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German Pages 286 Year 2021
Konfessionspolitik und Medien in Europa 1500–1700
Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Claus-Michael Ort
Band 4
Konfessionspolitik und Medien in Europa 1500–1700 Konflikte, Konkurrenzen, Theorien
Herausgegeben von Kai Merten und Claus-Michael Ort
ISBN: 978-3-11-072517-9 ISBN (PDF): 978-3-11-072519-3 ISBN (EPUB): 978-3-11-072525-4
Library of Congress Control Number: 2021935651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zum Thema ‚Religiöse Medienkonflikte in der Frühen Neuzeit‘ zurück, die vom 27. bis zum 29. September 2017 im Rahmen des Reformationsjubiläums im Herzog-Ernst-Kabinett der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein stattfand. Ursprünglich wurde die Thematik von Claus-Michael Ort und mir im Rahmen des Forschungszentrums ‚Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit‘ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entwickelt. Nach meinem Wechsel an die Universität Erfurt fand das Thema eine neue Heimstatt im Forschungszentrum Gotha. Die Tagung wurde dankenswerter Weise vom Forschungszentrum und von der Forschungsbibliothek Gotha mitorganisiert und unterstützt. Wir danken alle Referentinnen und Referenten für ihre Vorträge und die anregenden Diskussionen. Um die Anzahl der nach der Tagung eingereichten Beiträge zu einem umfassenden Band erweitern zu können, beschlossen wir, in einem weiteren Anlauf eine Gruppe von eigens geschriebenen Kapiteln anzuwerben. Für diese Kapitel möchten wir Corinne Bayerl, Nicola Glaubitz, Frank Nagel und Matthias Rekow herzlich danken. In der nun vorliegenden Form entwickelt der Band eine umfassende Perspektive auf Konfessionspolitik und Medien in Europa in der Frühen Neuzeit. England, Frankreich, Spanien und die Niederlande sowie der deutschsprachige Raum kommen in den Blick; die Medien Stimme, Schrift, Bild und Theaterbühne werden thematisiert. Historischer Ausgangspunkt ist die Luthersche Reformation, deren konfessionspolitische Auswirkungen in vielen Regionen Europas spürbar waren. Kulturelle und mediale Praktiken gerieten in die Reichweite dieser Ereignisse, sofern sie der Kommunikation religiöser Inhalte sowie damit verbundener fundamentaler kollektiver und individueller Identitätselemente dienten. Zu Zerstörung, Korrektur und Zensur von Medien kamen umfassende Kontroversen über Medien und Religion, die von grundsätzlicher Ablehnung von Medien als ‚gefallener Materie‘ bis zur Verteidigung ihrer metaphysischen Qualitäten reichten. Flankiert wurde medienbezogene Konfessionspolitik mithin von einer Theologie der Medien, was seinen Niederschlag in der Einteilung des Bands findet. Seine Entstehung wäre nicht möglich gewesen ohne die akribische redaktionelle Bearbeitung durch Alexandra Fischer (Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel). Auf Erfurter Seite ist Stephanie Roy für die Schlussredaktion zu erwähnen. Ihnen sei herzlichst gedankt! Zu danken haben wir auch den Mitherausgebern der Reihe ‚Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit‘ Thorsten Burkard, Markus Hundt und Steffen Martus für die Aufnahme unseres Sammelbandes in ihre Buchreihe. Dem Verlag de Gruyter und insbesondere Bettina Neuhoff gilt schließlich unser Dank für die kompetente und geduldige Unterstützung bei der Publikation eines Buches in epidemischen Zeiten. Erfurt und Kiel im Februar 2021 Kai Merten und Claus-Michael Ort https://doi.org/10.1515/9783110725193-201
Inhalt Vorwort
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Claus-Michael Ort / Kai Merten Medien und Religion Medienwissenschaftliche, zeichentheoretische und diskursgeschichtliche Annäherungen 1
Konfessionspolitik als Medienpolitik: Konflikte, Konkurrenzen, Synthesen Gabriele Müller-Oberhäuser Verbrennen oder korrigieren Bücherverbrennungen und Bücherverstümmelungen in England unter Heinrich VIII. 39 Kai Bremer Bildpropaganda im Konflikt Der Streit um das ‚Prager Bild‘ 1585
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Matthias Rekow Zwischen Propaganda, Polemik und Programmatik Das Bild des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen in der Flugpublizistik des Dreißigjährigen Krieges 75 Christian Mühling Die französische Tagespublizistik unter Ludwig XIV. Im Spannungsfeld von innerer Kirchen- und europäischer Mächtepolitik Nicola Glaubitz Ben Jonsons Volpone (1605/1606) und der Gunpowder Plot Staatliche und religiöse Medienpolitiken auf der Bühne 116 Corinne Bayerl Theaterfeindschaft ohne Grenzen Interkonfessioneller Wissenstransfer in Theaterdebatten des späten 17. Jahrhunderts 130
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Inhalt
Johann Anselm Steiger Mediensynthese und Konflikte Der Heilige Perlen-Schatz des Kopenhagener Theologie-Professors Johannes Lassenius und die Emblemausstattung der Kirche zu Mellenthin (Insel Usedom) 149
Theologie der Medien: Stimme, Schrift, Bild Frank Nagel Irenische Phantasie Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift in Constantino Ponce de la Fuentes Suma de doctrina cristiana (1543) 183 Stephanie Wodianka Die Stimme der Betrachtung Medienkonflikte in der romanischen Meditationsliteratur
199
Dieter Fuchs Vorreformatorische Bildkultur und reformatorische Wortkultur in Shakespeares Hamlet 215 Ralf Haekel „Likening spiritual to corporal forms“ Überlegungen zu einer Lektüre von John Miltons Paradise Lost als frühneuzeitlicher Theorie der Mediation 232 Ulrich Heinen Gottes Selbstoffenbarung – Ursache und Versöhnung konfessioneller Medienkonflikte Artus Wolfforts Heilige Dreifaltigkeit als metamediale Reflexion 250 Abbildungsverzeichnis
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Bio-Bibliographische Angaben Register
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Claus-Michael Ort / Kai Merten
Medien und Religion
Medienwissenschaftliche, zeichentheoretische und diskursgeschichtliche Annäherungen
1 Religion und Medienwissenschaft: Starker und schwacher Medienbegriff Das Verhältnis von Religion und Medien fasziniert seit Jahrhunderten. Mit der Begrifflichkeit ‚Medium‘ und unterschiedlichen Theorien zu Medien und Medialität wird allerdings verstärkt seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gearbeitet, seit nämlich eine u.a. in den Literatur- und Kulturwissenschaften entstandene Medienwissenschaft es unternimmt, die unterschiedlichen kommunikativen Praktiken des Menschen in ihrer historischen Abfolge zu rekonstruieren und systematisch vergleichbar zu machen. Im Zuge dieser Rekonstruktionen und Systematisierungen konnte es nicht ausbleiben, dass das enge Verhältnis von religiösen und kommunikativen Praktiken zum Tragen kam, insbesondere dann, wenn medienwissenschaftliche Fragen ihren Ausgangspunkt nicht erst in der Entwicklung von photographischen und elektr(on)ischen Medien nahmen, sondern auch frühneuzeitliche Diskussionen über die Kommunikation des Transzendenten betrafen. Gerade in letzter Zeit hat die Medienwissenschaft ihre theologische Tiefendimension verstärkt in den Blick genommen, bisweilen unter Mithilfe von Religionswissenschaft und (Bild-)Theologie. In seinem Buch Die mediale Religion leitet der Religionswissenschaftler Oliver Krüger den Zusammenhang zwischen Religion und Medien schon alleine aus der Tatsache her, dass der Begriff des Mediums in seinem Ursprung von einem Theologen geprägt worden sei. Thomas von Aquin übersetzt in seiner lateinischen Version von Aristoteles’ Peri Psyches (de anima) den „unbenennbaren“ bzw. „durchsichtigen“ stofflichen Träger des Sehens (griech. ‚anonymon‘ bzw. ‚diaphanes‘) mit „medium“.1 Diese Übersetzung machte den Begriff in den europäischen Wissenschaften wirkmächtig, da sie in den Kanon der Schul- bzw. Universitätslektüre Eingang fand. Zusätzlich befrachte der Text einen Bereich, dessen Materialität bei Aristoteles im Vagen verbleibe, mit einer Stofflichkeit, die typisch für die „christlich abendländische Ontologie“2 sei. 1 Krüger, Oliver: Die mediale Religion. Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung. Bielefeld 2012. S. 15f. mit Bezug auf Hagen, Wolfgang: Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff. In: Was ist ein Medium? Hrsg. von Stefan Münker u. Alexander Roesler. Frankfurt/M. 2008. S. 26–28. 2 Hagen, Metaxy (wie. Anm. 1), S. 28. https://doi.org/10.1515/9783110725193-001
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Ebenfalls religiös konnotiert sei der Begriff des Mediums, so Krüger, in der deutschen Romantik, allen voran bei Friedrich Schleiermacher. Dieser postuliere eine Hierarchie der menschlichen Gotteserfahrung, die von einer „Sprache des Schweigens“3, über Musik und die menschliche Stimme bis hinab zum geschriebenen Wort reicht, wobei aber, so Schleiermacher, „in Büchern […] [zuviel] von dem ursprünglichen Eindruck in diesem Medium [verloren geht]“.4 Der Medienbegriff, den Schleiermacher in diesem Zusammenhang einführt, ist hier also mit Religion enggeführt, was, so Krüger, eine unauflösbare Grundspannung, aber eben auch Verbindung von Medien und Religion dokumentiere und fortschreibe – letzteres sowohl in Richtung Religionswissenschaft, die Schleiermacher mitbegründet habe, als auch in Richtung Kultur- und Medienwissenschaft. Dabei künde der Begriff des Mediums schon immer von einer problematischen und konfliktbeladenen Konstellation, nämlich von der Frage, wie die Vermittlung des Transzendenten an den Menschen zu geschehen habe, was (oder wer) sie vornehmen dürfe und wie sie zu beglaubigen sei. Religion und Medien gehen für Krüger also immer schon zusammen, tun dies aber nicht ohne Reibungsverluste auf beiden Seiten und nicht ohne Konflikte zwischen den Mediennutzern. Diese Gemengelage ist das Thema des vorliegenden Sammelbandes, der sich mit konfessionspolitischen Konfliktlinien innerhalb der christlichen Religion der Frühen Neuzeit beschäftigt. „Medien und Religion stehen in einem engen Zusammenhang; sie sind historisch wie systematisch aufeinander bezogen“, stellt auch die Literaturwissenschaftlerin Linda Simonis in einem 2019 erschienen Tagungsband zu Medien und Religion fest.5 Für Simonis ist dieser Zusammenhang vor allem in „Formen von Medialität [gegeben], in denen nicht Menschen als Akteure oder aktive Nutzer erscheinen, die sich Medien zu eigen und von ihnen Gebrauch machen, sondern in denen sie vielmehr zu Objekten von Medien werden und sich von diesen beeinflussen, affizieren und verändern lassen.“6 Simonis’ Beispiele für eine derartige Medialität reichen von der antiken Vorstellung der metaphysischen Inspiration des Ependichters (der dergestalt zum Medium, nicht zum Autor des Epos werde), über das Orakel mit seiner gött-
3 Krüger, Mediale Religion (wie Anm. 1), S. 16. 4 „Vierte Rede“ in Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799]. Mit einem Nachwort von Carl Heinz Ratschow. Stuttgart 2007. S. 117–156, hier S. 120; s. erneut Krüger, Mediale Religion (wie Anm. 1), S. 16; zu Schleiermachers Konzeption von ‚Kunstreligion‘ und zur Re-Sakralisierung der ‚schönen Literatur‘ seit Klopstock, Wackenroder u. Tieck s. ansonsten Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen. In: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Hrsg. von Albert Meier, Alessandro Costazza u. Gérard Laudin. Berlin, New York 2010, S. 11–27 sowie ferner Scholtz, Gunter: Das Bild im Denken Schleiermachers. In: Handbuch der Bildtheologie. Band I: Bild-Konflikte. Hrsg. von Reinhard Hoeps. Paderborn 2007, S. 286–299. 5 Simonis, Linda (Hrsg.): Medien und Religion: Ansätze zu einem interdisziplinären Forschungsprogramm. Bielefeld 2019. S. 7. 6 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 9.
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lichen Affizierung der Priester und Priesterinnen bis hin zu „Trance-Medien“7, also zu Menschen unter Hypnose im Schamanismus und in spiritistischen Séancen.8 In all diesen Bereichen werden nicht oder nicht nur Inhalte übertragen, sondern „vielmehr ein spezifischer Modus des Affiziertseins“.9 Diese Art der (religiösen) Medialiät, Simonis nennt sie „heteronom“10, stehe im Gegensatz zu „herkömmliche[n] Auffassungen von Medien“11, finde sich zugleich aber in der neomaterialistischen Medienkonzeption von Marie-Luise Angerer sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour.12 Einen vergleichbaren Medienbegriff mit Bezug auf Religion vertritt auch die von Simonis nicht erwähnte Utrechter Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Birgit Meyer. Für Meyer ist Religion (buchstäblich) verkörpert in „sensational forms“, die sowohl eine Vermittlungs- als auch ein Erfahrungsdimension besitzen bzw. ermöglichen.13 Wie Angerer ist auch Meyer in ihrer Forschung sowohl an den körperlichen Wirkungen als auch den körperlichen Ausdrucksformen des Religiösen interessiert, die in bestimmten kulturellen Praktiken zum Ausdruck kommen, dabei aber auch den religiös affizierten Körper des einzelnen Gläubigen und der gesamtem Glaubensgemeinschaft gleichermaßen betreffen: Medien bzw. Medialisierungen14 des Religiösen sind für sie neben den stofflichen Kommunikatoren religiöser Inhalte v.a. die unterschiedlichen und unterschiedlich affizierten Körper einer Religionsgemeinschaft. In diesem Zusammenhang spricht Meyer von der “triple role of the body as a producer, transmitter and receiver of the transcendent”.15 Was Simonis und Meyer hier als Zusammenhang von Religion und Medien skizzieren, ist kein völlig neuartiger Ansatz von Medium und Medialität, sondern schlichtweg das, was die Medientheorie als starken Medienbegriff kennt – ein solcher nämlich, der dem Medium die Kraft zutraut, sowohl die Botschaft als auch die an ihrer Übermittlung beteiligten Menschen zu beeinflussen bzw. zu prägen. Im Gegensatz zu diesem steht ein schwacher Medienbegriff, der die sendende und die empfangende Instanz als aktiv und souverän am Medienprozess partizipierende entwirft und 7 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 12. 8 Simonis’ Beispiele entstammen allesamt dem Bereich antiker bzw. (neo-)paganer Religionen. Allerdings enthält der Band, der von Simonis‘ Konzept religiöser Medialität eröffnet wird, mit den Beiträgen von Oliver Fahle und Oliver Krüger auch Analysen christlicher Praktiken (Simonis, Medien [wie Anm. 5], S. 65–112). 9 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 10. 10 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 9. 11 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 12 12 Simonis, Medien (wie Anm. 5), S. 13f. 13 Meyer, Birgit: Mediation and the Genesis of Presence: Towards a Material Approach to Religion. Utrecht 2012. S. 26. 14 Meyer spricht neben Medien auch von „mediations“ des Religiösen, um die komplexen und dynamischen Zusammenhänge von religiösen Inhalten mit deren ritueller Umsetzung und körperlicher Wahrnehmung in Glaubensgemeinschaften in den Blick zu bekommen (Meyer, Mediation [wie Anm. 13], S. 26). 15 Meyer, Mediation (wie Anm. 13), S. 28.
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das Medium eher als Werkzeug der Kommunikation zwischen ihnen.16 Einen solchen Medienbegriff vertritt letztlich Krüger, wenn er in der oben referierten Geschichte der (religiösen) Medientheorie die Frage stellt, welche Werkzeuge dem Menschen die metaphysische Wahrheit am ehesten nahebrächten.17 An diesem Punkt zeichnet sich also bezüglich der Theorie religiöser Medialität ab, dass das Thema Religion für die Medientheorie insofern als relevant bzw. sogar fundamental angesehen werden kann, als es ganz unterschiedliche, aber gleichermaßen zentrale Medienkonzepte historisch herzuleiten und systematisch einsichtig zu machen hilft. Wie wir im Laufe der systematischen und historischen Annäherungen in dieser Einleitung sehen werden, spielt gerade die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Medien(typen) in den Debatten um religiöse Kommunikation seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle. Das Christentum als Medienreligion konzipiert insbesondere der Literatur- und Kulturwissenschaftler Jochen Hörisch. Wie Krüger geht auch Hörisch von der Frage aus, welche Kommunikationstechnologien metaphysischen Sinn vermitteln können, und ähnlich wie Krüger folgt er dabei (zumeist) einem schwachen Medienbegriff, der Medien in der berühmten, von Hörisch aufgegriffenen Formulierung des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan als Erweiterung des Menschen, „extension of man“,18 begreift. Dichter wird seine Betrachtung religiöser Medialität aber da, wo er, wie im Abendmahl oder der Figur Jesu Christi, von einer Verschränkung von Medium und Botschaft ausgeht und auch dafür McLuhan, diesmal „the medium is the message“,19 bemüht. Christus sei, als Fleischwerdung von Sinn, zugleich der Vermittler und der Inhalt der Frohen Botschaft.20 Tatsächlich ist in der Reformation die Mittlerrolle Jesu mit Bezug auf den ersten Brief des Paulus an Timotheus (1. Tim 2,5) intensiv diskutiert worden. Vor allem die Lutheraner sahen die Übersetzung Martin Luthers („es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus“)21 als buchstäblich mediale Legitimierung Christi an und 16 Zur Unterscheidung von starkem und schwachem Medienbegriff vgl. etwa Schulte-Sasse, Jochen: Medien/medial. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4. Hrsg. von Karlheinz Barck u.a.. Stuttgart 2010, S. 1–38, v.a. S. 1–3. 17 Vgl. zu einem solchen Medienbegriff die Adiaphora-Lehre sowie die protestantische Medientheorie der Frühen Neuzeit insgesamt. Dieser geht es fast immer um die Frage, welches menschliche Werkzeug die Übermittlung von Gottes Botschaft am getreulichsten leiste (dazu Höpner, Anika: Gesichte. Lutherische Visionskultur in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2017). Ein Spezialfall starker Medialität auch im protestantischen Diskurs stellt allerdings der Gedanke dar, Jesus Christus selbst sei ein Medium Gottes. 18 So der Untertitel von: McLuhan, Marshall: Understanding Media. New York 1964, von Hörisch als „extension of men“ wiedergegeben (Hörisch, Jochen: IV. Schnittstellen. 1. Theologie. In: Handbuch Medienwissenschaft. Hrsg. von Jens Schröter, Simon Ruschmeyer u.a. Stuttgart 2014, S. 373–376, hier S. 374). 19 Zit. nach Hörisch, Theologie (wie Anm. 18), S. 373. 20 Hörisch, Theologie (wie Anm. 18), S. 373. 21 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. [Lutherbibel. Standardausgabe]. Stuttgart 1985, S. 248.
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zugleich als Verbot bzw. Einschränkung aller anderen Medien – mit Ausnahme von Luther selbst.22 Hörisch berührt hier einen starken Medienbegriff, da er Christus als Medium diskutiert – aber eben nur Christus. Dass auch die Gläubigen, z.B. im Abendmahl, Übertragungskanäle oder hochaffizierte Mediationen christlicher Glaubensinhalte werden können, arbeitet er nicht heraus. Stattdessen betet er, wenn das Wortspiel erlaubt ist, am Abendmahl all jene Charakteristika des Medialen herunter, die den schwachen Medienbegriff ausmachen:23 Die Eucharistiefeier überbrücke die Abwesenheit (Jesu Christi); sie diene der Datenverarbeitung, näherhin dem Speichern, Übertragen (Frohe Botschaft) und Bearbeiten24 von Daten; sie plausibilisiere Unwahrscheinlichkeit, sowohl inhaltlich (dass Gott Mensch wird, dass das Brot Jesu Leib wird) als auch kommunikativ (die unwahrscheinliche Koppelung von Sein und Sinn25); das Abendmahl koordiniere, so Hörisch, menschliche Interaktion; es strukturiere Zeitlichkeit (Erinnerung wird mit zukünftiger Erlösung verknüpft) und verschaffe zuletzt, wie das Medium Christus, Zugang zur knappen Ressource ‚Sinn‘.26 Wie Krüger betont Hörisch die Grenzen und Problematiken religiöser Medialität. Christliche Medialität sei mit dem Verlust göttlicher Unmittelbarkeit durch den Sündenfall verbunden. Christus werde auch deshalb zum (vermeintlich starken) Medium, so Hörisch mit Bezug auf Matthias Wallich, weil es „es Reste und Paradoxien gibt, die selbst ein allmächtiger Gott nicht vermitteln kann“27. Aus Kommunikation werde doch nie Kommunion, so Hörisch in Absage an die Hoffnung auf ein starkes Medium des Religiösen. Dadurch bleibt das Christentum für Hörisch unhintergehbar medial und folglich konfliktbeladen: Was stets innerweltlich zwischen Menschen kommuniziert werden muss, kann nie vollständig beglaubigt werden. Auf diese konfliktuale Medialität weisen schon der ‚gefallene Engel‘ und die ‚Schlange‘ hin – als Figuren eines negativen Medialen im Sinne der Übertragung wie auch der Botschaft. Der gelingenden symbolischen Kommunikation droht im Christentum immer auch ihre Kehrseite im Diabolischen.28 Ein anderer Aspekt der Konfliktualität christlicher Medialität besteht für Hörisch in der Konkurrenz der Kirche als „Medieninstitution schlechthin“ zu anderen Medien22 Vgl. Puff, Helmut, Ulrike Strasser u. Christopher Wild (Hrsg.): Cultures of Communication: Theologies of Modern Media in Europe and Beyond. Toronto 2017. S. 12. 23 Zusammengestellt nach Hörisch, Theologie (wie Anm. 18), S. 374 und Hörisch, Jochen: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt/Main 2004. S. 20–22. 24 Hörisch spezifiziert dies dahingehend, dass das Abendmahl konfessionell unterschiedlich kodiert werden könne (Hörisch, Gott [wie Anm. 23], S. 20). 25 Hörisch; Jochen: Eine Geschichte der Medien: von der Oblate zum Internet. Frankfurt/Main 2009. S. 43. 26 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicola Glaubitz im vorliegenden Band. 27 Hörisch, Theologie (wie Anm. 18), S. 376; vgl. Wallich, Matthias: @-Theologie – Medientheologie und Theologie des Rests. St. Ingbert 2004 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 34). 28 Vgl. Puff, Cultures (wie Anm. 22), S. 6.
