgemein zum Prinzip der Gegenseitigkeit im Völkerrecht Byers, Custom, Power and the Power of Rule, 88 ff.; Simma, in: EPIL, Vol. IV, 29 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 48 ff.; Virally, in: RdC 1967III, 1 ff. Zur Rolle der Reziprozität im besonderen Bereich des Menschenrechtsschutzes Provost, in: BYIL 1994, 383 ff. 341 Die rechtliche Bedeutung von Solidarität als Kategorie der Haftpflicht (vgl. bspw. für das schweizerische Recht Art. 50 und 51 OR) wird hier außer Acht gelassen. Es ist aber immerhin zu bedenken, dass in dieser Bedeutung die sprachgeschichtlichen, ins
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stehen. Einerseits mögen oftmals moralische Maximen wie Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Mitleid, Mitmenschlichkeit mitklingen. Der Appell zur Solidarität impliziert dann den Aufruf zur Offenheit gegenüber den Sorgen Anderer, die in der am weitesten gehenden Form gänzlich Fremde sein können, bezüglich derer die solidarisch Handelnden von nichts als der puren Tatsache einer bestimmten Notlage wissen. Andererseits kann ein Aufruf zu Solidarität auch bezwecken, gerade die Interessen der Angesprochenen zu wahren, etwa der Mitglieder einer Sippe, einer Volksgruppe, einer Partei, einer Gewerkschaft oder eines sonstigen Interessenverbands. Diesfalls handelt es sich dann um die Solidarität innerhalb einer Gruppe, welche die solidarisch Handelnden gegen Anfechtungen von außen stärken soll und insofern letztlich mit einem Reflex gegen Fremde einhergeht. Bei allem Facettenreichtum342 der möglichen Bezugnahmen auf den Begriff und ungeachtet seiner auch zeitlichen Wandelbarkeit343 besteht allerdings weitgehend Einigkeit in Bezug auf die allgemeine sozialphilosophische Kernbedeutung von Solidarität: Ein wichtiger gemeinsamer Nenner ist dabei zunächst darin zu sehen, dass Solidarität einen gruppenspezifischen Sinn aufweist. Die besondere moralische Pflicht solidarischen Verhaltens besteht aus dem Grund, dass zwischen bestimmten Individuen die auf einem wechselseitigen Angewiesensein beruhende Verbundenheit einer Gemeinschaft besteht344. ___________ römische Recht zurückreichenden Wurzeln des Solidaritätsbegriffs liegen; vgl. bspw. Metz, in: Solidarität, 172 (172). 342 Siehe dazu etwa Volkmann, Solidarität, 3 ff., mit Blick auf die unterschiedlichsten Bedeutungszuweisungen und Erscheinungsformen: „Es gibt die spontane und die dauerhafte Solidarität, die Solidarität unter Gleichen und unter Ungleichen, die von persönlicher Zuneigung getragene Solidarität und die Solidarität aus Berechnung, die Solidarität zur Interessenverfolgung und die aus uneigennützigem Altruismus, die kämpferische Solidarität gegen Dritte und die Solidarität zu deren Gunsten, die Solidarität der Arbeitnehmer und die Solidarität der Demokraten, die Solidarität der Wohlhabenden und die der Enterbten, die nationale und die internationale Solidarität; der Begriff passt auf das Verhalten einer Klosterbruderschaft wie auf das einer Räuberbande.“ 343 Dazu die ausführliche Darstellung der sozial-, geistes- und rechtsgeschichtlichen Entwicklung durch Volkmann, Solidarität, 76 ff.; s. zur Begriffsgeschichte zudem etwa Metz, in: Solidarität, 172 ff. 344 Vgl. Grimm, in: Evangelisches Staatslexikon, Band II, Sp. 3144 (3144); Preuss, in: Solidarität, 399 (399, 401); Rauscher, in: Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 1191 (1191); Volkmann, Solidarität, 6. Carigiet, Gesellschaftliche Solidarität, 147 (unter Abstützung auf Noti, in: Sozialalmanach 1999, 161 [168 f.]), unterscheidet zwischen einer „großen Solidarität“ im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, welche die „utilitaristische Idee der Gegenseitigkeit“ enthalte, und der „kleinen Solidarität“ zwischen einzelnen Menschen, die durch Mitgefühl und Mitleid ausgelöst werde. Die Betonung der Gegenseitigkeit bzw. Wechselseitigkeit bildet ein regelmäßiges Kriterium des Verständnisses solidarischer Beziehungen im gesellschaftlichen Rahmen; vgl. weiter bspw. Amstutz, Grundrecht auf Existenzsicherung, 109; Bayertz, in: Solidarität, 11 (11); Denninger, in: KritV 1995, 7 (13); Sartorius, Existenzminimum im Recht, 32 ff.; Wildt, in: Solidarität, 202
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Insofern entspricht der Solidaritätsbegriff also nicht dem moralischen Appell, irgendwelchen Anderen bedingungslose Unterstützung zukommen zu lassen. Dies lässt sich mit folgender Typologie sozialer Normen veranschaulichen, wie sie Kersting entworfen hat345: –
Normen der Gerechtigkeit sind demnach Normen der Zwischenmenschlichkeit, die, bedingungslos und situationsunabhängig geltend, jedem Menschen schon kraft seines Menschseins Rechte und Pflichten zuerkennen.
–
Normen der Hilfeleistung sind Normen der Zwischenmenschlichkeit, die (im Gegensatz zu Gerechtigkeitsnormen) insofern situationsgebunden sind, als sie in Situationen der Not oder des Elends anderer zum Tragen kommen: nicht jeder, sondern gerade der bedürftige Mensch ist demnach Adressat der Pflicht zur Hilfeleistung. Auch hier gilt aber, dass potentiell jeder Mensch ein möglicher Adressat der Hilfeleistungspflicht ist, unbesehen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Entsprechend gilt beispielsweise die strafrechtlich normierte Verhaltenserwartung an die Bürgerinnen und Bürger, einem in Lebensgefahr schwebenden Menschen (soweit zumutbar) zu helfen, nicht nur gegenüber einer verwandten oder befreundeten Person oder gegenüber einem Angehörigen der gleichen Nationalität, sondern, unter der Voraussetzung einer entsprechenden Notsituation, gegenüber jedem Mitmenschen346.
–
Solidaritätsnormen sind Normen der Zwischenmenschlichkeit, die (im Gegensatz zu den sich entweder bedingungslos oder unter einer bestimmten faktischen Voraussetzung auf alle beziehenden Gerechtigkeits- und Hilfeleistungsnormen) gruppenspezifisch ausgerichtet sind: Sie verpflichten nicht gegenüber menschlichen Individuen als solche, sondern gegenüber Individuen als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. Gemeinschaft. Die moralische Verpflichtung der Solidarität besteht gerade nicht gegenüber Fremden, gegenüber irgendwelchen Mitmenschen, sondern gegenüber Seinesgleichen, den Mitgenossen einer bestimmten Gemeinschaft. Dabei kann das einzelne Individuum gleichzeitig Mitglied diverser Gemeinschaften mit verschiedenartig beschaffenen und unterschiedlich weit gehenden Solidaritätspflichten sein, vom Familienverband über Freundschaften bis zur Solidargemeinschaft des staatlichen Gemeinwesens.
Solidarität beruht außerdem zugleich auf zweierlei347: Die Verbundenheit der Solidargemeinschaft ergibt sich zum einen aus der „Übereinstimmung oder ___________ (211 f.). Bei Ruland, in: NJW 2002, 3518 (3518), findet sich die sprechende Aussage „Solidarität rechnet mit Solidarität“. 345 Kersting, in: Solidarität, 411 (413 ff.). 346 Vgl. Art. 128 des schweizerischen StGB (SR 311.0), Unterlassung der Nothilfe. 347 Siehe Denninger, in: Solidarität, 319 (330).
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Gleichgerichtetheit der Interessen und Werthaltungen“ der Beteiligten348. Gleichzeitig ist für den moralischen Gehalt der Solidaritätsmaxime außerdem auch das Bewusstsein wesentlich, dass sich die individuellen Interessen in ihren konkreten Bedeutungen unterscheiden, sich auch zuwiderlaufen können. Solidarität verlangt folglich nach einem Ausgleich der Interessen; dieser Aspekt äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass die Zielsetzung der sozialen Gerechtigkeit einen gemeinsamen Nenner der Vorstellungen von Solidarität bildet349. Die Maßgabe eines gerechten Ausgleichs impliziert freilich auch, dass die Ethik der Solidarität nicht die Aufgabe eigener Interessen voraussetzt350, sondern die Rücksichtnahme auf diejenigen anderer. Zum Wesen der Solidarität innerhalb der Gemeinschaft gehört nicht zuletzt, dass eine Komplementarität zwischen Pflicht und Berechtigung besteht351: Das Gemeinschaftsmitglied soll Seinesgleichen beistehen, darf umgekehrt aber auch erwarten, dass ihm der selbe Beistand zuteil wird. Solidarität erweist sich somit einerseits als Konzept, das sich dem Egoismus widersetzt352; andererseits ruft es aber auch nicht nach einer altruistischen Gesinnung, sondern baut auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit auf. ___________ 348
Ebd. Ähnlich auch Preuss, in: Solidarität, 399 (399, 401). Zum Nachweis dieser Zielsetzungen in verschiedenen Kulturen Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 23 ff., 34 f. Im nationalen Verfassungsrahmen findet diese Zielsetzung bereits im Sozialstaatsprinzip und damit auf der Ebene konstitutioneller Struktur- oder Leitprinzipien ihren Ausdruck; s. für das schweizerische Verfassungsrecht etwa Tschannen, Stimmrecht und politische Verständigung, 237 ff. Denninger, in: KritV 1995, 7 (15 ff., 19), desgleichen ders., in: Solidarität, 319 (331 f., 335), weist (unter Rückgriff auf einen Gedanken von Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 192, 310) darauf hin, dass die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit als zentraler Aspekt gesellschaftlicher Solidarität auf eine universell gültige Erfahrung zurückgeht: die Wahrnehmung von Schmerz und Demütigung als Gemeinsamkeit über alle traditionell trennenden Merkmale (wie Stammes-, Religions-, Rassen- oder sonstige Zugehörigkeiten) hinweg; womit eine wesentliche Voraussetzung dafür gegeben ist, das sich das einzelne Individuum im Rahmen seiner Gemeinschaft nicht nur für das eigene Wohlergehen interessiert. 350 Vgl. Grimm, in: Evangelisches Staatslexikon, Band II, Sp. 3144 (3144), wonach Solidarität nicht „durch Leugnung der Individualinteressen erreicht werden kann“. 351 Soweit Solidarität ein gewisses Engagement zu Gunsten anderer impliziert, ist mit ihr regelmäßig die Vorstellung verbunden, dass im Bedarfsfall in reziproker Weise ein gleichwertiges Engagement von Seiten anderer erwartet werden darf; s. etwa Bayertz, in: Solidarität, 11 (12). In der gleichen Richtung argumentiert auch Isensee, in: Solidarität in Knappheit, 97 (103 f.), der entsprechend den ethischen Wert der Solidarität von jenem der Nächstenliebe abgrenzt. Während Nächstenliebe altruistisch sei, handle es sich bei der Solidarität um ein tendenziell utilitaristisches Konzept (a.a.O., 103): „Sie verknüpft Einzelinteresse und Gesamtinteresse und kalkuliert Kosten und Nutzen, wobei das Kalkül ökonomisch, politisch oder moralisch ausfallen mag. Solidarität rechnet mit Solidarität. Nächstenliebe aber rechnet nicht.“ 352 Rauscher, in: Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 1191 (1192). 349
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
b) Das Beispiel der föderalistischen Solidarität Der Aspekt, dass eine Solidargemeinschaft wesentlich auf gemeinsamen Interessen beruht, lässt sich beispielsweise auch auf der Ebene des föderalistisch organisierten Bundesstaats beobachten. Soweit hier Formen gegenseitig geschuldeter Solidarität zwischen den Gliedstaaten bestehen353, so wird damit das Konzept verwirklicht, in gemeinsamer Anstrengung einem gemeinsamen Wohl zu dienen. Beispielsweise dient der bundesstaatliche Finanzausgleich354 nicht alleine den Interessen der begünstigten Kantone, sondern auch gemeinsamen nationalen Interessen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Sonderlasten bestimmter Gemeinwesen abgegolten werden, die bei der Erfüllung von Aufgaben im nationalen Interesse anfallen (bspw. im sozialen Aufgabenbereich der Ausgleich der höheren Belastung von städtischen Gebieten bei der Unterstützung bedürftiger Bürgerinnen und Bürger; im ökologischen Aufgabenbereich der Schutz gegen Hochwasser oder die Erhaltung von Wäldern; im ökonomischen Aufgabenbereich der Strassenunterhalt)355.
c) Das Beispiel der supranationalen Solidarität Ähnlich verhält es sich auf einer supranationalen Ebene mit der Gestaltung der Beziehungen unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die ebenfalls solidaritätswirksame Elemente erkennen lässt356. So enthält Art. 1 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union einen Aufruf zur solidarischen Gestaltung der Beziehungen unter den Mitgliedstaaten, und Art. 2 EGV nennt als eine Aufgabe der EG die Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Nach der Rechtsprechung des EuGH folgt außerdem auch aus der Ver___________ 353 Siehe Art. 44 Abs. 2 BV, wonach Bund und Kantone einander „Rücksicht und Beistand“ schulden. Vgl. zur föderalistischen Solidarität im Bundesstaat in Bezug auf die Schweiz Fleiner/Misic, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 429 (439); zum Gebot des loyalen Zusammenwirkens von Bund und Kantonen auch Biaggini, in: ZÖR 2002, 359 (373 f.). Zu den unter den Gliedstaaten und gegenüber dem Gesamtstaat bestehenden Treueverpflichtungen als Ausdruck der föderalistischen Solidarität weiter etwa Unruh, in: EuR 2002, 41 (47 ff.). 354 Hierzu etwa Reich, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 1199 (1201 ff.); Tschannen, Staatsrecht, 40 f.; s. außerdem die Botschaft des Bundesrates zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 14. November 2001, BBl 2002 2291 ff. 355 Siehe Reich, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 1199 (1208). 356 Vgl. allgemein Bieber, in: Europäische Union, 747 (760 ff.); Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 169 ff.; ders., in: Kommentar zu EUV und EGV, 3 (20 ff.); ders., in: FS Bieber, 302 ff.; Hilpold, in: JöR 2007, 195 (207 ff.); Lais, Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund; Tomuschat, in: LA Pescatore, 729 ff.; Xuereb, in: ELRev 2002, 643 ff.
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pflichtung der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue gemäß Art. 10 EGV357 die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit358 bzw. Solidarität359; aus der Rechtsprechung geht im Übrigen hervor, dass das Rechtsprinzip der Solidarität über den Art. 10 EGV hinaus dem gesamten Gemeinschaftssystem zugrunde liegt360. Die Pflicht zu solidarischem Verhalten, wie sie in Art. 1 Abs. 3 EUV niedergelegt (und im Sinne der Rechtsprechung des EuGH der Gemeinschaft immanent) ist, „verbietet die Verfolgung nationaler Interessen ohne Rücksicht auf die dadurch für andere Mitgliedstaaten entstehenden Lasten; sie fordert vielmehr die Stärkung des gegenseitigen Zusammenhalts“361. Konkretisierungen der Solidarität als Prinzip im Dienst eines „europäischen Gemeinwohls“ werden etwa in den Bereichen des Verbraucherschutzes, der Umwelt-, Gesundheits- oder Sozialpolitik erblickt362; in den Zusammenhang des Gebots gegenseitiger Solidarität wird zudem durch Art. 11 Abs. 2 EUV auch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gestellt363. Wie auf der Ebene des föderalistischen (schweizerischen) Bundesstaats bildet schließlich ___________ 357 Zu den solidaritätsrelevanten Gehalten von Art. 10 (ex-Art. 5) EGV etwa Blanquet, Article 5 du Traité C.E.E., 227 ff.; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 172; Hatje, in: EU-Kommentar, 296 (298 ff.); Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, 148 ff. Zum Rechtsgrundsatz der Unionstreue ferner Unruh, in: EuR 2002, 41 ff. 358 Vgl. bspw. EuGH, Rs. 230/81 (Luxemburg/Europäisches Parlament), Slg. 1983, 255, insb. Rdnr. 37. 359 Vgl. bspw. EuGH, Rs. 6/69 und 11/69 (Kommission/Frankreich), Slg. 1969, 523, Rdnr. 14 ff., in Bezug auf die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. 360 Siehe ebd. 361 Geiger, Kommentar EUV/EGV, 12. Ähnlich auch Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 172, unter Hinweis auf EuGH, Rs. 39/72 (Schlachtprämien), Slg. 1973, 101, Rdnr. 24 f.; außerdem auch Stumpf, in: EU-Kommentar, 39 (53). 362 So Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 171. Kritisch zum Ansatz, diese Materien dem gemeinschaftsrechtlichen Solidaritätsprinzip zuzurechnen, hingegen Stumpf, in: EU-Kommentar, 39 (52 f.), da das Solidaritätsgebot auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten sowie der jeweiligen Völker untereinander beschränkt sei, eine Bezugnahme auf Einzelpersonen im Primärrecht jedoch vermieden werde. Dem entspricht auch die Einschätzung von Volkmann, Solidarität, 410 ff., dass die Idee der Solidarität auf der supranationalen Ebene der europäischen Integration nicht mit dem Konzept einer echten gesellschaftlichen Solidarität, wie sie im nationalen Verfassungsrahmen existiere, gleichgesetzt werden dürfe; denn eine „Solidarität von Individuen über den eigenen Tellerrand hinaus“ würde eine europäische Zivilgesellschaft voraussetzen, die – abgesehen von einer gewissen rechtlich-institutionellen – auch eine soziale Integration bewirken und damit einen einheitlichen sozialen Raum „Europa“ konstituieren würde (ebd., 411). Solidarität sei damit in erster Linie eine „Richtschnur für das Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander“, wie dies etwa in Art. 2 EGV postuliert wird (ebd., 412). 363 Vgl. dazu Geiger, Kommentar EUV/EGV, 12; Neisser/Verschraegen, Europäische Union, 286.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
auch hier der Finanzausgleich zugunsten wirtschaftlich benachteiligter Regionen eine Materie, bei der sich das Gebot zu gegenseitigem solidarischem Verhalten besonders deutlich zeigt364. Unter der Zielsetzung der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts365 sowie der Solidarität unter den Mitgliedstaaten sollen unter anderem mittels strukturpolitischer Maßnahmen die regionalen Disparitäten innerhalb der Union bekämpft werden366. Die Unterstützung der (insbesondere ökonomisch) schwächeren Mitglieder durch die stärkeren dient dabei gemeinsamen Interessen, von deren Verwirklichung alle zu profitieren hoffen, was insbesondere für die wirtschaftlichen Vorteile des europäischen Binnenmarktes gilt367. Insofern verlangt auch der Solidaritätsgedanke im Rahmen der Europäischen Union von den in die Gemeinschaft eingegliederten Einzelnen (in diesem Falle Staaten) keine „vorbehaltlos altruistische Haltung“, sondern allenfalls einen „Verzicht auf die sofortige Befriedigung aller vorhandenen Eigeninteressen“368, während insgesamt die Erwartung eines eigenen Vorteils besteht. Zu erwähnen ist schließlich, dass gemäß dem am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten (in der Folge aber gescheiterten) Europäischen Verfassungsvertrag dem Begriff der Solidarität die Rolle eines eigentlichen „hervorgehobenen Leitwerts“369 zukommen sollte. Der am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Reformvertrag von Lissabon bewegt sich auf vergleichbarem Boden370. In beiden Dokumenten wird der Solidaritätsbegriff in so unterschiedlichen Zusam___________ 364 Vgl. hierzu Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 172; ders., in: Kommentar zu EUV und EGV, 3 (21); Oppermann, Europarecht, 371; Stumpf, in: EU-Kommentar, 39 (53). 365 Siehe Art. 2, 1. Spiegelstrich EUV; Art. 2 EGV, a.E., wo diese Zielsetzung neben jener der Solidarität genannt wird; zudem Art. 158-162 EGV; schließlich das Protokoll (Nr. 28) über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, das nach Art. 311 EGV einen Bestandteil des Vertrags bildet. 366 Siehe insbesondere die Art. 158-162 EGV; diese sehen u. a. verschiedene Strukturfonds vor, mit deren Hilfe diese Politik finanziell getragen werden soll. 367 Tomuschat, in: LA Pescatore, 729 (735), weist auf das Beispiel Deutschlands hin, das als wirtschaftlich potentes Mitglied Solidarleistungen zu erbringen hat, umgekehrt aber ökonomisch von der Garantie eines gemeinsamen Marktes profitiert. Vgl. hierzu auch Oppermann, Europarecht, 330. 368 Tomuschat, in: LA Pescatore, 729 (734). 369 So Calliess, in: JZ 2004, 1033 (1038); zu dieser Einschätzung führe schon der Umstand, dass im Verfassungsvertrag der Solidaritätsbegriff nicht weniger als achtzehnmal vorkomme. 370 Zur Frage im Übrigen, ob der Solidaritätsbegriff bereits bislang – ungeachtet des Scheiterns des Verfassungsvertrags und vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – als Bestandteil Europäischen Verfassungsrechts im nicht-formellen Sinn aufzufassen sei, Volkmann, Solidarität, 407 ff. Zur Solidarität als Verfassungsgrundsatz der EU auch Bieber, in: Solidarität und Europäische Integration, 42 ff., sowie Zuleeg, Rechtlicher Zusammenhalt der Europäischen Union, 153 ff.
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menhängen verwendet wie zur Kennzeichnung der den Mitgliedstaaten eigenen Gesellschaftsordnung371, zum Zweck der Definition des Verhältnisses zwischen den Generationen bzw. unter den Mitgliedstaaten372, als Maxime der EU in ihren Beziehungen zur übrigen Welt373, als unter den Mitgliedstaaten zu beachtender Grundsatz im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik374 oder als energiepolitischer Handlungsmaßstab375. In den künftigen Vertrag über die Arbeitsweise der Union (welcher in neuer Bezeichnung den EGV weiterführen wird) soll gemäß dem Vertrag von Lissabon ferner unter der Bezeichnung „Solidaritätsklausel“ ein neuer Titel (VII) mitsamt einem neuen Art. 188r eingefügt werden, der für Fälle von Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachten Katastrophen solidarisches Handeln der Union und ihrer Mitgliedstaaten verlangt.
3. Folgerungen in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Konzepten des Gemeinwohls und der Solidarität a) Allgemeine Folgerungen Die wesentliche Aussage des soeben Dargelegten lautet, dass die Maxime der Solidarität in allen angesprochenen Bereichen auf interessenorientierten Überlegungen fußt. Die Feststellung, dass ein Konzept der Solidarität daher keineswegs altruistische Motive voraussetzt (und insofern nicht mit den ethischen Imperativen der Hilfsbereitschaft oder sogar der Nächstenliebe gleichzusetzen ist), sondern durchaus reziproke Verhaltenserwartungen impliziert, gilt dabei nicht nur für die entsprechenden Inhalte des Völkerrechts. Sondern sie zeigt sich auch auf der theoretischen Ebene der sozialphilosophischen Grundlagen, ferner in praktischen Bezugnahmen auf den Solidaritätsgedanken in einem bundesstaatlichen wie auch einem supranationalen Rahmen. Zunächst ist noch festzuhalten, dass sich mit dieser Feststellung die Gefahr verringert, die Forderung nach internationaler Solidarität führe zu einem hoff___________ 371
Neu einzufügender Art. 1a EUV, gem. Art. 1 Ziff. 3 Vertrag von Lissabon; vgl. Art. I-2 EVV. 372 Art. 2 Abs. 3 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 4 Vertrag von Lissabon; vgl. Art. I-3 Abs. 3 EVV. 373 Art. 2 Abs. 5 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 4 Vertrag von Lissabon; neu einzufügender Art. 10a Abs. 1 EUV, gem. Art. 1 Ziff. 24 Vertrag von Lissabon; vgl. Art. I-3 Abs. 4 EVV. 374 Art. 11 Abs. 2 EUV in neuer Fassung, gem. Art. 1 Ziff. 27 Vertrag von Lissabon; vgl. Art. I-16 Abs. 2 EVV. 375 Neu einzufügender Art. 176a Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Union (exEGV), gem. Art. 2 Ziff. 147 Vertrag von Lissabon.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nungslos kontrafaktischen Konzept: Natürlich hat sich im Völkerrecht nicht die Solidaritätsmaxime durchgesetzt, die de Vattel im 18. Jahrhundert in Bezug auf die Beziehungen der Staaten untereinander aufgestellt hatte: „(...) que chaque Nation doit contribuer au bonheur et à la perfection des autres tout ce qui est en son pouvoir“376. Dies würde allerdings auch nach jenem Maß an selbstloser Hilfsbereitschaft verlangen, das sich auf allen angesprochenen Stufen eben gerade nicht als dem Solidaritätsgedanken notwendigerweise zugrunde liegend erwiesen hat. Vielmehr „genügt“ es, nach den reellen Verwirklichungschancen eines Solidaritätskonzepts zu fragen, das den Eigeninteressen der Staaten einen gewissen Raum lässt. Die Frage ist nur, wie groß dieser Raum bei Anwendung des entscheidenden Kriteriums des gerechten Ausgleichs der Interessen tatsächlich ist. Die vielfach bestehenden Ungerechtigkeiten in den Beziehungen unter den Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft machen dabei einerseits deutlich377, dass dem Kriterium des gerechten Ausgleichs bei weitem nicht im erforderlichen Maß Rechnung getragen wird. Andererseits besteht aber auch kein Anlass, daran zu zweifeln, dass – neben den zuvor erwähnten Elementen, die dem Solidaritätskonzept in der Literatur zugeordnet werden – in der internationalen Praxis der Gedanke der (gegenseitigen) Solidarität auch tatsächlich lebendig ist.
b) Resultat: Vorrangigkeit des Gemeinwohlansatzes gegenüber einem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept Im vorliegenden Zusammenhang steht freilich die Frage im Mittelpunkt, welche Auswirkungen sich aus einem derartigen Solidaritätskonzept für den ___________ 376 De Vattel, Droit des gens, Tome I, 8 (Hervorh. hinzugefügt); s. dazu Macdonald, in: FS Lalive, 275 (277 f.). 377 Es sollen hier nur einige wenige Beispiele in Erinnerung gerufen werden. So sind die seit der ersten globalen Konferenz zum Problemkreis von Umwelt und Entwicklung im Jahre 1972 in Stockholm bestehenden und seither – etwa anlässlich des Erdgipfels von Rio 1992 (s. Agenda 21 Kap. 33.13) – wiederholten Ziele zur finanziellen Unterstützung der Entwicklungsländer bis heute unerfüllt geblieben. Beispielhaft lassen sich auch die Schwierigkeiten anführen, die bei der Beschaffung von Finanzmitteln zugunsten der Entwicklungsländer im Rahmen des Klimaregimes bestehen; hierzu im Einzelnen noch im 4. Kap., C. II. Weiter ist auch die regelmäßig festzustellende Zögerlichkeit der internationalen Gemeinschaft bei der Reaktion auf humanitäre Katastrophensituationen zu erwähnen – die außerordentliche Großzügigkeit nach dem Tsunami in Südostasien vom 26.12.2004 bildet diesbezüglich lediglich eine Ausnahme von der Regel. Hier stellt sich u. a. auch die Frage, welche Rolle eine „geographische Moralität“ (vgl. Fidler, in: Harvard International Law Journal 2001, 299 [313 ff.]) spielt, aus der eine unterschiedliche Bereitschaft zur Unterstützung Hilfebedürftiger folgt, je nach kultureller, religiöser oder politischer Nähe bzw. Differenz.
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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völkerrechtlichen Entwicklungsprozess der Konstitutionalisierung und somit für das Verhältnis zum Begriff des Gemeinwohls ergeben. In Bezug auf völkerrechtliche Belange hat die Übersicht über die entsprechende Praxis gezeigt, dass eine allgemeine normative Solidaritätsformel nicht greifbar ist. Eine explizite Formel fehlt gänzlich, so dass die Überlegungen zur Existenz eines völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts auf der Ebene impliziter Gehalte erfolgen müssen. Dabei ergibt sich aus der Feststellung, dass der Gedanke der Solidarität an der Wahrnehmung von Interessen innerhalb einer gegebenen Gemeinschaft anknüpft, allerdings eine deutliche Parallele zwischen den Konzepten der Solidarität und der Orientierung am Gemeinwohl. Beide Begriffe implizieren einen Ausgleich zwischen den Eigeninteressen der Beteiligten einerseits und den gemeinsamen Interessen innerhalb der betreffenden Gemeinschaft andererseits. Dadurch erweisen sich die mit den beiden Konzepten in Verbindung gebrachten Zielsetzungen als praktisch deckungsgleich. So schlägt denn auch Macdonald in seiner Darlegung eines völkerrechtlichen Solidaritätskonzepts den Bogen zum Gedanken der Gemeinwohlorientierung, indem er (in Bezug auf den völkerrechtlichen Schutz der Umwelt) von einer „conception of mutually beneficial common goals“378 spricht. Allgemeiner führt er schließlich weiter aus: „(...) if solidarity is understood as the common ascription to a common good, then it follows that forestalling self-interested behavior because it threatens the collective good can be characterized as a kind of super-self-interest. As a member of a community that benefits from the protection of the community, acting in a manner that preserves the good of the community also preserves the good of the individual member.“379
Die Verbindung, die sich nach diesem Solidaritätsverständnis zwischen den partikulären Eigeninteressen der Beteiligten und den gemeinschaftlichen Interessen aller ergibt380, findet sich in nahezu identischer Weise beim Ansatz der völkerrechtlichen Gemeinwohlorientierung. Die Quintessenz liegt hier wie dort in der Feststellung, dass die Verwirklichung des gemeinsamen Wohls der inter___________ 378
Macdonald, in: FS Lalive, 275 (301). Ebd., 275 (307). 380 In der selben Richtung wie Macdonald etwa Rauscher, in: Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 1191 (1191), wonach Solidarität auch bei ihrer Interessenorientierung eine „Hinordnung auf die Gemeinschaft“ impliziere; daraus folge die Verpflichtung, „das Wohl des einzelnen (Einzelwohl) dem Wohle der Gemeinschaft (Gemeinwohl) unterzuordnen, soweit dies der jeweilige Gemeinschaftszweck erfordert“. Ähnlich auch Grimm, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, Sp. 3144 (3144). Eine im Ergebnis inhaltliche Gleichsetzung der Begriffe des Gemeinwohls und der Solidarität findet sich in Bezug auf das europäische Gemeinschaftsrecht bei Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 169 ff.; s. auch ders., in: Kommentar zu EUV und EGV, 3 (20). 379
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
nationalen Gemeinschaft letztlich im Interesse eines jeden einzelnen Mitglieds dieser Gemeinschaft ist. Soweit die Orientierung am Gemeinwohl bzw. die Idee internationaler Solidarität einen gerechten Ausgleich partikulärer Interessen voraussetzen, kann dies zwar im konkreten Fall bedeuten, dass der einzelne Staat bei der Verfolgung seines nationalen Interessenstandpunkts gewisse Abstriche akzeptieren muss. Indessen kann er, weil er dadurch dem Gemeinwohl dient, an dem er wiederum beteiligt ist, selbst auch eine positive Rückwirkung erwarten. Sowohl der Gedanke der Gemeinwohlorientierung nationalen Handelns als auch der Gedanke der Solidaritätspflichtigkeit desselben implizieren einerseits einen Vorrang der Gemeinschaftsinteressen, andererseits aber zugleich auch die Erwartung eines eigenen Nutzens gerade aufgrund der Gemeinwohlverwirklichung. Gestützt auf die bestehenden inhaltlichen Parallelen scheint es somit möglich, den Ansatz der völkerrechtlichen Gemeinwohlorientierung mit dem Konzept internationaler Solidarität funktionell gleichzusetzen; bzw. es scheint eine Austauschbarkeit zweier Begriffe gegeben zu sein, die letztlich zu gleichlautenden Schlüssen führen. Indessen darf nicht übersehen werden, dass der Begriff internationaler Solidarität mit beträchtlichen Unklarheiten bezüglich seiner rechtlichen Bedeutung verbunden ist. Die Problematik beruht dabei auf der Tatsache, dass der Begriff mit verschiedenen Konnotationen besetzt ist, die wiederum zu sehr unterschiedlichen Schlüssen hinsichtlich seiner rechtlichen Wirkungen führen. Im Vordergrund steht hier die erwähnte, teilweise höchst unterschiedliche Betrachtungsweise von Seiten der Entwicklungsländer einerseits und der Industriestaaten andererseits, was die aus einem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept folgenden konkreten Verpflichtungen anbelangt. Uneinigkeiten bezüglich materieller Deutungen sind zwar auch für die Frage, wie dem internationalen Gemeinwohl in konkreten Belangen Rechnung zu tragen sei, keineswegs auszuschließen bzw. sogar wahrscheinlich. Mit der Frage nach der Rolle internationaler Solidarität scheinen aber in erheblichem Ausmaß fixe Denkmuster verknüpft zu sein. Es stellt sich außerdem der Eindruck ein, dass die gewohnheitsmäßige Verwendung des Solidaritätsbegriffs im internationalen politischen Diskurs die Ursache einer eigentlichen begrifflichen Verwässerung bildet. Ein Indiz hierfür stellt der Umstand dar, dass die vereinzelten expliziten Bezugnahmen auf den Begriff in der völkerrechtlichen Praxis schlicht keine inhaltliche Aussagekraft enthalten. Mehr noch: Der rhetorische Rückgriff auf die Solidaritätsmaxime dürfte oftmals gar zu einer Verschleierung der eigentlichen Motive internationalen Handelns führen, gehört zu den in der Öffentlichkeit verbreiteten begrifflichen Assoziationen doch die Vorstellung nicht-reziproker Hilfsbereitschaft. Demgegenüber bietet der Gemeinwohlansatz den Vorteil, dass bereits begrifflich klarer ist, worum es letztlich im modernen Völkerrecht geht: gemeinsame Anstrengungen zur Verwirklichung gemeinsamer Interessen,
A. Bestimmungsfragen des Gemeinwohls
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Werte und Zielsetzungen. Der Begriff des Gemeinwohls lässt außerdem keine derartige Belastung durch unterschiedlichste moralische, politische und sonstige Konnotationen erkennen, durch die das Verständnis der Solidaritätsmaxime erschwert wird. Die aus dem Gesagten zu ziehende Folgerung lautet somit: Dem Begriff der Solidarität soll im vorliegend verfolgten theoretischen Ansatz, welcher den Kern der konstitutionellen Entwicklung des Völkerrechts in der Orientierung am Gemeinwohl der konstituierten Gemeinschaft erblickt, keine eigenständige rechtliche Bedeutung beigemessen werden. Insbesondere macht es angesichts der bestehenden Unsicherheit beim Umgang mit dem Solidaritätsbegriff keinen Sinn, das theoretische Modell der konstitutionellen Gemeinwohlorientierung mit dem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept gleichzuschalten oder inhaltlich aufzuladen. Dies bedeutet nicht, dass der Gedanke internationaler Solidarität im Rahmen des in dieser Untersuchung verfolgten Ansatzes bedeutungslos wäre: Auch wenn dem Solidaritätskonzept neben dem Aspekt der Gemeinwohlorientierung keine eigenständige Bedeutung beigemessen werden soll, so stärkt seine Präsenz doch gerade die hier entwickelte Argumentation. Die mit dem Solidaritätsgedanken verbundene Betonung der Gemeinsamkeit der Interessen und die entsprechende Forderung nach dem Zurücktreten von Partikularinteressen fügen sich nahtlos ins zuvor entworfene Bild der Gemeinwohlorientierung als möglicher Kern eines völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses ein.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
B. Normtheoretische Grundlagen Abgesehen von den im Zusammenhang mit der inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls auftretenden Fragen muss in einem weiteren vorfrageweisen Schritt darauf eingegangen werden, in welcher äußeren Gestalt normative Gemeinwohlentscheidungen in einer konstitutionellen völkerrechtlichen Ordnung auftreten könnten. Mit anderen Worten geht es in diesem Unterkapitel darum, im Hinblick auf die nachfolgenden materiellen Untersuchungen in einem spezifischen Bereich des Völkerrechts eine allgemeine Vorstellung davon zu erlangen, welche normativen Kategorien im Rahmen einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung in Frage kommen.
I. Zum Nutzen normtheoretischer Kategorienbildung Offensichtlich ist, dass sich jede Rechtsordnung aus Bestimmungen von unterschiedlicher normativer Qualität zusammensetzt1. Zur unterschiedlichen Geltungskraft und Tragweite können diverse Faktoren wie Zweck und sachlicher Gehalt einer rechtlichen Bestimmung, deren inhaltliche Bestimmtheit sowie etwa der Kreis der Adressaten beitragen. Eine „zurückgenommene Regelungsdichte“2 zeichnet im Allgemeinen die Bestimmungen des Verfassungsrechts als einer Grundordnung aus. Außerdem besteht eine Rechtsordnung nicht ausschließlich aus eigentlichen Normen3, sondern auch aus weiteren rechtlichen Bestimmungen oder Festlegungen. Ausgehend von geläufigen Kategorien des nationalen Rechts lassen sich diesbezüglich verschiedene Unterscheidungen treffen, deren – soweit es die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Ebenen zulassen – analoge Verwendung es auch im Rahmen des Völkerrechts und insbesondere der völkerrechtlichen Verfassungsordnung erlauben würde, eine Einteilung des Bestandes an rechtlichen Bestimmungen vorzunehmen. Ge___________ 1 Dieser Feststellung hat sich in Bezug auf den besonderen Bereich des Völkerrechts Weil, in: AJIL 1983, 413 ff., in seiner Kritik der sog. „relativen Normativität“ völkerrechtlicher Bestimmungen entgegengestellt. Die gerade durch die Anerkennung zwingender Völkerrechtsnormen sowie von Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“ akzentuierte Normativitätsabstufung betrachtet er dabei als eigentliche Destabilisierung des internationalen normativen Systems (s. ebd., 421 ff.). Fastenrath, in: EJIL 1993, 305 ff., führt dagegen etwa ins Feld, dass eine Abstufung der Normativität des Rechts ein unumgängliches Element jeder Rechtstheorie sei. Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (36, mit Fn. 23), weist im Übrigen darauf hin, dass Weil mit seiner Fundamentalkritik weitgehend allein geblieben ist; in jüngerer Zeit hat indessen Beckett, in: EJIL 2001, 627 ff., die Diskussion wieder aufgenommen, in scharfer Kritik an Tasioulas, in: Oxford Journal of Legal Studies 1996, 85 ff., dem er bei dessen Verteidigung relativer Normativität einen unfairen Umgang mit Weils Argumenten vorwirft. 2 Reimer, Verfassungsprinzipien, 99. 3 Zum Begriff noch anschließend, II. 1.
B. Normtheoretische Grundlagen
287
rade auf der Ebene des Völkerrechts herrscht in Bezug auf die Bezeichnung rechtlicher Aussageformeln eine große Vielfalt. Es finden sich dabei Begriffe wie „Norm“, „Konzept“, „Prinzip“, „Grundsatz“, „Regel“, „Richtlinie“ oder „Maxime“; festzustellen ist auch, dass manchmal ein und dieselbe rechtliche Formel je nach Quelle mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehen wird. Ein Beispiel für eine große Bandbreite an entsprechenden Bezeichnungen bildet etwa die Formel des „sustainable development“ bzw. der „Nachhaltigen Entwicklung“, die wahlweise als „Konzept“, „Leitkonzept“, „Prinzip“, „Ordnungsprinzip“, „Grundsatz“, „Maxime“ oder auch „Leitbild“ bezeichnet wird4.
Auch in der völkerrechtlichen Literatur wird eher selten die Anstrengung unternommen, die Verwendung gewählter Begrifflichkeiten zu reflektieren5. Es ___________ 4
Vgl. (als sehr beschränkten Ausschnitt aus der umweltvölkerrechtlichen Literatur, in alphabetischer Auflistung der Autoren) etwa Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 16 ff., für die Bezeichnung als „Konzept“; ders., in: FS Steinberger, 31 (51, 57), für die Bezeichnung als „Richtlinie“, „Prinzip“ wie auch „Konzept“; Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 84 und 95 f., für die Bezeichnung als „Konzept“; Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 86, für die Bezeichnung als „Maxime“; ebd., 42 ff., und dies., Umweltvölkerrecht, 77 ff., für die Bezeichnung als „Konzept“ bzw. als „Prinzip“; Ginther, in: LA Seidl-Hohenveldern, 233 ff., für die Bezeichnung als „Ordnungsprinzip“; Hohmann, in: Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, 23 (insb. 40 f.), für die Bezeichnung als „Prinzip“ bzw. „Strukturprinzip“; Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 248 f., für die Bezeichnung als „Konzept“; Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 497 ff., für die Bezeichnung als „Leitkonzept“; Lang, in: Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, 9 ff., für die Bezeichnung als „Konzept“; Morrison, in: International, Regional and National Environmental Law, 803 (814), für die Bezeichnung als „Prinzip“; Sands, Principles of International Environmental Law, 252 ff., für die Bezeichnung als „Konzept“; ders., in: Sustainable Development and International Law, 53 (57 f.), für die Bezeichnung als „Prinzip“; Scheyli, in: AVR 2002, 273 (290 ff., 297 f.), für die Bezeichnung als „Konzept“ bzw. „Leitkonzept“; Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (20 ff.), für die Bezeichnung als „Prinzip“. Von einem „Prinzip“ spricht weiter auch Richter Weeramantry in seiner Seperate Opinion zum Urteil des IGH im Gabcíkovo/Nagymaros-Fall (s. ICJ Reports 1997, 88 ff. [passim]). In den wichtigsten umweltvölkerrechtlichen Übereinkommen wird die Zielsetzung Nachhaltiger Entwicklung ohne Bezeichnung im obengenannten Sinn aufgeführt; vgl. bspw. Art. 2 und Art. 3 Abs. 4 und 5 Klimakonvention, Art. 2 Abs. 1 Kyoto-Protokoll, Art. 2 Abs. 1 Desertifikationskonvention. Gleiches gilt für die Rio-Deklaration als wichtigste unverbindliche Quelle, s. insb. die Grundsätze 1 und 4. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich etwa Art. 4 Bst. g des neuen Rheinschutzübereinkommens aus dem Jahr 1999, der vom „Prinzip der nachhaltigen Entwicklung“ spricht. Vom „Grundsatz“ (englisch „principle“, französisch „principe“) der nachhaltigen Entwicklung ist außerdem bspw. in der Präambel zum EUV die Rede. 5 Anders in dieser Hinsicht aber aus jüngerer Zeit insbesondere Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 ff. Präziser sind auch bereits Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 21 ff., die zwischen Prinzipien und konkreten Verhaltensregeln unterscheiden; vgl. zu ihrem Ansatz aber auch noch die Kritik am Schluss dieses Abschnitts. Einen Ansatz, der völkerrechtliche Regeln („rules“) nach ihrer Funktion in der internationalen Rechtsordnung klassifiziert, verfolgt außerdem etwa Detter, Concept of International Law, 38 ff.; s. auch dies., International Legal Order, 152 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
lässt sich immerhin vermuten, dass mit einer gewählten Bezeichnung implizit – möglicherweise auch unterbewusst – eine Einschätzung der normativen Qualität der entsprechenden Formel einhergeht. Wird in einem bestimmten Zusammenhang von einer „Regel“ gesprochen, so schwingt damit jedenfalls semantisch eine andere, normativ „höher“ einzustufende Bedeutung mit, als dies bei der Bezeichnung als „Konzept“ der Fall wäre. Gerade in Bezug auf die aus rechtlicher Sicht zentralen Aspekte der Verbindlichkeit und der Anwendbarkeit im konkreten Fall bestehen hier doch deutlich unterschiedliche Konnotationen. Nun soll Systematisierung gewiss nicht zu bloßem Selbstzweck erfolgen, und gerade dann, wenn die spezifische inhaltliche Bedeutung einer einzelnen Formel diskutiert wird, ist die Wahl dieser oder jener Begrifflichkeit oft auch nicht von besonderem Belang. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung allerdings kann sich die Betrachtung der hier relevanten völkerrechtlichen Aussagen nicht darauf beschränken, den jeweiligen materiellen Gehalt festzustellen. Zwar ist einerseits in Bezug auf die Frage der Gemeinwohlorientierung von der materiellen Aussage einer rechtlichen Formel auszugehen. Schon dieser Ausgangspunkt aber leitet sich aus der Vorstellung einer im Entstehen begriffenen völkerrechtlichen Verfassungsordnung her. Entsprechend sind andererseits die in die Untersuchung einzubeziehenden Bestimmungen nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext des angenommenen Konstitutionalisierungsprozesses: Dieser stellt den Rahmen dar, in dem sie zu einander in Beziehung gesetzt werden müssen, um so ein Bild vom Entwicklungsstand der Verfassungsordnung zu gewinnen. In diesem Zusammenhang kommt auch einer Bestimmung des normativen Gehalts der einzelnen zu untersuchenden rechtlichen Aussageformeln eine besondere Rolle zu. Eine solche Bestimmung impliziert einen entsprechenden Vergleich zwischen den einzelnen Untersuchungsgegenständen, womit schließlich auch der Nutzen einer Kategorisierung auf der Hand liegt: Es zeichnet sich nämlich mit einem derartigen Ansatz die Aussicht ab, es lasse sich eine klarere Vorstellung davon gewinnen, welche funktionellen Möglichkeiten innerhalb des interessierenden rechtlichen Systems (nämlich: einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung) von den einzelnen materiellen Gehalten erwartet werden können. Für den Rahmen dieser Untersuchung soll daher der Versuch einer systematischeren begrifflichen Zuordnung unternommen werden. Zweifel am Nutzen eines „nach Rang und Wirkkraft in verschiedene Normschichten aufgefächerte(n) Völkerrecht(s)“ äußert demgegenüber – in Bezug auf die beiden besonderen Kategorien des „ius cogens“ und der Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“ – Ulrich Beyerlin6. Dabei begründet er seine zweifelnde Haltung mit dem Hinweis auf einen Mangel an praktischer Bedeutung, gerade in der Praxis internatio-
___________ 6
Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (36). Dabei stützt sich der Autor auf Überlegungen zum spezifischen Bereich des Umweltvölkerrechts; Näheres zu seinem Ansatz in den folgenden Abschnitten.
B. Normtheoretische Grundlagen
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naler Gerichte7. Indessen sollte die Tatsache, dass internationale Gerichte bislang erst selten Gelegenheit hatten (bzw. diese ergriffen), sich zu entsprechenden Fragen zu äußern und dabei den bestehenden Konzepten und Prinzipien zu justitieller Relevanz zu verhelfen, nicht zum Schluss führen, eine praktische Bedeutung sei zu verneinen. Vielmehr ist danach zu fragen, welches Potential solchen rechtlichen Formeln zukommt.
II. Allgemeine Grundlagen 1. Normen und Rechtssätze Der Begriff der Norm stellt nicht nur einen Grundbegriff des Rechts dar, sondern wird in vielfacher sonstiger Weise verwendet, um die Elemente eines bestimmten Regelungsbestandes zu bezeichnen8. Zu denken ist an moralische oder religiöse Normen genauso wie an solche naturwissenschaftlicher oder technischer Art; weiter ist etwa auch an die bisweilen höchst komplexen Normen (Regeln) im Bereich des Sports zu erinnern. Dabei handelt es sich aber gerade bei naturwissenschaftlichen oder technischen Normen häufig auch um „Seinsnormen“, die eine als gültig angenommene „Wahrheit“ (etwa ein Naturgesetz) umschreiben. Diesfalls besteht bezüglich des Aussagegehalts der betreffenden Norm ein wesentlicher Unterschied9 zu Rechtsnormen, die Sollensnormen sind. In allgemeinster Weise stellen rechtliche Normen nämlich Aussagen ___________ 7
Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (36); außerdem ders., Umweltvölkerrecht, 63. Siehe allgemein etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, 40; zum juristischen und sozialwissenschaftlichen Normbegriff bspw. Ganslandt, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, 1031 f. Reimer, Verfassungsprinzipien, 53 (m.w.N.), spricht allgemein von der Norm als „generelle Regelung zur Steuerung menschlichen Verhaltens“ bzw. „Entscheidungsmaßstab“, wobei ein Sollensgehalt enthalten sei. Auch aus soziologischer Sicht bildet die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit ein zentrales Kriterium von Normen, vgl. etwa Horne, in: Theories of Social Order, 129 ff. 9 Auf dem grundlegenden Gegensatz zwischen Sein und Sollen baut ausgeprägt die (Rechts-)Normtheorie von Hans Kelsen auf; s. dazu Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, V f., 5 ff. „Während die Naturgesetze das Geschehen, das sie aussagen, als ein wirkliches, tatsächlich sich vollziehendes, also in seiner Realität betrachten, kommen die Tatsachen, die den Inhalt der Normen bilden, für diese nur in jener ganz besonderen Relation der Idealität in Betracht, nämlich als gesollte.“ (Ebd., 6, Hervorh. im Orig.) Zur Bedeutung dieses Gegensatzpaares in Kelsens Normtheorie Heidemann, Norm als Tatsache, passim. Ein Sollen enthalten auch Normen der Moral oder der Ethik; ihre Sollensgehalte unterscheiden sich aber gleichwohl von jenen der Rechtsnormen: Erstere begründen – „aus kulturellen Erfahrungen, religiösen Überzeugungen und philosophischen Reflexionen abgeleitet“ – ein „,inneres‘ Sollen“; s. Rüthers, Rechtstheorie, 61. Der Unterschied zum Sollensgehalt von Rechtsnormen besteht daher darin, dass es hier „nicht primär auf das äußere Tun, sondern auf die innere Gesinnung“ ankommt (ebd., 62). 8
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
dar, die „sagen, was gesollt ist“10, d. h. sie enthalten Gebote, Erlaubnisse oder Verbote11. In rechtlicher Hinsicht steht der Normbegriff außerdem in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff des Rechtssatzes12: Dabei werden die beiden Bezeichnungen entweder weitgehend synonym verwendet, was wohl am häufigsten der Fall sein dürfte; oder eine Norm lässt sich (enger) auch als „der imperativistische Gehalt (Sinn), der in einem ‚Rechtssatz‘ ausgedrückt und also in diesem Wort stets mitgemeint wird“, verstehen13. Dem Begriff „Rechtssatz“ kommt insbesondere im Rahmen der staats- und verwaltungsrechtlichen Systematik eine spezifische rechtliche Funktion zu: Unter der Bezeichnung werden hier Bestimmungen verstanden, die sich an eine unbestimmte Zahl von Adressaten richten, eine unbestimmte Zahl von Fällen erfassen und dabei einen bestimmten Sachverhalt einer konkreten Regelung unterwerfen14.
2. Konstitutionelle Struktur- oder Leitprinzipien Die geläufige staats- und verwaltungsrechtliche Begrifflichkeit des Rechtssatzes (wie in Art. 5 Abs. 2 GVG15 beispielhaft umschrieben) hebt in idealtypischer Weise hervor, was auch in einem allgemeinen Sinn als wesentliches Kriterium von Rechtsnormen betrachtet werden kann: Im Verhältnis zu sonstigen rechtlichen Bestimmungen, die ebenfalls generelle Aussagen enthalten, aber ___________ 10 Alexy, Theorie der Grundrechte, 72. Vgl. zur Bedeutung von Rechtsnormen als Sollenssätze außerdem bspw. Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (50), m.w.N.; Kubeš, in: FS Weinberger, 407 (407); Meng, Recht der Internationalen Organisationen, 21, wobei dieser auch darauf hinweist, dass das gesollte Verhalten mit einem entsprechenden „Verlangendürfen“ der Gegenseite verknüpft ist (s. ebd., Fn. 4). Zum Sollensgehalt des (rechtlichen) Normbegriffs weiter etwa Reimer, Verfassungsprinzipien, 53 f.; Rüthers, Rechtstheorie, 59 f., 77. 11 Siehe etwa Penski, in: JZ 1989, 105 (106); Rüthers, Rechtstheorie, 77. 12 Vgl. zum Folgenden allgemein auch Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 156 ff. 13 So Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 250, m.w.N.; s. außerdem bspw. auch Rüthers, Rechtstheorie, 59. 14 So gelten beispielsweise nach der Legaldefinition von Art. 5 Abs. 2 des schweizerischen Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse (Geschäftsverkehrsgesetz, GVG) vom 23.3.1962 (SR 171.11) als Rechtssätze „alle generellen und abstrakten Normen, welche natürlichen oder juristischen Personen Pflichten auferlegen oder Rechte einräumen oder die Organisation, die Zuständigkeit oder die Aufgaben der Behörden oder das Verfahren regeln“. Dabei wird die Begrifflichkeit sowohl rechtslogisch als auch -praktisch durch die Kategorie der individuell-konkreten Hoheitsakte bzw. Verfügungen ergänzt, mittels derer eine konkrete (verwaltungsrechtliche) Rechtsbeziehung geregelt wird. 15 Schweizerisches Geschäftsverkehrsgesetz; s. soeben, Fn. 14.
B. Normtheoretische Grundlagen
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gleichwohl keine Normen darstellen, zeichnen sie sich gerade durch ihre Verbindlichkeit auch im konkreten Einzelfall und damit zugleich ein gewisses Ausmaß der Konkretisierung aus. Insofern stehen sie insbesondere jener Kategorie von Rechtsbestimmungen gegenüber, die in einer Rechtsordnung die wichtigsten, dabei aber auch allgemeinsten materiellen Vorgaben bilden und demzufolge auch den niedrigsten Stand der Konkretisierung aufweisen. Auf der Ebene des nationalen Rechts weisen gerade die Bestimmungen des Verfassungsrechts nicht alle den gleichen „Konkretionsgrad“16 oder die gleiche normative Qualität auf, d. h. sie sind nicht in selbem Maße direkt verwendbar. So werden die Grundwerte der Verfassung etwa im schweizerischen wie auch im deutschen Verfassungsrecht nicht durch Rechtsnormen im eigentlichen Sinn festgelegt, sondern durch „Strukturprinzipien“17 oder „verfassungsgestaltende Leitprinzipien“18. Diese verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien bilden „Generalisierungen von Verfassungsnormen mit einem gemeinsamen Orientierungsgehalt“19; ihre Funktion besteht dabei nicht zuletzt darin, für die Konkretisierung einer Norm oder im Falle eines Normkonfliktes als Referenzwert zu dienen20. Traditionellerweise gehören hierzu das Demokratieprinzip, das Föderalismusprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie das Sozialstaatsprinzip, wobei zu diesen mit der seit dem 1. Januar 2000 geltenden neuen schweizerischen Bundesverfassung nunmehr auch etwa das Nachhaltigkeitsprinzip sowie das Prinzip internationaler Kooperation hinzugezählt werden21. ___________ 16
Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar, 1 (7). Allgemein zu verfassungsstaatlichen Strukturprinzipien Eichenberger, in: FS Stern, 457 ff.; spezifisch zum Begriff des Strukturprinzips im schweizerischen Verfassungsrecht Mastronardi, Strukturprinzipien, sowie Tschannen, Stimmrecht und politische Verständigung, 176 f. Zur ganz ähnlichen Bedeutung der Strukturprinzipien von Art. 20 Abs. 1-3 GG für das deutsche Verfassungsrecht s. bspw. Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar, 1 ff. 18 Siehe Rhinow, Bundesverfassung 2000, 34. 19 Mastronardi, Strukturprinzipien, 43. 20 Siehe Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Vol. I, 476; Tschannen, Stimmrecht und politische Verständigung, 177. Auf die Konkretisierung der Strukturprinzipien durch andere Verfassungsnormen weist auch Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar, 1 (7), für das deutsche Verfassungsrecht hin. 21 Vgl. Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Vol. I, 476 ff.; Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 51 ff.; Rhinow, Bundesverfassung 2000, 34 ff. Dabei sind diese Prinzipien in der schweizerischen Bundesverfassung anders als bspw. nach Art. 20 Abs. 1-3 GG nicht in einer „Schlüsselnorm“ (Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar, 1 [1]) zusammengefasst, sondern in diversen Verfassungsnormen enthalten oder – wie im Falle der demokratischen Staatsform auf Bundesebene – gar nicht explizit genannt. Gerade das Demokratieprinzip geht vielmehr aus der Gesamtheit aller „dispositions constitutionnelles qui règlent la participation populaire directe et indirecte à la formation de la volonté politique“ hervor (Auer/Malinverni/Hottelier, a.a.O., 476). Darunter ist dann eine ganze Reihe von Normen der Bundesverfassung zu zählen, von 17
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
Die Verwendung des Attributes „normativ“ beschränkt sich somit keineswegs auf „Normen“ im normtheoretischen Sinn, sondern dient zur Bezeichnung einer bestimmten Qualität jedweder rechtlichen Formel. Denn „normativ“ zu sein bedeutet nicht nur, eine präzis bestimmte rechtliche Regelung zu beschreiben bzw. festzusetzen; sondern „normativ“ sind auch allgemeinere Vorgaben von erst geringem Konkretionsgrad, ja in gewissem Sinn sogar das Vorschlagen einer bestimmten Regelung22. Die „Normativität“ einer bestimmten Aussage besteht darin, dass diese einen Sollensgehalt aufweist 23, und die „Normativität“ einer bestimmten Rechtsordnung als Gesamtes äußert sich darin, inwiefern sie eine Sollensordnung darstellt24. Offen bleibt mit der Zuerkennung von „Normativität“ indessen zunächst, wie hoch oder tief der entsprechende Sollensgehalt effektiv ausfällt. Von der Vorgabe eines Referenzwertes, der im Rahmen der weiteren Konkretisierung des Rechts Berücksichtigung finden soll, bis zur Festschreibung einer spezifischen rechtlichen Regel, die in bestimmten Sachverhalten zur Anwendung gelangen soll, verläuft jene Bandbreite rechtlicher Wirkung, die als „Normativität“ bezeichnet werden kann25. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Normativität im Sinne eines bestimmten Sollensgehalts auch auf der Stufe konstitutioneller Struktur- oder Leitprinzipien ein Merkmal rechtlicher Formeln darstellt. Die Funktion einer bestimmten Formel als rechtliche Vorgabe im Rahmen der Verfassung setzt dies im Übrigen auch voraus; entscheidend ist der in jedem (auch dem relativ abstrakten konstitutioneller Struktur- oder Leitprinzipien) Sollensgehalt zum Ausdruck kommende Gestaltungswille26. Die Zuordnung zu einer normtheoretischen ___________ den demokratischen Anforderungen an die Verfassungen der Kantone (Art. 51 Abs. 1) u. a. über die Festschreibung der politischen Rechte der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (Art. 136), die Regelungen der Volksrechte auf Bundesebene (Initiativ- und Referendumsrechte, Art. 138-142), die Regelungen in Bezug auf die Wahlen der repräsentativen Organe (insb. die Wahl des Nationalrates, Art. 149) bis zu Grundrechtsgarantien wie Medienfreiheit (Art. 17) oder Versammlungsfreiheit (Art. 22). 22 Vgl. Neumann, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 422 (434 f.), zur Bedeutung des Attributs „normativ“ in Bezug auf die Rechtswissenschaft. 23 Dies im Gegensatz zu lediglich deskriptiven Aussagesätzen; vgl. etwa Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 71 ff. 24 Vgl. in Bezug auf die Normativität des internationalen Systems Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 32 ff. 25 Die Wirkung wird von Müller, Strukturierende Rechtslehre, 256 ff., als Kriterium von Normativität in Bezug auf Normen hervorgehoben; demgegenüber könne von der Normativität nicht als einer Rechtsnorm innewohnender Eigenschaft gesprochen werden. „Was mit dem Ausdruck ‚Normativität‘ realistisch zu bezeichnen ist, wirkt sich in den täglich geleisteten Entscheidungsprozessen der Rechtsarbeit aus.“ (Ebd., 257.) Zum Ganzen auch ders., Juristische Methodik, 168 ff. 26 Zum Gestaltungswillen als Aspekt des Normativen vgl. den Hinweis bei Rüthers, Rechtstheorie, 173; in Bezug auf die Kategorie der rechtlichen Normen bildet der Ge-
B. Normtheoretische Grundlagen
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Kategorie wiederum ist schließlich eine Frage der Bestimmung des vorhandenen normativen Gehalts; die folgenden Überlegungen zu den Ausdrucksformen der Norm verdeutlichen dies weiter.
3. Prinzipien und Regeln als Ausdrucksformen der Norm Neben der Abgrenzung der Normen im engeren Sinn von (verfassungsrechtlichen) Struktur- oder Leitprinzipien ist im Hinblick auf die anschließenden materiellrechtlichen Überlegungen schließlich noch eine weitere Differenzierung von Belang: Im Rahmen des Begriffes der Norm kann – wie von Robert Alexy in Anlehnung an Ronald Dworkin vorgeführt – zwischen Regeln und Prinzipien unterschieden werden27. Das zugrunde liegende Abgrenzungskriterium ist dabei zufolge Alexy qualitativer Art: Als Prinzipien können danach Normen bezeichnet werden, die verlangen, dass einer bestimmten Zielsetzung im Verhältnis zu den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maß entsprochen werde. Charakteristisch ist dabei, dass solche Normen in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können – eben je nach dem, in welchem Ausmaß oder in welcher Vollendung unter den gegebenen Voraussetzungen die Zielsetzung effektiv erreicht werden kann. Prinzipien enthalten daher zufolge dieser Sichtweise „Optimierungsgebote“28, wobei offen gehalten wird, welche Mittel zur Verwirklichung einzusetzen sind29. Hierin, im Kriterium des Optimierungsgebots, besteht der zentrale, in der kritischen Auseinandersetzung mit Dworkins Ansatz gewonnene Aspekt der Trennungstheorie von Alexy. Demgegenüber sind dann Regeln „Festsetzungen im Raum des tatsächlich und ___________ staltungswille danach u. a. ein Abgrenzungskriterium gegenüber Seinsnormen, die das bereits Geltende beschreiben. 27 Zum Folgenden s. Alexy, Theorie der Grundrechte, 72, 75 ff.; ders., in: ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (14 ff.). Die Unterscheidung erfolgt dabei in Anlehnung an die von Dworkin, Taking Rights Seriously, insb. 22 ff., im Rahmen seiner Kritik an rechtspositivistischen Positionen (die einzig Regeln als Bestandteile der Rechtsordnung anerkennen) vorgenommene Differenzierung von Regeln und Prinzipien; für eine Auseinandersetzung mit der Theorie Dworkins s. auch Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 177 ff. Zum Ansatz Dworkins außerdem noch sogleich im Text. Aus der weiteren Literatur zur Unterschiedung zwischen Regeln und Prinzipien s. außerdem bspw. Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (52 f.); Hoppe, in: FS Stree/Wessels, 1153 (1160 ff.); Penski, in: JZ 1989, 105 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 258 ff.; Volkmann, Solidarität, 383 ff. Spezifisch in Bezug auf das Umweltvölkerrecht außerdem bereits Sands, in: Sustainable Development and International Law, 53 (54 ff.). 28 Alexy, Theorie der Grundrechte, 75 f.; ders., in: ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (19 ff.); ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 203. 29 Zu diesem letzteren Aspekt auch Calliess, Prozedurales Recht, 19.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
rechtlich Möglichen“30, die keine graduellen Abstufungen zwischen Erfüllung und Nichterfüllung zulassen: Dem von einer Regel verlangten Verhalten wird entweder entsprochen oder nicht. Die Einstufung einer Norm als Regel oder als Prinzip hängt damit von ihrem Abstraktionsgrad bzw. ihrer Bestimmtheit ab. Dabei lässt sich allgemein schließen, dass es sich umso eher um ein Prinzip (und nicht um eine Regel) handle, je höher der Abstraktionsgrad und damit je schwächer die Bestimmtheit einer Norm seien. Alexy illustriert dies mit dem Hinweis auf Normen, die von den Normadressaten Sorgfalt verlangen, wobei verschiedene Grade der Sorgfalt „gesollt“ sein können: „Wenn ein relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohes Maß an Sorgfalt gefordert wird, handelt es sich um ein Prinzip. Wird nur ein bestimmtes Maß an Sorgfalt gefordert, geht es um eine Regel.“31
Allerdings kann auch eine Regel einen relativ geringen Festlegungsgehalt haben, was insbesondere dann der Fall ist, wenn sie bei der Festsetzung eines Sollens mit Begriffen wie „vernünftig“ oder „gerecht“ operiert bzw. auf Werte wie die „guten Sitten“ oder „Treu und Glauben“ verweist32. Alexy betont jedoch, dass eine Norm nicht schon durch die Verwendung eines derartigen offenen Begriffs zu einem Prinzip werde. Vielmehr ist für die Regel entscheidend, dass sie eine ganz bestimmte Rechtsfolge, ein ganz bestimmtes Verhalten der Normadressaten verlangt, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind. Der Umstand, dass mittels zusätzlicher Kriterien geklärt werden muss, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß beispielsweise das konkretisierungsbedürftige Element der Gerechtigkeit vorhanden sei, ändert hieran nichts. Diese Zusatzkriterien können im Übrigen auch in der Form von Prinzipien definiert sein, womit sich erhellt, dass Prinzipien „Gründe für Regeln“ darstellen können33. (Gleiches gilt im Übrigen auch – freilich auf einer noch höheren Abstraktionsebene bzw. einer noch niedrigeren Konkretionsstufe – für konstitutionelle Struktur- oder Leitprinzipien im Rahmen ihrer Referenzwertfunktion34.) Hinter dem Ansatz Dworkins, welcher der Unterscheidung nach Alexy zugrunde liegt, steht die Zielsetzung einer grundlegenden Kritik am Rechtspositivismus35. Dworkins Ausgangspunkt bildet dabei eine Hinterfra___________ 30
Alexy, Theorie der Grundrechte, 76; ders., in: ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (20). Alexy, in: ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (20). 32 Ebd., 13 (20 f.). 33 Ebd., 13 (21). 34 Hierzu zuvor, 2. 35 Wobei die Kritik sich vorzugsweise gegen die Theorie von H. L. A. Hart richtet (Hart, Concept of Law, 1. Aufl.). Siehe Dworkin, Taking Rights Seriously, 22: „I want to make a general attack on positivism, and I shall use H. L. A. Hart’s version as a target, when a particular target is needed.“ Hart hat hierzu insb. in einer posthum veröffentlichten Erwiderung Stellung bezogen, s. Hart, Concept of Law, 2. Aufl., Postscript. 31
B. Normtheoretische Grundlagen
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gung dessen, was er in drei Thesen als archetypische Elemente bzw. als „Skelett“ rechtspositivistischer Standpunkte definiert36: –
Hierzu zählt er zunächst die positivistische Annahme, dass das Recht einer bestimmten Gemeinschaft aus Regeln bestehe, die nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern anhand formeller Kriterien als gültige Rechtsregeln identifizierbar sind. Solche formelle Geltungskriterien des Rechtspositivismus seien die Herkunft („pedigree“) bzw. die Art und Weise ihrer Anerkennung und Entwicklung.
–
Entsprechend betrachten positivistische Positionen ausschließlich Regeln, die den Geltungskriterien gerecht werden, als normative Bestandteile der Rechtsordnung. Dies mit der logischen Folge, dass in Fällen, in denen keine einschlägige Regel vorhanden ist, eine Entscheidung durch Anwendung des geltenden Rechts nicht möglich ist. Die daraus wiederum folgende Konsequenz ist, dass diesfalls eine rechtsschöpferische richterliche Entscheidung notwendig ist. Weil keine anwendbare Rechtsregel vorliegt, hat die entscheidende Instanz ein entsprechendes Ermessen, und aus ihrer Entscheidung erwächst eine komplett neue Regel oder es wird eine alte ergänzt.
–
Konsequenzen ergeben sich schließlich auch für die Bedeutung rechtlicher Verpflichtungen. Solche können nur dann existieren, wenn dies aus einer entsprechenden Rechtsregel folgt. Das Fehlen einer gültigen Rechtsregel schließt hingegen das Vorhandensein einer rechtlichen Verpflichtung aus.
Für die normtheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien zentral ist dann Dworkins Ansatz, dem von ihm kritisierten Regelmodell (in dem Regeln wie gesagt einzige normative Bestandteile der Rechtsordnung sind) ein Modell gegenüber zu stellen, in dem auch Prinzipien gelten. Deren Geltung und Gewicht ergeben sich nicht aus formellen Kriterien ihrer Herkunft, sondern wesentlich auch aus moralischen Erwägungen, „because it is a requirement of justice or fairness or some other dimension of morality“37. Mit der Einführung derartiger Prinzipien als Bestandteile der Rechtsordnung erweisen sich auch die ___________ Für einen Überblick über die diskursive Auseinandersetzung zwischen Dworkin und Hart s. etwa Watkins-Bienz, Hart-Dworkin Debatte. Zu Dworkins Ansatz außerdem etwa Zagrebelsky, in: International Journal of Constitutional Law 2003, 621 ff. 36 Zum Folgenden Dworkin, Taking Rights Seriously, 17. Vgl. außerdem auch zuletzt ders., in: Harvard Law Review 2002, 1655 (1655): „A classic form of that theory of law (d. h. des Rechtspositivismus, Anm. des Verf.) holds that a community’s law consists only of what its lawmaking officials have declared to be the law, so that it is a mistake to suppose that some nonpositive force or agency – objective moral truth or God or the spirit of an age or the diffuse will of the people or the tramp of history through time, for example – can be a source of law unless lawmaking officials have declared it to be.“ 37 Dworkin, Taking Rights Seriously, 22.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
anderen für den positivistischen Standpunkt als typisch bezeichneten Annahmen als unrichtig. Mangels einer einschlägigen Regel ist nicht neues Recht (nämlich eine neue Regel) zu schaffen, sondern es kann und muss auf die dem Recht bereits innewohnenden Prinzipien zurückgegriffen werden. Die Aufgabe einer richterlichen Instanz besteht gemäß Dworkin folglich auch in schwierigen Fällen nicht darin, neue Rechte zu schaffen, sondern die der Rechtsordnung immanenten Rechte zu entdecken38. Entscheidend ist bei allem die Erkenntnis, dass das positive Recht in seiner Begründung wie in seiner Anwendung moralischen Gesichtspunkten wie Gerechtigkeit und Fairness zu genügen hat, und dass diese Werte durch die Normkategorie der Prinzipien nicht außerhalb der Rechtsordnung stehen, sondern selbst Bestandteil derselben sind.
III. Bedeutung auf der Ebene des Völkerrechts Die beschriebenen normtheoretischen Unterscheidungen können freilich nicht nur für das nationale (Verfassungs-)Recht vorgenommen werden, sondern sie lassen sich auch auf der Ebene des Völkerrechts verwenden. Es ist nämlich davon auszugehen, dass auch hier – und gerade auf der Ebene materieller Bestandteile eines allfälligen Völkerverfassungsrechts – rechtliche Festlegungen von unterschiedlicher normativer Qualität vorhanden sind39. Auch wenn das nationale Recht der Staaten einerseits und das Völkerrecht andererseits unterschiedliche Rechtsschichten darstellen, so bestehen untereinander doch vielfältige Bezüge. Das jeweilige Rechtsdenken beruht auf beiden Ebenen letztlich auf den gleichen Grundlagen, was sich gerade in der beidseitigen Bezugnahme auf die Norm als zentrale Ausdrucksform von Rechten und Pflichten äußert40. Mit der zunehmenden Bedeutung des Konstitutionalisierungsbegriffs in der gegenwärtigen Entwicklung des Völkerrechts zeigt sich außerdem bereits, wie die gedankliche Befruchtung der Völkerrechtstheorie aus „herkömmlicher“ Verfassungstheorie von großer Bedeutung ist.
1. Konstitutionelle Leitkonzepte So kann zunächst analog zu den verfassungsgestaltenden Struktur- oder Leitprinzipien, welche die Grundwerte des nationalen Verfassungsrechts zum Ausdruck bringen, eine völkerrechtliche Kategorie der obersten Abstraktionsebene beschrieben werden. Auch hier bestehen anerkannte rechtliche Formeln, ___________ 38
Siehe ebd., 81. Siehe zuvor in diesem Unterkapitel, I. 40 In dieser Richtung auch Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (53 f.). 39
B. Normtheoretische Grundlagen
297
in denen einerseits Grundwerte der konstituierten Gemeinschaft niedergelegt sind und die entsprechend eine materielle Vorgabe von höchster Maßgeblichkeit darstellen, die aber andererseits kaum direkt verwendbar sind, sondern erst mit der Konkretisierung durch spezifischere Sollenssätze zu rechtlicher Wirksamkeit gelangen. Zu denken ist dabei beispielsweise an in der UNO-Charta niedergelegte Grundwerte und grundlegende Zielsetzungen wie die Sicherung des Friedens auf der Basis der souveränen Gleichheit der Mitglieder der Staatengemeinschaft41, die in einer großen Zahl unterschiedlicher Dokumente aufgeführte Bekämpfung der Armut im Rahmen eines Rechts der Entwicklung42 sowie im Umweltbereich die Zielsetzung einer Nachhaltigen Entwicklung43. Dabei ist den genannten Wertvorstellungen und Zielsetzungen gemeinsam, dass sie offensichtlich nicht auf bestimmte völkerrechtliche Bereiche beschränkt sind, sondern (sich teilweise auch überschneidend) diverse materielle Sphären umfassen. So spielen insbesondere etwa Fragen der Armutsbekämpfung und damit der wirtschaftlichen Entwicklung in den Entwicklungsländern bei allen genannten Zielsetzungen eine Rolle. Anders als im Kontext des nationalen Verfassungsrechts44 soll angesichts der anderweitigen Besetzung des Begriffs des Prinzips im Folgenden allerdings nicht von „Strukturprinzipien“ oder „verfassungsgestaltenden Leitprinzipien“ die Rede sein, sondern von konstitutionellen Leitkonzepten. Wesentlich ist dabei auch im völkerrechtlichen Zusammenhang folgende Überlegung, die zuvor für die Ebene des nationalen Verfassungsrechts angestellt wurde: Weder der hohe Abstraktionsgrad konstitutioneller Leitkonzepte noch die daraus folgende Tatsache, dass sie demnach keine „Normen“ (und eben auch keine „Prinzipien“) im eigentlichen Sinn45 darstellen, schließen es aus, dass auch ihnen ein bestimmter normativer Gehalt zukommt: Auf dieser Ebene besteht dieser darin, durch die Bestimmung eines Grundwertes das Handlungsziel vorzugeben, eben diesen Wert zu verwirklichen. Allerdings wird dabei nicht vorgeschrieben, mit welchen Mitteln bzw. mit welchen Verhaltensvorschriften an die Adresse der völkerrechtlichen Rechtssubjekte dies gewährleistet werden soll. Insofern erhellt sich auch der Gegensatz zu Prinzipien und Regeln, deren normativer Charakter darauf beruht, dass sie – wenn auch mit unterschiedlichem Grad der Konkretisierung – ein konkretes „Sollen“ zum Ausdruck bringen und demnach Normen im eigentlichen Sinn sind. Der normative Charakter von Konzepten besteht demnach nicht darin, Norm zu sein, sondern eine materielle Zielvor___________ 41
Vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta. Vgl. etwa Grundsätze 3 und 5 Rio-Deklaration. 43 Ob und inwiefern das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung tatsächlich in diese Kategorie passt, ist nachfolgend noch zu überprüfen; vgl. das 4. Kap., B. I. 44 Siehe den Abschnitt zuvor. 45 Wie zuvor auf der Grundlage nationalen Rechts definiert. 42
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
gabe zu definieren sowie zugleich bestimmte Auswirkungen auf jene Normen zu entfalten, die zur Verwirklichung der Vorgabe dienen sollen. In Analogie zur nationalen Verfassungsordnung sind diese Auswirkungen darin zu sehen, dass ein konstitutionelles Leitkonzept den Referenzwert für die Konkretisierung der Normen, deren Auslegung sowie die Lösung allfälliger Normkonflikte bildet. Im Rahmen dieser Referenzwertfunktion kommt einem konstitutionellen Leitkonzept dann auch Verbindlichkeit zu. Dies will heißen, dass die angesprochenen Rechtssubjekte verpflichtet sind, in ihrem Handeln und Unterlassen die gegebene konzeptionelle Zielsetzung anzustreben; dabei haben sie wiederum jene Normen im Geiste des Leitkonzepts anzuwenden, welche eben dieses normativ weiter differenzieren und konkretisieren. Schließlich lässt sich an dieser Stelle der Bogen zu den am Ende des 2. Kapitels46 formulierten Untersuchungskriterien bezüglich der Verfassungsfähigkeit einer Gemeinschaft schlagen: Nach dem Gesagten bilden konstitutionelle Leitkonzepte jene Ebene, auf der im Hinblick auf Gemeinwohlbelange die (noch abstrakten) normativen Grundentscheidungen getroffen werden, aus welchen dann (allenfalls) konkretisierende konstitutionelle Normen hervorgehen.
2. Normen a) Prinzipien aa) Allgemeine Bedeutung im völkerrechtlichen Zusammenhang Da die konstitutionellen Leitkonzepte erst die notwendigen abstrakten Vorgaben vermitteln, müssen auch im Rahmen des Völkerrechts die Grundwerte und die entsprechenden rechtlichen Grundentscheidungen der konstituierten Gemeinschaft im Interesse ihrer rechtlichen Umsetzung auf der Ebene von Normen weiter konkretisiert werden. Zum einen erfolgt diese Konkretisierung auch hier durch Prinzipien, die insofern offen gestaltet sind, als sie Sollenssätze mit relativ hohem Abstraktionsgrad47 enthalten. Entsprechend verlangen sie von ___________ 46
Siehe das 2. Kap., D. IV. Vgl. in Bezug auf völkerrechtliche Prinzipien auch etwa Durner, Common Goods, 22, der im „Generalitäts- bzw. Abstraktionsgrad“ deren „entscheidendes Wesensmerkmal“ erblickt. Anders jedoch Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (54, mit Fn. 109), unter expliziter Abgrenzung von Durner: Danach bilde die „jeweilige Regelungsdichte“ „kein zuverlässiges Kriterium für die Unterscheidung beider Normgruppen“, seien doch auch Regeln „nicht selten (...) inhaltlich sehr allgemein gehalten“. Indessen eröffneten Regeln den verpflichteten Staaten gleichwohl „keine alternativen Handlungsmöglichkeiten“, und sie seien „damit anders als Prinzipien nicht bloße Determinanten eines noch ergeb47
B. Normtheoretische Grundlagen
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den Normadressaten – primär den Staaten – kein präzis vorgegebenes Verhalten, sondern können durch eine gewisse Bandbreite von Verhaltensweisen erfüllt werden. Derartige Prinzipien sind (im konkreten Fall in Bezug auf den besonderen Bereich des Umweltvölkerrechts) auch als völkerrechtliche Strukturprinzipien bezeichnet worden48. Dazu hat sich Beyerlin kritisch geäußert49. Seine Kritik ist insofern berechtigt, als die Verwendung des Begriffs auf der völkerrechtlichen Ebene nicht in jeder Hinsicht mit jener des nationalen Verfassungsrechts übereinstimmt und somit verwirrend sein kann. Im Anschluss an die nachfolgenden Ausführungen soll in der vorliegenden Untersuchung daher von (konstitutionellen) Prinzipien gesprochen werden, unter Abgrenzung von (konstitutionellen) Leitkonzepten. Im Unterschied zur Begrifflichkeit auf der nationalen Verfassungsebene50 ist dabei hervorzuheben, dass der Begriff des Strukturprinzips im völkerrechtlichen Kontext nicht für die höchste Abstraktionsstufe verwendet wird, sondern zur Bezeichnung von Prinzipien im Sinn von eigentlichen rechtlichen Normen. Der Begriff bringt für die Ebene des Völkerrechts zum einen den soeben angesprochenen Prinzipiencharakter mitsamt der Einbettung in den Kontext eines übergeordneten Konzepts – im beispielgebenden umweltvölkerrechtlichen Zusammenhang jenes der Nachhaltigen Entwicklung – zum Ausdruck. Zum an___________ nisoffenen Abwägungsprozesses“. Zu bemerken ist hierzu allerdings, dass doch fraglich ist, wie Regeln die ihnen beigemessene, (im Verhältnis zu Prinzipien) besondere Funktion ohne stärkere normative Bestimmheit bzw. höhere Regelungsdichte erfüllen können. Im Sinne eines vergleichenden Hinweises sei an dieser Stelle schließlich noch an die Grundrechte-Charta der Europäischen Union erinnert: Diese trifft eine explizite Unterscheidung zwischen „Rechten“ und „Grundsätzen“ („principles“, „principes“; s. Art. I-9 Abs. 1, Art. II-111 Abs. 1 sowie Art. II-112 EVV). Die Unterscheidung impliziert auch hier eine unterschiedliche normative Qualität der beiden Kategorien: So ist in Art. II-111 Abs. 1 EVV davon die Rede, die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ sowie die Mitgliedstaaten hätten die Rechte zu achten und sich an die Grundsätze zu halten. Dabei ist die Rolle von Grundsätzen sowohl in Bezug auf ihre normative Funktion als auch in Bezug auf den Rechtsschutz schwächer, wie sich aus Art. II-112 Abs. 5 EVV ergibt: Danach stehen Bestimmungen der Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, einerseits der weiteren Konkretisierung offen, sei es im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten durch „Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ oder durch „Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union“. Andererseits können diese Bestimmungen „vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden“. Vgl. zu dieser Unterscheidung Grabenwarter, in: EuGRZ 2004, 563 (565 f.), der auch erwähnt, dass sich die Reichweite der Differenzierung noch nicht gänzlich abschätzen lasse. 48 Siehe Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, insb. 15 f., 169 f. 49 Siehe Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (insb. 58 f.). 50 Vgl. zuvor in diesem Kap., B. II. 2.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
dern impliziert er, dass über die Lösung einzelner Probleme (beispielhaft des Umweltschutzes) hinaus bereichsübergreifende verhaltensdeterminierende Vorgaben existieren. Diese prägen damit in grundsätzlicher Weise die normative Ausrichtung des völkerrechtlichen Bestandes an problembezogenen Normen. In dieser Funktion bilden sie normative Bezugspunkte, an denen sich die weiteren rechtlichen Konkretisierungen auf der Stufe von spezifischen Regeln (insbesondere im Rahmen völkerrechtlicher Verträge in bestimmten Problembereichen, bspw. Umweltbereichen) zu orientieren haben51. Auch im völkerrechtlichen Kontext sind Prinzipien also in normativer Hinsicht gegenüber Regeln abzugrenzen. Im Verhältnis zu diesen bilden sie die materielle Basis im Sinne eines „idealen Sollens“, das durch auf ein „reales Sollen“ gerichtete Regeln noch weiter konkretisiert werden kann und muss52. In die hiermit eingeschlagene Richtung53 geht bis zu einem gewissen Grad auch der von Beyerlin vertretene Ansatz der normtheoretischen Trennung von Prinzipien und Regeln54. Indessen weicht sein Verständnis von der völkerrechtlichen Normkategorie der Prinzipien insofern vom vorliegend vertretenen ab, als er zwar den Prinzipien (bei der Differenzierung gegenüber Regeln) das Potential für eine „maßgebliche“ Beeinflussung des Staatenverhaltens beimisst, ihnen gleichzeitig aber abspricht, sie könnten unmittelbare völkerrechtliche Verhaltenspflichten erzeugen. Andererseits misst auch Beyerlin (wiederum im Umweltbereich) bestimmten völkerrechtlichen Formeln, die in der vorliegenden Untersuchung der normtheoretischen Kategorie der Prinzipien
___________ 51 Dazu auch bereits Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 40. Diese Funktion von Prinzipien nennt auch Sands, in: Sustainable Development and International Law, 53 (56 f.); er weist dabei aber auch darauf hin, dass die tatsächliche Wirkung von den konkreten Umständen abhängig sei, die für jedes Prinzip gesondert betrachtet werden müssten. 52 Zu „idealem“ und „realem Sollen“ als Unterscheidungskriterium von Prinzipien und Regeln Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 202 ff.; die Idealität des Sollens entspricht dabei dem Kriterium des Optimierungsgebots. 53 Vgl. auch Bodansky, in: Yale Journal of International Law 1993, 492 (501), wonach Prinzipien (anders als Regeln) „embody legal standards, but the standards they contain are more general than commitments and do not specify particular actions“; daran anschließend auch Sands, Principles of International Environmental Law, 233, sowie ders., in: Sustainable Development and International Law, 53 (55). Der Gedanke eines von Prinzipien ausgehenden, ein ideales Sollen ausdrückenden normativen Impulses, der wiederum in spezifischeren Regeln konkretisiert werden muss, findet sich auch im von Lang, in: Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, 9 ff., vertretenen Verständnis umweltvölkerrechtlicher Prinzipien. In einer ähnlichen Richtung argumentiert schließlich in Bezug auf völkerrechtliche Prinzipien des Menschenrechtsschutzes Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 82 ff. 54 Siehe Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (54).