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systemen. Hörisch spricht hier ein wenig pauschal davon, die Kirche „zensiere […]“29 andere Medien, und zielt damit einerseits wohl auf christliche Theater- und Vergnügungsverbote ab, die oftmals von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Regierungen mitgetragen worden sind, und andererseits auf inner- und zwischenkirchliche Konflikte über liturgische Medialität, wie sie auch im vorliegenden Band thematisiert werden.30 Der Gedanke der Medienkonkurrenz zwischen christlichen und weltlichen Mediensystemen ist aber auch insofern interessant, als er eine Gemengelage religiöser Medienkonflikte in den Blick bekommt, die hauptsächlich die heutige Zeit betrifft. In ihrem Band Media, Religion and Conflict analysieren Lee Marsden und Heather Savigny31 insbesondere die Instrumentalisierung von Religion als Sensations- und Ideologielieferant in den (einem Begriff der Kommunikationswissenschaft folgend) ‚Massenmedien‘ der Gegenwart. So werden die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche von einigen Zeitungen und Fernsehsendern bei aller Aufklärungspflicht durchaus voyeuristisch aufbereitet. Daneben dient, und dieses Beispiel interessiert Marsden und Savigny in ihrem Band primär, die ‚scheinheilige‘ Beschwörung eines christlichen Weltbildes vor allem konservativen amerikanischen news media dazu, einen ‚christlichen Konflikt‘ mit ‚dem Islam‘ zu postulieren und zu konstruieren. Solche Religionskonflikte sind medial, da sie in Massenmedien erzeugt werden, und sie zeigen mahnend auf, dass der Begriff des ‚Religionskonflikts‘ im Hinblick auf ‚eigene‘ und ‚fremde‘ Medialität jeweils sorgfältig historisch zu kontextualisieren ist.32 Die Geschichte konfessionell überformter Medienkonflikte bis heute zeigt, dass schon innerhalb des Christentums kaum Konsens über fundamentale theologische Grundfragen besteht und ein monolithisch kohärentes ‚westliches‘ Christentum nicht existiert, das gegen einen ‚östlichen‘ Islam ausgespielt werden könnte. Gerade in der Frühen Neuzeit gewinnen innerchristlichen Medienkonflikte historische Tiefe und Gestalt insbesondere an der Frage des sakralen Bildes als ‚starkes‘ oder ‚schwaches‘ Medium. Seit der Spätantike verhandelt der Diskurs über Bilderfeindlichkeit und Bilderverehrung Prozesse der Zerstörung und Belebung vergänglicher, unbelebter oder sterblicher Repräsentanten göttlicher Wesenheiten, die potentiell als undarstellbar definiert werden oder einem Abbildungstabu unterliegen. Zwar sehen sich Religionen grundsätzlich mit dem Problem der welt-immanenten Repräsentation transzendenter Größen durch materielle Medien und der Verkörperung von
29 Hörisch, Theologie (wie Anm. 18), S. 374. 30 Hörisch unterscheidet an anderer Stelle sehr wohl zwischen einem protestantischen und einem katholischen Mediensystem (Hörisch, Theologie [wie Anm. 18], S. 374f.), ersteres mit Rückkopplung zwischen Sendern und Empfängern im Gegensatz zu einer Einbahnkommunikation im Katholizismus. 31 Marsden, Lee u. Heather Savigny (Hrsg.): Media, Religion, and Conflict. Farnham 2009. 32 Vgl. dazu die Podiumsdiskussion in Mohn, Jürgen u. Hubert Mohr (Hrsg.): Die Medien der Religion. Zürich 2015 (CULTuREL 6). S. 243–268.
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logos durch eikon, konfrontiert.33 Durch die „religionsphänomenologische Besonderheit des christlichen Monotheismus“, also durch seine „trinitarische Wendung“ wird dieses Problem aber bildtheologisch und zeichentheoretisch potenziert.34 Mehr als vorläufige kursorische Anmerkungen hierzu sind im Folgenden weder beabsichtigt noch möglich, zumal das von Norbert Schnitzler schon 2002 beklagte diskursgeschichtliche Desiderat noch nicht gänzlich behoben scheint, dass es nämlich „nach wie vor keine gründliche diskursanalytische Untersuchung der Bilderkontroversen des 16. Jahrhunderts“ gebe, „die auch deren Voraussetzungen im 14. und 15. Jahrhundert berücksichtigen würde“.35 Die interdisziplinäre Forschungslandschaft der von diesem Desiderat betroffenen Gegenstandsbereiche, ihre historische Vielschichtigkeit und theoretische Komplexität können daher im Folgenden nur in einzelnen Schlaglichtern erschlossen werden.
2 Bilder und Erzählungen vom ‚Bilderstürmer‘ – ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert Ein bärtiger Mann steht hinter dem Rücken einer gekrönten Frau, die ein Kleinkind auf dem Arm trägt, und holt zu einem Säbelhieb aus, der ihr den Schädel zu spalten droht. Die vor-ikonographische Beschreibung eines Holzfigurenpaares aus dem Jahr 1614 ruft im räumlichen Kontext des Ensembles an der nördlichen Chorseite der Pfarr-, Kloster- und Wallfahrtskirche Mariä Geburt in Neukirchen beim Hl. Blut im Nordosten des Bayerischen Waldes ikonographisches Wissen über ein „konventionales Sujet‘ auf:36 Der Angreifer erweist sich nicht als Mörder, sondern als Bildfrevler, 33 Vgl. Hofmann, Peter: BildTheologie. Position – Problem – Projekt. Paderborn 2016, S. 17–66 sowie v.a. Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. 2. Aufl. München 2006. S. 45–132; eine Erweiterung des Medienspektrums wie etwa in Mohn / Mohr, Medien (wie Anm. 32) kann die zeichentheoretische Grundlagenreflexion nicht ersetzen; s. aber Wallich, @-Theologie (wie Anm. 27), dessen Medienanthropologie im Anschluss an Derrida, Lacan und Žižek eine nicht-präsentische ‚Theologie des Begehrens’ entwirft. 34 Stock, Alex: Poetische Dogmatik. Gotteslehre. 3. Bilder. Paderborn 2007. S. 9; vgl. auch Nordhofen, Eckhard: Die Konkurrenz der Gottesmedien. In: Christusbild. Icon + Ikone. Wege zu Theorie und Theologie des Bildes. Hrsg. von Peter Hofmann u. Andreas Matena. Paderborn 2010. S. 15–30; Hörisch, Jochen: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt/M. 2001. S. 312 attestiert dem Evangelium nach Johannes gar eine „outriert kommunikations- und medienfetischistisch[e]“ Theologie. 35 Schnitzler, Norbert: Der Vorwurf des ‚Judaisierens‘ in den Bildkontroversen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle, André Holenstein u.a. München 2002 (Historische Zeitschrift Beihefte NF 33). S. 333–358, hier S. 342. 36 Im Sinne von Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie [1939/1955]. In: Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Hrsg. von Ekkehard Kaemmerling. Köln 1979 (Bildende
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der sich anschickt, eine Holzfigur der Muttergottes mit Jesuskind – das ‚Bild‘ im Bild – zu zerstören (Abb. 0.1).
Abb. 0.1: Neukirchen b. Hl. Blut.
Eine ‚ikonologische‘ Anschlussinterpretation bettet die Figurengruppe, die auf einem Granitopferstock steht, in ein regional variables Diskursnetz aus sich gegenseitig beglaubigenden Bildern und Narrationen über Bildfrevel, Mirakel und Bekehrung ein, das die Entstehung der aus einer älteren Hostienwallfahrt im 15. Jahrhundert hervorgegangen Neukirchener Marienwallfahrt betrifft.37 Nach einem wunderbaren Kunst als Zeichensystem 1). S. 206–225, hier S. 210, auch S. 223; zum theoretischen Hintergrund einer bildwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft nach pictorial und iconic turn s. Bräunlein, Peter J.: Bildakte. Religionswissenschaft im Dialog mit einer neuen Bildwissenschaft. In: Religion im kulturellen Diskurs. Religion in Cultural Discourse. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. von Brigitte Luchesi und Kocku von Stuckrad. Berlin, New York 2004. S. 195–231, zu Warburg, Panofsky und Belting S. 204–211; s. aus katholisch ‚bildtheologischer‘ Perspektive Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 17–66. 37 Michel Foucault bleibt sprachzentriert, deutet aber eine bildwissenschaftliche Erweiterung seiner ‚Wissensarchäologie‘ an: „Panofsky hebt das Privileg des Diskurses auf. Nicht um Autonomie für das plastische Universum zu fordern, sondern um die Komplexität der Beziehungen zu beschreiben: Überschneidung, Isomorphie, Transformation, Übersetzung, kurz: das ganze Feston des Sichtbaren
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Hostienfund wird eine Kapelle errichtet, deren Marienfigur um 1450, so die Legende des 17. Jahrhunderts, von einem bilderfeindlichen Böhmen mehrmals vergeblich in einem Brunnen versenkt worden sei, worauf er ihren Kopf mit dem Säbel gespalten habe und seine Flucht zu Pferde angesichts der blutenden Madonna auf wundersame Weise misslungen sei, gefolgt von der Bekehrung des gescheiterten Bilderstürmers und zukünftigen Wallfahrers.38 Das Figurenensemble mit der ältesten Kopie des über dem Tabernakel im Hochaltar ausgestellten, prächtig eingekleideten Gnadenbildes illustriert ein zentrales Ereignis der Legende, die das Original – eine Holzmadonna aus Böhmen (um 1400) – als Relikt einer versuchten Bilderzerstörung deutet.39 Die Erzählung integriert das Bildwerk in die Ereignisabfolge einer Geschichte, deren Nukleus 1590 in einem Visitationsbericht erstmals schriftlich belegt ist, 1611 in einem Mirakelbericht von Martin Huetter legendenhaft ausgeschmückt und 1640 von Roman Sigl zum ‚Roman‘ eines explizit von einem ‚Hussiten‘ begangenen Bilderfrevels erweitert, also konfessionspolitisch im Sinne der Gegenreformation zugespitzt wird.40 Das 18. Jahrhundert ergänzt sie um weitere ‚historische‘ Einzelheiten; so sei die Madonnenfigur selbst bereits im frühen 15. Jahrhundert während der Hussitenkriege vor Bilderstürmern ‚gerettet‘ und in Neukirchen versteckt worden.41
und des Sagbaren, das eine Kultur in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick kennzeichnet“ (Foucault, Michel: Worte und Bilder [1967]. In: Ders.: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Hrsg. von Daniel Defert u. François Ewald. Ausgewählt u. mit einem Nachwort von Petra Gehring. Frankfurt/M. 2003. S. 320–323, hier S. 321); vgl. auch seinen Analysevorschlag zu Diego Velázquez’ Las Meniñas in Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1988. S. 31–45. 38 Vgl. die Kompilation der Legenden-Fassungen in Dambeck, Franz u. Josef Krottenthaler u.a.: Pfarr-, Wallfahrts- und Klosterkirche Neukirchen beim Hl. Blut. Regensburg 21. A. 2017 (Schnell Kunstführer 798). S. 3–5 und in Murr, Ulrich (Hrsg.): Wallfahrtsmuseum Neukirchen b. Hl. Blut Neukirchen. Neukirchen b. Hl. Blut 1993 (Neukirchner Bilderbogen 6). S. 34; 39 Dazu Ludwig Baumann: Das Wallfahrtsbild von Neukirchen b. Hl. Blut. 2. Aufl. Neukirchen b. Hl. Blut 2016 (Kulturschätze 2), o. Pag.; siehe auch Kretzenbacher, Leopold: Das verletzte Kultbild. Voraussetzungen, Zeitschichten und Aussagewandel eines abendländischen Legendentypus. München 1977 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Sitzungsberichte Jg. 1977, H. 1). S. 10. 40 Sigl, Roman: Unser liebe Fraw zum H. Bluet bey Newkirchen vor dem Obern Böhemer Waldt. Das ist: Warhafft kurtzer Bericht von der heylig berümbten Wahlfahrtskirchen und Bildtnuß der heyligist hochgebenedeyten Jungkfrawen Gottes Gebärerin Mariae, zum H. Bluet genant, in den zweyen ersten grossen Miraculn, welche sich mit dem hochwürdigisten Sacrament deß Altars, und heyligen daselbst noch anwesenden Mariae Bild zugetragen. Auch von den Wunderzeichen, Kirchfahrten, unnd anderer Christlicher Andacht desselben Orths. Straubing 1640. 41 Zu den Entwicklungsstufen der schriftlichen Narrationen s. Kretzenbacher, Kultbild (wie Anm. 39), S. 10–17, und v.a. Hartinger, Walter: Die Wallfahrt Neukirchen bei heilig Blut. Volkskundliche Untersuchung einer Gnadenstätte an der bayerisch-böhmischen Grenze. Regensburg 1971 (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 5). S. 38–61, dort auch zum Wandel der Datierungen des Geschehens, s. die tabellarische Chronologie der Legendenmotive S. 61.
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Die Bildfrevler-Figurengruppe im barocken Bilder-Raum der Wallfahrtskirche, die 1520 aus der Kapelle des Marienwunders hervorgegangen ist und seit dem Dreißigjährigen Krieg einem Franziskanerkloster als Kirche dient, belegt einmal mehr, dass auf Bildzerstörungen im Kontext der Gegenreformation mit forcierter ikonischer Zeichenproduktion reagiert wird.42 Diese sühnt Zerstörungen, ersetzt getilgte oder auratisiert beschädigte Bildwerke und thematisiert im Bildmedium selbst deren Entweihung, oft auch ihre wundersame Belebung. Kurfürst Maximilian I. baut Neukirchen darüber hinaus aus konfessionspolitischen Gründen zu einem medial erfolgreichen „‚religiösen Brückenkopf‘ zwischen der kalvinistischen Oberpfalz und den zum Protestantismus tendierenden böhmischen Ständen“ aus,43 so dass zwischen 1690 und 1720 ein weitgehender Neubau der Kirche nötig wird. Zugleich wird der narrative Nukleus der Legendenerzählung des 16. Jahrhunderts vom Bilderfrevel des ‚Hussiten‘ in einer multimedialen Synergie aus Texten, Bildern, Räumen und Ritualen inszeniert, die sich gegenseitig anreichern. Die Performanz von Wallfahrt und kultischer Gnadenbildverehrung kann nicht nur auf ikonische Unterstützung durch das Bildprogramm im Kirchenraum vertrauen, das neben der ikonoklastischen Figurengruppe auch aus einer Bild-Erzählung in den Fresken an der Brüstung der Westempore (Mitte des 18. Jahrhunderts) besteht, sondern kann auch auf Warn- und Bekehrungserzählungen und buchinterne Bild-Text-Beziehungen zurückgreifen. So zeigt das vom Münchner Hofmaler Kaspar Amort gezeichnete und von Matthias van Sommeren gestochene Frontispiz des „andere[n] Theil[s]“ im Mirakelbuch des Franziskaners Fortunat Hueber den Aggressor im Inneren der Kirche: Er agiert vor 42 Zu Neukirchen als „Wallfahrtszentrum“ der Gegenreformation s. Bredekamp, Horst: Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution. Frankfurt/M. 1975. S. 300–304, hier S. 300, sowie Hartinger, Wallfahrt (wie Anm. 41), S. 64–90, der die mediale Synergie ikonischer und narrativer Gnadenbildverehrung betont (S.45, S. 55); ferner Baumann, Mathilde: Neukirchen b. Hl. Blut. Markt und Wallfahrt am Hohenbogen. Neukirchen b. Hl. Blut. Grafenau 1978; zur Neukirchener Wallfahrt als Symbolpraxis bayerisch-böhmischer Gegenreformation s. Baumann, Winfried: Der Hussit und der Madonnenfrevel von Neukirchen bei Hl. Blut. Das Dokument des tschechischen Jesuiten Georgius Ferus. In: Bohemia. Zf. f. Geschichte und Kultur der böhmischen Länder (BohZ) 25,1, 1984. S. 104–114. Zur Diskreditierung der bildskeptisch gemäßigten Position hussitischer Reformtheologen durch sektiererischen Vandalismus im Zuge der ‚Hussitenstürme‘ des frühen 15. Jahrhunderts s. Schnitzler, Norbert: Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1996. S. 51–61 u. S. 88–95; auch die ‚Verletzung‘ der ‚schwarzen Madonna‘ des Klosters Tschenstochau durch polnische Adelige 1430 wird zu einem Hussiten-Exzess umgedeutet (S. 94). 43 Gemert, Guillaume van: Nachwort. In: Fortunat Hueber. „Zeitiger Granat-apfel“. München 1671. Mirakelbuch des bayrisch-böhmischen Wallfahrtsortes Neukirchen bei Heilig Blut. Photomechanischer Nachdruck. Mit Nachwort und Register hrsg. von Guillaume van Gemert. Amsterdam 1983 (Geistliche Literatur der Barockzeit 4), S. 1*–26*; s. Hartinger, Wallfahrt (wie Anm. 41), S. 69–73; ferner Baumann, Winfried: P. Fortunat Hueber O.F.M. über bayerische und böhmische Marienwallfahrten. In: BohZ 21,2, 1980. S. 368–375 und insbesondere Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts. Weimar 2004 (Kunst- und kulturwissenschaftliche Forschungen 3). S. 189–222.
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einem mit Figuren ausgestatteten Altar und einem Gemälde des Neukirchener Hostienwunders, das ihn jedoch nicht zu warnen vermag.44 Die subscriptio schreibt dem Bildwerk eine rückblickende Selbstaussage über das Erlittene zu („Sie haben mich geschlagen und verwudet“; Abb. 0.2). Während der Kupferstich in Huebers Mirakelbuch und die Bild-Erzählung an der Westempore durch den Größenunterschied von Mensch und Madonnenfigur die Differenz zwischen materiellem Signifikanten und der von ihm bezeichneten Gottesmutter mit Jesuskind betonen und eine Verwechslung der Zeichen mit den von ihnen repräsentierten göttlichen Entitäten ausschließen, spielt die Figurengruppe mit deren Annäherung. Bevor die Plastik beschädigt, also durch ihre ‚Verletzung‘ belebt wird, ähnelt sie bereits ihren heiligen und göttlichen Signifikaten in menschlicher Gestalt (oder präziser: ihren kulturell postulierten körperlichen Real-Referenten): Der ‚Hussit‘ scheint auf seinem bildplastischen Schauplatz keine unbelebte Skulptur zu bedrohen, sondern eine Mutter mit Kind. Was wie ein Angriff auf Lebende aussieht, meint jedoch den Angriff auf ein unbelebtes Artefakt, das die Jungfrau Maria lediglich ‚bedeutet‘, so dass die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem in die Zeichenkonfiguration selbst zurückkehrt.45 Wird ein solches re-entry und damit die Differenz von Zeicheninhalt (Signifikat) und Zeichen (Signifikant) jedoch – wie hier – unkenntlich gemacht, dann konstituiert sich eine bildimmanente Leerstelle, in der bloße semiotische Substitution (schwaches Medium) mit der ‚Verwandlung‘ des unbelebten Bildes in die abgebildeten Personen verschwimmt (starkes Medium). Die eindeutige Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem wird unterlaufen, Bild und Abgebildetes werden überblendet.
44 [Hueber, Fortunat:] Zeitiger Granat-apfel Der allerscheinbaristen Wunderzierden In denen Wunderthätigen Bildsaulen Unser L. Frawen / der allerheiligsten Jungfräwlichen Mutter Gottes MARIA Bey zweyen hoch-ansehentlichen Völckern der Bayrn und Boehamen. Besonders Von der Bluttfleissenden Bildsaulen der gnadenreichisten Himmelkönigin und Trösterin aller Betrübten Zu Newkirchen In Chur. Bayrn / am Ober Böhamer-Wald gelegen. München / Gedruckt durch Lucas Straub [...] 1671. S. 96; ND in: Fortunat Hueber. „Zeitiger Granat-apfel“. München 1671. Mirakelbuch des bayrisch-böhmischen Wallfahrtsortes Neukirchen bei Heilig Blut. Photomechanischer Nachdruck. Mit Nachwort und Register hrsg. von Guillaume van Gemert. Amsterdam 1983 (Geistliche Literatur der Barockzeit 4). 45 Zur Logik des rekursiven ‚Wiedereintritts der Unterscheidung ins Unterschiedene‘ (re-entry) siehe Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. von Dirk Baecker. Heidelberg 2002, S. 166167; kunstgeschichtliche und ikonographische Seitenblicke auf die Funktion von bildinternen Rahmungen vor und während der Reformation bieten sich an, s. u.a. Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001. S. 46–59 zur „Maria als Mediatrix im Medium des Bildes“ (S. 46) oder Neddens, Christian: Heilsame Anschauung. Visuelle Kommunikation der Rechtfertigung auf dem Weimarer Altarretabel Lucas Cranachs d. J. In: Bild und Bekenntnis. Die Cranach-Werkstatt in Weimar. Hrsg. von Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk. Göttingen 2015 (Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2015). S. 75–112; zum Wittenberger Altar (1547) s. insbesondere Koerner, Joseph Leo: Die Reformation des Bildes [2004]. München 2017.
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Abb. 0.2: Fortunat Hueber: Zeitiger Granat-Apfel [...]. Der andere Theil [...]. 1671. S. 96
Solche „substitutiven Bildakte‘ operieren an der Grenze von ‚Körper‘ und ‚Bild“, behandeln „Körper als Bilder und Bilder als Körper“46 und bieten ein reichhaltiges Reservoir an Narrativen der Belebung und Mortifikation, der Bildproduktion, Bildrezeption und Bildzerstörung. Sie verhandeln zugleich das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit, von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Mensch und Gott, betreffen also, so Horst Bredekamp, den
46 Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin 2010. S. 171–230, hier S. 173.
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prekärste[n] Bereich des Bildaktes [...]. [Die] wechselseitige Substituierung von Körper und Bild vollzieht Prozesse, die von der Verbildlichung des Heiligen und der Natur über den Ikonoklasmus bis hin zu Bildfragen der Politik und des Rechts und zum Bilderkrieg reichen. In ihrer produktiven wie destruktiven Seite sind diese aktueller denn je.47
Auch die Erzählungen über das Neukirchener Gnadenbild thematisieren semiotische Substitutionsproben zwischen natürlichem Körper und Artefakt, die zu den festen Bestandteilen anti-ikonoklastischer Bekehrungsnarrationen gehören: als er das Maria Bild ersehen, ware er boshafftig zu deme sprechent: ‚Bistu Gottes Mutter? So rede mit mir‘. Weillen ime das Bild/ :das auch wider die Natur ist:/ kain andtwort geben, hat er dasselbig genommen und in ainen Prunnen, so ausserhalb des Capellens gewesen, geworffen, das Bild hat sich aber baldt wider auff den Altar begeben, [...], [...] darob sich der Böham gar hefftig erzürnet, zeucht sein Schwerdt unnd gibt dem Bild zürniglich in das Haupt, zwen Finger thüeff ein Wunden, wellich über die ganze Chron gehet, darauß wider die natur heiliges Blueth geflossen;48
Das materielle Medium solle sich demnach ‚widernatürlich‘ so verhalten, als sei es die von ihm repräsentierte lebende oder göttliche Entität selbst. Erst als dies nicht geschieht und das Medium zerstört oder beschädigt wird, erfolgt die polemisch eingeforderte, wunderbare Vertauschung von Signifikant (Bild-Körper) und göttlichem Signifikat, so dass dem ikonoklastischen Zweifler nur Flucht und Verdammnis oder die Bekehrung bleibt. Huebers Zeitiger Granat-apfel spielt in seiner „vierdte[n] Wunderzierd“49 ebenfalls mit diesen Vertauschungen und potenziert sie rekursiv bis zur Paradoxie. Des „Böhamische[n] Bildstürmer[s]“50 „verderbte Religion lehrte ihn damal der jenigen Bild-Saulen spöttisch verhönen / welche in sich selbsten über alle Weibs-Bilder lieblich / schön / Tugendreich vnd Gnaden-voll ist“, 51 so dass er im „hülzene[n] Bild“52 auch die Abgebildete selbst schmäht und ihr göttliche Verehrungswürdigkeit abspricht. Die Zerstörung des Mediums wird also an die Abwertung seines ebenso ‚eitlen‘ Bildinhaltes geknüpft (Sanktion qua Signifikat) – das ‚WeibsBild‘ selbst wird zum ‚Götzen-Bild‘. Erst dann bezieht sich der ‚Bilderstürmer‘ wieder auf das unbelebte Bildwerk (Sanktion qua Signifikant):
47 Bredekamp, Bildakt (wie Anm. 46), S. 173; die Beispiele erstrecken sich von der Pygmalion-Erzählung über die metonymische (‚indexikalische‘) Qualität (S. 190) von ‚vera icon‘ (Veronika-Bild) und Naturselbstdruck in ihrer „körperlich-reliquiarischen Bestimmung“ (S. 191) bis zu „Bildstrafen“ und „Bilderstürmen“ (S. 197–212). 48 Huetter, Martin: Miracula unser lieben Frawen zu dem Hl Bluet bey Neukhürchen betr. Neukirchen b. Hl. Blut 1611, zitiert nach Gemert, Nachwort (wie Anm. 43), S. 14*. 49 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 125–139, hier S. 125. 50 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 125. 51 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 128. 52 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 131.
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Claus-Michael Ort / Kai Merten wo seynd dann deine so grosse Werck / daß du dich durch eine vnsinnige Andacht lassest für ein Göttin anbetten? Solltest du dann / O verführisches Weib / so vil Menschen durch den falschen Schein deiner Heiligkeit blind und verstockt machen? Gantz und gar bist du deß Altars nit würdig / aber wol deß [...] Scheitterhauffens! Vil vermagst an Falschheit vnd Betrügerey / aber wenig an wahrer Tugend! Du bist zwar Mutter / aber welche wenig von Zucht vnd Ehrbarkeit gelernet hat! Wann du nit Sprachloß bist / antworte mir / du armes und eitles Götzen-Bild!53
Dagegen zitiert die Erzählinstanz im Konjunktiv, was „die Marianische Bild-Saulen“54 gegen den Ikonoklasmus des ‚Böhmen‘ eingewandt haben würde, „wann ihr der Mund zum Reden eröffnet worden seyn“.55 Das Artefakt distanziert sich auf paradoxe Weise von seinem Bildgegenstand, der Gottesmutter Maria, und bezeichnet sich selbst als ‚unbelebt‘. Ein als sprechend imaginiertes Bildwerk argumentiert also adiaphoretisch und unterscheidet die ‚Verehrung‘ des hölzernen Bildes von der ‚Anbetung‘ der Abgebildeten („vorbilde“), die zu ‚Fürbitten‘ bei Gott fähig ist: warumb verfolgest du Mich so bitter vnd mit so harten Zorn / ein Bild-Saulen / welche ich nichts als diese mein äussere Gestalt von deß Künstlers Hand in einem außgedorrten Holz thue vermögen? was hab ich doch in dich böses angestifftet / die ich dir ein so Ehrenwürdige Jungfraw vorbilde / welche durch ihr Vorbitt von dir kann die Göttliche Raach abwenden / [...]?56
Nach Säbelhieb und finalem Blutwunder als „erschröckliches Wunder-Zeichen“57 am „Blutlose[n] und vnbelebte[n] Bildnus“58 wird der „Thäter ...] mit Schröcken erfüllet“59 und seine aristotelisch-kathartische Bekehrung nimmt flankiert von ‚Angst‘ und ‚Zittern‘ endlich ihren Lauf.60 Wenn aus Bilderfrevel aber in letzter semiotischer Instanz ein Angriff auf Gott selbst wird, der wiederum von einer Abbildung seiner ‚Medien‘ – also seines ‚Fleisch gewordenen‘ Sohnes (Johannes 1,14) und der Gottesmutter Maria als Mittlerin und Gebetsadressatin – repräsentiert wird, dann begeht der ‚Angreifer‘ Gotteslästerung, wenn er den Nexus von Zeichen und Bezeichnetem zu leugnen oder zumindest zu
53 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 129. 54 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 133. 55 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 133. 56 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 133. 57 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 136; der titelgebende ‚Granatapfel‘ wird auch über das tertium comparationis der Blutstropfen motiviert: „nit anderst als ven einem zeitigen Granat-Apfl / die Kernlein wie köstliche Rubinen auß seiner außgebrochnen Hilsen erstlich herfür gutzen“, ebd. S. 136; s. die Granatapfel-Emblematik im Titelkupfer des Gesamtwerks; zur „allegorisch-emblematischen Durchformung des Werkes“ und zur christlichen Ikonographie des ‚malum punicum‘ s. Gemert, Nachwort (wie Anm. 43), S. 20*–22*, hier S. 20*. 58 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 137. 59 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 136. 60 Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 137 und in der „Fünffte[n] Wunderzierd“, S. 141–161.
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lockern versucht, indem er Bedeutungsfragen durch vorgeblich animistische Seinsfragen ersetzt („bistu Gottes Mutter?“; „antworte mir“).61 Zugleich bestätigt sich durch die temporäre Statuenbelebung als Wahrheitsbeweis des Glaubensinhaltes aber auch der Ausgangsverdacht des Bilderfeindes, der den Bilderverehrern eine sündhafte weil verkappt heidnische Bildmagie unterstellt, wenn sie statt des vom Bild Bezeichneten vermeintlich das Idol selbst anbeteten, Bild und Bedeutung also verwechselten. Auf den substitutiven Bildakt des ‚Frevlers‘ folgt in gegenreformatorischen Mirakel-Erzählungen also ein zweiter Bildakt, der diese Vertauschung als übernatürliche Transformation vollzieht. Der semiotische Nexus wird dadurch stabilisiert und referentiell beglaubigt. Er bewahrt das Artefakt vor drohender Bedeutungslosigkeit als bloß materielles Zeichen für Immaterielles (‚schwaches Medium‘) und zugleich vor dem Verdacht diabolischer und häresieverdächtiger Magie (als ‚starkes Medium‘).
3 Semiotik und Bildtheologie: veneratio oder adoratio Das Neukirchener Zeichenensemble legt also einen zeichentheoretischen Blick auf das Thema des vorliegenden Sammelbandes und eine semiotische Heuristik nahe. Es verdeutlicht exemplarisch ein Problem, das den bildtheologischen sowie medienund kirchenpolitischen Legitimationsstrategien in den Bilderstreit-Diskursen62 von der Spätantike bis zu Reformation und Gegenreformation und darüber hinaus zugrunde liegt – nämlich die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem und deren gelockerte oder engere Beziehung zwischen den Extremen von Arbitrarität und Über-Motiviertheit. Eine theoretische Anmerkung ist in diesem Zusammenhang geboten: Ohne die Vorbehalte von Bildwissenschaft, ‚Bildanthropologie‘ und mancher Medienwissenschaft
61 „„Es ware zu selbiger Zeit ein gottloser Mensch / sein Nation ein Böhamb / seines Irrthumbs ein Hussit / seiner Sitten ein Barber und seiner Aigenschafften ein Bößwicht;“, in: Hueber, Granat-apfel (wie Anm. 44), S. 126; weitere Belege für dieses Narrationsmuster und die an das Bild gerichteten Sprechakte als „Spottrituale“ anlässlich von Christus-Standbildern zitiert Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 88, S. 92 u. S. 95. S. auch Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 142. 62 Unter ‚Diskurs‘ verstehen wir mit Michael Titzmann im Anschluss an Michel Foucault „ein System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge abstrahiert ist und das erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist. [...]. Ein Diskurs ist [...] ein System, das die Produktion von Wissen regelt“ (Titzmann, Michael: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33). S. 395–438, hier S. 406f.
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gegenüber einer eher sprachbezogenen Zeichenwissenschaft ausblenden oder die theologische Vorgeschichte der Semiotik leugnen zu wollen,63 folgt eine solche Beobachterperspektive einem weiten Zeichenbegriff und nicht Hans Beltings Annahme, Bilder seien als Zeichen benutzbar, selbst aber kategorial keine Zeichen.64 Die Begründung dieser Kategorisierung scheint einen religiösen Rezeptionsmodus ikonischer Figurendarstellungen zu verallgemeinern und eher bildtheologischer Fasziniertheit als der Analyse ihrer bildsemiotischen Voraussetzungen geschuldet: Die Referenz beruht im Falle der Zeichen auf Verabredung und kann arbiträr sein. [...]. Das ist im Falle der Bilder anders, [...]. [...]. Wir glauben tatsächlich Körper zu sehen, wenn wir auf Bilder schauen. Körper mögen Zeichenträger sein, aber sie sind bereits aus eigener Kraft Bild, bevor sie im Bild erscheinen. [...]. [...]. Bilder teilen Merkmale von Körpern wie Bewegung und Blick. Sie blicken auf uns zurück, was Zeichen nicht können. Deshalb wohnt den Bildern eine Ambivalenz inne, die sie von der Lesbarkeit der Zeichen unterscheidet. Ambivalenz bedeutet eine offene Grenze zwischen Bild und körperlicher Welt, die sich von der sauberen Grenze zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Referenz und Referent unterscheidet. Gerade hierin liegt die Irritation ebenso wie die Faszination der Bilder, [...].65
Bilder seien demnach keine Zeichen, weil sie auf Körper referieren, die selbst schon ‚Bilder‘ seien. Eine (partielle) Merkmalsähnlichkeit zwischen bezeichneten Körpern als postulierten Real-Referenzen und ihren ikonischen Repräsentationen setzt die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem jedoch keineswegs außer Kraft; mit Erwin Panofsky ist außerdem daran zu erinnern, dass ikonographisch ‚konventionale‘ Sujets sehr wohl kulturell arbiträr verfasst und ‚lesbar‘ sind.66 Als eine zentrale Unterscheidung des christlichen Diskurses über Medien und Religion vor und nach der Reformation, erweist sich darüber hinaus die Unterscheidung von Bilder-Verehrung (veneratio) und verpönter Bilder-Anbetung (adoratio). Trotz divergierender Bewertungen und historisch variabler Definitionen ihres Verhältnisses bleibt diese Unterscheidung wirksam – von Papst Gregor dem Großen
63 Hans Belting: Nieder mit den Bildern. Alle Macht den Zeichen. Aus der Vorgeschichte der Semiotik. In: Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild. Hrsg. von Stefan Majetschak. München 2005. S. 31–47, hier S. 31. 64 Wir folgen also eher Winfried Nöth: Warum Bilder Zeichen sind. In: Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild. Hrsg. von Stefan Majetschak. München 2005. S. 49–61. 65 Belting, Bilder (wie Anm. 63), S. 31f. 66 Voraussetzung ist eine konsequente kulturelle „Semiotisierung des Referenten“ (Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte [1973]. Frankfurt/M. 1977. S. 63): Religiöse Signifikate postulieren die Existenz von Referenten (Gott, transzendente Entitäten), zu deren kultureller Definition auch diese Existenzbehauptung gehört; mit Eco ist außerdem festzuhalten:„Eine Zeichenfunktion liegt immer dann vor, wenn es eine Möglichkeit zum Lügen gibt“ und: „Signifikationsbedingungen“ sind keine (religiösen) „Wahrheitsbedingungen“ (Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen [1976]. München 1987 [Supplemente 5]. S. 89).
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und seiner Kompromissformel (vor 600),67 die den ästhetischen und didaktischen Gebrauch von Bildern zulässt, ohne sie mit dem von ihnen bezeichneten Anbetungsadressaten zu verwechseln, über das zweite Konzil von Nicäa (787) bis zum Bilderdekret des Konzils von Trient (1545–1563) und zu Luthers adiaphoretischer Position. Diese toleriert memoriale und didaktische Funktionen von Bildern, wendet sich aber gegen ihre sowohl bilderstürmerische Überschätzung als auch ikonodulische Hochstilisierung zu kultischen Medien sakramentaler Offenbarung – beanspruchten sie als solche doch, ihre ‚Bedeutungen‘ präsentisch zu verkörpern und nicht nur zu bezeichnen.68 Das Dekret De invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum, et sacris imaginibus (1563) des Tridentinums, dem offensichtlich auch die Argumentation Huebers im Zeitigen Granat-apfel folgt, propagiert zwar explizit die Verehrung (‚honos‘, ‚veneratio‘) von Bildern Christi, der „jungfräulichen Gottesgebärerin und der anderen Heiligen“,69 aber nicht weil diesen Bildern die Göttlichkeit („divinitas“) ihrer Signifikate und eine wunderbare ‚Kraft‘ zugeschrieben werde, „sed quoniam honos, qui eis exhibetur, refertur ad prototypa, quae illae repraesentant: // ita ut per imagines, quas oscuamur, et coram [...] procumbimus, Christum adoremus, et sanctos, quorum illae similitudinem gerunt, veneremur.“70 Die ‚Verehrung‘ der Bilder verdankt sich also ihrer Referenz auf den repräsentierten, anzubetenden ‚Prototyp‘(„adoremus“) – und im Falle
67 Gregor der Große: Drei Briefe zur Bilderfrage. Aus: Epistolarum libri [2. Hälfte 6. Jh.]. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreits im 16. Jahrhundert. Band 2. Hrsg. von Jörg Jochen Berns. Berlin, Boston 2014 (Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 184). S. 1057-1063. S. auch Hecht, Christian: Katholische Bildertheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren [1997]. 3. Aufl. Berlin 2016, S. 53. 68 Bredekamp, Kunst als Medium (wie Anm. 42), S. 116 fasst anlässlich des Byzantinischen Bilderstreits die Beobachtung von Brock, Bazon: Der byzantinische Bilderstreit. In: Die Zerstörung des Kunstwerks [1973]. Hrsg. von Martin Warnke. Frankfurt/M. 1988. S. 30–40, hier S. 36, treffend zusammen: Die „wahren ‚Bilderverächter‘ [waren] diejenigen [...], die es religiös mystifizierten, während die vorgeblichen Bilderzerstörer eine Definition des Bildes benutzten, die ihm in fast neuzeitlichem Sinn einen eigenen Wert zuschreibt.“ 69 Zweisprachiger Text in Hecht, Bildertheologie (wie Anm. 67), S. 501–504, hier S. 502. 70 Zit. nach Hecht, Bildertheologie (wie Anm. 67), S. 502 („sondern weil die Ehrung, die ihnen [d.h. den Bildern] erwiesen wird, sich auf die Urbilder bezieht, welche jene darstellen: // so dass wir durch die Bilder [...] Christus anbeten und die Heiligen verehren, deren Ähnlichkeit sie aufweisen“); s. ansonsten Bœspflug, François u. Olivier Christin: Das Konzil von Trient und die katholischen Traktate ‚De imaginibus‘ (1522–1680). In: Handbuch der Bildtheologie. Bd. I: Bild-Konflikte. Hrsg. von Reinhard Hoeps. Paderborn 2007. S. 241–261; Hecht, Bildertheologie (wie Anm. 67), S. 17–30 u. zur Diskussion der Problematik in katholischen Traktaten S. 73–284, zu ‚Bildwundern‘ ebd. S. 227–244; zur kritischen Rezeption im Luthertum s. Kaufmann, Thomas: Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle, André Holenstein u.a. München 2002 (Historische Zeitschrift Beihefte NF 33). S. 407–454, hier S. 417–448.
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der Heiligen ihrer explizit durch ‚similitudo‘ ermöglichten ‚Verehrung‘ („veneremur“): „Die Reverenz folgt der Referenz, nicht der Potenz des Bildes“.71 Wird die Unterscheidungssemantik der Bilderverehrung einerseits und der Anbetung des Prototyps andererseits mit Hilfe der Unterscheidung von signifiant, signifié und ‚Referens‘ beobachtet, dann zeigt sich das zugrunde liegende semiotische Problem.72 Es betrifft die instabile Balance zwischen Arbitrarität einerseits und Motiviertheit (‚similitudo‘) andererseits, also die Qualität eines engen oder lockeren Nexus (starkes oder schwaches Medium) zwischen materiellen, weltimmanent vergänglichen Signifikanten und sakralen, als immateriell transzendent und ‚ewig‘ postulierten Signifikaten. ‚Referenz‘ setzt eine Differenz von Zeichen – mit einem je kulturell begrenzten Arbitraritäts- und Darstellungsspielraum – und Bezeichnetem voraus und ermöglicht deshalb umso mehr die Beobachtung und Kontrolle ihrer semiotischen unio mystica, also ihrer vermeintlichen ‚Verschmelzung‘ und Verkörperungen (Identität als semiotische Über-Motiviertheit).73 Der zugrunde liegende Zielkonflikt besteht demnach aus zwei konträren Optionen: semiotische Identität und Differenz. Zum einen droht die religiöse Reverenz auf eine als nicht darstellbar, nicht ‚referierbar‘ geltende göttliche Entität in eine ‚negative‘ Semiotik zurückzufallen, deren notwendig willkürliche, mundane Zeichen ihr göttliches Signifikat verfehlen müssen. Solche weitgehenden Dissoziationen von Signifikant und Signifikat können wiederum Bilderverbote motivieren und legen den Wechsel zu nicht mimetischen, insbesondere schriftbasierten Medienformaten nahe. Diese entschärfen das Problem und minimieren die Gefahr einer Verwechslung von Zeichen und Bezeichnetem, stehen also nicht in Verdacht, Fremdreferenz nur zu simulieren und sich etwa an die Stelle des bezeichneten Corpus Christi zu setzten, also eigentlich nur sich selbst zu bezeichnen (Selbstreferenz). Erst wenn ‚Schrift‘ beansprucht, als ‚Heilige Schrift‘ das Wort Gottes selbst zu bezeichnen (und zu übersetzen), unterliegt auch sie potentiell dem Verdacht semiotischer Verschmelzung, der in Täuschungsverdacht umschlagen kann: ‚falsche‘ Bildgläubigkeit wird zu ‚falscher‘ Schriftgläubigkeit.74 71 Stock, Dogmatik (wie Anm. 34), S. 20. 72 S. Hecht, Bildertheologie (wie Anm. 67), S.73–162, zum ‚heiligen Prototyp‘ S. 90–96. 73 „Die Rückbindung des Unbezeichenbaren an das Bezeichenbare – das ist, in welcher kulturellen Ausformung immer, ‚religio‘. [...]. [...]. [...]. Sie [die Religion] kann auf diese Weise, über den Alltag hinausgreifend, in der Gesellschaft für die Gesellschaft Selbstreferenz und Fremdreferenz prozessieren“ und als ‚immanent / transzendent‘ kodieren“ (Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997. S. 232). 74 Diese wird im Anschluss an 2. Kor 3,6 („Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“; Bibel [wie Anm. 21], S. 214) spätestens seit Origines von Caesarea (drittes Jahrhundert) und seiner Stufenleiter zwischen ‚Materie’/‚Fleisch‘ und ‚Geist‘ judenfeindlich konnotiert: „jüdisch“ gilt als „Synonym für ‚wörtlich‘“ und ‚materiell‘ (Nirenberg, David. Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens [2013]. München 2015, S. 115); Keel, Othmar: Das biblische Kultbildverbot und seine Auslegung im rabbinisch-orthodoxen Judentum und im Christentum. In: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hrsg. von Peter Blickle, André Holenstein [u.a.]. München 2002 [Historische Zeitschrift Beihefte NF 33], S. 65–96,
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Zum anderen bleibt die inverse ‚Option‘, in der semiotische Referenz in der Identität mit dem ‚Referierten‘ aufgeht, so dass Zeichen und Bezeichnetes ebenfalls ununterscheidbar werden, die ‚Anbetung‘ des repräsentierten ‚Prototyps‘ also mit der Anbetung des Signifikanten zusammenfällt oder umgekehrt: letzterer selbst zum Referens transformiert wird. Um diese Frage, wie kultische Reverenz auf Göttliches mit menschlichen Mitteln möglich ist, ohne in die beiden, gleichermaßen der Idolatrie verdächtigen Extreme zu verfallen, kreist der Diskurs christlicher Medien- und insbesondere Bildtheologie. Dass ihr christologischer Bedeutungskern selbst bereits die Paradoxie aus menschlicher Real-Verkörperung und göttlicher Seinsqualität ‚bedeutet‘, erweitert zwar die semiotischen (z.B. ikonographischen) Möglichkeiten, vereinfacht das Problem aber nicht, wie die trinitätstheologischen und diophysitischen Versuche vor Augen führen, zwischen ‚Identität‘ und ‚Differenz‘ perichoretisch zu vermitteln, ohne die je gemeinten Qualitäten zu vermischen oder zu reduzieren. Als Kriterium der ‚Wahrheit‘ und Angemessenheit gilt jedenfalls die Referenz auf sakrale ‚Prototypen‘ als Signifikate, so dass das Bildmedium vom Verdacht der Verwechslung oder magischen Vertauschung befreit, zugleich aber seine sakrale Motiviertheit (Reverenz) gewahrt bleibt. Nur ein ‚falsches‘ Signifikat kann dessen Bezeichnung delegitimieren und zu Bilder- oder Buchverboten und Zensur führen; das Medium selbst ist in diesem Fall gar nicht gemeint (Sanktion qua Signifikat; vgl. Müller-Oberhäuser im vorliegenden Band zur Verbrennung lutherischer Schriften im vor-anglikanischen England). Die protestantischen Kritiker erblicken dagegen – neben Vorbehalten gegenüber Sujets der Heiligenverehrung – in der ‚Ähnlichkeit‘, die die Motiviertheit der imagines garantieren soll, eine Verführung zur Idolatrie. Die Adoration der Trinität, von Jesus Christus, abgeschwächt auch von Maria, ist zwar überkonfessionell prinzipiell unstrittig, aber in diesem Fall wird ihre bildliche Darstellung als unangemessen oder als unmöglich bestritten (Sanktion qua Signifikant). Genau genommen erweist sich diese zweite Variante jedoch als eine Spielart der ersten, denn wenn das ‚Bild‘ und nicht dessen prototypisches ikonographisches Sujet angebetet wird, setzt es sich selbst an die Stelle seines eigentlichen Signifikats und gehört damit als verkappt selbstreferentielles ‚Götzenbild‘ ebenfalls zur Klasse theologisch unzulässiger Signifikate (siehe Huebers Mirakelbuch: Maria als ‚Weibs-Bild‘ und als ‚Götzen-Bild‘). Beide Sanktions-Varianten lassen sich übrigens auch in den alttestamentlichen Belegstellen zur Funktion von Bildrezeption und Bildproduktion finden, aus denen sich pauschale Bilderverbote kaum rechtfertigen lassen.75 Ob sich das vermeintlich zwingende „Jahwebilderverbot“ in 2. Mose 20,4 und 5. Mose 5,8 (‚Sanktion qua Sigweist sowohl auf den „Objektcharakter“ des geschriebenen Wortes und auf den „ikonischen Charakter‘ des „Buch[es] bzw. [der] Torarolle“ (S. 93) hin als auch darauf, dass die Übersetzung von ‚logos‘ in Joh. 1,1 u. Joh. 1,14 mit ‚Wort‘ nicht zwingend sei (S. 94). 75 Zum biblischen Bilderverbot vgl. Stock, Dogmatik (wie Anm. 34), S. 13–40 oder Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 49–55: „Der Dekalog kennt [kein] (Kult-)Bildverbot“ (S. 54).
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nifikant‘) auf ein „Fremdgötterbilderverbot“76 (‚Sanktion qua Signifikat‘) reduzieren lässt, hängt u.a. davon ab, wie die syntagmatische Abfolge von 2. Mose 20,3 („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“), 4 („Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen [...].“) und 5 („Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, [...].“) interpretiert wird.77 Martin Luther präferiert in seiner gegen Andreas Bodenstein (gen. Karlstadt) und Thomas Müntzer gerichteten Schrift Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament (1525) zunächst die Interpretation als ‚Fremdgötterverbot‘, da „disser spruch ‚Du sollt keyne götter haben‘ [...] der heubt spruch“ sei: Also kan auch unter das wort ‚Du sollt keyne götter haben‘ nichts anders gezogen werden, denn was abgötterey betriefft. Wo aber bilde odder seulen gemacht werden on abgötterey, da ist solchs machen nicht verbotten, Denn es bleybt der heubtspruch (Du solt [sic] keyne götter haben) unverseret.78
Des Weiteren verpflichtet er aber nicht nur die ‚Sanktion qua Signifikat‘, sondern auch die ‚Sanktion qua Signifikant‘ auf das Kriterium des Anbetungsverbotes: Auch Bilder des ‚einzigen und wahren Gottes‘ würden im Falle ihrer Anbetung zu Götzenbildern ihrer selbst. Im Umkehrschluss können aber auch fremdreligiöse ‚Götzenbilder‘ als Medien der ‚Erinnerung‘ toleriert werden, so sie nicht angebetet werden: „So werden myr auch meyne bildstürmer eyn crucifix odder Marien bilde lassen müssen, ia auch eyn abgotts bilde, auch nach dem aller gestrengsten gesetz Mosi, das ichs trage odder ansehe, so ferne ichs nicht anbete sondern eyn gedechtnis habe.“79 ‚Marienbilder‘ und ‚Abgottsbilder‘ werden zwar als Adiaphora im selben Satz genannt, ihre Signifikate aber nicht gleichgesetzt – wohl aber ihre memoriale Funktion. Dafür werden beide vor bilderfeindlichen Angriffen in Schutz genommen. Semiotische Kompromissformeln auf der Grundlage aristotelischer und neoplatonischer Unterscheidungen von materieller figura und repräsentiertem ‚Prototypus‘ prägen jedoch vor allem die Traktate katholischer Bilderapologeten. Wie weitgehend und wie eindeutig die kultische Reverenz von Bildern aber nur dem Signifikat bzw. der von ihm bezeichneten ‚Referenz‘ und nicht auch dem materiellen Signifikanten 76 Stock, Dogmatik (wie Anm. 34), S. 24; s. zum alttestamentlichen Kontext S. 23–27 sowie Mark, Martin: Das Bild als Verrat. Zur personalen Konzeption alttestamentlicher Rede von Gott im Buch Exodus. In: Trinität. Die Drei-Einheit Gottes im theologischen und künstlerischen Diskurs. Hrsg. von Peter Ebenbauer u. Erich Renhart. Graz 2011. S. 17–39, zum „Fremdgottverbot“ und zum „Kultbildverbot“ als „Folgebestimmung“ s. S. 27–35. 77 Bibel, [wie Anm. 21], S. 80; s. auch 2. Mose 23,24 (ebd. S. 85), 3. Mose 26,1 (ebd. S. 136): „Ihr sollt euch keine Götzen machen und euch weder Bild noch Steinmal aufrichten, auch keinen Stein mit Bildwerk setzen in eurem Lande, um davor anzubeten; denn ich bin der Herr, euer Gott“ und 5. Mose 5,7–9 (ebd. S. 192). 78 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 18. Band [1908]. Weimar 1964. S. 37–214, hier S. 69. 79 Luthers Werke (wie Anm. 78), S. 70.