B. Normtheoretische Grundlagen
301
zugeordnet werden, so neben anderen55 dem Vorsorgeprinzip und dem Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeit56, eine auf eine konkrete Verhaltensverpflichtung der Staaten hinauslaufende Wirksamkeit bei57. Das damit drohende Dilemma zwischen der grundsätzlichen Verneinung einer unmittelbaren völkerrechtlichen Wirksamkeit von Prinzipien einerseits und gleichzeitiger Anerkennung einer Verhaltensverpflichtung bei bestimmten „Prinzipien“ andererseits vermeidet der Autor allerdings dadurch, dass er die genannten „Prinzipien“ der Normkategorie der Regeln zuordnet. Diese Zuordnung verlangt, dass die entsprechenden normtheoretischen Kriterien, wie sie auch von Beyerlin bei der Unterscheidung zwischen den beiden Normkategorien zugrundegelegt werden, tatsächlich greifen. Vorwegzunehmen ist indessen, dass sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch deutlicher zeigen wird, dass gerade das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit aufgrund des jeweilig feststellbaren normativen Gehalts keine Regeln, sondern gegebenenfalls Prinzipien im normtheoretischen Sinn darstellen58. An dieser Stelle ist nur knapp auf das umweltvölkerrechtliche Beispiel des Vorsorgeprinzips hinzuweisen59: Dieses verlangt von den Staaten kurz gesprochen, dass im Falle der Gefahr von erheblichen Schäden für die Umwelt die notwendigen umweltpolitischen Maßnahmen auch dann ergriffen werden, wenn (noch) keine absolute wissenschaftliche Gewissheit darüber besteht, dass die befürchtete Umweltschädigung auch tatsächlich eintreten wird bzw. dass zwischen einem bestimmten Verhalten und den befürchteten Auswirkungen auf die Umwelt tatsächlich ein Kausalzusammenhang besteht. Die Staaten werden somit beispielsweise dazu verpflichtet, Tätigkeiten oder Substanzen, die Umweltschädigungen bewirken können, Regelungen zu unterwerfen, selbst wenn keine wissenschaftliche Gewissheit über die möglichen oder wahrscheinlichen Umweltschäden gegeben ist. Bereits dieser kurze Hinweis auf den normativen Inhalt des Vorsorgeprinzips macht deutlich, dass von den Staaten als Normadressaten keineswegs ein bestimmtes, mit einer gewissen Präzision umschriebenes Verhalten gefordert wird. Sondern ihnen bleibt die Art und Weise der konkre___________ 55
Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (56), nennt außerdem das Gebot der Vermeidung grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, die Pflicht zur Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie den Grundsatz der guten Nachbarschaft. 56 Ebd. 57 Siehe ebd., wonach diese Formeln „trotz ihrer Abstraktheit den Adressaten nicht nur gewisse bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu beachtende Direktiven an die Hand geben, sondern ihnen ein nach Inhalt und Umfang jedenfalls bestimmbares Verhalten abverlangen“. 58 Zur Frage des jeweiligen normativen Gehalts der beiden genannten Prinzipien s. im 4. Kap., B. II. 3. a) und III. 3. a). 59 Ausführlich zum Inhalt des Vorsorgeprinzips dann im 4. Kap., B. II. 1.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
ten Umsetzung in einem hohen Maße überlassen, wobei eine nur graduelle Verwirklichung der normativen Vorgabe ohne weiteres denkbar ist. Dies gilt auch für den vergleichsweise konkreten Gehalt des Vorsorgeprinzips, gegenüber wahrscheinlich umweltschädigenden Tätigkeiten oder Substanzen hätten die Staaten Maßnahmen zu ergreifen. Welcher Art diese Maßnahmen sein sollen, wird – außer dass es sich logischerweise um eine Reaktion mit umweltschützender Wirkung handeln muss – durch die Formel in keiner Weise vorgegeben. Entsprechend ist aber vom Vorliegen eines Prinzips und nicht einer Regel auszugehen. Der aus diesen Überlegungen vorläufig zu ziehende Schluss besteht darin, dass Prinzipien als Teilkategorie von Normen auch auf der Ebene des Völkerrechts eine wichtige Rolle einnehmen. Bei der Frage nach den konstitutionellen Elementen des Völkerrechts ist ihnen damit neben der Ebene der konstitutionellen Leitkonzepte ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken. Insofern kann im Rahmen einer völkerrechtlichen Normtheorie also an die Ansätze60 von Alexy wie auch von Dworkin zur Differenzierung von Prinzipien und Regeln angeknüpft werden.
bb) Zusätzliche Folgerungen in Bezug auf die Struktur derVölkerrechtsordnung Aus der Anknüpfung an das Verständnis der normtheoretischen Kategorie der Prinzipien lassen sich außerdem noch weitere Überlegungen zur Struktur der Völkerrechtsordnung ableiten. Der Differenzierung zwischen Prinzipien und Regeln liegt bei Dworkin wie gesehen unter anderem die Frage zugrunde, was als normativer Bestandteil einer Rechtsordnung zu betrachten sei61. Dabei geht er dann – in Widerspruch zu den von ihm kritisierten rechtspositivistischen Standpunkten – davon aus, eine Rechtsordnung bestehe nicht nur aus Regeln (die anhand formeller Kriterien als solche identifizierbar sind); sondern zu einer Rechtsordnung gehörten außerdem auch Prinzipien, die ihre Rechtsgeltung ihrer Begründung durch moralische Erwägungen wie Gerechtigkeit und Fairness verdanken. Die Bedeutung dieses Gedankens für die Ebene des Völkerrechts erschließt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im Völkerrecht die Entstehung von rechtlichen Formeln mit normativem Anspruch häufig nicht in einem legislativen Prozess erfolgt, der jenen hohen formellen Anforderungen genügt, wie sie auf einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ebene nationalen ___________ 60 61
Vgl. zuvor in diesem Kap., B. II. 3. Ebd.
B. Normtheoretische Grundlagen
303
Rechts gestellt werden. Zwar existieren auch hier Regeln im normtheoretischen Sinn, die nach formellen Geltungskriterien als gültig identifiziert werden können, so insbesondere aufgrund ihrer Entstehung in einem völkerrechtlichen Vertragsschlussverfahren, allenfalls auch aufgrund der Entstehungskriterien völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts. Das Völkerrecht stellt aber in weiten Bereichen ein unvollkommenes Rechtssystem dar, an dessen Rändern die Grenzen zwischen im Entstehen begriffener rechtlicher Regelung und unverbindlicher politischer Kundgabe nicht immer klar zu erkennen sind62. Mit dem sogenannten „soft law“ – einer relativ rasch wandelbaren, amorphen Masse mit oftmals unklarer rechtlicher Bedeutung – hat sich hierfür im Völkerrecht eine eigene begriffliche Kategorie gebildet. Als „soft law“63 wird jener Teil der völkerrechtlichen Praxis bezeichnet, der zwar gewisse Postulate oder Absichtserklärungen hinsichtlich des Verhaltens der Völkerrechtssubjekte enthält, dem indessen (jedenfalls vorläufig) mangels rechtlich-normativen Gehalts grundsätzlich keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt. Gemeinsam ist dabei den verschiedenen Erscheinungsformen, dass sie keine verbindlichen Verhaltensvorschriften festlegen, aber immerhin bestimmte Verhaltenserwartungen enthalten. Zu den Erscheinungsformen64 gehören völkerrechtliche Akte verschiedenster Art und Bezeichnung wie Deklarationen und Resolutionen, Empfehlungen oder Absichtserklärungen65.
Eine wesentliche Bedeutung des „soft law“ lässt sich in der Rolle sehen, die es im Rahmen des stetigen Prozesses der Weiterentwicklung des Völkerrechts ___________ 62 Dies beruht letztlich darauf, dass das Völkerrecht, wie Müller, Vertrauensschutz, 35, ausgeführt hat, „in seiner Grundstruktur eine dezentralisierte und im Institutionellen wenig gesicherte Rechtsordnung“ darstellt. 63 Vgl. allgemein zum „soft law“ aus der unüberschaubaren Literatur bspw. Chinkin, in: Commitment and Compliance, 21 ff.; Dupuy, in: MichJIL 1991, 420 (420 ff., 431 ff.); Heusel, „Weiches“ Völkerrecht; Jabloner/Okresek, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1983, 217 ff.; Klabbers, in: Nordic Journal of International Law 1996, 167 ff.; ders., Concept of Treaty in International Law, 157 ff.; O’Connell, in: Commitment and Compliance, 100 ff.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 409 ff.; Shelton, in: Commitment and Compliance, 1 (5 ff.); Thürer, in: ZSR NF 1985 I, 429 ff.; ders., in: EPIL, Vol. IV, 452 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 419 ff. 64 Vgl. Dupuy, Droit international public, 285; Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, 42 ff.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 409 f.; Thürer, in: ZSR NF 1985 I, 429 (434 ff.); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 419 f. 65 Gemäß Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, 43, gehören zur Kategorie des „soft law“ aber auch gewisse inhaltsarme, weit gefasste Verpflichtungen in echten völkerrechtlichen Verträgen. Nach Thürer, in: ZSR NF 1985 I, 429 (436 f.), lassen sich auch Normen von Konventionen, die mangels genügender Ratifikationen noch nicht in Kraft sind, zum „soft law“ zählen.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
spielt66. Es stellt häufig eine Vorstufe auf dem Weg des Entstehens von verbindlichen völkerrechtlichen Regelungen dar, sei dies auf der Ebene völkerrechtlicher Verträge oder des Völkergewohnheitsrechts, das gerade durch „soft law“ indiziert werden kann. Die dem „soft law“ zugeschriebene „Vorreiterfunktion“67 kommt nämlich insbesondere darin zum Ausdruck, dass konstantes Handeln im Sinne einer (rechtlich an sich unverbindlichen) Verhaltensvorgabe mit der Zeit zu jener Rechtsüberzeugung führt, welche die Voraussetzung völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts bildet68, oder das Feld für eine Festschreibung dieser verhaltensdeterminierenden Formel in einem völkerrechtlichen Vertrag bereitet. Die Funktion des „soft law“ als erster Ausdruck wie auch als Wegbereiter neuer Entwicklungen des Völkerrechts lässt die Erwartung zu, dass ihm auch im Zusammenhang mit dem Prozess einer völkerrechtlichen Konstitutionalisierung eine bestimmte Rolle zukommen kann: Dieser Prozess ist in besonderem Maß durch einen Charakterzug des Evolutiven gekennzeichnet, befindet er sich doch – soviel lässt sich bereits feststellen – im Stadium einer noch offenen Entwicklung, die sich in den verschiedenen betroffenen Völkerrechtsbereichen in unterschiedlicher Klarheit abzeichnet. Eine heutige Betrachtung der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung beschränkt sich auf eine Momentaufnahme; dabei vermag „soft law“, in dem sich der Aspekt der evolutiven Entstehungsweise des Völkerrechts sozusagen widerspiegelt, ein Abbild dessen zu vermitteln, was in der internationalen Gemeinschaft zur Zeit noch erst provisorische Zustimmung findet, künftig aber zur konstitutionellen Völkerrechtsordnung gehören könnte. Wesentlich ist freilich die Feststellung, dass dem Begriff des „soft law“ gerade nicht die Bedeutung einer eigenen Rechtsschicht des Völkerrechts zukommt, die sich lediglich funktionell wegen ihres „weicheren“ (da unverbindlichen) Charakters von „hartem“ (da verbindlichem) Recht abhebt. In der Literatur wird oft schon die fehlerhafte Begriffsbildung bemängelt, werde doch mit der Bezeichnung „soft law“ vorgegeben, es handle sich dabei um eine Kategorie, die bezüglich ihrer rechtlichen Geltung als Zwischenstufe zwischen Recht und „Nicht-Recht“ stehe. Indessen sei es schon aus dogmatischen Gründen undenkbar, die strikte Unterscheidung zwischen verbindlichem Recht und unver___________ 66 Vgl. dazu Dupuy, Droit international public, 286; Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 256 f.; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 127; Thürer, in: ZSR NF 1985 I, 429 (449 f.); Tomuschat, in: United Nations at Age Fifty, 281 (305); Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 420. 67 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 420; vgl. auch Bernhardt, in: EPIL, Vol. I, 898 (899 f.); in dieser Richtung auch Thürer, in: EPIL, Vol. IV, 452 (458). 68 Siehe hierzu etwa Morrison, in: International, Regional and National Environmental Law, 803 (814).
B. Normtheoretische Grundlagen
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bindlichem „Nicht-Recht“ zu relativieren oder gar aufzugeben69. Dementsprechend wird die Kategorie des „soft law“ (deren Existenz als solche kaum in Zweifel gezogen wird) auch als Ausdruck einer außerrechtlichen Wertordnung verstanden70. Diese könne wohl politisch-moralische, nicht aber rechtliche Geltung beanspruchen. Denn sie sei eben gerade nicht dem Völkerrecht, sondern einem andersartigen (immerhin im Verhältnis zum Recht komplementären) Normensystem zuzurechnen. Aufgeworfen wird damit freilich auch die Frage, welche verhaltensdeterminierenden Formeln nun dem Bereich des Völkerrechts und welche dem Bereich außerrechtlicher Normen und Postulate zugerechnet werden können bzw. sollen. Eine mögliche Antwort darauf könnte sein, dass Prinzipien (und ohnehin die noch abstrakteren Vorgaben der Konzeptebene) als einer politisch-moralischen Wertordnung und folglich dem „Nicht-Recht“ des „soft law“ zugehörig betrachtet werden. Dem Völkerrecht wären dann ausschließlich Regeln zuzurechnen, die (im Sinne eines positivistischen Standpunkts) an die Normadressaten ganz spezifische Verhaltensvorschriften richten. Dies würde eine Konsequenz entfalten, die in Anlehnung an Dworkin (und gemäß der von ihm kritisierten rechtspositivistischen Logik) folgendermaßen zu beschreiben wäre: Da die Staaten (als primäre völkerrechtliche Rechtssubjekte) nur durch rechtliche Verpflichtungen in einem Rechtssinne gebunden sind, wären sie durch Verhaltensvorgaben, die nicht der Kategorie der Regeln zugeordnet werden können, höchstens im moralisch-politischen Sinn verpflichtet. Prinzipien (und ohnehin Konzepte) wären demgegenüber in keiner Weise mit einer auch nur irgendwie beschaffenen rechtlichen Bindungswirkung versehen. An dieser Stelle gewinnt nun das bei der Differenzierung von Prinzipien und Regeln ansetzende rechtstheoretische Konzept von Dworkin gerade insofern Relevanz, als aus seinen Überlegungen deutlich wird, dass eben nicht nur die normtheoretische Kategorie der Regeln, sondern ebenso Prinzipien zur Rechtsordnung zu zählen sind. Aus dem Ansatz wäre also zu folgern, dass Prinzipien nicht dem außerrechtlichen Bereich des „soft law“ zuzurechnen sind, sondern vielmehr dem Normensystem des Rechts zugehören. Dies bildet zugleich die rechtssystematische Voraussetzung dafür, dass aus völkerrechtlichen Prinzipien rechtliche Verpflichtungen der Staaten resultieren. Dabei kann es auch keine Rolle spielen, ob die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten in justitiabler Weise ausgestaltet sind. Mit anderen Worten ist die rechtliche Geltungskraft völkerrechtlicher Prinzipien nicht davon abhängig zu machen, ob sie kraft ihrer normativen Qualität zur Durchsetzung auf gerichtlicher Ebene geeignet ___________ 69 Vgl. Kimminich, Einführung ins Völkerrecht, 255 f.; Schröder, in: United Nations, 100 (107); Thürer, in: ZSR NF 1985 I, 429 (441 f.); ders., in: EPIL, Vol. IV, 452 (456 f.); Weil, in: AJIL 1983, 413 (414 f.). 70 So Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (37 f.), m.w.N.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
sind71. Denn auch Normen, deren normativer Gehalt eher abstrakter Art ist, kommt nach dem Gesagten Rechtskraft zu – und nicht nur bloße moralische Verbindlichkeit. Noch nicht beantwortet ist damit freilich die weitere Frage, welche verhaltensdeterminierenden Formeln tatsächlich – in Abgrenzung zu den sozialen Normen einer außerrechtlichen Wertordnung – als rechtliche Prinzipien im normtheoretischen Sinn geeignet seien und damit ihre Einstufung als Elemente der Völkerrechtsordnung rechtfertigten. Als diesbezügliches Kriterium kommt zum einen die Normativität der betreffenden Formel in Frage. Soweit darunter ein bestimmter Sollensgehalt zu verstehen ist, muss dieser allerdings als rechtlicher erkennbar sein, denn ein Sollen kennzeichnet auch die außerrechtlichen Verhaltensnormen moralischer oder sonstiger Natur. Die notwendige Differenzierung zwischen dem (bloß) politisch-moralischen Sollen der Kategorie des „soft law“ und rechtlichem Sollen würde allerdings die Gefahr eines Zirkelschlusses hervorrufen, betrachtete man diese als einziges Unterscheidungskriterium. Mithin kann die Zugehörigkeit einer bestimmten Verhaltensnorm zur Völkerrechtsordnung nicht damit begründet werden, es handle sich um ein Prinzip und folglich um eine Formel mit rechtlichem Sollensgehalt. Die Feststellung eines rechtlichen Sollens muss vielmehr mit einem weiteren Merkmal in Verbindung gebracht werden, nämlich dem Willen der beteiligten Rechtssubjekte, einer verhaltensdeterminierenden Aussageformel rechtliche Wirkung beizumessen. Die Eignung einer Formel allein, rechtliche Wirkung zu haben, reicht nämlich nicht aus, tatsächlich Bestandteil der Rechtsordnung zu werden. Sondern erst das subjektive Element des Willens der Betroffenen führt von politisch-moralischem Sollen zu rechtlicher Normativität. Hier verläuft folglich die Schwelle zwischen der nicht-rechtlichen, aber immerhin politischmoralischen Ebene des „soft law“ einerseits und dem völkerrechtlichen Normensystem andererseits. Dabei wird auch deutlich, dass die dem „soft law“ zugeschriebene Vorreiterfunktion bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts letztlich davon abhängig ist, welche Wirkung die beteiligten Staaten der fraglichen Formel beizumessen bereit sind. ___________ 71
Vgl. dazu Nádrai, Rechtsstaatlichkeit als internationales Gerechtigkeitsprinzip, 83 ff., in Bezug auf menschenrechtliche Normen des Völkerrechts. Die Autorin zieht dabei – unter direkter Bezugnahme auf Müller, in: Der Staat 1990, 33 ff. – eine Parallele zu nationalem Verfassungsrecht, wo die Funktion von Grundrechten sich ebenfalls keineswegs in deren subjektiv-rechtlichen (und damit justitiablen) Bedeutungsschicht erschöpft. Vielmehr kommt auch den Grundrechten des nationalen Rechts eine programmatische Rolle zu, im Rahmen derer sie eine „objektive Ordnungsfunktion für das gesamte staatliche Handeln“ entfalten (s. Nádrai, a.a.O., 84, zitierend aus Schläppi, Menschenrechte in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, 54).
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Wann dieser Wille der beteiligten Staaten vorhanden ist, ist unter den verbindlichen Quellen des Völkerrechts gemäß dem Rechtsquellenkatalog von Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut im Falle des völkerrechtlichen Vertragsrechts am eindeutigsten feststellbar. Hier kann auf das Vorliegen übereinstimmender Willenserklärungen der beteiligten Völkerrechtssubjekte als Kriterium für das Zustandekommen einer Einigung über bestimmte völkerrechtliche Rechtsfolgen abgestellt werden. Im Zweifelsfall können dabei dann allenfalls die Bestimmungen der Wiener Vertragsrechtskonvention zusätzlich zu Rate gezogen werden. Schwieriger ist die Akzeptanz einer Verhaltensvorschrift als Recht bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (also primär Regelungen, die in den innerstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt und zugleich auf die internationalen Beziehungen übertragbar sind72) zu ermitteln, was letztlich nur auf dem Weg eines entsprechenden Rechtsvergleichs geschehen kann. In Bezug auf ein völkerrechtliches Prinzip schließlich, dessen Geltung nicht schon aufgrund Vertragsrechts oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz gesichert ist, bildet die allfällige gewohnheitsrechtliche Verankerung den Maßstab der Anerkennung als Recht. Entscheidend für die Zugehörigkeit einer bestimmten Formel zur Völkerrechtsordnung im engeren Sinn73 ist also die Akzeptanz, die ihr in der völkerrechtlichen Praxis als Quelle rechtlicher Verpflichtungen entgegengebracht wird. Dabei kann diese praktische Akzeptanz in der Niederlegung in einem Vertrag, in der Anerkennung als allgemeiner Rechtsgrundsatz oder in der Anerkennung als gewohnheitsrechtlich geltende Formel bestehen. Soweit nun die Anerkennung als Prinzip in Frage steht, so kann diese grundsätzlich in jeder der drei Kategorien erfolgen: Der Sollensgehalt der verhaltensdeterminierenden Formel X kann durch die beteiligten Rechtssubjekte im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrags als Formel mit rechtlich-normativem Charakter anerkannt worden sein, womit nunmehr vom völkerrechtlichen Prinzip X gesprochen werden kann. Die rechtlich-normative Qualität des völkerrechtlichen Prinzips X kann aber auch dadurch begründet sein, dass es sich dabei um eine Formel handelt, welcher die besondere Form der Anerkennung als allgemeiner Rechtsgrundsatz zukommt74. Und schließlich kann der Fall vorliegen, dass die Akzep___________ 72
Vgl. bspw. Mosler, in: EPIL, Vol. II, 511 (515 ff.). Also unter Ausschluss des „soft law“, das eine außerrechtliche, aber immerhin an der Schwelle zum Recht stehende Kategorie bildet. 74 Wobei anzumerken ist, dass allgemeine Rechtsgrundsätze sowohl in der normtheoretischen Kategorie des Prinzips als auch in jener der Regel auftreten können. Beispiele für erstere Kategorie, also Normen, die einen relativ offenen Sollensgehalt aufweisen, der nicht nur durch eine ganz bestimmte Verhaltensweise verwirklicht werden kann, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verhaltens nach Treu und Glauben oder der Rechtsgleichheit unter den Staaten. Dagegen sind bspw. die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Achtung der diplomatischen Immunität oder der Anwendung bestimmter Verfahrensgrundsätze (etwa „audiatur et altera pars“) eher als Regeln aufzufassen. Für eine Aufzählung möglicher allgemeiner Rechtsgrundsätze des Völkerrechts s. 73
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
tanz als rechtlich relevantes Sollen gleichbedeutend mit der Anerkennung als Völkergewohnheitsrecht ist. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass (entsprechend der Dworkinschen These) davon auszugehen ist, zur Völkerrechtsordnung gehörten auch Prinzipien, nicht nur Regeln im normtheoretischen Sinn. In Bezug auf die Struktur des Völkerrechts führt dies zum Schluss, dass Prinzipien nicht dem außerrechtlichen Bereich des (lediglich eine politisch-normative Kategorie darstellenden) „soft law“ zuzurechnen sind, sondern der eigentlichen Völkerrechtsordnung im engeren Sinn einer rechtlich-normativen Ordnung75. Diese Folgerung beruht allerdings erst auf theoretisch-abstrakten Überlegungen. Die weitere Frage, welche konkreten Prinzipien tatsächlich Bestandteile der (insbesondere konstitutionellen) Völkerrechtsordnung bilden, lässt sich nur beantworten, wenn der normative Charakter jeder einzelnen Formel, deren Zuordnung als Prinzip erwägbar ist, abgeklärt wird. Gleiches gilt im Übrigen ebenfalls für die normative Ebene der (konstitutionellen) Leitkonzepte. Eine entsprechende Stellungnahme ist also erst nach der entsprechenden Untersuchung der relevanten materiellen Bestandteile des Völkerrechts möglich76.
b) Regeln Soweit vorangehend bereits die Rede auf Regeln gelangt ist, stellt sich auch im völkerrechtlichen Kontext die Frage, inwiefern allfällige Elemente einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung in dieser Kategorie von Normen erscheinen könnten. Der Grund der Frage mag auf den ersten Blick nicht ein___________ bspw. Mosler, in: EPIL, Vol. II, 511 (518 ff.); vgl. außerdem Weiss, in: AVR 2001, 394 ff. 75 Anders der Ansatz von Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (insb. 56), der die mit einem „idealen Sollen“ verbundenen Prinzipien dem Bereich des „soft law“ zurechnen möchte. Allerdings zählt er vorliegend als Prinzipien aufgefasste Formeln (wie das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit) dann zur Kategorie der Regeln. In Bezug auf die Frage der Zurechnung dieser rechtlichen Formeln zur Völkerrechtsordnung ergibt sich somit zwischen Beyerlins Ansatz und dem hier vertretenen kein abweichendes Resultat. Anderes gilt dann allerdings beim Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, das Beyerlin (ebd., 57) dem „soft law“ zuordnet; demgegenüber wird vorliegend die Position vertreten, auch ein Konzept könne aufgrund bestimmter normativer Qualitäten Bestandteil der konstitutionellen Ordnung und somit konsequenterweise der eigentlichen Völkerrechtsordnung sein. Die theoretische Eignung muss dann allerdings auf Norm- wie auch auf Konzeptebene für die konkrete normative Aussage jeder einzelnen Formel bestätigt werden. Siehe zur Konzeptebene dann die Überlegungen zum konkreten Beispiel der Nachhaltigen Entwicklung im 4. Kap., B. I. 76 Hierzu dann im Einzelnen im 4. Kap., B., die Ausführungen zum ausgewählten Bereich des Umweltvölkerrechts.
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leuchtend erscheinen. Denn jedenfalls auf der Ebene nationalen Verfassungsrechts ist es doch keineswegs ungewöhnlich, dass in Verfassungsbestimmungen Sollenssätze mit einem sehr hohen Konkretisierungsgrad niedergelegt sind77; dies, wenngleich die Verfassung als normative Grundordnung des Staates grundsätzlich eine „zurückgenommene Regelungsdichte“ vermuten lässt78. Als konkrete Beispiele sind hier nicht zuletzt auch die Grundrechte hervorzuheben, sofern sie präzise und insofern auch justiziable Vorgaben festschreiben. Allerdings ist in Bezug auf das Völkerrecht daran zu erinnern, dass die inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls – und damit ganz allgemein eines gemeinsamen Nenners für politische Wertungsfragen – hier auf größere Schwierigkeiten stößt als in einem vergleichsweise homogenen und überschaubaren nationalen Kontext, in dem zudem im Allgemeinen weit entwickeltere Institutionen der Willensbildung vorhanden sind79. Wird einer rechtlichen Bestimmung der Status eines Elements der Verfassungsordnung zugerechnet, so setzt dies gleichzeitig aber einen sehr hohen Grad der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft voraus. Dies gilt für die völkerrechtliche Ebene der internationalen Gemeinschaft nicht weniger als für den gesellschaftlichen Rahmen eines Nationalstaats, wo für Bestimmungen, die in die Verfassung zu integrieren sind, regelmäßig qualifizierte Zustimmungskriterien gelten. Von je konkreterem Gehalt freilich eine rechtliche Formel ist, umso eher ist ihr Anwendungsbereich ein sektorieller, auf bestimmte Sachverhalte beschränkter80; und umso eher ist auch davon auszugehen, dass sich die Anerkennung der entsprechenden Formel durch die beteiligten Rechtssubjekte lediglich auf jenen spezifischen Sachverhalt bezieht. Mit anderen Worten ist ein Konsens für übergeordnete Prinzipien weit eher zu erreichen als für spezifische, den einzelnen Staaten sehr konkrete Verpflichtungen auferlegende Regeln, deren Nichteinhaltung zudem vergleichsweise einfach festzustellen ist. Es lässt sich daher davon ausgehen, dass auf der Ebene des Völkerrechts Regeln im normtheoretischen Sinn nur ausnahmsweise jenen Grad der Anerkennung erreichen dürften, der für materielle Elemente der Verfassungsordnung vorauszusetzen ist. Die Feststellung der geringeren Wahrscheinlichkeit, konstitutionelle Elemente der Völkerrechtsordnung auf der Stufe von Regeln aufzufinden, schließt ___________ 77
Gerade die schweizerische Bundesverfassung enthält eine größere Zahl von teilweise sehr detaillierten Normierungen. Als Beispiel kann etwa aus dem Bereich der Finanzordnung Art. 131 Abs. 3 angeführt werden, der bezüglich der besonderen Verbrauchssteuer auf gebrannten Wassern regelt: „Die Kantone erhalten 10 Prozent des Reinertrags aus der Besteuerung der gebrannten Wasser. Diese Mittel sind zur Bekämpfung der Ursachen und Wirkungen von Suchtproblemen zu verwenden.“ 78 So Reimer, Verfassungsprinzipien, 98 f. 79 Siehe dazu vorne in diesem Kap., A. II. 2. 80 Das vorhin in Fn. 77 zitierte Beispiel des Art. 131 Abs. 3 BV zeigt dies besonders deutlich.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
andererseits nicht aus, dass tatsächlich Regeln existieren, die dem Völkerverfassungsrecht zuzurechnen sind. Zu denken ist an bestimmte zwingende Normen des Völkerrechts: Das Verbot des Völkermordes stellt ohne Zweifel kein „Prinzip“ der beschriebenen normtheoretischen Art dar, das den Völkerrechtssubjekten im Sinne eines Optimierungsgebots81 eine gewisse Bandbreite von Handlungsweisen eröffnet. Sondern der zwingend zu beachtende Sollenssatz besteht darin, dass kein Verhalten82 erlaubt ist, das als Genozid zu werten ist. Der Charakter des Genozidverbots als Regel wird nicht zuletzt gerade durch die Tatsache unterstrichen, dass Verstöße dagegen nunmehr im Rahmen des Internationalen Strafgerichtshofs gerichtlicher Verfolgung unterworfen sind83. Wird zudem etwa im Bereich des Umweltschutzes das Verbot absichtlicher erheblicher Umweltschädigungen in bewaffneten Konflikten als „ius cogens“ eingestuft84, so ist auch hier von einem eindeutigen Sollenssatz auszugehen: Kein Völkerrechtssubjekt darf sich im Sinne der verschiedenen Tatbestandselemente verhalten, andernfalls die zwingende Norm verletzt ist85. Die Beispiele aus dem Bereich des zwingenden Völkerrechts weisen darauf hin, dass es am ehesten Verbote sind, die den notwendigen allgemeinen Anerkennungsgrad erreichen können und damit als konstitutionelle Regeln in Frage kommen. Die relative Schwierigkeit, die sich bei der Bestimmung des „tatsächlichen“ normativen Gehalts einer rechtlichen Formel ergibt, wie auch die im Abschnitt zuvor angestellte Erörterung der von Beyerlin vorgenommenen kategorialen Zuordnung zeigen jedoch auch, dass von der normtheoretischen Einstufung als Regel bzw. als Prinzip nicht zuviel abhängig gemacht werden sollte. Insbesondere kann die – im Einzelfall möglicherweise diskutable – Zuordnung keine letztgültige Aussage bezüglich der Eignung als konstitutionelles Element der Völkerrechtsordnung vermitteln. In diesem Sinne bildet die normtheoretische Kategorisierung lediglich ein hilfsweises Instrument, um eine erste, aber keineswegs endgültige Auslese vorzunehmen86. ___________ 81
Vgl. zuvor in diesem Kap., B. II. 3. Siehe zu den verschiedenen Handlungen, die als Völkermord zu qualifizieren sind, sowie weiteren in diesem Zusammenhang strafbaren Verhaltensweisen Art. II und III Genozid-Konvention; vgl. auch Art. 6 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. 83 Siehe Art. 5 Abs. 1 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. 84 Siehe Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 157 ff., 171 ff., m.w.N. 85 Wobei aber auch auf die möglichen Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens, insbesondere der erforderlichen „Erheblichkeit“ der Umweltschädigung, hinzuweisen ist. 86 Anzumerken ist auch, dass sich der hier vertretene Ansatz zur normtheoretischen Unterscheidung in Bezug auf die Frage, ob die fraglichen rechtlichen Formeln (konkret etwa das Vorsorgeprinzip) in die Untersuchung mit einzubeziehen sind, nicht einschränkend auswirkt. Dies insofern, als ja eine Zuordnung zur Kategorie der Prinzipien die Einbeziehung gerade impliziert, während erst die Einstufung als Regel die Ausscheidung aus den weiteren Erwägungen zur Folge hätte. 82
B. Normtheoretische Grundlagen
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Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass gerade der Begriff der „Regel“ in der Literatur häufig im allgemeinen Sinn eines Oberbegriffs Anwendung findet, mit dem jedwede Form einer rechtlichen Bestimmung bezeichnet wird. Diese allgemeine begriffliche Verwendung soll mit den zuvor angestellten Überlegungen keineswegs abgelehnt werden. Das Beispiel des Regelbegriffs zeigt am deutlichsten87, dass die hier vertretene normtheoretische Kategorisierung (nur) für spezifische Zwecke sinnvoll ist. Im vorliegenden Zusammenhang freilich ist von einer solchen Zwecklage auszugehen: Der Sinn der möglichst klaren semantischen Trennung besteht hier darin, eine Voraussetzung für die Diskussion der normativen Inhalte des Verfassungskontexts zu schaffen. Dies unter der Annahme, dass zu den Bedingungen, die eine Diskussion der konstitutionellen Wirkungen überhaupt erst ermöglichen, die soweit wie möglich anzustrebende Klarheit über die Funktion der diversen zu diskutierenden Formeln gehört.
c) „Richtlinien“ als weitere (konstitutionelle) Normenkategorie? Beyerlin stellt im Rahmen seiner Überlegungen zur Normativität umweltvölkerrechtlicher Prinzipien88 neben andere Arten von Rechtsnormen außerdem die weitere Kategorie der „Richtlinien“89. Zu dieser auf eine Systematisierung durch Eckhoff und Sundby90 gestützten Kategorie sollen danach Bestimmungen gehören, die als „Hilfsnormen“ „zur inhaltlichen Klärung von Regeln herangezogen werden und darüber hinaus Entscheidungskriterien liefern bei Fragen, für welche die Regeln keine Antworten enthalten“91. Weiter sollen Richtlinien „den Abwägungsprozess bei der Handlungsauswahl determinieren“, wobei sie „den Adressaten jedoch im Gegensatz zu den Regeln nicht auf ein bestimmtes Verhalten“ festlegen sollen92. Dabei zählt Beyerlin zu dieser Kategorie aus dem umweltvölkerrechtlichen Bereich die „Prinzipien“ (sic) der „intergenerational equity“ und der Nachhaltigen Entwicklung93. Denn diese ließen zwar „den für Pflichtnormen erforderlichen Gebotsgehalt vermissen“; indessen vermittelten ___________ 87 Ähnliche Überlegungen könnten aber auch für die Begriffe des „Konzepts“, des „Prinzips“ oder des „Grundsatzes“ angestellt werden. Dabei sollte aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass mit der Verwendung einer konkreten Bezeichnung immer auch bestimmte begriffliche Konnotationen verbunden sind. 88 Siehe Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 ff.; hierzu auch zuvor in diesem Kap., B. III. 2. a) aa). 89 Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (50 f.). 90 Beyerlin verweist bei seinen Überlegungen auf Eckhoff/Sundby, Rechtssysteme, 90, 107 f. 91 Eckhoff/Sundby, Rechtssysteme, 90; zitiert nach Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (50). 92 Beyerlin, ebd. 93 Ebd., 31 (51).
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
sie den Adressaten „immerhin gewisse materielle Leitbilder, die deren Handlungsauswahl determinieren sollen“94. Unklar ist dabei allerdings, in welchem Verhältnis die Normkategorie der „Richtlinien“ zu jener der „Prinzipien“ stehen soll; Beyerlin scheint hier keine Trennlinie zu setzen, bezeichnet er rechtliche Formeln wie Nachhaltige Entwicklung oder „intergenerational equity“ doch sowohl als „Richtlinien“ als auch als „Prinzipien“95. Als widersprüchlich erweist sich der Ansatz, die den Richtlinien zugeordneten rechtlichen Formeln als „Hilfsnormen“96 und folglich gemäß einer Logik der Hierarchie als nachrangige Normen zu verstehen. Dies erscheint allerdings schon nach dem zugrundegelegten Verständnis nicht konsistent, wonach diese Normkategorie mittels der Vermittlung materieller Leitbilder bei der konkreten Handlungsauswahl (durch die Normadressaten) eine determinierende Rolle spielen soll. Vielmehr stellt sich der Eindruck ein, dass die der Kategorie der Richtlinien zugedachte normative Aufgabe jener Funktion entspricht, die – wie zuvor ausgeführt97 – konstitutionellen Leitkonzepten zuzuordnen ist. Soweit in einer völkerrechtlichen Normentheorie von einer Kategorie der Richtlinien die Rede sein kann, so ist dieser jedenfalls ein anderer Sinn beizumessen, wie die folgenden weiteren Überlegungen zeigen. Seine Verwendung in der völkerrechtlichen Praxis lässt erkennen, dass mit dem Begriff der „Richtlinien“ bzw. „Guidelines“ Unterschiedliches verbunden ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang zum einen der Umstand, dass die Festschreibung von „Guidelines“ gelegentlich einen ersten (noch unverbindlichen) Schritt auf dem Weg zur vertraglichen Normierung in einem bestimmten Völkerrechtsbereich darstellt. So geht beispielsweise das Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung98 auf Richtlinien99 zurück, die im Rahmen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) im Jahr 1987 verabschiedet worden waren; diese waren selbst nicht verbindlich, enthielten aber bereits die wesentlichen Prinzipien, auf denen heute die vertraglichen Verpflichtungen des Basler Übereinkommens aufbauen100. ___________ 94
Ebd. Ebd., 31 (57). 96 Ebd., 31 (50). 97 Siehe zuvor in diesem Kap., B. III. 1. 98 ILM 28 (1989), 657 ff. 99 „Cairo Guidelines and Principles for the Environmentally Sound Management of Hazardous Waste“ vom 17.6.1987, UNEP/GC. 14/17. Vgl. zur Bezugnahme auf diese „Guidelines“ auch die Präambel des Übereinkommens. 100 So etwa die Bestimmungen über die Abfallvermeidung, die Entsorgungsplanung, die behördliche Überwachung, den Abfalltransport, die Öffentlichkeitsbeteiligung und 95
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Ähnlich basiert die sog. Aarhus-Konvention (Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten101) auf entsprechenden (völkerrechtlich unverbindlichen) Richtlinien, die im Jahr 1995 im Rahmen einer durch die UN/ECE veranstalteten Ministerkonferenz in Sofia (Ministerial Conference „Environment for Europe“) postuliert worden waren102. Sowohl diese „Sofia-Richtlinien“ als auch nunmehr die Aarhus-Konvention lehnen sich – insbesondere hinsichtlich des zu gewährenden Anspruchs auf Zugang zu Umweltinformationen – stark an die entsprechende EG-Richtlinie 90/313 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt103 an. In diesem Zusammenhang wird man dann auch daran erinnert, dass der Begriff der Richtlinie im Kontext des europäischen Gemeinschaftsrechts wiederum eine andere, besondere Rolle spielt. Hier handelt es sich bei einer Richtlinie zufolge Art. 249 Abs. 3 EGV um einen Rechtsakt, der „für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich“ ist, wenngleich sie „den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“ überlässt; im Zentrum steht dabei ihre kraft der supranationalen Vergemeinschaftung der Mitgliedstaaten rechtsverbindliche Wirkung in Bezug auf die Umsetzungspflicht104. Als „Guidelines“ werden außerdem häufig Verhaltensregeln bezeichnet, die in völkerrechtlichen Vertragswerken oder auch im Rahmen internationaler Organisationen für bestimmte, eng begrenzte Regelungsbereiche aufgestellt werden. So richtet beispielsweise Art. 4 Abs. 8 des erwähnten Basler Übereinkommens an die Adresse der Vertragsparteienkonferenz die Aufforderung, für die umweltgerechte Behandlung von gefährlichen Abfällen die erforderlichen technischen Richtlinien zu beschließen. Im Rahmen des Kyoto-Protokolls zur Klimakonvention etwa findet sich schließlich eine große Zahl offener regelungstechnischer Fragen, die von späteren Vertragsparteienkonferenzen durch ___________ verfahrensrechtliche Aspekte. Vgl. den Überblick über die Guidelines bei Hohmann, Präventive Rechtspflichten, 97 ff. 101 Zu diesem Übereinkommen ausführlich Epiney/Scheyli, Aarhus-Konvention, passim, sowie Scheyli, in: AVR 2000, 217 ff.; vgl. außerdem Brady, in: Environmental Policy and Law 1998, 69 ff.; Ebbesson, in: YIEL 1997, 51 (insb. 85 ff., 91 ff.); Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 145 ff.; Harrison, in: Rivista giuridica dell’ambiente 2000, 27 ff.; Prieur, in: RJE 1999, Numéro spécial, 9 ff. 102 Ministerial Conference „Environment for Europe“: Guidelines on the Access to Environmental Information and Public Participation in Environmental Decision-Making; für den Text s. Burhenne/Robinson, International Protection of the Environment, Dokument Nr. 25-10-95/1. 103 ABl. 1990 L 158, 56. Zum Verhältnis der „Sofia Guidelines“ zur RL 90/313 s. Shelton, in: YIEL 1995, 179 f.; vgl. außerdem auch Scheyli, in: AVR 2000, 217 (221). 104 Vgl. hierzu nur etwa Geiger, Kommentar EUV/EGV, 802 f.; Oppermann, Europarecht, 209 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
die Ausarbeitung von „modalities, rules and guidelines“ beantwortet werden sollen105. Hier bilden solche Richtlinien denn auch „Hilfsnormen“ in dem Sinne, als sie die Umsetzung der in den grundlegenden Normen (Prinzipien und Regeln) enthaltenen Verpflichtungen sicherstellen sollen. Dabei ist klar, dass sie normtheoretisch eine völlig andere Rolle spielen – gewissermaßen am anderen Ende der Normenskala stehen – als die „handlungsdeterminierenden“ und in diesem Sinne leitenden rechtlichen Formeln, die nach dem hier vertretenen Verständnis der Konzeptebene zuzuordnen sind. Darum und im Anschluss an die zuvor angestellten Überlegungen in Bezug auf die mögliche Zugehörigkeit von Regeln im normtheoretischen Sinn zum konstitutionellen Bestand des Völkerrechts sind folgende Schlüsse zu ziehen: Richtlinien im Sinne der völkerrechtlichen Praxis scheiden als Gegenstand von Erörterungen konstitutioneller Elemente des Völkerrechts aus; soweit es sich aber um die von Beyerlin den „Richtlinien“ zugeordnete rechtliche Formel der Nachhaltigen Entwicklung handelt, ist diese im weiteren Verlauf der Untersuchungen dem Prüfungsmaßstab eines (konstitutionellen) Leitkonzepts zu unterwerfen.
3. Konstitutionelle Elemente des Völkerrechts und Völkergewohnheitsrecht Die vorangehenden Überlegungen, insbesondere zur Differenzierung der internationalen Rechtsordnung von der außerrechtlichen Wertordnung des „soft law“, haben unter anderem deutlich gemacht, dass die Geltung der Völkerrechtsordnung nicht als vom Willen der Staaten unabhängig gedacht werden kann. Durch die Zugrundelegung ethisch-moralischer Werte als Geltungsbasis des Völkerrechts106 wird dies zwar bis zu einem gewissen Grad relativiert, indessen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Akzeptanz, welche die Staaten einer bestimmten Verhaltensvorschrift entgegenbringen, bleibt letztlich für deren rechtliche Geltungskraft der entscheidende Faktor. Diese Feststellung gilt für das normative System der Völkerrechtsordnung ganz allgemein. Sie akzentuiert sich indessen noch in Bezug auf die Frage der Zurechenbarkeit einer rechtlichen Formel zu einer allfälligen völkerrechtlichen Verfassungsordnung: Eine solche Zurechenbarkeit setzt eine besonders klare Anerkennung durch die ___________ 105 Siehe Art. 3 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 4, Art. 8 Abs. 4, Art. 17 Kyoto-Protokoll. 106 Wie sich, abgestützt auf die theoretischen Ansätze von Alexy und Dworkin, für die normativen Kategorien der Leitkonzepte und der Prinzipien ergibt. Argumentative Ansätze, die (vor dem Hintergrund der Konstitutionalisierungsdiskussion) ausdrücklich eine verstärkte Abstützung des Völkerrechts auf ethische Prämissen anregen, finden sich bspw. bei Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (35 ff.), sowie Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 ff.
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primären Völkerrechtssubjekte voraus; nur so lässt sich die mit dem Verfassungsbegriff verbundene Vorstellung einer erhöhten Legitimation der Verfassung und – als unmittelbare Auswirkung davon – einer übergeordneten Stellung im Stufenbau des Rechts begründen. Die Rolle des Völkergewohnheitsrechts als Grundlage der Anerkennung einer normativen Aussageformel als rechtlich verpflichtend wurde zuvor bereits allgemein angesprochen107. Die Frage nach der Bedeutung der besonderen Rechtsquelle „Völkergewohnheitsrecht“ stellt sich allerdings noch in spezifischerer Weise in Bezug auf mögliche konstitutionelle Elemente des Völkerrechts, und zwar gerade aufgrund des erwarteten höheren Anerkennungsgrades einer konstitutionellen Ordnung. Auf der Ebene nationaler Verfassungen manifestiert sich diese besondere Zustimmung regelmäßig in spezifischen Verfahren der Verfassungsgebung und -änderung, welche die Grundlage für die besondere Legitimation der Verfassung und somit auch für deren überragende Stellung in der Hierarchie des nationalen Rechts bilden. Bei einem vergleichenden Blick auf die Ebene des Völkerrechts fragt sich, ob auch hier allfälligen konstitutionellen Elementen in analoger Weise eine besondere Legitimation durch Verfahren zuteil wird. Eigentliche institutionalisierte Rechtsetzungsmechanismen bestehen zwar auch hier, so insbesondere im Rahmen von völkerrechtlichen Vertragsregimen, in denen in der Regel den Vertragsparteienkonferenzen eine derartige Funktion zukommt. Indessen fehlen auf der Ebene des völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses prozedurale Mechanismen, die den verfassungsstaatlichen Mustern formeller Verfassungsbildung nahekommen würden108. Wird die legitimatorische Wirkung nationaler Verfahren zur Verfassungsbildung und -änderung darauf zurückgeführt, dass aus diesen ein besonderer Konsens in Bezug auf die Inhalte des Verfassungsrechts resultiert109, so könnte allerdings zumindest in Bezug auf das Ergebnis des Verfassungsbildungsprozesses in Folgendem eine gewisse Analogie auf der völkerrechtlichen Ebene ___________ 107
Siehe zuvor in diesem Kap., B. III. 2. a) bb). Siehe zu den entsprechenden Legitimationsproblemen im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gemeinwohls vorne in diesem Kap., A. II. 2. a). 109 Die Legitimationswirkung von politischen Konsensen spielt insbesondere in einer demokratietheoretischen Richtung eine herausragende Rolle, welche die Kommunikation bzw. den Diskurs unter den beteiligten Staatsbürgerinnen und -bürgern als Basis jeder politischen Willensbildung, somit der Rechtssetzung und letztlich des Rechts an sich auffasst. Vgl. hierzu, auf der Grundlage der Diskurstheorie von Jürgen Habermas, Scheyli, Politische Öffentlichkeit, passim. Eine derartige Position vertritt für die schweizerische Staats- und Verfassungsrechtslehre ausgeprägt etwa Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 23 ff. Danach setze die Demokratie als notwendigen Grundkonsens voraus, dass die Geltung der Rechtsordnung auf der „elementaren Zustimmung aller“ beruht, die überdies auf dem Weg rationaler Verständigungsverfahren zustande kommt. Siehe dazu auch ders., in: ZSR NF 1998 I, 135 (143 f.). 108
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
erblickt werden: Entstehungskriterien von Völkergewohnheitsrecht sind nach praktisch einhelliger Lehre110 zum einen eine dauerhafte und verbreitete internationale Praxis (d. h. der Staaten sowie im Rahmen internationaler Organisationen), zum andern – darüber hinaus – die Anerkennung der Übung als bindendes Recht („opinio iuris et necessetatis“). In den Entstehungsvoraussetzungen von Völkergewohnheitsrecht kommt damit in ganz ausgeprägtem Maß zum Ausdruck, dass sowohl die Bildung wie auch der Fortbestand von Recht auf der Übereinstimmung – dem Konsens – der beteiligten Rechtssubjekte beruhen. Dabei ist auch zu erwähnen, dass in Beantwortung der Frage, worin das subjektive Willenselement der „opinio iuris“ der Staaten zum Ausdruck komme, dem Konsensgedanken im modernen Völkerrecht eine erhöhte Bedeutung zukommt. Jonathan I. Charney hebt diesbezüglich hervor, dass sich insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen diskursive Foren entwickelt hätten, denen eine Aufwertung von Konsensen als Voraussetzung der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zu verdanken sei111. Dazu trage nicht zuletzt die breitere und effektivere Beteiligung aller Staaten wie auch weiterer interessierter Gruppierungen im Rahmen jener multilateralen Foren bei, in denen die verschiedensten Kategorien völkerrechtlicher Quellentexte (von Berichten über Resolutionen bis zu eigentlichen Vertragswerken) erarbeitet werden: „This international forum based process differs from the traditional understanding of the costumary lawmaking process. (...) This process of generating new international law is a deliberative one that may approximate the largely symbolic legislative processes of most domestic legal systems.“112
Dabei ist auch hier Konsens nicht mit Einstimmigkeit gleichzusetzen: Denn es wird nicht vorausgesetzt, dass jedes völkerrechtliche Rechtssubjekt seine Zustimmung gibt, sondern der Konsens bezieht sich auf die internationale Staatengemeinschaft als Gesamtheit113, und der Dissens Einzelner ist somit ___________ 110 Siehe aus der umfangreichen diesbezüglichen Literatur nur etwa Bernhardt, in: EPIL Vol. I, 898 ff.; Brownlie, Principles of Public International Law, 6 ff.; Danilenko, Law-Making in the International Community, 75 ff.; Detter, International Legal Order, 185 ff.; Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, Droit international public, 314 ff.; Perrin, Droit international public, 39 ff.; Shaw, International Law, 68 ff.; Simma, in: Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, 39 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 345 ff.; Villiger, Customary International Law and Treaties; Wolfke, Custom in Present International Law. Vgl. zudem auch Art. 38 Abs. 1 Bst. b IGH-Statut. 111 Vgl. Charney, in: New Trends in International Law-Making, 171 (180 ff.). Er grenzt diese Entwicklung dabei von traditionelleren Positionen der Völkerrechtslehre ab, denen er vorwirft, vorschnell auf eine Zustimmung der Staaten zu schließen. So dürfe (mangels einer klar einzuordnenden Willenskundgabe) insbesondere der stillschweigenden Zustimmung („acquiescence“) nicht ein zu großes Gewicht als Ausdruck einer „opinio iuris“ beigemessen werden (ebd., 178 f.). 112 Ebd., 181. 113 Siehe bspw. Cassese, International Law, 120, 123; Charney, in: New Trends in International Law-Making, 171 (178).
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grundsätzlich irrelevant114. Entscheidend ist vielmehr, dass die große Mehrheit wenigstens jener Staaten, die an der entsprechenden Regelung ein konkretes Interesse haben115, die internationale Praxis mitträgt. Insofern kann die Entstehungsweise von Völkergewohnheitsrecht in gewissem Ausmaß mit konsensualen, dem Mehrheitsprinzip folgenden Prozessen der Rechtsetzung (insbesondere) auf nationaler Ebene verglichen werden; dies, ohne dabei die besonderen Bedingungen im völkerrechtlichen Rahmen übersehen zu wollen, die insbesondere in der schwachen, legitimationstheoretisch problematischen Stellung zivilgesellschaftlicher Akteure bestehen. Abgesehen von der Herausbildung „gewöhnlicher“ gewohnheitsrechtlicher Normen können die auf einen Konsens hinzielenden Voraussetzungen für Völkergewohnheitsrecht dabei auch den Ausdruck für jene besondere Anerkennung darstellen, die den Elementen einer konstitutionellen Ordnung zukommen muss. Dies würde voraussetzen, dass sich die gewohnheitsrechtliche Anerkennung auch und gerade auf jene spezifischen inhaltlichen Merkmale bezieht, durch die sich allfällige konstitutionelle Elemente der Völkerrechtsordnung von sonstigem, „gewöhnlichem“ Völkerrecht unterscheiden, mithin in erster Linie durch das materielle Kriterium der Gemeinwohlorientierung. Diesem Aspekt muss bei der Beantwortung der Frage, ob die erforderliche Akzeptanz der allfälligen konstitutionellen Elemente in der völkerrechtlichen Praxis gegeben ist, besonders Beachtung geschenkt werden. Völkergewohnheitsrecht wird typischerweise auf einer normativen Ebene erzeugt, auf welcher die Inhalte relativ abstrakt bleiben116. Der Grund hierfür ist in der Entstehungsweise von Völkergewohnheitsrecht zu sehen: Je spezifischer eine rechtliche Bestimmung ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie die über einen längeren Zeitraum erfolgende, wiederholte Bestätigung in unterschiedlichen sachlichen Fallgestaltungen findet und sich damit zu Völkerge___________ 114 Dies geht auch aus der Rechtsprechung des IGH hervor, soweit sie auf die Bildung von Völkergewohnheitsrecht Bezug nimmt. So hielt der Gerichtshof im Nordseesockel-Fall fest, die für eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung vorauszusetzende Staatenpraxis müsse „both extensive and virtually uniform“ sein (ICJ Reports 1969, 2 [44, Para. 74, Hervorh. durch den Verf.]); auf eine absolute Einheitlichkeit der Staatenpraxis wird also gerade nicht abgestellt. Im Entscheid zum Nicaragua-Fall wird dies durch folgende Aussage des Gerichts weiter verdeutlicht: „It is not to be expected that in the practice of States the application of the rules in question should have been perfect (...). The Court does not consider that, for a rule to be established as customary, the corresponding practice must be in absolutely rigorous conformity with the rule. In order to deduce the existence of customary rules, the Court deems it sufficient that the conduct of States should, in general, be consistent with such rules (...).“ (ICJ Reports 1986, 13 [98, Para. 186].) 115 Siehe ICJ Reports 1969, 2 (44, Para. 74), wonach die entsprechende Staatenpraxis die Mitwirkung jener Staaten voraussetze, „whose interests are specially affected“. 116 Vgl. Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 21 ff.
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
wohnheitsrecht verdichtet117. Bei völkergewohnheitsrechtlichen Normen handelt es sich daher eher um inhaltlich offenere, auf eine größere Zahl potentieller Sachverhalte anwendbare Prinzipien als um stark konkretisierte und im Allgemeinen auf spezifische Problemstellungen beschränkte Verhaltensregeln. Insofern als diese Überlegung impliziert, dass bei Regeln (im normtheoretischen Sinn) von vorneherein eine weit geringere Wahrscheinlichkeit einer völkergewohnheitsrechtlichen Verdichtung gegeben ist, wird auch die bereits zuvor geäußerte These erhärtet, konstitutionelle Elemente des Völkerrechts seien eher selten (allenfalls durch „ius cogens“) in dieser Normenkategorie zu finden.
Von besonderer Bedeutung ist im gegebenen Zusammenhang der möglichen Bestandteile des Völkerverfassungsrechts schließlich die Frage, ob Völkergewohnheitsrecht ausschließlich Normen umfasse oder ob nicht auch auf der höheren Abstraktionsstufe der Leitkonzepte eine völkergewohnheitsrechtliche Verankerung möglich sei. Festzuhalten ist dabei, dass die Erstarkung zu Völkergewohnheitsrecht ein Mindestmaß an normativer Dichte voraussetzt118. Üblicherweise wird mit dieser Feststellung auf Normen im normtheoretischen Sinn Bezug genommen, sind diese doch in unmittelbarster Weise Ausgangspunkt rechtlicher Verpflichtungen. Letztere sind es nämlich, auf die sich grundsätzlich die Überlegung richtet, ob das als Voraussetzung für das subjektive Element der „opinio iuris“ verlangte Bewusstsein der betroffenen Staaten vorliege. In der erwähnten Rechtsprechung des IGH kommt dies zum Ausdruck, indem ausgeführt wird, die relevante Staatenpraxis „should moreover have occured in such a way as to show a general recognition that a rule of law or legal obligation is involved“119. An anderer Stelle des selben Urteils heißt es in bezug darauf, was als Ausdruck der verlangten „opinio iuris“ zu gelten vermag, zudem: „The States concerned must (...) feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation.“120 Der internationale Konsens, auf dem die ___________ 117 Ausnahmen sind hier möglich. Als Beispiel kann die Festlandsockel-Doktrin (vor deren Kodifizierung in Art. 77 SRÜ) gelten, wonach hinsichtlich der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen des küstennahen Meeresgrundes und Meeresuntergrundes bestimmte Vorrechte des Küstenstaates bestehen; vgl. hierzu etwa Gloria, in: Völkerrecht, 816 (860 ff.). Erwähnenswert ist, dass die Festlandsockel-Doktrin zunächst eine unilateral proklamierte Praxis der USA war, sich jedoch innert weniger Jahre zu universell anerkanntem Gewohnheitsrecht entwickelte. Diese Geschwindigkeit der Konsensbildung lässt sich damit erklären, dass jeder Küstenstaat ein entsprechendes eigenes Interesse an der Anerkennung der neuen Doktrin verfolgte. 118 Siehe Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 22. In diesem Sinne äußerte sich auch der IGH im Festlandsockel-Fall, s. ICJ Reports 1969, 2 (42 f., Para. 72): „It would in the first place be necessary that the provision concerned should, at all events potentially, be of a fundamentally norm-creating character such as could be regarded as forming the basis of a general rule of law.“ Vgl. dazu auch Dupuy, Droit international public, 212. 119 ICJ Reports 1969, 2 (44, Para. 74). 120 Ebd., 2 (45, Para. 77).
B. Normtheoretische Grundlagen
319
völkergewohnheitsrechtliche Geltung einer Norm beruht, soll sich also gerade darauf erstrecken, dass die betreffende Verhaltensvorschrift mit einer rechtlichen Verpflichtung einhergeht. Allerdings wurde zuvor bereits der Standpunkt ausgeführt, dass normative Qualität nicht nur eigentlichen Normen zukommen kann, sondern auch konstitutionellen Leitkonzepten121. Denn auch auf der Stufe der Referenzwertfunktion solcher Konzepte werden bestimmte normative Wirkungen angestrebt. Der Sollensgehalt, der auf dieser Stufe den normativen Charakter ausmacht, ist dabei darin zu sehen: Mit der Bestimmung eines Grundwertes wird sowohl den Normen (in Bezug auf deren Inhalt) als auch den Normadressaten (in Bezug auf deren Verhalten), die das betreffende Konzept zu konkretisieren haben, als Ziel vorgegeben, eben diesen Wert zu verwirklichen. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass jeder Kategorie – Leitkonzepten einerseits, Normen (Prinzipien und Regeln) andererseits – auf der jeweiligen Abstraktionsstufe122 ein unterschiedlicher Normativitätsgrad entspricht. Die unterschiedlichen Zwecke der jeweiligen Kategorie (Festlegung eines konstitutionellen Handlungsziels bei Leitkonzepten; Festlegung mehr oder weniger konkreter Verhaltensvorschriften bei Normen) verlangen auch gar keinen gleichmäßigen normativen Gehalt. Wesentlich ist, dass auch auf der Stufe der Leitkonzepte von einem gewissen Maß an Normativität ausgegangen werden kann, ohne welches die Referenzwertfunktion im Rahmen der konstitutionellen Ordnung gar nicht zu erfüllen wäre. Ist dies der Fall, so spricht aber auch nichts dagegen, dass im Rahmen der einem konstitutionellen Leitkonzept zukommenden Funktionen eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung desselben möglich ist. Bezugnehmend auf die erwähnte Aussage des IGH im Nordseesockel-Fall ist dabei vorauszusetzen, dass sich der Konsens der Staaten auf die normative Aufgabe bezieht, die auf der Stufe des konstitutionellen Leitkonzepts angestrebt wird. Das Bewusstsein, durch die ausdrückliche oder stillschweigende Akzeptanz einer normativ beladenen Aussageformel zur Entstehung einer rechtlichen Verpflichtung beizutragen, muss sich hier nur, aber immerhin, auf die Referenzwertfunktion des betreffenden materiellen Gehalts richten. Zu einer anderen Einschätzung gelangen in Bezug auf die Möglichkeit von Normativität auf der Konzeptebene wohl Beyerlin und Marauhn123; ihre Argumentation ist allerdings nicht völlig konsistent. Zunächst scheinen sie implizit von einer möglichen Normativität auch dann auszugehen, wenn eine rechtliche Bestimmung zwar keine konkrete Verhaltensanforderung beinhaltet, indessen ___________ 121
Siehe vorne in diesem Kap., B. III. 1. Bzw. Konkretisierungsstufe, je nach Betrachtungsweise. 123 Siehe Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 23 f. 122
320
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
ein Handlungsziel definiert. („Jegliche Normativität lassen [...] Begriffsbildungen wie ‚common interest‘ und ‚common concern of mankind‘ vermissen, da sie weder auf ein Handlungsziel hinweisen124 noch bestimmte Verhaltensanforderungen beinhalten.“) Soweit hingegen einer Bestimmung ein bestimmtes Handlungsziel entnommen werden kann, wäre demnach, so lässt sich folgern, von einem gewissen Maß an Normativität auszugehen. Im Anschluss daran wird von den Autoren dann allerdings die Festlegung einer „unmittelbar ‚gesollten‘ Verhaltenspflicht der Staaten“ als alleiniges Kriterium für das Vorhandensein jener Normativität angewandt, die für die völkergewohnheitsrechtliche Verdichtung vorausgesetzt wird. Weil das Konzept des „sustainable development“ die entsprechenden „Eigenschaften eines unmittelbar geltenden normativen Verhaltensgebotes“ nicht aufweise, könne es folglich auch nicht zu einer „Gewohnheitsrechtsnorm“ erstarkt sein. In seiner bereits mehrfach angesprochenen Abhandlung zur Kategorisierung umweltvölkerrechtlicher Normen äußert sich Beyerlin schließlich auch zur Frage zweifelnd, ob Prinzipien als potentielle Normen des Völkergewohnheitsrechts geeignet seien125. Dabei geht er von folgender Feststellung aus: „Nimmt man die Erkenntnis ernst, dass Prinzipien – im Gegensatz zu Regeln – lediglich einen idealen Gebotsgehalt aufweisen und damit in ihrer Verwirklichung von anderweitig definierten Möglichkeiten abhängen, so ist fraglich, ob sich solche ‚imperfekte‘ Normen wirklich zu völkergewohnheitsrechtlichen Gebotssätzen auswachsen können.“126
Im Anschluss daran weist er dann zunächst (zu Recht) darauf hin, dass die Qualifikation jener staatlichen Verhaltensformen, die bei der Frage nach einer gewohnheitsrechtlichen Verankerung einer bestimmten Norm zu beurteilen sind, bei Prinzipien schwieriger ist als bei Regeln. Dies, weil bei der relativen normativen Offenheit eines Prinzips schwieriger erkennbar ist, ob und inwiefern staatliches Verhalten der gegebenen Bandbreite möglichen Verhaltens entspricht, während die Frage nach der Befolgung einer Regel grundsätzlich definitionsgemäß127 mit „ja“ oder mit „nein“ beantwortbar sein sollte. Im Folgenden kommt Beyerlin dann aber – auch angesichts der Tatsache, dass er in der gleichen Abhandlung zuvor eine Zuweisung zur „Normkategorie der ‚Richtlinien‘“ anregt128 – doch überraschenderweise dazu, nicht nur rechtliche Formeln wie Nachhaltige Entwicklung und „intergenerational equity“, sondern sogar die ___________ 124
Kursive Hervorhebung hinzugefügt. Siehe Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (55 ff.). 126 Ebd., 31 (55). 127 Siehe vorne in diesem Kap., B. II. 3. 128 Siehe Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (51); dazu auch die Kritik in diesem Kap., B. III. 2. c). 125
B. Normtheoretische Grundlagen
321
Zielsetzung der Beseitigung der Armut der Normkategorie der Prinzipien zuzuordnen: Diese seien „Zielvorstellungen, von denen sich die verantwortlichen Umweltakteure bei ihrem Handeln leiten lassen sollen. Sie legen diese Akteure aber noch nicht unmittelbar auf ein bestimmtes Verhalten (d. h. ein ‚reales Sollen‘) fest. Sie sind daher keine ‚Regeln‘, sondern (auf ein ‚ideales Sollen‘ gerichtete) ‚Prinzipien‘.“129
Dabei nimmt er offenkundig an, ohne dies aber weiter auszuführen, dass der Sollensgehalt solcher Zielvorstellungen für die Einstufung als Prinzipien stark genug sei. Dies geht freilich mit der (zuvor130 kritisierten) Einstufung von „Prinzipien“ wie dem Vorsorgeprinzip oder dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit als „Regeln“ Hand in Hand. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass in beiden Fällen gewissermaßen eine um eine Stufe zu hohe Normativitätserwartung an die jeweiligen rechtlichen Formeln gestellt wird. Die Schwierigkeit bei Beyerlins Ansatz dürfte allerdings darin liegen, dass er Konzepte wie jenes der Nachhaltigen Entwicklung in seine normtheoretische Kategorisierung einordnen muss, sich dabei aber auf die beiden Normkategorien der Prinzipien und der Regeln beschränkt. Dass eigentlichen Normen in Analogie zu innerstaatlichem Recht eine weitere, abstraktere normative Ebene vorgeschaltet sein könnte, zieht er dabei nicht ernsthaft in Betracht. Der Blick auf diese theoretischen Unstimmigkeiten zeigt allerdings die Notwendigkeit einer Abgrenzung der verschiedenen Kategorien, die mit unterschiedlichen normativen Gehalten einhergehen. Tatsächlich erscheint es schwierig, an ein rechtliches Instrument, dem lediglich der normative Gehalt eines Leitkonzepts zukommt – mehr noch: zukommen kann – die Maßstäbe einer Norm des Völkergewohnheitsrechts anzulegen. Das Dilemma löst sich jedoch auf, wenn wie vorliegend vorgeschlagen der Ansatz verfolgt wird, dass auch auf der Stufe von völkerrechtlichen Leitkonzepten eine völkergewohnheitsrechtliche Verankerung möglich ist. Dass solchen Konzepten überhaupt eine normative Qualität zukommt, räumt auch Beyerlin in seinem Ansatz ein; denn andernfalls könnte er nicht davon sprechen, eine rechtliche Formel wie Nachhaltige Entwicklung stelle ein „Prinzip“ dar. Der strittige Punkt betrifft die Frage, ob der normative Gehalt einer solchen Formel (Prinzip nach dem Verständnis Beyerlins, Leitkonzept nach dem hier vertretenen Ansatz) ausreicht, um zu einer völkergewohnheitsrechtlichen Verankerung zu führen. Diesbezüglich ist nochmals zu betonen, dass mit der Referenzwertfunktion eines (konstitutionellen) Leitkonzepts notwendigerweise ein Mindestmaß an normativem Gehalt einhergehen muss. Soweit bei einem sol___________ 129 130
Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (57). Siehe vorne in diesem Kap., B. III. 2. a) aa).
322
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
chen Konzept tatsächlich eine solche normative Qualität ausfindig gemacht werden kann, entscheidet sich die Frage nach dessen völkergewohnheitsrechtlicher Anerkennung dann gemäß den üblichen Kriterien der „opinio iuris et necessetatis“.
IV. Zusammenfassung Zweck der normtheoretischen Überlegungen dieses Unterkapitels war es, im Hinblick auf die folgenden materiellen Untersuchungen eine theoretische Vorstellung davon zu gewinnen, welche normativen Kategorien im Rahmen einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung vorhanden sein können. Bereits die Vorstellung von einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung lehnt sich eng an Assoziationen an, die nationalem (Verfassungs-)Recht entspringen. Entsprechend orientieren sich auch die Erwägungen zu einer möglichen Einteilung der Bestandteile des Völkerverfassungsrechts in normative Kategorien an den bekannten Begriffen der Rechts- und Verfassungstheorie. Anknüpfend an die normtheoretischen Grundlagen des nationalen Verfassungsrechts lassen sich zunächst als normative Kategorie der obersten Abstraktionsstufe auch für die Ebene des Völkerrechts konstitutionelle Leitkonzepte bezeichnen. Wesentlich im Hinblick auf die völkerrechtlichen Fragestellungen ist dabei, dass auch auf dieser Konzeptebene von einem bestimmten Grad an Normativität ausgegangen werden kann, der hier in der Referenzwertfunktion zum Ausdruck kommt: Mit der Bestimmung eines materiellen Grundwertes wird zugleich das Handlungsziel vorgegeben, eben diesen Wert zu verwirklichen, nicht zuletzt mittels der weiteren normativen Differenzierung und Konkretisierung auf der Stufe von Normen. Auf der Ebene der konstitutionellen Leitkonzepte werden mithin im Hinblick auf Gemeinwohlbelange die normativen Grundentscheidungen getroffen, aus welchen dann (gemäß den am Ende des 2. Kapitels formulierten Kriterien bezüglich der Verfassungsfähigkeit einer Gemeinschaft131) konkretisierende konstitutionelle Normen entwickelt werden müssen. Auf der konkreteren normativen Ebene völkerrechtlicher Normen lassen sich sodann, anknüpfend an rechtstheoretische Differenzierungen, wie sie namentlich von Dworkin und Alexy vorgenommen worden sind, die beiden Ausprägungsarten der Prinzipien und der Regeln unterscheiden. Aus der Verwendung dieser Differenzierung resultieren für die vorliegende Untersuchung zweierlei Folgen: Zum einen führt die Anknüpfung an den Ansatz von Dworkin zur Differenzierung von Prinzipien und Regeln in Bezug auf die Struktur der (konsti___________ 131
Siehe das 2. Kap., D. IV.
B. Normtheoretische Grundlagen
323
tutionellen) Völkerrechtsordnung zum Schluss, dass Prinzipien nicht dem außerrechtlichen Bereich des (lediglich eine politisch-normative Kategorie darstellenden) „soft law“ zuzurechnen sind, sondern der eigentlichen Völkerrechtsordnung im engeren Sinn einer rechtlich-normativen Ordnung. Zum andern lässt sich daraus – auch wenn die normtheoretische Einstufung als Regel bzw. als Prinzip keine letztgültige Aussage bezüglich der Eignung als konstitutionelles Element der Völkerrechtsordnung vermitteln kann – außerdem ein Kriterium in Bezug auf die Auslese der in die nachfolgenden materiellen Untersuchungen einzubeziehenden rechtlichen Formeln gewinnen: Da ein Konsens für übergeordnete Prinzipien weit eher zu erreichen ist als für spezifische, den einzelnen Staaten sehr konkrete Verpflichtungen auferlegende Regeln, dürften auf der Ebene des Völkerrechts Regeln im normtheoretischen Sinn nur ausnahmsweise jenen Grad der Anerkennung erreichen, der für materielle Elemente der Verfassungsordnung vorauszusetzen ist. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, es bestehe eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass konstitutionelle Elemente der Völkerrechtsordnung auf der Stufe von Regeln im normtheoretischen Sinn vorkommen als auf der Stufe von Prinzipien. Aus anderen Gründen fällt außerdem auch der in der völkerrechtlichen Literatur gelegentlich als weitere normative Kategorie ins Spiel gebrachte Begriff der „Richtlinie“ als Gegenstand konstitutioneller Erörterungen außer Betracht. Denn hierbei handelt sich in der völkerrechtlichen Praxis entweder um unverbindliche erste Festlegungen auf dem Weg zur vertraglichen Normierung in einem bestimmten Völkerrechtsbereich; oder es werden damit Verhaltensregeln bezeichnet, die (insbesondere in umweltvölkerrechtlichen Vertragswerken) für bestimmte eng begrenzte Regelungsbereiche aufgestellt werden. Die Frage, welche Kategorien von verhaltensdeterminierenden Aussageformeln aus normtheoretischer Sicht der völkerrechtlichen Verfassungsordnung zugerechnet werden können, führte schließlich zu Überlegungen betreffend die Geltung der Völkerrechtsordnung und weiter zur diesbezüglichen Rolle des Völkergewohnheitsrechts. Die grundsätzliche Feststellung, dass die Geltungskraft völkerrechtlicher Verhaltensvorgaben letztlich vom Willen der Staaten abhängig ist, wird hinsichtlich allfälligen Völkerverfassungsrechts noch akzentuiert. Die Grundlage für die mit dem Verfassungsbegriff verbundene Vorstellung einer erhöhten Legitimation (auf der wiederum die übergeordnete Stellung im Stufenbau des Rechts beruht) lässt sich im besonderen Konsens sehen, der regelmäßig mit den Inhalten des Verfassungsrechts in Verbindung gebracht wird. Gewisse Analogien zu den spezifischen Kriterien der Konsensbildung, wie sie regelmäßig für nationales Verfassungsrecht existieren (oder jedenfalls behauptet werden), können auf der völkerrechtlichen Ebene in den Entstehungsvoraussetzungen von Völkergewohnheitsrecht erblickt werden. Denn gerade im
324
3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
subjektiven Willenselement der „opinio iuris“ kommt ausgeprägt zum Ausdruck, dass die Bildung wie auch der Fortbestand völkerrechtlicher Verhaltensvorgaben ihren Grund im Konsens der beteiligten Rechtssubjekte haben. Auf der im Zusammenhang dieser Untersuchung besonders interessierenden konstitutionellen Stufe ist außerdem davon auszugehen, dass sich ein solcher Konsens auch auf die besonderen inhaltlichen Eigenschaften beziehen muss, durch welche sich die konstitutionellen Elemente der Völkerrechtsordnung von sonstigem, „gewöhnlichem“ Völkerrecht unterscheiden. Dabei handelt es sich in erster Linie um das materielle Kriterium der Gemeinwohlorientierung. Der Rückgriff auf die Kriterien des Gewohnheitsrechts für die Herleitung eines konstitutionell wirksamen Konsenses bringt außerdem weitere theoretische Folgerungen bezüglich der Beantwortung der Frage mit sich, welche normativen Kategorien auf der Stufe allfälligen Völkerverfassungsrechts zu erwarten sind. Zunächst ist auch in diesem Zusammenhang wiederum davon auszugehen, dass für spezifische Regeln eine geringere Wahrscheinlichkeit besteht, sich zu Völkergewohnheitsrecht zu verdichten, als für inhaltlich offenere Prinzipien. Noch erheblicher ist außerdem die Antwort auf die Frage, ob eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung abgesehen von Normen auch auf der Ebene der konstitutionellen Leitkonzepte möglich sei. Vorausgesetzt ist hierfür, dass auch auf dieser Ebene ein normativer Gehalt vorhanden ist, auf den sich überhaupt jene Anerkennung der Staaten zu richten vermag, aus welcher völkerrechtliche Geltung entsteht. Anknüpfend an den zuvor ausgeführten Standpunkt, dass Normativität nicht nur Normen im normtheoretischen Sinn zukommen kann, sondern kraft ihrer Referenzwertfunktion auch konstitutionellen Leitkonzepten, ist auch diese Frage zu bejahen.
C. Zusammenfassung und Folgerungen
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C. Zusammenfassung und Folgerungen im Hinblick auf die materiellen Untersuchungen zum geltenden Völkerrecht I. In Bezug auf Bestimmungsfragen des Gemeinwohls Im ersten Teil des 3. Kapitels galt es zunächst, einen Überblick über Gemeinschaftsinteressen zu erlangen, welche im Hinblick auf die Bestimmung eines völkerrechtlichen Gemeinwohls als Grundlage in Frage kommen. Der Schutz der Menschenrechte sowie der Schutz der Umwelt bilden diesbezüglich relevante Interessenfelder, die zudem untereinander hinsichtlich ihrer Zielsetzungen Verknüpfungen aufweisen. Allerdings galt es auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Verständigung darüber, was als Gemeinwohl anzusehen sei, untrennbar mit Fragen politischer und rechtlicher Legitimität verbunden ist. Auch ist mit der Berufung auf das Gemeinwohl keineswegs gesichert, dass entsprechende normative Entscheidungen materiell gerecht sind. Unter den verschiedenen Typen möglicher Gemeinwohlkonzepte muss die Wahl daher auf ein Modell fallen, das einerseits dem verfahrensmäßig hergestellten Konsens der beteiligten Gemeinschaftsglieder die gebührende Bedeutung zukommen lässt, andererseits aber auch der Menschenwürde als materielle Leitplanke verpflichtet ist. Des Weiteren erfordert die Orientierung am Gemeinwohl von den beteiligten Akteuren ein Mindestmaß der sozialen Ressource Gemeinsinn. Auf der Ebene des Völkerrechts gestaltet sich die Bestimmung des Gemeinwohls noch schwieriger als im demokratisch-verfassungsstaatlichen Rahmen, sind doch dem Demokratieprinzip hier deutlich engere Grenzen gesetzt. Entsprechend kommt hier ein rein prozedurales Gemeinwohlverständnis schon mangels entsprechend ausgebauter Verfahren nicht in Frage. Vielmehr erweist sich im völkerrechtlichen Kontext besonders klar, dass auf ein mit materiellen Fundamenten versehenes Gemeinwohlkonzept abzustellen ist. Die anschließende Frage nach international konsentierten Grundwerten, die als Mindestanforderungen und inhaltliche Leitplanken für ein völkerrechtliches Gemeinwohlkonzept dienen können, führt zunächst einmal zu einer Reihe von möglichen Vorbehalten. Ernst zu nehmen ist dabei (unter anderem) die potentielle Kritik, insbesondere menschenrechtlich definierte Gemeinwohlbelange seien in erster Linie an westlichen Maßstäben orientiert. Wie sich jedoch zeigt, schließen vorhandene kulturelle Differenzen beim Verständnis der Menschenrechte keinesfalls aus, dass ein universeller Konsens in Bezug auf bestimmte Werte besteht. Unterstützung verdient vielmehr die Position, auch kulturelle, ethnische, religiöse und politische Unterschiede und die daraus resultierenden Divergenzen schlössen nicht aus, dass ein Grundkonsens über die Notwendigkeit besteht, jene grundlegenden gemeinsamen Interessen zu schützen, welche das Überleben der Menschheit erfordert. Dabei ist die dem Individuum zuste-
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3. Kap.: Vorfragen zur normativen Wirksamkeit
hende Menschenwürde als Maßstab und Zweck der Völkerrechtsordnung zu betrachten. Gestützt auf die unentäußerliche Menschenwürde sind somit kollektive wie auch individuelle Menschheitsinteressen geeignet, einen universellen Grundkonsens bezüglich konkreter völkerrechtlicher Gemeinwohlgehalte zu begründen. Offen ist einzig, auf welche Gegenstände sich ein derartiger Konsens im Einzelnen erstreckt. Die Antwort ist – mit Ausnahme bestimmter Gehalte mit zwingendem Charakter – nicht abschließend zu beantworten, sondern bleibt den keineswegs abgeschlossenen Prozessen der Konsensbildung unterworfen. Die notwendigen Erkenntnisse darüber, welche potentiellen Gemeinwohlbelange durch die Völkerrechtsgemeinschaft tatsächlich als solche anerkannt werden, vermag nur eine eingehende Analyse der konkreten Rechtsbereiche zu vermitteln. Schließlich galt es, für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung eine begriffliche Abgrenzung gegenüber dem Konzept der Solidarität vorzunehmen, dem in der internationalen politischen Rhetorik ein bedeutendes Gewicht zukommt. Hier ergab sich, dass der Gemeinwohlansatz gegenüber einem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept vorrangig zu behandeln ist. Angesichts der bestehenden begrifflichen und rechtlichen Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Solidaritätsbegriff ist davon abzusehen, das in der vorliegenden Untersuchung entwickelte theoretische Modell der konstitutionellen Gemeinwohlorientierung mit dem völkerrechtlichen Solidaritätskonzept gleichzuschalten oder inhaltlich aufzuladen. Gleichzeitig lässt sich aber auch festhalten, dass die Präsenz des Solidaritätskonzepts im Völkerrecht – ungeachtet seiner Mängel – die vorliegend entwickelte Argumentation stützt: Die dem Solidaritätsgedanken innewohnende Betonung der Gemeinsamkeit der Interessen bei gleichzeitiger Ablehnung einer Dominanz von Partikularinteressen entspricht dem Bild der Gemeinwohlorientierung als möglicher Kern eines völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses.
II. In Bezug auf die normtheoretische Ausgangslage Nach dem ausgeführten normtheoretischen Ansatz1 ergibt sich für die anschließende Betrachtung möglicher materieller Elemente einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung folgender Schluss: Neben der Ausgangsperspektive, ob und inwiefern das materielle Kriterium der Gemeinwohlorientierung erfüllt ist, ist jeweils auch danach zu fragen, auf welcher normativen Stufe die ent___________ 1
Für die entsprechende Zusammenfassung s. zuvor in diesem Kap., B. IV.
C. Zusammenfassung und Folgerungen
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sprechenden rechtlichen Formeln einzuordnen sind. Dabei ist davon auszugehen, dass ein konstitutioneller Konsens bislang (erst) auf einer relativ hohen Abstraktionsebene vorhanden sein dürfte. Infolge der bestehenden Unwahrscheinlichkeit, dass konstitutionelle Elemente auf der Stufe von spezifischen, in einzelnen materiellen Teilbereichen vorzufindenden Regeln anzutreffen sind, kann dabei diese Ebene von vornherein ausgeklammert werden. Zu erwarten ist vielmehr, dass normative Festlegungen – wenn überhaupt – einerseits auf der Normstufe völkerrechtlicher Prinzipien, andererseits aber auch auf der abstrakteren normativen Stufe von konstitutionellen Leitkonzepten anzutreffen sind. Für die Zwecke der folgenden materiellen Untersuchungen hat sich damit aus den angestellten normtheoretischen Überlegungen ein Auswahlkriterium gewinnen lassen. Die konkrete Frage, welche rechtlichen Formeln auf den beiden Stufen von Leitkonzepten und Prinzipien tatsächlich einer konstitutionellen Völkerrechtsordnung zugerechnet werden können, lässt sich allerdings nur beantworten, wenn für jedes Untersuchungsobjekt der normative Charakter sowie die erforderliche Anerkennung in der internationalen Praxis abgeklärt wird. Die entsprechenden Fragen sind in Bezug auf eine bestimmte rechtliche Formel nacheinandergeschaltet zu beantworten: Hat die materielle Aussage einen normativen Gehalt, wie er für die Wirksamkeit auf der fraglichen normtheoretischen Stufe (Leitkonzept oder Prinzip) erforderlich ist? Und schließlich, sofern die Antwort hierauf eine positive ist: Ist die materielle Aussage in der völkerrechtlichen Praxis soweit anerkannt, dass eine gewohnheitsrechtliche Verankerung angenommen werden kann? Bei der Beantwortung der zweiten Frage ist dem Aspekt der Differenzierung von „gewöhnlichem“ Völkergewohnheitsrecht und konstitutionellen Elementen der Völkerrechtsordnung Rechnung zu tragen, womit sich der entsprechende Konsens gerade auch auf das materielle Kriterium der Gemeinwohlorientierung beziehen muss.
4. Kapitel
Der Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung am Beispiel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen Dem folgenden Untersuchungsschritt lässt sich als Grundgedanke voranstellen, dass Gemeinwohlbelange nicht nur abstrakt anerkannt, sondern normativ konkretisierend angestrebt werden müssen1. Gemäß den am Ende des 2. Kapitels formulierten Kriterien bezüglich des Mindeststandards einer konstitutionellen Ordnung2 geht es somit nun – da die Umrisse eines möglichen internationalen Gemeinwohls skizziert worden sind – um die folgenden Punkte: –
Werden gestützt auf die generelle Akzeptanz von Gemeinwohlbelangen normative Grundentscheidungen getroffen?
–
Führt dies zur Entwicklung konstitutioneller Normen mit dem Ziel, die am Gemeinwohl orientierten normativen Grundentscheidungen zu verwirklichen?
–
Werden allfällige konstitutionelle Normen durchgesetzt bzw. durch die Rechtssubjekte beachtet?
Die Beantwortung dieser drei Fragen erfordert eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Rechtsbestand in einem konkreten Bereich möglicher völkerrechtlicher Konstitutionalisierung. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass sich auf der Grundlage der Menschenwürde kollektive wie auch individuelle Menschheitsinteressen als geeignet erwiesen haben3, einen universellen Grundkonsens bezüglich konkreter völkerrechtlicher Gemeinwohlgehalte zu begründen. Noch offen ist demgegenüber, welche unter den potentiellen Gemeinwohlbelangen nach dem Willen der Völkerrechtsgemeinschaft auch tatsächlich, nämlich durch normative Konkretisierung und entsprechende rechtliche Verpflichtung, verwirklicht werden sollen.
___________ 1
Vgl. auch Kaufmann, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 19 (39). Siehe das 2. Kap., D. IV. 3 Siehe das 3. Kap., A. II. 2. 2
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte
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A. Auswahl der Untersuchungsobjekte I. Auswahl des materiellen Untersuchungsbereichs Die Frage nach materiellen Ausgestaltungen des völkerverfassungsrechtlichen Konzepts der Gemeinwohlorientierung impliziert die Annahme, dass das „Gemeinwohl“ nicht nur ein abstrakter Begriff ist, sondern gerade dann konkrete Konturen annimmt, wenn er zu einer praktischen Thematik in Bezug gesetzt wird1. Eine das gesamte Völkerrecht einbeziehende Beantwortung der dabei relevanten Einzelfragen müsste sämtliche spezifischen Rechtsbereiche berücksichtigen, welche Merkmale der als Konstitutionalisierung bezeichneten Entwicklung erkennen lassen. Eine solche umfassende Prüfung der genannten Kriterien kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht erbracht werden: Angesichts der inhaltlichen Ausdehnung der in Frage kommenden Bereiche2 ist es vielmehr unerlässlich, eine zweckmäßige Fokussierung vorzunehmen. So bietet sich an, die entsprechende Wahl durch folgende Überlegung leiten zu lassen: In bestimmten Völkerrechtszweigen – namentlich den internationalen Handel, aber auch den internationalen Menschenrechtsschutz betreffend – sind organisatorisch-institutionelle Mechanismen vergleichsweise stärker entwickelt als anderswo. Im Bereich der WTO-Ordnung sind sie sogar in solchem Maß vorhanden, dass sie als primärer Beleg für die Konstitutionalisierungsthese angeführt werden3. Zugleich stellen derartige Institutionen aber bereits Verfassungskriterien dar, die (sofern sie darauf hinzielen, am Gemeinwohl orientierte normative Grundentscheidungen durchzusetzen) im Verhältnis zum vorliegend entwickelten konzeptionellen Verfassungsbegriff4 einer qualitativen Ergänzung gleichkommen, mithin Indizien einer relativ fortgeschrittenen konstitutionellen Entwicklung bilden. Die mit dem konzeptionellen Verfassungsbegriff verbundenen Kriterien ermöglichen allerdings gerade eine Überprüfung der Bedingungen, unter denen sich ein konstitutioneller Mindeststandard zu entwickeln vermag. Entsprechend sollte die Gelegenheit genutzt werden, für die weiteren Untersuchungen einen ___________ 1 Vgl. Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (235): „(...) the identification of common interests does not derive from scientific abstraction but rather flows from the recognition of concrete problems.“ 2 Zu nennen sind insbesondere die Völkerrechtsbereiche des Schutzes der Menschenrechte unter Einschluss des Völkerstrafrechts und des humanitären Völkerrechts, des Schutzes der Umwelt sowie das Wirtschafts- und Handelsvölkerrecht unter Einschluss des Entwicklungsvölkerrechts. 3 Vgl. das 2. Kap., B. IV. 2. c). 4 Dazu insb. das 2. Kap., D. III. 2. c).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Völkerrechtsbereich zu wählen, der noch kaum Institutionen zur Durchsetzung einer allfälligen konstitutionellen Ordnung vorzuweisen vermag. Ein Beispiel hierfür bildet das internationale Recht zum Schutz der Umwelt bzw. der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Wahl dieses spezifischen Bereichs des Völkerrechts für die folgenden Untersuchungen vermag sich zudem auf die Einschätzung zu stützen, dass hier in besonders ausgeprägter Weise zum Vorschein kommt5, dass bestimmte Interessen bestehen, deren gemeinsame Verfolgung für die gesamte internationale Gemeinschaft, ja für die Menschheit an sich, von größter Wichtigkeit ist. Hinweise auf eine grundsätzliche „konstitutionelle Tauglichkeit“ der völkerrechtlichen Ordnung zum Schutz der Umwelt ergeben sich aus der bereits zitierten Literatur6. Indessen wurde der genannte Bereich bislang – soweit ersichtlich – keiner umfassenderen Prüfung unterzogen, ob und in welchem Ausmaß hier konkrete Kriterien völkerrechtlicher Konstitutionalisierung verwirklicht sind. Gestützt auf die zuvor angestellten konzeptionellen Überlegungen soll dieser Versuch im Verlauf der weiteren Untersuchungen unternommen werden.
II. Eingrenzung der normativen Untersuchungsobjekte Die für die nachfolgenden Überlegungen zentrale Ausgangsfrage besteht darin, ob die Bedeutung des Umweltschutzes für das internationale Gemeinwohl auch eine Entsprechung im Bestand an rechtlichen Konzepten und Normen des betreffenden Völkerrechtszweigs – des Umweltvölkerrechts – findet. Von Interesse sind dabei der Reihe nach (erstens) die inhaltliche Bedeutung der jeweiligen rechtlichen Formel, (zweitens) die daraus ableitbare allfällige Gemeinwohlbezogenheit sowie (drittens) die Frage, auf welcher normativen Stufe im Rahmen einer möglichen völkerrechtlichen Verfassungsordnung das Untersuchungsobjekt einzuordnen ist. Vor diesen Untersuchungsschritten stellt sich allerdings zunächst noch das Problem der Auswahl: Aus methodischer Sicht ist zu überlegen, welche rechtlichen Formeln aus dem Bereich des Umweltvölkerrechts in die Untersuchung einbezogen werden sollen. Dabei legen die folgenden Überlegungen nahe, dass bestimmte Formeln zwingend berücksichtigt werden müssen, es indessen nicht erforderlich ist, sämtliche der das internationale Umweltrecht ausmachenden Konzepte und Normen einzubeziehen. ___________ 5 In dieser Richtung auch die Argumentation von Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (61 ff.). Vgl. außerdem die Ausführungen zur Gemeinschaftsrelevanz des Umweltschutzes im 3. Kap., A. I. 1. c). 6 Siehe das 2. Kap., B. IV. 2. b).
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte
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1. In Bezug auf Regeln Eine Einschränkung ergibt sich diesbezüglich zunächst aus der bereits zuvor angestellten Überlegung7, dass in Bezug auf spezifische Regeln im normtheoretischen Sinn eine vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit der Einstufbarkeit als konstitutionelle Normen besteht. Der daraus zu ziehende Schluss besteht wie bereits ausgeführt darin, dass damit zumindest für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ein negatives Auswahlkriterium gegeben ist. Soweit in jenem Zusammenhang festgestellt worden ist, dass am ehesten noch Verbote als konstitutionelle Regeln in Frage kommen, ist zwar noch einzuräumen, dass bestimmte umweltbezogene Verbotsregeln bestehen. Als solche sind namentlich das Verbot absichtlicher erheblicher Umweltschädigungen in bewaffneten Konflikten sowie das Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen8 zu nennen. Allerdings können diese schon aufgrund einer summarischen materiellen Überprüfung als konstitutionelle Kandidatinnen ausgeschlossen werden: Beide Regeln beziehen sich in erster Linie auf das Verhalten unter unmittelbar zueinander in Beziehung stehenden Völkerrechtssubjekten – sei es als Beteiligte eines bewaffneten Konfliktes oder als Nachbarn. Zwar kann auch hier die Zahl der Beteiligten eine ganze (auch größere) Gruppe von Staaten umfassen. So kann von einem bewaffneten Konflikt eine sehr große Zahl von Staaten unmittelbar betroffen sein; und grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen (wie Verschmutzungen der Luft oder von Gewässern) können sich über eine sehr große Distanz erstrecken, so dass nicht nur unmittelbare Nachbarstaaten geschädigt werden. Die primäre Intention der Regeln ist indessen ein nachbarrechtlicher Schutz bzw. die Abwendung bestimmter Folgen einer spezifischen Ausnahmesituation; der Gedanke, das Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft – auch in einem regional begrenzteren Kontext – zu sichern, steht demgegenüber im Hintergrund. Insofern als in den Untersuchungen des vorliegenden Kapitels der (auf den konzeptionellen Verfassungsbegriff gestützte) Ansatz verfolgt wird, umweltbezogene Elemente einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung aufgrund ihrer Orientierung am Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft zu bestimmen, können sie daher außer Betracht gelassen werden.
___________ 7
Siehe im 3. Kap., B. III. Ebenfalls ausdrücklich als „Regel“ (neben einer Reihe von umweltvölkerrechtlichen Konzepten und Prinzipien) bezeichnen Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 280 ff., das Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen. 8
332
4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Zu bemerken ist allerdings, dass damit nicht ausgeschlossen wird, dass diese Regeln unter Umständen auf der Grundlage anderweitiger Erwägungen als konstitutionelle Elemente identifiziert werden könnten9.
2. In Bezug auf Konzepte und Prinzipien Damit ergibt sich zunächst, dass sich die Auswahl der Untersuchungsobjekte auf die normativen völkerrechtlichen Kategorien der Konzepte sowie der Prinzipien beschränken kann. Allerdings sind auch die rechtlichen Formeln, die als Konzepte oder als Prinzipien bezeichnet werden, mittlerweile zahlreich. Ansetzend an der völkerrechtlichen Praxis werden in der einschlägigen Literatur10 etwa folgende Begriffe genannt, wobei die jeweilige Zuordnung zu den Kategorien der Konzepte oder Prinzipien (bzw. Grundsätze) durchaus nicht einheitlich vorgenommen wird11: –
„Konzepte“ wie jene der Nachhaltige Entwicklung, des gemeinsamen Erbes der Menschheit, der gemeinsamen Nutzung natürlicher Ressourcen, des „joint régimes“ über gemeinsame Naturschätze, der umweltbezogenen „good governance“;
–
„Prinzipien“ bzw. „Grundsätze“ wie das Prinzip internationaler Zusammenarbeit, das Vorsorgeprinzip, das Ursprungsprinzip, das Verursacherprinzip, das Prinzip der Verwendung der besten verfügbaren Umweltpraxis und -technologie, das Prinzip intergenerationeller Gerechtigkeit, das Prinzip der gemeinsamen, aber geteilten Verantwortlichkeit, der Grundsatz der guten Nachbarschaft, der Grundsatz der nationalen Souveränität über eigene Ressourcen.
Die Aufzählungen ließen sich durch weitere Variationen nahezu beliebig ergänzen, wobei die inhaltlichen Unterscheidungen zwischen einzelnen Begriffen mit zunehmender Quantität zugleich unschärfer werden. Eine Untersuchung des gesamten Kanons an umweltvölkerrechtlichen Formeln auf deren allfällige Gemeinwohlbezogenheit und potentielle konstitutionelle Funktion ist im Rah___________ 9 Wie auch in einer staatlichen Verfassung auch Normen ohne direkten Gemeinwohlbezug enthalten sind. 10 Vgl. anstelle vieler etwa Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 75 ff.; Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 248 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 231 ff.; ders., in: Sustainable Development and International Law, 53 ff.; Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (7 ff.). 11 Siehe dazu die Hinweise im 3. Kap., B. I., Fn. 4, in Bezug auf die abwechselnde Bezeichnung Nachhaltiger Entwicklung als Konzept, Prinzip und anderes mehr. In der Literatur ist in Bezug auf Konzepte und Prinzipien im normtheoretischen Sinn zudem auch oftmals von „Regeln“ bzw. „rules“ die Rede und umgekehrt.
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte
333
men dieser Arbeit denn auch weder möglich noch sinnvoll. Für die verfolgten Zwecke soll vielmehr eine engere Auswahl getroffen werden, unter Verwendung folgender Kriterien: –
Aus der Liste der „Konzepte“ soll einzig jenes der Nachhaltigen Entwicklung eingehender betrachtet werden. Diese Beschränkung stützt sich zum einen auf die Einschätzung, dass das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung spätestens seit seiner rechtlichen Etablierung anlässlich der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahre 1992 gewissermaßen als normatives Dach des gesamten modernen Umweltvölkerrechts betrachtet werden kann12. Deutlich zum Ausdruck kommt dies im Umstand, dass der Begriff den eigentlichen roten Faden bildet, der sämtliche in Rio verabschiedeten wichtigen Dokumente (RioDeklaration über Umwelt und Entwicklung13, Agenda 2114, Wald-Erklärung15 sowie insbesondere Biodiversitätskonvention16 und Klimakonvention17) durchzieht und diese in Bezug auf ihre gemeinsame Zielsetzung prägt18. Eine Vielzahl weiterer völkerrechtlicher Dokumente, darunter die wichtigsten der seit Rio verabschiedeten völkerrechtlichen Verträge mit Umweltbezug, beziehen sich in ähnlicher Weise auf das Konzept19.
–
Andere als „Konzepte“ bezeichnete Formeln sind demgegenüber entweder auf bestimmte einzelne Sachverhalte beschränkt (wie das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit20) oder haben in völkerrechtlichen Doku-
___________ 12
Vgl. hierzu die andernorts gemachten ausführlichen Darlegungen: Epiney/Scheyli, in: SZIER 1997, 247 ff.; dies., Strukturprinzipien, insb. 35 ff., 171 ff.; dies., Umweltvölkerrecht, 77 ff. Vgl. außerdem bspw. auch Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 84. 13 Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, GV-Res. 47/190 (abgedruckt bspw. in Knipping/v. Mangoldt/Rittberger, System der Vereinten Nationen, Bd. I/1, 756 ff.). 14 Abgedruckt bspw. in Burhenne/Jahnke, International Environmental Soft Law, 992:4505. 15 Principles for a global consensus on the management, conservation and sustainable development of all types of forests (abgedruckt bspw. bei Burhenne/Jahnke, International Environmental Soft Law, 992:4435). 16 Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Biologische Vielfalt; ILM 31 (1992), 818 ff. 17 Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen; ILM 31 (1992), 849 ff. 18 Vgl. für einen inhaltlichen Überblick über die verschiedenen „Rio-Dokumente“ Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 28 ff., m.w.N. 19 Siehe dazu die Nachweise nachfolgend in diesem Kap., B. I. 3. b). 20 Dieses beschränkt sich auf Räume bzw. Ressourcen, die nicht der territorialen Souveränität einzelner Staaten unterworfen sind, wie bspw. die Hohe See oder die Antarktis.
334
4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
menten bislang keine derart breite Verwendung gefunden, die überhaupt die Vermutung einer möglichen konstitutionellen Anerkennung zulassen würde (wie im Falle des „joint régimes“21 über gemeinsame Naturschätze sowie der umweltbezogenen „good governance“22). Insofern kommt auf der Konzeptseite der Nachhaltigen Entwicklung eine einzigartige Stellung zu. –
Auch im Hinblick auf eine Auswahl aus der Liste der rechtlichen Prinzipien lassen sich bestimmte Merkmale identifizieren, die einzelne Kandidaten bereits in einer ersten summarischen Gesamtschau hervorheben. So kann in Bezug auf das Vorsorgeprinzip festgehalten werden23, dass diesem insofern eine besondere Rolle zukommt, als es eine unmittelbare konkretisierende Umsetzung eines dem Nachhaltigkeitskonzept innewohnenden besonderen Aspekts bildet – nämlich der zeitlich in die Zukunft gerichteten Perspektive der Interessen künftiger Generationen24. Allein schon dieser Gesichtspunkt rechtfertigt eine eingehendere Betrachtung des Vorsorgeprinzips. Der Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit wiederum wird dadurch hervorgehoben, dass er für den Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes einen konkreten Ausdruck eines ganz allgemeinen, grundlegenden Problems internationaler Beziehungen darstellt25. Es handelt sich dabei um das Anliegen, bei der Bewältigung internationaler Problemstellungen alle Staaten mit einzubeziehen, unter ___________
21 Auf diesen Ansatz, den insb. der Richter Weeramantry in seiner Dissenting Opinion zum Kasikili/Sedudu-Fall, ICJ Reports 1999, 1045 (1153, Para. 102 ff.), konzipiert hat, wird hingegen noch im Zusammenhang mit dem Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen näher eingegangen; s. hinten in diesem Kap., B. IV. 1. a.E. 22 Der Begriff der „good governance“ weist im völkerrechtlichen Zusammenhang darauf hin, dass heute auch auf internationaler Ebene die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen, mithin die „Demokratisierung“ politischer Abläufe, eine wichtige Rolle spielt. Gerade im Bereich des Umweltvölkerrechts gehören heute nicht nur Kooperationspflichten (mitsamt den dazugehörigen Informationspflichten) zwischen Staaten zum festen Bestand internationaler Verhaltensnormen, sondern es wird mit zunehmender Häufigkeit postuliert, dass solche auch im Binnenverhältnis zwischen staatlichen Instanzen und der jeweiligen Zivilgesellschaft erforderlich sind. Eine neue Dimension haben Formen der demokratischen Beteiligung auf der Ebene des Umweltvölkerrechts mit der (seit 2001 in Kraft befindlichen) Aarhus-Konvention über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten erlangt; s. zum Ganzen Scheyli, in: AVR 2000, 217 ff., m.w.N. Die völkerrechtliche Praxis hierzu ist allerdings noch sehr beschränkt; auch betrifft die Aarhus-Konvention lediglich den geographischen Raum der UN/ECE-Staaten, also Europa, Kanada und die USA. 23 Siehe dazu Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 89 ff. 24 Dies ist noch im Einzelnen darzulegen, s. dazu nachfolgend in diesem Kap., B. II. 1. und 2. 25 Siehe dazu die inhaltlichen Ausführungen nachfolgend in diesem Kap., B. III. 1.
A. Auswahl der Untersuchungsobjekte
335
Berücksichtigung sowohl ihrer Teilhabe bei der Verursachung von (Umwelt-)Problemen als auch ihrer tatsächlichen Möglichkeiten, zu deren Bewältigung beizutragen. Insofern wird unmittelbar der Aspekt des Konflikts zwischen den Industriestaaten (vorwiegend des Nordens) und den Entwicklungsländern (vorwiegend des Südens) angegangen, der bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts, und gerade des Umweltvölkerrechts, häufig eine blockierende Rolle spielt26. Schließlich richtet sich drittens ein besonderes Interesse auf das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen. Das Anliegen der Gerechtigkeit unter Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft, welcher auch im Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit schon bei einem noch ungenauen ersten Blick durchschimmert, ist auch hier von großer Relevanz: Angesprochen wird in einem spezifischeren sachlichen Rahmen das allgemeine Problem, dass in Bezug auf bestimmte beschränkte Güter den Bedürfnissen mehrerer – oft gar vieler – gerecht zu werden ist. –
Die Auswahl der Prinzipien bleibt damit notwendigerweise eingeschränkt. Sie erlaubt es aber gleichwohl, die wichtigsten Perspektiven zu berücksichtigen, welche den verschiedensten Prinzipien im Bereich des Umweltvölkerrechts zugrunde liegen. Dies sind (erstens) die besondere zeitliche Perspektive der Zukunftsorientierung, (zweitens) die in einem globalen Sinn politische Perspektive des Verhältnisses zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft sowie (drittens) die an den konkreten Bedürfnissen in Bezug auf bestimmte beschränkte Ressourcen orientierte Perspektive der Nutzungsgerechtigkeit.
Für die Untersuchung der Frage, ob und inwiefern sich normative Bestandteile einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung im Umweltvölkerrecht finden lassen, ergibt sich damit folgendes Programm: Zunächst soll untersucht werden, inwiefern das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung den auf der Ebene konstitutioneller Leitkonzepte gestellten Anforderungen gerecht wird und somit als normative Grundentscheidung im Sinne der eingangs genannten beiden Hauptfragen27 dieses Untersuchungsschrittes betrachtet werden kann. Als mögliche Prinzipien im normtheoretischen Sinn, die den konzeptionellen Rahmen auf einer konkreteren normativen Ebene ergänzen, sollen schließlich nacheinander das Vorsorgeprinzip, das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit sowie das Prinzip der fairen und gleichmäßigen Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen in die Überlegungen einbezogen werden. Dabei ist jeweils nach einer kurzen Darstellung des materiellen Gehalts zum einen zu bestimmen, worin der Aspekt der Gemeinwohlorientierung (möglicher___________ 26 Vgl. noch hinten in diesem Kap., C. II. und III., zur entsprechenden Problematik im Rahmen des konkreten Beispiels des völkerrechtlichen Klimaschutzes. 27 Siehe im Text vor Abschnitt A. dieses Kapitels.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
weise) besteht, zum andern danach zu fragen, welche normative Funktion der rechtlichen Formel im Rahmen einer konstitutionellen völkerrechtlichen Ordnung zukommen kann.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
337
B. Normative Konkretisierungen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Gemeinwohlbelang im geltenden Umweltvölkerrecht I. Nachhaltige Entwicklung als konstitutionelles Leitkonzept 1. Materieller Gehalt a) Herkunft und Kernbedeutung Unter Anleihe bei einem ökonomischen Konzept, welches das Postulat unbegrenzten quantitativen Wachstums in Frage stellt und demgegenüber eine Zielsetzung qualitativen wirtschaftlichen Wachstums entwirft1, wurde der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung („sustainable development“) im Jahr 1987 durch einen Bericht der World Commission on Environment and Development (WCED)2 in den Bereich des Völkerrechts eingeführt. Danach wird Nachhaltige Entwicklung definiert als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeiten der künftigen Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, zu beeinträchtigen“3. Auf der Grundlage dieser sehr allgemeinen Umschreibung wurde der Begriff seither (wie zuvor schon angetönt) in einer Vielzahl von völkerrechtlichen Dokumenten aufgenommen, primär im Bereich völkerrechtlicher Bemühungen um den Schutz der Umweltgü-
___________ 1
Dazu Daly, Steady-State Economics; ders., in: Ecological Economics 1990, 1 ff.; ders., in: Earthscan Reader in Sustainable Development, 331 ff.; Pearce/Warford, World without End, 41 ff. Vgl. außerdem bspw. Cansier/Bayer, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 4, 582 (591 ff.); Turner/Pearce/Bateman, Environmental Economics, 41 ff. Eine besondere Tradition kommt dem Nachhaltigkeitsgedanken im Übrigen in der Forstwirtschaft zu: Hier ist die Gefahr der Zerstörung einer Ressource durch deren Übernutzung besonders deutlich ersichtlich, und entsprechend ist „ein langfristiges, über menschliche Generationen hinauszielendes Planen“ erforderlich; s. Kläy, in: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 1995, 115 (116). In der schweizerischen Forstgesetzgebung findet sich der Grundsatz der Nachhaltigkeit in Art. 20 Abs. 1 Waldgesetz (SR 921.0), wo folgendes als einer der Bewirtschaftungsgrundsätze statuiert wird: „Der Wald ist so zu bewirtschaften, dass er seine Funktionen dauernd und uneingeschränkt erfüllen kann (Nachhaltigkeit).“ 2 Die WCED war von der Generalversammlung der Vereinten Nationen durch GVRes. 38/161 vom 19. Dezember 1983 begründet und mit der Aufgabe betraut worden, die Weltsituation der Umwelt und der Entwicklung zu untersuchen sowie eine langfristige Strategie für das Jahr 2000 vorzuschlagen. Unter dem Vorsitz der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland erarbeitete sie den Bericht „Our Common Future“ (auch: „Brundtland-Bericht“), angenommen durch GV-Res. 42/187 vom 11. Dezember 1987. 3 So der Wortlaut gemäß der deutschen Fassung des Berichts bei Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft, 9 f.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
ter, aber auch etwa in der Präambel des WTO-Übereinkommens4. Im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung im Jahre 1992 und der diversen damit verbundenen Rechtsetzungsprojekte wurde auf den Begriff in besonders hoher Intensität zurückgegriffen. In erster Linie zu nennen sind, wie im Abschnitt zuvor bereits erwähnt, jene fünf Dokumente, die anlässlich der Konferenz in Rio de Janeiro beraten und verabschiedet wurden. Dies sind zum einen zwei rechtlich unverbindliche, politisch aber bedeutungsvolle (da den Konsens im Rahmen dieser bislang wichtigsten globalen Konferenz zu Fragen der Umwelt und der Entwicklung zum Ausdruck bringende) Erklärungen (Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung; Wald-Erklärung) sowie ein politisches Aktionsprogramm zur Umsetzung der Zielsetzungen der Rio-Deklaration unter der Bezeichnung „Agenda 21“. Zum andern sind dies mit der Klimakonvention und der Biodiversitätskonvention die beiden mittlerweile wohl bedeutungsvollsten umweltvölkerrechtlichen Verträge. Als Resultat des rechtlichen Entwicklungsschubes, den die gesamte Phase der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Konferenz von Rio mit sich brachte, lassen sich außerdem weitere völkerrechtliche Verträge betrachten, so das wenige Monate vor „Rio“ unterzeichnete Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen sowie insbesondere die 1994 verabschiedete Desertifikationskonvention.
Damit wurde diesem im Ergebnis die Funktion einer eigentlichen rechtlichpolitischen Grundlage zuteil, an der sich zumal im Umweltvölkerrechtsbereich die weiteren normativen Entscheidungen orientieren. Die herausragende Stellung des Konzepts wurde zuletzt auch im Rahmen des 2002 abgehaltenen Gipfels von Johannesburg über Nachhaltige Entwicklung bestätigt, dessen Zielsetzung in einer Bestandesaufnahme des zehn Jahre nach Rio Erreichten bestand5: Die beiden in Johannesburg verabschiedeten Dokumente (Johannesburg-Plan zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklung und Johannesburg-Deklaration über Nachhaltige Entwicklung) rücken das Nachhaltigkeitskonzept wiederum in den Mittelpunkt der umwelt- und entwicklungspolitischen Postulate6.
b) Inhaltliche Fragen im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltschutz Die Allgemeinheit der im Bericht der WCED initiierten Formel wirft inhaltliche Fragen auf; indessen wird der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung in ___________ 4 Vgl. zuletzt auch Para. 6 der Doha-Deklaration der 4. WTO-Ministerkonferenz von 2001 (ILM 41 [2002], 746 ff.), der das Bekenntnis zum Konzept der Nachhaltigen Entwicklung wiederholt. 5 Zur Zielsetzung des Gipfels von Johannesburg („Rio +10“) vgl. auch GV-Res. 55/199. Zu den Ergebnissen des Gipfels etwa Barral, in: RGDIP 2003, 415 ff.; Beyerlin/Reichard, in: ZaöRV 2003, 213 ff., m.w.N. 6 Siehe im Johannesburg-Plan Para. 2 und passim; in der Johannesburg-Deklaration Para. 1 und passim.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
339
keinem sonstigen völkerrechtlichen Dokument näher definiert. Wenig verwunderlich ist daher der Umstand, dass die genaue Bedeutung, die dem Begriff sowohl inhaltlich als auch (entsprechend) in Bezug auf seine normativen Auswirkungen zukommt, bis heute umstritten geblieben ist7. Dem liegt ein Spannungsverhältnis zugrunde, das sich bereits in der Definition des WCED-Berichts abzeichnet und schließlich im Rahmen der „Rio-Dokumente“ noch weiter artikuliert wird: Die grundlegende Problematik besteht im Verhältnis zwischen den Anliegen der (wirtschaftlichen) Entwicklung und des Schutzes der Umwelt, das teilweise auch als Gegenstand eines hypothetischen Konflikts zwischen den Interessen der heutigen und jenen der künftigen Generationen betrachtet wird. Dabei bestanden teilweise bedeutende Unterschiede zwischen den Standpunkten der entwickelten Staaten hauptsächlich des Nordens auf der einen und der wirtschaftlich schwachen Staaten vor allem des Südens auf der anderen Seite. Die Differenzen diesbezüglich beruhten primär darauf, dass Letztere Wert auf die Einbeziehung entwicklungspolitischer Aspekte in das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung legten, während Erstere vorwiegend den ökologischen Aspekt betonten8. Die Rio-Dokumente, besonders augenfällig die Rio-Deklaration, sind damit Resultat eines nur schwierig zustande gekommenen Kompromisses9. Über die Frage des Nachhaltigkeitskonzepts hinaus setzte sich der Interessenkonflikt erwartungsgemäß auf den konkreteren normativen Ebenen völkerrechtlicher Prinzipien und insbesondere jeweiliger spezifischer Verpflichtungen der Industrie- sowie der Entwicklungsländer fort. Die Problematik prägt zudem das Umweltvölkerrecht bis heute in
___________ 7
Vgl. dazu beispielsweise die in verschiedenen Punkten voneinander abweichenden Definitionen und Umschreibungen des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung bei Beaucamp, Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung, 18 ff.; Pallemaerts, in: Greening International Law, 1 (13 ff.); Peters, in: Sustainable Development and Good Governance, 365 (366 ff.); Pinto, in: Sustainable Development and Good Governance, 72 (73); Rest, in: AVR 1996, 145 (152); Sands, Principles of International Environmental Law, 252 ff.; ders., in: Sustainable Development and International Law, 53 (58 ff.); Weiss, in: Sustainable Development and Good Governance, 382 (389 f.). 8 Vgl. zu den unterschiedlichen Sichtweisen und Ansatzpunkten „des Nordens“ und „des Südens“ im Rahmen des Rio-Prozesses Malviya, in: Indian Journal of International Law 1996, Nr. 4, 57 ff.; Mensah, in: Environment after Rio, 33 ff.; Nanda, in: Texas International Law Journal 1991, 497 ff.; Ntambirweki, in: Hastings International and Comparative Law Review 1990-91, 905 ff.; Panjabi, in: Dickinson Journal of International Law 1992, 77 ff. 9 Vgl. Malanczuk, in: FS Bernhardt, 985 (999 f.); Porras, in: Greening International Law, 20 (22 ff.). Malanczuk, in: Sustainable Development and Good Governance, 23 (37 f.), spricht sogar davon, dass die Rio-Deklaration Ausdruck der Uneinigkeit der beteiligten Staaten im Hinblick auf den Aussagegehalt des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung sei.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
beträchtlicher Weise, wie die Entwicklungen zum Beispiel im Bereich des völkerrechtlichen Klimaschutzes zeigen10. In welchem Ausmaß die Formel der Nachhaltigen Entwicklung unterschiedliche Interpretationen ihres genauen Aussagegehalts zulässt, zeigt in aller Deutlichkeit der Wortlaut von Grundsatz 3 der Rio-Deklaration: „Das Recht auf Entwicklung muss so erfüllt werden, dass den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprochen wird.“
Damit wird zunächst festgestellt, dass ein Recht auf (wirtschaftliche) Entwicklung (der Entwicklungsländer) besteht, was aus politischer Sicht wohl als unbestrittener Konsens bezeichnet werden kann11. In Bezug auf die Frage, welcher Rahmen für diese Zielsetzung gelten soll, nimmt Grundsatz 3 Rio-Deklaration – ohne den Begriff explizit zu nennen, aber impliziterweise durch die Anrufung der Rechte künftiger Generationen – auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung Bezug. Dabei wird gegenüber der Formel des WCED-Berichts hervorgehoben, dass neben dem potentiellen Interessengegensatz zwischen heutigen und künftigen Generationen auch die Polarität von (wirtschaftlicher) Entwicklung und Umweltschutz zur Problematik beiträgt. Indem Grundsatz 3 Rio-Deklaration jene vier grundsätzlichen Fragen nennt, die das umweltund entwicklungspolitische Konfliktfeld bestimmen, ist damit gleichzeitig auch das Koordinatensystem vorgezeichnet, in dem sich Konfliktlösungen im kon___________ 10
Zur Bedeutung der unterschiedlichen Sichtweisen im Bereich des Klimaschutzes noch eingehender hinten in diesem Kap., C. II. und III. 11 Demgegenüber ist allerdings aus rechtlicher Sicht nicht unbestritten, wie ein solches (der sogenannten dritten Generation von Menschenrechten zugeordnetes) „Recht“ im Einzelnen beschaffen ist bzw. sein kann; s. dazu die verschiedenen Beiträge in Chowdhury/Denters/de Waart (eds.), Right to Development in International Law; außerdem allgemein etwa Nuscheler, in: Praxishandbuch UNO, 305 ff.; Paech/Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht, 695 ff., sowie Schläppi, Menschenrechte in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, 144 ff. Die Meinungen in Bezug auf die Existenz eines Rechts auf Entwicklung differieren dabei gerade zwischen aus Entwicklungsländern stammenden Völkerrechtlern einerseits und solchen aus Industriestaaten andererseits teilweise beträchtlich. So hält etwa der Brasilianer Cançado Trindade, in: International Legal Issues Arising, 1051 (1069), fest, das Recht auf Entwicklung gehöre heute zum Bestand des positiven Rechts im Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes. Der italienische Völkerrechtler Cassese, International Law, 401, spricht demgegenüber davon, der Begriff sei „so far remained a dead letter“, die einschlägigen völkerrechtlichen Quellen gar „misguided“. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle nur, dass die Forderung der Entwicklungsländer nach rechtlicher Verbindlichkeit ihres berechtigten Anspruchs auf wirtschaftliche Unterstützung durch die Industriestaaten von Seiten der Letzteren mehrheitlich abgelehnt wird. Soweit ein „Recht“ impliziert, dass mit dem Anspruch des Einen eine reziproke Verpflichtung des Anderen verbunden ist, bleibt somit ein ungelöster Widerspruch zwischen den beiden Positionen bestehen. Die Problematik zeigt sich im Übrigen in verschiedenen spezifischen Bereichen, so etwa auch im internationalen Klimaschutz, was noch besonders thematisiert werden wird.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
341
kreten Fall zwingend abspielen müssen. Während dabei die vier Orientierungspunkte der Konfliktlösung angegeben werden (Wahrnehmung von Entwicklungsbedürfnissen, von Umweltbedürfnissen, von Bedürfnissen heutiger Generationen und von Bedürfnissen künftiger Generationen) ist aber auch klar, dass ein Positionsbezug im Rahmen dieses Koordinatensystems nicht ohne die Vorgabe eines bestimmten Maßstabes möglich ist. Die Antwort ist nach Grundsatz 3 Rio-Deklaration geradezu lapidar: Es ist jene Position im Feld zwischen den vier Orientierungspunkten zu suchen, die gerecht ist. Soweit damit der naheliegendste Maßstab jeder Konfliktlösung genannt ist, wird freilich auch deutlich, dass ein allgemeingültiger Stellungsbezug in Hinsicht auf die dem Konzept der Nachhaltigen Entwicklung zugrunde liegenden Fragestellungen ein Ding der Unmöglichkeit bildet. Konzentriert sich die Konfliktlösung zwischen den verschiedenen Interessen auf die Frage, was Gerechtigkeit sei, so ist eine Antwort wenn, dann nur bei eingehender Betrachtung eines jeweiligen konkreten Sachverhaltes möglich. Nur auf der Grundlage der konkreten Umstände eines bestimmten Konfliktfalles ist jene Gewichtung der Interessen möglich, aus der die (ungefähre) Position einer „gerechten“ Lösung im gegebenen Koordinatensystem hervorgehen kann. Nur durch eine solche Herangehensweise lässt sich der Relativität, die dem von Grundsatz 3 Rio-Deklaration angerufenen Gerechtigkeitsbegriff immanent ist, in gebührender Weise Rechnung tragen.
c) Der ethische Imperativ zugunsten der künftigen Generationen als Kerngehalt des Nachhaltigkeitskonzepts Aus der vorhergehenden Überlegung folgt ebenfalls, dass die Frage nach dem Aussagegehalt und damit auch der Tragweite des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung in Bezug auf unterschiedliche sachliche Fragebereiche auch unterschiedliche Antworten hervorbringen kann. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Verhältnis von Umweltschutz und (wirtschaftlicher) Entwicklung12. Die entscheidende Besonderheit des Nachhaltigkeitskonzepts besteht weder im Postulat, den Anliegen der Umwelt sowie der wirtschaftlichen Entwicklung (der Entwicklungsländer) die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, noch darin, die Interessen der heutigen und der künftigen Generationen gleichberechtigt zu betrachten. Beide Bekenntnisse gehen als solche vielmehr zumindest bereits auf die erste, im Jahre 1972 in Stockholm abgehaltene Konferenz
___________ 12 Siehe zum Folgenden auch bereits die Argumentation bei Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, insb. 57 ff.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
der Vereinten Nationen zu Umwelt- und Entwicklungsfragen zurück13. Sondern der grundlegend neue Aspekt des Nachhaltigkeitsgedankens ist darin zu erkennen, dass der gesamte Fragenkomplex der Bekämpfung von Umweltzerstörung wie auch wirtschaftlicher Unterentwicklung mit der Perspektive der Interessen künftiger Generationen derart in unmittelbare Verbindung gebracht wird, dass die verschiedenen Zielsetzungen sich untereinander gegenseitig bedingen. Dabei sind es gerade die künftigen Generationen in den (heutigen) Entwicklungsländern, deren künftige Lebensbedingungen gemäß dieser Perspektive durch das Handeln der heute lebenden Generationen nicht beeinträchtigt werden dürfen: Insofern, als diese künftigen Lebensbedingungen unter anderem durch die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen bestimmt sein werden, ist in den bereits heute benachteiligten Staaten und Regionen der Erde auch die Lebensqualität künftiger Generationen am deutlichsten in Frage gestellt. Hat die Knappheit bestimmter Ressourcen hier schon gegenwärtig die gravierendsten Folgen, so werden sich allfällige noch weiter verschlechterte Versorgungslagen mangels finanzieller und technologischer Mittel hier verhältnismäßig auch noch stärker auswirken als in (heutigen) Industriestaaten. Als Ressourcen bzw. Güter, von denen die Lebensqualität der heutigen wie auch der künftigen Generationen abhängig ist und sein wird (und auf die sich entsprechend die Zielsetzung der Nachhaltigen Entwicklung bezieht), ist Verschiedenstes in Betracht zu ziehen: so etwa Bildung, Kulturgüter, Infrastruktur in verschiedenster Hinsicht (Gesundheitswesen, Transport, Wasserversorgung) sowie natürliche Ressourcen in der erforderlichen Quantität und Qualität (Süßwasser, biologische Vielfalt, fruchtbarer Boden, Bodenschätze, um nur einige wenige zu nennen). Soweit nun die natürlichen Ressourcen als besonderer sachlicher Bereich betrachtet werden, in dem sich die Frage nach Aussagegehalt und Tragweite des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung stellt, so steht in Bezug auf die ___________ 13 Die Ergebnisse dieser Konferenz fanden ihren Niederschlag in der sog. StockholmDeklaration, die durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen als GV-Res. 2994 (XXVII) angenommen wurde (abgedruckt etwa in Knipping/v. Mangoldt/Rittberger, System der Vereinten Nationen, Bd. I/1, 726 ff.). Vgl. in Bezug auf die Verknüpfung von Umwelt- und Entwicklungsfragen insbesondere Paragraph 4 der Präambel sowie die Grundsätze 8-12 der Stockholm-Deklaration; in Bezug auf die Interessen gegenwärtiger und künftiger Generationen v.a. Grundsatz 2, der lautet: „Die Naturgüter der Erde, einschließlich der Luft, des Wassers, des Bodens, der Pflanzen- und Tierwelt, vor allem repräsentative Beispiele der natürlichen Ökosysteme, müssen zum Nutzen gegenwärtiger und künftiger Generationen durch sorgfältige Planung oder Bewirtschaftung geschützt werden.“ Die Deklaration bildete (ganz ähnlich wie die Rio-Deklaration) das unmittelbare Ergebnis dieser Konferenz und brachte dabei den Grundkonsens der versammelten Mitglieder der internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck. Zu den Ergebnissen dieser Konferenz s. allgemein Skupnik, in: VN 1972, 111 ff., sowie Sohn, in: Harvard International Law Journal 1973, 423 ff.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
343
Interessen künftiger Generationen Folgendes im Vordergrund. Fragen der Ressourcennutzung dürften angesichts der überragenden Bedeutung der natürlichen Ressourcen für die menschliche Lebensqualität das Paradebeispiel für Interessenkonflikte zwischen den Generationen bilden. Dabei sind in Bezug auf die Stillung des Bedarfs an natürlichen Ressourcen sowohl der quantitative als auch der qualitative Aspekt von Bedeutung. Indem das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung verlangt, dass die Perspektive der künftigen Generationen beim Handeln der heutigen Generationen berücksichtigt werde, ergibt sich bezüglich der heutigen Ressourcennutzung ein ethischer Imperativ: Sobald ein Interessenkonflikt in dem Sinne vorliegt, dass heutige Ressourcennutzung zu einer möglichen Beeinträchtigung der Interessen der künftigen Generationen führt, sind entsprechende Beschränkungen angebracht14. Mit anderen Worten muss im Zweifelsfall das Pendel zugunsten der künftigen Generationen ausschlagen. Weil deren Interessen durch jede Verschlechterung der natürlichen Ressourcen – sei es durch die Regenerationsfähigkeit übersteigende übermäßige Ausbeutung oder durch entsprechende Verschmutzung – beeinträchtigt werden, ergibt sich dabei konsequenterweise auch, dass dem Anliegen des Ressourcenschutzes gegenüber jenem der Ressourcennutzung im Zweifelsfall der Vorrang zukommen muss. Diese Bedeutung des Nachhaltigkeitsgedankens lässt sich in der völkerrechtlichen Praxis beispielsweise im Rahmen des Schutzes der biologischen Vielfalt – einer natürlichen Ressource von zentralster Bedeutung für das gesamte ökologische System15 – verfolgen. Die Biodiversitätskonvention enthält für den Bereich der biologischen Vielfalt eine Definition von nachhaltiger Nutzung: Art. 2 Abs. 12 umschreibt diese als „Nutzung von Bestandteilen der biologischen Vielfalt in einer Weise und in einem Ausmaß, die nicht zum langfristigen Rückgang der biologischen Vielfalt führen, wodurch ihr Potential erhalten bleibt, die Bedürfnisse und Wünsche heutiger und künftiger Generationen zu erfüllen“. Impliziert wird somit, dass eine das besagte Potential erhaltende Nutzung eine schonende Nutzung ist; dies wiederum kommt einer ökologischen Zielsetzung gleich, die dem ökonomischen Anliegen der dauerhaften Nutzbarkeit zwingend inhärent ist. ___________ 14
Vgl. dazu auch Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (76). Der Schutz der biologischen Vielfalt (Biodiversität) stellt eine materiell weitreichende Zielsetzung dar, die insgesamt drei Teilbereiche umfasst: den Schutz der genetischen Vielfalt (der Variabilität der Erbmasse der Gene), den Schutz der Artenvielfalt (die das Vorhandensein unterschiedlicher Arten innerhalb eines bestimmten geographischen Raums zum Ausdruck bringt) sowie den Schutz der Vielfalt der Ökosysteme (d. h. der Diversität der in einem bestimmten geographischen Raum auftretenden, als Ökosysteme bezeichneten Komplexe von Lebensgemeinschaften, bestehend aus Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen). Vgl. dazu etwa Henne, Genetische Vielfalt als Ressource, 33 ff.; Hunter/Salzman/Zaelke, International Environmental Law and Policy, 934 ff.; Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 300 f. 15
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Damit zeigt sich, dass im Konfliktfall (der das Verhältnis zwischen Ressourcennutzung und Ressourcenschutz betrifft und in dem letztlich die Problematik des Ausgleichs zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltschutz zum Ausdruck kommt) sich das heutige Anliegen des Umweltschutzes mit den Interessen künftiger Generationen grundsätzlich deckt. Damit geht auch hervor, welche Bedeutung im Konfliktfall bei der Positionsbestimmung im Bild des Koordinatensystems der vier Orientierungspunkte wirtschaftliche Entwicklung, Umweltschutz, Interessen heutiger und künftiger Generationen dem Maßstab der „Gerechtigkeit“ zukommt: Im Zweifelsfall muss dem Schutz der Umwelt (der natürlichen Ressourcen) zugunsten der künftigen Generationen das größere Gewicht zukommen. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass das Verhalten der heutigen Generationen nicht zuletzt ein überwältigendes Potential hat, irreversible Schäden zu bewirken und damit die künftigen Generationen unwiderbringlich bestimmter Lebensperspektiven zu berauben16. Dieser Ansatz schließt dabei keineswegs aus, dass dann, wenn besondere Umstände vorliegen, das Schwergewicht für die Konfliktlösung anders zu setzen ist – der zwingend anzuwendende Maßstab der Gerechtigkeit impliziert dies von vornherein. Der dem Nachhaltigkeitsgedanken innewohnende ethische Standpunkt, den Bedürfnissen der künftigen Generationen in gebührender Weise Rechnung zu tragen, kann selbstverständlich nicht dazu führen, das Recht der heutigen Generationen auf menschenwürdige Lebensumstände zu mindern17. So kann es eine Überlebensnotwendigkeit sein, in einem von Wassermangel akut betroffenen Gebiet die vorhandenen Grundwasserressourcen bis zur Neige zu erschöpfen, wenn der Bedarf durch keine andere Maßnahme gedeckt werden kann. Das Überleben der heutigen Generationen kann in Notfällen offensichtlich nicht auf die Interessen der Nachkommen Rücksicht nehmen. Der hinter der Nachhaltigen Entwicklung stehende ethische Standpunkt verlangt denn auch gar nicht, heutige Generationen hätten ihre eigenen Ansprüche auf die notwendige Nutzung der verfügbaren Ressourcen in unzumutbarer Weise einzuschränken. Vielmehr geht es darum, die Rechte der künftigen Generationen wahrzunehmen, was keinen Verzicht in Ausnahmefällen ___________ 16 Nach dem Philosophen Hans Lenk ist es die „absolut neuartige Situation“, dass der Mensch heute die Macht hat, „alles Leben in einem ökologischen Teilsystem oder gar global zu vernichten oder durch seinen technischen Eingriff entscheidend zu depravieren, welche die Grundlage für einen Wechsel der ‚Verantwortungsreichweite‘ zugunsten der künftigen Generationen bildet“; s. Lenk, Konkrete Humanität, 376 f. 17 Insofern bedeutet das gleichberechtigte Nebeneinander der Rechte heutiger und künftiger Generationen eben auch, dass die Wahrung der Interessen kommender Generationen nicht auf Kosten der Bedürfnisse der lebenden Generationen gehen soll; vgl. Redgwell, in: International Law and Global Climate Change, 41 (43). Indessen dürfte dies (die Wahrung der Interessen der heutigen gegenüber jenen künftiger Generationen) in der Realität wohl das kleinere Problem darstellen.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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wie dem genannten18 erfordert, sondern nur – aber immerhin – die Anpassung eines Lebensstils, der zu Lasten der ebenso berechtigten Ansprüche künftiger Generationen verschwendet. Dazu gehört freilich auch, in vorausschauender Weise die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um Ausnahmesituationen wie die genannte von vornherein so weit wie möglich zu vermeiden. Soweit nun das Umweltvölkerrecht als jener Bereich anzusehen ist, der den Schutz der für den Menschen wichtigen natürlichen Ressourcen (und weiterer Umweltgüter) bezweckt, so haben die angestellten Überlegungen folgende Auswirkung: In diesem besonderen Rechtsbereich werden der materielle Aussagegehalt und damit die Tragweite des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung durch die Orientierungspunkte des Umweltschutzes und der künftigen Generationen geprägt. Nur so kann das Umweltvölkerrecht seine ihm im Rahmen des gesamten Völkerrechtssystems aufgegebene besondere Rolle erfüllen; soweit sich diese auf natürliche Ressourcen bezieht, so besteht sie darin, jene rechtlichen Konzepte und Normen bereit zu stellen, welche deren effektiven Schutz zu gewährleisten vermögen. Die Perspektive der Interessen künftiger Generationen als zentrale Aussage des Nachhaltigkeitskonzepts führt hier mit anderen Worten zu einer Dominanz des Umweltschutzaspekts gegenüber möglichen anderweitigen Zielsetzungen vor allem ökonomischer Art19. Letztere ___________ 18
In dem auch kein echter Konflikt zwischen Interessen vorliegt, dessen Lösung durch Abwägung der Positionen ermöglicht würde. 19 Vgl. zum hier vertretenen Ansatz einer umweltpolitisch orientierten Auslegung des Nachhaltigkeitskonzepts auch die Ausführungen bei Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 56 ff., sowie dies., Umweltvölkerrecht, 79 ff.; diesbezüglich ausdrücklich zustimmend Griffel, Grundprinzipien des schweizerischen Umweltrechts, 17 ff. In der völkerrechtlichen Literatur findet sich eine überwiegende Betonung des untrennbaren Zusammenhangs zwischen Umweltschutz und ökonomischer Entwicklung, wobei beide Ziele (integriert) im Rahmen des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung zu verfolgen seien. Siehe dazu etwa Cançado Trindade, in: International Legal Issues Arising, 1051 (1062); Ginther/de Waart, in: Sustainable Development and Good Governance, 1 (8); Hohmann, in: Konzept der Nachhaltigen Entwicklung, 23 (25 ff.); Hossain, in: Sustainable Development and Good Governance, 15 (18 ff.); Luff, in: Revue Belge de Droit International 1996, 90 (93 f., 97 ff., 142); Matsui, in: Sustainable Development and Good Governance, 53 (66); Chowdhury, in: Sustainable Development and Good Governance, 322 (329 ff.). Differenziert äußert sich Pallemaerts, in: Greening International Law, 1 (13 ff.), sowie ders., in: L’actualité du droit de l’environnement, 73 (81 ff.), der in seiner Analyse vom selben Ansatz ausgeht, diesen aber heftig kritisiert. Auch Beyerlin, in: Enforcing Environmental Standards, 95 ff., geht von einem integrativen Ansatz aus, scheint ihn im Ergebnis aber eher zu bedauern, da damit die Gefahr einer Schwächung des umweltpolitischen Gehalts verbunden sei. Demgegenüber gehen aber verschiedene Autorinnen und Autoren auch von der Notwendigkeit der Trennung beider Ziele und, daran anschließend, von der Beschränkung der Konzeption der Nachhaltigen Entwicklung auf umweltpolitische Belange oder zumindest ihrer Vorrangstellung aus. In dieser Richtung argumentieren etwa Pinto, in: Sustainable Development and Good Governance, 72 (75 f.); Boer, in: Sustainable Development and Good Governance, 111 (112 ff.); wohl auch Piette, in: RJE 1993, 5 (8); Sands, in: Sustainable Development and International
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
können demgegenüber in anderen Rechts- und Politikbereichen eine einflussreichere Rolle einnehmen. Dabei ist aber zu bedenken, dass auch dort die Perspektive der Interessen künftiger Generationen eine entscheidende Rolle spielt und nur soweit abgeschwächt werden darf, als dies überwiegende Interessen der heutigen Generationen erfordern. Dabei hat sich mittlerweile bereits deutlich herausgeschält, dass die Perspektive der künftigen Generationen den wesentlichen Aspekt, mit anderen Worten den eigentlichen Kerngedanken20 des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung aus umweltvölkerrechtlicher Sicht darstellt. Danach steht künftigen Menschheitsgenerationen grundsätzlich dasselbe Recht auf eine stabile Umwelt zu, und ihre Bedürfnisse sollen genauso gesichert werden wie diejenigen der jetzigen Generationen. Aus der Sicht der heute lebenden Generationen bedingt ___________ Law, 53 (61); ders., Principles of International Environmental Law, 264 ff.; Peters, in: Sustainable Development and Good Governance, 365 (366 f., 378 ff.). Zumindest kritisch beurteilt die Verknüpfung von Entwicklung und Umweltschutz im Konzept der Nachhaltigen Entwicklung auch Fitzmaurice, in: Theory of International Law, 909 (921). Ausdrücklich zugunsten des Vorranges der (hauptsächlich ökologischen) Zielsetzung, die Rechte der künftigen Generationen zu schützen, sprechen sich Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (78 f.), aus. Sie halten dabei fest, das Nachhaltigkeitskonzept dürfe „nicht auf ein bloßes Abwägungsgebot reduziert werden, das von der Gleichrangigkeit der Politikziele Umwelt und Entwicklung ausgeht“. In die gleiche Richtung geht die Argumentation von Bückmann/Rogall, in: UPR 2001, 121 (insb. 130), in Bezug auf das deutsche Recht: „Nachhaltige Entwicklung umfasst, recht verstanden, eine umweltgerechte, an der Tragekapazität der ökologischen Systeme ausgerichtete (Hervorh. durch den Verfasser) Koordination der ökologischen, ökonomischen und sozialen Prozesse. Im Mittelpunkt des Leitbilds der Nachhaltigkeit steht die Sicherung der ökologischen Leistungsfähigkeit bzw. des natürlichen Produktionssystems im Interesse der künftigen Generationen.“ Ähnlich für die Belange des nationalen (deutschen) Rechts auch die Folgerungen von Kahl, in: Umwelt, Wirtschaft und Recht, 111 (126). Von einem Primat des ökologischen Aspekts geht schließlich – jedenfalls für die Belange des Umweltvölkerrechts – implizit auch Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (20 f.), aus, der dabei folgende vier Elemente als für das Konzept Nachhaltiger Entwicklung wesentlich nennt: „the need to preserve natural resources for the benefit of future generations; the aim of exploiting natural resources in a manner which is rational; the equitable use of natural resources which means taking into consideration the needs of other States; and, finally, the need to ensure that environmental considerations are integrated in development plans or policies“. 20 In diesem Sinne bspw. auch Bartholomäi, Sustainable Development und Völkerrecht, 84; Beyerlin, in: ZaöRV 1994, 124 (139); ders., Umweltvölkerrecht, 18; Boer, in: Sustainable Development and Good Governance, 111 (115); Brown Weiss, in: Sustainable Development and International Law, 17 (21); Dupuy, in: RGDIP 1997, 873 (887); Rest, in: AVR 1996, 145 (152); Sands, in: Sustainable Development and International Law, 53 (58 f.); Weiss, in: Sustainable Development and Good Governance, 382 (389 f.). Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (22 ff.), weist darauf hin, dass aus einem allfälligen „Prinzip“ intergenerationeller Gerechtigkeit selbst keine spezifischen rechtlichen Verpflichtungen abgeleitet werden können; eine rechtliche Relevanz gewinne es indessen im Rahmen des Nachhaltigkeitskonzepts, etwa bei der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen.
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dies die Wahrnehmung einer bestimmten zukunftsgerichteten Verantwortung, konkret die ethische Verhaltensmaxime, durch ihr Handeln und Unterlassen die Perspektiven der künftigen Generationen nicht zu schmälern. Den faktischen Hintergrund dieser Maxime bildet die Tatsache, dass als Folge der kumulierten Auswirkungen menschlicher Aktivitäten erstmals in der Geschichte der Menschheit irreversible (und damit in zuvor unbekanntem Ausmaß in die Zukunft wirkende21) Veränderungen im ökologischen System der Erde möglich sind. Die Anerkennung der Gleichberechtigung zwischen den verschiedenen Generationen („intergenerational equity“22) ist damit zur notwendigen Voraussetzung dafür geworden, die Lebensgrundlagen der nachkommenden Generationen zu wahren. Die „intertemporale Dimension“23 des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung ist dabei nicht etwa begrenzt (etwa auf die unmittelbare Nachkommenschaft der heutigen Generation24), sondern in dem Sinne langfristig, als alle künftigen Generationen einbezogen werden25. ___________ 21
Vgl. Redgwell, in: International Law and Global Climate Change, 41 ff., die auf das Beispiel der Zerstörung der Ozonschicht durch menschliche Einflüsse Bezug nimmt. Zu Begriff und Problematik der Irreversibilität s. außerdem Remond-Gouilloud, in: RJE 1992, 5 (11 ff.). 22 Grundlegend zur Thematik der Rechte künftiger Generationen Brown Weiss, In Fairness to Future Generations; dies., in: AJIL 1990, 198 ff.; Saladin/Zenger, Rechte künftiger Generationen. Allgemein zur Problemstellung und zur Theorie der „intergenerational equity“, insbesondere auch zu den ethischen Grundlagen, zudem auch Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 89 ff.; D’Amato, in: AJIL 1990, 190 ff.; Fitzmaurice, in: Theory of International Law, 909 (922 ff.); Gündling, in: AJIL 1990, 207 ff.; Kiss, in: Precautionary Principle and International Law, 19 ff.; Lenk, Konkrete Humanität, 376 ff.; Redgwell, in: International Law and Global Climate Change, 41 (42 ff.); Supanich, in: YIEL 1992, 94 ff.; zur Frage der zeitlichen Dimension von „Gerechtigkeit“ auch Tammelo, in: FS Verdross, 263 ff. Zur besonderen Rolle, welche das Postulat der Gleichheit zwischen den Generationen bspw. im Zusammenhang mit der Problematik des globalen Klimawandels spielt, Wood, in: Georgetown International Environmental Law Review 1995-96, 293 ff. 23 Handl, in: Sustainable Development and International Law, 35 (38, Fn. 18); Redgwell, in: International Law and Global Climate Change, 41 (42); ähnlich auch Dupuy, in: RGDIP 1997, 873 (888). 24 Wobei freilich auch dies einen wichtigen Aspekt des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung und der intergenerationellen Gerechtigkeit ausmacht. Darauf stützt sich etwa der berühmte Entscheid des Supreme Court der Philippinen in der Sache „Oposa et al. vs. Secretary of the Departement of Environment and Natural Resources“ aus dem Jahr 1993 (s. ILM 33 [1994], 173 ff.). Mit dem Ziel, die fortschreitende Abholzung der tropischen Wälder auf den Philippinen zu stoppen, hatte eine Gruppe von (durch die Eltern vertretenen) Minderjährigen eine Beschwerde gegen die für die Vergabe von Holzschlaglizenzen zuständige Umweltbehörde ergriffen. Die Beschwerdeführung stützte sich dabei auf die umweltzerstörende Wirkung der Abholzung und betonte, die Interessen künftiger, noch nicht geborener Generationen seien zu wahren. Das Gericht folgte der Argumentation insofern, als es, gestützt auf das Konzept der „intergenerational responsibility“, befand, es sei „needless to say, every generation has a responsibility to the next to preserve that rhythm and harmony for the full enjoyment of a balanced and
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Neben Grundsatz 3 Rio-Deklaration, der die Entwicklungs- und Umweltbedürfnisse künftiger Generationen gleichberechtigt neben die Bedürfnisse heutiger Generationen stellt, hat das Postulat der Rechte künftiger Generationen in mehr oder weniger konkreter Weise auch Eingang in einer Vielzahl von weiteren völkerrechtlichen Dokumenten gefunden. Hervorzuheben26 sind dabei die Präambel (a.E.) und Art. 3 Abs. 1 der Klimakonvention, die festhalten, dass das Klimasystem „zum Wohl heutiger und künftiger Generationen“ zu schützen sei. Zu erinnern ist außerdem nochmals an Art. 2 Abs. 12 Biodiversitätskonvention, der die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt als Voraussetzung für die Erfüllung der Bedürfnisse sowohl heutiger als auch künftiger Generationen umschreibt.
2. Aspekt der Gemeinwohlorientierung Mit der intergenerationellen Perspektive als dem Kerngehalt des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung ist in das Völkerrecht – und hier insbesondere für die Belange des Umweltschutzes – eine neuartige ethische Dimension eingeführt worden. Diese verändert letztlich auch den Begriff des Gemeinwohls27: Soweit die Antwort auf die Frage, worin das Gemeinwohl bestehe, mit materialen Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden ist28, führt die Gerechtigkeitssuche im Rahmen des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung zum spezifischen Gerechtigkeitsaspekt der Interessen künftiger Generationen. Der Ansatz der „intergenerational equity“ zielt darauf hin, das umweltrelevante menschliche Verhalten derart auszugestalten, dass nicht nur die aktuellen Bedürfnisse der heute lebenden Generation befriedigt, sondern auch die Lebensgrundlagen künftiger ___________ healthful ecology“. Zu diesem Fall ausführlich Allen, in: Georgetown International Environmental Law Review 1994, 713 ff.; La Viña, in: RECIEL 1994, 246 ff.; Rest, in: Environmental Policy and Law 1994, 314 ff.; Chowdhury, in: Sustainable Development and Good Governance, 322 (337 f.). 25 Siehe auch Brown Weiss, in: Yale Law Journal 1993, 2123 (2123). 26 Siehe neben den nachfolgenden Beispielen aber auch bereits die Präambel sowie die Grundsätze 1 und 2 der Stockholm-Deklaration von 1972, die Präambel des Washingtoner Artenschutzübereinkommens (SR 0.453) sowie Art. 2 Abs. 5 Bst. c des Übereinkommens zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen; für weitere Beispiele s. Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 47 (Fn. 45 f.). Vgl. zudem auch Hohmann, Präventive Rechtspflichten, 387 f.; Sands, in: Sustainable Development and International Law, 53 (59); ders., Principles of International Environmental Law, 256 f. 27 Vgl. dazu Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (78), welche die „Anerkennung des Prinzips der ‚intergenerational equity‘“ in den Zusammenhang einer „Zunahme von Normen, die ein gemeinsames Interesse der Staatengemeinschaft verkörpern“ (und insgesamt des Konstitutionalisierungsprozesses des Völkerrechts) stellt. 28 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 213.
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Menschheitsgenerationen gewahrt werden. Das beim umweltrelevanten Handeln zu berücksichtigende „Gemeinwohl“ umfasst folglich nun auch die Perspektive der künftigen Generationen29. Eine Orientierung am gemeinsamen Wohl innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft impliziert eine Verantwortung, das eigene Verhalten nicht gegen das Gemeinschaftsinteresse zu richten. Gemäß dem Gedanken der intergenerationellen Gerechtigkeit umfasst dabei die Gemeinschaft, auf die sich diese Verantwortung bezieht, über die lebende Generation hinaus auch nachkommende Generationen. Exemplarisch ist hierzu eine Aussage des Richters Weeramantry zum Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit, die dieser in seiner abweichenden Meinung zum Atomtestfall von 199530 vorbrachte: „New Zealand’s complaint that its rights are affected (durch die Atomtests, die Frankreich zwischen dem 5. September 1995 und dem 27. Januar 1996 im Südpazifik unternahm, Anm. des Verf.) does not relate only to the rights of people presently in existence. The rights of the people of New Zealand include the rights of unborn posterity. Those are rights which a nation is entitled, and indeed obliged, to protect.“31 Die Verantwortung, die der Staat Neuseeland für seine nationale Gemeinschaft trägt (und vor dem IGH geltend machte), richtet sich danach also nicht nur auf die gerade lebenden, sondern auch auf die künftigen Generationen32.
Insofern erhält auch der Begriff der „Menschheit“ eine erweiterte Bedeutung. Eine Betrachtung des Zusammenspiels der Grundsätze 1 und 3 der RioDeklaration bringt dies klar zum Ausdruck: Grundsatz 1 hält unter anderem fest, dass die Menschen „im Mittelpunkt der Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung“ stehen, und stellt damit den anthropozentrischen Ansatz des Nachhaltigkeitskonzepts klar; Grundsatz 3 wiederum statuiert wie schon ausgeführt die Gleichberechtigung heutiger und künftiger Generationen. „Die Menschen“ bzw. die Menschheit, auf deren Wohlergehen das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung hinzielt, umfassen damit neben den heute lebenden Generationen auch deren Nachkommen, unter Berücksichtigung eines grundsätzlich nicht begrenzten zeitlichen Horizonts. An dieser Stelle ist kurz darauf hinzuweisen, dass der Begriff der „Generationen“ zweierlei bedeuten kann33. Zum einen kann mit der Bezugnahme auf die „heutige Generation“ die Gesamtheit der heute Lebenden gemeint sein; dies in Abgrenzung zu
___________ 29
In dieser Richtung auch Hösle, Moral und Politik, 909. Request for an Examination of the Situation in Accordance with Paragraph 63 of the Court’s Judgment of 20 December 1974 in the Nuclear Tests (New Zealand vs. France) Case; s. ICJ Reports 1995, 287 ff. 31 ICJ Reports 1995, 317 (341). 32 Vgl. zum Aspekt des Schutzes der künftigen Generationen im Zusammenhang dieses Falles wie auch des 1996 erstatteten Gutachtens des IGH zur Frage der Legalität der Androhung des Einsatzes oder des Einsatzes von Atomwaffen auch Brown Weiss, in: International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 338 (349 ff.), unter zustimmender Würdigung der Position von Richter Weeramantry. 33 Hierzu Hebeler, Generationengerechtigkeit, 20, m.w.N. 30
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
den nicht mehr lebenden wie auch zu den noch nicht geborenen Menschheitsgenerationen. Zum andern kann aber auch bezüglich der heute Lebenden von verschiedenen „Generationen“ die Rede sein; diesfalls bildet die Generation ein Zeitmaß, das den „Altersabstand zwischen Erzeugern und Erzeugten“34 zum Ausdruck bringt, und entsprechend leben immer mehrere Generationen gleichzeitig. Im vorliegenden Zusammenhang wird von den „heute lebenden Generationen“ ebenso gesprochen wie von den „künftigen Generationen“. Im ersten Fall bringt der Plural zum Ausdruck, dass der Generationenbegriff ein zeitliches Maß darstellt, dessen Einheit durch die Dauer menschlichen Lebens gebildet wird. Zugleich aber ist klar, dass die Gegenüberstellung der heute lebenden Generationen von den noch nicht geborenen künftigen Generationen, die ihre Interessen noch nicht artikulieren können, im gegebenen Kontext die zentrale Rolle spielt. Zu beachten ist allerdings ebenfalls, dass auch die heute lebende Kindheitsgeneration Gefahr läuft, bei der Wahrung ihrer höchst konkreten Zukunftsinteressen benachteiligt zu werden, primär aus einem Mangel an vernunftgebotener Zukunftsorientiertheit bei der heutigen Entscheidfällung35.
Die Ausdehnung des Gemeinwohlbegriffs und damit der Verantwortung der lebenden Generation in einem zukunftsgerichteten Sinn36 ist dabei keineswegs nur abstrakt zu verstehen. Einer allfälligen Skepsis bezüglich der konkreten Bedeutung dieser Ausdehnung (im Sinne der möglichen Frage, wie sich die heutige Generation überhaupt vorstellen könne, was inskünftig zum Gemeinwohl zu zählen sein wird), ist nämlich folgender Gedanke entgegen zu halten. Die Perspektive der Interessen künftiger Generationen hat denselben Ausgangspunkt wie jene der heute Lebenden: Beide Perspektiven haben sich zufolge dem anthropozentrischen Ansatz des Nachhaltigkeitskonzepts im Sinne von Grundsatz 1 Rio-Deklaration an den Bedürfnissen zu orientieren, die für das menschliche Überleben und Wohlergehen entscheidend sind. Gerade die Rio-Deklaration betont diesen Standpunkt weiter, indem Grundsatz 1 zusätzlich klarstellt, dass die Menschen „das Recht auf ein gesundes und produktives Leben im Einklang mit der Natur“ haben. Die damit angesprochene grundlegende Bedeutung der Erhaltung eines gesunden Ökosystems sowohl für die heutigen als auch die künftigen Generationen wird schließlich weiter hervorgehoben (u. a. Grundsatz 7), ebenso die Rolle der Armutsbekämpfung (Grundsatz 5). Der konkrete Inhalt künftigen Gemeinwohls, der von den heutigen Generatio___________ 34
Ebd. Tremmel/Laukemann/Lux, in: ZRP 1999, 432 (435), plädieren daher für den Begriff der „nachrückenden Generationen“, umfasse dieser doch anders als jener der „künftigen Generationen“ auch die heutigen Kinder und Jugendlichen. Diese seien genauso wie die noch ungeborenen Generationen den Entscheidungen der heutigen Entscheidungsträger unterworfen, ohne selbst eine Stimme zu haben. Insofern seien in Bezug auf das Anliegen der intergenerationellen Gerechtigkeit den künftigen Generationen gleichzustellen. 36 Zum „Wechsel der Verantwortungsreichweite und ihrer Zeitbezüglichkeit“ im Zusammenhang mit intergenerationeller Verantwortung Lenk, Konkrete Humanität, 377. Die Funktion der Zeit dürfte sich in der modernen Gesellschaft allgemein im Sinne einer verstärkten Zukunftsorientierung wandeln; vgl. Winter, in: FS Stein, 309 ff. 35
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nen berücksichtigt werden muss, ergibt sich damit unmittelbar aus den Bedrohungen des kollektiven menschlichen Wohlergehens heute: Sobald diese eine dauerhafte negative Wirkungen entfalten und dabei kollektive künftige Lebensaussichten beeinträchtigen, bedeuten sie zugleich auch Bedrohungen des künftigen Gemeinwohls.
3. Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung Materiellerseits zeichnet sich ein konstitutionelles Leitkonzept dadurch aus, dass ein tragender Grundwert der konstituierten Gemeinschaft formuliert wird. Dies kann angesichts der zuvor umschriebenen Bedeutung des Nachhaltigkeitskonzepts für Gemeinwohlbelange der internationalen Gemeinschaft als gegeben erachtet werden. Darüber hinaus stellt sich nun noch die Frage, inwiefern das Nachhaltigkeitskonzept hinsichtlich der weiteren Kriterien geeignet ist, als umweltbezogenes konstitutionelles Leitkonzept zu gelten. Neben dem materiellen Aspekt sind dies die Kriterien des normativen Gehalts sowie der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft.
a) Das Kriterium des normativen Gehalts Als wesentliche normative Aufgabe eines konstitutionellen Leitkonzepts wurde zuvor37 die Festlegung eines Referenzwertes für die weitere Konkretisierung der Verfassungsordnung auf der Stufe von eigentlichen Normen bezeichnet. Dabei baut diese „Referenzwertfunktion“ unmittelbar auf der materiellen Bestimmung eines Grundwertes auf, die damit erste Voraussetzung für die Erfüllung der Funktion ist. Daneben muss der materielle Grundwert aber auch jenen Grad minimaler normativer Bestimmtheit aufweisen, der überhaupt seine Verwendung als Referenzwert ermöglicht. Mit anderen Worten muss ersichtlich sein, worin die inhaltliche Vorgabe für die Konkretisierung auf der weiteren konstitutionellen wie auch auf sonstiger rechtlicher Ebene besteht, und insofern bemisst sich der erforderliche normative Gehalt. In Bezug auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung ist zunächst eine gewisse Diskrepanz festzustellen: Einer hohen praktischen Bedeutung, sich äußernd in der regelmäßigen Bezugnahme völkerrechtlicher Quellen auf das Konzept (darunter besonders wichtigen wie die Klimakonvention38 und die Biodiversitätskonvention39), steht die relative Offenheit der inhaltlichen Bedeu___________ 37
3. Kap., B. III. 1. Siehe insb. Art. 2 a.E., Art. 3 Abs. 4 und 5, Art. 4 Abs. 1 Bst. d Klimakonvention. 39 Siehe insb. Art. 1 sowie Art. 2 Abs. 12 Biodiversitätskonvention. 38
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
tung gegenüber, die doch verschiedene konkurrierende Deutungen zulässt. Letzteres könnte denn auch als Argument angeführt werden, um die Eignung des Nachhaltigkeitskonzepts als konstitutionelles Leitkonzept in Frage zu stellen40. Allerdings hat sich im Rahmen der allgemeinen normtheoretischen Überlegungen gezeigt, dass eine gewisse inhaltliche Offenheit der Geltung als konstitutionelles Leitkonzept keineswegs entgegensteht, solange die materielle Zielvorgabe ausreichend klar ist. Daraus folgt zum einen, dass hinsichtlich des normativen Gehalts auf der Stufe eines konstitutionellen Leitkonzepts eine Präzisierung über einen normativen Kerngehalt hinaus, der sich operationell verwenden lässt, gar nicht notwendig ist. Das Weitere ist dann eine Frage der Konkretisierung, die in unterschiedlichen materiellen Konstellationen mit unterschiedlichen Gewichtungen verbunden sein kann. Sinn und Aufgabe eines konstitutionellen Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung kann es denn auch nicht sein, mögliche Konflikte zwischen den Anliegen wirtschaftlicher Entwicklung einerseits und des Schutzes der Umwelt (bzw. im ökonomischen Kontext primär der natürlichen Ressourcen) auf einer weitgehend abstrakten Ebene zu lösen. Durchaus möglich ist demgegenüber die Vorgabe einer grundlegenden Wertung, die hinreichend bestimmt ist, um der Konkretisierung als Maßstab bzw. Referenzwert zu dienen. Ein derartiges Maß an Normativität ist bezüglich des Nachhaltigkeitskonzepts zu bejahen41. Die in diesem Rahmen getroffene Entscheidung besteht dabei darin, den Interessen der künftigen Generationen den selben Stellenwert und damit das gleiche Anrecht auf deren Wahrung beizumessen wie den Interessen der heute lebenden Menschheitsgeneration. Die konkreteren normativen Entscheidungen, die diese Grundentscheidung nach sich ziehen muss, sind anschließend für einzelne Bereiche gesondert zu treffen. Soweit dabei jener völkerrechtliche Bereich betroffen ist, dessen Aufgabe es ist, im Hinblick auf die Umsetzung dieser Grundentscheidung den Umgang der heutigen Generation mit den natürlichen Ressourcen und der gesamten natürlichen Umwelt des Menschen zu regeln42, ist die Zielrichtung eine eindeutige: Die weiteren ___________ 40 Vgl. für Hinweise zu verschiedenen Argumenten, die dem Begriff der Nachhaltigen Entwicklung normative Wirkung abzusprechen versuchen, Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 51. 41 In dieser Richtung auch Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (78); für die Ebene des nationalen (deutschen) Rechts ebenso Kahl, in: Umwelt, Wirtschaft und Recht, 111 (126 ff.); dezidiert zugunsten der normativen Qualität des Begriffs der Nachhaltigen Entwicklung argumentiert außerdem Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 52 ff., m.w.N. 42 Die Bezeichnung dieser Aufgabe („zu regeln“) bringt dabei treffend zum Ausdruck, dass bei deren Erfüllung alle normativen Stufen durchdrungen werden: Von der Ebene konstitutioneller Leitkonzepte bis hinunter auf die Ebene konkretester Regeln im engen normtheoretischen Sinn beim Schutz einzelner Umweltmedien, etwa durch die Festsetzung von quantitativen Emissionslimiten.
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normativen Entscheidungen müssen darauf hinwirken, jede einzelne Ressource grundsätzlich derart zu schützen, dass deren heutige Nutzung nicht die künftige, qualitativ gleichwertige Nutzung in Frage zu stellen droht. Dabei bedeutet dies keineswegs, dass die Interessen der heutigen Generationen jenen der zukünftigen unterzuordnen sind. In besonderen Fällen von Interessenkonflikten kann es durchaus zutreffend sein, dass heutige Notwendigkeiten eine Rücksichtnahme auf allfällige künftige Interessen ausschließen; der dem Nachhaltigkeitskonzept inhärente Gerechtigkeitsgedanke impliziert dies freilich ohnehin. Zum andern zeigt sich damit aber auch, dass im Kontext des Umweltvölkerrechts das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung über den Kerngehalt der Interessen künftiger Generationen hinaus nicht mit zu vielen sonstigen inhaltlichen Aspekten angereichert werden sollte43. Die Rolle des Nachhaltigkeitskonzepts als mögliches konstitutionelles Leitkonzept muss sich jedenfalls angesichts der an ein solches gestellten normativen Anforderungen auf jenen materiellen Gehalt beschränken, der für eine Referenzwertfunktion überhaupt geeignet ist – wie ausgeführt die Gewährleistung der Interessen künftiger Generationen44. Die Autorität des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung kann denn auch nicht dahin gehen, einen Beurteilungsmaßstab zur Lösung von Fragen bereitzustellen wie, „ob die Strassen- und Umweltkosten mittels fiskalischer Instrumente dem Strassenverkehr zu überbürden sind“45. Vielmehr geht es um die Bereitstellung eines gültigen Orientierungspunktes für die Lösung von Wertungs- und Auslegungsfragen. Insofern ist es auf dieser Grundlage aber auch durchaus möglich, Legitimitätsurteile abzugeben. Somit ließe sich etwa hinsichtlich der Legitimität von Schutzmaßnahmen zugunsten bedrohter Tierarten46 festhalten, dass solche Maßnahmen aus der Perspektive des Interesses künftiger Generationen am vielfältigen Nutzen einer bestimmten Tierart zu betrachten sind (von einem allfälligen direkten ökonomischen Nutzen bis zum mittelbaren Nutzen als Bestandteil eines intakten ökologischen Systems). Dass sich dies selbst in konkreten gerichtlichen Entscheidungen auswirken kann, zeigt ein
___________ 43
In diesem Sinn auch Fitzmaurice, in: Theory of International Law, 909 (920 ff.), die dabei betont, dass sich ein inhaltlich unbestimmter Begriff nicht mittels eines ganzen Katalogs von Grundsätzen, die teilweise am selben Mangel der Unklarheit leiden, präzisieren lässt. Vgl. außerdem Trüeb, Umweltrecht in der WTO, 271, wonach die Autorität des Nachhaltigkeitsgebots umso mehr verblasse, je mehr Deutungen diesem zugeordnet würden. 44 Für eine Beschränkung des Nachhaltigkeitskonzepts auf den Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit („seine primäre Bedeutungsvariante“) zugunsten der erforderlichen normativen Klarheit sprechen sich auch Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (78), aus. 45 So Trüeb, Umweltrecht in der WTO, 272, unter Anzweiflung der rechtlichen Autorität des Konzepts. 46 Dies ein weiteres von Trüeb, ebd., angesprochenes Beispiel, das die Ungeeignetheit des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung als rechtlicher Beurteilungsmaßstab belegen soll.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
vor einem australischen Gericht ergangenes Urteil: Im konkreten Fall47 wurde die Genehmigung eines Strassenbaus durch ein geschütztes Gebiet mit einer stark gefährdeten Fauna (insbesondere einer Spezies von Riesenfröschen) unter Berufung auf die „Prinzipien“ der Nachhaltigkeit, der Nachweltverantwortung sowie des Vorsorgeprinzips aufgehoben. Dabei ging das Gericht sogar so weit, gestützt auf diese „Prinzipien“ eine Umkehr der Beweislast zuungusten der Strassenbaufirma anzuordnen.
b) Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft Die besondere Anerkennung durch die Mitglieder der konstituierten Gemeinschaft, welche einer Verfassungsordnung zukommt, kann auf der Ebene des Völkerrechts in jenem Konsens erblickt werden, der dem Völkergewohnheitsrecht zugrunde liegt48. Vorauszusetzen ist auf einer konstitutionellen Ebene weiter, dass dieser Konsens sich gerade auch auf den besonderen materiellen Aspekt der Gemeinwohlorientierung der fraglichen verhaltensdeterminierenden Formel richtet. Dabei wurde auch der Ansatz dargelegt, dass die Möglichkeit völkergewohnheitsrechtlicher Verankerung nicht nur für Normen, sondern auch auf der Stufe völkerrechtlicher Leitkonzepte besteht49. Soweit damit eine Zurechnung zum Völkergewohnheitsrecht zugleich auch ein Indiz für das Bestehen des besonderen verfassungsmäßigen Konsenses darstellt, ist zu überlegen, ob in Bezug auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung von einer derartigen Entwicklung ausgegangen werden kann. Ausschlaggebend sind dabei die beiden allgemeinen Kriterien des Gewohnheitsrechts, nämlich die Verbreitung in der völkerrechtlichen Praxis sowie die Rechtsüberzeugung. Der Gedanke der Nachhaltigen Entwicklung hat sich zwar nicht in einer Norm des Völkergewohnheitsrechts im normtheoretischen Sinn verfestigt. Die vorausgesetzte Übung und Rechtsüberzeugung dürften kaum in Bezug auf die Anerkennung eines Rechtssatzes in dem Sinn nachzuweisen sein, dass sich aus diesem unmittelbar völkerrechtliche Rechte und Pflichten ableiten ließen50. Allerdings haben die normtheoretischen Überlegungen gezeigt, dass sich die Rechtsüberzeugung im Rahmen einer rechtlichen Praxis nicht zwingend darauf ___________ 47 Leatch vs. National Parks and Wildlife Service & Another, wiedergegeben in: Local Government and Environmental Reports of Australia 81 (1993), 270. Der Fall wird von Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (73 f.), zitiert; s. auch ders., in: FS Roellecke, 245 (254), m.w.N. 48 Siehe das 3. Kap., B. III. 3. 49 Siehe ebd. 50 Vgl. etwa auch Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 96 f.; außerdem Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (78), die davon sprechen, beim Konzept der Nachhaltigen Entwicklung handle es sich „um kein operationelles Rechtsprinzip“ in dem Sinne, dass aus ihm konkrete Rechte und Pflichten ableitbar seien.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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richten muss, es liege eine eigentliche Norm vor. Sondern die „opinio iuris“ kann sich auch auf die Ansicht richten, dass in einem Konzept bestimmte Grundwerte zum Ausdruck gebracht werden, die dann in Normen weiter zu konkretisieren sind. Mit anderen Worten kann die mit einer bestimmten Rechtspraxis verbundene Überzeugung auch dahin gehen, es liege ein verfassungsmäßiges Konzept vor, das insofern als verbindlich erachtet wird, als es bei der weiteren Konkretisierung der Verfassungs- und sonstigen Rechtsordnung zu berücksichtigen ist51. Es ist dann also gerade die Referenzwertfunktion eines konstitutionellen Leitkonzepts, auf die sich die gewohnheitsrechtlich relevante Rechtsüberzeugung bezieht. Der Blick auf die völkerrechtliche Praxis zeigt nun, dass tatsächlich vieles für eine derartige Anerkennung des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung spricht52. Dies stützt sich zunächst auf den Umstand, dass sich die völkerrechtliche Praxis im Bereich des Umweltrechts heute fast durchgehend auf das Nachhaltigkeitskonzept beruft53. An erster Stelle sind dabei die am „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro 1992 verabschiedeten Dokumente zu nennen (also die RioDeklaration, die Agenda 21, die Wald-Erklärung sowie die beiden Konventionen zum Schutz der Biodiversität und des Klimas). Auch in den aus dem Weltgipfel über Nachhaltige Entwicklung („Rio +10“ in Johannesburg, 2002) resultierenden Dokumenten (Johannesburg-Plan zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklung und Johannesburg-Deklaration über Nachhaltige Entwicklung) steht das Nachhaltigkeitskonzept durchgehend im Mittelpunkt der umwelt- und entwicklungspolitischen Postulate54. Schließlich wird das Konzept in einer Anzahl bedeutender völkerrechtlicher Verträge als eine Leitlinie bei der inhaltlichen Ausgestaltung verwendet; namentlich zu nennen sind etwa die Desertifi___________ 51
In dieser Richtung argumentieren auch Bruha/Maass, ebd., wonach es sich beim Nachhaltigkeitskonzept um einen durch Rechtsetzung und Politik zu konkretisierenden Orientierungspunkt handle, der „anderen Fundamentalnormen des Völkerrechts“ gleichzustellen sei. 52 Von einer „opinio iuris“ in Bezug auf das Nachhaltigkeitskonzept gehen ausdrücklich auch Barral, in: RGDIP 2003, 415 (417), sowie Dupuy, in: RGDIP 1997, 873 (887), aus. Von einer sich herauskristallisierenden Anerkennung als Völkergewohnheitsrecht spricht Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 147. 53 Für einen ausführlichen Überblick über die einschlägige völkerrechtliche Praxis s. Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 36 ff.; vgl. auch Beyerlin, in: Enforcing Environmental Standards, 95 (96 ff.). 54 Siehe im Johannesburg-Plan Para. 2 und passim; in der Johannesburg-Deklaration Para. 1 und passim. Übereinstimmend mit Barral, in: RGDIP 2003, 415 (417), ist festzustellen, dass dabei das Nachhaltigkeitskonzept gegenüber den Grundlagen der RioDokumente inhaltlich in keiner Weise modifiziert, sondern vielmehr vollumfänglich bestätigt wird. Die genannte Autorin erklärt diesen „status quo“ damit, in der internationalen Gemeinschaft herrsche ein gefestigter Konsens über die inhaltliche (wenn auch unscharfe) Begriffsbildung.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
kationskonvention55 (Präambel sowie Art. 1 Bst. b und Art. 2 Abs. 1), das Kyoto-Protokoll zur Klimakonvention56 (Art. 2 Abs. 1 und Art. 10), die AarhusKonvention57 (Präambel), die „Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade“58 (Präambel), das Cartagena-Protokoll zur Biodiversitätskonvention59 (Präambel), die „Convention on the Conservation and Management of Highly Migratory Fish Stocks in the Western and Central Pacific Ocean“60 (Art. 5 Bst. c und Art. 6), die „Convention on the Conservation and Management of Fishery Resources in the Southeast Atlantic Ocean“61 (Präambel, Art. 2 und Art. 3 Bst. a), der EU-Vertrag (Präambel und Art. 2, 1. Spiegelstrich), der EG-Vertrag (insb. Art. 6) wie auch die EU-Grundrechtecharta (Art. 37) sowie schließlich etwa das NAFTA-Abkommen62 (Art. 168)63. Zu erwähnen ist außerdem, dass auch der IGH von der zentralen völkerrechtlichen Bedeutung des Konzepts ausgeht64, selbst wenn er im konkreten Fall dessen inhaltliche Bedeutung nicht weiter ausgeführt hat. Der Gerichtshof nahm auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung im sogenannten Gabcíkovo/Nagymaros-Fall Bezug65: Den Hintergrund dieses im Jahre 1997 entschiedenen Streitfalles zwischen der Slowakei und Ungarn über ein gemeinsames Projekt zur Nutzung der Wasserkraft der Donau bildete die Frage, ob und in welchem Ausmaß ein einmal unter ökonomischen Gesichtspunkten beschlossenes Projekt durch erst später in Betracht gezogene ökologische Aspekte ___________ 55 Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika; ILM 33 (1994), 1332 ff. 56 Kyoto-Protokoll zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen; ILM 37 (1998), 32 ff. 57 Aarhus-Konvention über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten; ILM 38 (1999), 517 ff. 58 ILM 38 (1999), 1 ff. 59 Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit zur Biodiversitätskonvention; ILM 39 (2000), 1027 ff. 60 ILM 40 (2001), 278 ff. 61 ILM 41 (2002), 257 ff. 62 ILM 32 (1993), 289 ff. 63 Für Nachweise zu sonstigen völkerrechtlichen Quellen vgl. außerdem Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 40 f. 64 Vgl. zum Folgenden auch Sands, in: Max Planck UNYB 1999, 389 (390 ff.). 65 Siehe ICJ Reports 1997, 7 ff. Vgl. im Übrigen auch das Sondervotum des Richters Weeramantry zum Urteil, der davon auszugehen scheint, das „Prinzip“ der Nachhaltigen Entwicklung habe völkergewohnheitsrechtlichen Charakter (s. ICJ Reports 1997, 88, 104).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
357
zu revidieren sei. Die bezüglich der Nachhaltigen Entwicklung wesentliche Passage des Urteils lautet folgendermaßen: „This need to reconcile economic development with the protection of environment is aptly expressed in the concept of sustainable development. For the purpose of the present case, this means that the Parties together look afresh at the effects on the environment of the operation of the Gabcikovo power plant.“66
Mit anderen Worten scheint der Gerichtshof davon auszugehen, dass das Nachhaltigkeitskonzept materielle Aussagen enthält, die zur Beantwortung der Frage beitragen können, in welchem Verhältnis die Anliegen der wirtschaftlichen Entwicklung und des Umweltschutzes zueinander stehen. Dabei fällt auf, dass es gerade die Auswirkungen des fraglichen Projekts auf die Umwelt sind, die unter Berücksichtigung der vom Nachhaltigkeitskonzept vorgegebenen Wertvorstellungen einer erneuten Betrachtung unterzogen werden sollen, und nicht die Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung. Dies legt den Schluss nahe, dass der Gerichtshof zumindest implizit davon ausgeht, zufolge dem Nachhaltigkeitskonzept sei es das Ausmaß der Umweltgefährdung (und nicht die zu erwartenden ökonomischen Auswirkungen), das den Ausschlag darüber gibt, wie mit dem Projekt weiter zu verfahren ist. Dies wiederum würde implizieren, dass der im Konzept enthaltene Referenzwert ein primär ökologisch ausgerichteter ist. Wesentlich ist bei der Einschätzung der völkerrechtlichen Praxis schließlich, dass sich die umfassende Anerkennung des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung insbesondere auf den Aspekt der Interessen künftiger Generationen bezieht und mithin auf eine besondere Dimension der Orientierung am Gemeinwohl; dies hat bereits im Zusammenhang mit der Betrachtung des materiellen Gehalts des Konzepts die entsprechende Bezugnahme der völkerrechtlichen Praxis gezeigt67. Die gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Konzepts bezieht sich also gerade auf jenes inhaltliche Merkmal, das einen konstitutionellen Bestandteil der Völkerrechtsordnung von sonstigem, „gewöhnlichem“ Völkerrecht unterscheidet, und es lässt sich ableiten, dass der Referenzwertfunktion des konstitutionellen Leitkonzepts die nach den normtheoretischen Überlegungen notwendige Akzeptanz zuteil wird. Die intergenerationelle Gerechtigkeit als Kerngehalt des Nachhaltigkeitskonzepts bildet damit den Gegenstand eines Konsenses, dem potentiell konstitutionelle Wirksamkeit zukommt.