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selbst gilt, inwieweit Bilder als Anbetungsadressaten ihre auf Christus als ‚Bild‘ Gottes zurückgehende Kultbildfunktion also behalten, bleibt allerdings langfristig strittig – vor und nach dem Tridentinum.80 Bereits im 15. Jahrhundert, so Norbert Schnitzler, sind „Bilderfrevel und Blasphemie [...] praktisch zu synonym verwendbaren Begriffen geworden.“81 Der Bedeutungsgehalt des Begriffs Bilderstürmer (iconoclasta) [wandelte sich] sowohl durch Predigten und durch die Verbreitung religiöser Gebrauchsliteratur, wie auch durch die Konfrontation mit ‚bilderfeindlichen‘ Hussiten und Lollarden grundlegend. In der öffentlichen Auseinandersetzung [...] war der Vorwurf der Bilderfeindschaft, des Bilderfrevels oder der Bildverletzung zu einem Gemeinplatz der kirchentreuen Polemik geworden.82
Das argumentative Dilemma besteht dabei in der Äquivalenz von ‚Götzendienst‘ (idolatria) und ‚Bilderfrevel‘ als zwei Formen des Bildermissbrauchs, die die semiotische Differenz von Signifikant und Signifikat (als einer postulierten Real-Referenz) entweder tilgen oder deren Beziehung bestreiten. Die Äquivalenz beider Varianten beruht aus der Sicht spätmittelalterlicher Theologie auf der „Leichtgläubigkeit der Menschen und der Täuschungskraft der Dämonen (spiritus maligni)“: „Mit Heilungswundern und Zukunftsprognosen (miracula prodigia) verführten sie die einfachen Gläubigen zum Irrglauben. Enttäuschte Erwartungen lösten umgekehrt wiederum aggressive Impulse aus: Der Bilderanbeter wird zum Bilderfrevler.“83 80 Der zutreffende Hinweis von Kapustka, „mit einer klaren Definition der visuellen Referenz und einer deutlichen ontologischen Trennung des signifiant von dem signifié [...] hätten Eck und Emser die Vorwürfe der Idolatrie vonseiten der Reformatoren leicht ablehnen“ können, greift insofern zu kurz: solch eindeutige ‚Trennung‘‘ verlöre ihre theologische Brisanz und minderte die liturgische Relevanz der ‚Bilder (Kapustka, Mateusz: Bilder als bezeugende Körper. Zur scholastischen Bilderverteidigung ex authoritate im frühen 16. Jahrhundert. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563. Hrsg. von Andreas Tacke. Regensburg 2008. S. 97–115, hier S. 102). 81 Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 79. 82 Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 78; s. auch Schnitzler, Vorwurf (wie Anm. 35), S. 343; zu den heterogenen Anlässen, Funktionen und Handlungskontexten von Bilderstürmen s. Michalski, Sergiusz: Die protestantischen Bilderstürme. Versuch einer Übersicht. In: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Bob Scribner. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Forschungen 46). S. 69–124. 83 Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 78; Kretzenbacher, Kultbild (wie Anm. 39), S. 24–45, weist außerdem auf die im 20. Jahrhundert anhaltende Konjunktur schriftlich und ikonisch tradierter ‚Blutwunder‘ von Madonna-Figuren hin. Auch die achtteilige italienisch-französische Fernsehserie Il Miracolo (2018; arte 2019) von Niccolò Ammaniti rekurriert noch auf diesen Diskurs, tendiert aber zu einer säkularisierten Idolatrie: Sie befreit die aus ungeklärter Ursache Blut weinende KunststoffMadonna weitgehend von volksreligiösen und mariologischen Deutungsangeboten und integriert sie in politische, kriminalistische und naturwissenschaftliche Handlungskontexte; als relevantes Signifikat der Marienfigur fungiert nicht mehr die ‚Gottesmutter‘, sondern das Blutwunder selbst. Damit unterscheidet sich Il Miracolo von der nicht weniger wundersamen Kruzifixus-Belebung in Herbert Achternbuschs Spielfilm Das Gespenst (1982) oder von der jungfräulichen Empfängnis Jesu in Je vous
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4 Körper – Bilder – ‚zwei Naturen‘ ‚Urszenen‘ der Bildverletzungs- und Bildbelebungsnarrative bietet die Passions- und Heilsgeschichte der Evangelien selbst, in der ein sterblicher Mensch gemartert und gekreuzigt und von seinen Peinigern aufgefordert wird, sich als das göttliche Wesen zu erkennen zu geben, das er zu ‚sein‘ oder zu vertreten beanspruche,84 was jedoch erst nach Tod und Auferstehung geschieht. Wie die Quellen über „Kultbildfrevel“ seit der Mitte des ersten Jahrtausends im „vorikonoklastischen Byzanz“85 und später auch die Persistenz mittelalterlicher Legendenerzählungen aus Jacobus de Voragines Legenda aurea (um 1260) bis in die Frühe Neuzeit und darüber hinaus belegen, wiederholt die ‚Marter‘ von Bildwerken, die Jesus Christus, später auch Maria, darstellen, immer auch die passio Christi selbst, der als menschlich inkarniertes und göttliches Medium dessen erscheint, was er in trinitarischer Perichorese sowohl repräsentiert als auch ‚ist‘.86 Zugleich werden solche, von ‚Ungläubigen‘ begangene Taten von Anfang an jüdisch stigmatisierten Bildmedienverächtern als verkappten Christusmördern zugeschrieben, so dass Bildfrevel-Narrationen antijudaistisch konnotiert werden können. Auch reformatorische Bilderfeindlichkeit setzt sich demnach potentiell dem Vorwurf der ‚Judaisierung‘ aus, die als anti-ikonoklastisches Argument in die Bildkontroversen des 16. Jahrhunderts Eingang findet. Nachträglich werden die byzantinischen Bilderstürme im 8. Jahrhundert und sogar osmanische Bilderverbote ebenso auf jüdischen Einfluss zurückgeführt,87 wie umgekehrt Pogrome an der jüdischen Bevölkerung und deren Vertreibung nachträglich mit stereotypen Anschuldigungen gerechtfertigt
salue, Marie von Jean-Luc Godard (1982); zur theologischen Zeichenökonomie bei Achternbusch s. Ort, Claus-Michael: ‚Dieses Kreuz ist eine Frage.‘ Das Skandalon des Kreuzes in Herbert Achternbuschs Das Gespenst (1982) [2009]. In: Sommernachtsträume. Essays zu Büchern, Filmen und Theaterstücken von Herbert Achternbusch. Hrsg. von Manfred Loimeier. Weitra 2018. S. 239–273. 84 Mt 27,40; Mk 15,32: „Ist er der Christus [...], so steige er nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben“; Lk 23,35; 23,37 u. 23,39: „Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“ (Die Bibel [wie Anm. 21], S. 66 u. S. 107). 85 Kretzenbacher (wie Anm. 39), S. 58–85, hier S. 58 u. S.61. 86 Kretzenbacher (wie Anm. 39), s. S. 61f., S. 68, S. 69f, dort auch Verweise auf „Judenfrevel“- und „Blutwunderlegenden“ in der Legenda aurea; vgl. die Position des Kirchenvaters Johannes von Damaskus (ca. 675–750), der die Bilderverehrung aus der Inkarnation Christi ableitet: „wer die Bilderverehrung ablehnt, [lehnt] letztlich die Inkarnation ab“ (Keel, Kultbildverbot [wie Anm. 74], S. 91). S. dazu auch Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 174–175. 87 Etwa vom Luther-Gegner Hieronymus Emser in Emsers vorantwortung auff das ketzerische buch andres Carolstats von abthueung der bilder (1522); zum Vorwurf der ‚Judaisierung‘ s. Schnitzler, Vorwurf (wie Anm. 35), S. 345–358, hier S. 350, ähnlich S. 347; zum zeitgenössischen Anti-Judaismus s. die Einordnung von Kaufmann, Thomas: Luthers ‚Judenschriften‘. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung. 2. Aufl. Tübingen 2013.
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werden, die von Hostien- und Reliquienfrevel bis zu Bilderfrevel und Ritualmord reichen.88 So stellt sich für die Verfechter der offiziellen römischen Lehre [...] die Frage nach möglichen Parallelen zwischen jüdischer Bilderfeindschaft und den ikonoklastischen Aktivitäten der zeitgenössischen Häretiker. Dabei spielten die seit dem 13. Jahrhundert über christliche Mirakelsammlungen sowie über Predigtkompendien verbreiteten Legenden angeblicher jüdischer Kultbildfrevel eine wichtige Rolle.89
Zumindest rhetorisch evoziert auch Luther dieses ‚Argument’ gegen die bilderstürmerische ‚Schwärmerei‘ seines Wittenberger Widersachers Karlstadt90 und besetzt ansonsten eine Mittelposition zwischen der Bilderfeindlichkeit der Schweizer Reformatoren (Johannes Calvin, Huldrych Zwingli) und seinen römisch-katholischen Antagonisten (Johannes Eck, Hieronymus Emser u.a.).91 Der langfristige „Prozess“ einer „fortschrei88 Schnitzler, Vorwurf (wie Anm. 35), S. 357 nennt als ein Beispiel unter vielen die „Regensburger Judenvertreibung von 1519“ – gefolgt von Marienwallfahrt und am Ende des Jahrhunderts ‚gerechtfertigt‘ mittels der Mirakellegende einer Marienbildschändung; vgl. darüber hinaus Georg R. Schroubek: Zur Tradierung und Diffusion einer europäischen Aberglaubensvorstellung. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hrsg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Dokumente, Texte, Materialien 6). S. 17–24; ferner Lotter, Friedrich: INNOCENS VIRGO ET MARTYR. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hrsg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Dokumente, Texte, Materialien 6). S. 25–72; Klaus Schreiner: Anti-Judaismus in Marienbildern des späten Mittelalters. In: Ders.: Rituale. Zeichen, Bilder. Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Ulrich Meier u. Gabriela Signori [u.a.]. Köln, Weimar u.a. 2011. S. 243–282; Lotter, Friedrich: Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch“) und 1336–1338 („Armleder“). In: Monumenta Germaniae Historica (MGH). Schriften. Bd. 33, V. Fälschungen im Mittelalter. Teil V: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung. Realienfälschung. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica München, 16. – 19. September 1986. Hannover 1988. S. 533–583. 89 Schnitzler, Vorwurf (wie Anm. 35), S. 345; zu Vorgeschichte im Mittelalter s. Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 104–125; Schäfer, Peter: Kurze Geschichte des Antisemitismus. München 2020, S. 150–153 weist auf den Zusammenhang hin, der zwischen der Durchsetzung der Transsubstantiationslehre (Konzil 1215) und der Zunahme antijüdischer Ritualmord- und Hostienfrevel-Vorwürfe besteht (S. 150). 90 Dazu und zu Karlstadts Flugschrift Von Abthuung der Bilder und das Keyn Bedtler unter den Christen seyn soll (Wittenberg 1522) s. Schnitzler, Vorwurf (wie Anm. 35), S. 349f.; zu Karlstadt und Emser s. Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 42), S. 29–41, zu böhmischen u. englischen Positionen der Bilderkritik (Hussiten, Lollarden) ebd., S. 41–61; s. auch Kapustka, Bilder (wie Anm. 80), S. 97–115; zu Luthers Anti-Judaismus s. neben Kaufmann, ‚Judenschriften‘ (wie Anm. 87) Schäfer, Antisemitismus (wie Anm. 89), S. 170–183 und Nirenberg, Anti-Judaismus (wie Anm. 74), S. 253-273, der auf Luthers Neigung hinweist, „die Lehren seiner Rivalen“ – auch der römisch-päpstlichen – „mit den Verbrechen der Juden [zu vergleichen]“ (hier S. 266). 91 Vgl. im einzelnen Lentes, Thomas: Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation. In: Handbuch der Bildtheologie Bd. I: Bild-Konflikte. Hrsg. von Reinhard Hoeps. Paderborn 2007. S. 213–240.
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tenden ästhetischen, konfessionstheologischen und -pädagogischen Aufwertung und Aneignung der in ihrer religiösen Valenz als Kult- und Gnadenobjekte entmachteten Bilder“92 im frühneuzeitlichen Luthertum etwa im Kontext der Konflikte mit der Medienund Bildpolitik der Reformierten ist hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen.93 Dass darüber hinaus die bereits seit dem ersten Konzil von Nicäa (325) im vierten und fünften Jahrhundert ausgetragenen christologischen Debatten um die göttliche und menschliche Natur Christi bildtheologische Relevanz gewinnen, verwundert nicht. Dieser Diskurs wird seit dem fünften und sechsten Jahrhundert in Ostrom religions-, kirchen- und machtpolitisch instrumentalisiert, und zwar unter den Bedingungen einer auf Repräsentationsmedien angewiesenen Staatsreligion, die sich im frühen 8. Jahrhundert sowohl mit muslimischen Bilderverboten konfrontiert sieht als auch mit erstarkenden Mönchsgemeinschaften, die den Zugang zu Reliquien und wundertätigen Kultbildern verwalten.94 Das Problem der Vermischung oder Trennung materiell endlicher Medien mit ihren immateriell göttlichen Bedeutungen (‚Referenten‘) wird in der Diskussion über Christi menschliche und göttliche ‚Natur‘ nun in das Darstellungsobjekt selbst hineinprojiziert. Monophysitische (oder gar frühchristlich doketische) Positionen ebenso wie solche der vollständigen Vermischung der menschlichen und der göttlichen ‚Natur‘ Christi erklären nicht nur dessen bildliche Darstellung als Gott zur Häresie, sondern tabuisieren zugleich auch die Abbildung seiner menschlichen Natur, da sie seine göttliche Qualität leugne.95 Dagegen kommt die bereits im Konzil von Chalcedon (451) dogmatisierte Zwei-Naturen-Lehre eines wahrhaft ‚ganz göttlichen‘ und wahrhaft ‚ganz menschlichen‘ Christus – „weder vollkommen vermischt noch vollkommen
92 Kaufmann, Bilderfrage (wie Anm. 70), S. 414. 93 S. eingehend Kaufmann, Bilderfrage (wie Anm. 70), S. 407–417, auch zur lutherischen AdiaphoraKonzeption; exemplarisch zur multimedialen Präsentation der Kernszene lutherischer Soteriologie u. Passionstheologie s. Steiger, Johann Anselm: Christus pictor. Der Gekreuzigte auf Golgatha als Bilder schaffendes Bild. Zur Entzifferung der Kreuzigungserzählung bei Luther und im barocken Luthertum sowie deren medientheoretischen Implikationen. In: Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Johann Anselm Steiger u. Ulrich Heinen. Berlin, New York 2010 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 113). S. 93–127. 94 Dazu Bredekamp, Kunst als Medium (wie Anm. 42), S. 41–70, auch Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 52–56, u. schon Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst [1990]. 6. Aufl. München 2004, S. 164–184, sowie Brock (wie Anm. 68). 95 Vgl. Bredekamp, Kunst als Medium (wie Anm. 42), S. 62; zum ‚monophysitischen Streit‘ seit dem sechsten Jahrhundert s. ebd. S. 60–65 u. Brock; Bilderstreit (wie Anm. 68), S. 34f, sowie S. 33–36 zu dem vom ikonoklastischen Kaiser Konstantin V. einberufenen Konzil von Hiereia (754); zum diskursgeschichtlich fatalen Zusammenhang von Antijudaismus und mono- bzw. diophysitischen Positionen s. Nirenberg, Anti-Judaismus (wie Anm. 74), S. 107–116 („Antijüdische Lösungen für christologische Fragen“) u. Schäfer, Antisemitismus (wie Anm. 89), S. 67–100, v.a. S. 77–81: wer auf der „Körperlichkeit Jesu“ zu Lasten seiner Göttlichkeit beharre, bleibe „dem fleischlichen Verständnis der Juden verhaftet“ (S. 79).
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getrennt“96 – einer theologisch legitimierten Bildproduktion und -rezeption entgegen: „Zwar wird die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur nicht angetastet, aber sie vollzieht sich nicht in einer dritten Substanz, sondern über beiden, für sich autonomen Naturen, im Medium einer nicht konkreten, sondern mystisch-geistigen Verbindung. In dieser Sicht ist Christus ganz Mensch und damit, ohne dass dies Gotteslästerung bedeuten musste, darstellbar“.97 Die semiotische Differenz zwischen einem materiell endlichen Signifikanten und seinem immateriell göttlichen Signifikat findet sich also rekursiv als Unterscheidung seiner menschlichen und göttlichen ‚Natur‘ im Signifikat (d.h. in seiner unterstellten Referenz) ‚Jesus Christus‘ selbst wieder (re-entry). Die Zuordnungen zur Signifikanten-Seite bleiben gleichwohl uneindeutig und verkomplizieren sich trinitarisch noch weiter. Dass sich daraus auch ikonographische Potentiale für bild- und konfessionspolitische Argumentationen im Bildmedium selbst ergeben, führt der Beitrag von Ulrich Heinen im vorliegenden Band vor Augen.98 Und dass diophysitische und trinitarische Potenzierungen Spielraum für semiotische Konflikte bei der Deutung des Nexus von Zeichen und Bezeichnetem bieten, belegt die Geschichte ikonoklastischer und ikonodulischer Diskurse und Praktiken – vom wechselvollen byzantinischen Bilderstreit (726-843) und vom zweiten Konzil von Nicäa (787) bis zur Zeit von Reformation und Gegenreformation und darüber hinaus. Bilderfreundliche Positionen im Gefolge des zweiten Nicaenums bis in die Frühe Neuzeit definieren dagegen den ‚ganzen‘ Christus nicht nur selbst als inkarniertes Real-‚Bild‘, sondern schreiben ihm zusätzlich auch ikonische ‚Einsetzungsakte‘ zu, die ihn „zum eigentlichen Urheber der sakralen Kunst“ und zum „erste[n] Bilderstifter“ erheben.99 Abgesehen vom Evangelisten Lukas als erstem Porträtisten Jesu und seiner Mutter führe demnach Jesus selbst die Similarität ikonischer Mimesis auf ihre 96 Bredekamp, Kunst als Medium (wie Anm. 42), S. 59. Die reichs-, kirchen- u. medienpolitische Brisanz dieser Debatten und die frömmigkeitspraktische Funktion des Monophysitismus-Diskurses im sechsten Jahrhundert erhellt Meier, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. 2. Aufl. Göttingen 2004, S. 216–222, S. 274-276; zum Funktionswandel „religiöser Ausdrucksformen“ zumal in Pestzeiten s. S. 481–569, zu Marienkult und Prozessionswesen S. 489–528 u. zum Zusammenhang von „Bilderkult und Reliquienverehrung“ S. 537f. 97 Bredekamp, Kunst als Medium (wie Anm. 42), S. 56. 98 Zur Dreifaltigkeitsikonographie s. Stock, Dogmatik (wie Anm. 34), S. 263–396; Hecht, Bildertheologie (wie Anm. 67), S. 458–470 und exemplarisch Herrmann, Katharina: De Deo Uno et Trino. Bildprogramme barocker Dreifaltigkeitskirchen in Bayern und Österreich. Regensburg 2010, zur Trinitätstheologie und ihren frömmigkeitspraktischen Medien (Messen, Wallfahrten, Säulen, Kirchen und Altäre) s. S. 21–82. 99 Christine Göttler: Die Disziplinierung des Heiligenbildes durch altgläubige Theologen nach der Reformation. Ein Beitrag zur Theorie des Sakralbildes im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. In: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Bob Scribner. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Forschungen 46). S. 263–297, hier S. 273; zur Ikonographie der LukasLegende s. Kraut, Gisela: Lukas malt die Madonna. Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei. Worms 1986.
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indexikalischen (metonymischen) Ursprünge zurück, nämlich auf den Reliquien-Status des Bildes als Abdruck (Abgar- und Veronika-Bild). Die Ergebnisse des zweiten ökumenischen Konzils von Nicäa (787) verschieben die Akzente auf der Skala zwischen den Extremen semiotischer Differenz und Identität von Signifikant (eikon) und Signifikat (logos) also durchaus ein wenig in Richtung ‚Identität‘. Die inkarnationstheologische Argumentation des Konzils positioniert den Mensch gewordenen Christus als verkörpertes, als ‚wahr‘ geoffenbartes ‚Bild‘ Gottes in einer impliziten Homologie (Bild : Christus :: Christus : Gott) mit Ähnlichkeitspostulaten – oder genauer und im Sinne des ersten Konzils von Nicäa (325) formuliert: mit trinitarischer ‚Wesensgleichheit‘ der Hypostasen ‚Bild ≈ Christus‘ und ‚Christus ≈ Gott‘).100 Dass „Bildlichkeit als sichtbarer Beweis der Inkarnation Gottes“101 gilt, verdeutlicht darüber hinaus, wie sehr sich solche Bildtheologie an der skandalösen Paradoxie abarbeitet, dass Gott ein sterblicher Mensch sein und das ‚Wort‘ (logos) ‚Fleisch‘ (eikon) geworden sein könne (Joh. 1,14).102 Der begriffliche und logische Aufwand, zu dem z.B. noch Peter Hofmanns Interpretation der Bildauffassung des zweiten Konzils von Nicäa aus katholischer Perspektive gezwungen ist, lässt indessen nicht nur die theologische Herausforderung ahnen, sondern verdeutlicht auch die zeichentheoretische Komplexität des Problems – geht es doch darum, die sakramentale ‚Wahrheit‘ des Kultbildes ohne Idolatrieverdacht aus der Beziehung abzuleiten, die zwischen menschlichen Artefakten und ihrem ‚göttlichen‘ Signifikat besteht. Differenz und Identität von Zeichen und Bezeichnetem werden stufenweise und semiotisch zirkulär entfaltet, wobei der menschlich verkörperte Christus als Bild-Medium Gottes fungiert, mit dem er wiederum in Perichorese trinitarisch vereint ist. Das Nicaenum wende, so Hofmann, seine neoplatonischen bild-theoretischen Voraussetzungen nämlich auf den inkarnierten und mit dem Vater wesensgleichen Logos des Sohnes an, der deswegen Eikon des Vaters in den Augen der Menschen wird und somit eine mediale Kettenreaktion der konkreten Bilder auslöst. Der menschgewordene Sohn ist nicht nur – innertrinitarisch präexistent sowie heilsökonomisch inkarniert – das Ur-Eikon des Vaters. Er kann nun auch abgebildet oder ‚abgeschrieben‘, also in einem vom Menschen verfertigten [...] , aber durch einen prototypischen Bezug zum Urbild seinerseits ‚göttlichen‘ Abbild [...] gesehen und erkannt werden. In dieser heilsgeschichtlichen Relationalität legitimieren sich die Bilder als wahre und notwendig Kultbilder; der Verzicht auf sie schlösse die Absage an das wahre Urbild ein.103
100 Vgl. Lange, Günter: Der byzantinische Bilderstreit und das Bilderkonzil von Nikaia (787). In: Handbuch der Bildtheologie. Bd. I: Bild-Konflikte. Hrsg. von Reinhard Hoeps. Paderborn 2007. S. 171–190 und Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 67–86. 101 Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 151. 102 Vgl. Paulus an die Korinther [1. Kor 1,23]: der „[gekreuzigte] Christus, den Juden ein Ärgernis“; Paulus an die Galater [Gal 5,1]: „Ärgernis des Kreuzes“ (Bibel, [wie Anm. 21], S. 197; S. 226); Paulus an die Kolosser [Kol 1,5]: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung.“; Joh 14,6: „niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Bibel [wie Anm. 21], S. 238; S. 130). 103 Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 75.