___________ 66 67
ICJ Reports 1997, 7 (78, Para. 140). Siehe die entsprechenden Hinweise zuvor in diesem Kap., B. I. 1.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
II. Das Vorsorgeprinzip 1. Materieller Gehalt Die allgemeine Bedeutung des Vorsorgeprinzips68 für die Belange des Umweltvölkerrechts beruht auf einer grundlegenden Problematik, der sich umweltpolitisches Handeln oftmals gegenüber sieht69: Aufgrund der Komplexität der ökologischen Systeme ermöglichen die verfügbaren naturwissenschaftlichen Modelle häufig keine absolute wissenschaftliche Gewissheit über das momentane Ausmaß und künftig zu erwartende Entwicklungen von Umweltgefährdungen. Ursachen und Wirkungen von Umweltbeeinträchtigungen einerseits und die notwendigen Folgerungen auf der umweltpolitischen Maßnahmenseite andererseits sind daher oft nur sehr schwer zu erfassen. Das herausragende Beispiel dürfte hier der globale Klimawandel darstellen; es ist aber auch an bestimmte natürliche Ressourcen und die Frage deren Nutzung zu denken70. Die allgemein gegebenen Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Ursachen und Wirkungen werden dabei auch dadurch erhöht, dass bestimmte Tätigkeiten für sich alleine genommen vergleichsweise unschädlich sind und erst durch das Zusammenfallen mit anderen Ursachen aufgrund von Summationseffekten zu Beeinträchtigungen der Umwelt führen. Die mangelhafte wissenschaftliche ___________ 68 Zum umweltvölkerrechtlichen Vorsorgeprinzip existiert eine umfangreiche Literatur; s. für einen allgemeinen Überblick etwa Cameron, in: Interpreting the Precautionary Principle, 262 ff.; Erben, Vorsorgegebot im Völkerrecht, 31 ff.; Freestone, in: International Law and Global Climate Change, 21 ff.; verschiedene Beiträge in Freestone/Hey (eds.), Precautionary Principle and International Law; Gündling, in: North Sea, 23 ff.; Hey, in: Georgetown International Environmental Law Review 1992, 303 ff.; Marr, in: EJIL 2000, 815 (819 ff.); Nollkaemper, Legal Regime for Transboundary Water Pollution, 70 ff.; Martin-Bidou, in: RGDIP 1999, 631 ff.; Primosch, in: ZÖR 1996, 227 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 267 ff.; Scovazzi, in: Rivista di Diritto Internazionale 1992, 699 ff.; Trüeb, Umweltrecht in der WTO, 278 ff.; Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (10 ff.). Zur zentralen Bedeutung des Vorsorgeprinzips für das Umweltvölkerrecht mit ausführlicher Darstellung der völkerrechtlichen Praxis auch Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 89 ff., 103 ff., m.w.N.; s. außerdem dies., Umweltvölkerrecht, 85 ff. 69 Vgl. zur Problemstellung etwa Brown Weiss, in: Georgetown Law Journal 199293, 675 (688 ff.); dies., in: Environmental change and international law, 3 (15 f.); Freestone, in: Journal of Environmental Law 1994, 193 (210 f.); Freestone/Hey, in: Precautionary Principle and International Law, 3 (12); Sands, Principles of International Environmental Law, 5 ff. 70 Diesen Aspekt hebt Thompson, in: Environmental Law 2000, 241 (258 ff.), in Bezug auf Fischbestände als natürliche Ressource hervor. Danach bestehen bspw. in den USA bezüglich 60 Prozent der kommerziell genutzten Fischarten keine genügenden wissenschaftlichen Kenntnisse, um die Auswirkungen des Fischfangs auf die heutigen und insbesondere die künftigen Bestände abzuschätzen. Entsprechend schwierig ist es denn auch, ein Ressourcenmanagement zu betreiben, das insbesondere die Nachhaltigkeit der Nutzung sicherstellt.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
359
Wissensbasis zu bestimmten Umweltproblemen führt dabei regelmäßig zur ökonomisch begründeten Forderung, umweltpolitische (mit entsprechendenden Kostenfolgen verbundene) Maßnahmen seien erst bzw. nur dann zu ergreifen, wenn über deren Erforderlichkeit zur Vermeidung von Umweltschäden Gewissheit besteht. Dem steht die Einschätzung gegenüber, dass in verschiedensten ökologischen Bereichen die Bedrohungslage derart ist, dass die Gefahr irreversibler Schäden besteht. Zu erinnern ist hier wiederum an die Beispiele der Zerstörung der Ozonschicht und des globalen Klimawandels71, außerdem an die potentielle Bedrohung künftiger Generationen durch die möglichen Folgen der Kerntechnologie72. In Fällen, da sowohl wissenschaftliche Gewissheit über Ausmaß und Folgen einer Umweltgefährdung als auch ein politischer Konsens über das Bestehen einer Umweltbedrohung fehlen, bildet damit die Gewichtung der unterschiedlichen Einschätzungen des Gefahrenpotentials eine ganz wesentliche Voraussetzung umweltpolitischer Entscheidfällung. Den heute gültigen Lösungsansatz für diese Problematik vermittelt das Vorsorgeprinzip. In Grundsatz 15 Rio-Deklaration wird dieses mit folgendem Wortlaut umschrieben: „Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.“
Ähnliche Formulierungen, welche die wesentlichen Punkte dieser Umschreibung aufgreifen, finden sich unter anderem auch in Art. 3 Abs. 3 Klimakonvention und in der Präambel der Biodiversitätskonvention. Feststellen lässt sich damit zunächst, dass der Grundgedanke des Prinzips offenbar auf der Erkenntnis beruht, Schädigungen der Umwelt sei in erster Linie mit präventiven Maßnahmen entgegenzutreten. Außerdem lassen sich auf der Grundlage dieser Umschreibung drei hauptsächliche Elemente des Vorsorgeprinzips unterscheiden. Zwei Merkmalen, die gewissermaßen den „Begründungstatbestand“ bilden (das Fehlen völliger wissenschaftlicher Gewissheit sowie das Vorhandensein einer potentiellen Gefährdung der Umwelt), steht eine bestimmte Rechtsfolge
___________ 71 In diesen Zusammenhängen spielt die Problematik der ökologischen Komplexität und der mangelnden wissenschaftlichen Gewissheit auch eine besonders deutliche Rolle; vgl. Boehmer-Christiansen, in: Negotiating International Regimes, 181 ff., sowie Bojkov, in: Ozone Treaties, 20 ff. 72 Zur Bedeutung, die dem Vorsorgeprinzip im Zusammenhang mit der Kerntechnologie zukommt, s. Granet, in: Journal du droit international 2001, 755 ff.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
(ein bestimmtes, in umweltpolitischer Zielsetzung ausgerichtetes Handeln) gegenüber73: –
Im Rahmen des Vorsorgeprinzips soll demzufolge darauf verzichtet werden, völlige wissenschaftliche Gewissheit zu haben, bevor ein bestimmtes umweltpolitisches Handeln in die Wege geleitet wird. Der Bezugspunkt dieser (Un-)Gewissheit betrifft dabei einen allfälligen Kausalzusammenhang zwischen einem Verhalten, dessen Umweltschädlichkeit in Betracht gezogen wird, und möglichen schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt74. Den Kerngedanken des Verzichts auf wissenschaftliche Gewissheit bildet also gerade die Einsicht, dass es angesichts der Komplexität natürlicher Zusammenhänge oftmals nicht möglich ist, im Zeitpunkt, da eine umweltpolitische Maßnahme oder Verhaltensregel postuliert werden soll, verlässliche Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit von Umweltgefährdungen zu treffen. Hinzu kommt, dass in Anbetracht der Dringlichkeit der Gefahren für die Umwelt wissenschaftliche Gewissheiten – soweit sie überhaupt möglich scheinen – oftmals zu spät vorliegen würden75.
–
Als zweites (eng mit dem ersten verflochtenes) Element ist das Vorhandensein einer potentiellen Gefahr für die Umwelt vorausgesetzt. Dabei wird deren Mindestmaß in der Formulierung durch Grundsatz 15 Rio-Deklaration durch die zwei Alternativen der Ernsthaftigkeit („schwerwiegend“) und der Irreversibilität („bleibend“) des drohenden Schadens definiert. Beide Kriterien sind nicht eindeutig bestimmbar, wobei die Frage, wann ein drohender Schaden irreversibel sei, noch etwas einfacher zu beantworten sein dürfte; so ist etwa an eine völlige Erschöpfung nicht erneuerbarer Ressourcen zu denken. Größere Schwierigkeiten ergeben sich bei der Frage nach der erforderlichen Ernsthaftigkeit. Freilich zeigt sich hier
___________ 73
Siehe zum Ganzen auch die ausführliche Betrachtung der völkerrechtlichen Praxis und die darauf aufbauende Argumentation bei Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 110 ff. Vgl. auch Cameron/Abouchar, in: Precautionary Principle and International Law, 29 (45), welche im Ergebnis in ähnlicher Weise drei Elemente des Vorsorgeprinzips als allgemein anerkannt einstufen. 74 Dass sich das fehlende Wissen auf einen solchen Kausalzusammenhang bezieht, wird in einigen Dokumenten auch explizit ausgesprochen, siehe beispielsweise Art. 2 Abs. 2 Bst. a Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (ILM 32 [1993], 1069 ff.) sowie Art. 2 Abs. 5 Bst. a Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen (ILM 31 [1992], 1312 ff.). 75 Diese Tatsache wurde von einer Arbeitsgruppe des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) als grundlegendes Element des Vorsorgeprinzips bezeichnet. Vgl. Paragraph 47 (b) des „Final Report of the UNEP Expert Group Workshop on International Environmental Law Aiming at Sustainable Development, Annex I: Final Draft Position Paper on International Environmental Law Aiming at Sustainable Development“ aus dem Jahre 1996 (Dokument Nr. UNEP/IEL/WS/3/2).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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sogleich die Bedeutung des konstitutionellen Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung: Aus diesem ergibt sich nämlich, dass das Vorsorgeprinzip in einer Art und Weise gehandhabt werden muss, welche den Interessen der künftigen Generationen gerecht zu werden vermag. Die Frage nach der Schwere einer Umweltgefährdung ist daher nicht nur aus heutiger Sicht, sondern immer auch aus jener der künftigen Generationen zu betrachten. Damit ist immer dann, wenn nicht absehbar ist, welche Schäden das Verhalten der heutigen Generation auf die (künftige) Umwelt haben wird, eine vorsichtige Einschätzung zu treffen. Ein erhebliches Potential der Umweltschädigung im Sinne des Vorsorgeprinzips ist folglich bereits dann anzunehmen, wenn ein nennenswerter Nachteil für die künftigen Generationen nicht ausgeschlossen werden kann76. Nur auf diese Weise ist, wie vom konstitutionellen Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung angestrebt, ein effektiver Schutz der künftigen Generationen zu erreichen. –
Schließlich verlangt das Vorsorgeprinzip auf der Rechtsfolgenseite, dass der Gefahr der Umweltschädigung (bereits im frühen Stadium der wissenschaftlichen Ungewissheit) mit bestimmten adäquaten Maßnahmen begegnet werde. Ist in einem nicht auf spezifische Umweltprobleme bezogenen Dokument wie der Rio-Deklaration in sehr allgemeiner Weise schlicht von „Maßnahmen“ die Rede, so wird dies in konkreteren Zusammenhängen teilweise präzisiert: Insbesondere werden als Rechtsfolge im Rahmen des Vorsorgeprinzips verschiedentlich Maßnahmen zur Vermeidung der Freisetzung von umweltschädigenden Substanzen statuiert77. In Art. 3 Abs. 3 Klimakonvention wird neben der allgemeinen Umschreibung des Vorsorgeprinzips zudem der Zweck der zu treffenden Vorsorgemaßnahmen genannt, der darin besteht, „den Ursachen der Klimaänderungen vorzubeugen, sie zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten und die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen abzuschwächen“. Festzuhalten ist insgesamt, dass das Vorliegen der Kriterien auf der Tatbestandsseite immer eine bestimmte (variable und mehr oder weniger präzis gefasste) Rechtsfolge in Gestalt einer bestimmten Maßnahme umweltpolitischer Ausrichtung nach sich zieht. Gefordert ist daher gemäß dem Vor___________ 76 Vgl. demgegenüber aber Primosch, in: ZÖR 1996, 227 (234), der für eine relativ hohe Erheblichkeitsschwelle eintritt. 77 Siehe v.a. Art. 4 Abs. 3 Bst. f Bamako-Konvention (Convention on the Ban of the Import into Africa and the Control of Transboundary Movement and Management of Hazardous Wastes within Africa) sowie Art. 2 Abs. 5 Bst. a Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen. In Art. 4 Abs. 3 Bst. f Bamako-Konvention werden zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips im Rahmen vorbeugender Maßnahmen gegen die Verschmutzung durch schädliche Substanzen zudem noch saubere Produktionsmethoden postuliert. Vgl. zur Formulierung des Vorsorgeprinzips in der Bamako-Konvention auch Sands, Principles of International Environmental Law, 270.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
sorgeprinzip in jedem Fall ein umweltpolitisches Tätigwerden im Sinne einer angemessenen und geeigneten Antwort auf eine potentielle Gefährdung der Umwelt. Die inhaltliche Bedeutung des Vorsorgeprinzips lässt sich somit kurz folgendermaßen zusammenfassen: Dieses besagt allgemein, dass im Falle der Gefahr von erheblichen Schäden für die Umwelt die notwendigen umweltpolitischen Maßnahmen auch dann zu treffen sind, wenn (noch) keine absolute wissenschaftliche Gewissheit darüber besteht, dass die befürchtete Umweltschädigung auch tatsächlich eintreten wird bzw. dass zwischen einem bestimmten Verhalten und den befürchteten Auswirkungen auf die Umwelt tatsächlich ein Kausalzusammenhang besteht. Soweit dies angemessen ist, kann das völkerrechtliche Vorsorgeprinzip die Staaten damit auch dazu verpflichten, Tätigkeiten oder Substanzen, die Umweltschädigungen bewirken können, Regelungen zu unterwerfen (und unter Umständen zu verbieten), selbst wenn keine wissenschaftliche Gewissheit über die möglichen oder wahrscheinlichen Umweltschäden gegeben ist.
2. Aspekt der Gemeinwohlorientierung Der vorsorgliche Schutz der Umwelt gegen Schädigungen gewisser Erheblichkeit ist nicht nur im allgemeinen Interesse jener, die für das Gefahrenpotential selbst verantwortlich sind und dabei von allfälligen Folgen selbst betroffen wären. Das Vorsorgeprinzip greift darüber hinaus nämlich den Kerngehalt des konstitutionellen Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung in ganz unmittelbarer Weise auf; hierin ist denn auch der besondere Aspekt der Gemeinwohlorientierung des Prinzips zu erkennen: Die dem industriellen Zeitalter eigene Kapazität, die natürliche Umwelt des Menschen in einer Art und Weise zu schädigen, die langfristig oder gar irrversibel ist, stellt – so sie außer Kontrolle gerät – nicht nur eine Bedrohung der heutigen, sondern höchst konkret auch der künftigen Generationen dar. Wie das Beispiel der gentechnischen Eingriffe in die Erbmasse zeigt, nimmt das Potential möglicher Einwirkungen auf die Interessen künftiger Generationen sogar noch laufend zu. Dabei sind das genauere Ausmaß dieses besonderen Risikopotentials und dessen mögliche Konsequenzen auf die Umwelt, nicht zuletzt auf die für das gesamte ökologische System grundlegende biologische Vielfalt78, aber gleichzeitig noch weitgehend unbekannt. Dies gilt besonders im Falle der gentechnisch veränderten Organismen, die (absichtlich oder nicht) in ___________ 78 Zu den mit der Verwendung gentechnischer Verfahren für die biologische Vielfalt verbundenen Risiken etwa Kiss/Shelton, International Environmental Law, 375 f.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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der Natur ausgesetzt werden. Häufig lässt sich hier wissenschaftlich nicht mit Gewissheit vorhersagen, wie sich derartige Organismen in einer natürlichen Umwelt weiter entwickeln werden und welchen Einfluss sie auf andere Lebewesen haben können. Diesbezüglich bestehende Befürchtungen widerspiegeln sich etwa in Art. 8 Bst. g Biodiversitätskonvention: Danach soll jede Vertragspartei „Mittel zur Regelung, Bewältigung oder Kontrolle der Risiken einführen oder beibehalten, die mit der Nutzung und Freisetzung der durch Biotechnologie hervorgebrachten lebenden modifizierten Organismen zusammenhängen, die nachteilige Umweltauswirkungen haben können, welche die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt beeinträchtigen könnten, wobei auch die Risiken für die menschliche Gesundheit zu berücksichtigen sind“.
Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung verlangt indessen verbindlich die Berücksichtigung der intergenerationellen Perspektive. Die Gewährleistung der Interessen künftiger Generationen setzt dabei regelmäßig voraus, dass die heutigen Belastungen der natürlichen Lebensgrundlagen auf ein Ausmaß begrenzt (bzw. reduziert) werden, das keine in die Zukunft wirkende Schäden erheblicher oder gar irreversibler Natur befürchten lässt. Die Entscheidung darüber, wann die entsprechenden Maßnahmen ergriffen werden müssen, kann angesichts des in vielen Bereichen bestehenden hohen Risikopotentials zulasten der künftigen Generationen allerdings nicht erst im Zeitpunkt erfolgen, da über Ursachen und Wirkungen unverbrüchliche wissenschaftliche Gewissheit besteht. Das Vorsorgeprinzip impliziert demgegenüber die präventive Vorverlegung des Handlungszeitpunkts. Gerade in Fällen zu befürchtender Langzeitoder irreversibler Schäden muss dies als eine grundlegende Voraussetzung für die Bewahrung der Umwelt für künftige Generationen betrachtet werden79. Im Ansatz, die Natur nicht Eingriffen auszusetzen, von denen nicht bekannt ist, inwieweit sie nachteilige Auswirkungen auf die Rechte künftiger Generationen haben werden, äußert sich nicht zuletzt auch ein ethisches Gebot. Veränderungen der Natur sind aus dieser Sicht nur dann verantwortbar, wenn sie „entweder zur Erhaltung menschlichen Lebens oder anderer schützenswerter Grundwerte geboten oder durch unser Wissen um die Aufnahmefähigkeit der natürlichen Medien gerechtfertigt“ sind80. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere auch, dass aus heutiger Sicht nicht abschätzbar ist, welche technologischen und sonstigen Fähigkeiten künftige Generationen haben werden, um mit den durch das heutige Verhalten vererbten Problemstellungen fertig zu werden81. Umweltpolitisch verantwortliches Handeln trotz wissenschaftlicher Ungewissheit bildet somit den unerlässlichen Ansatz, um dem intergeneratio___________ 79
Vgl. auch Kiss, in: Precautionary Principle and International Law, 19 (27). So von Lersner, in: HdUR, Bd.II, 2703 (2709). 81 In dieser Hinsicht treffend Gündling, in: AJIL 1990, 207 (211). 80
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
nellen Aspekt der Gemeinwohlorientierung in der erforderlichen Weise Rechnung zu tragen.
3. Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung a) Das Kriterium des normativen Gehalts Wird die Perspektive der künftigen Generationen als Kerngedanke der Nachhaltigkeit verstanden, so erweist sich also die Beachtung des Vorsorgeprinzips für das konstitutionelle Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung selbst als unabdingbar82. In diesem Sinne lässt sich das Vorsorgeprinzip als strategisches Instrument zur Umsetzung des übergeordneten Ziels Nachhaltiger Entwicklung83 und somit des intergenerationellen Aspekts84 des Gemeinwohls verstehen. Die zukunftsorientierte Dimension des Nachhaltigkeitskonzepts wird durch das Vorsorgeprinzip dabei auf der Ebene rechtlicher Normen aufgenommen. Die Aufgabe von Prinzipien im normtheoretischen Sinn besteht wie ausgeführt85 im konstitutionellen Kontext darin, die verfassungsmäßigen Grundwerte in Sollenssätzen zu konkretisieren. Während diese damit von konkreterem Gehalt sind als Leitkonzepte (und insofern auch eine höhere normative Dichte aufweisen müssen), verbleiben sie im Vergleich zu spezifischen rechtlichen Regeln auf einem nach wie vor relativ hohen Abstraktionsniveau. Verlangt ___________ 82 Hinweise auf ein solches Verständnis finden sich auch in der völkerrechtlichen Praxis. So heißt es beispielsweise in Grundsatz 7 der Bergen-Deklaration über Nachhaltige Entwicklung in der ECE-Region (abgedruckt in Burhenne/Jahnke, International Environmental Soft Law, 990:3705): „In order to achieve sustainable development, policies must be based on the precautionary principle.“ Vergleichbare Aussagen finden sich in Grundsatz 17 der Esbjerg-Deklaration der 4. Internationalen Nordsee-Konferenz (Text bei Burhenne/Robinson, International Protection of the Environment, Dokument Nr. 09-06-95/1) sowie in Grundsatz 19 der Bangkok Declaration on Environmentally Sound and Sustainable Development in Asia and the Pacific (Textauszug bei Freestone, in: International Law and Climate Change, 21 [30]). Siehe zudem auch Nollkaemper, Transboundary Water Pollution, 83, der betont, dass das Konzept Nachhaltiger Entwicklung insbesondere auf dem Vorsorgeprinzip aufbaue. 83 In dieser Richtung auch Schröder, in: Nachhaltige Entwicklung, 157 (163 f.), der sich auch kritisch mit Stimmen auseinandersetzt, die von einem – auf unterschiedlichen Zielvorgaben beruhenden – Gegensatz zwischen dem Konzept Nachhaltiger Entwicklung und dem Vorsorgeprinzip sprechen. Vgl. außerdem Umweltbundesamt (Hrsg.), Nachhaltiges Deutschland, 5, wonach der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung u. a. die vorrangige Orientierung am Vorsorgeprinzip impliziere; ähnlich außerdem auch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 205. 84 Vgl. auch Gündling, in: AJIL 1990, 207 (211), der das Vorsorgeprinzip in den Zusammenhang von „basic principles in the interest of future generations“ stellt. 85 Siehe das 3. Kap., B. II. 2. und 3. sowie III. 2. a).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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wird von dieser Kategorie von Sollenssätzen nicht die Statuierung eines situationsbezogenen spezifischen Verhaltens, sondern vielmehr die Vorgabe einer Verhaltensmaxime, die wiederum eine Bandbreite von Verhaltensweisen und Wahlmöglichkeiten offenlässt. Das Vorsorgeprinzip wird dem somit von einem konstitutionellen Prinzip geforderten normativen Gehalt gerecht86, wie Folgendes verdeutlicht. Einerseits ist nämlich ein deutlicher Sollenssatz auszumachen; dieser besteht im Imperativ, den in erster Linie die Rechtsfolgeseite des Prinzips enthält, ergänzt und verdeutlicht durch dessen weiteren Elemente: Es soll umweltpolitisch gehandelt werden, wenn eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle ökologischer Gefährdung gegeben ist, ungeachtet einer allfälligen wissenschaftlichen Ungewissheit über die Kausalzusammenhänge. Anderseits verlangt der normative Zweck eines (konstitutionellen) Prinzips von einer fraglichen rechtlichen Formel auch keineswegs mehr, als das Vorsorgeprinzip im zuvor beschriebenen Sinn und gemäß der bestehenden völkerrechtlichen Praxis zu leisten im Stande ist. Seine konstitutionelle Funktion als allgemeine normative Grundlage für präventives umweltpolitisches Handeln verlangt nicht, dass für einzelne sektorielle Umweltprobleme die genauen Verhaltensweisen vorgezeichnet werden87. Sondern die Aufgabe auf dieser normativen Ebene kann dadurch als erfüllt betrachtet werden, dass die Richtung des konkreten Verhaltens (der Gefährdungslage angemessenes, wirksames umweltpolitisches Handeln auch in Zweifelsfällen) in verbindlicher Weise vorgegeben wird88. Dies schließt freilich nicht aus, dass die Bedeutung des Vorsorgeprinzips für einzelne Umweltbereiche zusätzlich in geeigneter Weise präzisiert werden könnte und sollte. Zu denken ist dabei insbesondere an bereichsspezifische Konkretisierungen der Erheblichkeitsschwelle sowie auf der Rechtsfolgeseite an entsprechende Vorgaben für die zu ergreifenden Maßnahmen89.
b) Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft Auch die Frage nach der Anerkennung des Vorsorgeprinzips ist folglich in einem konstitutionellen Zusammenhang daran zu bemessen, in welchem Aus___________ 86 Entsprechend auch Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 24, wonach das Vorsorgeprinzip ausreichenden normativen Charakter aufweise, um „zu einer gewohnheitsrechtlichen Verhaltensnorm zu erstarken“. 87 Anderer Ansicht wohl Marr, in: EJIL 2000, 815 (823), der aber die hier vertretene allgemeine normative Funktion des Vorsorgeprinzips nicht in Betracht zieht. 88 In dieser Richtung auch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 206. Der Autor bezeichnet zudem – in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland – das Vorsorgeprinzip als „Leitprinzip des Umweltstaats“ (s. ebd., 153 ff.). 89 Vgl. dazu Marr, in: EJIL 2000, 815 (823 f.).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
maß ein solcher allgemeiner Sollenssatz in der völkerrechtlichen Praxis akzeptiert ist. Allfällige weitergehende Konkretisierungen in einzelnen umweltvölkerrechtlichen Teilbereichen bilden dabei entsprechende Indizien, sind aber selbst keine unerlässlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des allgemeinen Prinzips. Dabei kann zum einen nach dem zuvor Gesagten davon ausgegangen werden, dass die für eine völkergewohnheitsrechtliche Verdichtung auf der Ebene von Prinzipien erforderliche normative Bestimmtheit gegeben ist. Zum andern zeigt sich, dass das Vorsorgeprinzip in der völkerrechtlichen Praxis heute einen sehr hohen Verbreitungsgrad erreicht hat90: Ursprünglich ausgehend vom völkerrechtlichen Meeresschutz91, entfaltet das Vorsorgeprinzip heute in praktisch allen umweltvölkerrechtlichen Bereichen Wirkungen. In ausdrücklichen Formulierungen, die im Großen und Ganzen der Umschreibung in Grundsatz 15 Rio-Deklaration entsprechen, oder jedenfalls durch die einfache Feststellung seiner Geltung hat das Prinzip Eingang in eine Vielzahl von völkerrechtlichen Dokumenten gefunden. Genannt seien hier nur nochmals die Klimakonvention (Art. 3 Abs. 3) und die Biodiversitätskonvention (Präambel), außerdem etwa das Montreal-Protokoll zur Ozonschutzkonvention92 (Präambel), die Alpenkonvention (Art. 2 Abs. 1), die BamakoKonvention über gefährliche Abfälle93 (Art. 4 Abs. 3 Bst. f), das Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen94 (Art. 2 Abs. 5 Bst. a), das „Agreement on Straddling and Highly Migratory Fish Stocks“95 zur Seerechtskonvention (Art. 6), die „Convention on the Conservation and Management of Fishery Resources in the Southeast Atlantic Ocean“96 (Präambel, Art. 3 Bst. b und Art. 7) sowie die beiden Protokolle über Schwermetalle und schwerflüchtige organische Schadstoffe zum Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung97 (jeweils Präambeln). Festzustellen ist beim Blick auf die völkerrechtliche Praxis insbesondere auch, dass das Prinzip längst zu einer eigentli___________ 90 Zum Nachfolgenden s. auch den ausführlichen Überblick über die völkerrechtliche Praxis bei Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 103 ff.; vgl. außerdem Erben, Vorsorgegebot im Völkerrecht, 230 ff. 91 Siehe dazu Freestone, in: International Law and Global Climate Change, 21 (23 ff.), sowie Freestone/Hey, in: Precautionary Principle and International Law, 3 (5 ff.). 92 ILM 26 (1987), 1550 ff. 93 ILM 30 (1991), 775 ff. 94 ILM 31 (1992), 1312 ff. 95 ILM 34 (1995), 1547 ff. 96 ILM 41 (2002), 257 ff. 97 ILM 37 (1998), 513 ff.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
367
chen Standardnorm des Umweltvölkerrechts geworden ist, wird doch in fast jeder neueren völkerrechtlichen Übereinkunft mit Umweltbezug darauf Rückgriff genommen. Zu erwähnen sind etwa das neue Rheinschutzübereinkommen aus dem Jahr 199998 (Art. 4 Bst. a), das Protokoll über Wasser und Gesundheit zum Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen von 1999 (Art. 5 Bst. a), das Protokoll zur Verringerung von Versauerung, Überdüngung und bodennahem Ozon zum Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung99 von 1999 (Präambel), das Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit zur Biodiversitätskonvention von 2000 (Art. 1) sowie die Konvention über schwerflüchtige organische Schadstoffe100 aus dem Jahr 2001 (Art. 1 und Art. 8 Abs. 9). Das erwähnte Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit zur Biodiversitätskonvention lässt sich dabei noch als konkretes Beispiel dafür hervorheben, wie der Vorsorgegedanke in jüngerer Zeit in einem umweltvölkerrechtlichen Vertragswerk betont wird101. Im Vordergrund steht in dessen Rahmen die Verringerung der (potentiellen) Risiken für die biologische Vielfalt, die der Export bzw. Import von gentechnisch veränderten Organismen mit sich bringt. Die Bedeutung des Vorsorgeprinzips im Rahmen des Protokolls wird dabei zunächst in Art. 1 explizit angesprochen, indem auf Grundsatz 15 Rio-Deklaration hingewiesen wird. Der Ansatz, Maßnahmen im Hinblick auf den Schutz der Umwelt bereits möglichst frühzeitig zu ergreifen, selbst wenn über das effektive Gefahrenpotential noch keine Gewissheit herrscht, prägt schließlich ein besonderes Verfahren, das im Zentrum des Protokolls steht: Nach Art. 7 Abs. 1 soll ein sogenanntes AIA-Verfahren102 („Advance Informed Agreement Procedure“) zur Durchführung gelangen, bevor ein grenzüberschreitender Transport lebender gentechnisch modifizierter Organismen mit dem Zweck erfolgt, diese Organismen in die Umwelt des importierenden Staates einzubringen. Damit soll der Importstaat in die Lage gesetzt werden, die Risiken abzuklären und die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen, insbesondere die erforderliche Einfuhrbewilligung gegebenenfalls zu verweigern. Dabei muss im Rahmen dieses Verfahrens (ähnlich einer Umweltverträglichkeitsprüfung) eine Überprüfung der Risiken vorgenommen werden, die mit dem geplanten Export sowie mit der Einbringung in die Umwelt verbunden sein können (Art. 10 Abs. 1 i.V.m. ___________ 98
SR 0.814.284. SR 0.814.327. 100 ILM 40 (2001), 532 ff. 101 Zum Inhalt dieses Protokolls und seiner Bedeutung für das Umweltvölkerrecht ausführlich Scheyli, in: ZaöRV 2000, 771 ff. Zum Aspekt der Bedeutung des Vorsorgeprinzips s. auch Boisson de Chazournes/Thomas et al., in: SZIER 2000, 513 (536 ff.). 102 Zu diesem Verfahren im Einzelnen Scheyli, in: ZaöRV 2000, 771 (776 ff.). 99
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Art. 15). Wesentlich ist dabei, dass die Durchführung des AIA-Verfahrens gerade nicht von einer gesicherten Kenntnis über das im Zusammenhang mit dem geplanten Transport bestehende effektive Risiko abhängen soll. Dieser Aspekt wird durch Art. 10 Abs. 6 noch besonders unterstrichen; demnach soll ein Mangel an wissenschaftlicher Gewissheit über die möglichen Auswirkungen lebender modifizierter Organismen auf die biologische Vielfalt und auf die menschliche Gesundheit einen Staat bei seiner Entscheidung über eine Importbewilligung nicht hindern – dies im Hinblick darauf, potentiell schädliche Auswirkungen zu vermeiden oder jedenfalls zu verringern. Im Bestreben, die potentiell besonders hohen, gleichzeitig aber auch ungewissen Risiken der Verwendung gentechnisch veränderter Organismen zu kontrollieren, kommt damit das Vorsorgeprinzip im Cartagena-Protokoll in normativer Hinsicht besonders stark zum Ausdruck. Zu erwähnen ist außerdem noch, dass das Prinzip auch im Rahmen des WTO-Rechts eine Rolle spielt. Im Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS-Übereinkommen103) wird das Prinzip zwar nicht ausdrücklich erwähnt, dessen Bedeutung im Rahmen dieses Vertrags lässt sich indessen aus dem Zusammenhang erschließen104. Art. 2 Abs. 2 hält zunächst die Verpflichtung der Vertragsparteien fest, nur soweit gesundheitspolizeiliche oder pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen zu ergreifen, als diese (u. a.) auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhen, und diese „nicht ohne hinreichenden wissenschaftlichen Nachweis“ beizubehalten. Allerdings gilt dies nicht für Fälle, in denen die wissenschaftliche Kenntnislage keine eindeutigen Schlüsse über eine befürchtete Gefährdung von Menschen, Tieren und Pflanzen zulässt. Art. 5 Abs. 7 erlaubt den Vertragsparteien diesfalls nämlich, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen „vorübergehend auf der Grundlage der verfügbaren einschlägigen Angaben“ einzuführen. Zwar haben Maßnahmen, die in diesem Sinne vorsorglich eingeleitet werden, lediglich vorläufigen Charakter und sind zudem mit der Verpflichtung verknüpft, sich um die Beschaffung der „notwendigen zusätzlichen Informationen für eine objektivere Risikobewertung“ zu bemühen. Die Bestimmung zeigt aber jedenfalls klar, dass die Vertragsparteien dem Vorsorgeprinzip folgen dürfen, können sie doch handelsbeschränkende Maßnahmen zumindest vorläufig auch auf noch mangelhafte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, wenn diese auf eine mögliche Gefährdung der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen hinweisen. Dies wird noch dadurch unter___________ 103
SR 0.632.20, Anhang 1A.4. Siehe hierzu auch die entsprechenden Ausführungen der EU-Kommission in ihrer Mitteilung betreffend die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. (13 f.), im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Geltung des Prinzips. Vgl. zum Folgenden zudem Erben, Vorsorgegebot im Völkerrecht, 157 ff. 104
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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strichen, dass die entsprechenden Maßnahmen bei anhaltender „Beweislosigkeit“ zwar nur vorübergehend sein dürfen, ihre Geltungsdauer jedoch zeitlich nicht begrenzt wird. Das Interesse der Vertragspartei, welche die Maßnahmen eingeleitet hat, am vorsorglichen Schutz von Menschen, Tieren und Pflanzen wird insofern dem Interesse anderer Vertragsparteien an einer raschen Beseitigung möglicher Beschränkungen des internationalen Handels keinesfalls untergeordnet. Sondern im Zweifel hat der dem Vorsorgeprinzip inhärente Gedanke der ökologisch motivierten Risikobegrenzung Vorrang. Zur umfangreichen völkerrechtlichen Praxis in Bezug auf das Vorsorgeprinzip trägt außerdem nicht nur das Vertragsrecht bei, sondern in zunehmendem Maße auch die Rechtsprechung. Hervorzuheben ist dabei unter anderem105 insbesondere ein im Jahr 1999 ergangener Entscheid des Internationalen Seegerichtshofs in einem Rechtsstreit zwischen Australien und Neuseeland einerseits sowie Japan andererseits106: Dabei ging es im Wesentlichen darum, dass die beiden erstgenannten Staaten Japan vorwarfen, durch das Befischen – zu sogenannt experimentellen Zwecken – der Spezies „Southern Bluefin Tuna“ gegen ein im Jahre 1993 abgeschlossenes Abkommen zwischen diesen drei Staaten zu verstoßen, das nicht zuletzt maximale Fangquoten vorsieht. Dieses Abkommen war vor dem Hintergrund entstanden, dass die betroffene Fischart in hohem Maße übernutzt wird und dabei deren langfristiger Bestand bedroht ist. Im Verfahren vor dem Gerichtshof (dessen Jurisdiktion sich primär auf die Belange der UNO-Seerechtskonvention erstreckt107) machten Australien und Neuseeland geltend, Japan verstoße durch sein Verhalten gegen die Art. 64, 116-119 und 300 der UNO-Seerechtskonvention. Diese verpflichten die Vertragsstaaten dazu, Maßnahmen zum Schutz der lebenden Meeresressourcen zu ergreifen sowie die ihnen nach der Konvention zukommenden Rechte und Pflichten nach Treu und Glauben auszuüben. Überdies wurde Japan vorgehalten, es habe gegen das Vorsorgeprinzip verstoßen, welchem gemäß den beiden beschwerde___________ 105 Einen Hinweis auf den völkerrechtlichen Status des Vorsorgeprinzips enthalten die Sondervoten der Richter Weeramantry und Palmer im Rahmen der Behandlung der Klage, die Neuseeland vor dem IGH wegen der französischen Atomtests in den Jahren 1995 und 1996 im Südpazifik anstrengte. In der Literatur wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sowohl die Äußerungen Weeramantrys (s. ICJ Reports 1995, 343) als auch diejenigen Palmers (ebd., 412, Para. 89 f.) implizit erkennen lassen, dass sie das Prinzip als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts auffassen. Siehe dazu Marauhn/Oellers-Frahm, in: EuGRZ 1997, 221 (231), sowie Marr, in: EJIL 2000, 815 (826). Zum Votum des Richters Weeramantry vgl. auch Bothe, in: RECIEL 1996, 253 (256 f.). Zu erwähnen ist weiter, dass der Oberste Gerichtshof Indiens in einem Urteil zum Schluss gekommen ist, das Vorsorgeprinzip sei Teil des Völkergewohnheitsrechts (s. den Entscheid A. P. Pollution Control Board vs. Nayudu, 1999 SOL Case No. 53, Para. 27; zitiert nach DeMarco/Campbell, in: RECIEL 2004, 320 [323]). 106 Siehe ILM 38 (1999), 1624 ff. 107 Vgl. Art. 21 f. des Annex VI zur Seerechtskonvention (ILM 21 [1982], 1261 ff.).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
führenden Parteien der Status einer Norm des Völkergewohnheitsrechts zukomme. Marr hat in überzeugender Weise dargelegt, dass das Gericht – wenngleich es dies nicht ausdrücklich festhält – seine Anordnung ganz wesentlich auf das Vorsorgeprinzip abstützt108: Trotz bestehender wissenschaftlicher Ungewissheit bezüglich des Bestandes, der erforderlich ist, um das Überleben der Spezies sicherzustellen, habe sich nämlich das Gericht zugunsten der Anordnung einer vorsorglichen Maßnahme im Sinne von Art. 290 Abs. 5 Seerechtskonvention entschieden, die experimentelle Befischung der betroffenen Thunfischart sei unverzüglich zu stoppen. Die nach Art. 290 Abs. 5 Seerechtskonvention für eine solche vorsorgliche Maßnahme erforderliche Dringlichkeit habe dabei offenbar nicht in Bezug auf die momentane Situation vorgelegen, sondern vielmehr im Hinblick auf die künftige Entwicklung des Bestandes der Spezies, konkret durch die Gefahr des Zusammenbruchs einer überlebensfähigen Population. Da diesbezüglich aber keine ausreichenden wissenschaftlichen Kenntnisse bestünden, habe das Gericht implizit auf das Vorsorgeprinzip Rückgriff nehmen müssen109. Der Überblick auf die völkerrechtliche Praxis zeigt damit deutlich, dass das Vorsorgeprinzip heute zu einem tragenden Bestandteil des Umweltvölkerrechts geworden ist, mit umfassender Wirkung auf alle erdenklichen umweltrelevanten Belange. In einzelnen Bereichen hat es dabei gar eine justitiable Qualität erlangt, sei es, dass unmittelbar auf seinen normativen Gehalt zurückgegriffen werden kann wie im „Southern Bluefin Tuna“-Fall, oder sei es, dass seine Anwendbarkeit durch die Operationalisierung in einem besonderen Verfahren vermittelt wird, wie im Falle des Cartagena-Protokolls. Zu erwähnen ist noch, dass das Vorsorgeprinzip nicht nur im völkerrechtlichen Umweltschutz eine zentrale Rolle spielt, sondern auch auf den Ebenen des nationalen Rechts sowie des europäischen Gemeinschaftsrechts; beides kann als weiterer Anhaltspunkt für die weitreichende Anerkennung des Prinzips betrachtet werden. So ist das Prinzip heute eine tragende Säule des Umweltrechts vieler Staaten110, u. a. auch der Schweiz111. Gleiches gilt auch für das Umwelt___________ 108 Siehe Marr, in: EJIL 2000, 815 (insb. 818 f., 822 f., 827). In gleicher Richtung die Analyse des Urteils von Freestone, in: YIEL 1999, 25 (29 ff., insb. 32); zweifelnd (allerdings ohne eingehendere Begründung) demgegenüber Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 119; tendenziell ablehnend Morgan, in: Harvard International Law Journal 2002, 541 (546 ff.). 109 Marr, in: EJIL 2000, 815 (818 f.). 110 Für Nachweise auf eine Vielzahl von nationalen Rechtsordnungen s. Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 106 (Fn. 65); in Bezug auf den besonderen Bereich der Fischereigesetzgebung Marr, in: EJIL 2000, 815 (824, Fn. 46); de Sadeleer, in: RECIEL 2000, 144 ff., zeigt an den Beispielen Deutschlands, Frankreichs und Belgiens, dass das Vorsorgeprinzip sich auch auf der Ebene nationaler Rechtsprechung durchzusetzen be-
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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recht der Europäischen Union112, was sowohl im Primärrecht (Art. 174 Abs. 2 EGV) als auch im Sekundärrecht113 zum Ausdruck kommt und sich überdies in der Rechtsprechung des EuGH niedergeschlagen hat114. Insgesamt ist es daher gerechtfertigt, von einer bereits erfolgten völkergewohnheitsrechtlichen Verankerung des Prinzips auszugehen115. Im vorliegenden Zusammenhang dieser Untersuchung ist wesentlich, dass damit jene umfassende Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft angenommen werden kann, welche auch für ein Prinzip einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung vorauszusetzen ist. Da die intergenerationelle Zielsetzung den untrennbaren Kerngehalt des Vorsorgeprinzips darstellt, bezieht sich der in der gewohn___________ ginnt; Hinweise auf die Rechtsprechung in weiteren Staaten bei Erben, Vorsorgegebot im Völkerrecht, 241 ff. 111 Siehe Art. 1 Abs. 2 USG (SR 814.01); vgl. dazu aus der Literatur etwa Griffel, Grundprinzipien des schweizerischen Umweltrechts, 53 ff.; Rausch, in: Kommentar USG, Rz. 18 ff. zu Art. 1; Vallender/Morell, Umweltrecht, 131 ff. Aus der Rechtsprechung s. bspw. BGE 116 Ib 265, 267 E. 4a; BGE 117 Ib 34 E. 6a; BGE 124 II 219 E. 8a/b. 112 Vgl. dazu bspw. Douma, in: RECIEL 2000, 132 ff.; Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 98 ff.; Schröder, in: EUDUR, Bd. I, 181 (196 f.). 113 Explizit auf das Vorsorgeprinzip Bezug genommen wird beispielsweise in Annex IV i.V.m. Art. 2 Abs. 11 und Art. 3 der Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. 1996 L 257, 26). Implizit ist die Bezugnahme jedenfalls in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/42 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Habitat-Richtlinie; ABl. 1992 L 206, 7); s. zu beiden Richtlinien Douma, in: RECIEL 2000, 132 (134). Vgl. außerdem auch die Mitteilung der Kommission betreffend die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. 114 Hierzu allgemein Douma, in: RECIEL 2000, 132 (135 ff.). Vgl. außerdem Matthee, in: RECIEL 2000, 192 ff., zur Rolle des Vorsorgeprinzips im Urteil des EuGH in der Rs. C-6/99 (gentechnisch modifizierter Mais), Slg. 2000, I-1651. 115 In diesem Sinne schon Cameron, in: Interpreting the Precautionary Principle, 262 (insbesondere 283); Cameron/ Abouchar, in: Precautionary Principle and International Law, 29 (30 f., 52); McIntyre/Mosedale, in: Journal of Environmental Law 1997, 221 (235 ff.); Primosch, in: ZÖR 1996, 227 (232); Sands, Principles of International Environmental Law, 273 ff.; Schmidt/Kahl, in: EUDUR, Bd. II, 1408 (1485); wohl auch Kiss, in: International Legal Issues, 1079 (1089); in Bezug auf lebende Meeresressourcen Marr, in: EJIL 2000, 815 (823 ff.); allgemein zustimmend auch Bruha/Maass, in: Integrierte Gewässerpolitik in Europa, 69 (88 f.). Ausführlich zur Frage der völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Vorsorgeprinzips auch Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 103 ff., auch mit Nachweisen zu gegenteiligen Ansichten (ebd., 108, Fn. 73). Offengelassen wird die Antwort auf die Frage der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung von Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (14 f.). In die Richtung einer Einschätzung, dass dem Prinzip gewohnheitsrechtliche Geltung zukomme, geht die Bemerkung in der Mitteilung der Kommission betreffend die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. (13), das Prinzip habe sich „im internationalen Umweltrecht allmählich durchgesetzt und zu einem echten völkerrechtlichen Grundsatz von allgemeiner Geltung entwickelt“.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
heitsrechtlichen Anerkennung zum Ausdruck kommende Konsens der internationalen Gemeinschaft auch auf den Gemeinwohlaspekt der Interessen künftiger Generationen, wie er bereits im Nachhaltigkeitskonzept enthalten ist.
III. Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit 1. Materieller Gehalt Den faktischen Hintergrund des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit116 bildet der Umstand, dass sich Entwicklungsländer einerseits und Industriestaaten andererseits in Bezug auf Belastungen und Schädigungen der Umwelt in unterschiedlichen Positionen befinden, und zwar insbesondere in zweierlei Hinsicht117. Zum einen leisteten und leisten die Industriestaaten sowohl in historischer als auch in gegenwärtiger Sicht ungleich größere Beiträge zur globalen Umweltproblematik als die meisten Entwicklungsländer118. So haben die Entwicklungsländer beispielsweise bei der Verursachung der Zerstörung der Ozonschicht sowie des Klimawandels einen vergleichsweise sehr geringen Beitrag geleistet119. Ohne in den Genuss derselben mit dem sorglosen Umgang mit der Natur verbundenen sozioökonomischen Vorteile gekommen zu sein, sind sie aber gleichzeitig durch die Folgen in gleichem Ausmaß wie die Industrienationen belastet. Wie der mögliche kausale Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und Phänomenen wie Wüstenbil___________ 116
Vgl. allgemein zur Bedeutung des Prinzips etwa Chowdhury, in: Sustainable Development and Good Governance, 322 (332 ff.); Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (41 ff.); Porras, in: Greening International Law, 20 (27 ff.); Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, insb. 35 ff.; Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 515 ff.; dies., in: ZaöRV 2005, 967 (977 f.); Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 ff.; Stone, in: AJIL 2004, 276 ff.; Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (24 ff.). 117 Siehe zum Folgenden Cullet, in: EJIL 1999, 549 (561 f.); French, in: ICLQ 2000, 35 (46 ff.); Handl, in: Environmental Protection and International Law, 59 (83 ff.); Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 41 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 285 ff.; Timoshenko, in: Sustainable Development and International Law, 143 (154). 118 Staaten wie China, Indien oder Brasilien bilden diesbezüglich Ausnahmen. Allerdings berufen sie sich auf den Umstand, dass ihre wirtschaftliche Entwicklung im Vergleich zu den meisten Industriestaaten erst sehr viel später eingesetzt hat und sie demzufolge nach wie vor – und zwar auch bezüglich ihrer Emissionen – einen „Aufholbedarf“ geltend machen dürfen. 119 So wurden im Jahre 1989 mehr als achtzig Prozent der Gesamtmenge der Substanzen, die unter das Protokoll von Montreal über Stoffe fallen, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, in Europa, Japan und Nordamerika verbraucht; vgl. Handl, in: Environmental Protection and International Law, 59 (84, mit Fn. 173).
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dung und Meeresspiegelanstieg außerdem beispielhaft zeigt120, bedrohen die möglichen Folgen des Klimawandels viele Entwicklungsländer potentiell gar in einem größeren Ausmaß als die meisten Industriestaaten. Oder, mit anderen Worten ausgedrückt: Während die Industriestaaten verglichen mit den Entwicklungsländern in unverhältnismäßiger Weise vom Industrialisierungsprozess (aus welchem die meisten Umweltprobleme resultieren) profitiert haben, belasten die Kosten dieser Entwicklung in Form globaler Umweltschäden alle Staaten gleichermaßen, wenn nicht die Entwicklungsländer teilweise sogar stärker121. Zum andern ist aber auch eine höchst ungleiche Verteilung der Ressourcen, die zur Bewältigung der diversen Probleme notwendig sind, offensichtlich: Insbesondere besitzen die Entwicklungsländer im Verhältnis zu den Industriestaaten die wesentlich geringeren finanziellen und technologischen Mittel, um die notwendigen Maßnahmen sowohl zur Bekämpfung der Ursachen als auch der Folgen von Umweltbedrohungen zu ergreifen. Diese Ausgangslage führt unmittelbar zur Fragestellung der Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den verschiedenen Staaten122, und hier setzt denn auch das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit an: Dieses geht einerseits von einer von allen Staaten gemeinsam – mithin vom Kollektiv der globalen Staatengemeinschaft – zu tragenden Verantwortung für die Berücksichtigung von Umweltbelangen aus. Das Prinzip baut damit letztlich auf jener grundsätzlichen Gleichheit aller Staaten in ihren Rechten und Pflichten auf, wie sie auch im Grundsatz der souveränen Gleichheit der Mitglieder der Staatengemeinschaft zum Ausdruck kommt123. Allerdings ist angesichts der genannten Ungleichheit bei der Verursachung der Problemstellungen offensichtlich, dass der Maßstab der Gerechtigkeit im gegebenen Zusammenhang eine gleiche Behandlung der Staaten ausschließt124. Vielmehr kann ein Prinzip, das der gegebenen Ausgangslage gerecht werden soll, nicht für alle Staaten die gleichen Konsequenzen entfalten. Letztlich muss der zu wählende Ansatz also in den betroffenen Bereichen den Grundsatz der Gleichheit der Staaten relativieren, der (zumindest in seinem ursprünglichen Kern) von einer absoluten Gleichheit der Staaten ohne Berücksichtigung ihres wirtschaftlichen, politischen oder sonstigen Gewichts ausgeht125. Vielmehr gilt es, materielle Ge___________ 120
Dazu im 3. Kap., A. I. 1. c) aa). Vgl. Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (43); Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 (123). 122 Siehe zu Gerechtigkeitsfragen im Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern allgemein Beck, Differenzierung von Rechtspflichten, 193 ff.; insbesondere zur Sicht der Entwicklungsländer bspw. Mensah, in: Environment after Rio, 33 (42). 123 Siehe Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 UNO-Charta. 124 Allgemein zur Problemstellung auch Cullet, in: EJIL 1999, 549 (553 ff.). 125 Allerdings wird dieser Kern des Gleichheitsgrundsatzes in verschiedener Hinsicht durchbrochen. Dies ist einerseits durch materielle Gerechtigkeitsüberlegungen gerecht121
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
rechtigkeitsüberlegungen anzustellen, welche sowohl die Tatsache der unterschiedlichen Beiträge zur Entstehung der fraglichen Probleme als auch den Umstand der ungleichen Kapazitäten zu deren Bewältigung berücksichtigen. Bezüglich des erstgenannten Faktors ist eine Anleihe bei einer weiteren rechtlichen Formel möglich, die gerade im Umweltvölkerrecht eine konkrete Rolle spielt. Angesprochen ist damit das umweltvölkerrechtliche Verursacherprinzip126. Diesem zufolge soll grundsätzlich der Urheber (Verursacher) von Umweltbelastungen die Kosten von deren Vermeidung, Verringerung oder Beseitigung tragen, nicht dagegen die Geschädigten oder die Allgemeinheit127. Zwar zielt das Verursacherprinzip dabei primär darauf hin, die Frage der Kostentragung im konkreten Einzelfall eines Umweltschadens zu beantworten. Der zugrunde liegende Gedanke, dass der Urheber die Verantwortung für eine Umweltschädigung tragen soll, kann aber auch auf die Ebene der Gerechtigkeitsfrage in den allgemeinen Verhältnissen zwischen den Staaten übertragen werden. Die entsprechende Folgerung ist, dass die Mitglieder der Staatengemeinschaft insofern, als sie ungleich zur Entstehung von Umweltproblemen beige___________ fertigt, wie das hier angesprochene Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit deutlich macht. Teilweise sind es aber durchaus auch (macht-)politische Gründe, die dazu führen, dass die Mitglieder der Staatengemeinschaft durchaus nicht die selben Rechte haben. Ein wichtiges Beispiel bildet hier der Umstand, dass nach Art. 23 UNO-Charta lediglich fünf Staaten einen Anspruch auf einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat haben. Vgl. zum Ganzen etwa Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 275. 126 Auf die Bedeutung des Verursacherprinzips für das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit weist auch Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 (122), hin. Vgl. auch Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 41 ff., wonach dem Verursacherprinzip wie auch dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit die gleiche „Vorstellung“ von der größeren Verantwortung des Problemverursachers zugrundeliege. Indessen kommt die Autorin mit Blick auf die Verhandlungsgeschichte von Grundsatz 7 Rio-Deklaration und Art. 3 Abs. 1 Klimakonvention zum Schluss, die beiden Prinzipien seien inhaltlich voneinander getrennt zu betrachten; insbesondere lasse sich das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit nicht als rechtliche Konkretisierung des Verursacherprinzips verstehen. Auf Kellersmanns Position wird weiter hinten im vorliegenden Abschnitt noch näher eingegangen. Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (26 f.), schließlich räumt zunächst ein, dass die Beiträge gewisser Staaten zur Schädigung des Klimas bei der Beantwortung der Frage nach der Unterschiedlichkeit der Verantwortlichkeit zu berücksichtigen sind. Die genaue Rolle des hinter dem Verursacherprinzip stehenden Gedankens im Rahmen des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit lässt er dann aber im Unklaren, wenn er anschließend einzig festhält: „However, it would be incorrect to connect the principle directly with the polluter-pays principle. The principle of common but differentiated responsibility reflects equity rather than the polluter-pays principle.“ (Ebd., 27). 127 Zur Bedeutung des Verursacherprinzips im Zusammenhang des Umweltvölkerrechts s. ausführlich Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 96, 152 ff., m.w.N.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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tragen haben bzw. beitragen, ganz allgemein nicht in gleicher Weise bei der Bewältigung der Folgen des Fehlverhaltens in die Pflicht genommen werden können. Sondern es muss eben gerade eine Abstufung der Verantwortlichkeit angestrebt werden, wobei die Beiträge bei der Verursachung das wesentliche Abstufungskriterium bilden. Den zweiten bei der Beantwortung der Gerechtigkeitsfrage zu berücksichtigenden Faktor bildet die ungleiche Fähigkeit der Mitglieder der Staatengemeinschaft zur Bewältigung von Umweltproblemen. Gemeint ist damit zum einen die Fähigkeit, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Ursachen von Umweltbedrohungen und -schädigungen zu beseitigen oder jedenfalls abzubauen. Zum andern ist aber auch die Fähigkeit angesprochen, mit den ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen bereits eingetretener und wahrscheinlicher künftiger Umweltschäden umzugehen. Beides erfordert entsprechende Kapazitäten auf verschiedensten Ebenen: Zu denken ist nicht nur an die finanziellen Mittel sowie die technologischen Kenntnisse, um wirksame Maßnahmen in die Wege zu leiten und dauerhaft aufrecht zu erhalten; sondern erforderlich sind auch bestimmte gesellschaftliche, politische und rechtliche Strukturen, um Probleme zu lösen, die oftmals auf komplexen Ursachen beruhen und dabei insbesondere eng mit ökonomischer Armut in Verbindung stehen. In Bezug auf die Frage, wie die individuelle Verantwortlichkeit der Mitglieder der Staatengemeinschaft zu bemessen sei, kann angesichts der enormen Disparitäten zwischen denselben also keineswegs der gleiche Maßstab angewandt werden. Die wesentliche Frage, die mit Hilfe des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit beantwortet werden soll, ist demnach128: Wie soll sich die Tatsache der unterschiedlichen Beiträge der verschiedenen Staaten bei der Verursachung der Umweltprobleme auf die Verteilung der Lasten auswirken, die mit den verschiedenen Aspekten der Problembewältigung verbunden sind? Die Frage bildete insbesondere im Zusammenhang der Konferenz über Umwelt und Entwicklung von Rio eine entscheidende Rolle, und entsprechend hat sie in ausgeprägter Weise Niederschlag in der Rio-Deklaration gefunden. Im Zentrum steht insofern Grundsatz 7 Rio-Deklaration, der folgenden Wortlaut hat: „Die Staaten arbeiten im Geist einer weltweiten Partnerschaft zusammen, um die Gesundheit und die Unversehrtheit des Ökosystems der Erde zu erhalten, zu schützen und wiederherzustellen. Angesichts der unterschiedlichen Beiträge zur Verschlechterung der globalen Umweltsituation tragen die Staaten gemeinsame, jedoch unter-
___________ 128 Anders indessen Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 41 ff.; zu diesem Ansatz sogleich im Text.
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schiedliche Verantwortlichkeiten. Die entwickelten Staaten erkennen ihre Verantwortungen an, die sie beim weltweiten Streben nach nachhaltiger Entwicklung im Hinblick auf den Druck, den ihre Gesellschaften auf die globale Umwelt ausüben, sowie im Hinblick auf die ihnen zur Verfügung stehenden Technologien und Finanzmittel tragen.“
Dabei kommt deutlich zum Ausdruck, dass die von allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft geteilte Zielsetzung der gemeinsamen, partnerschaftlichen Bewältigung der Umweltproblematik (erster Satz) unter Berücksichtigung der beiden zuvor erwähnten Gerechtigkeitsfaktoren erfolgen soll, die eine ungleiche Inpflichtnahme der Staaten erfordern: Nach der Nennung der Kernaussage des Prinzips der gemeinsamen, aber geteilten Verantwortlichkeit (zweiter Satz) wird dies ausdrücklich bezüglich der Rolle der entwickelten Staaten klar gestellt, anerkennen diese doch in zweierlei Hinsicht ihre besonderen Verantwortungen (dritter Satz). Zum einen impliziert die Anerkennung des besonderen Drucks der Industriestaaten auf die globale Umwelt die gleichzeitige Übernahme einer entsprechenden größeren Verantwortlichkeit bei der Bekämpfung der Ursachen und der Bewältigung der Folgen. Zum andern schließt die Anerkennung der Tatsache, dass den Industriestaaten bestimmte Technologien und Finanzmittel zur Verfügung stehen, mit ein, dass mit der diesbezüglichen Überlegenheit auch eine stärkere Verpflichtung zum Einsatz der vorhandenen Fähigkeiten im Interesse aller einhergeht. Grundsatz 7 Rio-Deklaration ist im Übrigen auch im unmittelbaren Zusammenhang mit Grundsatz 6 zu sehen. Dieser betont, dass der besonderen Situation und den besonderen Bedürfnissen der Entwicklungsländer Vorrang gebührt, während gleichzeitig internationale Maßnahmen im Bereich der Umwelt auf die Interessen aller Länder gerichtet sein sollen. Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit ist außerdem besonders in der Klimakonvention präsent, wo es in Art. 3 Abs. 1 (im Zusammenhang mit den zu beachtenden Grundsätzen) und in Art. 4 Abs. 1 (im Zusammenhang mit den Verpflichtungen der Vertragsparteien) explizit genannt wird. Art. 3 Abs. 1 setzt dabei das Prinzip ausdrücklich in Bezug zur „Gerechtigkeit“, auf deren Grundlage die Vertragsparteien das Klimasystem schützen sollen, und folgert, dass die Industriestaaten bei der Bekämpfung des Klimawandels und dessen Auswirkungen die führende Rolle übernehmen sollen. Art. 3 Abs. 2 betont außerdem zusätzlich, dass der besonderen Ausgangslage der Entwicklungsländer gerecht zu werden ist; dies wird zudem für die von den Folgen des Klimawandels am unmittelbarsten betroffenen Entwicklungsländer noch weiter hervorgehoben. Eine konkrete rechtliche Wirkung des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit in Bezug auf den Klimaschutz besteht in der Statuierung unterschiedlicher Pflichten für verschiedene „Kategorien“ von Staaten. Bereits Art. 4 Abs. 1 Klimakonvention, der Verpflichtungen statuiert,
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welche alle Vertragsparteien gleichermaßen betreffen, ist mit einem einschränkenden Hinweis versehen, wonach die gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten sowie die „speziellen nationalen und regionalen Entwicklungsprioritäten, Ziele und Gegebenheiten“ zu berücksichtigen seien. Zudem enthalten Art. 4 Abs. 2-5 für die Vertragsstaaten, die als entwickelte Länder gelten, besondere Verpflichtungen. Neben besonderen Berichtspflichten sowie der Verpflichtung zur Bereitstellung finanzieller Mittel und technologischer Unterstützung zugunsten der Entwicklungsländer ist dabei an erster Stelle die Durchführung klimaschützender Maßnahmen zu nennen. Gemäß Art. 4 Abs. 2 Bst. a müssen die Industriestaaten im Rahmen zu beschließender nationaler Politiken Maßnahmen im Hinblick auf die Abschwächung des Klimawandels ergreifen, indem Treibhausgasemissionen begrenzt und bestehende Treibhausgassenken und -speicher geschützt und erweitert werden. Dabei wird betont, dass diese Politiken und Maßnahmen die (infolge der größeren Verantwortlichkeit auferlegte) Führungsrolle der Industriestaaten bei der Bekämpfung der Klimaänderung zum Ausdruck bringen sollen. Demgegenüber sind die Entwicklungsländer im Rahmen der für alle Vertragsparteien geltenden Verpflichtungen nach Art. 4 Abs. 1 Bst. b lediglich dazu aufgerufen, nationale Programme zu erarbeiten und umzusetzen, in denen Maßnahmen zur Abschwächung des Klimawandels durch Emissionsbekämpfung „vorgesehen“ sind. Von der tatsächlichen Durchführung dieser klimaschützenden Maßnahmen ist in diesem alle Vertragsparteien betreffenden Teil allerdings nicht die Rede. Art. 4 Abs. 6 nennt zudem als weitere Kategorie von Vertragsparteien die (ehemals planwirtschaftlichen) Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft, denen im Vergleich zu den anderen entwickelten Ländern eine erhöhte Flexibilität bei der Erfüllung ihrer Vertragspflichten zugestanden wird. Schließlich gilt im Rahmen des völkerrechtlichen Klimaschutzes eine besondere Aufmerksamkeit noch verschiedenen Gruppen von Staaten, die in Bezug auf die Auswirkungen der Klimaänderung besonders verletztlich sind (Art. 4 Abs. 8), darunter insbesondere die kleinen Inselstaaten sowie Staaten mit tiefliegenden Küstengebieten. Das Prinzip der gemeinsamen, jedoch unterschiedlichen Verantwortlichkeit wurde – unter expliziter Bezugnahme in Art. 10 – auch im die Klimakonvention konkretisierenden Kyoto-Protokoll berücksichtigt: Demnach haben die Industriestaaten konkrete Reduktions- bzw. Begrenzungsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen sicherzustellen. Dabei werden diese quantitativen Limiten nach den tatsächlichen bisherigen Emissionen festgelegt, unter gewisser Berücksichtigung der wirtschaftlichen Kapazitäten der Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft. Die wichtigste Wirkung des Prinzips besteht aber auch hier darin, dass die Entwicklungsländer von spezifischen Verpflichtungen zur Ergreifung von Klimaschutzmaßnahmen ausgenommen und demnach weder auf Emissionsreduktionen noch auf Höchststeigerungsraten festgelegt sind.
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Einen anderen Ansatz in Bezug auf die Bedeutung des unterschiedlichen Beitrags zur Verursachung globaler Umweltprobleme im Rahmen des Prinzips verfolgt Kellersmann in ihrer umfassenden Untersuchung zum Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit129: Gestützt auf die Inhalte von Grundsatz 7 RioDeklaration sowie Art. 3 Abs. 1 Klimakonvention soll danach der zentrale Gedanke des Prinzips darin bestehen, dass die Industrienationen beim Schutz der globalen Umwelt aufgrund ihrer größeren wirtschaftlichen (und entsprechend technologischen) Fähigkeiten eine führende Rolle einzunehmen haben; dies aber ausdrücklich nicht wegen ihres größeren Beitrags zur Verursachung von Umweltproblemen. Mit anderen Worten sei als wesentlich für das Prinzip die gegebene Tatsache unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungsstufen zu betrachten; demgegenüber könnten aber aus den unterschiedlichen Beiträgen der Staaten zur Verschlechterung der Umweltsituation keine rechtlichen Konsequenzen abgeleitet werden130. Insbesondere sei somit das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit klar vom Verursacherprinzip abzugrenzen, das unmittelbar und mithin als einziges auf dem Gedanken der Verantwortlichkeit als Konsequenz unterschiedlicher Verursachungsbeiträge fußt. Die Autorin begründet ihre Sichtweise des Prinzips in erster Linie mit dem Hinweis auf die mangelhafte Bereitschaft der Industriestaaten, in den einschlägigen völkerrechtlichen Dokumenten eine ausdrückliche Bezugnahme des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit auf das Verursacherprinzip zu akzeptieren. Ihre Überlegungen sind dabei allerdings nicht völlig überzeugend. Dies gilt insbesondere bezüglich des Wortlauts von Grundsatz 7 Rio-Deklaration, zweiter Satz („Angesichts der unterschiedlichen Beiträge zur Verschlechterung der globalen Umweltsituation tragen die Staaten gemeinsame, jedoch unterschiedliche Verantwortlichkeiten.“). Der Autorin zufolge wirke sich das Widerstreben der Industriestaaten131, spezifische Verpflichtungen anzuerkennen, dahingehend aus, dass das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit als solches nicht als auf dem Gedanken der unterschiedlichen Verursachungsbeiträge basierend verstanden werden könne132. Indessen kann der (mehrheitliche) Widerstand der Industrienationen hinsichtlich der möglichen praktischen Konsequenzen, die aus dem Prinzip resultieren (können), kein Grund dafür sein, ohne weiteres ein wichtiges Element des dem Prinzip zugrunde liegenden theoretischen Konzepts zu verwerfen. Diesbezüglich muss nämlich auch berücksichtigt werden, dass der höhere wirtschaft-
___________ 129
Siehe Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 41 ff. Siehe ebd., 74. 131 Dabei nennt die Autorin, ebd., 47, allerdings einzig ein entsprechendes „interpretative statement“ der USA; die Position der „übrigen Industriestaaten“ wird währenddessen ohne näheren Beleg als dem Standpunkt der USA entsprechend angenommen. Auch an anderer Stelle (ebd., 326 f.), im Zusammenhang mit der Frage des Bestehens einer Rechtsüberzeugung in Bezug auf das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit, leitet die Autorin das „Bewusstsein der Industriestaaten“ ohne weitere Bedenken aus der Position der USA ab. Ein solches Vorgehen muss indessen angesichts der tief gehenden Differenzen, die etwa in der (gerade für das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit bedeutsamen) Klimapolitik zwischen den USA und den meisten anderen Industriestaaten bestehen, als unangemessen bezeichnet werden; s. zu den unterschiedlichen politischen Standpunkten in klimapolitischen Fragen noch hinten in diesem Kap., C. II. 2. c) und III. 1. 132 Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 47 f. 130
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liche Entwicklungsstand der Industrieländer (den die Autorin als Kernaspekt des Konzepts bezeichnet), in beträchtlichem Ausmaß eine Folge der anhaltenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch eben diese Staaten ist. Die stärkere Verantwortlichkeit gewisser Staaten einzig mit der Tatsache der höheren ökonomischen Leistungsfähigkeit zu begründen, birgt schlicht die Gefahr, eine bestimmte Tatsache zu übersehen – nämlich den engen Zusammenhang zwischen Ressourcennutzung (oder vielmehr -verschwendung) und wirtschaftlicher Macht. Zu Kellersmanns Ansatz gehört überdies der Versuch, die Tatsache abzuschwächen, dass in Art. 3 Abs. 1 Klimakonvention die jeweilige Leistungsfähigkeit der Vertragsparteien zusätzlich zu deren unterschiedlichen Verantwortlichkeiten genannt wird133. Zwar räumt sie zunächst ein, dieser Passus könne dazu führen, dass die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten nicht nur auf den ungleichen Fähigkeiten der Staaten beruhen, sondern auch auf deren unterschiedlichen Beiträgen zum Problem des Klimawandels. Indessen stellt die Autorin anschließend die gegenteilige Behauptung auf, die unterschiedlichen Beiträge der Staaten könnten gerade nicht als rechtliche Begründung für deren unterschiedlichen Verantwortlichkeiten verstanden werden. Sie erklärt dies mit dem Hinweis, die Begründung für die differenzierten Verantwortlichkeiten gemäß Art. 3 Abs. 1 Klimakonvention erfolge nicht in eben diesem Artikel selbst, sondern vielmehr in der Präambel des Abkommens134. Hierzu ist Folgendes zu bemerken: Klar ist, dass die in der Präambel eines völkerrechtlichen Übereinkommens enthaltenen Aussagen im Verhältnis zum operativen Vertragstext keine zusätzlichen rechtlichen Verpflichtungen enthalten135. Indessen kommt diesen Aussagen für die Auslegung der operativen Vertragsbestimmungen eine wichtige Bedeutung zu: „If the preamble sets forth the aim and purpose of the treaty, expressing the intentions of the parties, enhanced importance attaches to the preamble as the introduction to the substance of the treaty. According to the teleological principle of treaty interpretation, which focuses on the subjective elements of the treaty, a preamble can be of great importance for establishing the meaning of treaty provisions and clarifying their purport.“136 Dem Umstand, dass die Konvention in der Präambel auf die Tatsache der unterschiedlichen Verursachungsbeiträge Bezug nimmt, muss also hinsichtlich des tatsächlichen Gehalts des Prinzips keineswegs die von der Autorin beigemessene Bedeutung zukommen. Sondern es lässt sich ohne weiteres auch der (im Ergebnis gegenteilige) Schluss ziehen, der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 werde durch die Aussage der Präambel unterstrichen.
Einen wichtigen Aspekt des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit bildet die bereits angesprochene finanzielle und technologische Unterstützung der Entwicklungsländer durch die Industriestaaten. Eine größere Verantwortlichkeit der Industriestaaten impliziert danach, dass diese gegenüber den Entwicklungsländern zur Hilfestellung im Hinblick auf die Bewältigung der Folgen der Umweltschädigung verpflichtet sind. Zum einen ___________ 133
Ebd., 43 ff. Der entsprechende Ausschnitt der Präambel lautet: „(...) in Anbetracht dessen, dass der größte Teil der früheren und gegenwärtigen weltweiten Emissionen von Treibhausgasen aus den entwickelten Ländern stammt, dass die Pro-Kopf-Emissionen in den Entwicklungsländern noch verhältnismäßig gering sind (...)“. 135 Siehe Treviranus, in: EPIL, Vol. III, 1097 (1098). 136 Ebd., 1097 (1097 f.). 134
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sollen die finanziellen Mittel der Entwicklungsländer zur Umsetzung der notwendigen Maßnahmen vergrößert werden; zum andern sollen die Entwicklungsländer durch den Transfer von Technologie137 und anderweitige technische Unterstützung in den Stand gesetzt werden, die Folgen bestehender Umweltprobleme zu bewältigen sowie künftige Schäden zu vermeiden. Entsprechende Bestimmungen bilden wiederum insbesondere einen wichtigen Bestandteil des völkerrechtlichen Vertragswerks zum Schutz des Klimas; neben den Grundlagen der Klimakonvention (Art. 4 Abs. 3-5) gilt dies auch für deren Konkretisierung durch das Kyoto-Protokoll138. In ähnlicher Weise äußert sich auch die im Jahr 2001 unterzeichnete Konvention über schwerflüchtige organische Schadstoffe (Art. 13 Abs. 2); dabei werden in diesem besonderen Kontext neben den Entwicklungsländern auch die Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft als zu begünstigende Vertragsparteien genannt. Besonders zu erwähnen ist außerdem die Biodiversitätskonvention, die in Art. 20 Abs. 2 ebenfalls die Verpflichtung der Industriestaaten enthält139, zugunsten der Entwicklungsländer „neue und zusätzliche finanzielle Mittel“ bereitzustellen, um so einen Teil der Lasten mitzutragen, welche für diese Länder bei der Erfüllung der jeweiligen Vertragspflichten entstehen. Art. 16 Abs. 1 Biodiversitäts-Konvention verlangt außerdem die Gewährleistung oder Erleichterung des Transfers von „Technologien, die für die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt von Belang sind oder die genetische Ressourcen nutzen, ohne der Umwelt erhebliche Schäden zuzufügen“140; Abs. 2 nimmt dabei auf die Interessen der Entwicklungsländer Bezug, indem für deren Zugang zu technologischen Kenntnissen möglichst günstige Bedingungen gefordert werden. Insofern kommt dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit auch in der Biodiversitätskonvention eine wichtige Funktion zu141, auch wenn es nirgends explizit genannt wird. Ebenfalls keine ausdrückliche Nennung erfährt das Prinzip im MontrealProtokoll über Stoffe, welche die Ozonschicht abbauen, welches seit dem Jahr 1987 die Ozonschutzkonvention ergänzt. Gleichwohl widerspiegelt sich die gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortlichkeit der Staaten auch bereits ___________ 137
Vgl. diesbezüglich Stoll, in: BerDGV 2003, 275 ff. Siehe hierzu noch die Ausführungen zur Bonner Vereinbarung im Rahmen der Verhandlungen um das Kyoto-Protokoll, hinten in diesem Kap., C. II. 3. 139 Vgl. außerdem auch Art. 8 Bst. m, Art. 9 Bst. e. 140 Hier ist auf die Merkwürdigkeit hinzuweisen, dass eine Technologie offenbar schon dann als umweltfreundlich gelten darf (denn dieses Kriterium muss im Rahmen der Biodiversitätskonvention ja im Vordergrund stehen), wenn sie keine erhebliche Schädigung der Umwelt hervorruft. 141 Vgl. auch Boyle, in: Environment after Rio, 111 (122); Chowdhury, in: Sustainable Development and Good Governance, 322 (335 f.); ausführlich Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 208 ff. 138
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hier142. Auch in diesem Zusammenhang kommen nämlich den Industriestaaten aufgrund ihrer Rolle als hauptsächliche Urheber der Problematik bei der Bekämpfung des Ozonschichtabbaus stärkere Verpflichtungen zu. So sind die Industriestaaten ebenfalls verpflichtet, die Entwicklungsländer mit den finanziellen und technologischen Ressourcen zu versehen, die diese bei der Erfüllung ihrer Vertragspflichten nicht selbst aufbringen können (Art. 10)143. Vertragsstaaten, die als Entwicklungsländer gelten, sind bei der Umsetzung der Maßnahmen zur Kontrolle der vom Protokoll geregelten ozonschädigenden Stoffe zudem nicht an die gleichen Fristen gebunden wie die Industriestaaten (Art. 5 Abs. 1). Den Verpflichtungen der entwickelten Länder, zugunsten der Entwicklungsländer finanzielle und technologische Ressourcen bereitzustellen, steht die Verpflichtung der Entwicklungsländer gegenüber, die vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt umzusetzen. Diese Verknüpfung erfolgt freilich sowohl gemäß Art. 4 Abs. 7 Klimakonvention, Art. 20 Abs. 4 BiodiversitätsKonvention, Art. 13 Abs. 4 Konvention über schwerflüchtige organische Schadstoffe als auch gemäß Art. 5 Abs. 5 Montreal-Protokoll in einer Weise, welche den Verpflichtungen der Industriestaaten die Hauptrolle zufallen lässt: Es wird nämlich festgestellt, dass die Entwicklungsländer ihre Verpflichtungen aus diesen Übereinkommen nur dann wirksam in die Tat umsetzen können, wenn die industrialisierten Staaten durch die Erfüllung ihrer Verpflichtungen die finanziellen und technologischen Voraussetzungen hierfür schaffen. Insofern ist also klargestellt, dass im Rahmen der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit die Erfüllung der Pflichten der Entwicklungsländer von der Erfüllung jener der Industriestaaten abhängig ist144.
___________ 142 Siehe auch Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, insb. 130 ff. 143 Insbesondere sind von den Industriestaaten Beiträge an einen als Finanzierungsmechanismus zugunsten der Entwicklungsländer geschaffenen Fonds zu leisten (Art. 10 Abs. 2, 6). Der Finanzierungsmechanismus nach Art. 10 wurde mit der Änderung von 1990 ins Protokoll eingefügt. 144 An dieser Stelle ist auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die bei der Bereitstellung der finanziellen Mittel durch die entwickelten Länder auftreten: Festzustellen ist allgemein, dass der globale Umweltfonds (Global Environment Facility), der durch Art. 21 Abs. 3 Klimakonvention und Art. 39 Biodiversitäts-Konvention vorläufig als verantwortliche Einrichtung zur Verwaltung der finanziellen Mittel bezeichnet worden war, keineswegs im erforderlichen Maß funktioniert. Vgl. dazu Malanczuk, in: Sustainable Development and Good Governance, 23 (48); zu den Unzulänglichkeiten der GEF insbesondere im Rahmen der Klimakonvention Werksman, in: RECIEL 1998, 147 (149 f.); allgemein zur GEF auch Boisson de Chazournes, in: AFDI 1995, 612 ff., sowie Ehrmann, in: ZaöRV 1997, 565 ff.
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2. Aspekt der Gemeinwohlorientierung Die im Zusammenhang mit der allfälligen konstitutionellen Bedeutung des Grundsatzes der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit verlangte Gemeinwohlorientierung kann in Folgendem erblickt werden: Die differenzierte Inpflichtnahme bei der Bekämpfung von globalen Umweltproblemen, die durch die unterschiedlichen Beiträge zur Verursachung der Problematik gerechtfertigt ist, zielt gerade darauf hin, dass das gemeinsame Wohl aller (das für alle Beteiligten unbesehen ihrer unterschiedlichen „Schuld“ grundsätzlich das gleiche ist) wahrgenommen werden kann. Die Gemeinsamkeit der Interessen bzw. das Gemeinwohl ergibt sich hier aus der gemeinsamen Betroffenheit durch Schäden und Risiken sowie durch die Notwendigkeit, den bestehenden Gefahren wirksam zu begegnen145. Angesichts der Dimensionen der globalen Umweltprobleme – an erster Stelle des Klimawandels, aber auch der Zerstörung der Ozonschicht oder der Vernichtung biologischer Vielfalt – bildet dabei die Beteiligung aller Verursacher an den Gegenmaßnahmen eine der wichtigsten Voraussetzungen. Notwendig ist insbesondere die Mitwirkung der bei einer konkreten Problemstellung am meisten implizierten Staaten, beispielsweise bei der Frage des Klimawandels der wichtigsten (derzeitigen und potentiellen) Emittentenstaaten von Treibhausgasen. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich, dass im Interesse der Allgemeinheit auch die wirtschaftlich und technologisch benachteiligten Staaten in die Lage gesetzt werden müssen, aktiv zu handeln. Diese Notwendigkeit bezieht sich einerseits auf die Ergreifung von Maßnahmen zur Eindämmung der bereits vorhandenen und unmittelbar drohenden Schäden. Andererseits müssen aber auch alle Staaten die Fähigkeit erlangen, ihr umweltrelevantes Verhalten jetzt und in Zukunft so zu gestalten, dass auch künftige Schäden und Risiken so weit wie möglich vermieden werden können. Insofern ist das Gemeinwohl in seiner heutigen wie auch in seiner künftigen Dimension von der Handlungsfähigkeit aller Mitglieder der internationalen Gemeinschaft abhängig, und das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit impliziert die Aspekte sowohl der intra- wie auch der intergenerationellen Gerechtigkeit146.
___________ 145
Vgl. auch Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 48 f., zum Aspekt der Gemeinsamkeit im Prinzip. 146 Zur Verbindung dieser beiden Aspekt des Prinzips s. auch Wolfrum, in: International, Regional and National Environmental Law, 3 (26). Vgl. zum Verhältnis außerdem etwa Kloepfer, Umweltgerechtigkeit, 24 ff.
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3. Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung a) Das Kriterium des normativen Gehalts Sowohl die besondere Inpflichtnahme der Industriestaaten als auch die Zielsetzung, die Entwicklungsländer zur Reaktion auf Umweltprobleme zu befähigen, können nach dem soeben Gesagten als unerlässliche Strategien zur Umsetzung des konstitutionellen Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung verstanden werden. Unabhängig davon fragt es sich aber auch in Bezug auf das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit wiederum, ob dessen normativer Gehalt die Funktion als konstitutionelles Prinzip im hier relevanten normtheoretischen Sinn ermöglicht. In dieser Hinsicht darf der materielle Gehalt einerseits auf einer relativ abstrakten normativen Ebene verbleiben, wie die allgemeinen theoretischen Überlegungen147 gezeigt haben und danach auch im konkreten Zusammenhang des Vorsorgeprinzips148 deutlich geworden ist. Andererseits aber ist erforderlich, dass ein rechtlicher Sollenssatz in hinreichend gehaltvoller Weise statuiert wird – d. h. derart, dass ihm für konkretere Fragestellungen eine Verhaltensmaxime (wenn auch nicht die einzige mögliche Verhaltensweise) entnommen werden kann. Hier zeigt sich freilich, dass bezüglich des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit eine derartiger zentraler Sollenssatz nicht ohne weiteres erkennbar ist. Das auf der Tatbestandsseite zentrale Element der unterschiedlichen Verantwortlichkeit bestimmter Staaten (sprich der grundsätzlich größeren „Schuld“ der Industriestaaten) wird zunächst auf der Rechtsfolgeseite gewissermaßen wiederholt: Die unterschiedliche Verantwortlichkeit hinsichtlich der Urheberschaft von Umweltproblemen führt zu einer unterschiedlichen Verantwortlichkeit hinsichtlich der entsprechenden Lastentragung. Dies kann denn auch gewissermaßen als Kerngehalt des Prinzips verstanden werden149. Es fragt sich allerdings, ob sich die allfällige konstitutionelle Funktion des Prinzips auf eben diesen Kerngehalt und die entsprechende Richtungsvorgabe stützen kann. Festzustellen ist nämlich, dass dieser Kerngehalt alleine offenbar zu vage ist, um eine konkrete Verhaltensmaxime erkennen zu lassen. ___________ 147
Siehe das 3. Kap., B. II. und III. Siehe zuvor in diesem Kap., B. II. 3. a). 149 Inhaltlich enger ist demgegenüber das Verständnis von Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 52; danach soll den Kerngehalt des Prinzips die Pflicht der Industriestaaten bilden, aufgrund ihrer stärkeren wirtschaftlichen Fähigkeiten (weniger aber aufgrund ihres größeren Beitrags bei der Problemverursachung) beim gemeinsamen Schutz der globalen Umwelt die Führungsrolle zu übernehmen. 148
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Zu einem ähnlichen Schluss kommt im Ergebnis auch Kellersmann150. Danach gebe das Prinzip eher ein abstraktes materielles Leitbild vor, dessen genauer Inhalt dann im Einzelnen davon abhänge, in welcher Form es sich in den globalen Umweltschutzübereinkommen niederschlage. Widersprüchlich argumentiert die Autorin indessen in Bezug auf die normtheoretischen Überlegungen, mit denen dieser Schluss verknüpft ist: So hält sie zunächst fest, ein Prinzip fordere „kein bestimmtes Verhalten, muss aber bei jeder Entscheidung berücksichtigt und in die Abwägung einbezogen werden“151. Unmittelbar anschließend ist dann aber die Rede davon, hinsichtlich seiner Implementierbarkeit (als gewohnheitsrechtliches Prinzip) sei das „Konzept“ der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten darauf hin zu überprüfen, „ob es darauf gerichtet ist, einen Sachverhalt in dem Sinne zu regeln, dass es den Staaten ein bestimmtes Verhalten in den internationalen Umweltbeziehungen als unmittelbar ‚gesollt‘ vorschreibt“. Danach kommt sie dann zur Einschätzung, das „Konzept“ genüge dieser Voraussetzung bezüglich der Implementierbarkeit; denn es enthalte die „klare Verhaltensmaxime in Bezug auf die Gestaltung der Vertragspraxis“, „sich gemeinsam an Verhandlungen über völkerrechtliche Instrumente zu beteiligen und dabei die verschiedenen Staatengruppen unterschiedlichen Verpflichtungen und Empfehlungen zu unterwerfen, die so weit wie möglich ihre jeweilige Verantwortlichkeit widerspiegeln“152. Dass sich die Einschätzung des Vorliegens einer „klaren Verhaltensmaxime“ kaum aufrechterhalten lässt, zeigen allerdings die folgenden Überlegungen.
Die Aussage an sich, dass jenen Staaten mit einer größeren Verantwortlichkeit (bzw. „Schuld“) bezüglich der Verursachung auch eine größere Verantwortlichkeit (bzw. „Pflicht“) bezüglich der Lastentragung zukommt, lässt noch sehr unterschiedliche Interpretationen zu. Worin genau die „Führungsrolle“ der am stärksten verantwortlichen Staatenkategorie – allgemein der Industriestaaten – bestehen soll, ist zwar in einigen Umrissen zu erkennen. Die konkreten Hinweise darauf finden sich in den zuvor erwähnten materiellen Ausgestaltungen des Prinzips, also etwa den weiter gehenden Verpflichtungen der Industriestaaten bei der Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen sowie dem in diversen Zusammenhängen verlangten Finanz- und Technologietransfer zugunsten der Entwicklungsländer. Allerdings zeigt die Praxis in den verschiedenen relevanten Völkerrechtsbereichen, dass keinerlei Einigkeit darüber besteht, welcher Status diesen einzelnen materiellen Ausgestaltungen zukommen soll153. Aus der Sicht der Industriestaaten dürfte dabei allenfalls dem zuvor genannten vagen Kerngehalt des Prinzips umfassende Wirkung zukommen, was aber die Übernahme von konkreten Verpflichtungen zugunsten der Entwicklungsländer in einzelnen Umweltbereichen nicht präjudizieren soll. Demgegenüber besteht von Seiten der Entwicklungsländer verständlicherweise die Tendenz, derartige sektorielle Verpflichtungen der Industriestaaten als logische und notwendige ___________ 150
Siehe Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 52. Ebd., 55. 152 Ebd. 153 Vgl. dazu French, in: ICLQ 2000, 35 (36 ff.), sowie Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 (124). 151
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Erscheinungsformen des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit aufzufassen und insofern eine eigentliche Berechtigung abzuleiten. Indessen zeigt die völkerrechtliche Praxis außerdem, dass selbst in Bezug auf den Transfer von finanziellen und technologischen Mitteln, der als spezifischer Aspekt des Prinzips verstanden werden kann, ein derartiger Konsens nicht vorhanden ist. Zwar bekannten sich die Industriestaaten bereits anlässlich der ersten globalen Konferenz zum Problemkreis von Umwelt und Entwicklung im Jahre 1972 in Stockholm zu quantitativen Zielen bei der finanziellen Unterstützung der Entwicklungsländer, die seither auch bekräftigt wurden, so insbesondere anlässlich des Erdgipfels von Rio 1992154. Diese Bekenntnisse stehen indessen in scharfem Kontrast zur Tatsache, dass sie nicht nur bis heute unerfüllt geblieben sind, sondern dass die finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer durch die Industriestaaten Mitte der neunziger Jahre auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten absank155; Ähnliches wird für den Transfer von (insbesondere ökologisch sinnvoller) Technologie zugunsten der Entwicklungsländer festgestellt156. Offensichtlich wird diese Problematik gerade auch in den neueren Entwicklungen des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes157. Diese haben zum wiederholten Male gezeigt, dass selbst die vergleichsweise konkrete Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Bekämpfung der Ursachen wie auch der Auswirkungen des Klimawandels derart vage bleibt, dass die tatsächlich zur Verfügung gestellten Mittel bei weitem nicht ausreichen. Auch bezüglich dieser einzelnen Erscheinungsform des Prinzips zeigt sich damit deutlich, dass der (grundsätzlich anerkannte) Kerngehalt zu unklar ist, um eine greifbare Verhaltensmaxime zu vermitteln. Die Frage des normativen Gehalts des Prinzips ist damit davon abhängig, in welchem Ausmaß dessen Kerngehalt auf der konkreteren Ebene der möglichen Ausformungen des Prinzips in der völkerrechtlichen Praxis Anerkennung gefunden hat. Dies, weil der Kerngehalt selbst eine zu wenig klare – mit anderen Worten eine normativ zu wenig gehaltvolle – Aussage enthält, die von den Normadressaten (hier den Staaten) als Sollenssatz eines Prinzips im normtheoretischen Sinn zu verstehen wäre. Der Umstand, dass für die Annahme eines bereits bestehenden konstitutionellen Prinzips nach dem jetzigen Stand keine ___________ 154 Siehe dazu Agenda 21 Kap. 33.13. Konkret sollte die finanzielle Unterstützung zugunsten der Entwicklungsländer seit der Konferenz von Stockholm eine Größe von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der Industriestaaten erreichen. 155 Vgl. Dolzer, in: LA Jaenicke, 37 (44); Khor, in: International Review for Environmental Strategies 2001, 209 (209 f.). 156 Siehe Khor, in: International Review for Environmental Strategies 2001, 209 (210). 157 Siehe dazu noch die eingehenderen Ausführungen zum Fallbeispiel des völkerrechtlichen Klimaschutzes, hinten in diesem Kap., C. II.
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zureichende Basis vorhanden ist, lässt sich denn auch in den nachfolgenden Überlegungen zu dieser Praxis noch weiter erkennen. Nach der Feststellung, dass die auf ihren Kerngehalt reduzierte Formel von der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit in normativer Hinsicht nicht den von einem konstitutionellen Prinzip zu erwartenden Sollensgehalt aufweist, steht allerdings noch die Frage im Raum, ob nicht allenfalls eine Zurechnung zur Konzeptebene möglich sei. Auf dieser Stufe, so ließe sich argumentieren, sind die normativen Anforderungen definitionsgemäß geringer, und entsprechend könnte eine Formel, die normativ zu wenig konkret ist, um als konstitutionelles Prinzip gelten zu können, als Leitkonzept in Frage kommen. Auf Erörterungen, inwiefern der materielle Gehalt des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit die an ein konstitutionelles Leitkonzept in normativer Hinsicht erfüllen würde, kann an dieser Stelle aber verzichtet werden. Denn die bisherigen Ausführungen legen bereits die Vermutung nahe, dass ein Konsens der besonderen Art, wie bei der Kategorie des konstitutionellen Leitkonzepts verlangt, hier nicht gegeben ist. Auch dies wird durch die folgenden Bemerkungen noch weiter verdeutlicht.
b) Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft Aus Grundsatz 7 Rio-Deklaration geht hervor, dass das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit in der dort niedergelegten Form in ganz allgemeiner Weise für sämtliche völkerrechtlichen Belange zur Anwendung gelangen soll158; dies gilt insbesondere für das Umweltvölkerrecht als rechtliche Ordnung zur Bewahrung eines intakten ökologischen Systems. Dies hat freilich nicht dazu geführt, dass das Prinzip in regelmäßiger Weise explizit genannt wird; der Bereich des Klimaschutzes, in dem es eine bedeutendere Rolle spielt159, scheint hier vielmehr das einzige relevante Beispiel zu bilden. Von Bedeutung ist demgegenüber zwar auch, dass in umweltvölkerrechtlichen Verträgen häufig implizit auf das Prinzip Bezug genommen wird, indem für verschiedene Kategorien von Vertragsstaaten unterschiedliche Verpflich___________ 158 Insofern, als das Prinzip in den unterschiedlichsten völkerrechtlichen Belangen Anwendung finden soll, so richtet es sich im von Grundsatz 7 Rio-Deklaration gemeinten Sinn doch immer auf Problemstellungen im Zusammenhang mit dem Schutz der Umwelt. Kurz zu erwähnen bleibt an dieser Stelle, dass die besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer auch in anderen Bereichen des Völkerrechts eine Rolle bei den jeweiligen Konzepten und Normen spielen. Als (beliebiges) Beispiel unter vielen anderen sei hier nur das Übereinkommen über die Rechte des Kindes erwähnt, das die besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer etwa im Bereich der internationalen Zusammenarbeit zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge (Art. 23 Abs. 4 und Art. 24 Abs. 4) sowie zur Verbesserung des Bildungswesens (Art. 28 Abs. 3) erwähnt. 159 Siehe zuvor in diesem Kap., B. III. 1.
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tungen statuiert werden160. Dabei beruht dies in diesen Fällen erkennbar auf einem Konsens, dass die entsprechende Differenzierung und ungleiche Inpflichtnahme eine notwendige Folge jener Ungleichheiten zwischen den Staaten ist, welche den faktischen Hintergrund für die erwähnten materiellen Gerechtigkeitsüberlegungen bilden. In derartiger impliziter Weise kommt das Prinzip wie gesehen etwa im (mit dem Klimaschutz verwandten) Bereich des Schutzes der Ozonschicht zur Anwendung. Eine in quantitativer Hinsicht breitere völkerrechtliche Praxis161 lässt sich außerdem in Bezug auf den spezifischen Aspekt des Prinzips feststellen, den die finanzielle und technologische Unterstützung der Entwicklungsländer durch die Industriestaaten darstellt. Bereits erwähnt wurden diesbezüglich die entsprechenden Vorgaben im Rahmen des Klimaschutzregimes, sodann des Ozonschutzregimes, der Biodiversitätskonvention sowie zuletzt der Konvention über schwerflüchtige organische Schadstoffe. Eine ähnliche Bezugnahme auf das Prinzip findet sich außerdem auch in der Desertifikationskonvention162: Gestützt auf eine als „Prinzip“ bezeichnete allgemeine Aufforderung an die Vertragsparteien, die besonderen Bedürfnisse und Umstände der von der Wüstenbildung betroffenen Staaten zu berücksichtigen (Art. 3 Bst. d)163, werden hier neben verschiedenen allgemeinen Vertragspflichten (Art. 4) einerseits für die von der Wüstenbildung betroffenen Staaten (Art. 5), andererseits für die entwickelten Länder (Art. 6) besondere Verpflichtungen statuiert. Während es in Art. 5 in erster Linie darum geht, dass die unter dem Desertifikationsphänomen leidenden Staaten die notwendigen, ihnen zumutbaren Gegenmaßnahmen er___________ 160
Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 60 ff., zufolge findet sich die Grundidee der unterschiedlichen Behandlung verschiedener Staatengruppen bereits in älteren umweltvölkerrechtlichen Übereinkommen. Die zunehmende Anerkennung dieser Grundidee sei dabei in drei Stufen erfolgt: So zunächst im Rahmen von Normen, die eine Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Vertragsstaaten erlauben, so dass indirekt eine besondere Behandlung der Entwicklungsländer resultiert; dann durch die ausdrückliche Erwähnung der besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer; schließlich drittens dadurch, dass die Erwähnung der besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer mit der Verpflichtung verbunden wird, die beiden Staatenkategorien der Entwicklungsländer und der Industriestaaten unterschiedlich zu behandeln (einerseits mittels asymmetrischer Umweltstandards, die von den verschiedenen Staatengruppen zu berücksichtigen sind, andererseits durch die Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Implementation dieser Verpflichtungen mittels des Transfers von finanziellen und technologischen Ressourcen). 161 Vgl. dazu auch die Ausführungen und Hinweise von French, in: ICLQ 2000, 35 (39 ff.). 162 Hierzu auch Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 253 ff. 163 Vgl. hierzu Bekhechi, in: RGDIP 1997, 5 (20 ff.). Diese Formel findet sich auch in anderen völkerrechtlichen Verträgen, so bspw. in Art. 24 Abs. 1 Agreement on Straddling and Highly Migratory Fish Stocks.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
greifen, enthält Art. 6 an die Adresse der Industriestaaten die Verpflichtung, finanzielle und technologische Hilfeleistungen zur Bekämpfung der Problematik zu erbringen. Indem damit die Kategorie der wohlhabenderen Mitglieder der Staatengemeinschaft in eine besondere Pflicht genommen wird – und zwar unbesehen der Frage, ob sie von der Problematik im Einzelnen tatsächlich konkret betroffen sind – nimmt die Desertifikationskonvention jenen Teilgehalt des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit auf, der die finanzielle und technologische Unterlegenheit des ärmeren Teils der Staatengemeinschaft mildern will. Im konkreten Fall des Desertifikationsproblems ist dies dabei weniger durch eine unmittelbare Verursacherrolle der Industriestaaten begründet164; insofern kommt hier die allgemeine materielle Gerechtigkeitsüberlegung zum Ausdruck, dass die finanziell und technologisch vermögenden Staaten den diesbezüglich benachteiligten Staaten beistehen sollen. Dieser Standpunkt wiederum ist freilich nicht zuletzt auch durch einen Blick auf die Gesamtheit globaler Umweltprobleme beeinflusst, der zeigt, dass den Industriestaaten insgesamt eine weit größere Verantwortung zukommt als den Entwicklungsländern. Kellersmann weist in ihrer Untersuchung allerdings auch kritisch darauf hin, dass die Asymmetrie der umweltrechtlichen Verpflichtungen im Falle der Desertifikationskonvention im Unterschied zu anderen Übereinkommen zulasten der Entwicklungsländer ausfällt. Auffallend sei nämlich, wie gerade die Vorschriften über die Durchführung nationaler und regionaler Aktionsprogramme zur Bekämpfung der Wüstenbildung ausschließlich die Entwicklungsländer in die Verantwortung nehmen, während von der Desertifikation ebenfalls betroffene Industriestaaten (wie etwa Australien, die USA und die nördlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers) nach der Konvention nicht zur Durchführung solcher Aktionsprogramme verpflichtet sind165. Die Autorin gelangt vor diesem Hintergrund zur Folgerung, dass in der Desertifikationskonvention „gerade die betroffenen Entwicklungsländer zusätzlich zu den für alle Staaten geltenden Pflichten in Anspruch genommen“ werden166. Der stärkeren Verantwortlichkeit der Industriestaaten sei somit in diesem Übereinkommen lediglich bei den Verpflichtungen zur finanziellen und technischen Erfüllungshilfe Rechnung getragen worden167.
Es erweist sich somit, dass ungeachtet der unterschiedlichen Interpretationen in Bezug auf seine konkrete Bedeutung das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung in der völkerrechtlichen Praxis einen gewissen Rückhalt findet. Dies gilt jedenfalls für den zugrunde liegenden Gerechtigkeits___________ 164 Auch wenn eine solche Rolle in Anbetracht der wahrscheinlichen kausalen Zusammenhänge zwischen dem (hauptsächlich von den Industriestaaten verursachten) Klimawandel und der Desertifikation nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. 165 Siehe Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 259 ff. Tatsächlich sind solche Aktionsprogramme gem. Art. 9-11 Desertifikationskonvention nur für „affected developing country Parties“ obligatorisch. 166 Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 257. 167 Ebd., 258.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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gedanken als wesentlichsten Gehalt des Prinzips: Ausgehend von der Tatsache, dass die wohlhabenden Staaten in ungleich größerem Ausmaß zur Verursachung globaler Umweltprobleme beigetragen haben, sollen diese bei der Tragung der Lasten stärker in die Pflicht genommen werden. Jedenfalls im Bereich des völkerrechtlichen Klimaschutzes, in dem als einzigem das (als solches aber unverbindliche) Postulat von Grundsatz 7 Rio-Deklaration regelmäßig168 explizit aufgenommen wird, kann das Prinzip in dieser Grundbedeutung wohl als anerkannt bezeichnet werden. Nicht zu übersehen ist aber, dass um diesen gesicherten Kerngehalt herum eine beträchtliche Unsicherheit über die konkreteren Wirkungen des Prinzips besteht. Auch der Klimaschutz mit seiner expliziten Verwendung des Prinzips ist von dieser Feststellung nicht ausgeschlossen. Die impliziten Bezugnahmen in weiteren Bereichen lassen zwar erkennen, dass der Kerngedanke der gerechten Inpflichtnahme auf grundsätzliche Anerkennung stößt. Eine Funktion der Formel von der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit als konstitutionelles Element auf der relativ konkreten Prinzipienebene würde aber voraussetzen, dass mehr als nur ein derartiger Kerngehalt und damit doch eine ziemlich vage Richtungsvorgabe von der konstituierten Gemeinschaft anerkannt ist. Außerdem kann auch von einer gewohnheitsrechtlichen Akzeptanz (die auf der völkerrechtlichen Ebene das wesentliche Indiz für einen Konsens bildet, dem eine konstitutionelle Wirksamkeit zukommen könnte) angesichts der bestehenden Uneinigkeit zur Zeit nicht die Rede sein169. Der Mangel an gewohnheitsrechtlicher Anerkennung (und damit der Ausschluss eines konstitutionellen Konsenses) wirkt sich außerdem auch auf die alternativ zu stellende Frage aus, ob die Formel von der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit allenfalls auf der Ebene eines konstitutionellen Leitkonzepts anzusiedeln wäre. Sie ist mangels eines entsprechenden Konsenses der internationalen Gemeinschaft ebenfalls zu verneinen, so dass die allfälligen normativen Implikationen auf die völkerrechtliche Verfassungsordnung gar nicht diskutiert werden müssen. Im Ergebnis zu einer ähnlichen Folgerung gelangt Kellersmann im Rahmen ihres (zuvor als inhaltlich zu eingeschränkt kritisierten) Ansatzes. Zunächst kommt sie in Bezug auf das Kriterium asymmetrischer Verpflichtungen der beiden hauptsächlichen Staatengruppen zum Schluss, dass in den untersuchten Übereinkommen170 keine
___________ 168 D. h. sowohl in der Rahmenkonvention als auch im konkretisierenden KyotoProtokoll; vgl. zuvor in diesem Kap., B. III. 1. 169 In Bezug auf eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Prinzips ebenfalls ablehnend Cullet, in: EJIL 1999, 549 (579). 170 Nämlich das Ozonschutzregime (Ozonschutzkonvention mit dem dazugehörigen Montreal-Protokoll), das Klimaschutzregime (Klimakonvention mit Kyoto-Protokoll), die Biodiversitätskonvention sowie die Desertifikationskonvention.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
konsequente Linie zu beobachten sei171. Andererseits stellt die Autorin fest, dass das Element der finanziellen und technologischen Erfüllungshilfe zugunsten der Entwicklungsländer in allen betrachteten Übereinkommen anzutreffen sei172. Grundsätzlich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bilde eine rechtliche Verpflichtung der Industriestaaten, die Entwicklungsländer bei der Erfüllung ihrer Umweltschutzpflichten zu unterstützen, Bestandteil aller dieser völkerrechtlichen Verträge. Der Autorin zufolge ist diese Verpflichtung als eigentliches unerlässliches Element des Prinzips und als „konstitutive Voraussetzung“ für dessen Anerkennung durch die Staatengemeinschaft zu betrachten173. Dieser Folgerung kommt in Kellersmanns Ansatz schließlich eine besondere Bedeutung bei der Beantwortung der Frage nach dem gewohnheitsrechtlichen Charakter des Prinzips zu174: Auf der Grundlage der Annahme, dass die Verpflichtung zur Erfüllungshilfe das (einzige) konstitutive Element des Prinzips darstelle, kann sie die Frage stellen, ob die praktische Anerkennung dieser Verpflichtung zugleich die gewohnheitsrechtliche Akzeptanz des Prinzips an sich impliziere175. Sie gelangt dann freilich aufgrund folgender Überlegung zu einer abgestuften Einschätzung: Zwar sei insbesondere im Montreal-Protokoll zur Ozonschutzkonvention und in der Klimakonvention, weniger ausgeprägt in der Biodiversitätskonvention, ein hoher Standard der Erfüllungskontrolle erreicht worden. Indessen habe sich bislang keine einheitliche völkerrechtliche Praxis herausgebildet. Die Autorin stützt dies auf die Feststellung, dass die Desertifikationskonvention bezüglich des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit einen eigentlichen Rückschritt darstelle. Tatsächlich fallen die Verpflichtungen der Industriestaaten zur Erfüllungshilfe hier sehr bescheiden aus, nicht zuletzt angesichts der doch gewichtigen Verpflichtungen zum Umweltschutz, die den durch Wüstenbildung betroffenen Entwicklungsländern zukommen. Die Autorin zieht daher den Schluss, dass die Entwicklung einer allgemeinen und einheitlichen Staatenpraxis bezüglich des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit durch die manifeste Schwäche der Desertifikationskonvention unterbrochen worden sei176. Die Anerkennung des Prinzips als völkergewohnheitsrechtliche Norm sei dementsprechend zu verneinen.
Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass das Prinzip in nicht allzu ferner Zukunft die für ein konstitutionelles Prinzip notwendige Akzeptanz über das momentane Ausmaß hinaus findet. Vorausgesetzt wäre hierfür, dass über den normativ zu vagen Kerngehalt hinaus sich ein Konsens über einen operationellen Sollenssatz entwickelt. Dieser Prozess muss nicht zwingend ein das ganze Umweltvölkerrecht umfassender sein, sondern könnte sich in einem ersten Entwicklungsschritt auch auf den besonderen Bereich des Klimaschutzes beschränken. Allgemein kann somit festgehalten werden, dass das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit die grundsätzlichen ___________ 171
Siehe Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 282 ff. Ebd., 289 ff. 173 Ebd., 318. 174 Ebd., 321 ff. 175 Ebd., 320. 176 Ebd., 326. 172
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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Anlagen aufweist, sich zu einem konstitutionellen Prinzip zu entwickeln177. Es ist allerdings auch festzustellen, dass sowohl im Klimaschutz als auch in den weiteren Bereichen der mögliche konstitutionelle Status des Prinzips von der weiteren Entwicklung der völkerrechtlichen Praxis abhängig ist.
IV. Das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen 1. Materieller Gehalt Neben global geteilten Anliegen, wie gerade der Schutz des Klimas eines darstellt, zeigt sich die Interdependenz der Völker und Staaten in Bezug auf die natürlichen Lebensgrundlagen auch in räumlich engeren nachbarschaftlichen Bereichen. Hier zeigt sich am unmittelbarsten, dass das Angewiesensein des Menschen auf seine Umwelt einerseits und die Idee territorialer Grenzen und Souveränitätsansprüche andererseits allzu häufig nicht vereinbar sind. Die Bedeutung, welche der Nutzung der für das menschliche Wohlergehen unerlässlichen Ressource Süßwasser zukommt178, bildet dabei das wohl eindrücklichste Beispiel dafür, wie die Abhängigkeit von einer bestimmten natürlichen Lebensgrundlage zugleich der Grund für Abhängigkeitsverhältnisse zwischen benachbarten Staaten darstellt. Zugleich ist auch offensichtlich, dass diese Abhängigkeiten allzu leicht zum Ursprung von Interessenkonflikten werden können. Der für die rechtliche Lösung solcher Konflikte zentrale Grundgedanke lässt sich folgendermaßen umschreiben: Im Falle der Verteilung natürlicher Ressourcen auf die Territorien mehrerer Staaten müssen sich alle betroffenen Parteien so verhalten, dass auch für die anderen Beteiligten eine angemessene Nut___________ 177 Die dem Prinzip grundsätzlich innewohnenden normativen Anlagen (wenn auch nicht mit einem konstitutionellen Ansatz) werden neben dem Hinweis auf dessen momentane Schwächen auch durch andere Autoren betont. Nach Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 (124), hat das Prinzip jedenfalls für die Belange des Klimaschutzes „sufficient legal weight to form the legal and philosophical basis for the interpretation of existing obligations and the elaboration of future international legal obligations within the context of the existing instruments in the ongoing regime-building process“. Cullet, in: EJIL 1999, 549 (578), wiederum drückt sich folgendermaßen aus: „The consistent practice in recent environmental agreements and the fact that CBDR (Anm. des Verf.: the principle of Common But Differentiated Responsibility) is specifically linked to other strands of differential treatment may lead to the recognition of CBDR as a general principle of international environmental law.“ 178 Dazu ausführlich im 3. Kap., A. I. 1. c), im Rahmen der faktischen Grundlagen, welche den Schutz der Umwelt als Anliegen des Gemeinwohls ausweisen.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
zung („equitable utilization“) möglich ist179. Dieser Gedanke wird insbesondere für die Belange der Nutzung gemeinsamer Süßwasserressourcen durch das Prinzip der fairen und gleichmäßigen Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen konkretisiert. Dabei geht es darum, die gemeinsamen Interessen der Staaten derart zu berücksichtigen, dass im Ergebnis eine faire und gleichmäßige Nutzung der betroffenen natürlichen Ressourcen erreicht wird. Thomas Franck beschreibt die faktische Bedingung eines „gemäßigten Mangels“ („moderate scarcity“, unter Rückgriff auf John Rawls180) als Grundlage von Fairnessdiskursen181: Ein wichtiges Gut ist weder im Überfluss vorhanden noch derart knapp, dass sich ein Handeln nach dem Motto „alles oder nichts“ aufdrängt. Sondern das Gut ist einerseits in ausreichender Menge verfügbar, um alle Beteiligten erwarten zu lassen, beteiligt zu werden, andererseits aber doch so knapp, dass auch niemand davon ausgehen kann, dass die eigenen Wünsche ohnehin erfüllt werden. Unter solchen Voraussetzungen sei die Wahrscheinlichkeit, dass unter den Interessenten eine Auseinandersetzung über faire Verteilungsregeln entstehe, am größten. Auf die dabei bestehenden Interessen der Beteiligten übertragen lässt sich aus diesem Gedanken folgern, dass unter derartigen Bedingungen – die gerade bei den natürlichen Ressourcen häufig gegeben sind – auch das Bewusstsein der Gemeinsamkeit der Interessen am stärksten sein dürfte. Ausgangspunkt eines entsprechenden Prinzips zur Lösung von Nutzungskonflikten sind die allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätze der territorialen Souveränität und der territorialen Integrität, die sich gegenseitig ergänzen182: Zwar steht Staaten kraft ihrer territorialen Souveränität das Recht zu, über die auf ihrem Gebiet befindlichen Ressourcen zu verfügen; allerdings dürfen sie von diesem Recht nicht in einer Weise Gebrauch machen, welche die territoriale Integrität anderer Staaten beeinträchtigt. Für die in der diesbezüglichen völkerrechtlichen Praxis im Vordergrund stehenden Bereiche des Gewässerschutzes und der Gewässernutzung bedeutet dies, dass ein Staat die auf seinem Territorium befindlichen Wasserressourcen immer nur soweit nutzen darf, als die Interessen anderer Staaten (also die sogenannten Unterliegerstaaten von Wasserläufen sowie die Anrainerstaaten von stehenden Gewässern) nicht in erheblicher Weise beeinträchtigt sind. Hervorzuheben ist dabei, dass die gemeinsame ___________ 179 Umfassend zu diesem Grundsatz Durner, Common Goods, 74 ff., sowie Reinicke, Angemessene Nutzung gemeinsamer Naturgüter, passim. Vgl. außerdem Epiney, in: BerDGV 2003, 329 (347 ff.); in Bezug auf Wasserressourcen etwa van Edig, Nutzung internationaler Wasserressourcen, 54 ff., 218 ff.; zur historischen Entwicklung Odendahl, Umweltpflichtigkeit, 158 ff., m.w.N. zu völkerrechtlichen Quellen. 180 Siehe Rawls, Theory of Justice, 127 ff. 181 Franck, Fairness in International Law and Institutions, 9 ff. 182 Vgl. hierzu auch van Edig, Nutzung internationaler Wasserressourcen, 47 f.
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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Ressource Süßwasser – anders als etwa Luft183 – nur äußerst beschränkt vorhanden ist. Die besondere sich hier stellende Nutzungsproblematik ist daher weniger in der Gewässerverschmutzung zu sehen, die im Übrigen durch das nachbarrechtliche Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen angegangen wird184. Die schwierigeren Interessenkonflikte ergeben sich vielmehr aus der potentiellen Knappheit der Ressource. Das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen stellt somit in erster Linie ein Verteilungsprinzip zur Lösung von Nutzungskonflikten dar, in deren Zentrum die Frage der verfügbaren Wassermenge steht. Der materielle Gehalt des Prinzips hat sich insbesondere für den spezifischen Bereich der Gewässernutzung in einer bereits seit Jahrzehnten anerkannten Rechtsprechungspraxis entwickelt. So formulierte bereits der Ständige Internationale Gerichtshof im Jahre 1929 in einem die Oder betreffenden Fall folgenden Grundsatz: „[The] community of interest in a navigable river becomes the basis of a common legal right, the essential features of which are the perfect equality of all riparian States in the use of the whole course of the river and the exclusion of any preferential privilege of any one riparian State in relation to the others.“185
Diese Aussage bezog sich im Jahre 1929 noch ausschließlich auf die damalige Problematik der Nutzung eines Wasserlaufs durch die Schifffahrt. Der damit formulierte Ansatz des gemeinsamen Interesses verschiedener Staaten und der daraus folgenden Gleichberechtigung derselben bildete indessen später auch die Grundlage für das Recht der „nicht-schifffahrtlichen“ Nutzung von Gewässern. Beispielhaft widerspiegelt sich dies im Schiedsgerichtsentscheid zum Lac Lanoux-Fall aus dem Jahr 1957, der einen Streit zwischen Frankreich und Spa-
___________ 183 Reinicke, Angemessene Nutzung gemeinsamer Naturgüter, 68 ff. (m.w.N.), widmet sich der Frage, ob auch die Luft eine von verschiedenen Staaten gemeinsam genutzte Ressource darstelle. Er kommt dabei zu einer positiven Antwort, gestützt auf den Umstand, dass selbst bei weiträumiger Luftverschmutzung Berechnungsmodelle bestehen, welche den entsprechenden Beitrag der einzelnen Staaten quantifizieren lassen. An diesem Ansatz zweifelt demgegenüber Durner, Common Goods, 109. 184 Also durch den Grundsatz, dass es den Staaten verwehrt ist, ihr Territorium so zu nutzen, dass auf dem Gebiet anderer Staaten erhebliche Umweltbeeinträchtigungen entstehen, oder aber entsprechende (private) Aktivitäten zuzulassen. Zu dieser umweltvölkerrechtlichen Norm ausführlich Epiney, in: AVR 1995, 309 ff.; s. außerdem auch Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 104 ff. 185 Territorial Jurisdiction of the International Commission of the River Oder, Judgment No. 16, 1929, PCIJ Series A, No. 23, 27. Der StIGH hatte die Frage zu entscheiden, wie weit die Jurisdiktion der Internationalen Oder-Kommission nach dem Friedensvertrag von Versailles reichte.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
nien entschied186. Die konkreten Umstände des Falles ergaben zwar, dass tatsächlich kein Anlass für die Befürchtung bestand, infolge der Nutzung des Sees durch Frankreich würden die spanischen Interessen an der Nutzung eines durch diesen gespiesenen Flusses beeinträchtigt187. Gleichwohl äußerte sich das Schiedsgremium zur grundsätzlichen Pflicht Frankreichs, die Interessen Spaniens bei der Planung und Ausführung des Projekts angemessen zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Rechts, das Wasser des Lac Lanoux und der mit diesem zusammenhängenden Gewässer im eigenen Interesse zu nutzen, wäre es Frankreich demnach nicht erlaubt gewesen, berechtigte spanische Nutzungsinteressen zu beeinträchtigen. Der Entscheid stellt damit ausdrücklich die völkerrechtliche Pflichtenlage bei der Nutzung von Wasserläufen fest: Danach ist es die Pflicht des Oberliegerstaates, die Interessen des Unterliegerstaates an der Nutzung der Wasserressource angemessen zu berücksichtigen. Bezeichnend ist dabei auch der Umstand, dass das mit dem „Lac Lanoux-Fall“ befasste Schiedsgericht ausdrücklich die sogenannte Harmon-Doktrin als nicht mit den Prinzipien des Völkerrechts vereinbar bezeichnete188. Nach dieser Ende des 19. Jahrhunderts von den USA in einem Konflikt mit Mexiko189 vertretenen Theorie sollte jeder Staat (bei einem Fließgewässer insbesondere der Oberliegerstaat) über die auf seinem Territorium befindlichen Gewässer kraft seiner territorialen Hoheit eine uneingeschränkte Verfügungsgewalt ausüben dürfen. Dies sollte nicht zuletzt ausdrücklich auch für den Fall gelten, dass sich dieser Anspruch im weiteren Verlauf des Gewässers auf dem Gebiet eines benachbarten Staates (des Unterliegerstaats) negativ auswirken sollte.
___________ 186 Hierzu Rauschning, in: EPIL, Vol. III, 111 ff. Der Text des Entscheids findet sich bspw. in RGDIP 62 (1958), 79 ff., sowie in ILR 24 (1957), 101 ff. 187 Der auf französischem Territorium gelegene See speist den Fluss Carol, der nach Spanien fließt. Pläne Frankreichs, das Wasser des Lac Lanoux zu Zwecken der Elektrizitätserzeugung teilweise umzuleiten, führten zu Protesten Spaniens, das negative Auswirkungen des Projekts auf die Wasserführung des Carol befürchtete. Im zum Streitfall durchgeführten Verfahren vor einem internationalen Schiedsgericht konnte Spanien in der Folge allerdings nicht beweisen, dass sein eigenes Interesse an der Nutzung des Wassers aus dem Lac Lanoux tatsächlich konkret gefährdet sei. Die französischen Pläne sahen nämlich insbesondere vor, dass das zuvor abgeleitete Wasser dem Fluss Carol schon vor Überqueren der Grenze zu Spanien wieder zugeführt werden sollte. 188 Siehe ILR 24 (1957), 101 (129 f.). 189 Der Konflikt drehte sich um den Rio Grande, der in den USA entspringt, später jedoch den Grenzfluss zu Mexiko bildet und dabei für beide Staaten in einem sehr trockenen Klima eine wichtige regionale Wasserreserve darstellt. Sein Wasser wurde am Ende des 19. Jahrhunderts im Oberlauf des Flusses auf US-amerikanischer Seite allerdings zum Zweck der Bewässerung der Landwirtschaft derart umgeleitet, dass die Wasserversorgung der mexikanischen Grenzregion in außerordentlicher Weise beeinträchtigt wurde. Vgl. hierzu und insbesondere zur daraus resultierenden Harmon-Doktrin anstelle vieler McCaffrey, in: Water in Crisis, 92 ff.; Ule, Recht am Wasser, 115 ff.
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Eine wichtige Rolle spielte das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen schließlich im vom IGH im Jahr 1997 gefällten Entscheid zum Gabcíkovo/Nagymaros-Fall190. In diesem Streitfall zwischen der Slowakei191 und Ungarn ging es um ein gemeinsames Projekt zur Nutzung der Wasserkraft der Donau, die auf einer Länge von rund 140 km die Grenze zwischen den beiden Staaten bildet. Das Projekt bildete seit 1977 Gegenstand eines bilateralen Staatsvertrages und verpflichtete die Parteien insbesondere zur Ausführung baulicher Maßnahmen zur Nutzung der Wasserkraft, so umfangreicher Stauungen und Umleitungen der Donau. Nach den politischen Umwälzungen Ende der achtziger Jahre hatte sich in Ungarn allerdings die Überzeugung durchgesetzt, dass das vertraglich vereinbarte Projekt ökologisch nicht vertretbar und ökonomisch nicht (mehr) notwendig sei. Während Ungarn in der Folge die Bauarbeiten einstellte und schließlich den Vertrag kündigte, berief sich die Slowakei auf die Geltung des Vertrages. Dabei wurde insbesondere auf slowakischem Territorium eine Alternativvariante zum ursprünglichen Projekt ausgeführt, das darauf hin zielte, mit Hilfe eines neu zu bauenden Staudammes das Donauwasser zum slowakischen Kraftwerk von Gabcíkovo zu leiten. Dieser neue Damm sollte einerseits zwar in einem Abschnitt gebaut werden, in dem die Donau ganz auf slowakischem Territorium fließt. Andererseits aber hätte dies zur Folge gehabt, dass unterhalb dieses Damms, wo die Donau wieder die Grenze zwischen den beiden Staaten bildet, die Wassermenge des Flusses auf einer Länge von 25 km nur noch 80 bis 90 Prozent der natürlichen Wasserführung betragen hätte. Der Gerichtshof berief sich diesbezüglich auf den im Oder-Fall erstmals von einem internationalen Gericht formulierten Grundsatz, dass die Anliegerstaaten eines Wasserlaufes aufgrund ihres gemeinsamen Interesses an dessen Nutzung gleichberechtigt sind. Zugleich stützte er denn auch die Ansicht Ungarns, das Alternativprojekt stelle eine Verletzung des ungarischen Anspruchs auf eine gleichberechtigte Nutzung des Flusswassers dar192. Mit dem Urteilsschluss des Gerichtshofs kommt außerdem auch eine Besonderheit des Prinzips der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen zum Ausdruck: Ökologische und ökonomische Aspekte sind miteinander verbunden (und sollen durch ___________ 190 ICJ Reports 1997, 7 ff.; abgedruckt auch in ILM 37 (1998), 162 ff. Vgl. dazu auch Bostian, in: Colorado Journal of International Environmental Law and Policy 1998, 401 ff.; Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 187 ff.; Lammers, in: Leiden Journal of International Law 1998, 287 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 469 ff.; Sohnle, in: RGDIP 1998, 85 ff. 191 Der Vertrag war ursprünglich zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei geschlossen worden; nach der Zweiteilung Letzterer wurde die Slowakei zur Vertragspartnerin Ungarns. 192 Siehe Para. 85 des Urteils. Vgl. zu diesem Aspekt auch Sohnle, in: RGDIP 1998, 85 (113 ff.).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
die Parteien im weiteren Verlauf der gegenseitigen Beziehungen entsprechend berücksichtigt werden). Auf das Prinzip an sich hatten sich im Laufe des Verfahrens vor dem IGH sowohl die Slowakei als auch Ungarn bereits berufen. Indessen hatte die Slowakei geltend gemacht, das Prinzip gebiete, die ökonomischen Interessen der an einer Wasserressource beteiligten Staaten gleichmäßig zu berücksichtigen. Ungarn währenddessen hatte den ökologischen Aspekt des Prinzips betont, wonach gerechte Nutzung auch die Vermeidung von Umweltschäden impliziere193. Das Urteil des IGH findet hier eine Balance, indem es die beiden Parteien zu einer künftigen Zusammenarbeit anhält, die sowohl den ungarischen als auch den slowakischen Anliegen gebührend Rechnung tragen soll. Insofern impliziert das Prinzip der gerechten Nutzung einer gemeinsamen Ressource dann auch, dass es sowohl in ökologischer als auch in ökonomischer Hinsicht einen gerechten Interessenausgleich anstrebt194. Dem entspricht auch die Umschreibung, die das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen im 1997 verabschiedeten Übereinkommen über die nicht-schifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe195 gefunden hat. Gemäß Art. 5 Abs. 1 der Konvention sind die Anliegerstaaten eines Wasserlaufes nämlich folgendermaßen verpflichtet: „Watercourse States shall in their respective territories utilize an international watercourse in an equitable and reasonable manner. In particular, an international watercourse shall be used and developed by watercourse States with a view to attaining optimal and sustainable utilization thereof and benefits therefrom, taking into account the interests of the watercourse States concerned, consistent with adequate protection of the watercourse.“
Die Zielsetzung, sowohl die (vorwiegend ökonomischen) Nutzungsinteressen der betroffenen Staaten in gerechter Weise zu berücksichtigen als auch dem Anliegen des Schutzes des Wasserlaufes Rechnung zu tragen, kommt hier klar zum Ausdruck. Art. 5 Abs. 2 macht dies noch zusätzlich deutlich, indem das Recht der Anliegerstaaten zur Teilhabe an der gleichmäßigen und angemessenen Nutzung eines Wasserlaufs mit deren Verpflichtung in Verbindung gesetzt wird, beim Schutz desselben zusammenzuarbeiten. Freilich wird im Zusammenhang mit konkreten Interessenkonflikten sehr häufig nicht ohne weiteres auf den ersten Blick bestimmbar sein, welche Nutzung denn nun „gerecht“ sei, bzw. „fair“, „gleichmäßig“ oder „angemessen“. ___________ 193
Hierzu die Hinweise bei Sohnle, RGDIP 1998, 85 (113, insb. Fn. 113). Siehe Para. 145 f. des Urteils. 195 ILM 36 (1997), 700 ff. Siehe zum Prinzip der gerechten Nutzung in der Konvention insbesondere Bourne, in: Canadian Yearbook of International Law 1997, 215 ff. Zum Abkommen allgemein außerdem etwa Caflisch, in: AFDI 1997, 751 ff.; Hey, in: RECIEL 1998, 291 ff.; Kokott, in: FS Jaenicke, 177 (184 ff.); McCaffrey/Sinjela, in: AJIL 1998, 97 ff. Das Übereinkommen befindet sich allerdings noch nicht in Kraft. 194
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Entsprechende Konflikte sind daher durchaus wahrscheinlich, und es stellt sich somit die Frage, ob sich diesbezüglich aus dem Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen präzisere Kriterien ableiten lassen. Zur Lösung des Problems trägt zunächst einmal eine ganz allgemeine Überlegung bei: Die Zielsetzung, die mit der Nutzung eines Wasserlaufes verbundenen Interessen aller betroffenen Staaten gebührend zu berücksichtigen, impliziert notwendigerweise, dass bei der Planung und Verwirklichung von Nutzungsprojekten alle Faktoren berücksichtigt werden, die sich in irgendeiner Form auf diese Interessen auswirken können. Auf dieser allgemeinen Basis entwickelte die International Law Association bereits im Jahr 1966 eine Liste von einzelnen Kriterien, die bei Konflikten um die Auswirkungen von Nutzungsprojekten zur Anwendung gelangen können196. In Anlehnung daran und gestützt auf eine weitere, langjährige Kodifikationsarbeit der International Law Commission197 enthält nunmehr Art. 6 des Übereinkommens über die nicht-schifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe eine (nicht abschließende) Liste derartiger Kriterien, welche das in Art. 5 statuierte Prinzip konkretisieren198. Danach müssen neben sämtlichen umweltrelevanten, mit den natürlichen Gegebenheiten verbundenen Faktoren unter anderem die Bedürfnisse der Bevölkerung in allen betroffenen Staaten berücksichtigt werden; auch ist in Erwägung zu ziehen, ob und inwiefern alternative Möglichkeiten zur Erreichung der fraglichen Nutzungsziele bestehen. Art. 5 Abs. 3 hebt außerdem hervor, dass bei der abschließenden Beurteilung die Gesamtheit aller Faktoren zu betrachten ist, unter Abwägung des Gewichts, das einzelnen Kriterien unter den gegebenen Umständen zukommt199. Daraus folgt auch, dass sich diese Berücksichtigungspflicht nicht auf eine rein formelle Kenntnisnahme beschränken kann; sondern gefordert ist eine materielle Auseinandersetzung mit den verschiedenen Faktoren und ihre effektive Einbeziehung in die zu treffenden Nutzungsentscheidungen. Insofern verstieße daher beispielsweise das völlige Außerachtlassen wesentlicher Elemente eines konkreten Sachverhalts gegen das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen. In der jüngeren Rechtsprechung des IGH finden sich Anzeichen dafür, dass sich das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen in ___________ 196 Siehe Art. 5 der sogenannten ILA Helsinki Rules on the Uses of the Waters of International Rivers; abgedruckt in: Hohmann, Basic Documents, Bd. 1, 227 ff. 197 Vgl. McCaffrey, in: AJIL 1995, 395 ff.; Crook/McCaffrey, in: AJIL 1997, 374 ff. 198 Ausführlich zu diesen Kriterien Fuentes, in: BYIL 1996, 337 ff. Vgl. zudem auch Hafner, in: AJPIL 1993, 113 (119 ff.), sowie Odendahl, Umweltpflichtigkeit, 177 f. 199 Zur konkreten Anwendung dieser Kriterien am Beispiel von Staudammprojekten, welche die Türkei im Oberlauf von Euphrat und Tigris geplant bzw. teilweise bereits errichtet hat s. Epiney, in: AVR 2001, 1 (insb. 33 ff.).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
der völkerrechtlichen Praxis inhaltlich noch weiter entwickeln könnte. Anlass zu derartigen Überlegungen bietet der vom IGH im Jahr 1999 entschiedene Streitfall zwischen Botswana und Namibia um eine im gemeinsamen Grenzfluss Chobe gelegene, in Botswana Sedudu und namibischerseits Kasikili genannte Insel200. Botswana und Namibia hatten den Zwist um die Insel im Frühjahr 1996 dem IGH zur Entscheidung vorgelegt, nachdem die Bemühungen einer gemeinsamen Kommission um einen Konsens gescheitert waren und sich gelegentlich sogar die Gefahr eines bewaffneten Konflikts abgezeichnet hatte. Vordergründig handelte es sich um einen Auslegungsstreit in Bezug auf einen durch die früheren Kolonialmächte Deutschland und Großbritannien im Jahre 1890 abgeschlossenen Vertrag, der u. a. auch die Grenzziehung bei der umstrittenen Insel regelte. In seinem Urteil beschränkte sich der Gerichtshof denn auch auf die Entscheidung dieser Vertragsauslegungsfrage; er verzichtete indessen bei seiner Argumentation darauf, wesentliche faktische Aspekte des Falles zu berücksichtigen, die auch rechtlich von Bedeutung hätten sein können. Aus umweltrechtlicher Sicht ist zunächst von Belang, dass das Gebiet, wie im Verfahren primär von Botswana geltend gemacht201, mit einer hohen Artenvielfalt (u. a. auch an Wild, was wiederum von großer Bedeutung für den lokalen Tourismus ist) gesegnet ist, woraus sich die Interessen beider Staaten an der territorialen Souveränität und somit an der Nutzung der umstrittenen Insel ergeben. Die politischen Hintergründe des Falles legen außerdem den Schluss nahe, dass hinter der Streitigkeit um einen winzigen Flecken Land unter anderem auch der Kampf um die knappe Ressource Wasser steht: In der fraglichen Region befinden sich vor allem für Namibia, ein Land mit einem überwiegend ariden Klima, äußerst wichtige Süßwasservorkommen. Namibische Pläne, aus der betroffenen Grenzregion zu Botswana in großem Umfang Wasser zur Versorgung etwa der Hauptstadt Windhoek abzuleiten, führten verschiedentlich zu massiven Spannungen mit dem botswanischen Nachbarstaat. Während der Schwerpunkt der Ausführungen des IGH auf der Würdigung der vertragsrechtlichen Argumente der Parteien lag, hätte es somit angesichts der besonderen Problematik des Streitfalles durchaus Sinn gemacht, bei der Urteilsfindung auch den Grundsatz, dass gemeinsame natürliche Ressourcen von den beteiligten Staaten in gerechter Weise zu nutzen sind, in adäquater Weise anzuwenden. Wie eine Anwendung dieses Grundsatzes konkret hätte aussehen können, machte der damalige srilankische Vizepräsident des IGH, Christopher G. Wee___________ 200
Case Concerning Kasikili/Sedudu Island (Botswana vs. Namibia), ICJ Reports 1999, 1045 ff.; auch abgedruckt in ILM 39 (2000), 310 ff. Vgl. für einen Überblick zum Fall Delbrück, in: FS Rudolf, 23 ff.; Oellers-Frahm, in: VN 2000, 71 f. 201 Siehe dazu Para. 80 der „dissenting opinion“ von Richter Weeramantry, ICJ Reports 1999, 1153 (1179).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
399
ramantry, in seiner abweichenden Meinung zum Urteilsspruch deutlich202: Nach Weeramantry hätte die Tatsache, dass die umstrittene Insel zu einem Gebiet gehört, das einen Naturschatz von Weltrang darstellt203, zur Bildung eines „joint régime“ der beiden Streitparteien führen müssen. Der Sinn eines solchen gemeinsam ausgeübten Regimes würde darin bestehen, dass ein Gebiet, das einerseits für zwei anliegende Staaten von großer (wirtschaftlicher) Bedeutung ist und andererseits dem Welterbe der Menschheit zuzurechnen ist, von den unmittelbar Beteiligten in gemeinsamer Verantwortung sowohl zu nutzen als auch zu schützen wäre. Damit würde das Prinzip der gerechten und vernünftigen Nutzung einer gemeinsamen Ressource im Rahmen eines spezifischen Kooperationsmechanismus umgesetzt. Der dem Prinzip innewohnende Gemeinwohlansatz204 würde außerdem gleich in zweifacher Weise konkretisiert, nämlich im Verhältnis der unmittelbar betroffenen Staaten untereinander wie auch zugunsten der gesamten internationalen Gemeinschaft, die ein Interesse am Schutz eines Naturguts von „common concern“ bzw. eines „universal heritage of humanity“205 hat. Delbrück weist darauf hin206, dass der IGH im Urteil zum Kasikili/Sedudu-Fall zwar inhaltlich für das Verhältnis der Streitparteien untereinander ein Regime entwirft, das die gemeinsame Nutzung einer geteilten Ressource zum Wohl beider Seiten vorsieht, indessen auf das Konzept des „joint régime“ nicht ausdrücklich Bezug nimmt. Als möglichen Grund hierfür vermutet er eine Zurückhaltung des Gerichtshofs, im gegebenen Fall allzu grundlegende Aussagen über die Möglichkeit grenzüberschreitender Regimes zum Schutz der Umwelt bzw. zum Schutz eines als gemeinsames Erbe der Menschheit in Frage kommenden Objekts zu machen. Er kommt allerdings zur Einschätzung, dass der Fall nicht zuletzt auf der Grundlage der Gedanken von Richter Weeramantry künftig für ähnlich gelagerte Fragestellungen gleichwohl von großer Bedeutung sein werde207. Dabei könnte der „joint régime“-Ansatz, so wäre wohl beizufügen, unter der Voraussetzung einer weiteren Verwurzelung im Umweltvölkerrecht einen ersten Schritt in die Richtung dessen bilden, was in Bezug auf die Nutzung gemeinsamer Ressourcen an sich konsequent wäre208, nämlich die Übertragung der Verwaltung gemeinsam genutzter Ressourcen an eine internationale Institution209.
___________ 202
Siehe ebd., Para. 102 ff. Vgl. dazu auch Delbrück, in: FS Rudolf, 23 (33 f.). Siehe auch „dissenting opinion“ Weeramantry, Para. 81. 204 Siehe sogleich, 2. 205 „Dissenting opinion“ Weeramantry, Para. 82. 206 Delbrück, in: FS Rudolf, 23 (32 f.). 207 Siehe auch ebd., 23 (34). 208 Vgl. Wolfrum, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2, 556 (561). 209 Wolfrum, ebd., sah noch im Jahr 1999 (aus dem die entsprechende Aussage stammt) für die Verwaltung gemeinsam genutzter Ressourcen, die sich auf dem Territorium eines Staats befinden, keinerlei Anzeichen einer derartigen Entwicklung. Allerdings ist der Gedanke der Treuhandschaft für die Verwaltung natürlicher Ressourcen im nationalen wie auch im internationalen Recht durchaus bereits verankert, wie Sand, in: elni Review 2003, Nr. 2, 32 ff., darlegt; vgl. auch ders., in: Praxishandbuch UNO, 203
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Der Begriff des „joint régime“ spielte im Übrigen auch im zuvor erwähnten Gabcíkovo/Nagymaros-Fall eine Rolle; allerdings war eine derartige Zusammenarbeit dort schon vertraglich vereinbart (nämlich im das gemeinsame Projekt begründenden Vertrag von 1977 zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn). Im Unterschied dazu wäre ein solches gemeinsames Regime, wie von Richter Weeramantry für das Verhältnis zwischen Botswana und Namibia vorgeschlagen, das Resultat eines übergeordneten Prinzips des Völkerrechts bei der Nutzung natürlicher Ressourcen. Zu erwähnen ist aber immerhin, dass der IGH in seinem Entscheid zum Gabcíkovo/Nagymaros-Fall den Aspekt der gerechten Nutzung der gemeinsamen Ressource im Zusammenhang mit jenem vertraglich eingegangenen „joint régime“ besonders hervorhob: „Re-establishment of the joint régime will also reflect in an optimal way the concept of common utilization of shared water resources for the achievement of the several objectives mentioned in the Treaty, in concordance with Article 5, paragraph 2, of the Convention on the Law of the Non-Navigational Uses of International Watercourses, according to which: ‚Watercourse States shall participate in the use, development and protection of an international watercourse in an equitable and reasonable manner. Such participation includes both the right to utilize the watercourse and the duty to cooperate in the protection and development thereof, as provided in the present Convention.‘“210
2. Aspekt der Gemeinwohlorientierung Die faktische Grundlage für die Notwendigkeit wie auch für die Wirkung des Prinzips der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen besteht in der Tatsache einer geteilten Interessenlage, verbunden mit einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis. Diese ergeben sich aus dem für zwei oder mehrere Staaten gleichzeitig bestehenden territorialen Zugriff auf eine bestimmte Ressource bzw. zumindest eines Teils davon. Die auf den territorialen Gegebenheiten beruhende Tatsache einer gemeinsamen Nutzbarkeit führt zu einer Gemeinsamkeit der Nutzungsinteressen. Sowohl durch die häufige Tatsache einer mehr oder weniger ausgeprägten Knappheit als auch durch die Verletzlichkeit der qualitativen Eigenschaften bestimmter Ressourcen (vor allem durch Verschmutzung) wird die Gemeinsamkeit der bestehenden Interessen besonders verdeutlicht. ___________ 201 ff. Danach sind verschiedene Modelle vorstellbar, welche die Verantwortung für das Management einer bestimmten Ressource wie bspw. eines Süßwasservorkommens (oder etwa lebender Meeresressourcen) einem bestimmten Organ übertragen. In Frage käme dabei die Einrichtung einer Treuhandorganisation unter bestimmten an einer regionalen Ressource interessierten Einzelstaaten im Rahmen eines besonderen Vertrages ebenso wie die Übertragung an ein Organ unter der Ägide der Vereinten Nationen mit weitreichenderen Kompetenzen (wofür etwa – allerdings betreffend Ressourcen außerhalb nationaler Hoheitsgrenzen – mit der International Seabed Authority bereits ein Beispiel existiert). 210 ICJ Reports 1997, 7 (Para. 147).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
401
Der Umstand, dass die gemeinsame Nutzung natürlicher Ressourcen in den meisten Fällen durch die territorialen Gegebenheiten bestimmt wird211, prägt denn auch den Aspekt der Gemeinwohlorientierung, welchen das Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen enthält. Die Abhängigkeit der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft von bestimmten natürlichen Ressourcen, deren Nutzbarkeit mit anderen geteilt wird, führt gewissermaßen zu einem regionalen Gemeinwohl. Die bestimmte Wasserressource, deren Nutzung für die Anliegerstaaten von größtem Interesse ist, bildet dabei das wohl bedeutendste Beispiel. Zu denken ist daneben aber auch an die Nutzung bestimmter lebender Ressourcen, etwa von Fischbeständen in den Meeren (wobei hier freilich aufgrund der Tatsache, dass der weitaus größte Teil derselben hoheitsfrei ist, der Gesichtspunkt territorialer Ansprüche eine untergeordnete Rolle spielt). Nicht nur das Beispiel solcher lebender Ressourcen, sondern auch das Beispiel der Süßwasserressourcen lässt dabei erkennen, dass der regionale Kontext, in dem sich eine ressourcenbezogene Interessengemeinschaft bewegt, eine beträchtliche geographische Ausdehnung aufweisen kann. So ist in Bezug auf die Ressource Wasser nicht nur die Länge eines Flusses oder die Ausdehnung eines Sees an sich ausschlaggebend, sondern das gesamte hydrologische Einzugsgebiet. Entsprechend sind Regelungsgegenstand des Übereinkommens über die nicht-schifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe nach dessen Art. 2 Bst. a nicht nur Flüsse, sondern jedes System von Oberflächen- und Grundwassern, die eine natürliche Einheit bilden und einen gemeinsamen Abfluss haben212. Dem entspricht dann auch, dass auch ein regionales Übereinkommen eine größere Zahl von Nutzern der betreffenden Wasserressource umfassen kann, wie beispielsweise das Übereinkommen über die Zusammenarbeit zum Schutz und zur verträglichen Nutzung der Donau213 zeigt, an dem nicht weniger als zwölf Vertragsparteien beteiligt sind. In Bezug auf das Beispiel von Fischbeständen kommt die räumliche Ausdehnung des durch deren Nutzung (und Schutz) bestimmten Gemeinwohls im Übrigen besonders bei jenen Fischarten zum Ausdruck, die sich über enorme Distanzen fortbewegen214.
___________ 211
Eine Ausnahme bildet bspw. die Nutzung der Luft, deren Verschmutzung oft weiträumige Dimensionen annimmt; vgl. dazu das Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung. 212 Vgl. bspw. auch Art. 2 des neuen Rheinschutzübereinkommens von 1999. 213 ABl. 1997 L 342, 19. 214 Die besondere Bedeutung dieser wandernden Fischarten kommt auch in spezifischen völkerrechtlichen Konventionen zum Ausdruck; s. das „Agreement on Straddling and Highly Migratory Fish Stocks“ zur Seerechtskonvention sowie bspw. die „Convention on the Conservation and Management of Highly Migratory Fish Stocks in the Western and Central Pacific Ocean“.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Festhalten lässt sich damit Folgendes: Regeln zur Nutzung und zum Schutz gemeinsamer Ressourcen, die deren Bewahrung zugunsten aller an ihnen Interessierten bezwecken, können als unmittelbarer Ausdruck der Orientierung am entsprechenden (regionalen) Gemeinwohl betrachtet werden215. In besonderem Maß gilt dies für Ressourcen, die für das Wohlergehen aller Beteiligten und dazu noch der künftigen Generationen unverzichtbar sind, womit wieder das Süßwasser als wichtigstes Beispiel angesprochen ist.
3. Mögliche normative Funktion im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung a) Das Kriterium des normativen Gehalts Die allfällige Problematik, die mit dem normativen Gehalt des Prinzips der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen verbunden sein könnte, zeigt sich beispielhaft bei dessen Verwendung durch das Übereinkommen über die nicht-schifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe. Festzustellen ist nämlich, dass auch mit der Festlegung einer Liste von Kriterien zur Konkretisierung des Prinzips natürlich nicht abschließend geklärt ist, welches Gewicht den diversen Kriterien im Einzelnen zukommen soll. Es dürfte denn auch kaum möglich sein, hierfür allgemein anwendbare, gewissermaßen generell-abstrakte Richtlinien zu entwickeln. Im konkreten Anwendungsfall kann die Bedeutung der verschiedenen Kriterien je nach den faktischen Gegebenheiten variieren und muss insofern als relativ gelten. Schon der Maßstab der Gerechtigkeit, der dem Prinzip selbst innewohnt, impliziert allerdings logischerweise (und Art. 6 Abs. 3 des besagten Übereinkommens stellt dies ausdrücklich fest), dass die im Einzelfall relevanten Kriterien in einer Gesamtschau gegeneinander abgewogen werden müssen. Der für ein Prinzip im normtheoretischen Sinn verlangte Sollenssatz ist damit hinreichend gegeben; dies, auch wenn (wie auch im Falle des Vorsorgeprinzips) im konkreten Einzelfall Abwägungen vorgenommen werden müssen, um zu jener Verhaltensweise zu gelangen, die den spezifischen Verhältnissen tatsächlich gerecht wird. Der Sollenssatz ist eben gerade in der Verpflichtung der betroffenen Staaten zu erblicken, im Zusammenhang mit natürlichen Ressourcen auftretende Nutzungskonflikte unter Zugrundelegung des Maßstabs der Fairness bzw. der Gerechtigkeit zu lösen, bei prinzipieller Gleichberechtigung der Beteiligten. Der Umstand, dass die Offenheit der Frage nach der Angemessenheit des tatsächlichen Ergebnisses keine abstrakte Verhaltensregel zulässt, spricht ___________ 215
In dieser Richtung auch bereits Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (796). Zum Grundsatz der gerechten gemeinsamen Nutzung als Prinzip im Dienst gemeinsamer Interessen s. auch Riedel, in: New Trends in International Lawmaking, 61 (77 ff.).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
403
(wie bereits mehrfach erörtert216) keineswegs gegen den normativen Charakter des Prinzips. Somit kann davon ausgegangen werden, dass der für ein konstitutionelles Prinzip erforderliche normative Gehalt der rechtlichen Formel im Zusammenhang mit dem Prinzip der gerechten Nutzung natürlicher Ressourcen gegeben ist.
b) Das Kriterium der Anerkennung durch die konstituierte Gemeinschaft Anders als beim Vorsorgeprinzip, das eine breite Anerkennung in allen relevanten Bereichen des Umweltvölkerrechts gefunden hat, beschränkt sich die völkerrechtliche Praxis zum Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen auf bestimmte Teilbereiche. Dies ist freilich vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Anwendung des letzteren Prinzips die besonderen faktischen (natürlichen und territorialen) Verhältnisse voraussetzt, im Rahmen derer sich überhaupt Gerechtigkeitsfragen der Nutzung ergeben. Im internationalen Wasserrecht als jenem Bereich, in dem dies exemplarisch der Fall ist, kann denn auch von einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Prinzips der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen ausgegangen werden217. Diese Einschätzung ergibt sich aus der Tatsache, dass die diesbezügliche völkerrechtliche Praxis wie bereits ausgeführt218 sowohl eine seit Jahrzehnten gefestigte Rechtsprechung als auch die Niederlegung des Prinzips in den wichtigsten wasserrechtlichen Vertragswerken umfasst. Aufbauend auf der Kodifikationsarbeit der ILA sowie der ILC steht beim Vertragsrecht heute das eine globale Geltung anstrebende219 Übereinkommen über die nichtschifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe im Vordergrund (Art. 5 und 6). Die Zugrundelegung des Prinzips geht außerdem auch aus Art. 2 Abs. 2 Bst. c Übereinkommen zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen hervor, das (für den Bereich der ___________ 216 Siehe die jeweiligen Ausführungen zum Kriterium des normativen Gehalts in den Abschnitten zuvor. 217 Zu dieser Einschätzung vgl. auch McCaffrey, in: International Watercourses, 17 (26 f.). 218 Zuvor in diesem Kap., B. IV. 1. Vgl. zur entsprechenden völkerrechtlichen Praxis im Übrigen auch Caponera, in: AJPIL 1993, 147 (156 f.); Hafner, in: AJPIL 1993, 113 (119 ff.); Heintze, in: Wasser, 279 (285 f.); Hinds, Umweltrechtliche Einschränkungen, 100; McCaffrey, in: AJPIL 1993, 87 (106 f.); Odendahl, Umweltpflichtigkeit, 165 ff.; Sohnle, in: RGDIP 1998, 85 (113 ff.). 219 Auch mehr als zehn Jahre nach ihrer Verabschiedung im Jahr 1997 ist die Konvention allerdings mangels ausreichender Ratifizierung nach wie vor nicht in Kraft. Während gemäß Art. 36 Abs. 1 der Konvention die Ratifikation durch 35 Vertragsparteien erforderlich ist, lagen im Januar 2008 erst von 16 Staaten entsprechende Erklärungen vor.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
UN/ECE) die wichtigste überregionale Konvention zum Schutz des Süßwassers bildet. Es kann außerdem davon ausgegangen werden, dass das Prinzip explizit oder jedenfalls implizit einen grundlegenden Bestandteil der meisten regionalen Abkommen bildet, welche als Zielsetzung eine Regelung der Nutzung von Süßwasserressourcen enthalten220. Als Beispiele aus jüngerer Zeit genannt seien hier nur das Abkommen über die Zusammenarbeit für die Nachhaltige Entwicklung des Mekong-Beckens zwischen Kambodscha, Laos, Thailand und Vietnam221 aus dem Jahre 1995 (Art. 5) sowie der aus dem Jahr 1996 stammende Vertrag zwischen Indien und Bangladesh über die Verteilung der Wasser des Ganges222 (Art. IX)223. Es ist im Übrigen festzustellen, dass das Prinzip teilweise als derart selbstverständlich erachtet wird, dass es nicht selbst genannt, sondern gewissermaßen in spezifischere Verpflichtungen aufgefächert wird. Dies kommt jedenfalls im neuen Rheinschutzübereinkommen von 1999 zum Ausdruck: Gestützt auf Jahrzehnte guter Nachbarschaft, in deren Verlauf auch schwierige Interessenkonflikte einvernehmlich gelöst werden konnten224, enthält die Konvention eine Reihe besonderer Zielsetzungen (Art. 3) und Grundsätze (Art. 4), die letztlich das Prinzip der gerechten Nutzung einer natürlichen Ressource auf einer detaillierteren Ebene festschreiben. Besonders erkennen lassen dies die Zielsetzungen der „Sicherstellung eines ökologisch verträglichen und rationellen Umgangs mit den Wasservorkommen“ (Art. 3 Abs. 1 Bst. e) und der „Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse bei technischen Ausbaumaßnahmen“ u. a. bei der Wasserkraftnutzung (Art. 3 Abs. 1 Bst. f); gleiches gilt für die Prinzi___________ 220
Vgl. hierzu etwa Durner, Common Goods, 78 ff. ILM 34 (1995), 864 ff. 222 ILM 36 (1997), 519 ff. 223 Demgegenüber wird im Vertrag zwischen Indien und Nepal betreffend die gemeinsame Nutzung des Flusses Mahakali von 1995 (ILM 36 [1997], 531 ff.) ausdrücklich festgehalten, dass den Nutzungsinteressen Nepals (des Oberliegers) gegenüber jenen Indiens der Vorrang gebührt (Art. 5). Ohne diese ausdrückliche Bevorteilung Nepals bei allgemeinen Wassernutzungsfragen müsste aber von der Geltung des Gleichheitsgrundsatzes ausgegangen werden, wie er im Vertrag in anderem Zusammenhang niedergelegt ist (Art. 3 Abs. 1 in Bezug auf den Nutzen aus einem gemeinsamen Kraftwerksprojekt). Auch Durner, Common Goods, 80, weist darauf hin, dass der Grundsatz der gerechten Nutzung „unverkennbar“ die Grundlage des Übereinkommens bilde, auch wenn eine explizite Bezugnahme fehlt. 224 Hinzuweisen ist dabei besonders auf die Behandlung der Verschmutzung des Rheins durch Chloride, die eine gewisse gegenseitige Solidarität erkennen lässt. Während die Belastung v.a. aus dem Kalibergbau im Elsass stammte und dabei am stärksten die Niederlande betraf, beteiligten sich alle Anrainerstaaten des Rheins nach einem bestimmten Schlüssel an den Kosten zur Beseitigung des Problems. Siehe dazu das Übereinkommen zum Schutz des Rheins gegen Verunreinigung durch Chloride mitsamt Zusatzprotokoll; vgl. auch Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 209 f. 221
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
405
pien der Nichterhöhung von Beeinträchtigungen (Art. 4 Bst. e) und des Ausgleichs bei erheblichen technischen Eingriffen (Art. 4 Bst. f). Einen zweiten bedeutenden Bereich einer völkerrechtlichen Praxis zum Prinzip bildet die Nutzung lebender Meeresressourcen225. Auch hier spielt das Prinzip der gerechten bzw. fairen und gleichmäßigen Nutzung in einer Reihe von Entscheidungen internationaler Gerichte eine Rolle226. Der Schutz bestimmter Fischarten vor Überfischung bildet dabei regelmäßig sowohl eine Notwendigkeit des Schutzes des Meeres als Ökosystem als auch des Ausgleichs der Interessen an der Nutzung dieser Ressource. Auch in der Vielzahl von Konventionen, welche die Nutzung von Fischbeständen regeln, bildet das Prinzip sodann zumindest implizit den wesentlichen Pfeiler für die Rechte und Pflichten der beteiligten Parteien. Beispielhaft genannt seien hier das „Agreement on Straddling and Highly Migratory Fish Stocks“ zur Seerechtskonvention (Art. 5) sowie aus jüngerer Zeit die „Convention on the Conservation and Management of Highly Migratory Fish Stocks in the Western and Central Pacific Ocean“ (Art. 5) und die „Convention on the Conservation and Management of Fishery Resources in the Southeast Atlantic Ocean“ (Art. 20). So wird etwa in der zuletzt genannten Konvention festgehalten, dass bei der Bestimmung der Teilhaberechte an der Nutzung von Fischbeständen die diversen Interessen der beteiligten Staaten gebührend berücksichtigt werden müssen, um so zu gerechten Ergebnissen (insbesondere bei der Festsetzung von Fangquoten) zu gelangen. Unter der Einschränkung, dass die Verwendung des Grundsatzes der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen nur in bestimmten sachlichen Bereichen überhaupt eine konkrete Rolle spielen kann227, ergibt sich somit Folgendes: Auch das für ein konstitutionelles Prinzip vorausgesetzte Kriterium der notwendigen Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft kann als gegeben erachtet werden. Dies gilt jedenfalls für den umweltrelevan-
___________ 225 Dazu allgemein Sands, Principles of International Environmental Law, 559 ff.; s. zudem auch Schram/Tahindro, in: Developments in International Fisheries Law, 251 (263 ff., 268 ff.). 226 So nahm der IGH im Fall „Fisheries Jurisdiction“ zwischen dem Vereinigten Königreich und Island (s. ICJ Reports 1974, 3, insb. Para. 49 ff.) auf die angemessene Nutzung von Fischvorkommen Bezug. Zu nennen ist aus jüngerer Zeit außerdem etwa der bereits erwähnte Entscheid des Internationalen Seegerichtshofs im „Southern Bluefin Tuna“-Fall (ILM 38 [1999], 1624 ff.); vgl. vorne in diesem Kap., B. II. 3. b). 227 Reinicke, Angemessene Nutzung gemeinsamer Naturgüter, nennt die weiteren Bereiche der gemeinsamen Tierressourcen (50 ff.), der gemeinsamen Luftressourcen (68 ff.), der gemeinsamen mineralischen Ressourcen (76 ff.) sowie der gemeinsamen Ökosysteme (82 ff.). Allerdings ist die völkerrechtliche Praxis zu diesen Beispielen beschränkt, so dass vorliegend nicht näher darauf eingegangen wird.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
ten Teilbereich der Nutzung von Süßwasserressourcen sowie zumindest ansatzweise auch für die Nutzung von lebenden Ressourcen der Meere.
V. Zusammenfassung Nach dem in der vorliegenden Untersuchung verfolgten konzeptionellen Verfassungsbegriff228 bildet die Orientierung am Gemeinwohl den Maßstab einer konstitutionellen Ordnung. An diesem Maßstab müssen die normativen Entscheidungen ausgerichtet sein, die als konkrete Belege eines Konstitutionalisierungsprozesses erachtet werden können. Gestützt auf diese Grundlagen bestand die Zielsetzung des vorliegenden Unterkapitels (B.) darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob und inwiefern sich normative Bestandteile einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung im spezifischen Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes nachweisen lassen. Dabei konzentrierten sich die eingehenderen Betrachtungen auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung sowie die drei Prinzipien der Vorsorge, der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit sowie der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen. Neben der Ausrichtung am Maßstab der Gemeinwohlorientierung wurden diese rechtlichen Formeln außerdem dahingehend untersucht, ob sie den formulierten normtheoretischen Voraussetzungen bezüglich ihrer Funktion sowie ihrer Akzeptanz durch die internationale Rechtsgemeinschaft gerecht werden. Dabei lassen sich nunmehr folgende Ergebnisse zusammenfassen. (1) Das umweltvölkerrechtliche Konzept der Nachhaltigen Entwicklung entspricht den auf der normativen Ebene konstitutioneller völkerrechtlicher Leitkonzepte gestellten Anforderungen. Die mit dem Kerngedanken des Konzepts in das Völkerrecht eingeführte intergenerationelle Dimension des Gemeinwohls ist dabei zum einen in ausreichender Weise normativ bestimmt, um als konstitutioneller Grundwert zu dienen und die auf dieser Ebene erwartete Referenzwertfunktion übernehmen zu können. Zum andern hat jedenfalls der Kerngehalt des Nachhaltigkeitskonzepts (also der besondere Gemeinwohlaspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit) eine derart weit gehende Anerkennung in der völkerrechtlichen Praxis gefunden, dass von einem konstitutionell wirksamen Konsens der internationalen Gemeinschaft gesprochen werden kann. (2) Auf der Ebene konstitutioneller völkerrechtlicher Prinzipien im normtheoretischen Sinn, die den konzeptionellen Rahmen auf einer konkreteren normativen Ebene ergänzen, hat sich sodann zunächst gezeigt, dass das Vorsorgeprinzip den gestellten Anforderungen gerecht wird. Inhaltlich greift es die ___________ 228
Dazu insb. das 2. Kap., D. III. 2. c).
B. Normative Konkretisierungen im Umweltvölkerrecht
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intergenerationelle Erweiterung des Gemeinwohlbegriffs auf, die sich aus dem Nachhaltigkeitskonzept ergibt, und verleiht dieser auf der normativ konkreteren Ebene eines rechtlichen Sollenssatzes Wirkung. Die umfassende, eine völkergewohnheitsrechtliche Verankerung indizierende Anerkennung des Prinzips – und zwar wiederum gerade auch des enthaltenen Gemeinwohlaspekts – in allen wesentlichen umweltvölkerrechtlichen Bereichen führt dabei zum Schluss, dass jene Akzeptanz durch die internationale Gemeinschaft vorliegt, die für ein konstitutionelles Prinzip vorauszusetzen ist. (3) Demgegenüber stellte sich heraus, dass dem Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit der Status eines potentiellen konstitutionellen Prinzips zur Zeit noch nicht beigemessen werden kann. Zwar lässt sich das inhaltliche Kriterium der Gemeinwohlorientierung durchaus belegen. Indessen lässt der Grundsatz in seiner heute vorhandenen Ausprägung jenes Maß einer gehaltvollen normativen Konkretisierung vermissen, das für einen rechtlichen Sollenssatz auch auf der relativ abstrakten Ebene eines Prinzips im normtheoretischen Sinn unabdingbar ist. Überdies hat sich gezeigt, dass auch die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft nur für den inhaltlich sehr eingeschränkten Kerngehalt einer gerechten Inpflichtnahme aller Staaten angenommen werden kann, während demgegenüber über alles weitere noch weitgehend Uneinigkeit herrscht. Nicht ausgeschlossen ist damit freilich, dass sich der Grundsatz noch in der erforderlichen Richtung weiterentwickeln wird. (4) Hingegen ergab sich wiederum, dass der Grundsatz der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen den an ein konstitutionelles Prinzip gestellten Voraussetzungen zumindest für die regionalen Belange der Nutzung von Süßwasserressourcen gerecht wird. Denn jedenfalls für diesen spezifischen umweltvölkerrechtlichen Bereich können sowohl eine inhaltliche Gemeinwohlorientierung des Grundsatzes als auch die Kriterien einer normativen Funktion im Rahmen einer konstitutionellen völkerrechtlichen Ordnung (ausreichende normative Bestimmheit sowie Anerkennung des spezifischen Gemeinwohlaspekts durch die internationale Gemeinschaft) angenommen werden. Insgesamt lässt sich somit das folgende vorläufige Fazit ziehen: –
Das konstitutionelle Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung bildet eine bereichsspezifische (nämlich umweltbezogene) normative Grundentscheidung im Sinne der am Ende des 2. Kapitels formulierten Kriterien bezüglich des Mindeststandards einer konstitutionellen Ordnung229.
–
Die beiden Prinzipien der Vorsorge und der gerechten Nutzung gemeinsamer Ressourcen erfüllen zudem die Voraussetzungen für konstitutionelle
___________ 229
Siehe das 2. Kap., D. IV.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Normen mit dem Ziel, die am Gemeinwohl orientierte normative Grundentscheidung des umweltbezogenen konstitutionellen Leitkonzepts zu verwirklichen.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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C. Das völkerrechtliche Regime zum Schutz des Klimas als Anwendungsfall der potentiellen konstitutionellen Vorgaben Mit dem Fazit des letzten Unterkapitels ist allerdings noch keine Aussage über die Verfassungsfähigkeit der Völkerrechtsgemeinschaft gewonnen. Vielmehr ist gestützt auf die angelegten Untersuchungskriterien1 in einem nächsten Schritt der Frage nachzugehen, ob die genannten konstitutionellen Normen, und mit ihnen das zugrunde liegende konstitutionelle Leitkonzept, durchgesetzt bzw. durch die Staaten beachtet werden. Eine staatliche Verfassung bleibt toter Buchstabe, wenn sich die Mitglieder der betreffenden Rechtsgemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Verfassungsgeber zwar auf konstitutionelle Vorgaben verständigt haben, diese in der Folge aber in praktischen Fragen nicht befolgen, insbesondere Verfassungsaufträge durch den Gesetzgeber nicht umgesetzt werden. Gleichermaßen ist auch auf der Stufe einer allfälligen völkerrechtlichen Verfassungsordnung die Bereitschaft der Staaten als angesprochene Rechtssubjekte erforderlich, getroffene normative Entscheidungen, welchen potentiell eine konstitutionelle Bedeutung zukommt, auch in praktischen Fragen zu beachten. Die vorhin dargestellte Praxis zum völkerrechtlichen Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung sowie zu den analysierten umweltvölkerrechtlichen Prinzipien hat bereits aufgezeigt, dass die internationale Gemeinschaft dazu fähig ist, sich auf normative Gehalte einer konstitutionellen Gemeinwohlorientierung zu verständigen. Zur Annahme einer bestehenden völkerrechtlichen Verfassungsordnung ist indessen auch unter dem Ansatz des konzeptionellen Verfassungsbegriffs die Gewissheit erforderlich, dass Gewähr für die praktische Umsetzung der potentiellen konstitutionellen Vorgaben gegeben ist. Als Referenzbereich, in dem die Beachtung der umweltbezogenen potentiellen Verfassungselemente zu überprüfen ist, soll im Folgenden das völkerrechtliche Klimaschutzregime dienen. Unter den diversen in Frage kommenden Teilbereichen des Umweltvölkerrechts zeichnet sich der Klimaschutz durch Merkmale aus, die ihn unter dem Gesichtspunkt des konstitutionellen Gemeinwohlansatzes besonders qualifizieren. Die entsprechenden Fakten wurden bereits angesprochen2: Die Problematik des globalen Klimawandels stellt eine Bedrohung der gesamten Menschheit dar. Dabei sind ihre langfristigen Wirkungen, mit der drohenden Irreversibilität der Folgen, ein deutliches Beispiel für die Konsequenzen, welche das Handeln der heutigen Generationen für die Lebensgrundlagen künftiger Generationen mit sich bringen kann. ___________ 1 2
Siehe das 2. Kap., D. IV., sowie in diesem Kap., vor A. Siehe das 3. Kap., A. I. 1. c) aa).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
I. Zur Bedeutung der umweltbezogenen potentiellen Verfassungselemente im Kontext des Klimaschutzes In Bezug auf die Rolle, die den umweltbezogenen Elementen möglicher völkerrechtlicher Konstitutionalisierung im besonderen Zusammenhang des Klimaschutzes zukommt, stehen das konstitutionelle Leitkonzept der Nachhaltigkeit sowie das Vorsorgeprinzip im Vordergrund. Demgegenüber kommt dem zuvor ebenfalls zu den konstitutionellen Elementen gezählten Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen im Bereich des Klimaschutzes keine spezifische Bedeutung zu, lässt sich doch das Erdklima höchstens in einem sehr weiten, hier jedoch unpassenden Sinn als nutzbare „Ressource“ verstehen; es wird daher nachfolgend ausgeklammert. Hingegen soll in die folgenden Überlegungen – trotz des mangelnden konstitutionellen Status, aber angesichts seiner möglichen Bedeutung für die weitere Entwicklung des Konstitutionalisierungsprozesses – auch das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit einbezogen werden.
1. Konzept der Nachhaltigen Entwicklung Die zukunftsgerichtete Dimension des Gemeinwohls ist angesichts der Bedrohungslage im Bereich des Klimas keineswegs „nur“ hypothetisch, sondern sehr konkret zu verstehen: Es geht um nichts weniger als darum, dafür zu sorgen, dass den kommenden Generationen nicht die fatalen Folgen eines klimaschädigenden Lebensstils aufgebürdet werden. Die Bedeutung Nachhaltiger Entwicklung als potentielles konstitutionelles Leitkonzept des Umweltvölkerrechts ist somit darin zu sehen, dass es primär die Zielsetzung vorgibt, die Interessen der künftigen Generationen zu respektieren. Daran ist die globale Klimapolitik zu messen, soweit es um den intergenerationellen Aspekt der Gemeinwohlorientierung geht, und darauf hin müssen konsequenterweise die anzuwendenden rechtlichen Instrumente zielen.
2. Vorsorgeprinzip Beim umweltvölkerrechtlichen Vorsorgeprinzip wird dies noch weiter verdeutlicht: Dieses verpflichtet die Staaten dazu, Tätigkeiten oder Substanzen, welche Umweltschädigungen bewirken können, zu kontrollieren und unter Umständen zu verbieten, selbst wenn (noch) keine wissenschaftliche Gewissheit über die möglichen oder wahrscheinlichen Umweltschäden gegeben ist. Die Wichtigkeit dieses Grundsatzes zeigt sich vor allem dann, wenn menschliches Handeln oder Unterlassen mit sehr hohen Risiken für die Umwelt verbunden ist, Langzeitschäden oder gar irreversible negative Auswirkungen zu erwarten
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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sind. Im Bereich des Klimaschutzes kommt dem Grundsatz damit eine geradezu exemplarische Bedeutung zu: Die mit dem Handeln der jetzigen Generation verbundenen Gefahren für die Menschheit und die gesamte Umwelt sind hier derart hoch, dass das Prinzip, möglichst effektive Maßnahmen zur Risikominimierung auch ohne absolute wissenschaftliche Gewissheit in Bezug auf die möglichen Folgen des Klimawandels zu ergreifen, eine unabdingbare Verhaltensmaxime bildet. Die hinter dem Vorsorgeprinzip stehende Einsicht, dass es angesichts potentieller Risiken angebracht sein kann, nicht erst im Moment wissenschaftlicher Gewissheit umweltpolitische Maßnahmen zu ergreifen, bildet denn auch eine eigentliche Triebfeder des völkerrechtlichen Klimaregimes. Art. 3 Abs. 3 Klimakonvention bringt dies mit folgendem Wortlaut klar zum Ausdruck: „Die Vertragsparteien sollen Vorsorgemaßnahmen treffen, um den Ursachen der Klimaänderungen vorzubeugen, sie zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten und die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen abzuschwächen. In Fällen, in denen ernsthafte oder nicht wiedergutzumachende Schäden drohen, soll das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewissheit nicht als Grund für das Aufschieben solcher Maßnahmen dienen (...).“
3. Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit Auch wenn das Prinzip heute nicht als in einem potentiell konstitutionellen Sinn anerkannt eingestuft werden kann, so lässt sich doch Folgendes zur grundsätzlich gegebenen Bedeutung für die Belange des Klimaschutzes anmerken: Die Frage nach der Verteilung der ökonomischen Lasten, die bei der Bewältigung von Umweltproblemen anfallen, zwischen den verschiedenen Staaten erhält im Zusammenhang mit der Problematik des Klimawandels eine besondere Brisanz. Diese beruht darauf, dass einerseits die gesamte Menschheit von den Folgen des Klimawandels bedroht ist, andererseits aber die Ursachen des Phänomens auf das Verhalten einer Minderheit der Weltbevölkerung zurückzuführen sind. Dementsprechend kommt dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit gerade im völkerrechtlichen Klimaregime eine wichtige Rolle zu3. In Art. 3 Abs. 1 Klimakonvention wird dies denn auch explizit hervorgehoben. So gilt nach der Klimakonvention bereits für die (von Art. 4 Abs. 1 genannten) allgemeinen Verpflichtungen, die alle Vertragsparteien gleichermaßen betreffen, der einschränkende Hinweis auf ihre „gemeinsamen aber unter___________ 3
Vgl. auch Harris, in: New York University Environmental Law Journal 1999, 27 (30 ff.); Kellersmann, Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit, 142 ff.; Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 ff.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
schiedlichen Verantwortlichkeiten und (...) speziellen nationalen und regionalen Entwicklungsprioritäten, Ziele und Gegebenheiten“. Art. 4 Abs. 2-5 enthalten für die Vertragsstaaten, die als entwickelte Länder gelten, zusätzliche Verpflichtungen, etwa in Bezug auf die Bereitstellung finanzieller Mittel zugunsten der Entwicklungsländer. Art. 4 Abs. 6 nennt zudem als weitere Kategorie von Vertragsparteien Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft, denen im Vergleich zu den entwickelten Ländern eine erhöhte Flexibilität bei der Erfüllung ihrer Vertragspflichten zugestanden wird. Der Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit wurde auch im die Klimakonvention konkretisierenden Kyoto-Protokoll berücksichtigt: Demnach haben bestimmte Staaten konkrete (wiederum unterschiedliche) Reduktionsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen sicherzustellen, während andere Länder weder auf Reduktionen noch auf Höchststeigerungsraten festgelegt sind.
II. Die klimapolitische Wirklichkeit Den genannten normativen Elementen kommt im Bereich des völkerrechtlichen Klimaschutzes also eine wesentliche Rolle zu. Gerade in Bezug auf die Prinzipien der Vorsorge und der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit trägt das Klimaregime durch explizite Aussagen zudem entscheidend zur entsprechenden völkerrechtlichen Praxis bei. Zu untersuchen bleibt, ob die Vorgaben der Leitkonzept- und Prinzipienebene auch in spezifischen Anwendungsfragen beachtet werden, das völkerrechtliche Klimaregime mit anderen Worten die selbst mitformulierten (konstitutionellen) Anforderungen umsetzt.
1. Die Entwicklung des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes im Überblick Seit der Unterzeichnung der Rahmenkonvention über Klimaänderungen4 anlässlich der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro im Jahr 1992 hat das damit begründete völkerrechtliche Regime zum Schutz des Klimas eine mittlerweile bewegt zu nennende Geschichte hinter sich. Dies beruht aus heutiger Sicht ganz wesentlich darauf, dass die Klimakonvention als Rah___________ 4 Allgemein zur Klimakonvention aus der umfangreichen Literatur anstelle vieler etwa Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 173 ff.; Bodansky, in: Yale Journal of International Law 1993, 492 ff.; Boisson de Chazournes, in: Enforcing Environmental Standards, 285 ff.; Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 229 ff.; Holtwisch, Nichteinhaltungsverfahren des Kyoto-Protokolls, 38 ff.; Lang/Schally, in: RGDIP 1993, 321 ff.; Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 33 ff.; Ott, in: Internationale Umweltregime, 201 ff.; Pulvenis, Environment After Rio, 71 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 357 ff.; Verheyen, in: Klimaschutz im Recht, 29 (35 ff.).
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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menabkommen5 selbst lediglich die Strategien zum Klimaschutz vorgibt und bestimmte allgemeine Grundsätze festlegt. Neben einigen wenigen allgemeinen Verpflichtungen, die sowohl für Industriestaaten als auch für Entwicklungsländer und damit für alle Vertragsparteien gelten6, sind hier insbesondere die materiellen Verpflichtungen der in den Anlagen I und II der Klimakonvention aufgeführten Industriestaaten zu nennen7. Gerade die in Art. 4 Abs. 2 Bst. a Klimakonvention enthaltene allgemeine Verpflichtung der in Anlage I genannten industrialisierten Vertragsparteien (OECD-Staaten, EU sowie osteuropäische Staaten, die sich im Übergang zur Marktwirtschaft befinden), konkrete Maßnahmen zum Schutz des Klimas zu ergreifen, ist allerdings nur mangelhaft präzisiert8; zudem ist sie in ungewöhnlich gewundenen Formulierungen gehalten, in denen der ausgesprochene Kompromisscharakter der Bestimmungen (zu) deutlich zum Ausdruck kommt9. Daneben formuliert die Konvention jedoch keine konkreten Verpflichtungen, die für die nationale Ebene rechtlich verbindlich wären und damit am Ursprung der Problematik ansetzen würden.