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Solche Ähnlichkeitsrelationen zwischen ‚Bild‘ und ‚Urbild‘ (Prototyp) werden, so Hofmanns Deutung weiter, rezeptionsästhetisch dynamisiert, so dass „der Betrachter sich vermittels der Ikone dem Ur-Bild angleicht“, das eikon Christus also selbst zum „Medium der Verähnlichung“ werde, die als Äquivalent des ‚Hörens‘ des Verkündigungswortes (logos) gelten könne.104 Ikonische ‚Ähnlichkeit‘ und visuelle Wahrnehmung affiziere demnach auch körperlich, ‚verkörpert‘ sich also in eine Art Bildberührung (Kontiguität).
5 „non dixit: Imago mea vere est vita“. Die Ähnlichkeit der Metonymie und die Kontiguität des Bildes Die Bildkonzeption des zweiten Konzils von Nicäa ist bereits von den Theologen Karls des Großen aufgrund einer unpräzisen päpstlichen Übersetzung der Konzilsakten ins Lateinische (‚Anbetung‘ statt ‚Verehrung‘) der Idolatrie verdächtigt worden und mit einem bildzeichentheoretischen ‚Gegengutachten‘ beantwortet worden. Diese Libri Carolini (Frankfurter Synode 794) bleiben, so Hofmann, bis zu ihrer Verbreitung in der Zeit von Reformation und Buchdruck folgenlos und können als Dokument der ‚Bilderfurcht‘ und fränkischer Ressentiments gegenüber ‚griechischen‘ Einflüssen auf die Westkirche gelesen werden.105 Ihre Argumentation bemüht u.a. die Einsetzungsworte Christi (Matthäus 26,26; Markus 14,22; Lukas 22,19: „Das ist mein Leib“)106 und ihre Präferenz für metonymische, also auf Kontiguität basierende Repräsentation und Einverleibung (‚Fleisch‘ und ‚Blut‘) als Beweis für die Verneinung ikonischer Zeichen, die auf similitudo beruhen: Qui enim dixit: ‚Caro mea vere est cibus et sanguis meus vere est potus; et Qui manducat meam carnem et bibit meum sanguinem, in me manet et ego in illo‘, non dixit ‚Imago mea vere est vita, et pictura nomini meo adscripta vere est salus‘, et ‚Qui pingit meam similitudinem et adorat meam imaginem manufactum, in me manet et ego in illo.‘ [...], non dixit: ‚Nisi depinxeritis meam imaginem et adora[v]eritis meam [...] arte constructam similtudinem, [...] habebitis vitam in vobis‘. [...] dixit: ‚Ego sum panis vivus [...]. [Hervorhebungen von C.-M. Ort]107
„Ego sum“ und „caro [...] est“ exkludiert „Imago mea [...] est“ – ‚Sein‘ tritt zwar an die Stelle einer künstlichen ikonischen Repräsentation des Corpus Christi (‚mea simili104 Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 174; s. auch S. 174–179. 105 Hofmann, BildTheologie (wie Anm. 33), S. 76–79, hier S.79; zusammenfassend S. 86; s. ferner Brock, Bilderstreit (wie Anm. 68), S.37f.; Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 150–152 u. die Einleitung von Ann Freeman in Theodulfus [Aurelianensis]: Opus Caroli regis contram synodum [libri carolini]. Hrsg. von Ann Freeman. Hannover 1998 (MGH Concilia Tomus II Supplementum I). S. 1–93, zur Bilderfrage S. 23–36. 106 Bibel, [wie Anm. 21], S. 104 (Lk 22,19). 107 Theodulfus, Opus Caroli (wie Anm. 105), S. 292–293 [c. II 27].
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tudo‘). Die Metonymien ‚Brot‘ und ‚Wein‘ stehen aber nach wie vor in Ähnlichkeitsbeziehungen zu ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘ (partes pro toto). Der seit dem 9. Jahrhundert immer wieder kontrovers verhandelte semiotische Status der Signifikanten-Parallelisierung von ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘ mit ‚Brot‘ und ‚Wein‘ kulminiert im ‚Abendmahlsstreit‘ zwischen Luther und Zwingli (Marburger Religionsgespräch 1529):108 Parallel zum Bilderstreit lief in der Reformationszeit der Abendmahlsstreit. Die Probleme sind analog. Welche Art von Zeichen ist das Bild? Welche Art von Zeichen ist das Abendmahl? Für den Inkarnationsglauben der östlichen Orthodoxien und zu einem guten Teil des römischen Katholizismus setzt sich im Abendmahl die Inkarnation fort, es ist ein vergegenwärtigendes Zeichen, ein Zeichen, das nicht nur informiert und erinnert, sondern real vergegenwärtigt. Für die verschiedenen reformatorischen Kirchen ist es das nicht.109
Strittig ist, wie sich die beim letzten Abendmahl gegebene Ko-Präsenz der Zeichen (‚Brot‘ und ‚Wein‘) mit Christus, den sie später repräsentieren sollen, in der Eucharistiefeier liturgisch verwirklicht: Entweder als ‚Transsubstantiation‘ (spätestens seit dem vierten Laterankonzil 1215), also in einer ‚Wandlung‘ als dauerhaftem Substanztausch, so dass Zeichen und Bezeichnetes essentiell (aber nicht sichtbar) in ‚Realpräsenz‘ vereint sind oder in der Symbolik von Signifikanten, die lediglich in ritueller und memorialer Funktion auf die Einsetzungsworte Christi verweisen, aber von ihrem abwesendem Signifikat (dem Körper Christi) getrennt bleiben.110 Luthers Position zwischen Transsubstantiation und bloßer Symbolik (Zwingli) tendiert zu einem Verständnis von ‚Realpräsenz‘ als Konkomitanz und erweist sich jedenfalls als antagonistisch zu Positionen, die jede drohende ‚Verwechslung‘ von Zeichen und bezeichnetem Körper von vornherein zu vermeiden suchen.111 Die Ko-Präsenz von Körper- oder Körperteil-Bildern des stigmatisierten Leibes Christi mit seinen metonymischen Symbolen von Hostie und Kelch wird wiederum seit dem Spätmittelalter selbst zum Gegenstand plastischer und piktoraler Darstellungen in Schnitzaltären und Retabeln (etwa mittels der Ikonographie der Gregorsmesse). Sie bilden die dem Sakrament vorbehaltene Real-Präsenz vordergründig ab als inner ikonische Gegenwart des ‚Referenten‘ Jesus Christus mit seinen metonymischen Zeichen ‚Hostie‘ und ‚Kelch‘ für die partes pro toto ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘. Der eucharisti108 Vgl. die knappe Rekonstruktion von Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 168–172 u. S. 86–101, zur Transsubstantiationslehre S. 89–93 sowie Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 364–366. 109 Keel, Kultbildverbot (wie Anm. 74), S. 93. 110 S. Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 89f.; „Präsenz oder Repräsentation“ ist die Alternative, ebd. S. 169. 111 Vgl. auch das Sendschreiben über die gottlosen Bräuche, 1537; zu Luthers Position s. Kaufmann, Thomas: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation. München 2016. S. 169–171; Calvin hält allerdings an Christus als ‚Substanz‘ fest, die „[keiner] physisch-substanzhafte[n] Verbindung von Fleisch und Blut Christi mit Brot und Wein“ bedarf, sich also in spiritueller, nicht körperlicher ‚Realpräsenz‘ befindet (Busch, Eberhard: Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins. Zürich 2005. S. 126).
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sche ‚Gestaltwandel‘ wird bildintern durch die Wanderungen des Blicks zwischen den semiotischen Stationen nachvollziehbar. Solche Darstellungen unterliegen allerdings scharfen Idolatrie-Verdikten der Verwechslung, ja ‚Vermischung‘ nicht-mimetischer (‚symbolischer‘, metonymischer) Signifikanten mit der mimetischen Abbildung des „sakramentalen Körper als eine[m] Zwitter von Körper und Bild“.112 Umgekehrt beruht die volksreligiös populäre, katholische Zeichen- und Bildpolitik der Frühen Neuzeit nicht nur auf Bildern, sondern auch auf Reliquien als metonymischen Relikten113 und auf einer Kontiguisierung von Bildern, die entweder als indexikalische Zeichen ihrer Genese (so im Falle des Abgar-Bildes von Edessa und des ‚Schweißtuches‘ der Veronika) oder als Relikte ihrer Beschädigung oder partiellen Zerstörung gedeutet werden (Gnadenbilder). In der Frühen Neuzeit beschränkt sich der kultische Umgang mit Gnadenbildern von Maria oder Jesus Christus noch nicht allein auf permanentes, aber distanzierendes Zur-Schau-Stellen (wie in Neukirchen b. Hl. Blut im Hochaltar), sondern umfasst deren körperliche Berührung ebenso wie ihre Ausstellung und Verhüllung, die jedoch zeitlich begrenzt, also ereignishaft theatralisiert werden.114 Zugleich betreibt eine seit dem 16. Jahrhundert zusehends autonomisierte und potentiell selbstreflexive ‚Kunst’ die „Historisierung des alten Kultbildes“, das z.B. als Ikone der Madonna nun „im Gemälde als gerahmtes Bild
112 Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 91–93, hier S. 169; s. auch Schlie Heike: Bilder vom Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Berlin 2002 u. Meier, Esther: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus. Köln u. a. 2006; Scribner, Bob: Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit. In: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Bob Scribner. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Forschungen 46), S. 9–20, hier S. 13–15, unterstreicht die Funktion der Liturgie als Medium „eucharistischer Frömmigkeit“ und „‘sakramentale[r] Schau‘“ im Moment der Elevation der Hostie (S. 14f); dort auch zur Ikonographie der Gregorsmesse; s. dazu auch Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 412–416. 113 Zum Aufschwung des Reliquien-Handels seit der Entdeckung der ‚Katakomben-Heiligen‘ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und zu ihrer ‚Inszenierung‘ in Kirchenräumen s. Koudounaris, Paul: Katakombenheilige. Verehrt – Verleugnet – Vergessen. [2013]. München 2014. S. auch Georges Didi-Huberman: Vor einem Bild [1990]. München 2000, S. 193–195 zur ‚Reliquie‘ als ‚Ikone‘ und vice versa sowie die „Phänomenologie der acheiropoietischen Bilder“ in Berns, Jörg Jochen: Nachwort. In: Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreits im 16. Jahrhundert. Band 2. Hrsg. von Jörg Jochen Berns. Berlin, Boston 2014 (Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 184). S. 1065–1213, hier S. 1114–1151. 114 Dazu Hartinger, Walter: Religion und Brauch. Darmstadt 1992, S. 108–112, dort auch zum Neukirchener Gnadenbild; zum Verhältnis von westlicher Reliquienverehrung und östlicher Bilderverehrung im multimedialen Altarraum s. Rauchenberger, Johannes: Orte des Bildes im katholischen Kirchenraum. In: Handbuch der Bildtheologie Bd. II: Funktionen des Bildes im Christentum. Hrsg. v. Reinhard Hoeps. Paderborn 2020, S. 146–185, hier S. 160–162; s. ferner Lentes, Thomas: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von Klaus Schreiner. München 2002. S. 179–219, v.a. S. 193–195; zum Neukirchener Gnadenbild s. Henkel, Rhetorik (wie Anm. 43), S. 199f u. S. 213.
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[erscheint]“.115 Die „alte Aura des Sakralen“ wird „gegen die neue Aura des Künstlerischen eingetauscht“.116
6 Schrift, Bild und ‚Herz‘: Sichtbarkeit und Abwesenheit und die lutherische Bild-Konzeption Schon die frühreformatorische lutherische Bildpolitik mit ihrer Vorliebe für argumentativ instrumentalisierbare, rhetorisch ‚lesbare‘ Bilder zeichnet sich durch selbstreferentielle Potenzierung und die ikonische Präsenz von Schrift aus. So bei Lucas Cranach dem Älteren und Cranach dem Jüngeren, wenn letzterer die Vermittlung der christlichen Botschaft als des biblischen ‚Wortes‘ im Mittelstück des Altars der Kirche St. Peter und Paul in Weimar (1555) in dreifacher Signifikanten-Gestalt abbildet und diese als mediale Synergie in Beziehung setzt – als geschriebenes, als gepredigtes, gehörtes und im Gekreuzigten als sichtbar „Fleisch gewordenes inkarniertes Wort“.117 Wie die eingehende semiotische Analyse des Wittenberger ‚Reformationsaltars‘ und seiner Predella (Lucas Cranach d. Ä. und d. J., 1547; Stadtkirche St. Marien) durch Joseph Leo Koerner (Die Reformation des Bildes 2017, zuerst 2004: The reformation of the image) gezeigt hat, bedient sich die im Bild multimedial inszenierte Didaktik einer ‚Redundanz‘, die den liturgischen Umgang mit Bildern und rituellen Inszenierungen 115 Belting, Kult (wie Anm. 94), S. 510-545, hier S. 545; zur „Kunst als Inszenierung des Bildes in der katholischen Reform“ s. S. 538–545. 116 Belting, Kult (wie Anm. 94), S. 538; vgl. auch Stock, Alex: Keine Kunst. Aspekte der Bildtheologie. Paderborn 1996; s. dazu auch Ganz, David u. Georg Henkel: Kultbilder im konfessionellen Zeitalter. Historischer Überblick und Forschungsperspektiven. In: Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von David Ganz u. Georg Henkel. Berlin 2004 (KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne 2). S. 9–38. 117 Kaufmann, Thomas: Ewiges Wort und zeitliches Bild. Das Bild in der frühen Reformation. In: Bild und Bekenntnis. Die Cranach-Werkstatt in Weimar. Hrsg. von Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk. Göttingen 2015 (Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2015). S. 17–36, hier S. 17; s. dort auch den Beitrag von Christian Hecht: Bildpolitik im Weimar der Reformationszeit. Das CranachTriptychon in der Weimarer Stadtkirche St. Peter und Paul, S. 55–74. Vgl. darüber hinaus zu ‚Sehen‘ und ‚Hören‘ Friedrich, Markus: Das Hör-Reich und das Sehe-Reich. Zur Bewertung des Sehens bei Luther und im frühneuzeitlichen Luthertum. In: EVIDENTIA. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Gabriele Wimböck, Karin Leonhard u. Markus Friedrich. Berlin 2007 (Pluralisierung & Autorität 9). S. 453–479; Wimböck, Gabriele: „Durch die Augen in das Gemüt kommen“. Sehen und Glauben – Grenzen und Reservate. In: EVIDENTIA. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Gabriele Wimböck, Karin Leonhard u. Markus Friedrich. Berlin 2007 (Pluralisierung & Autorität 9), S. 425–450; Wegmann, Susanne: Der reformatorische Blick. Sehen oder Hören – welche Sinneswahrnehmung führt zu Gott? In: Sehen und Sakralität in der Vormoderne. Hrsg, von David Ganz u. Thomas Lentes. Berlin 2011 (KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne 4). S. 292–301, sowie Sollors, Werner: Schrift in bildender Kunst. Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen. Bielefeld 2020. S. 25–77.
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selbst thematisiert und vor mehrfachen Bild-im-Bild-Potenzierungen nicht zurückscheut (was Koerner auch am Beispiel der Predella des Mühlberger Altars, 1568, von Heinrich Göding d. Ä. vor Augen führt).118 Insbesondere die Kreuzigung des geschundenen Gottessohnes als eines ‚Mediums‘ des verborgenen, nicht darstellbaren Gottes erweise sich selbst schon als inkarnierter Ikonoklasmus: Auch das „lutherische Kruzifix ist Ikone und Ikonoklasmus zugleich“ und „das christliche Bild [war] von Anfang an ikonoklastisch [...]. Bild[er] eines Gottes, der litt und starb [...].“119 Die Wittenberger Predella, in der ein predigender Luther auf den Kruzifixus zwischen ihm und der Gemeinde deutet, inszeniert nicht nur die Differenz (und Synergie) von Wort und Bild, sondern spielt auch mit der unsichtbaren Grenze zwischen materiell-physischen Signifikanten und ihren Bedeutungen: Sind erstere künstlich – der Kruzifixus als sakrales Bildwerk – bedeuten sie einen als ‚fleischlich‘ zu imaginierenden Jesus Christus, der als gekreuzigter Mensch wiederum einen nicht darstellbaren Gott repräsentiert. Aber anders als in der Neukirchener IkonoklasmusFigurengruppe aus ‚Bild‘ im Bild und Aggressor verläuft diese bildinterne Grenze nun zwischen Prediger und Gemeinde einerseits und dem zwischen beiden situieren ‚Bild‘ des Gekreuzigten. Beide Szenerien verhandeln das Verhältnis von Ikonoklasmus und Ikonodulie auf subtile Weise – reformatorisch implizit, gegenreformatorisch explizit. Sichtbare materielle Medien wie Schrift und Bild sind für Martin Luther jedenfalls durch ihre Beziehung zum innerer ‚Bild‘ zu rechtfertigen: Der kognitive Übergang vom Lesen und Hören des „leyden[s] Christi“ zur inneren Imagination eines Gekreuzigten rechtfertige auch deren materielle Externalisierung zum Artefakt: „Soll ichs aber hören odder gedencken, so ist myrs unmüglich, das ich nicht ynn meym hertzen sollt bilde davon machen, [...]. Ists nu nicht sunde sondern gut, das ich Christus bilde ym hertzen habe, Warumb sollts sunde seyn, wenn ichs ynn augen habe?“ – befinden sie sich doch bereits im ‚Herzen‘, also am „rechte[n] sitz und wonunge Gottes“.120 Im Unterschied zum Trienter Bilder-Dekret entledigt sich Luther jedoch des impliziten Dilemmas, auf einer kultisch-sakramentalen Funktion der äußeren Bilder trotz Anbetungsverbot zu beharren. 118 Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 103, s. auch S. 495f zur „Mise en abyme der reformatorischen Kunst“ (S. 496); zu Göding eingehend S. 496–507; zum Wittenberger Altar s. auch schon Belting, Kult (wie Anm. 94), S. 520–523 sowie Erne, Thomas: Orte des Bildes im evangelischen Kirchenraum. In: Handbuch der Bildtheologie Bd. II: Funktionen des Bildes im Christentum. Hrsg. v. Reinhard Hoeps. Paderborn 2020, S. 186–202, hier S. 191–193, allerdings ohne Hinweis auf Koerners Deutung; zur lutherischen Bildtheologie s. ansonsten Lentes, Adiaphora (wie Anm. 91). 119 Koerner, Reformation (wie Anm. 45), S. 22f.; s. auch bereits Didi-Huberman, Bild (wie Anm. 113), S. 192–197, S. 201 u. S. 216 über den Zusammenhang von ‚Fleischwerdung‘ des Wortes und ‚Bildwerdung‘ des Fleisches; zu Koerners Deutung s. auch Siegert, Dietrich: Licht an. Licht aus. Abwesenheit und Erfahrung. In: Das Jenseits der Darstellung. Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater. Hrsg. von Thomas Klie u. Jakob Kühn. Bielefeld 2020 (Rerum Religionum. Arbeiten zur Religionskultur 5). S. 71–84, hier S. 73–79; zur lutherischen Bildtheologie des Gekreuzigten s. auch Steiger, Christus pictor (wie Anm. 93). 120 Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament (1525), in Luthers Werke (wie Anm. 78), S. 83.
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Welche Positionen auf der Skala zwischen kultisch-sakramentaler Reverenz gegenüber den materiellen Zeichen einerseits und deren bloßer Referenz auf anbetungswürdige, aber nicht mit ihnen zu verwechselnde Signifikate andererseits bevorzugt wird, unterliegt historisch kontingenten Bedingungen – also insbesondere medientechnischen, ökonomischen und machtpolitischen. Und diese stecken den Rahmen ab, in dem die Praktiken des religiösen und konfessionellen, aber auch des künstlerischen Zeichengebrauchs ausgehandelt werden. Sie prägen theologische, bildwissenschaftliche und literarische Diskurse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, die das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung, von Selbst- und Fremdreferenz, von Immanenz und Transzendenz immer von neuem zu bestimmen versuchen und den Spielraum vermessen, wie weitgehend und in welchen religiösen oder künstlerischen Praxisfeldern Zeichen und Bedeutungen voneinander dissoziiert oder einander angenähert werden können.121 Drüber hinaus erhellt Luthers Medien-Verkettung vom Hören des Wortes und vom Lesen der Schrift über inneres Sehen zur visuellen Wahrnehmung ikonischer Artefakte einen Zusammenhang, dessen diskurs- und mediengeschichtliche Signifikanz v.a. die Forschungen zur Frühen Neuzeit mehrfach hervorgehoben haben, ohne dass seine sozial- und religionsgeschichtliche Funktion präzisiert worden wäre. Wenn, so Niklas Luhmann, die massenhafte printmediale Zunahme situationsabstrakter Kommunikation seit dem 16. Jahrhundert dazu führt, dass „die Gesellschaft [...] auf die zeitliche und interaktionelle Garantie der Einheit der kommunikativen Operation [verzichtet]“, dann bedarf es präsenzmedialer und affektiver „Kompensationen“,122 was die forcierte „Parallelentwicklung mündlicher Kommunikation“ und textbezogener und schriftbasierter „Persuasivtechniken und Rhetorik“ belegt123 – und nicht zuletzt auch Luthers schrift-zentrierter Protestantismus selbst vor Augen führt, dessen Durchsetzung sich zwar wesentlich dem Buchdruck verdankt,124 der zugleich 121 Mit seltener kunstreligiöser Radikalität verhandelt letzteres übrigens Michael Lentz in seinem Roman Schattenfroh. Ein Requiem (2018) und wendet die daraus resultierenden theologischen Konsequenzen exzessiv auf den eigenen Text und dessen Bilder an; s. auch Michael Lentz: Innehaben. Schattenfroh und die Bilder (2020) u. Ort, Claus-Michael: Zimzum und Erzählen. Selbstreflexives Schreiben in ‚Schattenfroh. Ein Requiem‘ (2018) von Michael Lentz. In: Metafiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren. Hrsg. von Wilhelm Haefs, Stefan Brückl u. Max Wimmer. München 2021, S. 155–197. 122 Luhmann, Gesellschaft (wie Anm. 73), S. 258; s. ebd. auch S. 203–315; Sandl, Marcus: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation. Zürich 2011 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 18) bezieht sich auf diesen Theorie- und Argumentationshorizont; s. dazu konstruktiv kritisch Tschopp, Silvia Serena: (K)eine neue Mediengeschichte der Reformation. Zu Marcus Sandls Studie ‚Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation‘. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 37, 2 (2012). S. 462–475. 123 Luhmann, Gesellschaft (wie Anm. 73), S. 287, auch S. 288. 124 Weshalb Hus und Wyclif noch scheitern mussten, so jedenfalls Wasser, Harald: Vom Weltbild der Rhetorik, vom Buchdruck und von der Erfindung des Subjekts. Ein medientheoretischer Essay zum sozialen Wandel. Weilerswist 2012. S. 49; s. auch Kaufmann, Erlöste (wie Anm. 111), S. 72–75.