___________ 5
Eine Rahmenkonvention zeichnet sich dadurch aus, dass sie eher allgemeine Grundsätze und Zielvorgaben für das weitere Vorgehen sowie Verfahrensvorschriften und institutionelle Bestimmungen enthält, während die Formulierung präziserer Verpflichtungen und Vorgaben konkretisierenden Dokumenten – meist Protokolle genannt – vorbehalten bleibt. Sowohl die Rahmenkonvention als auch die entsprechenden Protokolle sind als selbständige völkerrechtliche Verträge zu qualifizieren, womit insbesondere die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ihr Inkrafttreten jeweils separat erfüllt sein müssen. Für die Anwendung der Vertragstechnik der Rahmenkonvention und ergänzender Zusatzprotokolle existiert gerade im Bereich des Umweltvölkerrechts mittlerweile eine größere Zahl von Beispielen. Hierzu gehört neben der Klimaschutzkonvention mit dem Kyoto-Protokoll aus jüngerer Zeit bspw. die Biodiversitätskonvention mit dem Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit. Näheres zum Verhältnis von Rahmenkonvention und Zusatzprotokoll(en) im Umweltvölkerrecht bei Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 30 ff.; Dominicé, in: Mélanges Schmidlin, 249 ff.; Kiss, in: AFDI 1993, 792 ff. 6 Siehe insb. Art. 4 Abs. 1 Bst. a-e, g, h, Art. 5 sowie Art. 12 Klimakonvention; s. dazu auch Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 241 f. 7 Neben der sogleich angesprochenen Verpflichtung der in Anlage I genannten Industriestaaten zum aktiven Klimaschutz gelten nach Art. 4 Abs. 3-5 für die in Anlage II genannten Vertragsparteien (OECD-Staaten sowie EU) spezifische finanzielle Verpflichtungen zugunsten der Entwicklungsländer. 8 So enthält die Klimakonvention weder einen Hinweis darauf, wie diese Maßnahmen konkret beschaffen sein müssen, noch wird das dabei zu erreichende Resultat (Stabilisierung der Treibhausgasemissionen auf dem Stand von 1990 bis zum Jahr 2000) verbindlich festgeschrieben. Die Bestimmungen haben denn auch erst mit dem Inkrafttreten der im Kyoto-Protokoll vorgesehenen rechtlich verbindlichen Reduktionsverpflichtungen eine konkrete Tragweite erhalten. 9 Die Kritik an der Klimakonvention bezog sich häufig gerade auf diesen Punkt, vgl. etwa Bail, in: EuZW 1998, 457 (458); Sands, in: RECIEL 1992, 270 (273 f.); Verheyen, in: Klimaschutz im Recht, 29 (44).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Die Aufgabe, bindende Verpflichtungen zur Beschränkung des Ausstoßes von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen in die Erdatmosphäre festzulegen und damit auch die effektive Umsetzung der Zielsetzungen der Klimakonvention sicherzustellen10, stellte sich somit den im Anschluss an das Inkrafttreten der Konvention abgehaltenen Vertragsparteienkonferenzen. Bereits im Rahmen der ersten Zusammenkunft der Vertragsparteien im Jahr 1995 in Berlin brachte die Allianz der durch den Klimawandel besonders bedrohten kleinen Inselstaaten11 einen Entwurf für ein die Klimakonvention ergänzendes Zusatzprotokoll ein. Diese klimapolitische Offensive führte zur Annahme des sogenannten „Berliner Mandats“12, wonach bis Ende des Jahres 1997 ein Protokoll zu verabschieden sei, das an die Adresse der Industriestaaten für Treibhausgase mengenmäßige Begrenzungs- und Reduktionsziele innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens vorsehen sollte. Eine entsprechende Einigung wurde anlässlich der dritten Vertragsparteienkonferenz in Kyoto gefunden: Das am 11.12.1997 verabschiedete Kyoto-Protokoll zur Klimakonvention sieht in rechtsverbindlicher Form an die Industriestaaten gerichtete quantitative und zeitliche Vorgaben für eine Regulierung der wichtigsten Treibhausgasemissionen vor13. Demnach müssen die Industriestaaten (nachdem das Protokoll am 16.2.2005 in Kraft getreten ist) für den Zeitraum von 2008 bis 2012 gegenüber dem Vergleichsjahr 1990 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von insgesamt fünf Prozent erreichen, wobei für die einzelnen Staaten unterschiedlich große Reduktionsmengen gelten. Demgegenüber enthält das Kyoto-Protokoll keine spezifischen Verpflichtungen für die Entwicklungsländer. Nach der Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls – voreilig als Durchbruch zu einer verantwortungsbewussten internationalen Klimapolitik gefeiert – geriet allerdings die Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes zum Gegenstand jahrelanger und erheblicher Querelen unter den beteiligten Parteien. Auch mit der Verabschiedung des Protokolls zur Rahmenkonvention blieben nämlich wichtige Fragen des Klimaschutzes überaus umstritten. Darauf wird nachfolgend näher einzugehen sein. Vorausgeschickt sei, dass das Kyoto___________ 10
Ausführlich zur Problematik der Umsetzung der Klimakonvention Durner, in: AVR 1999, 357 ff. 11 Alliance of Small Island States (AOSIS). Die diesen Staaten durch den Klimawandel drohende Gefahr besteht in nichts weniger als der Auslöschung ihrer Existenz: Durch das Ansteigen des Meeresspiegels drohen sie von der Erdoberfläche zu verschwinden. Zu den entsprechenden politischen Implikationen Burns, in: Dickinson Journal of Environmental Law and Policy 1997, 147 ff., sowie Neroni Slade, in: Environmental Policy and Law 2001, 157 ff. Allgemein zum besonderen völkerrechtlichen Status der kleinen Inselstaaten außerdem Lucchini, in: RdC 2000, 261 (331 ff.). 12 Hierzu im Einzelnen etwa Bail, in: EuZW 1998, 457 (459 f.); Ehrmann, in: NVwZ 1996, 347 ff.; Oberthür/Ott, Kyoto-Protocol, 43 ff. 13 Siehe Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Anlagen A und B Kyoto-Protokoll. Näheres zu diesen Verpflichtungen sogleich.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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Protokoll schließlich am 16.2.2005 in Kraft trat14, nachdem zwischenzeitlich ein Scheitern des Ratifikationsprozesses nicht auszuschließen gewesen war.
2. Das Kyoto-Protokoll als Zankapfel internationaler Politik a) Überblick über die Bestimmungen des Kyoto-Protokolls aa) Reduktionsverpflichtungen als zentraler Bestandteil Seit seinem Inkrafttreten ergänzt das Kyoto-Protokoll die in der Klimakonvention vorgesehenen allgemeinen Zielsetzungen und Strategien mit konkreten Handlungsverpflichtungen15. Den Kern der Bestimmungen des Protokolls bilden dabei die Reduktionsverpflichtungen gemäß Art. 3 Abs. 1. Danach müssen die in Anlage I der Klimakonvention genannten Industriestaaten einzeln oder gemeinsam dafür sorgen, dass die von ihnen emittierten Mengen bestimmter Treibhausgase16 die Mengen nicht überschreiten, welche in Anlage B des Protokolls für jeden der verpflichteten Staaten spezifisch festgelegt sind. Dies impliziert zugleich eine Reduktion der emittierten Mengen für den Zeitraum zwischen 2008 und 2012 um insgesamt mindestens fünf Prozent gegenüber dem Stand des Jahres 1990. Demgegenüber resultieren aus dem Kyoto-Protokoll für die Entwicklungsländer wie bereits erwähnt keine über die Klimakonvention hinausgehende materielle Verpflichtungen. ___________ 14 Das Inkrafttreten des Protokolls setzte die Ratifikation durch 55 Staaten voraus; zusätzlich war erforderlich, dass dabei eine Gesamtreduktionsmenge von 55 Prozent der CO2-Emissionen der Industriestaaten bezogen auf das Jahr 1990 erreicht wurde (Art. 25 Abs. 1). 15 Allgemein zum Inhalt des Protokolls etwa Bail, in: EuZW 1998, 457 ff.; Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 176 ff.; Boisson de Chazournes, in: AFDI 1997, 700 (702 ff.); Breidenich/Magraw/Rowley/Rubin, in: AJIL 1998, 315 (319 ff.); Breier, in: VN 1998, 31 ff.; Cameron, in: Journal of Energy & Natural Resources Law 2000, 1 ff.; Durner, in: AVR 1999, 357 (415 ff.); Epiney/Scheyli, Umweltvölkerrecht, 246 ff.; French, in: Journal of Environmental Law 1998, 227 (231 ff.); Holtwisch, Nichteinhaltungsverfahren des Kyoto-Protokolls, 43 ff.; Keller/Rosenmund, in: URP 1999, 353 (365 ff.); Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 517 ff.; Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 48 ff.; dies., in: ZaöRV 2005, 967 (980 ff.); McGivern, in: ILM 1998, 22 ff.; Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 93 ff.; Yamin, in: RECIEL 1998, 113 ff. 16 Das Kyoto-Protokoll erfasst gemäß Anlage A sechs Treibhausgase: Neben CO2, dem wichtigsten Treibhausgas, sind dies Methan (CH4), Lachgas (NO2), perfluorierte Kohlenwasserstoffe (FKW), wasserstoffhaltige Fluorkohlenwasserstoffe (H-FKW) und Schwefelhexafluorid (SF6). Dabei handelt es sich um jene Gase, die nicht bereits durch das Montreal-Protokoll zur Ozonschutzkonvention entsprechenden Regelungen unterworfen sind.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
bb) Umsetzung durch Flexibilisierung Wichtig und zugleich umstritten war (und ist) die Frage, mit welchen Mitteln die Emissionsreduktions- und Begrenzungsverpflichtungen der Industriestaaten umgesetzt werden sollen bzw. dürfen. Diesbezüglich sieht schon die Klimakonvention – jedenfalls dem Grundsatz nach – das Instrument der gemeinsamen Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen unter Industriestaaten („Joint Implementation“) vor17. Ein wesentliches Merkmal des Kyoto-Protokolls ist nun, dass es neben der „Joint Implementation“ weitere sogenannte Flexibilisierungsmechanismen einführt18. Diese stellen zum einen Formen der Zusammenarbeit zwischen Industriestaaten dar, zum andern ermöglichen sie aber (im Rahmen des „Clean Development Mechanism“) auch die Einbeziehung von Entwicklungsländern. –
Mit dem Mechanismus der gemeinsamen Umsetzung („Joint Implementation“)19 soll den Industriestaaten ermöglicht werden, ihren Verpflichtungen in möglichst kosteneffizienter Weise nachzukommen. Nach Art. 3 Abs. 10 und 11 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Kyoto-Protokoll sollen die in Anlage I der Klimakonvention genannten Industriestaaten untereinander Emissionsreduktionseinheiten transferieren können. Solche resultieren aus Projekten zum Zweck der Reduktion anthropogener Emissionsquellen oder zur Erweiterung von Treibhausgassenken. Indem ein Industriestaat in einem anderen Anlage I-Staat derartige Projekte finanziert, erwirbt er die entsprechenden Emissionsreduktionseinheiten, die sich unter der Voraussetzung bestimmter Kriterien20 auf seine eigenen Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtungen anrechnen lassen.
–
Die gemeinsame Erfüllung („Joint Fulfilment“)21 nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Kyoto-Protokoll stellt eine weitere Form des Zusammenwirkens von
___________ 17
Art. 4 Abs. 2 Bst. a (letzter Satz) Klimakonvention. Allgemein zu den verschiedenen Flexibilisierungsmechanismen etwa Bail, in: EuZW 1998, 457 (461 f.); Cullet, in: RECIEL 1999, 168 (171 ff.); Holtwisch, Nichteinhaltungsverfahren des Kyoto-Protokolls, 52 ff.; Keller/Rosenmund, in: URP 1999, 353 (370 ff.); Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 137 ff.; dies., in: ZaöRV 2005, 967 (984 ff.); Missfeldt, in: RECIEL 1998, 128 ff.; Montini, in: Rivista giuridica dell’ambiente 1999, 133 (138 ff.); Yamin, in: RECIEL 1998, 113 (121 f.). Ein anschauliches Schema zur Wirkung der Flexibilisierungsmechanismen des Kyoto-Protokolls findet sich bei Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 156. 19 Hierzu neben der soeben in Fn. 18 genannten Literatur auch King, in: RECIEL 1997, 62 ff.; Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 151 ff. 20 Siehe Art. 6 Abs. 1 Kyoto-Protokoll. 21 Vgl. neben der in Fn. 18 zuvor genannten Literatur auch Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 141 ff. Die Flexibilisierungsmechanismen der gemeinsamen Erfüllung („Joint Fulfilment“) und der gemeinsamen Umsetzung („Joint Implementation“) sind auseinanderzuhalten: Gemeinsame Erfüllung nach Art. 4 Kyoto-Protokoll bedeutet die Verwirk18
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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Industriestaaten bei der Verwirklichung der Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen dar. Die in Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll enthaltene Aussage, dass Anlage I-Parteien ihre Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen „individuell oder gemeinsam“ verwirklichen sollen, wird in Art. 4 Abs. 1 durch die Möglichkeit der gemeinsamen Erfüllung dieser Verpflichtungen durch ganze Gruppen von Industriestaaten konkretisiert. Danach gelten die in Anlage B des Protokolls festgelegten quantitativen Verpflichtungen bestimmter, in einer Gruppe zusammengeschlossener Industriestaaten als erfüllt, wenn ihre Emissionen insgesamt die Summe aller auf sie entfallenden individuellen Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen nicht übersteigen. Die Möglichkeit, aus dem Kyoto-Protokoll resultierende Verpflichtungen gemeinsam als Staatengruppierung zu erfüllen, geht auf eine Initiative der EU zurück22, die denn auch plant, ihre Reduktionsverpflichtungen als Ganzes erfüllen23. –
Gemäß Art. 3 Abs. 12 i.V.m. Art. 12 Kyoto-Protokoll soll schließlich der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung („Clean Development Mechanism“)24 auch die Einbeziehung von Entwicklungsländern ermöglichen. Anlage I-Parteien können danach Emissionsreduktionseinheiten erwerben, die an ihre eigenen Verpflichtungen anrechenbar sind, indem sie Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern unterstützen (Art. 12 Abs. 3 Bst. b). Der „Clean Development Mechanism“ setzt damit am Gedanken der Kosteneffizienz klimapolitischer Maßnahmen an, der auch der „Joint Implementation“ zugrunde liegt25.
___________ lichung der gesamten mengenmäßigen Emissionsreduktions- und Begrenzungsverpflichtungen einer Gruppe von Industriestaaten als Ganzes. Im Gegensatz dazu bezieht sich das Flexibilisierungsinstrument der gemeinsamen Umsetzung nach Art. 6 KyotoProtokoll („Joint Implementation“) einzig auf die Anrechnung an individuelle quantitative Verpflichtungen bestimmter Staaten im Rahmen einzelner Projekte. 22 Vgl. Breier, in: EuZW 1999, 11 ff.; Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 130 ff. 23 Wobei dann innerhalb der EU nach einem internen Lastenteilungsplan unterschiedliche Reduktionspflichten bestehen sollen. Siehe hierzu die Schlussfolgerungen des Rates zu einer Gemeinschaftsstrategie im Bereich der Klimaänderungen, Dok. 9702/98 vom 19.6.1998, sowie die Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: Politische Konzepte und Maßnahmen der EU zur Verringerung der Treibhausgasemissionen: zu einem europäischen Programm zur Klimaänderung (ECCP) vom 8.3.2000, KOM (2000) 88 endg. 24 Siehe neben den Nachweisen in Fn. 18 auch Neal, in: GIELR 1998-99, 163 (166 ff.); Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 165 ff.; Werksman, in: RECIEL 1998, 147 ff. Zur möglichen Umsetzung von „Clean Development Mechanism“-Projekten am Beispiel Indiens Bräuer/Kopp, in: ZfU 1999, 385 ff. 25 Wobei auch hier die Anrechenbarkeit an die quantitativen Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen des erwerbenden Industriestaats an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist; s. Art. 12 Abs. 5 Kyoto-Protokoll.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Art. 3 Abs. 10 und 11 i.V.m. Art. 17 Kyoto-Protokoll erlauben schließlich zwischen durch Anlage B des Protokolls verpflichteten Industriestaaten den Handel mit Emissionsreduktionseinheiten26. Grundlage dieses Emissionsrechtehandels ist der Gedanke, dass die Verpflichtung zu einer quantitativen Reduktion oder Begrenzung der Treibhausgasemissionen umgekehrt auch als ein Anspruch darauf betrachtet werden kann, Emissionen in einem Ausmaß zu produzieren, welche die erlaubte Menge nicht übersteigt. Emittiert ein zu Emissionsreduktionen oder -begrenzungen verpflichteter Industriestaat weniger als die ihm zustehenden Mengen, so kann er die Einsparungen an einen anderen Industriestaat veräußern, der damit wiederum seinen eigenen Emissionsanspruch vergrößert.
b) Umstrittene Fragen nach Kyoto Mit der Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls blieb allerdings eine Reihe von Fragen unbeantwortet, die sich in der Folge als überaus strittig herausstellten27. Während dem Protokoll die Rolle zukommt, die Rahmenkonvention zum Klimaschutz durch rechtlich verbindliche Verpflichtungen zu konkretisieren, beschränkt es sich selbst wiederum bei der Regelung wichtiger Fragen auf die Festlegung eines stark gestaltungsbedürftigen Rahmens. Mehrfach wird lediglich die Basis einer rechtlichen Regelung umrissen und die weitere Ausgestaltung demgegenüber ausdrücklich späteren Vertragsparteienkonferenzen übertragen. Dies gilt insbesondere für die verschiedenen Instrumente, die eine flexible Verwirklichung der festgehaltenen Reduktionsverpflichtungen ermöglichen sollen. Die seit Kyoto abgehaltenen Verhandlungen haben dabei gezeigt, dass diesbezüglich unter den Unterzeichnerstaaten teilweise selbst in Bezug auf grundlegende Fragen ein Konsens nur äußerst schwierig zu erreichen ist. Die Vielschichtigkeit der strittigen Fragen sowie deren Verknüpfung mit (teilweise unvereinbaren) Einzelinteressen der Staaten zeigen die folgenden wichtigen Beispiele28. ___________ 26 Siehe neben der in Fn. 18 genannten Literatur auch Grubb, in: RECIEL 1998, 140 ff.; Jochem, in: ZfU 1999, 349 ff.; Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 187 ff.; Schwarze/Zapfel, in: ZfU 1998, 493 (502 ff.). 27 Vgl. allgemein etwa Cooper, in: GIELR 1999, 401 (427 ff.); Grubb/Yamin, in: International Affairs 2001, 261 ff. 28 Eine umfassende Auflistung der strittigen Verhandlungsfragen ist hier nicht möglich. Einen entsprechenden Überblick vermittelt indessen bspw. der Report des in Kanada ansässigen International Institute for Sustainable Development zu den Verhandlungen des zweiten Teils der sechsten Vertragsstaatenkonferenz der Klimakonvention im Juli 2001: Earth Negotiation Bulletin Vol. 12, Nr. 176, abrufbar unter (Adresse gültig am 31.3.2008). Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Konferenz auch sogleich im Text.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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Die einschlägigen Bestimmungen des Kyoto-Protokolls sehen für die verschiedenen Flexibilisierungsmechanismen allgemein vor, dass diese ergänzend zu Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen im eigenen Land erfolgen sollen (Art. 6 Abs. 1 Bst. d, Art. 17) bzw. dass die erworbenen Reduktionseinheiten lediglich zur Erfüllung eines Teiles der eigenen Verpflichtungen dienen dürfen (Art. 12 Abs. 3 Bst. b). Ein Teil der Staaten und die Umweltschutzorganisationen forderten, dass diese Bedingungen für die mögliche Anrechenbarkeit von Emissionseinheiten, die im Rahmen von Flexibilisierungsmechanismen transferiert werden, durch quantitative Begrenzungen verstärkt würden29.
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Spezifische Fragen stellten sich bei der weiteren Ausgestaltung der Flexibilisierungsmechanismen etwa hinsichtlich des Handels mit Emissionsrechten. Art. 17 Kyoto-Protokoll nennt lediglich zwei Voraussetzungen des Emissionsrechtehandels: Demnach müssen erstens beide an einem Handel beteiligten Parteien zu den durch Anlage B Kyoto-Protokoll verpflichteten Industriestaaten gehören; zweitens soll der Emissionsrechtehandel nur zusätzlich zu Maßnahmen im eigenen Land, die auf die Erfüllung der Emissionsreduktions- und Begrenzungspflichten zielen, erfolgen. Bei der Bestimmung der für die Praktikabilität des Mechanismus unerlässlichen weiteren Regeln stand das Problem des Handels mit Emissionsreduktionen im Vordergrund, die auf den wirtschaftlichen Einbruch der osteuropäischen Staaten nach 1990 zurückzuführen sind30. So sind beispielsweise in Russland die CO2-Emissionen zwischen 1990 und 1997 aufgrund des Wirtschaftsschwunds um rund 30 Prozent zurückgegangen. Sofern, wie anzunehmen ist, die Emissionen im Laufe der nächsten Jahre nicht im gleichen Ausmaß wieder ansteigen, resultiert demzufolge ein Überschuss an handelbaren Emissionsrechten, obwohl keinerlei reale Maßnahmen zum Klimaschutz ergriffen worden sind. Weil Russland und die Ukraine gemäß Anlage B des Kyoto-Protokolls lediglich zu einer Stabilisierung ihrer Emissionen gegenüber dem Jahr 1990 verpflichtet werden31, sind die Kapa___________
29 Allgemein zur Frage, welche Tragweite diesem sogenannten Ergänzungsprinzip zukommen soll, etwa Keller/Rosenmund, in: URP 1999, 353 (377). Stellvertretend für die Position der Umwelt-Nichtregierungsorganisationen Müller-Kraenner, in: ZUR 1998, 113 (114 f.). 30 Zum Folgenden Grubb, in: RECIEL 1998, 140 (142 f.); Jochem, in: ZfU 1999, 349 (363 ff.); Missfeldt, in: RECIEL 1998, 128 (131 f.); Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 197 ff. 31 Dies im Gegensatz etwa zu Polen, dessen Emissionen aufgrund seiner wirtschaftlichen Probleme ebenfalls stark gesunken sind, gemäß Anlage B Kyoto-Protokoll indessen zu einer Emissionsreduktion von sechs Prozent gegenüber dem Stand von 1990 verpflichtet ist. Allerdings könnte Polen auch nach Abzug dieser Reduktionsverpflichtung noch Emissionsrechte von bedeutender Quantität anbieten; vgl. Missfeldt, in: RECIEL 1998, 128 (131).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
zitäten dieser beiden Staaten zum Handel mit derartigen „unechten“ Emissionsrechten (sogenannter „hot air“) am größten. Die Quantität des Überschusses ist so hoch, dass potentielle Käufer ihre Reduktionsverpflichtungen erfüllen könnten, auch wenn ihre Emissionen real weiter ansteigen. So signalisierten insbesondere die USA ihr Interesse am Kauf dieser Emissionsrechte deutlich; andererseits forderte u. a. die EU für die Anrechnung von Emissionsrechten quantitative Limiten32. –
Äußerst umstritten ist des Weiteren die Frage der Anrechnung von biologischen Treibhausgassenken im Rahmen der Erfüllung der nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen33. CO2 wird natürlicherweise bis zu einem bestimmten Grad durch pflanzliches Wachstum als Kohlenstoff in der Biomasse der Erde gebunden. Eine derartige natürliche Absorptionswirkung auf CO2 haben insbesondere Wälder sowie Ozeane, die daher als Treibhausgasspeicher bzw. -senken bezeichnet werden. Art. 3 Abs. 3 Kyoto-Protokoll ermöglicht grundsätzlich die Berücksichtigung von Senken bei der Berechnung der Reduktionspflichten der Industriestaaten34. Vorausgesetzt wird dabei, dass verifizierbare Veränderungen des CO2Haushaltes vorliegen, die seit dem Jahr 1990 eingetreten sind und sich auf vom Menschen herbeigeführte Veränderungen bei der Landnutzung durch forstwirtschaftliche Maßnahmen zurückführen lassen. Art. 3 Abs. 4 eröffnet weiterhin die Möglichkeit, dass die Vertragsparteienkonferenz des Kyoto-Protokolls zusätzliche Aktivitäten sowohl landwirtschaftlicher als auch forstwirtschaftlicher Art, welche Auswirkungen auf die Bindung von Treibhausgasen haben, zur Berechnung der Reduktionspflichten zulässt. Abgesehen von der Notwendigkeit, praktikable Regeln für die Anrechnung
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Die Problematik besteht aus umweltpolitischer Sicht weniger in der Gefahr, dass die quantitativen Emissionsreduktionsziele des Kyoto-Protokolls für die erste Verpflichtungsperiode der Jahre 2008 bis 2012 als Gesamtes unterlaufen würden. Denn der Umstand, dass die Reduktionen nicht durch klimaschützende Maßnahmen erreicht wurden, ändert nichts an der Tatsache, dass die Emissionen in den betreffenden Ländern gegenüber dem Stand von 1990 effektiv zurückgegangen sind. Die Problematik des Handels mit Emissionsrechten, die von solchen „unechten“ Reduktionen herrühren, ist jedoch primär darin zu sehen, dass damit der Anreiz zu Investitionen zugunsten tatsächlicher Emissionsreduktionen verloren geht. Dies droht sich im Hinblick auf den mittelund langfristigen Schutz des Klimas negativ auszuwirken. Quantitative Limiten für die Anrechnung von Emissionsrechten könnten dem Problem zumindest teilweise entgegenwirken, wurden jedoch von den am Handel am stärksten interessierten Staaten der sog. „Umbrella Group“ (Russland und die Ukraine als Anbieter von Emissionsrechten, Australien, Japan, Kanada, Neuseeland und die USA auf der Nachfragerseite) bekämpft. 33 Zum Folgenden Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 130 ff.; Schwarze, in: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung 1999, 314 ff. 34 Wobei zu beachten ist, dass bereits Art. 3 Abs. 3 Klimakonvention festhält, bei der Bekämpfung des Klimawandels seien neben allen wichtigen Quellen auch die Senken und Speicher von Treibhausgasen zu berücksichtigen.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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der Senken zu finden, stellte sich in jedem der möglichen Fälle die Frage, in welchem mengenmäßigen Ausmaß die Bindung von Treibhausgasen in Senken einerseits und anthropogene Emissionen andererseits aufgerechnet werden dürfen. Auch hier drehte sich die Diskussion nicht zuletzt um quantitative Begrenzungen. Umstritten war zudem die Frage, ob (was bei der „Joint Implementation“ bereits in Art. 6 Abs. 1 vorgesehen ist) auch im Rahmen des „Clean Development Mechanism“ (Art. 12) der Erwerb von Emissionsreduktionseinheiten durch Projekte zur Förderung oder zum Erhalt von Senken möglich sein soll35. –
Weitere wichtige Fragen betrafen die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern, die Überwachung der Maßnahmen, welche die Industriestaaten zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen treffen, sowie die Sanktionierung im Falle der Nichteinhaltung derselben36.
c) Vereinbarkeit von partikulären Interessen und Gemeinwohl als Kernproblematik In der nach 1997 zunehmend verschärften Auseinandersetzung um Konkretisierung sowie Inkrafttreten des Protokolls widerspiegelt sich – wie schon in der gesamten Entstehungsgeschichte37 des völkerrechtlichen Regimes zum Schutz des Klimas – ein Konflikt zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen. Den Hintergrund der Kontroverse38 bildet zum einen der Konflikt zwischen Industrie- und Entwicklungsländern: Aus der Sicht der Entwicklungsländer ist die Klimaproblematik unter strikter Beachtung des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit anzugehen, womit die Industriestaaten wegen ihres weitaus größeren Beitrags zur Verursachung auch die größeren Lasten zu tragen hätten. Während dieser Ansatz auch von den Industriestaaten dem Grundsatz nach durchaus nicht bestritten wird, wurde und wird jedoch die Frage, welche konkreten Verpflichtungen sich demzufolge für die verschiede-
___________ 35
Im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 erwähnt Art. 12 Kyoto-Protokoll diese Möglichkeit nämlich nicht. Zur Diskussion im Einzelnen Oberthür/Ott, Kyoto Protocol, 178 f. 36 Siehe zu diesen Punkten noch die Übersicht über die Ergebnisse der sechsten Vertragsstaatenkonferenz der Klimakonvention, anschließend, 3. 37 Vgl. Bodansky, in: Yale Journal of International Law 1993, 451 ff.; Verheyen, in: Klimaschutz im Recht, 29 (36 ff.). 38 Zu den unterschiedlichen Interessen der Staaten bzw. Staatenblöcke bei den Klimaschutzverhandlungen ausführlich Oberthür/Ott, Kyoto-Protocol, 13 ff. Zu den Entwicklungen diesbezüglich im Zusammenhang mit der sechsten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention siehe Grubb/Yamin, in: International Affairs 2001, 261 ff.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
nen Staaten ergeben, immer wieder von Neuem zum Streitobjekt39. So berufen sich teilweise industrialisierte Staaten – beziehungsweise Schwellenländer – wie China, Indien oder Brasilien im Hinblick auf eine Verpflichtung zu Emissionsbeschränkungen auf den Status von Entwicklungsländern, da sie ansonsten ihre wirtschaftliche Weiterentwicklung gefährdet sähen, haben indessen aber auch einen bedeutenden und zugleich potentiell stark steigenden Anteil am Ausstoß von Treibhausgasen40. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß diese Staaten in Emissionsreduktionsverpflichtungen einzubinden seien, wird durch das Kyoto-Protokoll in deren Sinn beantwortet41, freilich unter nachhaltiger Ablehnung insbesondere durch die USA, die ihre Verweigerungshaltung gegenüber dem Protokoll unter anderem auf diesen Aspekt stützen42. Uneinigkeit in Bezug auf die Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels herrschte und herrscht aber auch unter den Industrienationen. Am deutlichsten zeigt sich dies in den unterschiedlichen Positionen von Ländern wie Australien, Japan, Kanada, Russland oder den USA (der sogenannten „Umbrella Group“43) einerseits sowie der meisten europäischen Staaten (insbesondere aus dem Kreis der EU) andererseits44. So hatten sich etwa die USA bereits bei den Verhandlungen zur Klimakonvention gegen konkrete internationale Verpflichtungen gewandt. Die unterschiedlichen Positionen der Industriestaaten widerspiegelten sich laufend auch in den vorgebrachten Vorschlägen in Bezug auf die zu beschließenden konkreten Reduktionsziele: Während die EU für eine noch weitaus deutlichere Senkung der Treibhausgasemissionen eintrat als schließlich im Kyoto-Protokoll festgeschrieben45, bestand die Position der USA darin, die Emissionen für den Zeitraum zwischen 2008 und 2012 lediglich auf den Stand von 1990 zu beschränken.
___________ 39 Siehe etwa Gupta, in: RECIEL 1999, 198 ff. Zur ethischen Dimension der Klimaverhandlungen aus der spezifischen Sicht der Entwicklungsländer bspw. Rangreji, in: Indian Journal of International Law 1999, 277 (279 ff.). 40 So ist China nach den USA der weltweit zweitgrößte Emittent von Treibhausgasen; vgl. zur Rolle Chinas für den Klimaschutz und die besondere Problematik, die sich im Rahmen der Klimaverhandlungen aus seinem Status als Entwicklungsland ergibt, Cooper, in: GIELR 1998-99, 401 ff. 41 Vgl. die Liste der verpflichteten Staaten in Anlage B Kyoto-Protokoll. 42 Vgl. Neal, in: GIELR 1998-99, 163 (167 f.). 43 Weitere Staaten, die dieser bei den Klimaverhandlungen häufig geschlossen auftretenden Gruppe zugerechnet werden, sind Neuseeland, Russland und die Ukraine; s. Egenhofer/Cornille, Reinventing the Climate Negotiations, 25. 44 Zum Folgenden Cooper, in: GIELR 1998-99, 401 (413 ff.); Molitor, in: Global Environment, 210 (224 ff.). 45 Nämlich eine Senkung der Emissionen durch die Industriestaaten bis zum Jahr 2010 gegenüber dem Stand von 1990 um gesamthaft 15 Prozent.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
423
Eine ähnliche Trennlinie bezüglich der unterschiedlichen Haltung der Industriestaaten ist bis zum heutigen Zeitpunkt bei der weiteren Entwicklung des völkerrechtlichen Klimaregimes auszumachen. Dabei hat sich zunehmend erwiesen, dass der Erfolg der Suche nach möglichen Mitteln und Wegen zur Bewältigung der Klimaproblematik primär dadurch gefährdet ist, dass bestimmte Staaten stärker als andere auf der Durchsetzung ihrer partikulären Interessen bestehen. Einen Beleg für diese Feststellung bildet der Konkretisierungsprozess jener zusätzlichen Regeln und Modalitäten, die für die Praktikabilität des Kyoto-Protokolls erforderlich sind. Im Rahmen der seit Kyoto (1997) durchgeführten Zusammenkünfte der Vertragsstaaten der Klimakonvention lag das Schwergewicht der Verhandlungen auf der Frage, wie die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Instrumente auszugestalten seien, mit deren Hilfe die Ziele des Protokolls verwirklicht werden sollen. Anlässlich der vierten Vertragsparteienkonferenz im Jahr 1998 in Buenos Aires wurde dabei ein Zweijahresplan verabschiedet46, wonach entsprechende verbindliche Regeln im Rahmen der sechsten Vertragsparteienkonferenz endgültig verhandelt werden sollten. Die Verhandlungen dieser im November 2000 in Den Haag abgehaltenen Zusammenkunft nahmen allerdings einen Verlauf, der in Kommentaren als eigentlicher „Schiffbruch“ bezeichnet wurde47: Die Differenzen zwischen den verschiedenen Interessengruppen erwiesen sich nämlich als derart groß, dass das im Aktionsplan von Buenos Aires vorgegebene Ziel der Verabschiedung verbindlicher Modalitäten für die diversen strittigen Regelungsbereiche nicht verwirklicht werden konnte. Ein vorläufiger Ausweg aus dem Dilemma wurde letztlich durch die Vertagung der Konferenz um ein halbes Jahr gefunden, was in der Geschichte solcher multilateraler Zusammenkünfte ein bislang einmaliger Vorgang sein dürfte.
___________ 46 Zu den Ergebnissen dieser Konferenz Keller/Rosenmund, in: URP 1999, 353 (376 ff.); Molitor, in: Global Environment, 210 (232 f.); Unmüssig, in: VN 1999, 19 f. 47 Siehe zu den Verhandlungen des ersten Teils der sechsten Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag den ausführlichen Bericht in Earth Negotiations Bulletin Vol. 12, Nr. 163 (diese und die weiteren zitierten Ausgaben des Earth Negotiations Bulletin [nachfolgend ENB] sind im Internet abrufbar unter ; Adresse gültig am 31.3.2008). Vgl. außerdem die Kommentare von Grubb/Yamin, in: International Affairs 2001, 261 ff., sowie Egenhofer/Cornille, Reinventing the Climate Negotiations. Den Stand der Verhandlungen nach der Konferenz vom November 2000 in Den Haag gibt folgendes Dokument wieder: Report of the Conference of the Parties on the first part of its sixth session, held at The Hague from 13 to 25 November 2000. Part Three: Texts forwarded to resumed sixth session by the COP at the first part of its 6th session, Volumes I-V (Dok. Nr. FCCC/CP/2000/5/Add.3). Dieses und alle weiteren nachfolgend zitierten Dokumente der Vertragsstaatenkonferenzen der Klimakonvention und des Kyoto-Protokolls sind abrufbar unter der Adresse (Adresse gültig am 31.3.2008).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Im Vorfeld des schließlich auf Mitte Juli 2001 in Bonn angesetzten zweiten Teils der sechsten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention ergaben sich freilich weitere Komplikationen für die bereits zuvor verhärteten Verhandlungsfronten48. Mit dem Sieg des republikanischen Kandidaten Bush über den regierenden Präsidenten Clinton bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen wurde klar, dass sich die ablehnende Haltung der USA gegenüber dem Kyoto-Protokoll noch verstärken würde. In der Tat legte die neugewählte Exekutive im Frühling 2001 ihre Position dahingehend fest, man werde sich aus den Verhandlungen um das Protokoll zurückziehen, weil dessen Emissionsreduktionsziele die ökonomische Prosperität der USA zu schädigen drohten49. Die Argumentation der USA und weiterer Mitglieder der „Umbrella Group“ wie Japan und Australien war dabei letztlich durch den Standpunkt geprägt, dass den eigenen ökonomischen Interessen ein klarer Vorrang zukomme. Demgegenüber wurde das Bestehen eines Gemeinwohlinteresses der internationalen Gemeinschaft als Resultat des globalen Klimawandels entweder angezweifelt oder aber als nicht mit den (praktisch sakrosankten) nationalen Interessen vereinbar eingestuft. Die zunehmend skeptische Haltung insbesondere Japans, das sich der amerikanischen Politik anzuschließen schien, drohte schließlich das Schicksal des Kyoto-Protokolls zu besiegeln, wäre doch das künftige Inkrafttreten des Übereinkommens mit dem Abseitsstehen weiterer Staaten praktisch aussichtslos geworden. Es ist daran zu erinnern, dass Art. 25 Abs. 1 Kyoto-Protokoll für dessen Inkrafttreten die Ratifikation durch 55 Staaten verlangt, wobei allerdings gleichzeitig die ratifizierenden Industriestaaten zusammen mindestens 55 Prozent der von den Industriestaaten insgesamt zu verantwortenden CO2-Emissionen des Jahres 1990 repräsentieren müssen. Damit bildeten nichtratifizierende Industriestaaten, deren Ausstoß zusammen mehr als 45 Prozent ausmacht, eine Sperrminorität für das Inkrafttreten des Protokolls. Angesichts des Beitrags der USA als weltweit größter Emittent und des ebenfalls relativ großen Anteils Japans wäre dies bereits annähernd der Fall gewesen, hätte sich die japanische Regierung der US-amerikanischen Ablehnung des Protokolls angeschlossen. Eine ungewisse Zahl anderer Staaten hätte unter derartigen Umständen wohl auch den Sinn der Übereinkunft an sich in Frage gestellt.
___________ 48 Vgl. zum Folgenden ENB Vol. 12, Nr. 166, 2. Insbesondere zur Position der USA auch Harris, in: New York University Environmental Law Journal 1999, 27 (35 ff.), sowie Thompson, in: Environmental Law (Northwestern School of Law) 2000, 241 (254 f.). 49 Dazu der Text eines Briefs des Präsidenten George W. Bush an die Senatoren Hagel, Helms, Craig und Roberts vom 13. März 2001, abgedruckt in: Environmental Policy and Law 31 (2001), 122. Siehe zudem auch die Argumentation des Senators Murkowski, in: Harvard Journal on Legislation 2000, 345 (354 ff.).
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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3. Insbesondere: die Ergebnisse der sechsten und siebten Vertragsparteienkonferenzen der Klimakonvention a) Überblick Angesichts der Erfahrungen von Den Haag und der auch sonst ungünstigen Ausgangslage nahm die Weiterführung der sechsten Vertragsparteienkonferenz im Juli 2001 in Bonn einen kaum mehr erwarteten Verlauf50. Wesentlichstes Ergebnis der Konferenz war nämlich eine politische Vereinbarung der Vertragsparteien der Klimakonvention, die allgemein als Grundlage eines neuen klimapolitischen Konsenses aufgefasst wird und welche die „Rettung“ des Kyoto-Protokolls, mit anderen Worten dessen Inkrafttreten nach ausreichender51 Ratifikation durch Unterzeichnerstaaten, zu versprechen schien. Dieses sogleich als „Bonn Agreement“ apostrophierte Dokument52 enthält in einem Annex zum formellen Beschluss der Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention die „Kernelemente“ eines politischen Konsenses53, der die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls durch die zu Klimaschutzmaßnahmen verpflichteten Industriestaaten sichern und damit dessen Inkrafttreten ermöglichen sollte. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Bonner Vereinbarung einen höchst fragmentarischen Charakter aufweist. Dies erklärt sich damit, dass sie gewissermaßen eine Momentaufnahme des Verhandlungsprozesses darstellt. Ihr Zweck bestand dabei im Wesentlichen darin, das Vorhandensein eines Konsenses im gegebenen Zeitpunkt zu belegen, der tragfähig genug sein sollte, die Zukunft des Kyoto-Protokolls zu gewährleisten. Mangels eines gesicherten Ganzen wurden gewissermaßen jene Fragmente eines noch unvollendeten Re___________ 50 Siehe dazu die Berichterstattung in ENB Vol. 12, Nr. 166-176, sowie in Environmental Policy and Law 31 (2001), 190 ff. Zu den Ergebnissen der Konferenz ferner Lefeber, in: Hague Yearbook of International Law 2001, 25 ff. 51 Gemäß Art. 25 Abs. 1 Kyoto-Protokoll. 52 Decision 5/CP.6: The Bonn Agreements on the implementation of the Buenos Aires Plan of Action. 53 Die Aufgabe, die anlässlich des missglückten ersten Teils der sechsten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention strittig gebliebenen Fragen zu klären, wurde in vier Arbeitsgruppen zu den wichtigsten Themenbereichen angegangen: Finanzierungsfragen und verwandte Probleme der Entwicklungsländer wie etwa Technologietransfer; Konkretisierung der Flexibilisierungsmechanismen; Fragen im Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit der Treibhausgassenken; Mechanismen der Vertragserfüllungskontrolle („compliance“). Auf der Grundlage der Arbeit in diesen Gruppen gelang es dem die Konferenzen von Den Haag und Bonn präsidierenden niederländischen Umweltminister Pronk, den Entwurf eines Pakets von konsensfähigen Formeln vorzulegen. Nach zusätzlichen Verhandlungen zum umstrittensten Fragenkomplex, jenem der Vertragserfüllungskontrolle, nahm das Plenum schließlich jenen politischen Beschluss an, der einen Konsens betreffend die Umsetzung des Aktionsplanes von Buenos Aires formuliert.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
gelwerks (d. h. sämtlicher das Kyoto-Protokoll ergänzender Modalitäten) präsentiert, auf die sich der Konsens im betreffenden Moment bereits erstreckte. Entsprechend bildet die Bonner Vereinbarung aber auch ein Dokument, dessen Sinn verschiedentlich erst verständlich wird, wenn seine Bestandteile in Bezug zu den Ergebnissen des weiteren klimapolitischen Verhandlungsprozesses gesetzt werden. Letztlich wurden also durch die Bonner Vereinbarung lediglich Vorgaben formuliert, die erst nach Einfügung in ein kohärentes Regelwerk zu rechtlicher Wirksamkeit finden konnten. Nur drei Monate nach dem Abschluss der Bonner Konferenz wurde vom 29. Oktober bis zum 10. November 2001 in Marrakesch die siebte Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention abgehalten54. Unmittelbares Resultat der Konferenz von Marrakesch bildete eine Reihe von Beschlüssen der Vertragsparteienkonferenz betreffend die in Bonn offen gebliebenen Modalitäten der Flexibilisierungsmechanismen, der Vertragserfüllungskontrolle sowie des Datenerhebungs- und Berichterstattungssystems. Damit gelang es anlässlich dieser Konferenz denn auch tatsächlich, auf der Basis der bereits in Bonn ausgehandelten Beschlüsse55 die wichtigsten der noch verbliebenen Streitpunkte zu bereinigen und damit zu einem politischen Konsens über das Gesamtpaket von Regeln (sog. „Marrakesh Accords“) zu gelangen, welche das Kyoto-Protokoll operationalisieren. Mit der Fixierung der Bonner Vereinbarung im Konsens von Marrakesch war nun für fast alle Staaten die Voraussetzung gegeben, das Protokoll zu ratifizieren56. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bonner Vereinbarung (zusammen mit ihrer Fixierung in Marrakesch) auf dem Weg zur Ratifizierung des Kyoto-Protokolls eine zentrale Rolle spielte. Insofern, als sie damit einen eigentlichen Wendepunkt des internationalen klimapolitischen Verhandlungsprozesses bildete, ist sie ein geeigneter Gegenstand für eine eingehendere Betrachtung. Im vorliegenden Zusammenhang sind dabei weniger die rechtlichen Details dieser Vereinbarung von Belang als vielmehr die Frage, ob sich im Konsens von Bonn und Marrakesch (und nachfolgenden Entwicklungen) eine Tendenz feststellen ___________ 54 Für einen Überblick über den Verhandlungsverlauf und die Ergebnisse der Konferenz von Marrakesch s. ENB Vol. 12, Nr. 189, 4 ff.; Lefeber, in: Hague Yearbook of International Law 2001, 25 (44 ff.). 55 Siehe neben den anschließend angegebenen Quellen zusammenfassend aus dem offiziellen Bericht zur Bonner Konferenz die folgenden Abschnitte: Part I, Paragraphen 55-58 (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/5), Part III (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/5/Add.1) sowie Part IV (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/5/Add.2). 56 Für eine zusammenfassende Bewertung der Konferenzen von Bonn und Marrakesch Nowrot, in: GYIL 2001, 396 ff.; Wirth, in: AJIL 2002, 648 ff. Nunmehr (nach der dreizehnten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention vom Dezember 2007) haben außer den USA sämtliche der in Anlage I der Klimakonvention genannten industrialisierten Vertragsparteien das Protokoll ratifiziert.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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lasse in Bezug auf den klimapolitischen Konflikt zwischen globaler Gemeinwohlorientierung einerseits und Zugeständnissen zugunsten partikulärer nationaler Interessen andererseits.
b) Relevante Bestandteile der Vereinbarungen von Bonn und Marrakesch Die verschiedenen Elemente des Konsenses von Bonn und Marrakesch betreffen im Wesentlichen vier Fragenbereiche, wobei im vorliegenden Zusammenhang die folgenden Ergebnisse hervorzuheben sind57.
aa) Finanzierung und Technologietransfer Insgesamt fünf von acht Kapiteln der Bonner Vereinbarung befassen sich mit Fragen der Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen und von Maßnahmen gegen nachteilige Auswirkungen des Klimawandels in den Entwicklungsländern, des Technologietransfers zugunsten dieser Staaten sowie Verwandtem. Dies bildete im Übrigen jenen Verhandlungsbereich, in dem bereits anlässlich des zweiten Teils der sechsten Vertragsparteienkonferenz die wesentlichen Fragen bereinigt werden konnten. Die Entwürfe zu den entsprechenden Beschlüssen wurden dabei an die siebte Vertragsparteienkonferenz in Marrakesch weitergeleitet58, anlässlich derer schließlich die formelle Annahme erfolgte59. Die Bonner Vereinbarung sieht dabei insbesondere drei neue Finanzierungsmechanismen vor, welche die im Rahmen der Klimakonvention bereits bestehenden, aber als ungenügend erachteten Institutionen (so insbesondere die Globale Umweltfazilität60) ergänzen sollen61. ___________ 57 Siehe zum Inhalt der „Marrakesh Accords“ allgemein etwa Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 57 ff. 58 Die im Folgenden zitierten Abschnitte der Bonner Vereinbarung (Decision 5/CP.6) sind somit in einer Reihe von spezifischen Beschlüssen der Vertragsparteienkonferenz weiter ausgeführt. Siehe dazu die Auflistung im offiziellen Bericht zur Bonner Konferenz, Part I, Paragraph 55 f. (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/5). Die Texte dieser Beschlüsse finden sich in Part III des offiziellen Berichts zur Bonner Konferenz (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/5/Add.1). 59 Vgl. ENB Vol. 12, Nr. 189, 3 f. 60 Dieser (ursprünglich im Rahmen der Weltbank angelaufene) globale Umweltfonds (GEF) wurde durch Art. 21 Abs. 3 Klimakonvention vorläufig als verantwortliche Einrichtung zur Verwaltung der finanziellen Mittel, die von den Industriestaaten im Rahmen der Verpflichtungen aus der Klimakonvention zugunsten der Entwicklungsländer aufgebracht werden, bezeichnet. Der Klimaschutz ist allerdings nur eines unter diversen Feldern, in denen der GEF ähnliche Funktionen zukommen; gem. Dolzer, in: LA Jae-
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
–
Nebst einem Aufruf an die Industriestaaten, die Beiträge an die Globale Umweltfazilität sowie sonstige (etwa bilaterale) Finanzierungsprogramme zu erhöhen, wird zunächst im Rahmen der Klimakonvention selbst ein besonderer Klimafonds eingerichtet62. Damit sollen die Entwicklungsländer bei der Erfüllung der von ihnen ebenfalls zu ergreifenden Klimaschutzmaßnahmen63 sowie bei der Durchführung von Maßnahmen zur Bekämpfung der negativen Auswirkungen der Klimaänderung weiter unterstützt werden.
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Ein zusätzlicher besonderer Fonds wird ebenfalls im Rahmen der Klimakonvention zugunsten der am wenigsten entwickelten Staaten gegründet64. Unter anderem sollen damit nationale Programme finanziert werden, mit denen die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderung in diesen Ländern bekämpft werden können.
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Im Rahmen des Kyoto-Protokolls schließlich wird ein besonderer Fonds für die Finanzierung von Maßnahmen gegen die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderung in Entwicklungsländern eingerichtet, die Vertragsstaaten des Kyoto-Protokoll sind65.
Allen drei neuartigen Fonds ist freilich gemeinsam, dass deren Finanzierung nicht in Form von verbindlichen Verpflichtungen der Industriestaaten konkretisiert worden ist. In Bezug auf den Fonds im Rahmen des Kyoto-Protokolls enthält die Bonner Vereinbarung zwar den Hinweis, dass dieser nebst „anderen Quellen“ aus den Erträgen des „Clean Development Mechanism“ gespiesen werden soll66; indessen wurde nicht ausreichend geklärt, wie diese (auch in Art. 12 Abs. 8 Kyoto-Protokoll in Aussicht gestellten) Erträge bewirtschaftet ___________ nicke, 37 (46), flossen dabei bis Ende 1997 rund 38 % der Mittel in den Klimabereich. Vgl. allgemein zur GEF auch Ehrmann, in: ZaöRV 1997, 565 ff. Aufgrund verschiedener Unzulänglichkeiten rief die Rolle der GEF im Rahmen der Klimakonvention vor allem bei Entwicklungsländern Widerspruch hervor; s. dazu Werksman, in: RECIEL 1998, 147 (149 f.). 61 Vgl. Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel I: „Funding under the Convention“, Paragraph 3 Bst. c sowie die Unterkapitel „Special climate change fund“ und „Least developed countries“; außerdem Kapitel II: „Funding under the Kyoto Protocol“. 62 Vgl. Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel I: „Funding under the Convention“, Paragraph 3 Bst. c sowie Unterkapitel „Special climate change fund“. 63 Siehe insbesondere Art. 4 Abs. 1 Klimakonvention, der verschiedene allgemeine Verpflichtungen enthält, die sowohl für Industriestaaten als auch für Entwicklungsländer gelten. 64 Vgl. Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel I: „Funding under the Convention“, Unterkapitel „Least developed countries“. 65 Vgl. Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel II: „Funding under the Kyoto Protocol“. 66 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel II: „Funding under the Kyoto Protocol“, Unterkapitel „The Kyoto Protocol adaptation fund“, Paragraph 2.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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werden sollen. Ein vom Vorsitzenden der sechsten Vertragsstaatenkonferenz, Pronk, ursprünglich eingebrachter Vorschlag67, die finanziellen Beiträge der Industriestaaten nach ihrem jeweiligen Anteil an den CO2-Emissionen des Jahres 1990 zu bemessen, konnte sich im Laufe der Verhandlungen in Bonn nicht durchsetzen. Auffallend ist auch sonst der äußerst zurückhaltende Sprachgebrauch der Vereinbarung im Zusammenhang mit der Frage der Herkunft der finanziellen Mittel zur Äufnung der diversen Fonds: So heißt es sowohl bezüglich des besonderen Klimafonds im Rahmen der Klimakonvention als auch des Fonds im Rahmen des Kyoto-Protokolls, die Industriestaaten seien zu entsprechenden Beiträgen „eingeladen“. Der Hinweis auf den im Rahmen des Kyoto-Protokolls neu zu schaffenden Fonds für die Finanzierung von Maßnahmen gegen die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderung in Entwicklungsländern blieb somit der einzige konkrete Fingerzeig zur tatsächlichen Finanzierung der verschiedenen Fonds. An dieser für die Bonner Vereinbarung geltenden Feststellung änderte sich auch mit dem Konsens von Marrakesch nichts. Andererseits ist aber auch hervorzuheben, dass eine Reihe von Industriestaaten bereits im Verlaufe der Bonner Konferenz die Gelegenheit ergriffen, diesem an Unverbindlichkeit kaum mehr zu übertreffenden Aufruf Taten folgen zu lassen, indem sie in einer politischen Erklärung die Bereitstellung von insgesamt 410 Millionen US-Dollar jährlich bis 2005 ankündigten68.
bb) Flexibilisierungsmechanismen Die Bereitschaft der Industriestaaten, den Verpflichtungen zur Emissionsreduktion oder -begrenzung tatsächlich in einer Art und Weise nachzukommen, welche der Zielsetzung des Klimaschutzes gerecht wird, ist eng mit der Frage verbunden, welche Rolle den Flexibilisierungsmechanismen im Einzelnen zukommen soll. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Standpunkte gegenüber: Einerseits wird befürchtet, ein zu weit gehender Ausbau der durch die Verwendung der verschiedenen Flexibilisierungsmechanismen eröffneten Möglichkeit, die quantitativen Verpflichtungen des Kyoto-Protokolls weniger durch Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Land als vielmehr durch die Anrechnung von im ___________ 67 Siehe folgendes Dokument: Consolidated negotiating text proposed by the President. Addendum: Decisions concerning finance, technology transfer, adaptation capacity-building, Article 4, Paragraphs 8 and 9, of the Convention and Article 3, Paragraph 14, of the Kyoto Protocol. Kap. VII: Funding and resource levels. Draft decision -/CP.6: Funding and resource levels, Paragraph 15 Bst. b (Dok. Nr. FCCC/ CP/2001/2/Add.1). 68 Es handelte sich um die Staaten der EU sowie Island, Kanada, Neuseeland, Norwegen und die Schweiz; vgl. ENB Vol. 12, Nr. 176, 4.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Ausland finanzierten Aktivitäten oder durch den Erwerb von Emissionsrechten zu erfüllen, gefährde letztlich die klimapolitische Zielsetzung einer wirksamen Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen. Andererseits stellen sich insbesondere die Staaten der „Umbrella Group“ auf den Standpunkt, nur bei einer möglichst großzügigen Anrechenbarkeit von durch Flexibilisierungsmechanismen gewonnenen Reduktionseinheiten sähen sie sich in der Lage, die quantitativen Verpflichtungen des Kyoto-Protokolls ohne Schädigung nationaler Interessen umzusetzen. Die Bonner Vereinbarung bezieht sich im Wesentlichen auf einige umstrittene Fragen, in denen diese beiden unterschiedlichen Standpunkte zum Ausdruck kommen. Allerdings wurden damit die für die Praktikabilität unerlässlichen genauen Regeln noch nicht ausreichend bestimmt. Indem vereinzelte Modalitäten zu den verschiedenen Mechanismen vorgegeben werden, enthält die Bonner Vereinbarung erst die Grundzüge der notwendigen weiteren Konkretisierung. Den entsprechenden Schritt bilden die Ergebnisse der anschließenden siebten Vertragsstaatenkonferenz: Mit dem Konsens von Marrakesch wurden die Modalitäten der Flexibilisierungsmechanismen, welche deren Praktikabilität sicherstellen sollen, im Einzelnen festgelegt. Diese spezifischen Modalitäten sind freilich im Zusammenhang dieser Untersuchung von untergeordneter Bedeutung, und die folgenden Ausführungen beschränken sich insofern weitgehend auf die relevanten Bestandteile der Bonner Vereinbarung. Hervorzuheben ist zunächst eine Stellungnahme zur Vorgabe des KyotoProtokolls, die Flexibilisierungsmechanismen sollten ergänzend zu Maßnahmen erfolgen, die von den Industriestaaten zur Erfüllung der Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtungen im eigenen Land durchgeführt werden69. Dieses sogenannte Ergänzungsprinzip impliziert, dass die Industriestaaten ihre quantitativen Verpflichtungen nach Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll nicht alleine durch die Nutzung von Flexibilisierungsmechanismen erfüllen sollen. Dabei wird im Kyoto-Protokoll selbst aber offen gelassen, wie groß der Anteil der Erfüllung durch Maßnahmen im eigenen Land effektiv sein muss. Die Bonner Vereinbarung führt dazu nun aus, die Maßnahmen im eigenen Land sollten einen „signifikanten“ Bestandteil der gesamten Anstrengungen zur Erfüllung der Verpflichtungen darstellen70. Damit bleibt die Vereinbarung hinter einem während der Verhandlungen als Arbeitsinstrument dienenden Textentwurf des Kon___________ 69
Siehe Art. 6 Abs. 1 Bst. d Kyoto-Protokoll bezüglich der „Joint Implementation“ bzw. Art. 17 bezüglich des Emissionsrechtehandels; in die gleiche Richtung zielt auch die Bestimmung von Art. 12 Abs. 3 Bst. b in Bezug auf den „Clean Development Mechanism“, wonach die von Industriestaaten erworbenen Reduktionseinheiten zur Erfüllung eines Teiles der eigenen Verpflichtungen dienen dürfen. 70 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI: „Mechanisms pursuant to Articles 6, 12 and 17 of the Kyoto Protocol“, Unterkapitel 1: „Principles, nature and scope“, Paragraph 5.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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ferenzvorsitzenden Pronk zurück. Dort war die Rede davon gewesen, die Verpflichtungen der Industriestaaten gemäß Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll seien „hauptsächlich“ („chiefly“) durch seit 1990 durchgeführte Maßnahmen im eigenen Land zu erreichen71, was wohl einen mehr als fünfzigprozentigen Anteil derartiger Maßnahmen implizierte. Immerhin soll nach der Bonner Vereinbarung nun noch als allgemeine Zielsetzung gelten, die Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern bei den durchschnittlichen Emissionen pro Kopf der Bevölkerung zu verringern72. Im Übrigen wurde im Konsens von Marrakesch die bereits durch die Bonner Vereinbarung niedergelegte Formel des Ergänzungsprinzips bekräftigt73; insbesondere wird dadurch festgehalten, dass auf diesem Prinzip das gesamte für die Flexibilisierungsmechanismen vorgesehene Regelwerk aufbaut. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Absicht der Vertragsparteien, nur diejenigen Industriestaaten überhaupt zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen mit Hilfe von Flexibilisierungsmechanismen zuzulassen, welche die vom Kyoto-Protokoll vorgesehenen Pflichten zur Verwendung bestimmter Methoden bei der Erhebung der Emissionen und zur jährlichen Berichterstattung befolgen74. Des Weiteren sollen nur jene Vertragsparteien, welche die Regeln in Bezug auf die Vertragserfüllungskontrolle im Rahmen des Protokolls akzeptieren, zur Vergabe oder Übernahme von Emissionsgutschriften zugelassen werden75. Anlässlich der Konferenz von Marrakesch konnte schließlich auch das System der Vertragserfüllungskontrolle konkretisiert werden, welches die Voraussetzung für die Umsetzung dieser Grundsätze darstellt. Zu erwähnen sind zudem einige weitere Elemente des klimapolitischen Konsenses von Bonn und Marrakesch, welche die Verwendung der Flexibilisierungsmechanismen in bestimmter Weise begrenzen: ___________ 71
Consolidated negotiating text proposed by the President. Addendum: Decisions concerning Mechanisms pursuant to Articles 6, 12 and 17 of the Kyoto Protocol. Draft decision -/CP.6 (Mechanisms): Principles, nature and scope of the mechanisms pursuant to Articles 6, 12 and 17 of the Kyoto Protocol (Dok. Nr. FCCC/CP/2001/2/Add.2). 72 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 1, Paragraph 4. 73 Siehe nunmehr die anlässlich der ersten Vertragsparteienkonferenz des KyotoProtokolls (Montreal, 2005) verabschiedete Decision 2/CMP.1: Principles, nature and scope of the mechanisms pursuant to Articles 6, 12 and 17 of the Kyoto Protocol, Paragraph 1 (vgl. für den in Marrakesch ausgehandelten Entwurf Dok. Nr. FCCC/CP/2001/ L.24). 74 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 1, Paragraph 4.11; s. außerdem Decision 2/CMP.1, Paragraph 5. 75 Ebd. Siehe dazu auch Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII: „Procedures and mechanisms relating to compliance under the Kyoto Protocol“, Paragraph 2 Bst. c.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
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Bezüglich der besonderen Mechanismen der „Joint Implementation“ nach Art. 6 sowie des „Clean Development Mechanism“ nach Art. 12 KyotoProtokoll stellt sich die Frage, welcher Art die Maßnahmen zur Emissionsreduktion sein dürfen, aus denen Emissionsreduktionseinheiten und entsprechende Gutschriften resultieren können. Umstritten war dabei etwa, ob auch mittels der Verwendung von Kernenergie (anstelle treibhausgasverursachender fossiler Energieträger) die Gewinnung anrechenbarer Reduktionseinheiten möglich sein solle. Die Bonner Vereinbarung und mit ihr die entsprechenden Beschlüsse von Marrakesch legen nun sowohl für die „Joint Implementation“76 als auch für den „Clean Development Mechanism“77 fest, dass die Industriestaaten an ihre Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtungen keine Emissionsreduktionen anrechnen dürfen, die durch die Verwendung von Kernenergie gewonnen wurden.
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In den Zusammenhang der Frage, mit welchen Mitteln es möglich sein soll, anrechenbare Emissionsgutschriften zu erwirtschaften, gehört außerdem auch der besondere Streitpunkt, ob im Rahmen des „Clean Development Mechanism“ der Erwerb von Emissionsreduktionseinheiten durch Projekte zur Förderung oder zum Erhalt von Senken erlaubt sein soll. Dies wird durch die Bonner Vereinbarung und die Beschlüsse von Marrakesch nun bejaht; allerdings geschieht dies insofern zurückhaltend, als für die erste Verpflichtungsperiode lediglich Projekte zur Aufforstung und zur Wiederaufforstung zugelassen werden sollen78.
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Schließlich sieht die Bonner Vereinbarung eine Beschränkung des möglichen Handels mit Emissionsrechten gemäß Art. 17 Kyoto-Protokoll vor: Danach können die Industriestaaten in Bezug auf die Verpflichtungsperiode von 2008 bis 2012 lediglich die Differenz zwischen einem bestimmten zu haltenden Anteil und dem Total der ihnen in Anlage B des Protokolls für diesen Zeitraum zugestandenen Emissionsmengen in den Handel bringen79. Diese Differenz beträgt im Regelfall zehn Prozent der total erlaubten
___________ 76 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 2: „Article 6 project activities“, Paragraph 2; Decision 16/CP.7: Guidelines for the implementation of Article 6 of the Kyoto Protocol, Präambel. 77 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 3: „Article 12 (clean development mechanism)“, Paragraph 2; Decision 17/CP.7: Modalities and procedures for a clean development mechanism as defined in Article 12 of the Kyoto Protocol, Präambel. 78 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 3, Paragraph 8. Dies wird außerdem im Kapitel VII: „Land-use, land-use change and forestry“, Paragraph 7, wiederholt. Siehe entsprechend auch Decision 17/CP.7, Paragraph 7. 79 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VI, Unterkapitel 4: „Article 17“, Paragraph 1. Dieser Bestandteil der Bonner Vereinbarung gibt in der Version des Texts von Decision 5/CP.6 nicht von sich aus seinen ganzen Sinn preis; vgl. daher aufgrund der Beschlüsse von Marrakesch nunmehr Decision 18/CMP.1: Modalities, rules and guidelines for
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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Emissionsmengen. Umstritten ist die Frage, wie groß diese Differenz sein darf, insbesondere, weil davon das Ausmaß abhängt, in dem Staaten wie Russland und die Ukraine ihre großen Überschüsse an handelbaren Emissionsguthaben auf den Markt bringen können.
cc) Modalitäten der Einbeziehung von Treibhausgassenken Einen zentralen Streitpunkt der Verhandlungen um die Zukunft des KyotoProtokolls bildeten die genauen Modalitäten in Bezug auf die Einbeziehung von natürlichen Treibhausgassenken bei der Erfüllung der Verpflichtungen zur Emissionsreduktion oder -begrenzung durch die Industriestaaten. Dabei geht es einerseits um die Frage80, welche Aktivitäten zur Verbesserung der Treibhausgassenken bei der Berechnung der Verpflichtungen überhaupt zugelassen werden sollen, und andererseits darum, in welchem Ausmaß die dabei erreichte Bindung von Treibhausgasen mit den Emissionen verrechnet werden darf. Wie die konkrete Verwendung der Flexibilisierungsmechanismen ruft auch das Ausmaß der Einbeziehung von Treibhausgassenken höchst unterschiedliche Standpunkte hervor. Dies gilt in erster Linie für die Frage, in welchem Maß es den Industriestaaten erlaubt sein soll, bei der Erfüllung ihrer Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtungen den tatsächlichen Ausstoß von Kohlendioxid mit Maßnahmen zu verrechnen, die am Grundproblem der Emissionen im eigenen Land letztlich nichts ändern. Ein entsprechender Konsens wurde anlässlich der Bonner Konferenz erreicht. In Bezug auf die Streitfrage, welche Aktivitäten zur Förderung von Treibhausgassenken anrechenbar sein sollen, hält die Bonner Vereinbarung zunächst fest, dass das bloße Vorhandensein natürlicher CO2-Speicher keinen Grund für die Anrechenbarkeit bildet81. Dies entspricht der bereits in Art. 3 Abs. 3 und 4 Kyoto-Protokoll enthaltenen Vorgabe, es müsse sich bei den für die Anrechenbarkeit in Frage kommenden Senken um solche handeln, die das Resultat menschlicher Aktivitäten bilden. Von großer Bedeutung war die weitere Frage, ob – und wenn ja, welche – zusätzliche Aktivitäten der Landnutzung, der Veränderung der Landnutzung ___________ emissions trading under Article 17 of the Kyoto Protocol, Paragraph 6 ff. (entsprechend Dok. Nr. FCCC/CP/2001/L.24/Add.3 in der Form des Entwurfs von Marrakesch). 80 Vgl. auch Art. 3 Abs. 4 Kyoto-Protokoll. 81 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VII: „Land-use, land-use change and forestry“, Paragraph 1 Bst. d. Siehe außerdem auch die in Marrakesch vorgelegene Version der Decision 16/CMP.1: Land use, land-use change and forestry, Paragraph 1 Bst. d (vgl. für den in Marrakesch ausgehandelten Entwurf Dok. Nr. FCCC/CP/2001/L.11/Rev.1; auch enthalten im offiziellen Bericht zur Bonner Konferenz, Part IV.
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
und der Forstwirtschaft infolge Art. 3 Abs. 4 Kyoto-Protokoll zur Anrechnung zugelassen werden sollten. Zusätzlich sind diese Aktivitäten in dem Sinne, als sie zu den Maßnahmen zur Aufforstung und Wiederaufforstung hinzukommen, die bereits durch Art. 3 Abs. 3 zur Anrechnung zugelassen sind. Diesbezüglich sieht die Bonner Vereinbarung nun eine Regelung vor, die den Wünschen der Staaten der „Umbrella Group“ entspricht, die eine möglichst weitgehende Anrechenbarkeit solcher Aktivitäten forderten. Danach sollen die Bewirtschaftung von Wäldern, Ackerland und Weideland sowie „Revegetation“ zulässige Aktivitäten im Sinne von Art. 3 Abs. 4 Kyoto-Protokoll darstellen82. Vertragsparteien, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wollen, soll es dabei zumindest für die erste Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls freigestellt sein, welche und wie viele der erlaubten Aktivitäten sie tatsächlich in Anrechnung bringen wollen. Sie müssen nach dem Konsens von Bonn lediglich ihre Wahl bereits vor dem Beginn der ersten Verpflichtungsperiode im Jahr 2008 treffen und zudem – was sich allerdings bereits aus der Vorgabe von Art. 3 Abs. 4 Kyoto-Protokoll herleitet – belegen, dass die entsprechenden positiven Effekte tatsächlich vom Menschen herbeigeführte sind und aus nach dem Basisjahr 1990 verwirklichten Aktivitäten resultieren. Hinsichtlich des Ausmaßes der Anrechenbarkeit von CO2-Senken im Rahmen der genannten Aktivitäten an die Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen der Industriestaaten besteht die wichtigste der von der Bonner Vereinbarung vorgesehenen Modalitäten in einer mengenmäßigen Beschränkung83: Danach soll die Anrechenbarkeit von Waldbewirtschaftungsmaßnahmen für jeden einzelnen der verpflichteten Industriestaaten individuell begrenzt werden. Die diesbezüglichen Resultate der Bonner Verhandlungen ergaben dabei sehr große Unterschiede zwischen den für die einzelnen Staaten vorgesehenen Quantitäten. So entfallen bei einem Total der vereinbarten anrechenbaren Mengen von 54,5 Megatonnen Kohlenstoff pro Jahr auf sämtliche Staaten der EU zusammen 5,17 Megatonnen. Demgegenüber beanspruchten alleine die drei Staaten Japan, Kanada und Russland gemäß der Bonner Vereinbarung insgesamt 42,63 Megatonnen in biologischen Speichern gebundenen Kohlenstoffs zur Anrechnung an ihre Reduktions- bzw. (im Falle von Russland) Begrenzungspflichten. Allerdings wurden noch vor dem Abschluss der Bonner Konferenz die soeben festgelegten Werte zur Anrechenbarkeit von CO2-Senken bereits wieder in Frage gestellt. Die russische Delegation erhob nämlich die Forderung, die ___________ 82
Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VII, Paragraph 4; Decision 16/CMP.1, Annex: Definitions, modalities, rules and guidelines relating to land use, land-use change and forestry activities under the Kyoto Protocol, Paragraph 6 ff. 83 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VII, Paragraph 6 Bst. c i.V.m. Appendix Z; Decision 16/CMP.1, Annex, Paragraph 11.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
435
Russland soeben zugestandene Menge sei nochmals zu erhöhen84. Ein für das Zustandekommen des Ergebnisses der siebten Vertragsparteienkonferenz in Marrakesch wichtiger Faktor war denn auch, Russland annähernd eine Verdoppelung der in Bonn zugeteilten Menge (neu 33 Megatonnen) zuzugestehen; somit vereinigen die drei genannten Staaten nunmehr 58 Megatonnen anrechenbaren Kohlenstoffs auf sich. Anzumerken ist, dass die USA aufgrund ihres Rückzugs aus dem Verhandlungsprozess zum Kyoto-Protokoll in der Liste nicht aufgeführt sind.
dd) Vertragserfüllungskontrolle Art. 18 Kyoto-Protokoll richtet an die Adresse der ersten Vertragsparteienkonferenz im Rahmen des Protokolls die Aufgabe, Regeln für Fälle der Nichterfüllung der Vertragsverpflichtungen festzulegen, mitsamt den entsprechenden Sanktionen85. Die betreffenden Schritte86 konnten schließlich anlässlich der elften Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention von 2005 in Montreal unternommen werden, die zugleich – nach dem Inkrafttreten des Protokolls am 16. Februar 2005 – die erste Vertragsparteienkonferenz des Kyoto-Protokolls bildete87. Die diesbezüglich wesentlichen Vorgaben statuieren allerdings bereits die Bonner Vereinbarung88 sowie der entsprechende Beschluss der Konferenz von Marrakesch89, welche zur Überwachung der Vertragserfüllung die Einrichtung eines aus zwei getrennten Abteilungen bestehenden Komitees („Compliance Committee“) vorsehen90. Danach soll die eine Abteilung („facilitative branch“) dem Zweck dienen, die Erfüllung der Reduktions- und Begrenzungspflichten, der Pflicht zur Verwendung bestimmter Methoden bei der Erhebung von Treibhausgasemissionen ___________ 84
Vgl. ENB Vol. 12, Nr. 176, 7. Zum Folgenden allgemein Holtwisch, Nichteinhaltungsverfahren des Kyoto-Protokolls, passim. 86 Vgl. Decision 27/CMP.1: Procedures and mechanisms relating to compliance under the Kyoto Protocol. Die hier beschlossenen Verfahren und Mechanismen entsprechen den bereits in Bonn und Marrakesch entwickelten Vorschlägen; s. sogleich. 87 Zu den Resultaten der Konferenz ENB Vol. 12, Nr. 291; Bausch/Mehling, in: ZUR 2006, 291 ff.; dies., in: RECIEL 2006, 193 ff. 88 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII: „Procedures and mechanisms relating to compliance under the Kyoto Protocol“. Zu bemerken ist, dass die Bonner Vereinbarung für sich selbst genommen auch diesbezüglich unvollständig ist, so dass zum genaueren Verständnis zum entsprechenden Beschluss der Konferenz von Marrakesch (s. sogleich, Fn. 89) gegriffen werden muss. 89 Siehe für den Text die Decision 24/CP.7: Procedures and mechanisms relating to compliance under the Kyoto Protocol. 90 Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel II. 85
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
und -senken sowie der Berichtspflichten zu erleichtern bzw. diesbezüglich eine vermittelnde Rolle zu spielen91. Dies soll primär erreicht werden, indem die verpflichteten Staaten bereits präventiv auf sich abzeichnende Probleme bei der Erfüllung hingewiesen werden. Von weit größerer potentieller Tragweite ist demgegenüber freilich die Kompetenz der zweiten Abteilung („enforcement branch“), welcher die Aufgabe zukommt, die Fälle der Nichterfüllung in Bezug auf verschiedene Verpflichtungen der Industriestaaten autoritativ festzustellen92. Umfasst werden dabei die quantitativen Reduktions- bzw. Begrenzungsverpflichtungen, die Verpflichtungen zur Anwendung bestimmter Methoden und zur Berichterstattung sowie schließlich die Einhaltung der Zulässigkeitskriterien für die Flexibilisierungsmechanismen im Sinne von Art. 6, 12 und 17 Kyoto-Protokoll. Zum Mandat dieses Organs soll es dabei insbesondere auch gehören, im Hinblick auf die Behebung der Nichterfüllung und die Gewährleistung der Umweltschutzziele des Protokolls bestimmte Sanktionen auszulösen. Die Schärfe der möglichen Sanktionen ist vom Ausmaß der Nichterfüllung abhängig: –
Die Nichteinhaltung der Vorgaben von Art. 5 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 7 Abs. 1 und 4 Kyoto-Protokoll betreffend die nationale Datenerhebung, die Berichterstattung sowie die diesbezügliche Verwendung bestimmter Methoden hat danach (lediglich) zur Folge, dass die betreffende Vertragspartei zur Vorlage eines Berichts sowie eines Maßnahmenplanes verpflichtet wird93.
–
Für den Fall, dass eine Vertragspartei eines oder mehrere der Zulassungskriterien verletzt, die für die Verwendung der Flexibilisierungsmechanismen gelten, soll diese Zulassung suspendiert werden94. Eine erneute Zulassung würde dann eine Überprüfung der Umstände und einen entsprechenden Beschluss der „enforcement branch“ voraussetzen95.
–
Am weitesten gehen schließlich die Sanktionen, die eingeleitet werden sollen, wenn eine Vertragspartei die ihr gemäß Anlage B Kyoto-Protokoll zukommende Verpflichtung zur Emissionsreduktion oder -begrenzung auch unter Anwendung der Flexibilisierungsmechanismen nicht einhält. Vorgesehen sind in dieser Hinsicht drei Konsequenzen der Nichterfüllung96: In der ersten Verpflichtungsperiode anfal-
___________ 91 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII, Paragraph 1; Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel IV. 92 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII, Paragraph 3; Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel V. 93 Siehe dazu Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel XV, Paragraphen 1-3. 94 Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel XV, Paragraph 4. 95 Zum anzuwendenden Verfahren s. Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel X, Paragraph 2. 96 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII, Paragraph 2. Der Wortlaut der Bonner Vereinbarung gibt allerdings nicht den gesamten Sinn der Regelung wieder. Dieser ergibt sich erst aus dem Zusammenhang der verhandelten Bestandteile des Mechanismus, wie ihn nun der entsprechende Beschluss der Konferenz von Marrakesch enthält; s. dazu Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel XV, Paragraphen 5-8.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
437
lende Emissionen, welche die erlaubte Menge übersteigen, sollen mit dem Faktor 1,3 multipliziert vom der betreffenden Vertragspartei für die nachfolgende Verpflichtungsperiode zustehenden Emissionsbetrag abgezogen werden. Der betreffende Staat soll zudem an das Sanktionsorgan einen Bericht sowie einen Maßnahmenplan einreichen, in denen u. a. ausgeführt wird, wie die Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtung der nachfolgenden Verpflichtungsperiode eingehalten werden soll. Als dritte Sanktion soll es der betreffenden Partei schließlich vorläufig untersagt sein, im Sinne von Art. 17 Kyoto-Protokoll Emissionsrechte zu transferieren. Angesichts dieser möglichen Konsequenzen soll den Vertragsparteien gegen endgültige Beschlüsse des Sanktionsorgans eine Beschwerdemöglichkeit an die Adresse der Vertragsparteienkonferenz im Rahmen des Protokolls zustehen97.
III. Die konstitutionellen Vorgaben in der klimapolitischen Wirklichkeit 1. Gewichtung von partikulären Interessen und Gemeinwohl nach dem klimapolitischen Konsens von Bonn und Marrakesch Die Probleme bei der wirksamen Konkretisierung des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes, wie sie sich insbesondere nach der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls artikulierten, beruhen zu einem beträchtlichen Teil auf den Konflikten zwischen den bestehenden Interessenblöcken98. Neben dem scheinbar antagonistischen Gegenüber der Interessen von Industrie- und Entwicklungsländern lässt sich dabei auf der Grundlage der Gegensätzlichkeit von Partikulärinteressen und Gemeinwohl eine weitere grundsätzliche Unterscheidung der beteiligten Parteien erkennen. Auf eine vereinfachte Formel gebracht stehen Staaten, die eine erhöhte Bereitschaft zur Anerkennung eines durch die Erfordernisse des Klimaschutzes bestimmten, gemeinsamen globalen Wohls zeigen, solchen Staaten gegenüber, die unter Berufung auf nationale Eigeninteressen (jedenfalls kurz- und mittelfristig) auch das Scheitern wirksamer Klimaschutzmaßnahmen in Kauf nehmen. Die Trennlinie zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ist in dieser Hinsicht nicht völlig scharf. Die Forderungen der Entwicklungsländer in Bezug auf die finanzielle und technologische Unterstützung durch die Industriestaaten können – je nach Umständen und Betrachtungsweise – im klimapolitischen Kontext teilweise ebenfalls als einseitige Betonung partikulärer Interessen verstanden werden. Hervorzuheben sind dabei insbesondere die Forderungen erdölexportierender Staaten nach finanziellen Kompensationen für mögliche Mindereinnahmen, die durch Maßnahmen zum Kli-
___________ 97 Decision 5/CP.6, Annex, Kapitel VIII, Paragraph 4; Decision 24/CP.7, Annex, Kapitel XI. Die Entscheide der „enforcement branch“ können dabei durch eine Dreiviertelsmehrheit der Vertragsparteienkonferenz umgestoßen werden. 98 Vgl. dazu vorne in diesem Kap., C. II. 2. c).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
maschutz verursacht würden. Dabei stellt sich freilich auch die Frage, inwiefern die reichsten dieser Staaten überhaupt als Entwicklungsländer gelten können99.
Jedenfalls aber engagieren sich die in der sogenannten „Umbrella Group“ auftretenden Industriestaaten am deutlichsten für die Wahrung nationaler Partikulärinteressen. Im Hinblick auf die Zukunft des völkerrechtlichen Klimaschutzes ist vor diesem Hintergrund die Frage von wesentlicher Bedeutung, ob der in den Vereinbarungen von Bonn und Marrakesch festgehaltene politische Konsens etwas an der festzustellenden Kluft zwischen der Verfolgung von nationalen Partikulärinteressen einerseits und des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft andererseits geändert hat. Nach der Annahme der Bonner Vereinbarung anlässlich der sechsten Vertragsparteienkonferenz stellte sich sehr rasch heraus, dass auch die neugelegte Basis gegensätzliche Interpretationen der Interessenblöcke hervorrief. Ein Indiz hierfür bildete die Infragestellung der soeben festgelegten Werte zur Anrechenbarkeit von CO2-Senken von russischer Seite. Zum Gegenstand unterschiedlicher Auslegungen des erreichten Verhandlungsstandes wurde zudem das System der Vertragserfüllungskontrolle; so stellten insbesondere einige Staaten der „Umbrella Group“ den rechtsverbindlichen Charakter der vorgesehenen Mechanismen zur Überwachung und Durchsetzung der Vertragserfüllung in Frage. Die nachfolgende siebte Vertragsparteienkonferenz von Marrakesch brachte dann allerdings eine Klärung jener nach der Bonner Vereinbarung noch umstrittenen Modalitäten des Kyoto-Protokolls, die für dessen Operationalität unerlässlich sind. Darauf beruhte denn auch die Hoffnung, das Protokoll werde nun rasch die für das Inkrafttreten erforderliche Zahl von Ratifikationen (durch Industriestaaten) erreichen. Die diversen Ungereimtheiten des Konsenses von Bonn und Marrakesch verhinderten zwar letztlich nicht das Inkrafttreten des Protokolls. Sie belegen indessen exemplarisch den bestehenden Gegensatz zwischen klimapolitischer Gemeinwohlorientierung und (zu) einseitiger Verfolgung nationaler Partikulärinteressen: –
Eine Fragestellung von großer potentieller Tragweite bildet die Ausgestaltung der Finanzierung von Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels in Entwicklungsländern. Hier besteht die hauptsächliche Problematik darin, dass die entsprechenden Verpflichtungen der Industriestaaten auch mit der Einrichtung dreier neuer Fonds wie bislang zu wenig substantiviert sind. Der nach dem Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit100 wie auch ___________ 99
Vgl. auch Fatouros, in: EPIL, Vol. I, 1017 (1019). Zu diesem Grundsatz vorne in diesem Kap., B. III. und C. I. 3.
100
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
439
nach dem Verursacherprinzip101 an sich am nächsten liegende Ansatz, die finanziellen Verpflichtungen der Industriestaaten abgestuft nach deren realen Verantwortung für die Verursachung der Klimaproblematik gemäß den Emissionswerten festzusetzen, fand auch im Bonner Konsens keinen Niederschlag. Zwar setzten die EU und einige weitere Staaten mit ihrer (freiwilligen) finanziellen Beteiligung ein positives Signal102. Die tatsächlichen Beiträge der Industriestaaten bleiben aber im Ergebnis weiterhin von deren unverbindlichem Wohlwollen gegenüber den Nöten der Entwicklungsländer abhängig. –
Hinsichtlich der Flexibilisierungsmechanismen, welche den Industriestaaten die Erfüllung ihrer Verpflichtungen zur Emissionsreduktion oder -begrenzung erleichtern sollen, enthält die Bonner Vereinbarung erst die Grundzüge der für die Praktikabilität unerlässlichen genauen Regeln. Diese Modalitäten konnten anschließend im Rahmen der siebten Vertragsparteienkonferenz in Marrakesch konkretisiert werden. Allerdings bleibt die folgende Problematik bestehen: Als politische Kompromissformel mit weitester Auslegbarkeit, nicht aber als praktikable rechtliche Regel, ist die allgemeine Vereinbarung zum Kapitel der Flexibilisierungsmechanismen zu werten, Maßnahmen im eigenen Land sollten einen signifikanten Anteil an den Anstrengungen zur Umsetzung der Reduktions- oder Begrenzungsverpflichtungen bilden103. Das Beharren einzelner Industriestaaten auf einer möglichst uneingeschränkten Verwendbarkeit dieser Mechanismen beruht dabei ersichtlich auf dem Anliegen, politische und ökonomische Anpassungen an die Erfordernisse einer umweltgerechten Klimapolitik im eigenen Land so gering wie möglich zu halten. Dies schließt auch die Beibehaltung eines (insbesondere aufgrund eines hohen Verbrauchs fossiler Energie) offensichtlich klimaschädlichen Lebensstils mit ein.
–
Diese Feststellung gilt auch für die Position bestimmter Industriestaaten in Bezug auf die Anrechenbarkeit von Treibhausgassenken bei der Erfüllung ihrer Reduktions- und Begrenzungsverpflichtungen. Besonders hervorzuheben ist dabei das bereits erwähnte, sowohl in Bonn als auch in Marra-
___________ 101 Diesem Prinzip zufolge soll grundsätzlich der Urheber (Verursacher) von Umweltbelastungen die Kosten von deren Vermeidung, Verringerung oder Beseitigung tragen, nicht dagegen die Geschädigten oder die Allgemeinheit. Zur Bedeutung des Verursacherprinzips im Zusammenhang des Umweltvölkerrechts s. ausführlich Epiney/ Scheyli, Strukturprinzipien, 152 ff., m.w.N. 102 Siehe vorne in diesem Kap., C. II. 3. b) aa). 103 Zu dieser Ausgestaltung des sog. Ergänzungsprinzips s. vorne in diesem Kap., C. II. 3. b) bb).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
kesch manifeste Bestreben Russlands, bei der Festlegung der Werte zur Anrechenbarkeit von CO2-Senken einseitige Vorteile herauszuholen104. –
Die nach der Annahme der Bonner Vereinbarung einsetzenden Diskussionen um die Auslegung des getroffenen Konsenses und dessen Auswirkungen auf die noch offenen Fragen erwiesen sich schließlich auch im Bereich der Vertragserfüllungskontrolle („compliance“) als schwierig105. So stellten insbesondere einige Staaten der „Umbrella Group“ den rechtsverbindlichen Charakter der vorgesehenen Mechanismen zur Überwachung und Durchsetzung der Vertragserfüllung in Frage. Weder die siebte Vertragsparteienkonferenz von Marrakesch noch die nachfolgenden Zusammenkünfte im Rahmen der Klimakonvention brachten diesbezüglich einen Konsens. Entsprechend hält der betreffende Beschluss der Konferenz von Marrakesch fest106, dass es Sache der künftigen Vertragsparteienkonferenzen des Kyoto-Protokolls sein wird, diese Frage endgültig zu klären. Inwiefern diese Mechanismen ohne Verbindlichkeit für sämtliche Vertragsparteien überhaupt Sinn machen sollten, ist allerdings nicht ersichtlich107. Die Position einzelner Staaten in dieser Frage dürfte indessen ebenfalls ein Ausdruck der Bestrebungen sein, die aus dem Kyoto-Protokoll resultierenden Verpflichtungen möglichst gering bzw. auf einer möglichst unverbindlichen Ebene zu halten.