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aber auch auf Oralität und auditiver Präsenzkultur (Musik und Predigt) beruht. Was Harald Wasser voreilig als „Tragik Luthers“ bezeichnet, die „ihn von einer Paradoxie in die nächste [...] fallen ließ“, da er „mit einem Bein im Mündlichen zu verbleiben suchte, während er mit dem anderen bereits tief in der Gutenberggalaxis stand“,125 verdankt sich also dem von Luhmann angedeuteten langfristigen Dilemma, das sich in der Folge innerprotestantisch im Verhältnis lutherischer und reformierter, aber auch im Verhältnis römisch-katholischer und protestantischer ‚Medienpolitik‘ zeigt. Zwar mag sich die „Gründung des Subjekts“ und der neuzeitlichen „Subjektphilosophie“ auch der Epistemologie des Printmediums verdanken, insofern der Buchdruck und seine „‚Negation mündlicher Formen‘“ den Rückzug des ‚Lesers‘ (und bei Luther auch des ‚Hörers‘) in sein „Bewusstsein“ und sein „Inneres“ fördere.126 Zugleich generieren auditive und visuelle Rezeption (Hören und Lesen) in einem medial formatierten ‚Inneren‘ (im ‚Herzen‘) aber nicht ‚Stimmen‘, sondern ‚Bilder‘ als Äquivalente materiell externer Bildmedien. Auch wenn die „weltlichen Kommunikationssysteme ihre angestammten christlichen Symbole und Programme“127 durch die Reformation nicht so weitgehend verloren haben, wie Michael Giesecke es konstatiert: Dass die „Organisation der (protestantischen) Christen als einer typographischen Kommunikationsgemeinschaft [faktisch] zu einer Abwertung der inneren Welt und der inneren Stimmen zugunsten der äußeren, sichtbaren Umwelt“ beiträgt,128 erscheint ebenso plausibel wie die spätere, gegenläufige Reformbewegung der Frömmigkeit und Verinnerlichung im Pietismus. Luthers „Schriftprinzip“ als Feind jeder ‚Mystik‘, die auf äußere und zumal visuelle Medien verzichten zu können glaubt, 129 entspricht insofern noch einer visuellen Medialität der skripturalen und piktoralen Externalisierung des ‚Unsichtbaren‘. Darüber will das prägnante Resümee von Hans Belting auch nicht hinwegtäuschen: Das Götterbild war als Idol oder als Götze denunziert worden, als Israel das neue Königsmedium der Schrift etablierte. Sie [...] macht auf andere Weise als Bildwerke, nämlich ohne Gefahr der Verwechslung mit dem, was sie sagt, eine sakrale Präsenz durch ein Medium der Abwesenheit erfahrbar: die Schrift ist niemals Wort, sondern dessen Stellvertreter. […]. Das ändert sich mit dem Christentum, […]. Der Text wird durch den Körper Jesu abgelöst, […]. […]. An die Stelle der Schrift tritt ein Körper, nämlich Jesus als Verkörperung des Wortes. Hierin lag die Chance, aber auch das Problem für alle Bildwerke, die diesen Körper darstellen wollten. Er war bereits von
125 Wasser, Weltbild (wie Anm. 124), S. 144; s. auch S. 142f. sowie S. 45–53 u. S. 137–150 über den Zusammenhang von Buchdruck, Reformation und Subjektivität. 126 Wasser, Weltbild (wie Anm. 124), alle Zitate S. 48. 127 Giesecke, Michael: Sinnenwandel. Sprachwandel. Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt/M. 1992. S. 230. 128 Giesecke, Sinnenwandel (wie Anm. 127), S. 230; zur „Verdrängung der inneren Stimmen“ s. S. 231–235. 129 Giesecke, Sinnenwandel (wie Anm. 127), S. 230f.; zur Epistemologie des Buchdrucks s. umfassend Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991.
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Hause aus Bild und machte Bilder Gottes einerseits möglich, wie er andererseits niemals von ihnen ersetzt werden konnte und ihnen in keinem substantiellen Sinne ähnlich war. Deswegen konnten sich die Theologen so ausgiebig über Bild und Nicht-Bild streiten und in der Reformation sogar zum Text zurückkehren, womit die Reformatoren weniger an die alte Kirche als an die Buchreligion anschlossen, die im Christentum überwunden worden war. […]. Die Medienfrage wird in der Zeit Luthers mit der theologischen Frage auf eine neue Weise kontaminiert, als der Buchdruck zum Leitmedium wird.130
Wie ambivalent und in welchen Medienverbünden die Reformation aber an die vermeintlich überwundene ‚Buchreligion‘ anschließt und wie sie das Dilemma aus ‚schwacher‘ und ‚starker‘ religiöser Medialität psychologisiert, also in das ‚Herz‘ als ‚Wohnung Gottes‘ verlagert, hat mit dieser von Belting konstatierten ‚Kontamination‘ von Theologie und Medientechnik zu tun – aber auch damit, dass der Buchdruck sich nicht auf das Zeichensystem ‚Schrift‘ beschränkt, sondern auch Bilder als ‚situationsabstrakte‘ Distanzmedien betrifft. Und vor diesem Hintergrund stellt sich einmal mehr die grundsätzliche religionssemiotische Frage, die Robert Scribner anlässlich einer visuell verfassten Volksfrömmigkeit und unter der Prämisse einer „erkenntnistheoretischen Kluft“ zwischen „Bilderfeinden und Bilderfreunden“ stellt:131 „Wie kam es [...] von einer sakramentalen Auffassung der sinnlichen Welt zu einer antisakramentalen?“132 Wenn „die Bilderfrage“ eine „ontologische[n] Verschiebung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit“ betrifft,133 dann verdankt sich diese ‚Verschiebung‘ in der Tat nicht nur den Umbrüchen der Reformation, sondern stellt sich seit der Spätantike sowohl zwischen Christentum, Judentum und Islam als auch innerchristlich – und zwar aus unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Gründen bis heute. Auch Scribners Frage, „welche Rolle die Massenproduktion der Bilder als Konsumartikel bei der Entsakramentalisierung der Bilder [...] spielte“, stellt sich vor dem angedeuteten Deutungshorizont erneut.134 Dass der „Protestantismus [...] den schriftkulturellen Umbruch [vollzog] und [...] ikonische Präsenz durch Erinnerung und Textexegese [ersetzte]“,135 erweist sich sodann nur als Epiphänomen eines überkonfessionellen Grundproblems.
130 Belting, echtes Bild (wie Anm. 33), S. 87f. 131 Scribner, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 112), S. 19. 132 Scribner, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 112), S. 19. 133 Scribner, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 112), S. 20. 134 Scribner, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 112), S. 19. Ob die printmediale „Reproduzierbarkeit heiliger Bilder“ diese so weitgehend „entritualisiert und desakralisiert“, dass ikonoklastische Tendenzen durch den „Bilddruck“ noch verstärkt werden – so Berns, Nachwort (wie Anm. 113), S. 1139f. –, bleibe dahingestellt. 135 Schlögl, Rudolf: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft. Zf. für historische Sozialwissenschaft 34 (2008). S. 155–224, hier S. 220.
Medien und Religion
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Die in der Frühen Neuzeit kompensatorisch florierende, printmediale Bildproduktion katholischer Volksfrömmigkeit sowie die ebenso populären kirchenräumlichen, skulpturalen, piktoralen aber auch kultisch-theatralen Präsenzmedien beförderten dann erst Recht ihre ‚Entsakramentalisierung‘ zu ‚schwachen Medien‘ – auch wenn die Bildkörper des Gnadenbildes und des Bilderstürmers, welche von der Neukirchener Figuren-Gruppe in Szene gesetzt werden, die drohende Zerstörung des ‚Bildes‘ gerade deshalb plastisch vergegenwärtigen, um vor ihr zu warnen und zugleich an das ‚Wunder‘ zu erinnern, das sich dem Ikonoklasmus verdankt. Eine „historische Kommunikationsforschung“, zumal wenn sie sich den Medien religiöser Kommunikation als Kommunikation mit einem abwesenden Gott zuwendet, der medial unterschiedlich ‚stark‘ oder ‚schwach‘ (re-)präsentiert werden kann, hätte jedenfalls auch für buchexterne und buchinterne Bilder und Medienverbünde zu untersuchen, mittels welcher Strategien der für die Kommunikation unter Anwesenden konstitutive präsentische und performative Charakter bzw. die damit verbundenen Wirkungspotentiale im Modus einer Kommunikation unter Abwesenden zu ‚retten‘ versucht wurden, inwiefern [...] Text- und Bildrhetorik dazu beitragen konnten, die Fiktion einer unter den Bedingungen der ‚Anwesenheitslogik‘ kommunizierenden Diskursgemeinschaft zu erzeugen.136
Religionsgeschichte ist (auch) Mediengeschichte und christliche Theologie immer auch Medien- und Zeichentheorie. Deren kontroverse Positionen werden konfessionspolitisch, d.h. macht- und medienpolitisch insbesondere im Kontext von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg instrumentalisiert – in einem Geflecht aus Diskursen und Praktiken, die ihrerseits unterschiedlich stark verbalisierbares und ikonisierbares „propositionales“ und „prozedurales Wissen“137 über Religion und ihre Medien, über Zeichen, ihre variablen Bedeutungen und ihren Gebrauch generieren. Das Spektrum der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes umfasst Bilder, literarische und nicht-literarische Texte sowie buchinterne und buchexterne Bild-TextBeziehungen (Emblematik) aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die unterschiedlichen Diskurs- und Praxisfeldern und verschiedenen europäischen Regionen und Machtbereichen zuzuordnen sind. Sie stammen aus dem englischen, französischen, spanischen, niederländischen und deutschen sowie böhmischen und siebenbürgischen 136 Tschopp, Mediengeschichte (wie Anm. 122), S. 475. 137 Titzmann, Michael: Wissen und Wissensgeschichte. Theoretisch-methodologische Bemerkungen. In: Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Hrsg. von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf u. Claus-Michael Ort. Berlin 2013 (Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit 2). S. 17–35, hier S.17; „Die Ausübung der Macht erschafft ständig Wissen und umgekehrt: das Wissen hat Machtwirkungen zur Folge.“ (Foucault, Michel: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Hrsg. von Daniel Defert u. François Ewald. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Petra Gehring. Frankfurt/M. 2003. S. 354).
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Sprachraum. Die je rekonstruierten Medien- und Zeichenkonstellationen und ihre Konflikt-, Konkurrenz- oder Synergie-Beziehungen erfüllen einerseits praktische konfessionspolitische Funktionen in je konkreten Handlungs- und Diskurskonstellationen, werden andererseits aber auch in Bildern und Texten selbst thematisiert. Unter verschiedenen Möglichkeiten der Gliederung etwa nach Sprach- und Zeiträumen, Fachgrenzen (von Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaft) oder Medientypen haben wir uns für zwei Sektionen entschieden, die lediglich ein funktionales Kriterium unterscheidet. Die Beiträge in der ersten Sektion Konfessionspolitik als Medienpolitik: Konflikte, Konkurrenzen und Synthesen zeigen, wie konfessionspolitische und kontroverstheologische Positionen konfliktual zugespitzt oder harmonisiert, die damit verbundenen Medienkonflikte befeuert oder zu Medienkonkurrenz und Mediensynergien entschärft werden können. Dies wird auf der Basis von Texten, Bildern und emblematischen Bild-Text-Formaten ausgetragen (vgl. die Beiträge von Gabriele Müller-Oberhäuser, Kai Bremer, Matthias Rekow, Christian Mühling und Johann Anselm Steiger) und implizit verhandelt oder explizit reflektiert, so dass Texte, Bilder und Theater selbst zum Gegenstand der medienpolitischen Auseinandersetzungen werden können (vgl. die Beiträge von Nicola Glaubitz zu Ben Jonson und von Corinne Bayerl) oder aufgrund missliebiger Inhalte getilgt, zensiert und kontrolliert werden (Gabriele MüllerOberhäuser). Die zweite Abteilung Theologie der Medien: Stimme, Schrift, Bild enthält dagegen Fallbeispiele, in denen Bild und Sprache (und letztere als Schrift und als Stimme) primär aufgrund ihrer intrinsischen semiotischen Qualitäten zum Gegenstand von Kontroversen und Reflexionen über ihre Konkurrenz oder Synergie werden, so etwa wenn über ihre religiöse Funktion und theologische Dignität sowie über die praktischen Konsequenzen für Katechese, Unterricht und Meditation nachgedacht wird (siehe die Beiträge von Stephanie Wodianka und Frank Nagel). In diesem Rahmen werden aber auch literarische Texte – epische und dramatische – ‚lesbar‘, die religiöse Medialität explizit thematisieren (Beiträge von Dieter Fuchs zu William Shakespeare und Ralf Haekel zu John Milton). In welch hohem Maße dies auch für selbstreferentielle Bilder gilt, deren trinitarische Ikonographie mit reformatorischen und gegenreformatorischen Argumenten verwoben ist, führt der abschließende Beitrag von Ulrich Heinen vor Augen.
Konfessionspolitik als Medienpolitik: Konflikte, Konkurrenzen, Synthesen
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Verbrennen oder korrigieren Bücherverbrennungen und Bücherverstümmelungen in England unter Heinrich VIII.
Einleitung Die besonders enge Verbindung zwischen der Reformation und dem Buchdruck ist fester und vieldiskutierter Bestandteil der weitreichenden religiösen Umbrüche im Europa des sechzehnten Jahrhunderts. So hat insbesondere Elizabeth Eisenstein diesen Zusammenhang in ihrem Buch The Printing Press as an Agent of Change von 1979 im Kontrast mit der eher begrenzten Reichweite früherer reformorientierter Bewegungen im Rahmen der Manuskriptkultur des Mittelalters betont: „Printing and Protestantism seem to go together naturally as printing and the Renaissance do not.“1 Als Grundlage für diese Einschätzung können einschlägige Aussagen von Zeitgenossen dienen, die sich auch in England finden lassen. John Foxe (1516/17–1587), der Martyrologe der elisabethanischen Zeit, preist rückblickend im Jahr 1573 in seiner Epistle to the Christian Reader die Druckerpresse als Gabe Gottes und als Zeichen göttlicher Vorsehung, die als Waffe im Kampf um die wahre Kirche Christi eingesetzt werden könne und wesentlich zum Sieg über Rom und zur Förderung des wahren Glaubens beigetragen habe, „to the singular benefite of Christes Church, […] and especially to the furtheraunce of true Religion“.2 Der in diesem Paratext von Foxe ebenfalls ausgedrückte Dank an den DruckerVerleger John Day (ca. 1522–1584), der sich in den Dienst der religiösen Reformen gestellt habe, verweist allerdings auch auf problematischere Aspekte des Buchdrucks im religiösen Feld, die nicht ohne weiteres in den meist dominierenden Fortschrittsdiskurs passen.3 Angesichts der gegenüber der Schreiberkultur des Mittelalters erheblich veränderten Buchproduktion unter den Bedingungen einer im 16. Jahrhundert etablierten Buchdruckkultur mit den entsprechenden kapitalintensiven Vervielfältigungsmöglichkeiten ist das Buch nicht nur als Medium der Vermittlung, als materieller Träger von Informationen in Form von Texten und Bildern zu sehen, sondern vor allem als Ware auf einem Markt, und damit kommen die kommerziellen Interessen 1 Eisenstein, Elizabeth: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe. Cambridge 1980. S. 306. 2 Foxe, John: Epistle to the Christian Reader. In: Tyndale, William [u.a.]: The Whole Workes. London: John Day 1573 (STC 24436). Sign. Aii r. 3 Eine komplexere Sicht findet sich auch in einem neueren Buch von Eisenstein, Elizabeth: Divine Art, Infernal Machine. The Reception of Printing from First Impressions to the Sense of an Ending. Philadelphia 2011. https://doi.org/10.1515/9783110725193-002
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und das Profitdenken von Druckern und Verlegern in den Blick.4 Diese könnten – so Foxe warnend – in Gefahr geraten, durch die vorrangige Ausrichtung auf ihren eigenen materiellen Nutzen dem göttlichen Plan und dem Auftrag zur angemessenen Nutzung der Presse zum Zweck der Verbreitung religiöser, reformorientierter Literatur und zum Wohle der Allgemeinheit zuwiderzuhandeln.5 In der folgenden Darstellung geht es um Konflikte im religiösen wie politischen Feld in der englischen Reformation, die mittels des Buches, aber auch unmittelbar am Buch ausgetragen wurden und die in die englische Zensurgeschichte des 16. Jahrhunderts eingeordnet werden können. Zwei Beispielbereiche aus der Regierungszeit Heinrichs VIII. (r. 1509–1547) sollen dies veranschaulichen: Zum einen die Formen der Abwehr der frühen Einflüsse von Luthers Werken in England sowie der englischen Übersetzung des Neuen Testaments durch William Tyndale in den 1520er Jahren (Teil 1), zum anderen einige spezifisch buchhistorisch relevante Auswirkungen der Suprematsakte von 1534 am Beispiel des Kampfes gegen das Papsttum in Verbindung mit der Erinnerungskultur zu Thomas Becket (Teil 2) in den 1530er Jahren. Dabei liegt im ersten Teil der Schwerpunkt auf der völligen Zerstörung der Bücher durch Verbrennen, im zweiten Beispiel dagegen auf den begrenzteren Formen der textlichen Korrektur bzw. Bereinigung, die materiell in vielen Fällen mit mehr oder weniger erheblichen Buchbeschädigungen einhergingen.
1 Bücherverbote und Bücherverbrennungen: Die Abwehr des Einflusses Martin Luthers in England in den 1520er Jahren 1.1 Die Verbrennung von Werken Martin Luthers 1521 in London Der Kontext der öffentlichen und spektakulären Verbrennung von Werken Luthers am 12. Mai 1521 in St Paul’s Cross, im Kirchhof der Kathedrale,6 kann folgendermaßen skizziert werden:
4 Wie sehr auf der anderen Seite der Buchdruck von der Reformation profitiert hat, stellt zu Luther und Wittenberg Pettegree, Andrew: Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation. New York 2015 heraus; Ders.: The Reformation as Media Event. In: Archiv für Reformationsgeschichte 108/1 (2017). S. 126–133. 5 Foxe, Epistle (wie Anm. 2), Sign. Aii r: „[…] not to abuse vnworthely that worthy facultie, […] hauing respecte more to their owne priuate gayne, then regarde the publike edifying of Christes Church, or necessary preferment of Religion.“ 6 Vgl. hierzu Meyer, Carl: Henry VIII Burns Luther’s Books, 12 May 1521. In: The Journal of Ecclesiastical History 9 (1958). S. 173–187.
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Heinrich VIII. und die englischen Bischöfe waren über ihre Netzwerke auf dem Kontinent seit 1518 über Luther informiert, u.a. durch zugesandte Bücher wie z.B. von Erasmus an Thomas More, ohne dass dies zunächst Folgen hatte, da auch in England besonders in humanistischen Kreisen unter dem Einfluss von Erasmus eine gewisse Offenheit für Reformen der Kirche vorhanden war. Offensichtlich konnten Luthers (vorerst nur lateinische) Werke noch eine Zeitlang ohne Probleme nach England importiert werden. So sind sie mit Sicherheit im Jahr 1520 im Day Book des Buchhändlers John Dorne in Oxford, also im universitären Bereich, nachgewiesen.7 Die Situation änderte sich mit der päpstlichen Bannandrohungsbulle vom Juni 1520, in der Luthers Lehren verurteilt und die Verbrennung der Bücher explizit angeordnet wird. Die Nichtbefolgung stand unter Strafandrohung, d.h. Exkommunikation: Die Bücher sollten sogleich nach ihrer Veröffentlichung gesucht, öffentlich und feierlich in Gegenwart der Geistlichkeit und des Volkes verbrannt werden.8 Kardinal Thomas Wolsey (1470/71–1530), Erzbischof von York, Kanzler und päpstlicher Legat, versuchte entsprechend, den Import von Büchern vom Kontinent zu bremsen und ihre Lektüre zu verbieten, allerdings mit nur begrenztem Erfolg. Angesichts der päpstlichen Forderung nach der Verbrennung der Werke Luthers beklagte sich Kardinal Wolsey bei Papst Leo X. (1513–1521), dass seine Befugnisse in England die angeordneten Verbrennungen nicht umfassten, woraufhin ihm Leo X. die Rückversicherung gab, dass dies wohl der Fall sei.9 Schon früh waren die besorgten Berichte vom Kontinent, z.B. von Cuthbert Tunstall (1474–1559), dem (späteren) Bischof von London, angekommen, der sich zu dieser Zeit als Botschafter Heinrichs bei Kaiser Karl V. auf dem Kontinent aufhielt. Er war bis kurz vor dem Eintreffen Luthers in Worms beim Reichstag gewesen und hatte dort auch von Luthers Verbrennen der päpstlichen Bulle und anderer Schriften im Dezember 1520 erfahren. Am 29. Januar 1521 berichtete er an Kardinal Wolsey über die Streitigkeiten und Konflikte in Deutschland, die man unbedingt von England fernhalten sollte. Er riet Wolsey, die Drucker und Buchhändler Londons vorzuladen und sie zu verwarnen: kein Import und keine Übersetzungen ins Englische, lautet die Botschaft! Zudem hat Tunstall von einem weiteren Buch Luthers von 1520 gehört, das die Sakramentenlehre attackiert, De Babylonica
7 Fletcher, Charles R. L. (Hrsg.): The Day-Book of John Dorne, Bookseller in Oxford, A.D. 1520. In: Collectanea. 1. Serie. Oxford 1885. S. 82, 88, 92, 103, 121, 125, 127, 131. 8 „[…] publice, et solemniter in praesentia cleri, et populi, sub omnibus, et singulis supradictis poenis, comburant“, Leo X.: (Exsurge, Domine) Damnatio errorum Martini Lutheri (15. Juni 1520). In: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Hrsg. von Carl Mirbt u. Kurt Aland. Tübingen: J.C.B. 1967. S. 504–513, hier S. 509. 9 Brief von Kardinal de Medici vom März 1521 mit einer päpstlichen Bestätigung von Wolseys Befugnissen zur Bücherverbrennung in England; allerdings seien Verbote und eine Importkontrolle nicht ausreichend: „A general bonfire would be more satisfactory“. Letters and Papers, Foreign and Domestic. Henry VIII (LP). Hrsg. von John S. Brewer [u.a.]. Bd. 3. London 1862–1932. S. 455 (Nr. 1210); Leo X. an Wolsey (17. April 1521). In: Brewer (Hrsg.), LP, S. 468 (Nr. 1234).