An dieser Stelle ist noch Folgendes zur Entstehung der Bonner Vereinbarung – die auch für das Ergebnis der Konferenz von Marrakesch bereits die wesentlichen Vorgaben enthielt – zu bemerken: Die Bonner Verhandlungen (und damit die Entstehung des Konsenses von Bonn und Marrakesch) waren nicht zuletzt durch die Tatsache geprägt, dass zur Beschleunigung der Konsensfindung eine Kernverhandlungsgruppe von dreißig Staaten gebildet wurde, in der die wichtigsten Fragen bis zur Vorlage an das Plenum diskutiert wurden. In diesem Verhandlungsorgan wiederum waren mit Ausnahme der (bei den Verhandlungen nur passiv beteiligten) USA sämtliche sechs weiteren Staaten der „Umbrella Group“ beteiligt, während die Staaten der EU demgegenüber beispielsweise fünf Stimmen auf sich vereinigten108. Mit anderen Worten war die Position der Staaten, die in Bezug auf den Klimaschutz am ausgeprägtesten eine bremsende Rolle spielen, unverhältnismäßig stark vertreten. Es fragt sich also, inwiefern tatsächlich von einem allseitigen „Kompromiss“ gesprochen ___________ 104
Siehe insb. vorne in diesem Kap., C. II. 3. b) cc). Die Ausarbeitung der Mechanismen zur Vertragserfüllungskontrolle hatte bereits unmittelbar vor dem Abschluss der Bonner Vereinbarung das letztlich hartnäckigste Verhandlungsproblem gebildet; vgl. hierzu den Überblick in ENB Vol. 12, Nr. 176, 8. 106 Siehe die Präambel der Decision 24/CP.7. 107 In dieser Richtung auch Kreuter-Kirchhof, in: ZaöRV 2005, 967 (1007, 1011). 108 Vgl. dazu ENB Vol. 12, Nr. 171, 1. 105
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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werden kann: Die diplomatischen Stärkeverhältnisse waren in Bonn wie auch später in Marrakesch nicht zuletzt geprägt durch die Bereitschaft der EU und weiterer Industriestaaten, das Kyoto-Protokoll unter fast allen Umständen zu retten. Kompromisse mussten unter diesen Voraussetzungen in erster Linie die für einen stärkeren Klimaschutz eintretenden Parteien hinnehmen; die im Verhandlungsprozess nach der Abstinenz der USA übrig gebliebenen Vertreter der „Umbrella Group“ konnten dagegen die von ihnen diktierten Anliegen in den meisten Fällen durchsetzen. Belege hierfür bilden die Einbeziehung der Flexibilisierungsmechanismen ohne verbindliche Limitierung, die Ausgestaltung der Anrechnung von Senken und schließlich in Marrakesch die enormen Zugeständnisse an Russland sowie die Vertagung der Entscheidung des rechtlichen Status der Vertragserfüllungskontrolle. Nicht zu übersehen ist außerdem bei allem, dass der klimapolitische Konsens von den USA als bei weitem wichtigstem Verursacher von Treibhausgasemissionen nach wie vor nicht mitgetragen wird; Gleiches gilt auf der Seite der wichtigen Industriestaaten für Australien. Schließlich ist kurz zu erwähnen, welche Entwicklung die klimapolitischen Verhandlungen seit dem Konsens von Bonn und Marrakesch bis zum Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls am 16. Februar 2005 genommen haben. Die folgenden Vertragsparteienkonferenzen der Klimakonvention (Delhi 2002109; Mailand 2003110; Buenos Aires 2004111) wurden allgemein als vergleichsweise wenig ergiebig eingestuft, dienten indessen der weiteren Detaillierung der in den „Marrakesh Accords“ verankerten Regeln; im Übrigen waren sie nicht zuletzt durch das Warten auf das Inkrafttreten des Protokolls, mithin auf die Erfüllung der Kriterien gemäß Art. 25 Abs. 1 geprägt. Die gegenüber Russland gemachten Zugeständnisse führten keineswegs – wie zunächst erhofft – zur raschen russischen Ratifikation des Vertrags. Vielmehr dauerte es aufgrund eines anhaltenden Ringens um weitere politische und ökonomische Zugeständnisse112 bis zum Oktober 2004, ehe das russische Parlament das KyotoProtokoll ratifizierte und damit den Weg für dessen Inkrafttreten freimachte113. Die USA wiederum bekräftigten ihre ablehnende Haltung auch dadurch, dass sie im Rahmen der weiteren Vertragsparteienkonferenzen der Klimakonvention zeitweise eine Politik der aktiven Obstruktion betrieben114. Zu beobachten war weiter das Bestreben der Entwicklungsländer – insbesondere wichtiger ___________ 109
Zusammenfassung der Ergebnisse in ENB Vol. 12, Nr. 209. Zusammenfassung der Ergebnisse in ENB Vol. 12, Nr. 231. 111 Zusammenfassung der Ergebnisse in ENB Vol. 12, Nr. 260. 112 Vgl. bspw. NZZ vom 7.3.2003, 2. 113 Vgl. bspw. NZZ vom 23./24.10.2004, 1 f., 23. 114 Vgl. bspw. ENB Vol. 12, Nr. 209, 14. 110
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Schwellenländer wie Indien, China und Brasilien – im Laufe der Verhandlungen, die Auferlegung eigener Verpflichtungen zur Emissionsbegrenzung zu verhindern115. Seit der zehnten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention von 2004 und insbesondere seit der ersten Vertragsparteienkonferenz des Kyoto-Protokolls von 2005 in Montreal116 liegt das Schwergewicht der Weiterentwicklung des Klimaschutzregimes auf der Frage, unter welchen Bedingungen vor dem Ablauf der bis 2012 dauernden ersten Verpflichtungsperiode die Weitergeltung (oder allenfalls Ersetzung) des Protokolls erreicht werden kann117. So wurde anlässlich der zweiten Vertragsparteienkonferenz des Kyoto-Protokolls von 2006 in Nairobi118 in Bezug auf die Aushandlung neuer Reduktionsziele und -verpflichtungen ein Arbeitsprogramm verabschiedet, wobei aber noch offen gelassen wurde, bis wann diese Verhandlungen abzuschließen seien. In diesem Zusammenhang wurde von Seiten der Schwellenländer, insbesondere Chinas, wiederum deutlich gemacht, sie würden sich zwar zur Ergreifung freiwilliger Maßnahmen zum Klimaschutz bereit erklären, seien aber nicht zur Eingehung entsprechender Verpflichtungen gewillt. Entsprechend wurde die Frage unterschiedlich aufgefasst, worauf die Aushandlung künftiger Verpflichtungsziele hinauslaufen soll119: Nach Auffassung der Entwicklungs- und Schwellenländer, die sich diesbezüglich auf das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit120 beriefen, soll es dabei ausschließlich um neue Reduktionsziele für die Industriestaaten gehen, die bereits gemäß Anlage B des heute geltenden Protokolls verpflichtet sind. Die Industriestaaten wiederum stellten sich auf den Standpunkt, dass in den Verhandlungen über die Zukunft des Klimaregimes auch Reduktionsverpflichtungen zumindest der wichtigsten Schwellenländer anzupeilen seien. Auf dieser Basis verlief auch die dreizehnte Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention und zugleich dritte Vertragsparteienkonferenz des Kyoto___________ 115
Vgl. bspw. ENB Vol. 12, Nr. 231, 17. Es handelte sich dabei zugleich um die elfte Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention; vgl. dazu ENB Vol. 12, Nr. 291. Gemäß Art. 3 Abs. 9 Kyoto-Protokoll müssen spätestens sieben Jahre vor Ablauf der ersten Verpflichtungsperiode des Protokolls (was im Jahr 2012 der Fall sein wird) die Erörterungen über Verpflichtungen in der Folgezeit aufgenommen werden; insofern waren die Vertragsparteien zum entsprechenden Vorgehen in Montreal zwingend angehalten. 117 Vgl. bspw. ENB Vol. 12, Nr. 260, 15. 118 Zugleich die zwölfte Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention; zur Zusammenkunft von Nairobi ENB Vol. 12, Nr. 318. 119 Vgl. ENB Vol. 12, Nr. 318, 10 f., 17 ff. 120 Zum Prinzip vorne in diesem Kap., B. III. 116
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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Protokolls vom Dezember 2007 in Bali121. Diese Zusammenkunft stand völlig im Zeichen des im selben Jahr veröffentlichten vierten Berichts des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), der in bisher ungekannter Deutlichkeit klarstellte, welchen Risiken sich die Menschheit aufgrund des Klimawandels ausgesetzt sieht122. Die Verhandlungen wurden ferner durch den Druck geprägt, dass ein erneuertes internationales Klimaregime, das einen nahtlosen Übergang vom heutigen, Ende des Jahres 2012 auslaufenden Kyoto-Protokoll gewährleistet, möglichst rasch ausgehandelt werden muss. Als Zielsetzung wurde diesbezüglich vereinbart, die entsprechenden Beschlüsse anlässlich der fünfzehnten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention im Dezember 2009 in Kopenhagen zu fassen123. Hauptsächliches Ergebnis der Konferenz bildet der „Bali Action Plan“ bzw. eine sogenannte „Bali Roadmap“124. Ein wesentliches Element dieses Fahrplans besteht zunächst in der Anerkennung der Tatsache, dass – unter Hinweis auf die jüngsten Erkenntnisse des IPCC – massive Reduktionen der globalen Treibhausgasemissionen („deep cuts in global emissions“) erforderlich sind, um die Ziele der Klimakonvention zu erreichen125. Allerdings verhinderte die Opposition einiger Industriestaaten (neben den USA seitens von Japan, Kanada und Russland), im Aktionsplan eine konkrete Nennung des anzustrebenden Reduktionsbereichs – der durch den IPCC für den Zeitraum bis zum Jahr 2020 in der Höhe von 25 bis 40 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 veranschlagt worden war – zu erreichen126. Weiter werden durch den „Bali Action Plan“ erstmals, wenn auch ohne konkrete Verpflichtungswirkung, die Entwicklungsländer aufgerufen, künftig ebenfalls „in messbarer Weise“ angemessene nationale Maßnahmen zur Reduktion der Ursachen des Klimawandels zu ergreifen127. Zu bemerken ist zu den Ergebnissen der Klimakonferenz von Bali zum einen, dass zwischen den üblichen Verhandlungsblöcken erneut ein unerbittliches Ringen um Positionen stattfand. Die entsprechenden Resultate sind somit Ausdruck der weiterhin bestehenden großen Interessengegensätze und bilden wiederum einen Konsens des kleinsten gemeinsamen Nenners. Zum anderen ist damit erst in groben Zügen entworfen, in welchen Bahnen die Verhandlungen bis im Dezember 2009 verlaufen sollen. ___________ 121
Zu den Ergebnissen der Konferenz von Bali ENB Vol. 12, Nr. 354; Burleson, Bali Climate Change Conference. 122 Siehe im Einzelnen im 5. Kap., B. II. 1. 123 Dies impliziert, dass anschließend noch drei Jahre für den Ratifizierungsprozess im Hinblick auf das Inkrafttreten des Kyoto-Nachfolgeabkommens zur Verfügung stehen. 124 Siehe Dok. Nr. FCCC/CP/2007/L.7/Rev.1. Zum Inhalt ENB Vol. 12, Nr. 354, 15 ff. 125 Bali Action Plan, Präambel. 126 Vgl. ENB Vol. 12, Nr. 354, 15, 19. 127 Bali Action Plan, Ziff. 1 Bst. b (ii).
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4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
Entsprechend ist noch nicht absehbar, ob sich im zu erneuernden Klimaregime die erforderlichen klimapolitischen Maßnahmen, insbesondere hinsichtlich der Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen, tatsächlich wirksam verankern lassen.
2. Folgerung: unzureichende Beachtung der potentiellen konstitutionellen Vorgaben Wie erwähnt stellte der Konsens von Bonn und Marrakesch auf dem Weg zum Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls einen Meilenstein dar. Gleichwohl rief selbst dieser wichtige Entwicklungsschritt die Einschätzung hervor, die Positionen derjenigen Staaten, die nationale Partikulärinteressen besonders deutlich verteidigen, seien eher gestärkt worden. Der Ansatz dagegen, ein möglichst wirksames Klimaschutzregime als Notwendigkeit des globalen Gemeinwohls aufzufassen und entsprechend zu handeln, scheint sich bis heute trotz des vordergründigen Erfolgs des Kyoto-Protokolls keineswegs durchgesetzt zu haben. Denn man kommt nicht umhin festzustellen, dass die relevanten konstitutionellen Vorgaben, welche der Orientierung an Gemeinwohlbelangen normative Wirksamkeit verschaffen sollten, nicht ausreichend Beachtung finden. Im Vordergrund steht bei dieser Folgerung das Vorsorgeprinzip, auf dessen Verwirklichung in der klimapolitischen Praxis wiederum die Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzepts angewiesen ist128. In der Klimapolitik verschiedener Staaten, so insbesondere der USA und der übrigen Mitglieder der „Umbrella Group“, widerspiegelte sich bis in die jüngste Zeit der Standpunkt, die wissenschaftliche Beweisführung bezüglich eines unkontrollierbaren Klimawandels sei ungenügend. Die Argumentation sollte dabei die Position stützen, eine Senkung der Treibhausgasemissionen im vom Kyoto-Protokoll vorgesehenen Ausmaß sei nicht nur undurchführbar, sondern auch unnötig. Der Umstand an sich, dass nun (außer den USA) auch alle Vertreter der „Umbrella Group“ das Protokoll ratifiziert haben129, dürfte kaum etwas an der grundsätzlichen Skepsis dieser Staaten am Ansatz des völkerrechtlichen Klimaregimes geändert haben. Vielmehr wurde der einseitigen Zurückhaltung der Mitglieder der „Umbrella Group“ von Seiten anderer Vertragsparteien durch eine ausgesprochen weit gehende Erfüllung der als Voraussetzung einer Ratifikation gestellten Forderungen begegnet. So ist denn auch ungewiss, ___________ 128 Zum engen Verhältnis zwischen Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeitskonzept insb. vorne in diesem Kap., B. II. 2. 129 Nachdem als zweitletzter Industriestaat im Dezember 2007 auch Australien das Kyoto-Protokoll ratifizierte; dies als unmittelbares Resultat eines soeben erfolgten Regierungswechsels und zeitgleich mit dem Auftakt der dreizehnten Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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wie sich das Klimaregime in Zukunft, über die jetzige, bis 2012 laufende Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls hinaus, weiterentwickeln wird. Es ist zu erwarten, dass die Verhandlungen im Hinblick auf eine nächste Verpflichtungsperiode von den ähnlichen Schwierigkeiten wie bis anhin geprägt sein werden130. Relevant ist in Bezug auf die vorliegende Untersuchung, dass mit der Blockierung wirksamen klimapolitischen Handelns das Vorsorgeprinzip missachtet wird, dem potentiell die Funktion eines umweltbezogenen Elements einer allfälligen völkerrechtlichen Verfassungsordnung zukommt131. Dieses Prinzip verlangt die Ergreifung von Maßnahmen bereits in einem Stadium, da über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge noch keine abschließende wissenschaftliche Gewissheit besteht. Je schwerwiegender das Schädigungspotential dabei ist, desto größer wird die Bedeutung dieses Ansatzes zur Vermeidung irreversibler Schäden. Angesichts des Ausmaßes der vom Klimawandel ausgehenden Bedrohung zeigt sich dies besonders deutlich: Die Anwendungskriterien des Vorsorgeprinzips – nämlich die Wahrscheinlichkeits- wie auch die Erheblichkeitsschwelle der Umweltgefährdung132 – sind hier in exemplarischer Weise erfüllt. Zwar können dem Vorsorgeprinzip keine spezifischen Verpflichtungen in Bezug auf das konkrete umweltpolitische Handeln entnommen werden. Indessen ergibt sich daraus die allgemeine Pflicht, tatsächlich präventiv tätig zu werden, im Rahmen des zur Bewältigung des fraglichen Umweltproblems Notwendigen133. Eine Verweigerungshaltung gegenüber jenen klimapolitischen Maßnahmen, die nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand das Minimum des an sich Ratsamen darstellen, erweist sich damit als Nichtbeachtung dieses umweltvölkerrechtlichen Kernprinzips. Die Kritik trifft dabei konsequenterweise jene Staaten am stärksten, die sich zwecks Schutzes nationaler Partikulärinteressen einer Stärkung des Klimaschutzes widersetzen. Andererseits ste___________ 130
So haben im Juli 2005 drei Staaten der „Umbrella Group“, nämlich Australien, Japan und die USA, zusammen mit China, Indien und Südkorea den Abschluss eines eigenen Klimapakts („Asia Pacific Partnership on Clean Development and Climate“) verkündet, der einen „effizienteren und faireren“ Klimaschutz als das Kyoto-Protokoll ermöglichen soll; s. NZZ vom 29.7.2005, 5. Befürchtungen gehen dahin, der Pakt diene diesen Ländern, die zusammen für rund die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, vor allem als Interessenkoalition gegen das Kyoto-Protokoll. 131 Siehe vorne in diesem Kap., B. II. 3. 132 Dazu vorne in diesem Kap., B. II. 3. a); zudem eingehend Epiney/Scheyli, Strukturprinzipien, 110 ff., 117 ff. 133 So gebietet das Vorsorgeprinzip gemäß Kreuter-Kirchhof, Neue Kooperationsformen im Umweltvölkerrecht, 497, sollten sich die bisherigen Maßnahmen als unzureichend erweisen, „die Maßstäbe und Handlungskonzepte weiterzuentwickeln und die Ziele des Kyoto-Protokolls je nach den tatsächlichen Anforderungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen möglichst wirksam zu verwirklichen“.
446
4. Kap.: Entwicklungsstand völkerrechtlicher Konstitutionalisierung
hen aber auch jene Staaten, die sich zugunsten einer wirksamen Klimapolitik einsetzen, in der Verantwortung, keine Schwächung des Regelwerks zu akzeptieren, welche dem Vorsorgeprinzip (und den weiteren potentiellen konstitutionellen Elementen des Umweltvölkerrechts) nicht gerecht wird. Die Schwierigkeiten der letztgenannten Staaten, dieser Verantwortung nachzukommen, beruhen freilich auch auf einem Zwang zu weitgehenden Kompromissen, resultierend aus der Tatsache eines möglichen Scheiterns des Kyoto-Protokolls und des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes insgesamt. Weiter stellt sich die Frage, ob das völkerrechtliche Klimaschutzregime auf dieser Basis grundsätzlich überhaupt den Anforderungen des potentiellen konstitutionellen Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung gerecht zu werden vermag: Dieses gibt den Schutz der Interessen künftiger Generationen als umfassende Zielsetzung vor. Der Grundsatz vorsorglichen Handelns bildet dabei für die heute lebende Generation die unabdingbare Verhaltensmaxime, sollen die Umweltschädigungen zulasten der Zukunft auf einem ethisch verantwortbaren Niveau gehalten werden. Die Verwirklichung der Ziele des Leitkonzepts der Nachhaltigen Entwicklung kann also nicht von der Beachtung des Vorsorgeprinzips getrennt werden. Eine ganz ähnliche Einschätzung bezüglich der tatsächlichen Beachtung stellt sich schließlich zum Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit ein, das bei gegebener Weiterentwicklung künftig eine potentielle konstitutionelle Vorgabe darstellen könnte134: Während dem Prinzip gerade im Bereich des Klimaschutzes auf der theoretischen Ebene eine grundsätzliche Anerkennung zukommt, so dass auch ihm ein konstitutionelles Potential beigemessen werden kann, hat es sich noch nicht ausreichend in konkreten, rechtlich verbindlichen Verpflichtungen der Staaten niedergeschlagen. Dabei hat sich zunächst gezeigt, dass es insbesondere die Industriestaaten sind, die ihren besonderen Anteil an der Tragung der gemeinsamen Verantwortlichkeit nicht einlösen. Dazu trägt zum einen die nach wie vor offene Frage der Finanzierung von Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels in Entwicklungsländern bei. Zum andern wird der Eindruck wiederum durch die Verhandlungspraxis jener Industriestaaten geprägt, die sich Anstrengungen zum Klimaschutz im eigenen Land aus der Befürchtung ökonomischer Nachteile widersetzen. Zu erwähnen ist schließlich aber auch die (von den Industriestaaten gerügte) Haltung teilweise industrialisierter Staaten bzw. von Schwellenländern mit sehr ___________ 134
Es ist daran zu erinnern, dass das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit derzeit den an ein konstitutionelles Prinzip gestellten Voraussetzungen noch nicht entspricht, was aber nicht ausschließt, dass sich der Grundsatz noch entsprechend weiterentwickeln wird; vgl. vorne in diesem Kap., B. III. 3.
C. Klimaregime und konstitutionelle Vorgaben
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hohen Emissionsbeiträgen wie China, Indien, Brasilien, Südkorea, Mexiko oder Südafrika, sich hinsichtlich klimapolitischer Verpflichtungen auf den Status von Entwicklungsländern zu berufen und damit (unter Hinweis auf das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit) auch keine Begrenzung der eigenen Emissionen zu akzeptieren135. Diverse erdölexportierende Staaten verlangen außerdem den Ausgleich befürchteter finanzieller Nachteile in einem Ausmaß, das in keinem vernünftigen Verhältnis zu den ökonomischen Problemen der Mehrzahl der Entwicklungsländer steht. Insofern zeigt sich, dass das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit eine (künftig) mögliche konstitutionelle Vorgabe darstellt, welcher in der klimapolitischen Praxis sowohl der Industriestaaten als auch vieler Entwicklungsländer noch keineswegs die erforderliche Beachtung zukommt. Als Ergebnis der materiellen Untersuchungen resultiert somit, dass die für das Bestehen einer völkerrechtlichen Verfassungsordnung erforderliche praktische Umsetzung der potentiellen konstitutionellen Vorgaben im Bereich des Umweltvölkerrechts zum heutigen Zeitpunkt nicht gewährleistet ist.
___________ 135 Diese Haltung kam zuletzt besonders im Zusammenhang mit der – seit der ersten Vertragsparteienkonferenz des Kyoto-Protokolls im Jahr 2005 diskutierten – Frage zum Ausdruck, in welcher Weise das völkerrechtliche Klimaregime für die Zeit nach Ablauf der bis 2012 dauernden ersten Verpflichtungsperiode des Protokolls weiterentwickelt werden soll; vgl. dazu bereits zuvor in diesem Kap., C. III. 1.
5. Kapitel
Hindernisse und Entwicklungsperspektiven völkerrechtlicher Konstitutionalisierung A. Ergebnis der Prüfung der konstitutionellen Realität im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen Aufgrund der Untersuchungen des 3. und des 4. Kapitels lassen sich nun für den Bereich des völkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen die Ergebnisse zusammenstellen, welche die Prüfung des Mindeststandards konstitutioneller Realität (gemäß den am Ende des 2. Kapitels aus dem konzeptionellen Verfassungsbegriff entwickelten Kriterien1) hervorgebracht hat. (1) Zum Kriterium, ob sich ein allgemeines Wohl einschließlich konkreter Gehalte bestimmen lasse: Die Verständigung darüber, was als Gemeinwohl anzusehen sei, wirft Fragen politischer und rechtlicher Legitimität auf, wobei auf der Ebene des Völkerrechts prozedurale Verständigungsmechanismen vergleichsweise schwach entwickelt sind. Dennoch lässt sich auch hier ein entsprechender Grundkonsens ausmachen, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, die grundlegenden gemeinsamen Interessen zu schützen, welche das Überleben der Menschheit erfordert. Zugleich ist die dem Individuum zustehende Menschenwürde als unverzichtbares Kernelement des Gemeinwohls wie auch als Maßstab und Zweck der Völkerrechtsordnung zu betrachten. Gestützt auf diese Prämissen wird durch die Völkerrechtsgemeinschaft der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Gemeinwohlbelang anerkannt, dessen Verwirklichung mit den Mitteln des Völkerrechts anzustreben ist. (2) Zum Kriterium, ob auf dieser Basis normative Grundentscheidungen getroffen werden: Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung entspricht den auf der normativen Ebene konstitutioneller völkerrechtlicher Leitkonzepte gestellten Anforderungen. Damit kann es für den völkerrechtlichen Bereich des Schutzes der na___________ 1
Siehe das 2. Kap., insb. D. IV.
A. Prüfungsergebnis
449
türlichen Lebensgrundlagen als normative Grundentscheidung betrachtet werden. Dabei bleibt das Gemeinwohl nicht alleine auf die heute lebende Menschheit bezogen, sondern schließt auch die Perspektive der künftigen Generationen mit ein. (3) Zum Kriterium, ob dies zur Entwicklung konstitutioneller Normen mit dem Ziel führe, die am Gemeinwohl orientierten normativen Grundentscheidungen zu verwirklichen: Dieses Kriterium wird durch die beiden Prinzipien der Vorsorge und der gerechten Nutzung gemeinsamer Ressourcen erfüllt. Diese ergänzen somit als potentielle konstitutionelle Prinzipien den konzeptionellen Rahmen auf der konkreteren normativen Ebene rechtlicher Sollenssätze. (4) Zum Kriterium, ob die konstitutionellen Normen durchgesetzt bzw. durch die Rechtssubjekte beachtet werden: Negativ ist dagegen für den ausgewählten Referenzbereich des völkerrechtlichen Klimaschutzregimes die Beantwortung der Frage ausgefallen, ob die genannten konstitutionellen Normen, und mit ihnen das zugrunde liegende konstitutionelle Leitkonzept, durchgesetzt bzw. durch die Staaten ausreichend beachtet werden. Nicht gewährleistet ist heute die praktische Verwirklichung der potentiellen konstitutionellen Vorgaben insbesondere beim Vorsorgeprinzip, was aber zur Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzepts zwingend erforderlich wäre. Somit scheitert die Annahme, es bestehe zum heutigen Zeitpunkt bereits eine umweltbezogene völkerrechtliche Verfassungsordnung (im Sinne des konzeptionellen Verfassungsbegriffs) an Folgendem: Während auf der Leitkonzeptund Prinzipienebene normative Vorgaben vorhanden wären, die potentiell eine konstitutionelle Rolle spielen könnten, werden diese durch die Staaten als relevante Rechtssubjekte nicht ausreichend beachtet, wenn es um mehr als das grundsätzliche Bekenntnis zu einer abstrakten Rechtsformel geht. Dabei ist noch einmal folgender wichtiger Punkt in Erinnerung zu rufen: Die im 2. Kapitel gestellte Frage nach der Verwendbarkeit des Konstitutionalisierungsbegriffs im allgemeinen völkerrechtlichen Kontext führte lediglich unter der Voraussetzung zu einer positiven Antwort, dass der Verfassungsbegriff auf seinen materiellen Kern (mit der Gemeinwohlorientierung als Maßstab der konstitutionellen Ordnung) reduziert wurde. Die am Beispiel des Klimaschutzes in Bezug auf das Umweltvölkerrecht getesteten Kriterien des konzeptionellen Verfassungsbegriffs geben insofern den absoluten Mindeststandard dessen wieder, was sich als konstitutionelle Ordnung verstehen lässt. Auf die diversen übrigen, mit dem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungstopos wie auch mit dem supranationalen Verfassungsbegriff als essentiell in Verbindung gebrachten Elemente wurde dabei verzichtet. Mit anderen Worten lässt sich selbst ein
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
minimaler Verfassungsstandard für den Referenzbereich des Umweltvölkerrechts zum heutigen Zeitpunkt nicht bejahen. Nach dem Gesagten stellt sich die Frage, welche Schlüsse für die weitere Entwicklung des Völkerrechts zu ziehen sind. Dabei sind einerseits Hindernisse auszumachen, andererseits aber auch starke Anreize für eine Weiterverfolgung der konstitutionellen Idee.
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
451
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung I. Aktuelle Tendenzen partikulärer Interessenverfolgung: unilaterale Staatenpraxis als Hindernis völkerrechtlicher Konstitutionalisierung Der Blick auf die globale Klimapolitik hat unter anderem gezeigt, dass die Orientierung am Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft nicht für alle Staaten eine relevante politische Maxime bildet. Vielmehr äußert sich in den Verhaltensweisen der Staaten eine stark unterschiedliche Bereitschaft, den Blick über nationale Eigeninteressen hinaus zu richten. Gleichzeitig fragt sich aber, ob die Wahrnehmung von Anliegen des Gemeinwohls durch die internationale Gemeinschaft ohne die Beteiligung wichtiger Akteure überhaupt möglich ist. In diesem Zusammenhang ist auf das in jüngerer Zeit verstärkt auftretende Phänomen des unilateralen Vorgehens einzelner Staaten (manchmal auch einzelner Gruppen von Staaten) einzugehen.
1. Unilaterale Staatenpraxis als einseitiges Rechtshandeln Mit dem Begriff „Unilateralismus“1 wird zunächst aus rechtlicher Sicht das einseitige Rechtshandeln eines einzelnen Staats oder mehrerer in einer Gruppe zusammengeschlossener Staaten verstanden. Dies umfasst auch „normale“ Vorgänge der Staatenpraxis, so beispielsweise einseitige Anerkennungserklärungen (etwa eines Rechtsanspruchs eines anderen Staats) oder – in umgekehrtem Sinn – Protestnoten2. Eine spezifischere Bedeutung unilateraler Praxis erschließt sich allerdings durch die Frage nach der damit verbundenen politischen Absicht: Zu beobachten ist, dass unilaterales Handeln – oder auch Unterlassen, etwa durch die Weigerung eines Staats, Handeln der Staatengemeinschaft mitzutragen – häufig die Erzielung eines bestimmten Nutzens bezweckt, der sich ausschließlich an den partikulären Interessen des Handelnden orientiert. Zu unilateralen Verhaltensstrategien können dabei auch Versuche von Staaten oder Staatengruppen gezählt werden, die Ergebnisse internationaler Verhandlungsprozesse durch fortgesetzte Einflussnahme und Druckausübung ihren Interessen gemäß zu beeinflussen3. Gemeinsame Interessen der Staatengemeinschaft sind in dieser Strategie zweitrangig und kaum schützenswerter als die Ansprüche ir___________ 1 Zum Folgenden insb. Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (20). Vgl. außerdem die begrifflichen Ausführungen von Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (315 ff.). Allgemein zur Bedeutung unilateralen Handels im Völkerrecht ferner Fiedler, in: EPIL, Vol. IV, 1018 ff. 2 Siehe Fiedler, ebd., 1018 (1018). 3 Siehe Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (325 ff.); Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (20).
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
gendwelcher Drittstaaten. In letzter Konsequenz verwirklicht sich im Phänomen des Unilateralismus die von Louis Henkin vertretene Einschätzung der faktischen Bedeutung von Gemeinschaftswerten im Völkerrecht. Danach sei nicht die Orientierung an Gemeinschaftsinteressen, sondern vielmehr die egoistische Durchsetzung nationaler Eigeninteressen das wesentliche Merkmal internationaler Beziehungen: „(...) state egoism, selfishness, is the hallmark of the international state system. The ‚national interest‘ is deemed to be not only the sole motivation of states but also the greatest virtue. (...) Selfishness – acting in the national interest – may sometimes have to be compromised with the competing national interest of another state, but is not to be readily sacrificed even to some common good. (...) Occasional reference to mankind is rhetoric; it has no significant normative implications.“4
Immerhin ist unilaterales Handeln (oder Unterlassen) nicht mit Rechtswidrigkeit gleichzusetzen5; vielmehr werden die meisten Fälle unilateraler Praxis grundsätzlich den Rahmen der dem betreffenden Staat zukommenden Souveränität nicht verletzen. Weiter ist nicht ausgeschlossen, dass – als gesamthaft möglicherweise bessere Alternative zu Untätigkeit – auch Fälle unilateralen Handelns vorkommen können, welche potentiellen Gemeinschaftsinteressen durchaus gerecht werden6. Unilaterale Aktionen werden von den Handelnden denn auch oft mit einem übergeordneten Interesse der internationalen Gemeinschaft begründet. Die Intervention der NATO-Staaten im Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 stellt ein Beispiel kollektiven unilateralen Handelns einer Staatengruppe dar, das mit der Durchsetzung höchster Werte der internationalen Gemeinschaft (insbesondere des Schutzes der Menschenrechte) begründet wurde, zugleich aber die Frage der Vereinbarkeit mit den Voraussetzungen für die Durchbrechung des Gewaltverbots gemäß Kapitel VII der UNO-Charta aufwarf7. Aus dem Bereich des Umweltschutzes wird unter anderem8 auf das Bei___________ 4
Henkin, Politics and Values, 106. Siehe Bodansky, in: EJIL 2000, 339 (340 f.). 6 Ebd., 339 (insb. 344 ff.). 7 Vgl. dazu etwa Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (26 f.); Harhoff, in: Nordic Journal of International Law 2001, 65 (68 ff.); Nolte, in: ZaöRV 1999, 941 ff.; Weber, in: KosovoKrieg, 65 ff. 8 In diesen Kontext gehören auch diverse Konflikte im Rahmen von GATT und WTO, die aus der einseitigen Ergreifung handelsrechtlicher Maßnahmen zu umweltpolitischen Zwecken resultierten. Zu erwähnen sind etwa die Einführung eines Umweltlabels für importierte Tropenhölzer durch Österreich, außerdem die Embargos durch die USA gegen mexikanischen Thunfisch sowie gegen Garnelen aus bestimmten Ländern, deren Fangpraktiken gegen die US-amerikanische Gesetzgebung verstießen. Zu diesen Fällen s. etwa Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (320); Cottier/Wagner, in: Praxis des Völkerrechts, 895 (926 ff., 930 f., 932 f.); Sands, in: EJIL 2000, 291 (294 ff.). Von Bodansky, in: EJIL 2000, 339 (344), wird ferner das Beispiel der USA genannt, die in den siebziger Jahren durch die Drohung, auf unilateraler Basis nur noch mit Doppelhüllen ausgerüsteten Öltankern das Anlaufen US-amerikanischer Häfen zu erlauben, den 5
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
453
spiel Kanadas hingewiesen, das seine nationale Gesetzgebung zum Schutz bestimmter Fischbestände außerhalb seines seerechtlichen Hoheitsbereichs zur Anwendung brachte, indem im Jahr 1995 in internationalen Gewässern ein spanischer Fischkutter aufgebracht wurde9. Auch Kanada berief sich auf übergeordnete Interessen, nämlich den Schutz bestimmter lebender Meeresressourcen. Problematisch wird unilaterales Verhalten nicht zuletzt dann, wenn die Verwirklichung einer bestimmten Zielsetzung gemeinsames Handeln der relevanten Akteure geradezu voraussetzt, somit durch abweichendes Verhalten in Frage gestellt wird. Ökologische Bedrohungsbilder, welchen nur durch gemeinsame Anstrengungen der Staatengemeinschaft wirksam begegnet werden kann, machen dies überaus deutlich, mit dem Klimawandel an erster Stelle10. Unilaterales Verhalten steht denn auch in potentiellem Gegensatz zum Gemeinsinn als motivationale Voraussetzung11 der Gemeinwohlorientierung. Nimmt es die Form einer Nichtbeteiligung an den erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung eines dringlichen Problems von internationaler Bedeutung an, so kommt dies – auch wenn solches Verhalten unter dem Gesichtspunkt traditioneller völkerrechtlicher Souveränität zulässig sein mag – einer Absage an das Gemeinwohl gleich. Gerade das Beispiel des internationalen Klimaschutzes zeigt, wie sehr unilaterales Handeln in Widerspruch zur erforderlichen Gemeinwohlorientierung stehen kann. Das Phänomen des Unilateralismus erscheint in solchen Fällen geradezu als Gegenpol zur Konstitutionalisierungsthese, als deren Kern die Ausrichtung der völkerrechtlichen Praxis am internationalen Gemeinwohl verstanden wird.
2. Insbesondere die völkerrechtliche Interessenwahrnehmung der USA In der Diskussion unilateraler Staatenpraxis fällt das Schlaglicht regelmäßig und bei weitem am häufigsten auf die USA. Die Beispiele für Fälle sind zahlreich, in welchen dem heute dominantesten internationalen Akteur eine unilaterale Politik vorgeworfen wird, die aus der Warte der meisten anderen Staaten als Versuch zur Durchsetzung einseitiger nationaler Interessen gewertet wird12. ___________ Abschluss des Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe („MARPOL“-Konvention) vorangetrieben hätten. 9 Vgl. Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (329 f.); Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (27 f.); s. auch ICJ Rep. 1998, 432 ff. 10 So auch Bodansky, in: EJIL 2000, 339 (341). 11 Dazu im 3. Kap., A. II. 1. d). 12 Vgl. allgemein etwa de Wet, in: ICLQ 2006, 51 (75 f.); Müller, in: Friedensgutachten 2000, 43 ff.; Sur, in: EJIL 1997, 421 (428 ff.). In Bezug auf die amerikanische Position bei der Einhaltung internationaler Verträge s. auch Vagts, in: AJIL 2001, 313 ff.,
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Das prominente Beispiel des internationalen Klimaschutzes wurde bereits ausführlich erörtert. Aus dem Umweltbereich13 lassen sich ferner die Verhandlungen zur Seerechtskonvention nennen, bei welchen ein konstantes Bestreben der USA zu beobachten war, das Übereinkommen gemäß eigenen Interessen zu modifizieren14. Die Biodiversitätskonvention wurde durch die USA nicht ratifiziert, was diese aber nicht hinderte, bei der Verhandlung des entsprechenden Zusatzprotokolls über biologische Sicherheit (des sog. Cartagena-Protokolls) gleichwohl eine maßgebliche Rolle zu beanspruchen15. Weitere Fälle16 von Verträgen mit weltumspannender Beteiligung, aber ohne Einbindung der USA sind das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs17, der Internationale Pakt über ___________ der einerseits zum Schluss kommt, dass zwar nur selten gegen bestehende Verträge verstoßen werde; andererseits aber sei eine Tendenz sowohl von Regierungsorganen als auch von Seiten politischer Kommentatoren festzustellen, internationale Verpflichtungen zu relativieren. In dieser Richtung äußert sich (aus europäischer Sicht) auch Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (21). 13 Vgl. allgemein Brunnée, in: EJIL 2004, 617 (622 ff.). Umfassend zur Verhandlungsführung der USA im Bereich der Umweltpolitik Saunders Davenport, Global Environmental Negotiations and US Interests. 14 So Dupuy, in: EJIL 2000, 19 (20). Die USA haben das Seerechtsübereinkommen, dessen Geltung praktisch universell anerkannt ist und dessen Bestimmungen zu weiten Teilen als Völkergewohnheitsrecht zu qualifizieren sind, bis heute nicht ratifiziert, trotz verschiedener entsprechender Vorstöße der Administration. Zuletzt gelangte Präsident Bush im Mai 2007 mit dem Antrag an den US-Senat, die Konvention zu ratifizieren. Von Interesse ist dabei im vorliegenden Zusammenhang die durch den Präsidenten vorgebrachte Begründung, wonach sich die Ratifikation zur Sicherung wichtiger nationaler Interessen aufdränge. So komme die Konvention unter anderem den nationalen Sicherheitsinteressen der USA entgegen, indem sich mit einem Beitritt die weltweite Mobilität der Streitkräfte auf See verbessern ließe; vgl. Caron/Scheiber, The United States and the 1982 Law of the Sea Treaty. Zur Diskussion in den USA allgemein etwa Moore/Schachte, in: Journal of International Affairs 2005, 1 ff.; Sandalow, Law of the Sea Convention. 15 Zu diesem Beispiel Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (327 f.); vgl. auch Scheyli, in: ZaöRV 2000, 771 (Fn. 34, 48). Die obstruktive Haltung der in der sog. „Miami-Gruppe“ zusammengeschlossenen Staaten (Argentinien, Chile, Kanada, Uruguay und die USA) stellte den Erfolg des Verhandlungsprozesses zum Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit ernsthaft in Frage. Dabei lag die Motivation der USA, obwohl nicht Vertragspartei der Rahmenkonvention, in ihrem wirtschaftlichen Interesse, sich gemeinsam mit anderen bedeutenden Exportstaaten von Massenagrargütern wie Soja, Mais und Weizen der Festschreibung von rechtlichen Bestimmungen zur Kontrolle des Imports von gentechnisch modifizierten Produkten zu widersetzen. 16 Für einen Überblick zu Verträgen, deren Ratifikation die USA insbesondere seit den neunziger Jahren verweigerten, Krisch, in: Der Staat 2004, 267 (270). Spezifisch zur häufigen Verhaltensweise der USA, völkerrechtliche Verträge zwar zu unterzeichnen, aber in der Folge nicht zu ratifizieren, s. Bradley, in: Harvard International Law Journal 2007, 307 (insb. 309 ff.). 17 Dies dürfte neben dem Kyoto-Protokoll das herausragende Beispiel für eine fundamentale Opposition der USA gegenüber einem universellen völkerrechtlichen Vertragswerk sein. Der am häufigsten genannte Grund für diese Haltung ist die Weigerung, die
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
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wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes18, das Übereinkommen zur Eliminierung der Diskriminierung gegen Frauen oder das Übereinkommen über das Verbot von Anti-Personenminen19. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung radikal-islamistischer Terroristen (bzw. entsprechender Verdächtiger), deren Inhaftierung in der Armeebasis von Guantánamo und anschließenden Aburteilung durch militärische Sondergerichte hat die Administration des Präsidenten Bush seit dem Jahr 2001 zudem eine eigene, von jeglichem internationalen Konsens abweichende Auslegung des humanitären Völkerrechts in Bezug auf die Behandlung von Kriegsgefangenen entwickelt20. Dabei verfolgen die USA häufig die Praxis, sich trotz Verweigerung der verbindlichen Anerkennung eines nicht genehmen Übereinkommens gleichwohl aktiv – und zwar in obstruktiver Rolle – in entsprechende Verhandlungsprozesse einzugreifen; Beispiele hierfür bilden die Verhandlungen des KyotoProtokolls, des Cartagena-Protokolls zur Biodiversitätskonvention oder des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Dies wirft Fragen nach der Rechtmäßigkeit solchen Verhaltens auf. Laurence Boisson de Chazournes hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen21, dass sich im Völkerrecht Anhaltspunkte dafür finden lassen, die Rechtmäßigkeit eines im Ergebnis obstruktiven Verhaltens sei als zweifelhaft zu betrachten. Sie bezieht sich dabei auf eine Aussage des IGH im Nordseesockel-Fall, wonach bei völkerrechtlichen Verhandlungen den beteiligten Parteien die Pflicht zukomme, „so to conduct themselves that the negotiations are meaningful, which will not be the case when either of them insists upon its own position without contemplating any modification of it“22. Indem die USA das Kyoto-Protokoll unterzeichnet haben, ___________ umfassende Zuständigkeit des IStGH zu anerkennen bzw. das Verlangen, die Aburteilung US-amerikanischer Staatsbürger von der Einwilligung der USA abhängig zu machen; vgl. dazu Caflisch, in: Eingriff in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zum Zwecke des Menschenrechtsschutzes, 39 (55 und 58 f.); Papenfuß, in: Internationale Politik 2002, Nr. 8, 33 ff. Schabas, in: EJIL 2004, 701 ff., nennt als hauptsächlichen Grund für die Position der USA, dass der IStGH insbesondere bei der Anordnung konkreter Strafverfolgung in erheblichem Maß vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (in welchem die USA einen bedeutenden Einfluss geltend machen) unabhängig sei. Vgl. weiter aus der überquellenden Literatur etwa Bruer-Schäfer, Internationaler Strafgerichtshof, 88 f., 339 ff.; Keller/Thurnherr, Taking International Law Seriously, 113 ff.; Malanczuk, in: EJIL 2000, 77 (78 ff.); Zimmermann/Scheel, in: VN 2002, 137 ff. 18 Bei der Kinderrechtskonvention handelt es sich um das Abkommen mit der stärksten Akzeptanz in der internationalen Gemeinschaft, sind doch alle Staaten mit Ausnahme Somalias und der USA beigetreten; vgl. Tomuschat, in: VN 2002, 89 (89). 19 Vgl. bspw. Malanczuk, in: EJIL 2000, 77 (84 ff.). 20 Vgl. Hillgenberg, in: FS Ress, 133 (134 ff.); Thürer, in: SZIER 2004, 1 (2 f.). 21 Siehe Boisson de Chazournes, in: EJIL 2000, 315 (328). 22 ICJ Rep. 1969, 3 (47, Para. 85 [a]).
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
ist beim Beispiel des Klimaschutzes zudem Art. 18 Bst. a VRK zu beachten. Dieser hält fest, dass ein Staat keine Handlungen begehen darf, die Ziel und Zweck eines Vertrags vereiteln würden, „wenn er unter Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung den Vertrag unterzeichnet oder Urkunden ausgetauscht hat, die einen Vertrag bilden, solange er seine Absicht nicht klar zu erkennen gegeben hat, nicht Vertragspartei zu werden (...)“. Die Frage, ob das US-amerikanische Verhalten im Rahmen der klimapolitischen Verhandlungen seit der Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls – nämlich solange die USA nicht klargestellt hatten, nicht Vertragspartei des Protokolls werden zu wollen – gegen diese Norm verstoßen habe, dürfte allerdings kaum eindeutig zu beantworten sein. Wo letztlich die Grenze zwischen legitimer Interessenwahrnehmung und Obstruktion bei der Weiterentwicklung eines bestehenden vertraglichen Rahmens liegt, ist eine Frage, zu deren Beantwortung Art. 18 VRK keine valablen Kriterien zur Verfügung stellt.
3. Zukunftsszenarien einer weiteren Ausbreitung unilateraler Staatenpraxis Es liegt auf der Hand, dass unilaterales Handeln im hier beschriebenen Sinn der Durchsetzung partikulärer nationaler Interessen eine Machtbasis innerhalb der internationalen Gemeinschaft voraussetzt, auf die sich nur wenige Staaten stützen können. Dabei kommt den USA derzeit eine einzigartige Position zu23. Allerdings existieren Szenarien für eine Entwicklung, wonach den USA in nicht ferner Zukunft Gegenspieler erwachsen dürften. Als Staaten, die der internationalen Gemeinschaft künftig mit ähnlichen Ansprüchen wie die USA gegenübertreten könnten, werden vor allem China und Indien genannt24. Diese Einschätzung basiert auf folgenden Fakten: Bei China und Indien handelt es sich um Ökonomien, die bei enormer Bevölkerungsstärke eine hohe und stetige Wachstumsgeschwindigkeit aufweisen25. Während China und Indien bereits heute zu den größten Emittenten von CO2 gehören, wird sich der chinesische Energiebedarf bis ins Jahr 2015 ungefähr verdoppeln, und der indische Energiekonsum wird um rund 50 Prozent steigen. Für China wird dabei geschätzt, dass dessen Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen im Jahr 2025 bei 25 Prozent, im Jahr 2050 bei 40 Prozent liegen könnte26. Die Geschwindigkeit der ___________ 23
Vgl. dazu Habermas, in: Der gespaltene Westen, 113 (115 f., 178 ff.). Siehe zum Folgenden Humphrey/Messner, Instabile Multipolarität; Lafargue, Demain, la guerre du feu. 25 So vervierfachte sich der chinesische Anteil an der globalen Nachfrage nach den wichtigen Basismetallen zwischen 1990 und 2005 auf heute 20 bis 25 Prozent. China verfügte Ende 2005 über die zweitgrößten Währungsreserven und ist bereits die drittgrößte Handelsnation der Welt; s. Humphrey/Messner, Instabile Multipolarität, 1. 26 Ebd., 4. 24
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
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indischen Zuwächse ist derzeit noch geringer27, übersteigt aber gleichwohl jedes bisher gekannte Volumen. Somit wird für China und Indien künftig gelten, was bereits heute für die USA zutrifft, nämlich dass ohne Mitwirkung dieser Akteure umweltpolitische Lösungsansätze kaum zu verwirklichen sind. Es ist gleichzeitig davon auszugehen, dass China und Indien ihre rasant steigende wirtschaftliche Potenz, gepaart mit entsprechender Zunahme des Bedarfs nach Rohstoffen, in zunehmendem Maß in Ansprüche umsetzen werden, die globale Herrschaftsarchitektur entscheidend mitzuprägen28. Nicht zuletzt aufgrund der künftig zu erwartenden weltpolitischen Rollen dieser beiden Staaten spricht vieles dafür, dass die nach dem Ende des Kalten Krieges durch die Vorherrschaft der USA manifestierte unipolare Weltordnung nur eine historische Momentaufnahme bleiben wird29, dies ungeachtet des von Francis Fukuyama im Jahr 1992 postulierten „Endes der Geschichte“30. Die im vorliegenden Zusammenhang zentrale Frage ist dabei, wie China und Indien ihre Rollen als Hauptfiguren einer im Ergebnis „multipolaren Machtkonstellation“31 interpretieren werden. Ihr (wahrscheinlicher) politischer Aufstieg zu direkten Gegenspielern der USA braucht nicht zwingend mit sich zu bringen, dass sie dem heutigen US-amerikanischen Verhaltensmodell des „go it all alone“ nacheifern werden32. Die Gefahr ist aber jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass in einer multipolaren Staatenwelt, in der einige wenige Parteien eine überragende Machtposition einnehmen, das heute von den USA vorgelebte Grundmuster unilateraler Durchsetzung nationaler Partikulärinteressen weitere Anwendung finden wird. Dabei ist als Faktor auch zu berücksichtigen, dass es sich bei China – während Indien gewachsene demokratische Strukturen kennt – um einen undemokratischen Staat mit ausgeprägten menschenrechtlichen Defiziten handelt33. ___________ 27 Humphrey/Messner, ebd., 1, sprechen davon, Indien befinde sich mit einer zeitlichen Verzögerung von zehn bis fünfzehn Jahren auf dem gleichen Entwicklungsweg wie China. 28 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 49 ff. 29 Ebd., 57. 30 Fukuyama, The End of History and the Last Man. 31 Humphrey/Messner, Instabile Multipolarität, 1. Vgl. auch Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 54 ff. 32 Vgl. etwa Giessmann, China’s Role in the Emerging World Order, 6, wonach sich das große chinesische Interesse an globaler ökonomischer Integration auch dahingehend auswirken könnte, dass China sich künftig zugunsten einer deutlichen Stärkung internationaler Institutionen einsetzen wird. Dies wiederum käme eher einer Absage an unilaterale Handlungsmaximen gleich. 33 Humphrey/Messner, Instabile Multipolarität, 3.
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Die tatsächliche künftige Entwicklung ist ungewiss. Das erwähnte Szenario zeigt aber das Bestehen der realen Möglichkeit, dass aus unilateraler Interessendurchsetzung weitreichende Konflikte entstehen könnten. Die Entwicklung (und allfällige Konsolidierung) einer konstitutionellen Völkerrechtsordnung am Maßstab der Orientierung am Gemeinwohl wäre unter solchen weltpolitischen Rahmenbedingungen in noch weit stärkerem Maß in Frage gestellt, als dies heute bereits der Fall ist. In diesem Zusammenhang geht es letztlich um die Herausbildung jenes Gemeinsinns, der in einer konstitutionellen Ordnung eine wichtige motivationale Voraussetzung der Gemeinwohlorientierung bildet34. Das Konzept unilateralen Handelns steht dem potentiell entgegen.
II. Zukunft als Herausforderung: Handlungsimperative der globalen konstitutionellen Gemeinschaft am Beispiel des Klimawandels Die Problematik unilateraler Interessenwahrnehmung steht in starkem Kontrast zu faktischen Zwängen, welche danach rufen, die Staaten mögen sich auf die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns besinnen. Im Verlauf dieser Untersuchung wurde wiederholt angesprochen, dass die internationale Gemeinschaft und mit ihr die Völkerrechtsordnung vor bedeutenden Herausforderungen stehen. Es ist beinahe müßig zu sagen, dass sich diese Feststellung auf die verschiedensten Bereiche internationaler Politik bezieht, mit Schwerpunkten in Fragen der globalen Sicherheit, des Menschenrechtsschutzes, der wirtschaftlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung sowie des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen. Letzterem Thema widmeten sich die vorangehenden Kapitel mit erhöhter Aufmerksamkeit, wobei der mit der globalen Klimapolitik verbundene besondere Völkerrechtsbereich als Testfeld der konstitutionellen Überlegungen diente. Im Hinblick auf die Frage, welche Entwicklungsperspektiven für die Durchsetzung von potentiellen konstitutionellen Normen bestehen35, macht es daher Sinn, sich gerade für diesen Bereich vor Augen zu führen, welche Dimensionen die Herausforderungen tatsächlich aufweisen.
1. Fakten und Zukunftsprognosen Anlässlich der zwölften Vertragsparteienkonferenz der Klimakonvention vom Jahr 2006 in Nairobi bezeichnete der damalige UNO-Generalsekretär Kofi ___________ 34 Dazu im 3. Kap., A. II. 1. d), bezugnehmend auf Münkler/Fischer, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 9 (10). 35 Dazu der nächste Abschnitt dieses Kapitels, C.
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
459
Annan den Klimawandel als „Bedrohung für Sicherheit und Frieden“36. Dem Klimawandel müsse von der internationalen Gemeinschaft daher die gleiche Beachtung geschenkt werden wie der Vermeidung von Kriegen und dem Kampf gegen Massenvernichtungswaffen. Am 17. April 2007 schließlich befasste sich auf Antrag der britischen Regierung erstmals auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit den Risiken, die sich aus dem Klimawandel zu ergeben drohen37. Diese Einschätzungen und Reaktionen erscheinen berechtigt, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Auf der Grundlage der heute vorhandenen Erkenntnisse, wie sie insbesondere im jüngsten, 2007 veröffentlichten Zustandsbericht des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) zusammenfassend beschrieben werden38, ist die wissenschaftliche Beweislage heute nicht mehr bestreitbar39. Von besonderer Bedeutung ist dabei im vorliegenden Zusammenhang, dass die Klimawissenschaft über die heute bereits messbaren Vorgänge hinaus auch konkrete Vorstellungen darüber entwickelt hat, wie sich das Erdklima in der Zukunft unter bestimmten Voraussetzungen weiter verändern wird und mit welchen Auswirkungen sich die Menschheit dabei konfrontiert sehen wird. So werden beispielsweise in einem Gutachten, das ein beratendes Gremium der deutschen Regierung, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), im Jahr 2007 publiziert hat, folgende Zukunftsperspektiven skizziert40: –
Die allgemeine Bedeutung des Klimawandels im Rahmen der Zukunftsprognosen wird darin gesehen, dass das Klima in den kommenden Jahrzehnten der hauptsächliche Treiber verschiedenster globaler Umweltveränderungen sein wird41. Dabei werden in zeitlicher Hinsicht zwei Arten von Klimarisiken unterschieden. Zum einen werden für einen Zeitraum bis zum ___________ 36 Vgl. ENB Vol. 12, Nr. 318, 17. Allgemein zu den Sicherheitsrisiken aufgrund von Umweltdegradation, darunter an erster Stelle Klimawandel, etwa Palm, in: FS Tomuschat, 815 ff., sowie Schellnhuber/Schulz-Baldes/Pilardeaux, in: Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, 567 ff. 37 Siehe die Presseerklärung Nr. 9000 des UNO-Sicherheitsrats zu seiner 5663. Sitzung vom 17. April 2007: Security Council Holds First-Ever Debate on Impact of Climate Change on Peace, Security, Hearing over 50 Speakers. 38 Die Berichte dieses der Klimakonvention beigeordneten globalen Ausschusses bilden die umfassendste und am breitesten abgestützte wissenschaftliche Dokumentation des Klimawandels. Im Jahr 2007 ist der mittlerweile vierte Zustandsbericht des IPCC erschienen; sämtliche Veröffentlichungen des Ausschusses sind unter einsehbar (Adresse gültig am 31.3.2008). 39 Vgl. Rahmstorf/Schellnhuber, Klimawandel, 50 ff.; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Neue Impulse für die Klimapolitik, 4. 40 Zum Folgenden Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel. 41 Ebd., 59 ff.
460
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Jahr 2050 Klimaveränderungen prognostiziert, die eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit besitzen. Hier handle es sich primär um eine zu erwartende Weiterführung und Verstärkung von Entwicklungen, die bereits heute im Gange seien, wie etwa die Zunahme der Stärke von Hurrikanen, das Verschwinden von Gebirgsgletschern sowie die Ausbreitung von Dürreproblemen. Zum andern werden aber auch Prognosen mit geringerer, aber gleichwohl plausibler Eintrittswahrscheinlichkeit erstellt, die für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts im Bereich des wissenschaftlich Abschätzbaren seien. Solche Entwicklungen seien schwerer kalkulierbar als die in den kommenden Jahrzehnten bis 2050 zu erwartenden, hätten gleichzeitig aber auch besonders gravierende Folgen. –
Wesentliche Grundlage der Prognosen ist die Feststellung, dass die längerfristigen Zukunftsperspektiven von der Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur und somit von der Quantität der Emissionen von Treibhausgasen (insbesondere CO2) abhängt. Dabei wird einerseits davon ausgegangen, dass durch effektive Klimaschutzmaßnahmen eine Stabilisierung der CO2-Konzentration unterhalb eines bestimmten Maximalwerts42 erreicht werden kann, wodurch sich die globale Erwärmung voraussichtlich auf 2º Celsius – gemessen am Niveau vor Beginn der Industrialisierung – begrenzen ließe. Andererseits wird unter Hinweis auf die Berichte des IPCC festgestellt, dass ohne wirksamen Klimaschutz eine Erwärmung von 2 bis 7º Celsius über den vorindustriellen Wert zu erwarten sei43. Dabei sei außerdem zu bedenken, dass regional, und zwar insbesondere auf den Kontinenten, erheblich höhere Werte als im globalen Mittel zu erwarten seien.
–
Eine Erwärmung im erwähnten Ausmaß als Folge unzureichender Klimaschutzmaßnahmen hätte weitreichende Umweltfolgen. So ergäben sich
___________ 42 Konkret wird eine CO2-Konzentration unterhalb von 450 ppm (0,045 Prozent) genannt; s. ebd., 61, 215. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die CO2-Konzentration im Jahr 2005 den Wert von 380 ppm (0,038 Prozent) erreichte, was seit mindestens 700’000 Jahren – der Zeitspanne, für welche zuverlässige wissenschaftliche Daten vorliegen – den höchsten erreichten Wert darstellt; vgl. Rahmstorf/Schellnhuber, Klimawandel, 33. 43 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 61. Zu erwähnen ist außerdem, dass auch eine weit stärkere Erwärmung als im Bereich des Möglichen liegend erachtet wird. So wird festgehalten, dass ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 6º Celsius bereits unter der Annahme möglich sei, dass keine verstärkenden Rückkopplungseffekte entstünden. Indessen sei aufgrund jüngster Forschungsergebnisse denkbar, dass aufgrund einer Abnahme der Fähigkeit der Ozeane und der Biosphäre, CO2 zu absorbieren, eine erhebliche verstärkende Rückkopplung eintreten könnte. Dies hätte zur Folge, dass die CO2-Konzentration überproportional ansteigen würde, was wiederum bis zum Jahr 2100 eine globale Erwärmung von bis 8º Celsius mit sich bringen könnte.
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
461
massive Veränderungen in der Biosphäre, indem sich nicht nur die Verbreitung der meisten Pflanzen und Tiere verschieben würde, sondern auch ein beträchtlicher Teil der heute bekannten Arten unmittelbar vom Aussterben bedroht wäre44. Gletscher würden vollständig verschwinden, der arktische Ozean wäre im Sommer komplett eisfrei45, und wahrscheinlich würde ein schnelles und komplettes Abschmelzen des grönländischen Eisschildes eingeleitet. Bei einer globalen Erwärmung über den Bereich von 2 bis 3º Celsius hinaus bestehe außerdem das Risiko, dass eigentliche „Kippmechanismen“ des Klimasystems ausgelöst würden, mit anderen Worten durch Überschreiten einer kritischen Schwelle eine kaum mehr steuerbare Eigendynamik des Systems einsetzen könnte. Als Beispiele werden ein Kollaps bzw. ein irreversibles Austrocknen des Amazonas46, eine radikale Abschwächung der thermohalinen Zirkulation des Atlantiks47 sowie eine starke Veränderung des Monsuns über dem indischen Subkontinent genannt. –
Der bereits heute messbare Anstieg des Meeresspiegels wird jeweils etwa zur Hälfte durch die thermische Ausdehnung als Folge der Erwärmung der
___________ 44
Der vierte IPCC-Bericht aus dem Jahr 2007 spricht diesbezüglich davon, dass schon ein Anstieg der Durchschnittstemperatur um 1,5 bis 2,5º Celsius dazu führen würde, dass weltweit 20 bis 30 Prozent der bekannten Tier- und Pflanzenarten einem erhöhten Risiko des Aussterbens ausgesetzt wären. Bei einer Erhöhung um 4º Celsius würde diese Rate sogar auf 40 Prozent steigen. Vgl. hierzu IPCC, Working Group II Contribution to the Intergovernmental Panel on Climate Change Fourth Assessment Report. Climate Change 2007: Climate Change Impacts, Adaptation and Vulnerability. Summary for Policymakers, zugänglich unter (Adresse gültig am 31.3.2008). 45 Das klimabedingte Abschmelzen des arktischen Eispanzers führt beispielsweise dazu, dass die sogenannte Nordwestpassage im Norden Kanadas bereits in wenigen Jahren im Sommer befahrbar sein könnte; s. zu spezifischen völkerrechtlichen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, Byers, in: ZaöRV 2007, 145 ff. 46 So existiert eine Modellstudie, wonach infolge der globalen Erwärmung bis zum Jahr 2090 zwei Drittel des Urwalds im Amazonas durch Dürre zugrunde gehen könnten; vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 80. Dies wiederum hätte zur Folge, dass der Amazonas seine global wichtige Funktion als Kohlenstoffsenke verlöre und zu einer Kohlenstoffquelle würde, woraus eine weitere Verstärkung des Treibhauseffekts resultierte. 47 Dies würde durch die Erwärmung des Meereswassers sowie durch den Süßwassereintrag des abschmelzenden grönländischen Eisschilds verursacht. Bei der Atlantikströmung (der „thermohalinen Zirkulation“) handelt es sich um eine großräumige Umwälzbewegung, bei der etwa 15 Millionen m3 Wasser pro Sekunde bewegt werden. Dadurch transportiert der Ozean wie eine gigantische Zentralheizung Wärme in den nördlichen Atlantikraum, der nicht zuletzt deshalb äußerst reich an lebenden Meeresressourcen ist. Folge einer Schwächung oder gar eines Abbrechens der Atlantikströmung wäre eine starke Abkühlung in der betreffenden Region innert weniger Jahre; vgl. hierzu Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Zukunft der Meere, 9 f.
462
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Meere und durch den Eintrag von Schmelzwasser aus dem Abschmelzen der polaren Eismassen verursacht48. In den vorhandenen Eismassen sind dabei Wassermengen enthalten, die den Meeresspiegel um bis zu siebzig Meter anheben könnten. Durch die anthropogene Erwärmung besonders gefährdet sind der grönländische Eisschild, dessen vollständiges Abschmelzen zu einem Anstieg des Meeresspiegels um zirka sieben Meter führen würde, sowie der west-antarktische Eisschild, der das Potential für einen Anstieg um rund sechs Meter birgt. Dabei wird angenommen, dass bereits eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um 3º Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau – und insofern ein moderates Erwärmungsszenario – ausreichen würde, um ein irreversibles Abschmelzen des Grönlandeises auszulösen49. Aus dem jüngsten Bericht des IPCC geht hervor, dass ohne ausreichende Klimaschutzmaßnahmen bis zum Jahr 2100 voraussichtlich ein weltweiter Meeresspiegelanstieg um einen halben Meter zu erwarten ist. Bei einer durchschnittlichen Erwärmung von 3º Celsius würde sich der Anstieg des Meeresspiegels zudem bis ins Jahr 2300 zu einem Betrag zwischen 2,7 und 5,1 Metern summieren50. –
Stürme und Überschwemmungen machen bereits heute nahezu sechzig Prozent aller Naturkatastrophen aus51. Gemäß den Zukunftsprognosen wird der Klimawandel gravierende Auswirkungen auf die Häufigkeit und Intensität von solchen Phänomenen haben, wobei als relevante Faktoren eine Häufung von Starkregen-Ereignissen, eine Intensivierung tropischer Wirbelstürme sowie der steigende Meeresspiegel genannt werden.
–
Die geschilderten Umweltfolgen künftigen Klimawandels brächten in vielfältiger Weise Auswirkungen auf den Menschen mit sich. Zu nennen ist etwa die Ernährungssicherheit52. So ist die Agrarproduktion in allen Teilen der Erde unmittelbar von den klimatischen Verhältnissen abhängig, was in besonders ausgeprägter Weise für die Landwirtschaft auf dem indischen Subkontinent und die Monsunaktivität gilt. Auch eine tiefgreifende Veränderung des Systems der globalen Ozeanzirkulation würde sich – abgesehen vom damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels – auf die Nahrungsmittelproduktion äußerst negativ auswirken, drohen mit ihr doch ein Einbruch im marinen Ökosystem des Nordatlantiks, heute eine der fruchtbarsten Meeresregionen der Erde, sowie eine Verschiebung der Niederschlagsgürtel in den Tropen. ___________ 48
Hierzu ders., Sicherheitsrisiko Klimawandel, 65 ff. Vgl. auch ders., Neue Impulse für die Klimapolitik, 4. 50 Rahmstorf/Schellnhuber, Klimawandel, 65 f. 51 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 74. 52 Zum Folgenden ebd., 73 f., 75, 79, 98 ff. 49
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
463
–
Da sich Siedlungen häufig in Küstennähe befinden53, würde ein Anstieg des Meeresspiegels bereits in der Höhe von einem halben Meter die Anpassungsfähigkeit der Menschheit mit großer Wahrscheinlichkeit massiv überfordern54. Dabei ist nicht nur mit massenhafter Migration aus den am stärksten betroffenen Gebieten (tief liegenden Küstenregionen und Inseln) zu rechnen, sondern auch mit anderen gravierenden Folgen, so etwa der großflächigen Versalzung landwirtschaftlich intensiv genutzter Regionen55.
–
Tritt auch nur ein Teil der bislang genannten Zukunftsszenarien ein, so sind weitreichende gesellschaftliche und politische Folgen unausweichlich. Dabei ist davon auszugehen, dass Gesellschaften umso stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sein werden, je stärker sich durchschnittliche Temperaturen, Niederschläge und das Niveau des Meeresspiegels in den jeweiligen Regionen ändern. Gerade Entwicklungsländer, deren Gesellschaften am anfälligsten sind, drohen den zu erwartenden ökosystemaren Umwälzungen am stärksten ausgesetzt zu sein. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die wirtschaftlichen Folgen eines ungebremsten Klimawandels in globalem Maßstab katastrophale Dimensionen annehmen würden, wovon auch die Industriestaaten nicht verschont blieben. So wurde jüngst geschätzt, dass sich die zu erwartenden volkswirtschaftlichen Schäden mit jenen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise vergleichen ließen56. Abgesehen von den negativen Auswirkungen auf der Ebene wirtschaftlicher Entwicklung werden vor diesem Hintergrund auch erhebliche Auswirkungen des Klimawandels auf die Stabilität im innerstaatlichen, regionalen, aber auch globalen Rahmen vorausgesagt. Einen deutlichen Beleg für die destabilisierende Wirkung von Katastrophenereignissen bilden beispielsweise die Folgen, welche der Hur-
___________ 53
So liegen heute acht der zehn größten Städte der Erde an Küsten, und rund 21 Prozent der Weltbevölkerung leben in weniger als 30 km Distanz vom Meer; s. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Zukunft der Meere, 41. 54 Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits heute große Küstenregionen sehr knapp über oder sogar unter dem Meeresspiegel liegen. Bangladesch ist mit seiner überaus hohen Bevölkerungsdichte das wohl markanteste Beispiel für entsprechende Gefährdungen. 55 Die Versalzung von Küstenregionen ist bereits heute zu beobachten, mit weitreichenden Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung und die Landwirtschaft; vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Zukunft der Meere, 45. 56 So der Ökonom Nicholas Stern im Jahr 2007 in einer von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung zu den wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels; s. Stern, Report on the Economics of Climate Change.
464
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
rikan Katrina im August 2005 an der US-amerikanischen Südostküste mit sich brachte57. –
Einen bedeutenden Faktor spielt bei den Zukunftsszenarien die Erwartung einer ganz wesentlichen Zunahme umweltbedingter Migration. Durch Umweltdegradation verursachte Migrationsbewegungen in innerstaatlichen wie auch grenzüberschreitenden Räumen sind bereits heute eine Realität58, wobei klimabedingte Desertifikation den wichtigsten Auslöser bildet. Solche Bewegungen werden aufgrund der erwarteten Zunahme negativer Folgen des Klimawandels erheblich zunehmen, da Menschen künftig in immer größerer Zahl zum Verlassen ihrer Lebensräume gezwungen sein werden. Dabei droht Migration als Folge von Entwicklungen, wie sie im Gutachten des WBGU skizziert werden, durch ihre klimainduzierte Komponente Ausmaße anzunehmen, welche die heute vorhandenen Kapazitäten der internationalen Gemeinschaft zur Problembewältigung bei weitem übersteigen.
–
Bewahrheiten sich die Szenarien, welche teilweise dramatische Auswirkungen auf lebenswichtige natürliche Ressourcen prognostizieren, so ist künftig außerdem auch mit erheblichen regionalen und globalen Sicherheitsrisiken aufgrund der Konkurrenz um knappe Umweltgüter zu rechnen. Süßwasser ist diesbezüglich das wichtigste Beispiel; auch andere Ressourcen drohen aber zunehmend zum Gegenstand von Verteilungskämpfen zu werden, so etwa die maritimen Fischbestände, die nicht nur durch die bereits heute herrschende Übernutzung, sondern auch als Folge der Erwärmung der Meere in ihrer Existenz bedroht sind59.
Ausgehend vom Blick auf die wahrscheinlichen Folgen, welche das Ausbleiben effektiver Klimaschutzmaßnahmen bereits in den kommenden Jahrzehnten hätte, formuliert das genannte Gutachten des WBGU eine überaus deutliche zentrale Aussage: Angesichts der Rasanz, mit welcher sich der Klimawandel zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollziehe, bleibe für wirkungsvolles – im Sinne der Vermeidung einer katastrophalen Entwicklung – Handeln lediglich noch ein beschränktes Zeitfenster. Ein entschiedenes klimapolitisches Gegensteuern muss gemäß dieser Einschätzung in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren, ausgehend vom Jahr 2007, erfolgen. Gelinge innerhalb dieses Zeitfens___________ 57 Im Gefolge der Verwüstungen und der Zerstörung der Infrastruktur bildeten eine Welle der Gewalt und die Überforderung der staatlichen Strukturen markante Merkmale des Ereignisses. Dies führte vor Augen, dass kurzfristig selbst die volkswirtschaftlich führende Nation von den Folgen einer derartigen Naturkatastrophe an den Rand der Bewältigungsfähigkeit gebracht werden kann. 58 Vgl. dazu vorne, 3. Kap., A. I. 1. c) aa). 59 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Zukunft der Meere, 17 ff.
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
465
ters keine entscheidende Trendwende, so drohe eine globale Temperaturerhöhung über die Schwelle von 2º Celsius gegenüber dem vorindustriellen Wert hinaus, was zur Folge haben könne, dass der Menschheit die Kontrolle entgleite60. Daraus folgt für die internationale Gemeinschaft ein klimapolitischer Handlungsimperativ: In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren müssen alle erforderlichen Maßnahmen politischer, aber auch rechtlicher Natur, welche die Einhaltung der 2° Celsius-Leitplanke erfordert, nicht nur in die Wege geleitet, sondern auch wirkungsvoll umgesetzt werden61. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die 2° Celsius-Schwelle als klimapolitische Maßgabe bereits seit einiger Zeit anerkannt ist, so nicht zuletzt durch die Europäische Union, die bereits im Jahr 1996 eine entsprechende Erklärung abgab62. Solcher Einsicht steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass die Emissionen von Treibhausgasen bis heute nicht im erforderlichen Maß gesenkt werden, sondern global nach wie vor laufend zunehmen. Damit ist die zentrale Voraussetzung für die Verhinderung eines gefährlichen Klimawandels heute nicht erfüllt. Gleichzeitig fragt sich, wie dies in nächster Zukunft geändert werden kann.
2. Folgerung: Vorrang des globalen Gemeinwohls gegenüber nationalen Eigeninteressen Aus dem soeben Ausgeführten ergibt sich mit aller Deutlichkeit, dass Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels mehr denn je ein Gebot der Stunde sind. Werden die im verfügbaren Zeitfenster geforderten Maßnahmen nicht wirkungsvoll durchgeführt, so schadet dies der Menschheit insgesamt und nicht nur einzelnen Staaten. Insofern ist es berechtigt, von der internationalen Gemeinschaft als einer „Schicksalsgemeinschaft“ zu sprechen63. Der globalen Klimapolitik kommt dabei eine Gemeinwohlrelevanz zu, die nationalen Egoismen keinen Raum mehr lässt. Durch den Klimawandel wird die Einsicht in die ___________ 60 In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die vorhin erwähnten „Kippmechanismen“ hingewiesen. 61 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 177; vgl. auch ders., Neue Impulse für die Klimapolitik, 3 ff., 10. Konkret erfordert die Einhaltung der 2° Celsius-Leitplanke eine Halbierung der weltweiten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050, verglichen mit dem Jahr 1990. 62 Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 8518/96 zur 1939. Ratssitzung Umwelt vom 25. Juni 1996; vgl. hierzu Rahmstorf/Schellnhuber, Klimawandel, 99 f., mit weiteren Hinweisen zur wissenschaftlichen und politischen Akzeptanz der 2° Celsius-Leitplanke. 63 Vgl. etwa Nolte, in: ZaöRV 2004, 590 (590).
466
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Notwendigkeit, für ein selbstverursachtes Problem effektiv Verantwortung wahrzunehmen, auf eine entscheidende Probe gestellt64. In der politischen Realität steht dem die Tatsache gegenüber, dass das globale Anliegen des Klimaschutzes bislang keineswegs zum gänzlichen Verzicht auf die Verfolgung nationaler Eigeninteressen geführt hat. Vielmehr macht gerade das Beispiel der völkerrechtlichen Durchsetzung von Klimaschutzzielen deutlich65, dass der Prozess der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung dort an seine Grenzen stößt, wo nationale Eigeninteressen und das internationale Gemeinwohl in direkte Konkurrenz zu einander treten. Das Gleichgewicht zwischen der Orientierung am internationalen Gemeinwohl und der legitimen Verfolgung nationaler Interessen ist auch hier erst noch zu finden. Allerdings schließt dies auch nicht aus, dass sich in der internationalen Gemeinschaft die entscheidende Einsicht durchzusetzen beginnt: Nämlich, dass nationale Alleingänge dann nicht akzeptabel sind, wenn globale Interessen und damit das globale Gemeinwohl auf dem Spiel stehen66. Ein internationales System, das auf die Einschränkung bloßer einzelstaatlicher Interessen hin tendiert, setzt die Erkenntnis voraus, dass die kurzfristigen partikulären Interessen durch die langfristigen gemeinsamen Interessen überwogen werden67. Gerade eine Gefährdungslage der Art, wie sie durch den Klimawandel geschaffen wird, sollte an sich eine ausreichende Basis bilden, um die Einsicht in die „Vergemeinschaftung von staatlichen Interessenlagen“68 zu fördern. Der Klimawandel führt dabei in gewissem Sinne zu einem Paradox: Einerseits ist er, da er sich nicht für alle Staaten in gleicher Weise auswirkt und auswirken wird, geeignet, die Asymmetrien69 unter den Staaten weiter zu verschärfen. Entwicklungsländer sind bereits heute ungleich stärker als die meisten Industriestaaten von den Folgen des Klimawandels – wie etwa Desertifikation – betroffen und haben auch nicht die Mittel, sich in geeigneter Weise an die veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Andererseits wohnt dem Klimawandel – trotz des möglicherweise ungleichen Grads, in dem dessen Auswirkungen spürbar werden – ein egalitäres Prinzip inne, indem er als (im wahrsten ___________ 64
So überaus treffend Rajamani, in: RECIEL 2000, 120 (120). Zum Ganzen das 4. Kap., C. 66 Vgl. allgemein auch Dicke, in: BerDGV 1999, 13 (36). 67 Siehe Charney, in: AJIL 1993, 529 (533). Vgl. außerdem Bleckmann, Völkerrecht, 241, der von einer Überlagerung von Souveränitätsinteressen durch Wohlfahrtsinteressen spricht. 68 Rohloff, in: Globale Problemlösungen in der Bewährungsprobe, 55 (55). 69 Grundlegend hierzu Habermas, in: Postnationale Konstellation, 65 (87). Vgl. ferner Herdegen, in: ZaöRV 2004, 571 ff.; s. außerdem die Einleitung zu dieser Untersuchung. 65
B. Rahmenbedingungen weiterer konstitutioneller Entwicklung
467
Sinne) globales Problem künftig jeden Staat, auch die reichsten Länder, in erheblicher Weise treffen wird. Die mit dem Klimawandel verbundenen Zukunftsprognosen zeigen in einer Deutlichkeit, wie sie bis anhin wohl nur dem Vernichtungspotential atomarer Bewaffnung eigen war, dass ein Menschheitsinteresse an der Vermeidung der möglichen Folgen besteht. Dies wiederum ist unbestreitbar geeignet, einen universellen Grundkonsens für die Zielsetzung völkerrechtlicher Bestrebungen zu begründen70. Somit steht der Klimawandel heute geradezu prototypisch für eine Problematik, welche ungeachtet der bestehenden Asymmetrien unter den Staaten die Erkenntnis herbeizuführen in der Lage ist, dass die Verfolgung des Gemeinwohls einen zwingenden Handlungsimperativ bildet.
___________ 70
Siehe dazu auch die vorne, 3. Kap., A. II. 2. b) cc), angestellten Überlegungen.
468
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
C. Entwicklungsperspektiven der Durchsetzung von potentiellen konstitutionellen Normgehalten, insbesondere im Bereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen Wie bereits angesprochen wurde, lautet die gegen Ende dieser Untersuchung noch besonders interessierende Frage, ob Mittel und Wege bestehen, die Durchsetzung der für eine konstitutionelle Völkerrechtsordnung zentralen Stellung des internationalen Gemeinwohls zu fördern. Letztlich wird in der internationalen politischen Praxis immer das Verhalten der einzelnen Staaten ausschlaggebend bleiben. Ob und mit welcher Konsequenz ein Staat sein Handeln an internationalen Gemeinwohlbelangen ausrichtet, ist dabei auch von Voraussetzungen auf der nationalen Ebene abhängig, so im demokratischen Verfassungsstaat von der Offenheit der Gesellschaft gegenüber den internationalen Problemlagen und Verpflichtungen. Die Frage wiederum, was im nationalen Rechtsrahmen im Hinblick auf die Beachtung der Völkerrechtsordnung vorgekehrt werden kann, ist nur in Bezug auf jeden einzelnen Staat zu beantworten. Dies auszuloten würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Indessen soll abschließend darauf eingegangen werden, welche Möglichkeiten zu einer Stärkung der (grundsätzlich konsentierten) konstitutionellen Anliegen im Rahmen des bestehenden Völkerrechts vorhanden bzw. welche Entwicklungsschritte nötig sind.
I. Wirkung „erga omnes“ als anzustrebende normative Tragweite konstitutioneller Elemente Um den Handlungsimperativen gerecht zu werden, wie sie sich nicht zuletzt durch den Klimawandel ergeben1, müssen durch die internationale Gemeinschaft zweifellos möglichst präzise Regeln, etwa in Bezug auf verpflichtende Emissionsgrenzwerte, rechtlich festgeschrieben und durch die Staaten angewandt werden. Allerdings hat sich im 4. Kapitel gezeigt2, dass die diesbezüglichen Bestrebungen nur äußerst harzig vorankommen, womit auch die bestehenden Vorgaben auf der Leitkonzept- und Prinzipebene unzureichend umgesetzt werden. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Beachtung der Vorgaben durch Anpassungen auf der Ebene konkreter Regeln3 in gewissem Maß gesteuert werden könnte, etwa durch Abschwächung von Grenzwerten, die als zu strikt empfunden werden. Allerdings wäre der Versuchung zu widerstehen, ___________ 1
Siehe zuvor in diesem Kap., B. II. Vgl. insb. das 4. Kap., C. II., zur klimapolitischen Wirklichkeit. 3 Die Normkategorie der Regeln konkretisiert die Vorgaben auf den abstrakteren Ebenen der Leitkonzepte und der Prinzipien; vgl. das 3. Kap., B. II. 3. und III. 2. b). 2
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
469
durch eine „schwache“ Konkretisierung auf der Regelebene die konstitutionellen Vorgaben im Ergebnis zu unterlaufen4. Angesichts dieses Risikos sollte auch bedacht werden, ob konstitutionellen Normgehalten kraft ihrer normativen Funktion nicht ohnehin ein Potential innewohnt, das sich zugunsten einer Erhöhung der Durchsetzungswahrscheinlichkeit nutzen ließe.
1. Gemeinsame Werte als Grundlage besonderer normativer Wirkungskraft Der Gedanke, dass eine konstitutionelle Gemeinschaft gemeinsame Werte und Interessen teilt, findet sich im Völkerrecht im Konzept, dass bestimmten völkerrechtlichen Normen eine erhöhte Geltungskraft zukommt. Angesprochen sind damit jene völkerrechtlichen Normgehalte, denen zwingende Geltung (als „ius cogens“) oder Wirkung „erga omnes“ (d. h. eine Verpflichtungswirkung gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft) zugesprochen wird5. Ausschlaggebend6 für die besondere Wirkkraft ist in beiden Fällen7 die Feststellung, dass Werte und Interessen existieren, die allen Staaten gemeinsam sind und deren Durchsetzung folglich ebenfalls allen Staaten ein Anliegen ist; im Vordergrund stehen dabei Werte, die das Leben und die Würde des Menschen betreffen8. Hauptsächliche Merkmale dieser beiden Kategorien bilden zum einen der besondere (in der Verkörperung gemeinsamer Werte und Interessen begründete) materielle Gehalt, zum andern die daraus abgeleitete Rechtsfolge einer im Vergleich zu anderem Recht erhöhten Geltungskraft. Die Nähe zu Kriterien, die in allgemeinster Weise mit dem Verfassungsbegriff in Verbindung gebracht werden, ist hier offensichtlich; entsprechend wird die Existenz der beiden Normkategorien auch als Beleg für eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts aufgefasst9. Im Zentrum steht dabei die Vorstellung einer Hierarchie der ___________ 4 Dass eine solche Gefahr bestünde, zeigen die bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung des Klimaregimes deutlich; s. die Ergebnisse der Untersuchungen im 4. Kap., C. II. und III. 5 Zu den Kategorien des „ius cogens“ sowie der Normen mit Wirkung „erga omnes“ auch bereits vorne, 1. Kap., C. II. 6 Ausdrücklich Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (239): „Jus cogens rules and erga omnes rules seek to protect and promote the common interests of States to a much more obvious degree than most rules of international law.“ 7 Vgl. Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 72, 189, sowie Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (285 ff.). Besonders in Bezug auf Wirkungen „erga omnes“ Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (18). 8 Siehe Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 134. 9 So spricht Macdonald, in: Towards World Constitutionalism, 853 (868 f.), im Zusammenhang mit „ius cogens“ und „erga omnes“ wirkenden Normen von „principles of global constitutionalism“; Fischer-Lescano, in: ZaöRV 2003, 717 (insb. 747), be-
470
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
eine Rechtsordnung ausmachenden Normgehalte, an deren Spitze jene rechtlichen Formeln stehen, welche der Verfassung als Kern dieser Ordnung zuzurechnen sind. Sowohl die das zwingende Völkerrecht auszeichnende absolute Geltung als auch die Wirkung bestimmter völkerrechtlicher Verpflichtungen gegenüber jedem anderen Mitglied der Staatengemeinschaft scheinen dem Gedanken einer hierarchischen Vorzugsstellung der entsprechenden Inhalte unmittelbar gerecht zu werden10.
2. Verhältnis zwischen zwingendem Völkerrecht und Verpflichtungen „erga omnes“ im Hinblick auf die Durchsetzung potentieller konstitutioneller Normen In Bezug auf die Bedeutung der Rechtskategorie des „ius cogens“ für eine (künftige) völkerrechtliche Verfassungsordnung lässt sich zunächst eine einfache Feststellung treffen: Was als zwingendes Völkerrecht zu betrachten ist, muss zugleich auch Bestandteil allfälligen Völkerverfassungsrechts sein11. Die als zwingend geltenden Fundamentalnormen des Völkerrechts sind von vornherein unter jene Bestimmungen zu reihen, die als Elemente einer Verfassungsordnung der internationalen Gemeinschaft in Frage kommen. Allerdings wäre die Liste potentieller völkerrechtlicher Verfassungsnormen kurz, würde sie sich auf die Kategorie des „ius cogens“ beschränken. Normen, über deren Zugehörigkeit zur zwingenden Völkerrechtsschicht Einigkeit besteht, sind rar12; im Vordergrund stehen dabei das zwischenstaatliche Aggressionsverbot, das Verbot des Genozids, das Verbot der Rassendiskriminierung, die Gebote des humanitären Völkerrechts sowie elementare Menschenrechte wie der Schutz vor Folter und die Freiheit vor Sklaverei und Menschenhandel. Darüber hinaus zwingende Normen für spezifische Bereiche des Völkerrechts zu bestimmen, erweist sich jedoch als schwierig. Diese Feststellung gilt gerade in Bezug auf das für die vorliegende Untersuchung besonders interessierende ___________ zeichnet Rechte der beiden Kategorien als „formelles Globalverfassungsrecht“. Vgl. ferner auch das 2. Kap., B. III. 2., mit weiteren Nachweisen. 10 Vgl. in Bezug auf die Kategorie der Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“ Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (35): „They constitute a category of norms in their own right, they are a new element in the hierarchy of international law and thereby attest to the ongoing process of the constitutionalization of international law.“ Eine Verbindung zwischen konstitutionellen Normen und deren Wirkung „erga omnes“ stellen bspw. auch Fassbender, in: ColJTransL 1998, 529 (591 f.), sowie Hobe, in: EuR 2003, 1 (3 f.), her. 11 Siehe auch Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (219 f.). Vgl. zur Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien auch Kadelbach, in: Fundamental Rules of the International Legal Order, 21 (25 ff.). 12 Vgl. dazu, mit Nachweisen zur Literatur, das 1. Kap., C. II. 1.
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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Umweltvölkerrecht. Eva Kornicker ist bei ihrem Versuch, derartige Gehalte herauszuarbeiten13, zum Ergebnis gelangt, als zwingendes Völkerrecht einzustufen seien lediglich ein Verbot absichtlicher erheblicher Umweltschädigungen in bewaffneten Konflikten14 sowie zwei im Zusammenhang mit einem „Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt“ stehende Individualrechte (Recht auf Leben und Verbot erniedrigender und unmenschlicher Behandlung)15. Ein Verbot von Umweltschädigungen, welche die gesamte internationale Gemeinschaft bedrohen, soll sich zudem in der Entwicklung zu einer Norm des zwingenden Völkerrechts befinden16. Zentrale umweltvölkerrechtliche Formeln wie das Nachhaltigkeitskonzept oder das Vorsorgeprinzip werden von ihr demgegenüber bereits auf der Stufe einer summarischen Vorauswahl aus der Liste möglicher „Kandidatennormen“ ausgeschieden17. Während Kornicker somit immerhin auf eine sehr enge Auswahl von zwingenden Normen des Umweltvölkerrechts kommt, gelangt Ulrich Beyerlin für diesen Rechtsbereich sogar zur Einschätzung, es lasse sich hier „noch keine einzige ius cogens-Norm mit der nötigen Sicherheit ausmachen“18. Es stellt sich die Frage, ob die ausgesprochene Selektivität (und damit Seltenheit) von „ius cogens“ in gleichem Maß auch für die Kategorie der Bestimmungen mit Wirkung „erga omnes“ gilt.
___________ 13 Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, insb. 157 ff.; zudem dies., in: GIELR 1998, 101 ff. 14 Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 171 ff. In dieser Richtung äußert sich auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 320. 15 Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 202 ff. 16 Ebd., 185 ff. Mehr als zehn Jahre nach der 1997 erfolgten Veröffentlichung von Kornickers Studie sind allerdings keine konkreten Hinweise ersichtlich, eine entsprechende Entwicklung sei wesentlich vorangeschritten. 17 Wenn auch nicht mit überzeugenden Argumenten. Gerade gegen eine allfällige Eignung des Nachhaltigkeitsansatzes als zwingende Norm spricht gewiss bereits von vornherein die schwache Normativität auf der Konzeptebene; Kornicker, ebd., 170, verwirft den Gedanken einer zwingenden Funktion der Nachhaltigkeit allerdings in einem einzigen Satz mit dem Hinweis auf nicht gelöste „Definitions- und Abgrenzungsprobleme“. Auch in Bezug auf das Vorsorgeprinzip ergeben sich sehr starke Zweifel an einer möglichen Rolle als zwingend geltende Norm bereits hinsichtlich des normativen Charakters als Prinzip im normtheoretischen Sinn. Nachdem die Autorin auch diesbezüglich (ebd., 144 f.) eine mangelnde Konkretisierung des Prinzips beklagt hat, wird es indessen bei der Auswahl der Kandidatennormen nicht einmal mehr genannt. 18 Beyerlin, in: FS Steinberger, 31 (35); s. auch ders., Umweltvölkerrecht, 61 ff. Identisch auch die diesbezügliche Einschätzung von Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 81. Im umweltvölkerrechtlichen Grundlagenwerk von Philippe Sands, Principles of International Environmental Law, wird auch in der 2. Auflage vom Jahr 2003 auf die Existenz von allfälligem umweltbezogenem „ius cogens“ schon gar nicht eingegangen.