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Captivitate Ecclesiae: „I pray god kep that boke out off englond.“10 Am 8. März 1521 berichtete der alarmierte Erzbischof von Canterbury, William Warham (1450–1532), der auch Kanzler der Universität Oxford war, in einem Schreiben an Wolsey über die weite Verbreitung der Werke Luthers in der Universität, „a grete nombre of books of the saide perverse doctrin“, sodass insbesondere die „yong and incircumspect foles“ schon durch solche Bücher voller Irrtümer infiziert seien („infectyd with the heresyes of Luther“).11 Dagegen müsse dringend etwas unternommen werden. Ähnliches wird aus Cambridge berichtet. War man bisher in England davon ausgegangen, dass sich solche ketzerischen Aktivitäten weit entfernt nur auf dem Kontinent abspielten und man auf der Insel davor sicher sei, so kündigte sich an, dass dies – nicht zuletzt wegen der mobilen und grenzüberschreitenden (vorerst primär lateinischen) Bücher – eine Illusion gewesen war.12 Solchermaßen alarmiert, wird Kardinal Wolsey mit den ihm vom Papst verliehenen besonderen Befugnissen zum zentralen Organisator einer konzertierten Aktion gegen den Einfluss von Luther in England:13 Luthers Werke werden von einem Kreis kritischer Leser in einer Kommission, zu der u.a. Thomas More (1478–1535) und John Fisher (1469–1535), Bischof von Rochester, zählen, überprüft, um sie entsprechend zu widerlegen. Das spektakulärste Produkt dieser Bemühungen in der Abwehr von Luther in England ist sicherlich die Assertio Septem Sacramentorum, die Verteidigung der katholischen Sakramentenlehre gegen Luther, die unter der Autorschaft von Heinrich VIII. selbst – wahrscheinlich aber wesentlich unterstützt von John Fisher und Thomas More – verfasst und Papst Leo X. gewidmet wird. Als Belohnung bringt sie Heinrich den von ihm begehrten und vom Papst verliehenen Titel Defensor Fidei ein. Im Juli 1521 wird das Werk durch Richard Pynson (ca. 1449–1529/30), ‚the King’s Printer’, im Quartformat mit 78 Blättern gedruckt (STC 13079), um mittels der lateinischen Sprache und über den Buchdruck (mit einer angemessenen Verspätung, d.h. erst nach der vorrangigen Überreichung der Präsentationsexemplare in Rom) eine gesamteuropäische Rezeption zu ermöglichen, die in der weiteren Entwicklung angesichts von mehreren Auflagen äußerst positiv war.14 Im Herbst 1521 werden in Rom
10 Sturge, Charles: Cuthbert Tunstall. Churchman, Scholar, Statesman, Administrator. London 1938. Bericht über Luther (29. Januar 1521), Appendix II. S. 360–362, hier S. 361. 11 Ellis, Henry (Hrsg.): Original Letters Illustrative of English History. 3. Serie. Bd. 1. London 1846. S. 239–244, hier S. 239, 240. 12 Zur Verbreitung lutherischen Gedankenguts in der englischen Sprache insbesondere durch William Tyndale, John Frith und Robert Barnes s. Whiting, Michael S.: Luther in English. The Influence of His Theology of Law and Gospel on Early English Evangelicals (1525–35). Eugene/Oregon 2010; Clebsch, William A.: England’s Earliest Protestants 1520–1535. New Haven 1964; Ders.: The Earliest Translations of Luther into English. In: The Harvard Theological Review 56/1 (1963). S. 75–86. 13 Rex, Richard: The English Campaign Against Luther in the 1520s. In: Transactions of the Royal Historical Society. 4. Serie 39 (1989). S. 85–106. 14 Scarisbrick, John J.: Henry VIII. London 1968. S. 113: „Henry’s book was something of a bestseller […]; and around it quickly grew a sizable corpus of polemical writings.“
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dem bibliophilen Leo X. durch John Clerk (1481/2?–1541), Bischof von Bath und Wells, als Botschafter Heinrichs in Privataudienz und dann im Oktober in einem nichtöffentlichen Konsistorium die beiden Präsentationsexemplare überreicht, zum einen ein besonders illuminiertes und personalisiertes Pergamentexemplar der Druckauflage mit eigenhändiger Widmung Heinrichs und mit einem Dedikationsbild, auf dem der englische König vor dem thronenden Papst kniet, zum anderen aber noch zusätzlich ein ästhetisch besonders ansprechendes Manuskript mit eindeutigem Unikatcharakter.15 Die Attacke Heinrichs VIII. gegen Luthers Sakramentenlehre blieb allerdings von letzterem nicht unbeantwortet und führte zu einer längeren öffentlichen, d.h. im Druck vermittelten, Auseinandersetzung unter Beteiligung Dritter wie vor allem John Fisher, Bischof von Rochester, aufseiten von Heinrich VIII.16 Während gezielte Anti-Luther-Aktionen mit Hilfe des Wortes, mit den ‚Waffen der Sprache‘, auf der eher abgehobenen Bühne der gelehrten Theologen und Diplomaten verliefen, stand die Verbrennung der Werke Luthers im Mai 1521 unter den Vorzeichen einer – vom Papst gebotenen – großen Öffentlichkeit und angemessenen Feierlichkeit, die sich in der Tradition mittelalterlicher Bücherverbrennungen in der Hand kirchlicher Autoritäten bewegt, wie sie umfassend Thomas Werner in Den Irrtum liquidieren untersucht hat.17 Zur Vorbereitung musste allerdings sichergestellt werden, dass auch genügend Bücher zum Verbrennen für ein weithin sichtbares und die Zuschauer möglichst beeindruckendes bonfire als symbolischer Kern der ganzen Zeremonie vorhanden waren, denn mit ein paar wenigen Exemplaren konnte dies kaum gelingen. So ordnete Kardinal Wolsey für Anfang Mai die Ablieferung von Luthers Werken an, indem die Bischöfe angewiesen wurden, entsprechende Forderungen dahingehend zu verkünden, dass alle Luther betreffende Schriften von Druckern und Buchhändlern wie auch von Privatpersonen abzuliefern seien. Der Ablauf der Bücherverbrennung kann aus den Berichten von Zuschauern weitgehend rekonstruiert werden. Am Sonntag, dem 12. Mai versammeln sich die Botschafter des Kaisers, des Papstes und Venedigs am Palast der Königin; Kardinal Wolsey und alle Bischöfe sind anwesend sowie „a great train of nobles“.18 In einer Pro15 BAV Membr.III.4 und MS Vat.lat. 3731. Vian, Nello: La presentazione e gli esemplari vaticani della ‚Assertio Septem Sacramentorum‘ di Enrico VIII. In: Collectanea Vaticana in Honorem Anselmi M. Card. Albareda. Città del Vaticano 1962 (Studi e Testi 220). S. 355–375 mit Abbildungen. Angesichts der späteren Loslösung von Rom stellte nach 1534 Heinrichs Werk mit der Huldigung des Papstes allerdings ein Problem dar. 16 Doernberg, Erwin: Henry VIII and Luther. An Account of Their Personal Relation. London 1961; Smith, Preserved: Luther and Henry VIII. In: The English Historical Review 25 (1910). S. 656–669. 17 Werner, Thomas: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter. Göttingen 2007; Rafetseder, Hermann: Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel. Wien 1988; Hillerbrand, Hans J.: On Book Burnings and Book Burners. Reflections on the Power (and Powerlessness) of Ideas. In: Journal of the American Academy of Religion 74/3 (2006). S. 593–614; Cressy, David: Book Burning in Tudor and Stuart England. In: The Sixteenth Century Journal 36/2 (2005). S. 359–374. 18 Meyer, Henry VIII (wie Anm. 6), S. 184–187.
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zession zu Pferd geht es nach St Paul’s Cathedral, wo eine Menschenmenge sie erwartet. Heinrich VIII. liegt allerdings krank im Bett und ist daher nicht anwesend. Vor St Paul’s segnet Wolsey die Versammlung, und man begibt sich in den Kirchhof, wo der Kardinal auf einer Bühne erhöht und unter einem Baldachin Platz nimmt, neben ihm der päpstliche Nuntius und der Erzbischof von Canterbury, auf der anderen Seite die Botschafter und der Bischof von Durham. Die anderen Zuschauer und Zuhörer stehen im Kirchhof. Den religiösen Kern bildet die englischsprachige Predigt von John Fisher, Bischof von Rochester und europaweit anerkannter humanistisch gebildeter Theologe. In dieser Predigt (die eher eine lange Abhandlung ist!) konzentriert er sich zwei Stunden lang auf die theologische Widerlegung Luthers und stellt diesen als Ketzer in eine Reihe mit Arius, Donatus sowie – mit klarem Englandbezug – John Wyclif (d. 1484) und mit der von Wyclif ausgehenden Lollardenbewegung, deren Gedankengut zu Beginn der Reformation besonders in London und im südlichen England weiterlebt und als zu bekämpfen gilt. Und während dieser Predigt werden die Bücher Luthers als Visualisierung der Verurteilung Luthers und seiner Lehre verbrannt: „And there were many burned in the said churchyard of the said Luther’s books during the sermon.“19 Wolsey beschließt die Zeremonie mit einer Ansprache in Englisch, „excommunicat ing and cursing Martin and his followers“.20 Diese öffentliche und durchweg feierliche, mit allem kirchlichen Pomp umrahmte und durchinszenierte Bücherverbrennung unter starkem Druck des Papstes und mit einer Vielzahl von Akteuren erhält ihre singuläre Bedeutung durch die enge Verbindung von theologischer Kontroverse und politischen Interessen, in deren Dienst auch der hohe Grad an Inszenierung steht. Heinrich VIII. sucht seine Rolle im europäischen Kräftefeld zwischen Rom, dem deutschen Reich und Frankreich. Medial können wir von einer ausgeprägten Theatralität ausgehen, mit Wolsey als stage maker, sowie von einem beeindruckenden spectaculum für alle Anwesenden. Dieses findet zudem an dem bedeutendsten Ort in London für solche öffentlichen, religiös-politisch relevanten Inszenierungen, statt, nämlich im Kirchhof im Freien an St Paul’s Cross, dem „open air pulpit“, der in der weiteren Geschichte der englischen Reformation als Forum für eine neu entwickelte ‚culture of persuasion‘ und als frühe Form einer ‚public sphere‘ gesehen wird.21 Die Predigt John Fishers im Medium der Mündlichkeit ist tradiertes und bewährtes Mittel der religiösen ‚Erwachsenenbildung‘ sowie der Vermittlung von Moral und Instrument der sozialen Kontrolle; die Predigt ist aber auch geprägt durch eine räumlich und zeitlich begrenzte Reichweite. Sie wird daher ergänzt durch schriftliche 19 Hatt, Cecilia A. (Hrsg.): English Works of John Fisher, Bishop of Rochester (1469–1535). Sermons and Other Writings, 1520–1535. Oxford 2002. S. 145–174. 20 Meyer, Henry VIII (wie Anm. 6), S. 186. 21 Kirby, W. J. Torrance: The Public Sermon. Paul’s Cross and the Culture of Persuasion in England, 1534–1570. In: Renaissance and Reformation 31/1 (2008). S. 3–29, hier S. 5, 6 („[…] Paul’s Cross can be reckoned among the most influential of all public venues in early-modern England“).
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Kommunikation, denn bald nach dem Ereignis erhält der Drucker Wynkyn de Worde (ca. 1455–1534/35) den Auftrag, die englische Predigt Fishers zu drucken und auch für Leser zugänglich zu machen (STC 10894). Zusätzlich übersetzt der Dekan von St Paul’s, Richard Pace, diese Predigt ins Lateinische und lässt sie ebenfalls drucken, sodass die Zielgruppe auf ein gesamteuropäisches Lesepublikum erweitert werden konnte. Während auf der einen Seite die unerwünschten importierten Bücher mit Luthers Werken verdammt und in einer Art Exekution öffentlich vernichtet werden, wird die Druckerpresse auf der anderen Seite für die möglichst weite Verbreitung ihrer Widerlegung eingesetzt. Wenn man nach der Wirksamkeit der Verbrennung mit Blick auf die Vernichtung der Bücher als Träger des lutherischen Gedankenguts fragt, dann ist einsichtig (und das wird auch allen Beteiligten in London klar gewesen sein), dass die Bedeutung dieser Verbrennung einer mehr oder weniger großen Menge von Exemplaren einer Auflage lediglich eine symbolische sein konnte,22 dass aber die Bücher u.a. mit Blick auf einen gesamteuropäischen Buchmarkt und die schwierige Kontrolle des Imports damit nicht endgültig verschwinden würden. So kann diese gesamte Aktion auch weniger als effiziente Vernichtungsaktion der Buchmaterie, als vielmehr in erster Linie als Teil der verschiedenen Verfahren des öffentlichen Beweises der uneingeschränkten Orthodoxie Englands an der Seite Roms, vor aller Augen, sowohl der zu belehrenden (und zu warnenden) englischen wie auch derjenigen der gesamteuropäischen Öffentlichkeit, verstanden werden.
1.2 Die Verbrennung des englischen Neuen Testaments von William Tyndale 1526 in London Um einen etwas anders gelagerten Fall einer Bücherverbrennung mit weniger Breitenwirkung geht es im zweiten Beispiel, nämlich um die Verbrennung von Exemplaren des Neuen Testaments, das William Tyndale in den zwanziger Jahren unter dem Einfluss von Erasmus und Luther ins Englische übersetzt hat und das 1525 bzw. 1526 im Exil auf dem Kontinent gedruckt wurde.23 Hier zunächst kurz der Kontext:24 William 22 „[…] book burning was symbolic, an ‘efficacious sign’ […] This ‘public relations’ aspect […] was even more important than the destruction of the book“, Murray, Alexander: The Burning of Heretical Books. In: Heresy and the Making of European Culture. Medieval and Modern Perspectives. Hrsg. von Andrew P. Roach u. James R. Simpson. Farnham 2013. S. 77–87, hier S. 80. 23 Fry, Francis: A Bibliographical Description of the Editions of the New Testament, Tyndale’s Version in English. London 1878; Daniell, David: The Bible in English. Its History and Influence. New Haven 2003. S. 133–159. 24 Grundlegend Daniell, David: William Tyndale. A Biography. New Haven 1994; Demaus, Robert: William Tyndale. A Biography. Neubearb. Aufl. Amsterdam 1971; zur Theologie Tyndales Dembek, Arne: William Tyndale (1491–1536). Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung. Tübingen 2010.
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Tyndale hatte 1523 nach Studium in Oxford und Cambridge und Tutorentätigkeit in dem ihn unterstützenden Haushalt von Sir John Walsh in Gloucestershire zunächst den als gelehrten Theologen bekannten Cuthbert Tunstall (1474–1559), seit 1522 auch Bischof von London,25 um eine Anstellung in seinem Haushalt gebeten, um dort geschützt seine Übersetzung fertigstellen zu können, allerdings ohne Erfolg. Tyndale hatte sehr auf die Reformoffenheit Tunstalls, der selbst von Erasmus wegen seiner Gelehrsamkeit hoch gepriesen wurde, gehofft und verließ nach dieser Enttäuschung 1524 England. Sein Ziel war es, auf dem Kontinent – vielfach reisend – seine Vision von einer neuen Bibelübersetzung umzusetzen, die nicht mehr wie noch die englische Lollardenbibel vom Ende des 14. Jahrhunderts auf der Vulgata basierte, sondern auf den Originalsprachen, um so eine allen zugängliche Bibel in der Muttersprache zur Verfügung zu stellen, die auf dem Vorbild und den neueren Prinzipien der Bibelübersetzung von Erasmus und Luther beruhte. Der erste Versuch, das englische Neue Testament in Köln und damit in einem eindeutig katholischen Umfeld, wahrscheinlich bei dem angesehensten Drucker in Köln, Peter Quentell,26 produzieren zu lassen, schlug fehl, weil er und sein Unterstützer William Roy (gest. c. 1531) das Pech hatten, dass genau zu der Zeit auch Johannes Cochläus (1479–1552), ein dezidierter Gegner Luthers, in Köln den Druck eines seiner Werke überwachte. Dort erfuhr er von den Druckern von zwei Engländern, die in Köln ihre Übersetzung des Neuen Testaments drucken ließen. Cochläus hatte gute Kontakte zum Kölner Rat, und es gelang ihm auf diesem Weg zu erreichen, dass der Rat die Druckerei überprüfte und den Druckprozess unterband. Tyndale und Roy mussten mit den ersten Druckbögen in Richtung Worms fliehen. Geplant war in Köln ein Quartband mit gedruckten Marginalien (‚with notes‘), von dem angesichts des Abbruchs des Druckvorgangs lediglich die Bögen bis zur Mitte von Mt 22 überliefert sind. Das einzige erhaltene Exemplar des Fragments befindet sich in der British Li brary.27 Tyndale gelang es 1526 aber dann doch, das vollständige Neue Testament in Worms bei Peter Schöffer d.J. drucken zu lassen, im kleineren Oktavformat und ohne Marginalien (sei es aus inhaltlichen oder aus Formatgründen). Von den drei noch vorhandenen Exemplaren des Wormser Druckes ist nur das erst 1994 entdeckte Exemplar in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart vollständig mit Titelblatt, 25 Daniell, Tyndale (wie Anm. 24), S. 83–87; Sturge, Tunstall (wie Anm. 10), S. 128–143. 26 Quentell gilt als überzeugter Katholik, war aber – wie viele Gebildete in der frühen Phase der Reformation – offen für Reformen im Katholizismus. Eventuell käme als Drucker von Tyndales Übersetzung aber auch Hiero Fuchs mit mehr Sympathien für die evangelische Bewegung in Frage (s. Katalog der British Library). Zur eher wenig beachteten Tatsache, dass auch in Köln, einer katholischen Hochburg des deutschen Druckwesens, evangelikale Literatur produziert wurde s. Schmitz, Wolfgang: Buchdruck und Reformation in Köln. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55/1 (1984). S. 117–154, bes. S. 132–133, 135, 138–139, 144. 27 ‚Cologne Fragment‘ (STC 2823) London, British Library G.12179; Tyndale, William: The Beginning of the Newe Testament Translated by William Tyndale, 1525. Facsimile of the Unique Fragment. Hrsg. u. eingel. von Alfred W. Pollard. Oxford 1926.
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allerdings ohne Namensnennungen.28 Die Auflagenhöhe belief sich nach Informationen von Cochläus auf 3.000 Exemplare für beide Ausgaben.29 Brieflich wurden Heinrich VIII., Kardinal Wolsey und Bischof John Fisher mit Blick auf die zu erwartenden Importe aus Köln gewarnt, damit sie die englischen Häfen besser überwachen könnten, ein mit Blick auf die weitere Editionsgeschichte des englischen Neuen Testaments auf dem Kontinent, vor allem in Antwerpen, nur begrenzt erfolgversprechendes Unternehmen!30 Exemplare der Wormser Auflage von 1526 (und eventuell auch einige der Fragmente von 1525) gelangten über die üblichen Handelswege über den Rhein oder über Antwerpen dennoch nach England,31 wie aus Befragungen von unter Verdacht geratenen Buchbesitzern und Buchhändlern, z.B. Robert Necton, im Rahmen ihrer Geständnisse ab 1526 und 1527 erkennbar wird. Insgesamt stößt Tyndales Neues Testament bei den Obrigkeiten auf erheblichen Widerstand.32 Man muss dabei in Rechnung stellen, dass der im Vergleich zum Kontinent größere Widerstand gegen eine volkssprachliche Bibel in England durch die besondere Erfahrung mit der Übersetzung aus dem Kreis um John Wyclif am Ende des 14. Jahrhunderts und die darauf basierende Bewegung der Lollarden vorbelastet ist, da diese von kirchlicher Seite als Ketzer gesehen und entsprechend verfolgt wurden. In diesem Zusammenhang gilt nach wie vor das in Reaktion auf Wyclif erlassene Verbot jeder neuen (unautorisierten) Übersetzung der Bibel in die Volkssprache, das in den Constitutiones von 1408/09 von Thomas Arundel (1353–1414), Erzbischof von Canterbury, fest verankert war:33 Eine Bibelübersetzung ins Englische und Ketzerei sind seitdem fest verbunden. Im Oktober 1526 werden Exemplare von Tyndales Neuem Testament in einer öffentlichen Bücherverbrennungszeremonie in London in St Paul’s Cross vernichtet, die Cuthbert Tunstall als Bischof von London organisiert und bei der er auch eine
28 Worms 1526 (STC 2824): Stuttgart WLB (ein vollständiges Exemplar), St Paul’s Cathedral Library (nur ein Fragment), London, British Library (C.188.a.17) hat einen vollständigen Text, aber kein Titelblatt. 29 So Cochläus in Commentaria de Actis et Scriptis Martini Lutheri von 1549, nach Pollard, Alfred W.: Introduction. In: Pollard (Hrsg.), Beginning (wie Anm. 27), S. ix–x. 30 Zur komplexen Druckgeschichte Fry, Description (wie Anm. 23); Verbraak, Gwendolyn: William Tyndale and the Clandestine Book Trade. A Bibliographical Quest for the Printers of Tyndale’s New Testament. In: Infant Milk or Hardy Nourishment? The Bible for Lay People and Theologians in the Early Modern Period. Hrsg. von Wim François u. August den Hollander. Leuven 2009. S. 167–189, bes. S.179–181 (Liste der Drucke). 31 Avis, Frederick C.: Book Smuggling into England During the Sixteenth Century. In: GutenbergJahrbuch 47 (1972). S. 180–187; Ders.: England’s Use of Antwerp Printers 1500–1540. In: Gutenberg-Jahrbuch 48 (1973). S. 234–240. 32 Alton, Craig d’: The Suppression of Lutheran Heretics in England, 1526–1529. In: Journal of Ecclesiastical History 54/2 (2003). S. 228–253. 33 Wilkins, David (Hrsg.): Concilia Magnae Britanniae et Hiberniae. 4 Bde. Bd. 3. London: Gyles Gosling and David Woodward 1737. S. 314–319, Constitutio VII, S. 317.
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Predigt hält.34 Diese ist leider im Wortlaut nicht überliefert und ihr Inhalt ist daher nur ansatzweise aus Berichten von Anwesenden bekannt, wie z.B. von John Lambert, der die Verbrennung beklagt. Versuche der Rechtfertigung des Verbrennens dieser Bücher, immerhin nicht irgendeines Werkes eines unter Ketzerverdacht stehenden Autors, sondern des Neuen Testaments, erscheint nicht allen Zuhörern als überzeugend. Vor allem die Behauptung, dass der Bibeltext inkorrekt übersetzt sei und 2.000 oder gar 3.000 Übersetzungsfehler aufweise und daher das Wort Gottes verfälsche, wird insbesondere von denjenigen, die sich wie John Lambert mit evangelikalem Gedankengut identifizieren, nicht akzeptiert.35 Diese Bücherverbrennung ist als ein sinnfälliger Bestandteil der von Tunstall im Hintergrund geförderten und groß angelegten Kampagne gegen den Einfluss Luthers in England zu sehen, in der besonders der von Tunstall dazu aufgeforderte Thomas More in einer polemischen Auseinandersetzung mit William Tyndale in der Folgezeit eine herausragende Rolle in einem battle of books spielen sollte.36 Was die Wirkung der Verbrennung mit Blick auf die erstrebte Ausschaltung der Bücher in England anbetrifft, so gilt auch hier, dass der Druck des Neuen Testaments unter veränderten Vorzeichen in Antwerpen weitergeht, wo Tyndale ab 1528 nachgewiesen ist. Neben den von Tyndale nicht autorisierten Drucken erscheint 1534 seine eigene verbesserte Fassung der Übersetzung des Neuen Testaments, sodass insgesamt eine erhebliche Menge an Exemplaren auf dem Markt gewesen sein dürften. Sie werden insbesondere von den englischen Händlern in Antwerpen, allen voran von den einflussreichen Merchant Adventurers, zwischen Stoffballen und anderen Handelswaren nach England geschmuggelt. In Antwerpen wird Tyndale für das Druckverfahren durch die dort gut organisierten englischen Händler unterstützt, die im sog. Englischen Haus ihr Zentrum haben, das als Ort der Konversion vieler junger Engländer gilt.37 Er selbst findet im burgundisch-habsburgischen Flandern als Verfolgter im Haus von Thomas Poyntz Zuflucht und Hilfe bis zum Verrat durch einen gewissen Henry Phillips, der zu seiner Gefangenschaft und Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen im Oktober 1536 in der Nähe von Brüssel führte.38
34 Martin, Jan James: Cuthbert Tunstall, Thomas More, John Fisher and the Burning of William Tyndale’s 1526 New Testament. In: Reformation 18/1 (2013). S. 84–105. 35 Moynahan, Brian: William Tyndale. If God Spare my Life. A Story of Martyrdom, Betrayal and the English Bible. London 2003. S. 101–102. 36 Betteridge, Thomas: Writing Faith and Telling Tales. Literature, Politics, and Religion in the Work of Thomas Morus. Notre Dame/Indiana 2013. S. 111–153; zur Kontroverse zwischen More und Tyndale, dokumentiert vor allem in Tyndales An Answer unto Sir Thomas More’s Dialogue und in der Entgegnung von More in A Confutation of Tyndale’s Answer s. Daniell, Tyndale (wie Anm. 24), S. 269–380. 37 Sutton, Anne F.: The Mercery of London. Trade, Goods and People, 1130–1578. Aldershot 2005, bes. S. 384–394. 38 Buxton, Brian: At the House of Thomas Poyntz. The Betrayal of William Tyndale with the Consequences for an English Merchant and His Family. Lavenham 2013; Daniell, Tyndale (wie Anm. 24), S. 361–384.