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Dies hängt zunächst einmal davon ab, ob der Bestand an völkerrechtlichen Formeln, die dieser Kategorie zugeordnet werden können, überhaupt über das zwingende Völkerrecht hinausreicht. Wenn beide Kategorien auf gemeinsame Werte und Interessen der internationalen Gemeinschaft zurückgehen und im Vergleich zu anderem Recht erhöhte Geltungskraft beanspruchen, so stellt sich die Frage, ob sie nicht in Geltungsgrund wie auch Wirkung deckungsgleich seien bzw. worin sie sich effektiv unterschieden. Tatsächlich lässt sich denn auch feststellen, dass sehr enge Parallelen bestehen; so nennt der IGH im „Barcelona Traction“-Fall als Beispiele für fundamentale menschenrechtliche Normen mit „erga omnes“-Wirkung gerade solche des zwingenden Völkerrechts, nämlich das Aggressionsverbot, das Völkermordverbot sowie den Schutz vor Sklaverei und Rassendiskriminierung19. Bruno Simma kommt außerdem bezüglich weiterer Äußerungen des IGH zu Verpflichtungen mit „erga omnes“-Charakter zur Einschätzung20, der Gerichtshof selbst unterscheide nicht klar zwischen den beiden Konzepten des zwingenden Völkerrechts sowie der Wirkungen „erga omnes“. Das schwierig zu durchschauende Verhältnis zwischen Normen des zwingenden Völkerrechts und Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“ lässt sich indessen durch folgende Überlegungen wenn nicht endgültig aufklären, so doch zumindest erhellen. Während beide Kategorisierungen an die Gemeinsamkeit von Werten und Interessen im Rahmen der internationalen Gemeinschaft anknüpfen, so implizieren sie zunächst einmal Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen21: –
Mit der Charakterisierung von Recht als „zwingend“ verbindet sich primär die Frage, wann bzw. mit welcher Konsequenz entsprechende völkerrechtliche Normen zur Anwendung gelangen; mithin geht es um die Tragweite von Normen in sachlicher Hinsicht. Die Antwort darauf ist eine absolute, die lautet: immer, ohne jede Ausnahme22. Aus der damit implizierten Vor-
___________ 19 ICJ Rep. 1970, 32, Para. 34. Vgl. dazu Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 72, 74 ff. 20 Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (299), unter Hinweis auf die Entscheidungen des IGH in den Fällen „Monetary Gold“, „Nuclear Tests“, „Tehran Hostages“ sowie „Bosnia-Herzegovina v. Yugoslavia“. 21 Siehe zum Folgenden Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (230); vgl. außerdem Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (88), in Bezug auf den Völkerrechtsbereich des Menschenrechtsschutzes. 22 Dies schließt freilich nicht aus, dass sich zwingendes Völkerrecht selbst bzw. der Konsens, was als „ius cogens“ zu gelten hat, weiterentwickelt. Dies geht auch aus dem Wortlaut von Art. 53 VRK hervor, wonach eine zwingende Norm nur (aber somit immerhin) „durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Natur geändert werden kann“; vgl. entsprechend auch Art. 64 VRK in Bezug auf die Derogation von bestehendem Vertragsrecht durch neu entstandenes „ius cogens“.
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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rangstellung folgt, dass über eine entsprechende Norm nicht durch völkerrechtlichen Vertragsschluss disponiert werden kann23. –
Wird eine Norm als „erga omnes“ wirkend charakterisiert, so beschlägt dies primär die Frage, gegenüber wem die damit verbundene Verpflichtung geschuldet ist; es geht also um die Tragweite in „personeller“ Hinsicht (bezogen auf Staaten als Rechtssubjekte), gewissermaßen um die Subjektebene24. Die Antwort darauf ist eine relative: gegenüber jedem Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft. Im Regelfall der Wirkung „erga omnes“ wird dies die internationale Gemeinschaft als Gesamtheit aller Staaten sein. Es kann sich aber auch um eine zahlenmäßig beschränktere Gemeinschaft handeln, die gemeinsame Werte und Interessen teilt, sei es aufgrund einer vertraglichen Verbundenheit oder aus einer solchen kraft partikulären Gewohnheitsrechts25. Vorstellbar ist hier eine regional beschränkte Gemeinschaft mit besonderen Werten und Interessen, die auf entsprechenden regionalen Gegebenheiten beruhen; zu denken ist beispielsweise an die regionale Gemeinschaft jener Staaten, für die jene Interessenlage zutrifft, die dem Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen zugrunde liegt26. Es sind weitere Beispiele für Verpflichtungen mit einer geographisch beschränkten Reichweite der Wirkung „erga omnes“ denkbar. So wurde etwa argumentiert, im Falle der Verpflichtung von Küstenstaaten, keine Verseuchung des Meeres durch die Einbringung von radioaktiven Abfällen zu verursachen, erstrecke sich die Wirkung „erga omnes“ nicht auf die gesamte internationale Gemeinschaft, sondern lediglich auf andere Küstenstaaten; denn nur diese seien von der eigentlichen Problematik betroffen27.
___________ 23
Siehe Art. 53 und 64 VRK. Auch Paulus, Internationale Gemeinschaft, 379, weist darauf hin, dass bei „erga omnes“ wirkenden Verpflichtungen das konkrete Rechtsverhältnis zwischen den völkerrechtlichen Rechtssubjekten im Vordergrund steht; dies auf der Basis der Feststellung, es gehe „bei Verpflichtungen erga omnes nicht um Normen wie bei ius cogens, sondern um Verpflichtungen aus bestimmten Normen“ (Hervorh. im Orig.). 25 Siehe Annacker, Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen, 29; dies., in: AJPIL 1994, 131 (135). In ähnlicher Richtung auch Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (233). 26 Dazu im 4. Kap., B. IV. 27 Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 159, unter Bezugnahme auf Picone, in: Diritto internazionale e protezione dell’ambiente marino, 15 (114). Zwar lässt sich in Zweifel ziehen, ob Binnenstaaten angesichts der potentiellen Auswirkungen radioaktiver Verstrahlung etwa auf die Nutzung lebender Meeresressourcen auf Hoher See (zu der auch Binnenstaaten berechtigt sind) tatsächlich von vornherein nach geographischen Gesichtspunkten als Adressaten der Wirkung „erga omnes“ auszuscheiden wären. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Bedeutung des geographischen Kriteriums über dieses Beispiel hinaus. 24
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Den jeweiligen unterschiedlichen Fragestellungen entsprechend ergibt sich vom Verhältnis zwischen den beiden Kategorien das Bild einer nur teilweisen Deckungsgleichheit28: Zwar müssen Normen des zwingenden Völkerrechts immer auch „erga omnes“ wirken29, und zwar gegenüber allen Mitgliedern der globalen Staatengemeinschaft; denn die absolute Geltung dieser ranghöchsten Normen schließt von vornherein aus, dass das fragliche Gebot oder Verbot nur gegenüber einem Teil der Staaten besteht30. Andererseits aber braucht nicht jede völkerrechtliche Bestimmung, die „erga omnes“ wirkt, zwingend im Sinn des „ius cogens“ zu sein31. Dies gilt gerade für jene Fallgestaltungen, in denen das Gemeinschaftsinteresse nicht ein alle Staaten umfassendes, sondern ein relatives, insbesondere regionales, ist. Handelt es sich im konkreten Fall um eine Bestimmung, welche die Werte und Interessen einer bestimmten Gemeinschaft von Völkerrechtssubjekten schützen soll, zugleich aber nicht um eine anerkanntermaßen dem zwingenden Völkerrecht zuzurechnende Norm, so kann die Tragweite auf der Subjektebene folglich durchaus beschränkt sein.
3. Wirkungen „erga omnes“ im Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes? Dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz kommt aus der Perspektive der Wirkungen „erga omnes“ die zentrale Rolle zu, zielt dieser Rechtsbereich doch am direktesten auf die grundlegenden gemeinsamen Werte des menschlichen Lebens und der Menschenwürde32. Die rechtliche „Unteilbarkeit“33 von ___________ 28 Zu diesem Ergebnis kommt für den Menschenrechtsbereich auch Kokott, in: BerDGV 1997, 71 (88 f.). 29 Siehe Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (236); Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (293 f., 299 f., m.w.N.). In dieser Richtung auch Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 63; ders., in: FS Steinberger, 31 (36); Klein, in: FS Ress, 151 (162). Vgl. zudem Kornicker, Ius cogens und Umweltvölkerrecht, 112, wonach zwingendes Völkerrecht als „Untermenge“ der Verpflichtungen „erga omnes“ zu betrachten sei. 30 Dies gilt jedenfalls für jene Normen mit Bezug auf universell geltende Werte, die heute dem zwingenden Völkerrecht zugerechnet werden. Wie Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (234 f.), ausführt, wäre immerhin zumindest theoretisch vorstellbar, dass im Rahmen einer beschränkten Gemeinschaft von Staaten bestimmte Normen als partikuläres „ius cogens“ anerkannt würden, die dann für nicht dieser Gemeinschaft angehörige Staaten nicht zwingend gälten. 31 In dieser Richtung Carrillo-Salcedo, in: RdC 1996, 35 (144), sowie Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (300). Auch Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (236 f.), kommt zu diesem Schluss, hält aber auch fest, dass „particularly ‚weighty‘ rules of international law“ in der Regel sowohl „erga omnes“ wirkend als auch zwingend seien. Anders hingegen Paulus, Internationale Gemeinschaft, 416, wonach „alle denkbaren Verpflichtungen erga omnes aus Rechtsnormen zwingenden Charakters abgeleitet sind“. 32 Vgl. Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 134 f. 33 Siehe Gazzini, in: EJIL 2006, 723 (725).
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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Verpflichtungen „erga omnes“ wird hier am deutlichsten sichtbar. Entsprechend beziehen sich auf diesen Bereich auch drei der vier vom IGH im „Barcelona Traction“-Fall explizit genannten Verpflichtungen „erga omnes“ (nämlich das Verbot des Völkermords sowie der Schutz vor Sklaverei und Rassendiskriminierung)34. Der inhaltlichen Stoßrichtung der vorliegenden Untersuchung folgend fragt sich allerdings insbesondere, ob auch umweltvölkerrechtliche Gehalte als „erga omnes“ wirkend eingestuft werden können. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Rechtsbereich des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen grundsätzlich als Wirkungsfeld „erga omnes“ geeignet ist35. Zu dieser Einschätzung führt die Feststellung, dass der Schutz der Umwelt in ausgeprägter Weise Gegenstand gemeinsamer Interessen und dabei von fundamentaler Bedeutung für die internationale Gemeinschaft ist36. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang auch zum wiederholten Mal, ___________ 34 ICJ Rep. 1970, 3 (Para. 34). Beim vierten vom IGH genannten Beispiel handelt es sich um das zwischenstaatliche Agressionsverbot. 35 Vgl. etwa Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 25: „(...) many of the codified norms and customary standards in the environmental field may be viewed as obligations erga omnes.“ Allgemein zu Verpflichtungen „erga omnes“ im Umweltvölkerrecht Birnie/Boyle, International Law and the Environment, 99 f., 196 ff.; Durner, Common Goods, 260 f.; Hobe, in: AVR 1999, 253 (275); Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 154 ff.; Sands, Principles of International Environmental Law, 184 ff.; Schachter, International Law in Theory and Practice, 381 f. Siehe außerdem auch die Ausführungen des Richters Weeramantry in seiner abweichenden Meinung zum Rechtsgutachten des IGH betreffend die Legalität der Verwendung von Atomwaffen in einem bewaffneten Konflikt (ICJ Rep. 1996, 101 [142 f.]) sowie in seinem Sondervotum zum Urteil des IGH im Gabcíkovo/Nagymaros-Fall (ICJ Rep. 1997, 88 [117 f.]). Im Verfahren Gabcíkovo/Nagymaros stellte sich mit Ungarn auch eine der beiden beteiligten Parteien auf den Standpunkt, aus dem Vorsorgeprinzip resultiere eine „erga omnes“ wirkende Verpflichtung, Umweltschäden zu vermeiden (ICJ Rep. 1997, 7, Para. 97). In Bezug auf bestimmte Umweltmedien ist schon seit längerer Zeit die Rede von Verpflichtungen der Staaten mit Wirkung „erga omnes“; s. bspw. Picone, in: Diritto internazionale e protezione dell’ambiente marino, 15 ff., sowie Proelß, Meeresschutz im Völker- und Europarecht, 102 f., zu derartigen Regeln im Bereich des Meeresschutzes. Zur Wirkung „erga omnes“ im Bereich des Schutzes der Ozonschicht Biermann, in: AVR 1996, 426 (451 f.), sowie Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (26 f.). Gemäß Nettesheim, in: AVR 1996, 168 (202 ff.), existiert ein „erga omnes“ wirkendes Verbot von Umwelteingriffen, die mit der Absicht erfolgen, die internationale Staatengemeinschaft zu schädigen. Skeptisch äußern sich demgegenüber zur Möglichkeit von Verpflichtungen „erga omnes“ im Umweltvölkerrecht Beyerlin/Marauhn, Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, 25; sie räumen indessen implizit ein, dass eine Wirkung „erga omnes“ dann in Betracht gezogen werden könnte, wenn das Kriterium des Interesses der Staatengemeinschaft sich „in der betreffenden Norm selbst niedergeschlagen“ hat. 36 Vgl. auch Günther, Klagebefugnis der Staaten, 129 ff., der unter Hinweis auf die durch ökologische Interdependenzen geprägte Interessenlage und auf die Funktion des Umweltschutzes für die Friedenssicherung argumentiert, das Umweltvölkerrecht sei ein von Verpflichtungen „erga omnes“ typischerweise gekennzeichneter Bereich. Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 218, m.w.N., führt allgemein aus, es könne als gefestigte Meinung gelten, „dass alle Rechtspflichten, die aus dem Anlass der gemeinsa-
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
dass der Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes in engster, nicht zu trennender Weise mit den Grundwerten des menschlichen Lebens verbunden ist37. Die drastischen Auswirkungen, die in den kommenden Jahrzehnten aus der Problematik des Klimawandels zu erwachsen drohen, zeigen dies in kaum zu übertreffender Deutlichkeit38. Entsprechend ist bereits verschiedentlich die Ansicht geäußert worden, völkerrechtlichen Pflichten im Zusammenhang mit dem Schutz des Klimas komme allgemein eine Wirkung „erga omnes“ zu39. Mit dem Verbot von Umweltverschmutzungen in staatsfreien Räumen (wie der Hohen See oder der Antarktis) ist zudem auf einen Normbereich hinzuweisen, der von vornherein gar nicht anders als „erga omnes“ wirkend verstanden werden kann.40 Schließlich drängt sich die Frage auf, ob auch den zentralen Normgehalten des Umweltvölkerrechts, insbesondere dem Nachhaltigkeitskonzept und dem Vorsorgeprinzip, ein „erga omnes“-Charakter zugesprochen werden kann. Dabei sind zunächst normtheoretische Überlegungen anzustellen.
4. Wirkungen „erga omnes“ auf den Ebenen konstitutioneller Prinzipien und konstitutioneller Leitkonzepte? Zum Wesen rechtlicher Normierung gehört, dass eine (rechtliche) Verpflichtung statuiert wird, an deren Durchsetzung ein (rechtliches) Interesse besteht. Im Falle völkerrechtlicher Normierung „erga omnes“ besteht die entsprechende Verpflichtung gegenüber allen Staaten, welche wiederum allesamt ein Durchsetzungsinteresse geltend machen können41. Rechtliche Verpflichtung einerseits und Anspruch auf deren Geltendmachung andererseits setzen dabei auf den ersten Blick einen gewissen Konkreti___________ men Sorge der Menschheit begründet werden, durch diesen Rechtsstatus in den Rang einer Erga-omnes-Verpflichtung gehoben werden“. 37 Dazu insb. das 3. Kap., A. I. 1. c). 38 Siehe zuvor in diesem Kap., B. II. 1. 39 So wohl erstmals Kirgis, in: AJIL 1990, 525 (527 f.), dessen Standpunkt in der Literatur beträchtliche Unterstützung erfahren hat. Vgl. dazu etwa Günther, Klagebefugnis der Staaten, 135 f.; Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 218 ff.; in dieser Richtung auch Zemanek, in: Max Planck UNYB 2000, 1 (6); weitere Nachweise bei Durner, Common Goods, 254, Fn. 107. 40 Vgl. Günther, Klagebefugnis der Staaten, 138. 41 Gemäß Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (230), bestehen die rechtlichen Konsequenzen der „erga omnes“-Wirkung in „(...) the fact that some rules give rise to a generality of standing – amongst all States bound by those rules – to make claims in the event of a violation. Generality of standing (...) is the essence of erga omnes rules.“
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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sierungsgrad der betreffenden rechtlichen Formel voraus. Die inhaltliche Feststellung des mit der Verpflichtung „erga omnes“ korrelierenden Anspruchs aller anderen Staaten, die Verpflichtung erfüllt zu sehen, ist offensichtlich umso einfacher, je konkreter die entsprechende rechtliche Bestimmung inhaltlich ist. Unter den normtheoretischen Kategorien42 sind es die rechtlichen Regeln, und hier insbesondere eindeutige Verbotssätze (wie etwa das Verbot des Völkermords), die als Sollenssätze mit dem höchsten Konkretisierungsgrad am klarsten festlegen, welches Verhalten (ein Unterlassen im Falle von Verbotssätzen) die Berechtigten („omnes“) verlangen können43. Dem entspricht, dass der Verbotscharakter auch als eigentliches Kriterium für das Vorhandensein einer Verpflichtung „erga omnes“ bezeichnet worden ist44. Indessen ist davon auszugehen, dass sich eine künftige völkerrechtliche Verfassungsordnung nicht nur aus Regeln im normtheoretischen Sinn zusammensetzen würde, sondern auch – und dies hauptsächlich – aus Formeln auf den abstrakteren Ebenen der Leitkonzepte und der Prinzipien. Mit Blick auf diese beiden Kategorien stellt sich denn auch die Frage, ob sich „erga omnes“ wirkende Konsequenzen auch auf einer normativ weniger konkreten Ebene entfalten können. Mit anderen Worten ist zu fragen, ob Leitkonzepte und Prinzipien hinreichend spezifiziert sind, um einerseits eine Verpflichtung des einzelnen Staats zu einem bestimmten Verhalten und andererseits eine entsprechende Verhaltenserwartung der übrigen Staaten, der „omnes“, hervorzubringen. In diesem Zusammenhang ist auf die an anderer Stelle angestellten normtheoretischen Überlegungen zurückzukommen, wobei in erster Linie an die normative Funktion dieser beiden Kategorien erinnert sei45: Konstitutionelle Leitkonzepte bilden die wichtigsten, freilich allgemein bleibenden, materiellen Vorgaben für die internationale Praxis der Staaten; während sie dementsprechend einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen, sind sie als konstitutionelle Bestandteile im Rahmen der ihnen zukommenden Referenzwertfunktion (ihres spezifischen normativen Gehalts) gleichwohl rechtlich bindend. Prinzipien konkretisieren diese allgemeinen materiellen Vorgaben auf der Ebene von ver___________ 42
Siehe die Ausführungen zur Kategorienbildung im 3. Kap., B. II. Eine andere Frage ist, ob die Durchsetzung derartiger Verbotssätze auch tatsächlich verwirklicht wird bzw. ob in der Staatengemeinschaft ein ausreichendes Interesse besteht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Gerade das Genozidverbot ist diesbezüglich ein negatives Beispiel. 44 So durch Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 133, auf der Grundlage der Rechtsprechung des IGH im „Barcelona Traction“-Urteil. Indessen weist Paulus, Internationale Gemeinschaft, 382 f., hierzu kritisch darauf hin, dass mit dem Urteil des IGH zum Ost-Timor-Fall, in dem das Selbstbestimmungsrecht als Verpflichtung „erga omnes“ bezeichnet wurde (s. ICJ Rep. 1995, 102, Para. 29), dieses Kriterium auch in Bezug auf die Rechtsprechung des IGH kaum mehr zum Maßstab genommen werden kann. 45 Siehe das 3. Kap., B. III. 43
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
bindlichen Normen, freilich (im Unterschied zu Regeln im normtheoretischen Sinn) ebenfalls ohne dem Normadressaten ein präzis bezeichnetes Verhalten vorzuschreiben; vielmehr stellen sie Optimierungsgebote dar, die den verpflichteten Staaten eine (durch den Normzweck bestimmte) Bandbreite möglicher Verhaltensweisen offenhalten. Auf der Ebene von Leitkonzepten wie auch von Prinzipien sind die rechtlichen Formeln demnach insofern „offen“, als ihr normativer Gehalt keine absoluten Antworten auf die Frage zulässt, ob die jeweils enthaltene Verpflichtung verletzt sei. Der relativ hohe normative Abstraktionsgrad von konstitutionellen Leitkonzepten und Prinzipien schließt eine Wirkung solcher Formeln „erga omnes“ dann aus, wenn das rechtliche Interesse der Mitglieder der Staatengemeinschaft in einem strikten Sinn verstanden wird46. Dies gemäß der Erwartung, im Falle des Verstoßes gegen eine bestimmte rechtliche Vorgabe bestünde insofern ein Interesse der anderen Staaten, als eine ganz spezifische Verhaltensweise geschuldet wäre. Da eine derartige Präzisierung in den konstitutionellen Leitkonzepten und Prinzipien nicht enthalten ist, wären demnach kein rechtliches Interesse der „omnes“ an deren Durchsetzung und somit keine Wirkung „erga omnes“ gegeben. Damit würde indessen der potentiellen Funktion dieser materiellen Vorgaben im Rahmen einer konstitutionellen völkerrechtlichen Ordnung keinerlei Rechnung getragen. Anders als im nationalen Verfassungsrahmen bestehen auf der allgemeinen völkerrechtlichen Ebene weder eine gouvernementale Instanz noch ein legislatives Organ, welchen die Verwirklichung der in den Leitkonzepten und Prinzipien formulierten Handlungsziele aufgetragen ist. Es ist also einzig die konkrete Praxis der beteiligten Rechtssubjekte selbst, die für das Gelingen des Angestrebten sorgen kann, und entsprechend groß ist das Interesse der Staaten, auf das Funktionieren des Ordnungsrahmens vertrauen zu können. Vertrauensbasis ist dabei idealerweise die Prämisse, dass auch den abstrakteren materiellen Vorgaben Verbindlichkeit zukommt. Ob sich für diese Prämisse in der konstitutionellen Gemeinschaft eine Akzeptanz entwickelt, ist zwar offen. Gleichzeitig stehen dem aber die normativen Möglichkeiten von Leitkonzepten und von Prinzipien auch nicht grundsätzlich entgegen: Die potentiellen Wirkungen „erga omnes“ eines konstitutionellen Leitkonzepts oder eines konstitutionellen Prinzips ergeben sich im Rahmen ihrer jeweiligen spezifischen rechtlichen Tragweite, entsprechend dem jeweiligen normativen Gehalt. Im Falle eines konstitutionellen Leitkonzepts besteht dieser Gehalt in der Vorgabe eines materiellen Referenzwerts für die weitere Konkre___________ 46
Vgl. Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 133, wonach Normen mit abstrakterem Charakter die (vom IGH angewandten) Kriterien für eine Wirkung „erga omnes“ nicht erfüllen sollen.
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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tisierung auf der Normebene. Konstitutionelle Prinzipien greifen diese Vorgabe auf der Stufe von Normen auf, die, wenngleich noch eine erhebliche Bandbreite von Wahlmöglichkeiten offenlassend, die Verhaltensweisen der Staaten in bestimmter Weise determinieren. In beiden Fällen ist die normative Vorgabe bei aller Offenheit deutlich genug, um in konkreten Anwendungsfragen Schlüsse bezüglich des erforderlichen Verhaltens der Rechtssubjekte zuzulassen. Die Verpflichtung des einzelnen Staats ist dabei allgemein gesprochen darin zu erblicken, dass er die materiellen Vorgaben berücksichtigt, soweit dies nach den konkreten Umständen verlangt ist, etwa wenn sich aus einem Leitkonzept in Bezug auf bestimmte Wertungs- und Auslegungsfragen eine Orientierungswirkung ergibt47. Die hier vertretene These, dass der normative Gehalt auch bei konstitutionellen Leitkonzepten und Prinzipien in ausreichendem Maß gegeben ist, um „erga omnes“ wirkende Verpflichtungen hervorzubringen, wird durch Beispiele aus der umweltrechtlichen Praxis gestützt48. So zeigt sich für das Nachhaltigkeitskonzept sowie für das Vorsorgeprinzip, dass selbst eine justitielle Verwendung solcher Formeln möglich ist. An anderer Stelle wurde bereits auf jenen Fall hingewiesen, in dem ein australisches Gericht gestützt auf die rechtlichen Formeln der Nachhaltigkeit, der Nachweltverantwortung sowie der Vorsorge zu konkreten Schlüssen hinsichtlich der Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen zugunsten bedrohter Tierarten gelangte49. Dabei handelt es sich zwar um einen Sachverhalt auf der nationalen Ebene. Die normativen Funktionen des Nachhaltigkeitskonzepts und des Vorsorgeprinzips sind hier indessen keine wesentlich anderen als im internationalen Rahmen. Insofern spricht auch nichts dagegen, dass bei einer Entscheidung darüber, ob ein konkreter Sachverhalt den betreffenden normativen Vorgaben gerecht wird, auch auf der Stufe des internationalen Handelns der Staaten vergleichbare Folgerungen ableitbar sind. So spielte das Vorsorgeprinzip eine wichtige Rolle bei der Entscheidung des Internationalen Seegerichtshofs im Rechtsstreit zwischen Australien und Neuseeland einerseits sowie Japan ande___________ 47
Vgl. dazu auch die in Bezug auf das Nachhaltigkeitskonzept entwickelte Argumentation, 4. Kap., B. I. 3. a). 48 In dieser Richtung auch Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (27 f.), der hinsichtlich mit Wirkung „erga omnes“ ausgestatteter umweltbezogener „norms or principles“ auf jene Prinzipien hinweist, die im Rahmen der in Rio de Janeiro im Jahre 1992 verabschiedeten Erklärungen und Konventionen (Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung, Agenda 21, Wald-Erklärung sowie Biodiversitätskonvention und Klimakonvention) festgeschrieben wurden. 49 Leatch vs. National Parks and Wildlife Service & Another; s. Local Government and Environmental Reports of Australia 81 (1993), 270 ff. Näheres zum Fall im 4. Kap., B. I. 3. a).
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
rerseits um das Befischen der Spezies „Southern Bluefin Tuna“50. Das Gericht baute hier auf das Vorsorgeprinzip51, um zugunsten der Anordnung einer vorsorglichen Maßnahme im Sinne von Art. 290 Abs. 5 Seerechtskonvention zu argumentieren, die experimentelle Befischung der betroffenen Thunfischart durch Japan sei unverzüglich zu stoppen. Beide Fälle belegen, dass das Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung und das Vorsorgeprinzip inhaltlich genügend bestimmt sind, um in konkreten Sachverhalten Antworten auf Fragen nach der rechtlich geforderten Verhaltensweise hervorzubringen. Dies gilt vor allem dann, wenn ein Sachverhalt als nicht nachhaltig oder nicht dem Grundsatz der Vorsorge entsprechend qualifiziert werden kann52, woraus sich die Verpflichtung zu einem nachhaltigkeitsgerechten Verhalten normativ begründen lässt. Im Ausmaß, in dem solche Antworten aus den materiellen Gehalten der Konzept- und Prinzipienebene tatsächlich ableitbar sind, besteht dann auch eine „erga omnes“ wirkende Verpflichtung eines jeden Staats, diese normativen Vorgaben zu berücksichtigen.
5. Offene institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Verpflichtungen „erga omnes“ In einem seiner berühmten Sondervoten – hier zum Urteil im Gabcíkovo/Nagymaros-Fall – führte der ehemalige srilankische Richter und Vizepräsident des IGH Christopher Weeramantry folgenden Gedanken aus: Nachdem das Völkerrecht heute nicht mehr nur den individuellen Interessen der Staaten, sondern dem Wohl der Menschheit diene, müsse es sich auch auf der Verfahrensebene über die bestehenden Regeln zur Interessenwahrnehmung der einzelnen Staaten hinaus entwickeln. Gefordert sei gerade im Bereich des Umweltvölkerrechts, dass „erga omnes“ wirkende Verpflichtungen wirkungsvoll umgesetzt werden: „International environmental law will need to proceed beyond weighing the rights and obligations of parties within a closed compartment of individual State self-interest, unrelated to the global concerns of humanity as a whole.“53
Über die theoretischen Grundlagen, Verpflichtungen „erga omnes“ durchzusetzen, herrscht an sich weitgehende Einigkeit: Schon im „obiter dictum“ des ___________ 50
ILM 38 (1999), 1624 ff. Zu diesem Fall bereits im 4. Kap., B. II. 3. b). Wie von Marr, in: EJIL 2000, 815 (insb. 818 f., 822 f., 827), ausführlich dargelegt. 52 Vgl. Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 52, der darauf hinweist, dass das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung vor allem (aber keineswegs nur) geeignet sei, „gewisse Sachverhalte als nicht nachhaltig zu qualifizieren, mithin negative Ziele zu formulieren“. 53 Siehe ICJ Rep. 1997, 88 (118). 51
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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IGH zum „Barcelona-Traction“-Fall, worin das Konzept der Wirkung „erga omnes“ erstmals ausgeführt wurde, ist davon die Rede, in Bezug auf diese Verpflichtungen stehe allen Staaten ein rechtliches Interesse zu54. Daraus wiederum folgt, dass es grundsätzlich jedem Staat möglich sein soll, die Erfüllung einer „erga omnes“ bestehenden Verhaltenspflicht zu verlangen55. In einem weiteren Schritt wird schließlich abgeleitet, dass eine derartige rechtliche Formel gegenüber der gesamten konstituierten Gemeinschaft gelte, womit die Staatengemeinschaft als Gesamtheit berechtigt sei, deren Einhaltung einzufordern56. Während ein dogmatisches Fundament für die „Vergemeinschaftung der Verantwortung der Staaten“57 in Bezug auf die Durchsetzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen mit Gemeinwohlrelevanz gegeben scheint, stellt sich allerdings die Frage, ob das Völkerrecht den damit verbundenen Erwartungen institutionell gewachsen sei. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Schwierigkeit anzusprechen, dass selbst bei allgemein gegebener Akzeptanz einer rechtlichen Verpflichtung deren Durchsetzbarkeit keineswegs gesichert ist. Als exemplarisch kann diesbezüglich der Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes bezeichnet werden, ist die Verankerung von Normgehalten mit besonderer Geltungskraft (also solcher zwingenden Charakters oder mit Wirkung „erga omnes“) hier doch theoretisch am weitesten fortgeschritten. Die für die institutionelle Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes notwendige Bereitschaft, Verstößen entschlossen entgegenzutreten58, erweist sich aber selbst für diese zentralen Normgehalte als keineswegs in ausreichendem Maß vorhanden59. In Bezug auf den Schutz anderer Rechtsgüter mit „Weltgemeinschaftsbedeutung“, nicht zuletzt beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, ist dieses Defizit in noch ausgeprägterem Maß feststellbar60. Martin Nettesheim ___________ 54
ICJ Rep. 1970, 32, Para. 33. Vgl. etwa Beyerlin, in: ZaöRV 1996, 602 (608), wonach „any State’s international obligation to meet a ‚common interest‘ is owed erga omnes, with the consequence that any other State can demand its fulfilment“. 56 Siehe Simma, in: RdC 1994-VI, 217 (298 f.), wonach Voraussetzung für die Annahme einer Verpflichtung „erga omnes“ sei, dass „the community of States is entitled to demand fulfilment of an obligation“. Und weiter: „Only in that case the ‚omnes‘ are deemed to have a legal interest in the fulfilment of the obligation.“ Riedel, in: FS Roellecke, 245 (266), streicht heraus, dass den „public interest norms“ des Völkerrechts die Vorstellung gemeinsam sei, „dass diese Verpflichtungen der Staaten nicht jedem einzelnen anderen Staat, sondern der Staatengemeinschaft insgesamt geschuldet werden.“ 57 Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 318 (345, 348). Vgl. allgemein auch Wustlich, Atmosphäre als globales Umweltgut, 218, m.w.N. 58 Vgl. etwa Klein, in: FS Ress, 151 (163). 59 In Bezug auf zwingendes Völkerrecht etwa Shelton, in: International Law, 145 (154); in Bezug auf Verpflichtungen „erga omnes“ Zemanek, in: Max Planck UNYB 2000, 1 (11 f., 16 f.). 60 Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (578). 55
482
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
spricht in diesem Zusammenhang treffend vom „überschießenden materiellen Gehalt“ des Völkerrechts, der sich daraus ergebe, „dass die institutionelle Entwicklung, also die Entwicklung von völkerrechtlichen Einrichtungen zur Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, noch der Materialisierung hinterherhinkt“61. Somit verbietet es sich schon aufgrund der institutionellen Realität, allzu große Hoffnungen darauf zu setzen, eine Charakterisierung als „erga omnes“ wirkend führe auch zu einer Verbesserung der Durchsetzungschancen potentieller konstitutioneller Gehalte. Eine entscheidende Frage im Hinblick auf die konstitutionelle Zukunft des Völkerrechts ist vor diesem Hintergrund, ob eine Entwicklung der institutionellen Strukturen möglich ist, die zugleich die Durchsetzungschancen konstitutioneller Normgehalte erhöhen würde62. Auch auf der Basis eines – wie in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeitet63 – reduzierten völkerrechtlichen Verfassungsbegriffs resultiert somit letztlich, dass ohne wirksame institutionelle Mechanismen keine erfolgversprechende Weiterentwicklung denkbar ist. Die Frage, welche institutionellen Entwicklungen im Einzelnen ins Auge gefasst werden müssen, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht vertieft werden. An dieser Stelle seien im Sinne eines kurzen Ausblicks immerhin folgende Aspekte genannt: –
Im Zusammenhang mit Fragen des Menschenrechtsschutzes wird in institutioneller Hinsicht unter anderem eine Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen mit dem Ziel gefordert, dessen Handlungsfähigkeit zu vergrößern64. Derartige Überlegungen lassen sich grundsätzlich auch auf einzelne gravierende Probleme der globalen Umweltdegradation übertragen: So drängt es sich aufgrund der möglichen Folgewirkungen des Klimawandels auf, diesen künftig als Risiko für die internationale Sicherheit aufzufassen65. Entsprechend ist an sich davon auszugehen, dass der Sicherheitsrat in schwerwiegenden Fällen der Zerstörung von Umweltgütern nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen handlungsberechtigt wäre66. Allerdings wäre wohl nur in Ausnahmefällen davon auszugehen, dass die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Sicherheitsrats erfüllt sind. Ab-
___________ 61
Nettesheim, ebd.; ähnlich auch bereits Bryde, in: BerDGV 1993, 165 (172). Dazu (mit Blick auf den Menschenrechtsschutz) bspw. Kälin, in: SZIER 2000, 159 (175): „Die Konstitutionalisierung der Staatengemeinschaft gelingt nur, wenn die Entwicklung werthaltiger materieller Prinzipien mit Maßnahmen institutioneller Art einhergeht.“ 63 Siehe das 2. Kap., D. III. und IV. 64 So bspw. Kälin, in: SZIER 2000, 159 (175). 65 Siehe vorne in diesem Kap., B. II. 1. 66 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 212, m.w.N. 62
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
483
gesehen von gravierenden Gefährdungen der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens sind zudem die Maßnahmen im Sinne der Kompetenzen des Sicherheitsrats67 kaum die geeigneten Mittel, um „erga omnes“ wirkende Umweltverpflichtungen der Staaten durchzusetzen. –
Zweitens ist die Möglichkeit zu nennen, ein besonderes internationales Umweltgericht ins Leben zu rufen, das zur verbesserten Durchsetzung umweltvölkerrechtlicher Verpflichtungen beitragen könnte. Der Internationale Gerichtshof kann (im Rahmen der geltenden Zuständigkeitsbestimmungen) grundsätzlich auch zur Beurteilung von internationalen Umweltverträgen angerufen werden. In der Praxis wurde der IGH indessen noch nie zur Beurteilung von eigentlichen Umweltverträgen eingeschaltet und hatte sich dementsprechend bislang erst mittelbar zu Umweltfragen zu äußern68. Soweit im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, unter welchen Voraussetzungen der Gerichtshof mit Fragen der Geltung von Verpflichtungen „erga omnes“ befasst werden kann, so ist als Problem insbesondere zu nennen, dass nach den heute geltenden Zuständigkeitsbestimmungen des IGH-Statuts die beklagte Partei mit der Vorlage einer Streitfrage an den Gerichtshof einverstanden sein muss69. Die Möglichkeit einer Anrufung des IGH zur Durchsetzung von allfälligen konstitutionellen Normgehalten – zumal diese auch außerhalb konkreter vertraglicher Vereinbarungen Geltung beanspruchen würden – wäre somit aufgrund der bestehenden Zuständigkeitsvoraussetzungen von vornherein erheblich eingeschränkt. Angesichts der limitierten Wirkungsmöglichkeiten des IGH zur Streitbeilegung in Umweltkonflikten ist die Einrichtung eines „Internationalen Umweltgerichtshofs“ mit bindender Rechtsprechung angeregt worden70. Ein derartiges Gremium wäre aus Sicht einer möglichen Stärkung der Chancen zur Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte zu begrüssen. Allerdings ist derzeit völlig offen, wie sich diese Idee – die auch im größeren Rahmen der Bestrebungen um eine Reform der Vereinten Nationen zu sehen ist – in der künftigen Diskussion weiterentwickeln wird. ___________ 67
Art. 39 ff. UNO-Charta. So insbesondere im Urteil zum Gabcíkovo/Nagymaros-Fall, Slowakei vs. Ungarn; s. ICJ Rep. 1997, 7 ff. Im vor dem IGH derzeit hängigen Fall betreffend den Bau von Zellulosefabriken am Río Uruguay, Argentinien vs. Uruguay, sind bislang (Stand am 31. Januar 2008) erst Beschlüsse zur Frage des Erlasses vorsorglicher Maßnahmen ergangen. 69 Siehe Art. 36 IGH-Statut. 70 Zu diesen Vorschlägen Postiglione, in: Rivista giuridica dell’ambiente 1995, 919 ff.; ders., Global Demand for an International Court of the Environment; ders., in: Rivista giuridica dell’ambiente 2002, 389 ff.; Rest, in: AVR 1996, 145 (163 ff.); ders., in: LA Seidl-Hohenveldern, 575 ff.; MacCallion/Sharma, in: George Washington Journal of International Law and Economics 2000, 351 ff.; Pauwelyn, World Environment Court. 68
484
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Im Interesse einer konstitutionellen Weiterentwicklung des Völkerrechts ist es unerlässlich, Mittel und Wege verfügbar zu machen, die es den willigen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, die anerkannten Gemeinschaftswerte in möglichst konsequenter Weise zu schützen. Mit dem Konzept der Verpflichtungswirkungen „erga omnes“ steht dabei eine tragfähige dogmatische Grundlage zur Verfügung. Beträchtliche Mängel bestehen heute aber noch in Bezug auf institutionelle Mechanismen, welche es erlauben, die dem Schutz der Gemeinschaftswerte dienenden höchstwertigen Normgehalte effizient – auch gegenüber unwilligen Staaten71 – durchzusetzen. Hier ist ein bedeutender institutioneller Ausbau erforderlich, dessen Realisierung aber noch ungewiss erscheint. Dabei liegt auf der Hand, dass die institutionelle Frage nicht abgekoppelt von der Akzeptanz der potentiellen konstitutionellen Vorgaben gelöst werden kann. Nachdem im Lauf dieser Untersuchung festgestellt wurde, dass die praktische Verwirklichung der allgemeinen Vorgaben (jedenfalls im umweltvölkerrechtlichen Bereich) nicht ausreichend gewährleistet ist, zeigt sich deutlich erkennbar, dass noch ein sehr weiter Weg zurückzulegen ist.
II. Öffnung des völkerrechtlichen Selbstverständnisses der Staaten als Grundbedingung konstitutioneller Weiterentwicklung Dreht sich die Diskussion um wichtige Entwicklungsschritte des Völkerrechts, so ist in der Literatur häufig von „Paradigmenwechseln“ die Rede72. Dabei wird etwa auch erklärt, einen solchen Richtungswechsel habe das Völkerrecht dadurch vollzogen, dass es von einer Staatenorientierung hin zu einer Gemeinwohlorientierung fortgeschritten sei73. ___________ 71
Vgl. Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (576). Beispielhaft genannt seien (mit Bezugnahme auf unterschiedliche Bereiche des Völkerrechts) etwa Cullet, in: EJIL 1999, 549 ff.; verschiedene Beiträge bei Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Völkerrecht zur Jahrtausendwende; MacWhinney, in: International Law in the Post-Cold War World, 3 ff.; Riedel, in: FS Roellecke, 245 ff. 73 In dieser Richtung argumentiert auf der Basis der Entwicklungen im Bereich des Umweltvölkerrechts Riedel, in: FS Roellecke, 245 (261); ebenfalls ders., in: New Trends in International Law-Making, 61 (insb. 89, 94); vgl. dazu auch Peters, in: AVR 1997, 234 (235 ff.). Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgte bereits vor längerem Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (792): „(...) international law is at a turning point from a system balancing conflicting sovereign interests to one of constructive interaction for the common good. The concept of ‚common interest‘ is the frame of reference for an international law meeting the challenges of the future.“ Skeptisch zur Entwicklung des Umweltvölkerrechts in Richtung eines an gemeinsamen Werten orientierten Rechtsbereichs demgegenüber bspw. Nettesheim, in: AVR 1996, 168 (206), der von einer „grundsätzlich souveränitäts- und reziprozitätsorientierten Ausrichtung des umweltrechtlichen Völkergewohnheitsrechts“ ausgeht. 72
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
485
Allerdings stößt die Einschätzung, das Völkerrecht habe den entscheidenden Schritt zu einer gemeinwohlorientierten Ordnung bereits getan, nicht auf ungeteilte Zustimmung. Wie die Überlegungen des vorhergehenden 4. Kapitels gezeigt haben, erfolgt entsprechende Kritik insofern zu Recht, als die vorhandenen normativen Ansätze zur Gemeinwohlorientierung keinen Schluss auf eine durchsetzungsfähige konstitutionelle Ordnung zulassen. Pointiert kritisch hat sich etwa Bardo Fassbender geäußert, der dabei die Frage aufgeworfen hat, was die mangelnde praktische Relevanz gemeinwohlorientierter Normen für den Entwicklungsstand des Völkerrechts bedeute74. So werde zwar einerseits die Existenz einer Verfassungsordnung der internationalen Gemeinschaft anerkannt, andererseits führe dies kaum zu praktischen Folgen. Dadurch aber werde die Bedeutung der Normkategorien des „ius cogens“ und der Verpflichtungen mit Wirkung „erga omnes“ „als Träger und Ausdruck eines inhaltlichen Wandels des Völkerrechts zu einer werthaften, am Wohlergehen des einzelnen Menschen orientierten Ordnung“75 gemindert. Entsprechend sei der so oft beschworene entscheidende Paradigmenwechsel im Völkerrecht bislang nicht eingetreten. Die Untersuchungen des 3. und des 4. Kapitels haben in positiver Hinsicht ergeben, dass ein Konsens über bestimmte völkerrechtliche Vorgaben vorhanden ist, welchen (auf der normativen Ebene von Leitkonzepten und Prinzipien) eine potentielle konstitutionelle Funktion zukommt. Nachdem sich in negativer Hinsicht aber zugleich herausgestellt hat, dass diese Vorgaben nicht ausreichend beachtet werden, fragt sich, was dieser Konsens wert ist. Handelt es sich, da eine wirksame Umsetzung bislang weitgehend ausgeblieben ist, nur um einen vermeintlichen Konsens auf einer faktisch folgenlosen normativen Scheinebene? Oder liegt lediglich ein partieller Mangel vor, durch welchen der Konsens auf der Leitkonzept- und auf der Prinzipebene nicht grundsätzlich wertlos wird, sondern der „nur“ das Bild einer bereits wirksamen Verfassungsordnung trübt, und dies auch nur momentan? Besteht mit anderen Worten Aussicht auf Besserung? Mit Hinsicht auf eine verstärkte Akzeptanz potentieller konstitutioneller Vorgaben seitens der Staaten wie auch auf einen institutionellen Ausbau scheint ein weiterer Entwicklungsprozess auf der Bewusstseinsebene unerlässlich. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte anzusprechen: Zum einen ist dies die bezüglich völkerrechtlichen Handelns von den Staaten traditionell erhobene Reziprozitätserwartung, zum andern das Souveränitätsverständnis. ___________ 74 Siehe Fassbender, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 231 (insb. 266 und 268 f.). 75 Ebd., 231 (268).
486
5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
1. Notwendigkeit einer Relativierung der Reziprozitätserwartung zugunsten der Gemeinwohlverwirklichung Es wurde bereits angesprochen76, dass Staaten im zwischenstaatlichen Verkehr in der Regel dem Prinzip der Gegenseitigkeit folgen. Der Reziprozitätsgrundsatz bildet eine der tragenden Säulen des Völkerrechts, von welcher dessen Verwirklichung in hohem Maß abhängt77. In Anbetracht des relativen Mangels an völkerrechtlichen Durchsetzungsmechanismen verhalten sich Staaten oftmals nicht zuletzt gerade deshalb in bestimmter Weise, weil sie Gleiches – oder jedenfalls Gleichwertiges – von anderen beteiligten Staaten erwarten. Dies gilt nicht nur für bilaterale völkerrechtliche Verträge, die synallagmatisch nach der Formel „do ut des“ ausgestaltet werden78, sondern für die Entstehung von Berechtigungen und Verpflichtungen auf jeder normativen Ebene. Auch die Bereitschaft eines Staats, bei Entstehung und Einhaltung einer völkerrechtlichen Praxis mitzuwirken, aus welcher schließlich Gewohnheitsrecht entsteht, hängt wesentlich davon ab, dass andere dasselbe oder zumindest Vergleichbares tun. Indem die Reziprozitätserwartung in der Regel die Haltung der Staaten in erheblicher Weise steuert, ist sie ein wichtiger Faktor im Prozess der internationalen Konsensbildung. Im Zusammenhang mit der These einer zunehmenden Gemeinwohlorientierung des Völkerrechts bildet die traditionelle Reziprozität internationaler Beziehungen gezwungenermaßen einen kritischen Aspekt. Abschwächend lässt sich zunächst zwar festhalten, dass sich im Grundsatz der Gegenseitigkeit nicht nur die Eigeninteressen der Staaten widerspiegeln, sondern ebenso die Tatsache der Gemeinschaftlichkeit im Verhältnis zwischen diesen79: Die Summe der allseitig anerkannten Verpflichtungen und Berechtigungen kann letztlich auch als das gesehen werden, was als Gemeinwohl aller beteiligten Staaten den weitestmöglichen internationalen Konsens gefunden hat. Zugleich aber liegt auf der Hand, dass die strikte Beharrung auf der Reziprozitätserwartung kaum die ___________ 76 Siehe dazu im Zusammenhang mit Überlegungen zum Verhältnis zwischen konstitutioneller Gemeinwohlorientierung und internationaler Solidarität, 3. Kap., A. III. 1. c). 77 Siehe dazu allgemein Byers, Custom, Power and the Power of Rule, 88 ff.; Simma, Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, passim; ders., in: EPIL, Vol. IV, 29 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 48 ff.; Virally, in: RdC 1967-III, 1 ff. Zur Rolle der Reziprozität im besonderen Bereich des Menschenrechtsschutzes Provost, in: BYIL 1994, 383 ff. 78 Vgl. Cassese, International Law in a Divided World, 28. 79 Vgl. dazu Franck, Fairness in International Law, 10: „A community is based, first, on a common, conscious system of reciprocity between its constituents, and this system of reciprocity conduces to fairness dialogue. This is because a perception of the fairness of any particular rule depends, in major part, on its implicit promise to treat like with like. (...) The element of reciprocity (…) underpins the emergence of community (...).“
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
487
erforderliche gesamtheitliche Betrachtung der Globalität des internationalen Gemeinwohls zulässt, welches sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinwohlbelange zusammensetzt. Auch ist fraglich, ob die Idee des zwischenstaatlichen Tauschgeschäfts sachgerecht ist, wenn die Gleichartigkeit der Interessen so weit geht, dass das auf dem Spiel stehende Gemeinwohl mit dem Wohl der Menschheit gleichzusetzen ist80. Wird als Zielsetzung formuliert, das Völkerrecht möge sich im Sinne einer am Gemeinwohl orientierten konstitutionellen Ordnung weiterentwickeln, in der sich die entsprechenden Normgehalte wirkungsvoll durchsetzen lassen, so erscheint nur ein Schluss angemessen: Das völkerrechtliche Selbstverständnis der Staaten muss sich von strikten Reziprozitätserwartungen lösen, zugunsten von Beteiligungserwartungen am (globalen, gegebenenfalls auch regionalen) Gemeinwohl. Diesbezüglich seien hier nur zwei Interessensaspekte aus dem umweltvölkerrechtlichen Bereich genannt, die zwingend eine teilweise Relativierung der Reziprozitätserwartung voraussetzen: –
Dies gilt zunächst – über die zwischenstaatlichen Verhältnisse hinaus – für die Berücksichtigung der Interessen der künftigen Generationen81, wie dies durch das Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung vorgesehen und im Vorsorgeprinzip normativ konkretisiert ist. Die eigentliche Besonderheit liegt hier gerade darin, dass (im Sinne intergenerationeller Gerechtigkeit) ein fairer Interessenausgleich zugunsten noch nicht Geborener verlangt ist. Ein Gegengeschäft im Sinne des Reziprozitätsgrundsatzes ist hier von vornherein ausgeschlossen. Der dem Nachhaltigkeitskonzept innewohnende ethische Imperativ verlangt damit zwingend einen einseitigen Interessentransfer von den heutigen zugunsten der künftigen Generationen.
–
Eine Relativierung des Gegenseitigkeitsgrundsatzes ist ferner für das Verhältnis zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern angemessen82.
___________ 80 Der Gedanke findet sich bereits bei Virally, in: RdC 1967-III, 1 (66): „(...) la réciprocité n’a pas sa place là où les intérêts sont communs et vont dans le même sens, parce que l’idée d’un échange entre eux perd son sens.“ In ähnlicher Richtung auch Brunnée, in: ZaöRV 1989, 791 (794, 796), wonach der Gedanke der Reziprozität als Grundlage des Völkerrechts in bestimmten Bereichen (nämlich dem völkerrechtlichen Schutz der Menschenrechte sowie der Umwelt) gerade nicht genüge. 81 Zur intergenerationellen Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang auch Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (16 f.). Einen Hinweis darauf, dass die rechtlichen Formeln des Umweltvölkerrechts, welche eine intergenerationelle Verantwortlichkeit implizieren, nicht dem gängigen völkerrechtlichen Muster reziproker Rechte und Pflichten folgen, gibt auch Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (28). 82 Vgl. hierzu Cullet, in: EJIL 1999, 549 (561); in ähnlicher Richtung auch Kokott, in: Recht und Internationalisierung, 3 (16).
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
So ergibt sich für die Belange des völkerrechtlichen Umweltschutzes, dass von Seiten der Industriestaaten an die Adresse der Entwicklungsländer unter Umständen eine abgeschwächte Erwartungshaltung sachgerecht ist. Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit gibt hier (ansetzend am Gedanken intragenerationeller Gerechtigkeit) die Argumentationsrichtung vor83: Die Industriestaaten können diesem Ansatz zufolge wegen ihres größeren Beitrages zur Verursachung ökologischer Probleme sowie ihrer größeren wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten zur Behebung derselben nicht erwarten, dass sich die Entwicklungsländer in gleicher Weise verpflichten. Allerdings ist umstritten, welche konkreten Auswirkungen diese Betrachtungsweise im Einzelnen haben soll, und es sind auch unerwünschte Folgen denkbar. Insbesondere ist aus Sicht des Interesses an der Verwirklichung von Gemeinwohlbelangen abzulehnen, dass sich einzelne Staaten, die zu globalen Umweltproblemen in erheblichem Maß beitragen (etwa China, Indien oder Brasilien durch ihre Treibhausgasemissionen zum Klimawandel), unter Berufung auf ihren Status als Entwicklungsländer von Beiträgen an das Gemeinwohl dispensieren. Vielmehr ist auch von den wirtschaftlich potenten Schwellenländern eine Gemeinwohlverpflichtung einzufordern, die in einem angemessenen Verhältnis zur Situation der am schwächsten entwickelten Staaten steht.
2. Notwendigkeit eines aufgeklärten Souveränitätsverständnisses zugunsten der Gemeinwohlverwirklichung Eingangs dieser Untersuchung wurde darauf hingewiesen84, dass die Entwicklung des Völkerrechts zugleich als Geschichte eines Wandels des völkerrechtlichen Souveränitätsbegriffs zu lesen ist. Der Gedanke der Herausbildung einer am Gemeinwohl orientierten konstitutionellen Ordnung setzt notwendigerweise voraus, dass sich diese Entwicklung fortsetzt und das völkerrechtliche Souveränitätsverständnis sich weiter öffnet85. Hinweise auf eine zunehmende Relativierung und Funktionalisierung des Souveränitätsdogmas, wie Eibe Riedel sich ausgedrückt hat86, sind durchaus ___________ 83
Dazu im 4. Kap., B. III. und C. I. 3. Siehe das 1. Kap., C. II. 85 In dieser Richtung auch Fassbender, in: EuGRZ 2003, 1 (5), der sich dahingehend äußert, mit einer konstitutionellen Betrachtungsweise des Völkerrechts der Gegenwart sei eine „zeitgemäße Definition der einzelstaatlichen Souveränität, die der verstärkten Gemeinschaftsbezogenheit des Staates Rechung trägt“, verbunden. 86 Riedel, in: FS Roellecke, 245 (268, 277). 84
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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vorhanden; dieser Umstand selbst bildet einen zentralen Grund für die verbreitete Annahme eines völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses87. Eine internationale Verfassungsordnung, deren wesentlichen Normgehalte effektiv durchgesetzt werden, setzt indessen ein Souveränitätsverständnis der Staaten voraus, das heute noch nicht die notwendige Verbreitung gefunden hat. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in Bezug auf die Umsetzung der konstitutionellen Vorgaben am Beispiel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen haben dies klar gezeigt. Erforderlich ist die im praktischen Handeln der Staaten wahrnehmbare Einsicht, dass bestimmte Menschheitsanliegen die einzelstaatlichen Partikulärinteressen zu überlagern vermögen88. Verlangt ist mit anderen Worten ein aufgeklärtes Verständnis von Souveränität: Mit den Worten von Stephan Hobe „einer Souveränität also, die es als im Interesse des eigenen Staates stehend betrachtet, das Überleben der Menschheit mit den vielfältigen alten und neuen Akteuren in der globalen Verantwortungsgemeinschaft zu gewährleisten.“89 Ein Konzept, das völkerrechtliche Souveränität als Ausdruck der Verantwortlichkeit im Rahmen der internationalen Gemeinschaft versteht, hat beispielsweise90 Franz Xaver Perrez entworfen: Hauptsächlich auf der Basis einer Betrachtung der Entwicklungen im Bereich des Umweltvölkerrechts kommt er zum Schluss, der Schwerpunkt des heute gültigen völkerrechtlichen Souverä___________ 87
Dazu insb. im 2. Kap., A. und B. III. 1. Vgl. hierzu Riedel, in: FS Roellecke, 245 (266), wonach es bestimmte „öffentliche, globale Anliegen (matters of global concern) gebe, die unabhängig von den Interessen und Zwecksetzungen einzelner Staaten der gesamten Menschheit zu dienen bestimmt“ seien. Entsprechend sei eine erneuerte Konzeption der Völkerrechtsordnung im Entstehen begriffen, „als eines normativen Rahmens zur Durchsetzung von globalen öffentlichen Interessen der Menschheit“ (ebd., 278 f.). 89 Hobe, in: AVR 1999, 253 (281 f.). 90 Zur Relativität des völkerrechtlichen Souveränitätsbegriffs gerade im Bereich des Umweltvölkerrechts außerdem auch Beyerlin, in: FS Bernhardt, 937 (940 ff.); Handl, in: Environmental Protection and International Law, 59 (85 ff.); Kiss/Shelton, International Environmental Law, 2. Aufl., 25 f.; Schrijver, in: Sustainable Development and Good Governance, 80 ff.; mit besonderem Schwerpunkt auf dem Aspekt des Klimaregimes Melkas, in: RECIEL 2002, 115 ff.; für einen Überblick über die wissenschaftliche Diskussion s. Krohn, Bewahrung tropischer Regenwälder durch völkerrechtliche Kooperationsmechanismen, 294 ff.; hervorzuheben sind die ausgedehnten Untersuchungen von Hinds, Umweltrechtliche Einschränkungen der Souveränität. Nach dem von Odendahl, Umweltpflichtigkeit, insbes. 360 ff., vertretenen Ansatz soll die inhaltliche Tragweite der Souveränität der Staaten über deren Hoheitsgebiet von vornherein so zu modifizieren sein, dass diese durch eine „Umweltpflichtigkeit der Souveränität“ beschränkt wird. Kritisch bis ablehnend äußern sich gegenüber Ansätzen eines relativierten Souveränitätsverständnisses etwa Haltern, in: FS Tomuschat, 867 ff., sowie Hillgruber, in: JZ 2002, 1072 ff. 88
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
nitätskonzepts habe sich von der Betonung einzelstaatlicher Autonomie endgültig zur Verantwortlichkeit des Staats in den Belangen der globalen Gemeinschaft verlagert91. Nach diesem Ansatz bezieht sich die souveränitätsimmanente Verantwortlichkeit eines jeden Staats zum einen (nach wie vor) darauf, das Wohlergehen des eigenen Volkes zu gewährleisten. Darüber hinaus aber richtet sie sich auch auf die Bewältigung der gemeinsamen, alle Staaten betreffenden Probleme der internationalen Gemeinschaft und somit auf die Sicherung des kollektiven Wohlergehens aller92. Bestrebungen um eine Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Souveränitätsverständnisses bestehen ferner unter anderem auch im Bereich des Friedensschutzes und des humanitären Völkerrechts. Hier ist unter dem Eindruck des Versagens der internationalen Gemeinschaft bei innerstaatlichen Konflikten wie in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien in den letzten Jahren mit der „Responsibility to Protect“ („Verantwortung zum Schutz“) ein neues sicherheitspolitisches Konzept enstanden93. Zwar ist in erster Linie jeder einzelne Staat dafür verantwortlich, seine eigene Bevölkerung zu schützen. In Fällen schwerwiegenden Versagens der nationalen Verantwortlichkeit soll indessen eine (ethische, letztlich aber auch rechtliche) Handlungspflicht der Staatengemeinschaft – insbesondere der Vereinten Nationen – bestehen, die Zivilbevölkerung vor gravierenden Übergriffen (insb. Völkermord, ethnischer Säuberung und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit) zu bewahren. Dies impliziert, dass der Anspruch des einzelnen Staats auf seine Souveränität begrenzt ist und einem Interventionsrecht der Staatengemeinschaft weicht, wenn er seine Verantwortung für die eigene Bevölkerung wahrzunehmen nicht mehr imstande oder willens ist.
Ein derartiges aufgeklärtes Souveränitätskonzept bringt eine weitere Abschwächung der einzelstaatlichen Souveränität mit sich. Wird konstitutionellen Normgehalten, die sich aus übergeordneten Gemeinschaftsinteressen ergeben, die notwendige Geltungskraft zugestanden, so kommt dies letztlich der (zumindest teilweisen) Verabschiedung eines „zustimmungsabhängigen Völkerrechts“94 gleich: Die für konstitutionelle Normgehalte anzustrebende Verpflich___________ 91
Siehe Perrez, Cooperative Sovereignty, insb. 331 ff. Ebd., 335. Der Autor unterstreicht dabei, dass die duale (d. h. interne und externe) Verantwortlichkeit des einzelnen Staats keineswegs als von außerhalb auf das Konzept einwirkende Beschränkung zu verstehen sei, sondern vielmehr einen inhärenten Bestandteil eines modernen völkerrechtlichen Souveränitätsverständnisses bilde (ebd., 337). 93 Vgl. dazu Fröhlich, in: Reform der Vereinten Nationen, 167 ff.; Hilpold, in: Max Planck UNYB 2006, 35 ff.; Stahn, in: AJIL 2007, 99 ff. Das Konzept hat bspw. im Schlussdokument des UNO-Reformgipfels im Jahr 2005 Aufnahme gefunden; s. GVRes. 60/1 vom 16. September 2005 („Ergebnis des Weltgipfels 2005“), Ziff. 138 f. 94 Siehe Peters, in: AVR 1997, 234 (238), im Rahmen eines Kommentars zu Dicke, in: New Trends in International Lawmaking, 145 ff., wobei letzterer zu entsprechenden Ansätzen im Bereich des Rechts der „humanitären Interventionen“ Stellung nimmt. 92
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
491
tungswirkung „erga omnes“ setzt geradezu voraus, dass die Rechtsschöpfung der internationalen Gemeinschaft völkerrechtliche Formeln hervorbringt, die für alle Staaten verbindlich werden, auch wenn einzelne unter ihnen opponieren95. Mit einem solchen Vorgang könnten auf den ersten Blick auch negative Begleiteffekte verbunden sein, sofern die daraus sich ergebenden Konsequenzen einseitig als Beschränkung der Freiheit und der souveränen Rechte der Staaten betrachtet werden96. Indessen ist zu berücksichtigen, dass es dabei nicht um Souveränitätsbeschränkungen geht, die von einer übergeordneten Instanz oktroyiert werden; vielmehr entstehen gerade völkerrechtliche Normgehalte mit Wirkung „erga omnes“ im Prozess der Bildung von Völkergewohnheitsrecht97, mithin durch konsensuale Anerkennung seitens der beteiligten Rechtssubjekte. Von Bedeutung ist außerdem, dass die Eindämmung der Souveränität gerade als Bindung an das Gemeinwohl der internationalen Gemeinschaft erfolgt98: Für die Akzeptanz konstitutioneller (oder auch sonstiger) rechtlicher Formeln, die mit einer potentiellen Souveränitätseinbuße einhergehen, ist entscheidend, dass jeder einzelne Staat am globalen Gemeinwohl beteiligt ist. Bei einer pragmatischen Einschätzung der eigenen Interessenlage im internationalen Umfeld sollte somit die Erkenntnis möglich sein, dass das Interesse an ungeschmälerten ___________ 95 Vgl. Nettesheim, in: JZ 2002, 569 (576); Paulus, Internationale Gemeinschaft, 430; Perrez, Cooperative Sovereignty, 141 f., m.w.N. 96 Vgl. in Bezug auf die Auswirkungen der Verpflichtungen „erga omnes“ die Bemerkung von Ragazzi, Concept of International Obligations Erga Omnes, 163: „(...) the concept of obligations erga omnes affects, by its very nature, the freedom of consent and sovereign rights of States“. Siehe dazu auch die Hinweise auf ähnliche Argumentationen bei Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (19). 97 Siehe auch Byers, in: Nordic Journal of International Law 1997, 211 (239). Diesem Aspekt wird von Delbrück, in: LA Jaenicke, 17 (29 ff.), bei seiner Beantwortung der Frage, wer das internationale öffentliche Interesse definiere, zu wenig Beachtung geschenkt. Er kommt dabei zum Schluss, dass die Bestimmung des internationalen öffentlichen Interesses hauptsächlich auf vier verschiedene Arten erfolge (ebd., 32): durch den Einfluss der wichtigsten internationalen Mächte, soweit sie an einer bestimmten Thematik interessiert seien; im Rahmen wichtiger internationaler Konferenzen unter Beteiligung einer großen Zahl von an der fraglichen Thematik besonders interessierten Staaten; im Rahmen von Organen wie der Generalversammlung der Vereinten Nationen; sowie schließlich im Rahmen weiterer, in der Regel unter dem Dach der Vereinten Nationen durchgeführter internationaler Foren mit mehr oder weniger universeller Beteiligung. Hinzuzufügen wäre, dass gerade die konstitutionellen Elemente aus dem Bereich des völkerrechtlichen Umweltschutzes, die für eine Wirkung „erga omnes“ in Frage kommen, ihre Legitimation einer breiten völkerrechtlichen Praxis verdanken, die sich insbesondere über alle drei letztgenannten Kategorien erstreckt. Zu berücksichtigen ist ferner die Bedeutung nationaler Rechtspraxis als Ausdruck der Anerkennung völkerrechtlicher Verpflichtungen. 98 Vgl. auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, 222.
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
Souveränitätsansprüchen durch das Interesse an der Gemeinwohlverwirklichung ausgeglichen, wenn nicht gar überwogen wird99. Völkerrechtliche Konstitutionalisierung setzt damit gewissermaßen voraus, dass das Konzept nationaler Souveränität im internationalen Raum eine ähnlich flexible Form100 annimmt wie der Eigentumsbegriff und -schutz im innerstaatlichen Recht. Die funktionellen Parallelen – bei beidem geht es um die Frage der Verfügungsfreiheit über die dem Einzelnen zustehenden („gehörenden“) Güter101 – kommen in der Schrankenproblematik zum Ausdruck: Die Verfügungsrechte im Rahmen völkerrechtlicher Souveränität wie auch des Eigentumsbegriffs können vom Umfang her weder als vorgegeben noch als unveränderlich betrachtet werden, sondern sie erweisen sich als von den politischen und sozialen Entwicklungen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext abhängig102. Beiden ist auch gemeinsam, dass es das Gemeinwohl der jeweiligen konstituierten Gemeinschaft ist, das ihre Gestalt beeinflusst und ihre Ausmaße beschränkt. Ebenso wie das Eigentum im nationalen Rahmen der verfassungsrechtlich vor___________ 99
Dazu etwa Hurrell, in: Role of Law in International Politics, 327 (336), in Bezug auf den Wandel des Souveränitätsverständnisses im Rahmen einer an gemeinsamen Werten orientierten internationalen Rechtsordnung: „This expansion has been driven both by moral change and by material and pragmatic imperatives.“ 100 Demgegenüber kann im Zusammenhang mit der Idee völkerrechtlicher Konstitutionalisierung nicht die Rede davon sein, das Souveränitätskonzept „anzufeinden“ oder gar zu „leugnen“, wie dies Hillgruber, in: JZ 2002, 1072 ff., unterstellt. 101 Globale Güter, die keinen territorialen Zugriffsrechten unterliegen, wie beispielsweise die Ressourcen der Hohen See, sind von vornherein nur unter Achtung der gemeinsamen Interessen aller zu nutzen. 102 Siehe in Bezug auf den völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff auch Perrez, Cooperative Sovereignty, 244 ff. Auf den Umstand, dass der Gedanke der Souveränität der einzelnen Staaten „keinen absoluten und ewigen Wert“ habe, wies bereits Walther Schücking, in: FS Laband, 533 (612), hin: (Der Gedanke der einzelstaatlichen Souveränität) „ist heute noch ein politisches Dogma. Aber die Wissenschaft weiß, dass er zeitlich unter ganz besonderen Verhältnissen entstanden ist und deshalb mit einem gänzlichen Umschwung dieser Verhältnisse auch wieder verschwinden kann.“ In dieser Richtung auch Delbrück, in: Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 192 (192), wonach Souveränität (unter Berufung auf Friedrich August von der Heydte) als „Funktionsbegriff“, nicht als „Substanzbegriff“ aufzufassen sei: „Souveränität ist nicht Wesensgrund oder Gestaltungsprinzip des Staates, sondern nur Ausdruck für eine bestimmte Position des Staates im dynamischen Prozess der Geschichte“. Schließlich Hesse, in: Welt des Verfassungsstaates, 11 (14): „Angesichts seiner Einbindung in internationale Vertragssysteme, der Abhängigkeit seiner Wirtschaft von der Weltwirtschaft und deren Entwicklung, der nicht nur insoweit bestehenden Vernetzungen und Interdependenzen und der damit verbundenen wachsenden Schwierigkeit, innere und äußere Angelegenheiten voneinander zu trennen und autonom zu entscheiden, kann innere und äußere Souveränität der Sache nach nicht mehr sein als Resultat eines Wunschdenkens und Lebenslüge des Staates.“ Auch technologische Aspekte des gesellschaftlichen Wandels können Auswirkungen auf die staatliche Souveränität mit sich bringen; vgl. Engel, in: BerDGV 1999, 353 (insb. 389 ff., 398 f.), zum Beispiel des Internets.
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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gesehenen Sozialbindung und damit gewissen Allgemeininteressen unterworfen ist103, kann die Tragweite des völkerrechtlichen Souveränitätsbegriffs nur in Relation zum internationalen Gemeinwohl erfasst werden. Eine für die künftige Entwicklung des Völkerrechts wesentliche Frage ist allerdings, ob die hier skizzierte Sichtweise auch Chancen hat, sich universell durchzusetzen. In Bezug darauf ist nochmals an das unter dem Stichwort „Unilateralismus“ angesprochene Problem zu erinnern104, dass bestimmte Staaten vor allem danach trachten, partikuläre nationale Interessen durchzusetzen und ihre Machtbasis in der internationalen Gemeinschaft zu wahren und auszubauen. Genannt wurden in diesem Zusammenhang vor allem die USA, aber auch China und Indien im Hinblick auf kommende Szenarien globaler Machtverteilung. Gerade die beiden letztgenannten Staaten haben im Zuge ihrer wirtschaftlichen Entwicklung heute eine Position erlangt, in der sie ihres zunehmenden weltpolitischen Gewichts gewiss werden105. Ob sie gerade in diesem Moment bereit sind, sich von einem traditionellen Souveränitätsverständnis zugunsten einer offeneren Anschauung zu lösen, ist heute nicht zu beantworten, aber für die Entwicklung einer gemeinwohlorientierten konstitutionellen Völkerrechtsordnung von großer Bedeutung.
III. Ein „constitutional moment“ des völkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen Die angestellten Überlegungen zeigen, dass eine Weiterentwicklung konstitutioneller Gehalte des Völkerrechts auf die Fundamente eines sich öffnenden Selbstverständnisses der Staaten sowie eines sich stetig erneuernden Konsenses in Bezug auf die zu verfolgenden Gemeinwohlanliegen angewiesen ist. Hinsichtlich der Frage, auf welche Weise im Völkerrecht Entwicklungsschübe bei der Anerkennung konstitutioneller Inhalte ausgelöst werden können, haben Anne-Marie Slaughter und William Burke-White einen spezifischen Ansatz vorgestellt106. Ihr im vorliegenden Zusammenhang wesentlicher Gedanke ___________ 103 Dies gilt jedenfalls für die beiden Beispiele der schweizerischen Bundesverfassung (Art. 26 i.V.m. Art. 36 Abs. 2 BV) sowie des deutschen Grundgesetzes (Art. 14 Abs. 2 GG). Siehe hierzu auch die Ausführungen (mit entsprechenden Nachweisen) im 2. Kap., D. I. (a.E.). 104 Siehe vorne in diesem Kap., B. I. 105 Dazu Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Sicherheitsrisiko Klimawandel, 208 ff. 106 Siehe zum Folgenden Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (insb. 2, 21).
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
ist, dass die Einführung eines neuen Bausteins einer konstitutionellen Völkerrechtsordnung, konkret eines völkerrechtlichen Verfassungsprinzips, durch einen besonderen „internationalen Verfassungsmoment“ angestoßen werden kann. Dabei stützen sie sich auf ein der US-amerikanischen Verfassungstheorie entliehenes gedankliches Modell107: Danach komme bestimmten Situationen eine besondere konstitutionelle Wirkung zu, indem sie ein neues Paradigma hervorbrächten, welches wiederum neue (verfassungs-)rechtliche Maßnahmen erfordere. Ein solcher „constitutional moment“ stellt sich nach dieser Idee auf der nationalen Ebene etwa dann ein, wenn es einer politischen Bewegung gelingt, eine neue Problemstellung ins Zentrum des politischen Interesses zu rücken. Daraus wiederum resultiert im günstigen Fall eine normative Neuorientierung auf der Ebene des Verfassungsrechts (sei es durch die Entstehung einer neuen Norm oder durch die Veränderung einer alten). Slaughter und Burke-White ziehen aus diesem Ansatz für die Ebene der völkerrechtlichen Verfassungsordnung eine Parallele zum Terroranschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York: Danach hätte dieses Ereignis in seiner Einzigartigkeit die Wirkung eines Paradigmenwechsels (durch die Erkenntnis einer neuen Art von Konflikt mit globaler Bedeutung), der eine konstitutionelle Antwort nach sich ziehen muss (nämlich die Einführung eines neuen Verfassungsprinzips zum Schutz von Frieden und Sicherheit). Konkret fordern die Autorin und der Autor, dass ein Prinzip der Unantastbarkeit von Zivilpersonen („principle of civilian inviolability“) als Verfassungsprinzip der Völkerrechtsordnung anerkannt werde. Dessen Aufgabe wäre es, den in Art. 2 Abs. 4 UNO-Charta festgeschriebenen Verzicht der Mitgliedstaaten auf die mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt durch eine weitere Komponente zu ergänzen108. Der vorgestellte Ansatz nimmt primär auf sehr spezifische weltgeschichtliche Ereignisse Bezug, lässt sich aber ohne weiteres weiterdenken. So kann zunächst die Idee der Auslösung eines (konstitutionell wirksamen) völkerrechtlichen Konsensbildungsprozesses auf weitere historische Erfahrungen übertragen werden. Slaughter und Burke-White selbst weisen darauf hin, dass auch das Ereignis des Zweiten Weltkriegs einen derartigen (herausragenden) „völkerrecht___________ 107 Ebd., 1 (2, Fn. 4), unter Hinweis u. a. auf Ackerman, in: Fordham Law Review 1997, 1519 ff. 108 Slaughter/Burke-White, in: Harvard International Law Journal 2002, 1 (2), schlagen vor, Art. 2 Abs. 4 UNO-Charta durch folgenden Zusatz zu ergänzen: „All states and individuals shall refrain from the deliberate targeting or killing of civilians in armed conflict of any kind, for any purpose.“ Anlass hierfür biete die Erfahrung des 11. Septembers 2001, dass der grenzüberschreitende Terrorismus eine neuartige Dimension der Bedrohung für Zivilpersonen erreicht habe.
C. Durchsetzung konstitutioneller Normgehalte
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lichen Verfassungsmoment“ dargestellt habe109; dies, so lässt sich anfügen, indem damit jener Neubeginn des Völkerrechts in Gang gesetzt wurde, der die heute bestehende Basis für die Universalität der Völkerrechtsordnung legte110. Auch ist davon auszugehen, dass weitere historische Momente das Potential für eine ähnliche konstitutionelle Wirkung hatten111. Zu erwarten ist ferner, dass die Menschheit auch künftig mit derartigen entscheidenden Situationen konfrontiert sein wird. Mehr noch: Eine entsprechende Lage scheint in Bezug auf die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen in diesem Augenblick gegeben. Der Gedanke eines „völkerrechtlichen Verfassungsmoments“ lässt sich auf die heute bestehenden Herausforderungen übertragen, die mit dem Klimawandel in Verbindung stehen. Gestützt auf die von der Klimawissenschaft ermittelten Perspektiven für die kommenden Jahrzehnte ist – wie ausgeführt wurde112 – festzustellen, dass ein klimapolitischer Handlungsimperativ besteht. Angesichts der beschränkten Zeit, die zur Abwendung einer durch den Menschen nicht mehr kontrollierbaren Klimaveränderung bleibt, ist dieser Handlungsimperativ als absolut zu verstehen. Die naturwissenschaftlich zwingend zu erfüllende Vorgabe ist, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit eine globale Temperaturerhöhung über die kritische Schwelle von 2º Celsius gegenüber dem vorindustriellen Wert hinaus verhindert werden kann. Die Einsicht, dass ein „constitutional moment“ des völkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen bereits heute eingetreten ist, muss sich rasch und universell durchsetzen. Auf dieser Grundlage schiene es dann auch im Bereich des Möglichen, dass sich jener umfassende, alle Rechtsbereiche ___________ 109
Ebd., 1 (2). Vgl. dazu das 1. Kap., C. I. 2. 111 Als Kriterium für eine entsprechende Bewertung ließe sich formulieren, dass das fragliche Ereignis zu einem internationalen Konsens bezüglich einer grundlegenden und gehaltvollen Änderung des völkerrechtlichen Rahmens geführt hat. Dass ein derartiger Nachweis auf Schwierigkeiten stoßen kann, liegt auf der Hand und wird durch folgendes Beispiel belegt: Der Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki hat gerade nicht dazu geführt, dass heute ein internationaler Konsens hinsichtlich eines zwingenden Verbots der Drohung mit oder des Gebrauchs von Atomwaffen existieren würde. Siehe hierzu Werksman/Khalastchi, in: International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 181 (insb. 181, 198), auf der Grundlage einer Analyse des Gutachtens des IGH zur Frage der Legalität der Androhung des Einsatzes oder des Einsatzes von Atomwaffen (ICJ Rep. 1996, 226 ff.); Paech, in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 481 (insb. 493 f.); Tischler, Internationaler Gerichtshof zwischen Politik und Recht, 110 ff. Erwähnenswert ist, dass selbst Japan, als am unmittelbarsten betroffener Staat, aus Bündnisgründen keineswegs die konsequente völkerrechtliche Ächtung der Atomwaffen verlangt; dazu Shigeta, in: International Law, the International Court of Justice and Nuclear Weapons, 435 ff. 112 Hierzu im Einzelnen vorne in diesem Kap., B. II. 110
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5. Kap.: Hindernisse und Entwicklungsperspektiven
umschließende Konsens entwickelt, der eine Konstitutionalisierung der globalen Rechtsordnung tatsächlich lebendig werden ließe: Kraft der Einsicht, dass die Zukunft des Völkerrechts in der konsequenten Orientierung am globalen Gemeinwohl liegt.
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– Gemeineuropäisches Verfassungsrecht 144, 188 – Grundrechte-Charta 139, 153 – Klimaschutzpolitik 180 – Supranationalität 134, 166, 182 – Verfassungsprozess 128, 132, 137, 141, 175 Europäische Verfassung 132, 137, 141 Europäischer Verfassungsvertrag 128
Barcelona Traction-Fall 79, 80, 228, 472, 475 Bundesverfassung, schweizerische 29, 83, 291
Flexibilisierungsmechanismen 416, 429 – Clean Development Mechanism 416, 421, 428, 432 – Emissionsrechtehandel 418, 419 – Joint Fulfilment 416 – Joint Implementation 416, 421, 432 Friedmann, Wolfgang 27, 72, 88
Clash of Civilizations 30 common concern of humankind 221, 230 constitutional moment 68, 493, 495 Desertifikation 220, 262 domaine réservé 83, 89 Dworkin, Ronald 293, 302, 305, 322 EMRK 114, 186 – als Teilverfassung 115 Entkolonialisierung 66, 70 Entwicklungsländer, Verhältnis zu Industriestaaten 245, 266, 270, 284, 339, 372, 376, 379, 387, 412, 415, 421, 428, 437, 443, 463, 466, 488 erga omnes-Normen 80, 82, 88, 103, 109, 205, 271, 468, 470, 472, 474, 476, 480, 491 – auf Ebene von Prinzipien und Leitkonzepten 476 – im Umweltvölkerrecht 474 Europäische Union – Europäischer Verfassungsverbund 162, 168, 176, 187 – Frage der Staatlichkeit 129
Gabcíkovo/Nagymaros-Fall 27, 356, 395, 400, 480 Gemeinsinn 239, 256, 458 Gemeinwohl 27, 31, 35, 103, 172, 191, 197, 201, 204, 232, 283, 325, 348, 437, 448, 466, 486, 491 – Begriff 231 – inhaltliche Bestimmung als Grundproblem 231, 237, 244, 255 – Klimawandel 215, 437, 444, 465, 495 – Legitimationsprobleme 240 – Menschenrechte als Gemeinwohlbelang 206 – Missbrauch 234 – Umwelt als Gemeinwohlbelang 215 – Vereinbarkeit mit partikulären Interessen 421 – Vorrang globalen Gemeinwohls 465 – Wasserressourcen 218 Gemeinwohlkonzepte 237 Gemeinwohlorientierung 191, 201, 203, 231, 239, 256, 283, 317, 324, 329, 348, 362, 382, 400, 438, 449, 458, 484, 486, 488
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Sach- und Personenregister
– soziale Grundlagen 226 – Verhältnis zu Solidarität 258, 271, 281 Genozid-Konvention 112, 189, 211 good governance 243, 332, 334 Grotius, Hugo 38, 43, 86 Harmon-Doktrin 394 Hobbes, Thomas 39 Huntington, Samuel P. 30 Industriestaaten, Verhältnis zu Entwicklungsländern 30, 94, 245, 264, 266, 284, 335, 372, 376, 379, 383, 387, 421, 428, 437, 446, 463, 466, 487 Interdependenz 27, 30, 53, 195, 268, 391 Intergovernmental Panel on Climate Change 459 internationale Gemeinschaft 44, 69, 86, 103, 183, 226, 228, 255, 272, 465, 473 ius cogens 75, 80, 83, 88, 103, 205, 230, 310, 469, 470 joint régime 332, 334, 399 Kasikili/Sedudu-Fall 398 Klimaschutzkonvention 376, 411, 412, 423, 425, 458 – Vereinbarungen von Bonn und Marrakesch 426, 427, 437 – Vertragsstaatenkonferenzen 425, 441 Klimawandel 458 Kolonialisierung 41, 49 – territoriale Besitzergreifung 49, 87 Konstitutionalisierung 29, 32, 90, 95, 102, 108, 110, 126, 194, 201, 304, 448, 451, 466, 492, 496 – Begriff 95, 98, 110, 183, 191, 197, 198 – Europäische Union 126, 128, 137, 175 – Funktion von Legitimation 175, 188 – Gemeinwohlorientierung als Maßstab 197 – Grundelemente 169, 183 – Prüfungskriterien 198, 448 – Rolle der EMRK 114, 186 – Rolle hoheitlicher Gewalt 184
Konstitutionalisierungsprozess – Entwicklungsperspektiven 448, 451, 468, 484 – Funktion des Völkergewohnheitsrechts 314, 318 – Rolle des völkerrechtlichen Klimaschutzes 409, 444, 458 – Umweltschutz 328, 468 Konstitutionalisierungsthese 29 konstitutionelle Leitkonzepte 296, 332, 476, 477 – Nachhaltige Entwicklung 337, 354, 363 – Referenzwertfunktion 291, 294, 298, 319, 321, 351, 355, 406, 477 künftige Generationen 341, 363 Kyoto-Protokoll 181, 414, 415 Lac Lanoux-Fall 393 Maastricht-Urteil 129 Menschenrechte und Umweltschutz 223 Menschenrechtsschutz 82, 104, 112, 119, 206, 223, 254 Menschenwürde als Maßstab des Völkerrechts 253 Migration 82, 216, 220, 224, 464 Nachhaltige Entwicklung 287, 297, 299, 311, 332, 333, 337, 361, 362, 383, 406, 410, 446, 479 – Rechte künftiger Generationen 341, 487 Normenhierarchie des Völkerrechts 105 Normtheorie 286 – Bedeutung für das Völkerrecht 296, 302 – Kategorienbildung 286 – konstitutionelle Leitkonzepte 296, 318 – Normbegriff 289 – Prinzipien und Regeln 293, 300, 305, 308 – Richtlinien 311 – Struktur- und Leitprinzipien 290 Oppenheim, Lassa 58, 60, 66, 97 ordre public, völkerrechtlicher 108, 112 Partikularität des Völkerrechts 41
Sach- und Personenregister Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit 334, 372, 407, 410, 411, 442, 446, 488 Prinzip der gerechten Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen 335, 391, 407, 410, 473 Prinzipien 293, 298, 300, 305, 320, 332, 476 Rechtsquellenlehre, völkerrechtliche 110 Reformvertrag von Lissabon 132, 143, 157 Regeln 293, 300, 305, 308, 320, 331 Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 122, 261, 338, 355, 375, 385 Schücking, Walther 52, 66 Sklavenhandel 46 soft law 303, 306 Solidarität 57, 258, 265, 278, 281, 326 – internationale Praxis 259, 265 – Verhältnis zur Gemeinwohlorientierung 258, 271, 281 Solidaritätskonzepte 274 Souveränität 54, 65, 83, 90, 102, 162, 489, 492 – aufgeklärtes Souveränitätsverständnis 488 Spinoza, Baruch de 39 Staatensukzession 208, 214 Stockholmer Konferenz über Umwelt und Entwicklung 261, 341, 385 Struktur- und Leitprinzipien 290, 299 Suárez, Francisco 36, 37, 43, 86 Terroranschläge 30, 92, 494 Umweltschutz und Menschenrechte 223 Unilateralismus 451 – USA 453 – Zukunftsszenarien 456 Universalität des Völkerrechts 34, 51, 69, 80, 88, 98, 495
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USA 29, 46, 234, 394, 422, 444, 453, 456 Vereinte Nationen 67, 70, 196, 207, 242, 482 – Charta 33, 67, 100, 124, 207, 253, 259, 269, 297 – Sicherheitsrat 187, 459, 482 Verfassung – Begriff 98, 169, 191, 197 Vitoria, Francisco de 34, 37, 43, 86 Völkerbund 55, 56, 63 Völkergewohnheitsrecht 308, 315, 316, 323, 354, 486, 491 Völkerrecht – constitutional moment 68, 493, 494, 495 – europäisch-christliche Dominanz 43, 86 – Geschichte 34 – Koexistenzvölkerrecht 72 – Kooperationsvölkerrecht 72 – Partikularität 41 – Rolle der Kolonialisierung 41, 49, 66, 70 – Universalität 34, 51, 69, 80, 88, 98, 495 – Zukunft 458 Vorbehalte zu Verträgen 89, 107, 208 Vorsorgeprinzip 301, 334, 358, 406, 410, 444, 445, 449, 479, 487 Wasserressourcen 218 Weeramantry, Christopher 27, 212, 349, 399, 480 Weltkriege 52, 56, 67 Wirtschaftsvölkerrecht 123 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 459 WTO-Vertrag 123, 186 Wüstenbildung 220, 262 zwingendes Völkerrecht 75, 80, 83, 88, 103, 205, 230, 310, 469, 470