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Neben der Gewährung von Schutz dürften die Händler in Flandern auch die Drucklegung unterstützt bzw. vorfinanziert haben, motiviert von der Hoffnung auf einen guten und möglichst schnellen Absatz, Kapitalrückfluss und Gewinn, denn ein solch kostenintensives Druckvorhaben konnte Tyndale keinesfalls ohne Hilfe durchführen. Neben religiösen Motiven vieler finanzkräftiger Unterstützer unter den Händlern spielten immer auch ökonomische Interessen eine nicht zu unterschätzende Rolle: Finanzielle Investitionen in Bücher für den nicht so weit entfernten englischen Markt im Allgemeinen und in ein solches Bibeldruckunternehmen im Besonderen wurden angesichts der offenkundig vorhandenen Nachfrage, die man schon auf dem Kontinent für ähnliche Vorhaben des Bibeldrucks beobachtet hatte, als gewinnbringend eingeschätzt. Gerade der boomende religiöse Buchmarkt in dieser Umbruchszeit zeigt, dass nicht nur die reformatorische Bewegung von der Druckerpresse profitiert hat (siehe Foxe), sondern dass umgekehrt gerade das Druckwesen des 16. Jahrhunderts aus der Reformation erheblichen ökonomischen Gewinn gezogen hat und wirtschaftliche Überlegungen zentral für jedes Publikationsvorhaben waren, unabhängig vom Grad der Ausprägung einer religiösen Motivation.39 Argwöhnisch beobachtet wurde die laufende Produktion von Tyndales Neuem Testament und anderen Werken auf dem Kontinent in Antwerpen in den dreißiger Jahren von Agenten Wolseys wie Sir John Hackett, englischer Botschafter in den Niederlanden, dessen briefliche Berichterstattung aus Flandern nach England in den Jahren 1526 bis 1534 besonders aufschlussreich über evangelikale Distributionsnetzwerke und die beteiligten Personen wie den Händler Richard Harmann informiert.40 Hackett gab sich danach alle Mühe, in Mechelen bzw. in Antwerpen Druck auf die Regentin Margarete von Österreich sowie auf die Stadt Antwerpen auszuüben und sie zu veranlassen, die Drucker zu bestrafen. Dies zeigte aber sowohl wegen der Uneinigkeit über die juristischen Zuständigkeiten als auch angesichts der wirtschaftlichen Interessen der Stadt an dem florierenden Buchmarkt kaum Wirkung. Daher bemühte sich Hackett, wenigstens die schon gedruckten englischen Bücher weitgehend aufzukaufen, um sie zum Verbrennen nach England zu schicken. 1527 informierte z.B. der Erzbischof von Canterbury, William Warham, die anderen Bischöfe, „that by an expenditure of £ 62 9s. 4d. he had got into his hands all the bokes of the New Testament translated into Englesshe and pryented beyonde the sea“,41 eine Summe, die wahrscheinlich für ca. 1.000 Exemplare in Bögen gereicht und kurzfristig nicht viele auf dem Markt gelassen hat, aber eben nur bis zur nächsten Auflage!
39 Fudge, John D.: Commerce and Print in the Early Reformation. Leiden 2007, bes. S. 164–206. 40 Rogers, Elizabeth Frances (Hrsg.): The Letters of Sir John Hackett. Morgantown 1971, z.B. Hackett an Wolsey am 22. Dezember 1526 („I made grett dylygence to se the for bokes bowrnt and the imprimwrs to be cryminally punnyshed”, S. 57) und am 12. Januar 1527 („all the forsayd Englyshe bookes bowrnt to the fyre“, S. 65). 41 Pollard, Introduction (wie Anm. 27), S. x.
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Die in der Chronik von Edward Hall (gest. 1547) überlieferte und oft zitierte Episode, dass ein gewisser Augustine Packington, ein Sympathisant von Tyndale in Flandern, in einer bewussten Täuschung Bischof Tunstalls sogar Tyndales Zustimmung zum Aufkauf (und damit zum Verbrennen!) von Exemplaren seines Neuen Testaments erhalten habe, damit Tyndale mit diesem Geld die von ihm geplante verbessere Neuausgabe (die 1534 in Antwerpen erscheint) finanzieren könne, ist wohl als Legende zu bewerten. Allerdings beleuchtet das Ende der Geschichte als Pointe allgemein die Grenzen des ganzen Aufkaufs- und Vernichtungsunternehmens unter den Bedingungen des Buchdrucks, wenn Bischof Tunstall, der das bezahlt haben soll, sich später bei Packington darüber beklagt, dass trotz Aufkauf und finanziellem Aufwand überall laufend neue Exemplare auftauchten. Packington verteidigt sich damit, dass er, wie versprochen, alle verfügbaren Exemplare aufgekauft habe, aber die Pressen und die Typensätze natürlich nicht zerstört seien und weiter funktionierten: „I perceiue thei haue made more sence, and it will never be better, as long as thei haue the lettres and stampes, therefore it wer best for your lordeshippe to bye the stampes to.“42 Wenn aber die Buchproduktion in einem anderen Land von England aus kaum zu kontrollieren war, blieb vonseiten der Autoritäten aus der Ferne nur der Versuch, in entsprechenden Proklamationen mit Listen von Titeln verbotener Bücher zumindest den Import und die Distribution – und damit eine mögliche Rezeption in England – zu verbieten und alle diesbezüglichen Handlungen entsprechend unter Strafandrohung zu stellen, wie es in den Proklamationen von 1529 und 1530 gegen ‚heretical books‘ und gegen Bibelübersetzungen („Prohibiting Erroneous Books and Bible Translations“) zu lesen ist.43 Betrachtet man die beiden Bücherverbrennungen von 1521 und 1526 als Beispiele für die Abwehr des Einflusses Luthers auf die Insel, so kann man festhalten, dass zu diesem frühen Zeitpunkt ‚nur‘ Bücher verbrannt werden, noch keine Menschen als Ketzer auf dem Scheiterhaufen landen, wie es aus der Lollardenzeit bekannt ist und wie es recht bald wieder unter Tunstalls Nachfolger als Bischof von London, John Stokesley (1475–1539), geschehen wird. Bischof Cuthbert Tunstall gilt allgemein in Europa als humanistisch gebildet, in religiösen Diskussionen als moderat, umsichtig und sehr geduldig im Gespräch mit unter Ketzerverdacht geratenen Personen, die er befragt und verbal sehr lange mit Argumenten zu überzeugen sucht, dies mit einer recht hohen Erfolgsquote. Selbst John Foxe bescheinigt ihm in seinem Märtyrerbuch, dass er kein großer Ketzerverfolger gewesen sei („no great bloody persecutor“).44 42 Hall, Edward: The Vnion of the Two Noble and Illustre Famelies of Lancastre [and] Yorke. London: Richard Grafton 1548 (STC 12722). Fols. clxxx r–clxxx v, hier fol. clxxx v. 43 Hughes, Paul L. [u.a.] (Hrsg.): Tudor Royal Proclamations (TRP). Bd. 1: The Early Tudors. New Haven 1964. S. 181–186 (6. März 1529, mit einer Liste verbotener Bücher, u.a. von Tyndale, S. 185–186) und zum Verbot von Bibelübersetzungen (22. Juni 1530), S. 193–197. 44 Sturge, Tunstall (wie Anm. 10), S 117.
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Die besondere Bedeutung der Vernichtung des Buches durch Feuer statt durch Zerreißen, Ins-Wasser-Werfen usw. ist nicht nur unter dem Aspekt der Effizienz mit der endgültigen Vernichtung zur Asche zu fassen, sondern, wie es Thomas Werner und Hermann Rafetseder ausführlich diskutiert haben, in noch stärkerem Maße auf der symbolischen Ebene anzusiedeln, die die unmittelbar beteiligten Akteure wie auch das Publikum in verschiedener Hinsicht betreffen kann: etwa unter den Vorzeichen von Befreiung und Reinigung der Gemeinschaft oder als Reue und Buße des abschwörenden Autors oder Buchbesitzers, der selbst seine Bücher ins Feuer werfen muss. Und wenn nach kirchlichem Verständnis auf Ketzerei der Feuertod steht, dann ist der Feuertod des Buches als stellvertretende Hinrichtung in Form der Auslöschung des brainchild des Autors, den man nicht greifen kann, zu deuten. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang vor allem die Frage nach den Legitimations- und Delegitimationsstrategien der beteiligten Akteure, nach den zeitgenössischen Diskursen über Bücherverbrennungen jenseits unserer modernen Perspektive, sei es in Paratexten wie von Tyndale in The Practice of Prelates von 1530 oder in Briefen, wie sie z. B. in der Ablehnung von Bücherverbrennungen bei Erasmus zu sehen ist, der als Beobachter der von der Papstbulle ausgelösten Kette der Bücherverbrennungen in katholischen Hochburgen Europas seine Skepsis äußert.45 Oder aber in Form der literarischen Satire im Dienst reformatorischer Bemühungen wie bei Jerome Barlowe and William Roy in ihrem Rede me and be nott wroth aus dem Jahr 1528, das in Straßburg gedruckt wurde, mit einer mock dedication an Kardinal Wolsey, den Tyrannen. In diesem Text wird die Verbrennung des heiligen Testaments 1526 in London durch Tunstall und Wolsey als Hauptverantwortliche als Verbrechen („[…] whatt villany, / They did vnto the gospell”, Vv. 709–710) und als Blasphemie delegitimiert („So to recompence their madde blasphemy / Seynge they burned his holy testament / Thorowe the prowde cardinals tyranny“, Vv. 51–53).46 In christlich-humanistisch geprägten Diskursen zum Umgang mit Texten, die aus Sicht der Kirche mit Irrtümern behaftet sind, wird auf das Unkraut-Weizen-Gleichnis (Mt 13, 24–30) verwiesen, wenn es um die schwierige Entscheidung über Ketzerverdacht geht. Gibt es wirklich unter diesen Texten solche, die durch und durch von Irrtümern durchsetzt und so verderbt sind, dass sie radikal, mit der Wurzel ausgerissen und ganz verbrannt werden müssen, oder ist in ihnen nicht auch möglicherweise bedenkenswerte Wahrheit enthalten, und könnte man die Irrtümer nicht korrigieren? Läuft man nicht Gefahr, den Weizen mit dem Unkraut zu vernichten? Die Rechtfertigung der Radikalität der Büchervernichtung wird dagegen zum einen mit Hinweis auf ein bestimmtes Übermaß an Irrtümern gegeben (wie die 2.000 bis 3.000 45 Meyer, Henry VIII (wie Anm. 6), S. 178 zu einem Brief von Erasmus an Oecolampadius vom 14. oder 15. Mai 1520; zu Tyndales Klage über die Verbrennung seines neuen Testaments s. Daniell, Tyndale (wie Anm. 24), S. 191–192. 46 Barlowe, Jerome u. William Roy: Rede Me and Be Nott Wrothe. Hrsg. von Douglas H. Parker. Toronto 1992. S. 76, 58.
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Tyndale angelasteten Übersetzungsfehler), aber darüber hinaus auch in der Zuschreibung einer prinzipiellen Bösartigkeit des Autors als Gehilfe des Teufels, dem eine entsprechend böswillige Haltung und Handlungsintention der Schädigung (und Ansteckung) der Gemeinschaft unterstellt wird, die eine vollständige Vernichtung seiner Werke notwendig macht.
2 Expurgation, Textkorrektur und Buchbeschädigung: Heinrich VIII. und Thomas Becket In der Zensurforschung hat sich vor allem aus Historikersicht das Interesse in erster Linie auf die öffentliche und meist spektakuläre Bücherverbrennung mit dem Ergebnis der endgültigen Vernichtung der Bücher gerichtet, nicht zuletzt auch, weil diese als offizielle und legitimierte Akte, die nach einem strukturierten Verfahren verlaufen, besser dokumentiert sind, während der Aspekt der teilweisen Zensur in Form von Textkorrekturen weniger Aufmerksamkeit erfahren hat. Thomas Werner hat daher in dem schon genannten Buch Den Irrtum liquidieren eine Erweiterung der Forschungsperspektiven durch Berücksichtigung von „bücherverbrennungslosen Zensurfällen“ wie Verbergen, Vergraben u.a.m. vorgeschlagen.47 Ausgehend von der Frage nach den verschiedenen Ausprägungen physischer Gewalt in religiösen Umbruchsituationen und Konflikten, die sich sowohl gegen Menschen wie gegen ihre materiellen Ausdrucksformen wie Bilder, Skulpturen und eben auch Bücher richten, können solche Formen verbrennungsloser Zensur am Beispiel des Umgangs mit überlieferten Texten als Repräsentanten und Vermittler einer unter veränderten Bedingungen nun kritisch bewerteten oder sogar abgelehnten Vergangenheit in den Blick genommen werden. Als konkretes Beispiel kann die veränderte Sicht auf Thomas Becket (ca. 1120–1170) zu Beginn der englischen Reformation von den 1530er Jahren an dienen. Als Erzbischof von Canterbury wurde Thomas Becket bekanntlich 1170 im Konflikt mit Heinrich II. in seiner Kathedrale ermordet und schon 1173 von Papst Alexander III. als Märtyrer heiliggesprochen; sein Grab in Canterbury wurde zur wichtigsten Pilgerstätte in England.48 Den Kontext für die folgende Darstellung zu Umdeutungsprozessen mit Textänderungen und möglicherweise auch mit Buchbeschädigungen bilden die mit der Suprematsakte Heinrichs VIII. von 1534 verbundenen juristischen und politischen Vorgaben in ihrer Auswirkung auf das religiöse Leben in England. Unmittelbarer Untersuchungsgegenstand sind die überlieferten Bücher selbst in ihrer Materialität, sowohl als Manuskripte als auch als gedruckte
47 Werner, Irrtum (wie Anm. 17), S. 52. 48 Duggan, Anne: Thomas Becket. London 2004; Vollrath, Hanna: Thomas Becket. Höfling und Heiliger. Zürich 2002; Barlow, Frank: Thomas Becket. Berkeley 1986.
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Bücher bis ca. 1530, ergänzt durch historische Quellen zu den Textänderungsprozessen, die sich unter den Stichworten ‚Expurgation‘ und ‚Korrektur‘ fassen lassen. Mit der Lösung von Rom im Jahr 1534 erklärt sich Heinrich VIII. zum weltlichen Oberhaupt der englischen (nationalen) Kirche. Zur Durchsetzung dieser Neuordnung gehören eine Reihe von Statuten, die die päpstliche Autorität im Volk zum Verschwinden bringen sollen, so im Jahre 1535 ein Statut, das anordnet, dass der Papst in seiner Autorität aus dem öffentlichen wie privaten religiösen Leben zu streichen sei, mündlich wie vor allem auch schriftlich, also aus den liturgischen und religiösen Büchern getilgt werden muss: „utterly to be abolished, eradicated, and erased out, and his name and memory be nevermore […] remembered, but perpetually suppressed and obscured.“49 Im November 1538 wird dieses Löschungsgebot rückwirkend auch auf Thomas Becket ausgeweitet, denn dieser sei kein Heiliger und Märtyrer, sondern ein Werkzeug des Papstes gewesen; er habe sich als Rebell und Verräter gegen Heinrich II., seinen „most noble progenitor“, gestellt und für Unfrieden und Aufruhr im Land gesorgt.50 Diese umgeschriebene Vita Beckets fungiert als Begründung der befohlenen Zensurmaßnahmen, die sich auf verschiedene Medien, vor allem auf Bilder, Statuen, Glasfenster und Bücher beziehen, aus denen Beckets Name zu löschen sei, „erased and put out of all the books“.51 Eine solche Anordnung zur Zerstörung der memoria ‚von oben’ zum Zweck der Markierung eines radikalen Bruchs mit einer zum Teil abgelehnten Vergangenheit, zumindest was die höchste Autorität in der englischen Kirche anbetrifft, hat sich entsprechend im Sinne von punktuellen zensorischen Eingriffen in ältere Bücher, vor allem liturgische, aber auch religiöse im Privatgebrauch wie Stundenbücher und Heiligenlegenden, ausgewirkt. Im Falle von Becket ist dies besonders interessant, handelt es sich doch hier um den beliebten englischen Heiligen aus dem Mittelalter, der europaweit in einem verbreiteten Becket-Kult verehrt wurde und in der Liturgie nicht nur im Heiligenkalender, sondern auch in einer eigenen Becket-Liturgie fest verankert und so im allgemeinen Bewusstsein auch der buchfernen Gläubigen im religiösen Leben besonders präsent war.52 Wie wurde eine solche Anordnung im Umgang mit Büchern umgesetzt? Wie groß war die Akzeptanz und der Gehorsam angesichts des Gebots der Expurgation? Oder gab es Widerstand? Mit solchen Themen ist man weit entfernt von aufwendig inszenierten Bücherverbrennungen; vielmehr bewegt man sich auf der Ebene textlicher Kleinarbeit am Buch und der materiellen Auswirkungen auf der Seite der Buchbenutzer und Leser. Damit wird der Bereich der historischen Leseforschung berührt, 49 Enforcing Statutes Abolishing Papal Authority in England (27 Henry VIII, Westminster, 9 June 1535). In: Hughes (Hrsg.), TRP (wie Anm. 43), S. 229–232, hier S. 231. 50 Removing St. Thomas à Becket from the Calendar (30 Henry VIII, Westminster, 16 November 1538). In: Hughes (Hrsg.), TRP (wie Anm. 43), S. 270–276, bes. S. 275–276. 51 Hughes (Hrsg.), TRP (wie Anm. 43), S. 276. 52 Slocum, Kay Brainerd: Liturgies in Honour of Thomas Becket. Toronto 2004.
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denn mit einem solchen Löschungsgebot wird ein aktiver Leseprozess über den reinen Buchbesitz hinaus als notwendig vorausgesetzt. Zugleich wird unter den Vorzeichen der Zensur die Verantwortung für den bereinigenden Eingriff in den Text auf die Rezipienten verlegt, die ihren vorhandenen Buchbestand ‚korrigieren‘ sollen. Die nicht-zeitgenössischen Bücher sind schon länger im Besitz, sei es im liturgischen Buchbestand einer Pfarre oder aber in einer privaten Sammlung; sie sollen nun neu angepasst, bereinigt, korrigiert and verbessert werden („to purge, to amend, to reform the books“ u.a.m.). Einige Aspekte, die besonders relevant für den Umgang mit dem Medium Buch in dieser Umbruchsituation sind, die durch Heinrich VIII. eingeleitet wurde, sollen kurz skizziert werden. Zu den wichtigen allgemeinen Unterscheidungen gehört vor allem die zwischen kollektivem und privatem Buchbesitz in der Hand der Geistlichkeit, die primär verantwortlich für Liturgie und Predigt ist, zum anderen der private Buchbesitz von Laien. Gattungsmäßig steht im Sinne der Proklamationen die im weitesten Sinne religiöse Literatur im Mittelpunkt. Zunächst zur Geistlichkeit: Die Bischöfe werden aufgefordert, in Visitationen Geistliche in ihren Pfarreien zu überprüfen, indem sie deren Bücher genauer durchsehen lassen. Aus den Quellen, die in erster Linie aus Berichten der kontrollierenden Akteure an Schatzkanzler Thomas Cromwell (ca. 1485–1540) bestehen,53 ergibt sich auf den ersten Blick das Bild einer weitgehenden Befolgung, unterstützt durch die Tatsache vieler beschädigter liturgischer Bücher, die bis heute überliefert sind.54 Aber auf der anderen Seite zeigen sich in den Berichten an Cromwell auch erhebliche Schwierigkeiten und Widerstände, wenn liturgische Bücher bei der Kontrolle gar nicht korrigiert oder nur sehr nachlässig, nicht korrekt, systematisch und durchgehend korrigiert vorgefunden wurden.55 In einigen Fällen sind die Striche so dünn, dass man die Streichungen nur mit „pen and ink“ kaum sehen kann, was als unzureichend bewertet wird. Hier wird verlangt, dass man völlig schwärzen und den Text somit unlesbar machen müsse („to blot out“).56 In extremen Fällen werden die Namen nur mit Papier und Wachs, also leicht ablösbar, überklebt, vielleicht in der Hoffnung des Nutzers, dass man das einmal wieder rückgängig machen könnte.57 Pfarrmitglieder werden zur Anzeige (sprich Denunziation) ihrer Pfarrer aufgefordert, und es werden Strafen verhängt. Die andauernden Bemühungen um die Durchsetzung in der Geistlichkeit machen deutlich, dass man sich der Tatsache bewusst war, dass diese der wichtigste Vermittler des Wissens über die von Heinrich VIII. initiierten Verän-
53 Berichte an Thomas Cromwell in Brewer (Hrsg.), LP (wie Anm. 9), Bde 8–13 (Januar 1535–Dezember 1537) und Bde. 13 und 14 (Januar 1538–Dezember 1539). 54 Maskell, William: A Dissertation Upon the Ancient Service Books of the Church of England. Oxford 1882, insbes. Kap. 10. S. cxcvii-ccxxi. 55 Brewer (Hrsg.), LP (wie Anm. 9), Bd. 10, Nr. 14 (2. Januar 1536). 56 Brewer (Hrsg.), LP (wie Anm. 9), Bd. 10, Nr. 1182 (22. Juni 1536). 57 Brewer (Hrsg.), LP (wie Anm. 9), Bd. 8, Nr. 1020 (11. Juli 1535).
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derungen durch Predigt und Liturgie war, durch die das ganze Volk erreicht werden konnte und nicht nur die wesentlich kleinere Gruppe der Buchbesitzer und -leser. Die Geistlichkeit, die nun umgehend dem König statt wie bisher dem Papst einen Treueeid leisten musste und ihm als Oberhaupt der Kirche Gehorsam schuldete, stand wegen ihrer öffentlichen Rolle unter Beobachtung der Gemeinden und der Visitatoren und war somit auch leichter kontrollierbar. Dagegen konnte sich der private Buchbesitzer einer solchen Kontrolle eher entziehen. Zu fragen ist, wie sehr sich das Wissen um das Streichungsgebot unter den buchbesitzenden Laien verbreitet hat und ob sie dieses Wissen in die Tat umgesetzt haben, d.h. ob und inwieweit sie ihre Bücher in Bezug auf Papst und Becket tatsächlich ‚bereinigt‘ haben. Während im Klerus eventuell viele Streichungen als Gehorsamsleistung unter Druck und damit auch oberflächlich aus Sicherheitsgründen zu interpretieren sind, können unterschiedliche Umgangsweisen mit Büchern im Privatbesitz möglicherweise mehr Hinweise auf tatsächliche religiöse Einstellungen und Haltungen von Individuen zu den Veränderungen in der englischen Kirche nach der Lösung von Rom geben. Die bisher an der Zahl eher überschaubaren Untersuchungen haben sich vor allem auf den engeren Bereich des Umgangs mit religiöser Literatur konzentriert, wie Eamon Duffy in seiner Studie zu den Stundenbüchern für die private religiöse Praxis.58 Dunstan Roberts hat in seiner Studie sowohl private Gebetbücher als auch Bücher für die Liturgie59 untersucht, und Martha Driver streift in ihrem Buch über Illustrationen im frühen Buchdruck das Thema der Streichungen von Bildern nach 1534.60 Meine eigenen Untersuchungen in englischen Bibliotheken haben darüber hinaus eine nicht-religiöse Gattung einbezogen, nämlich die mittelalterlichen Chroniken, vor allem Manuskripte mit dem sog. Prose Brut, in denen die Kapitel zu Heinrich II. im Konflikt mit Becket im Mittelpunkt des Interesses standen. Ziel war es, einschätzen zu können, wie weit das Gebot zur Säuberung möglicherweise auch in andere Textgattungen hineingewirkt hat.61 Auf dieser Grundlage können einige zentrale Aspekte der Ergebnisse zusammengefasst werden. Zunächst zu den religiösen Büchern. Festzuhalten ist, dass die Befolgung des Gebots Heinrichs VIII. in religiösen Büchern im Privatbesitz ebenfalls festzustellen ist, wenn auch sehr viele Bücher keinerlei Anzeichen von Eingriffen zeigen, eventuell weil sie einfach nicht mehr benutzt wurden, oder aber als Zeichen der Verweigerung und des Widerstands gegen Heinrichs Anordnung. Interessanter wird es bei 58 Duffy, Eamon: Marking the Hours. English People and Their Prayers 1240–1570. Part 3: Catholic Books in a Protestant World. New Haven 2004. S. 121–177. 59 Roberts, Dunstan: Expurgation of Traditional Prayer Books (c. 1535–1600). In: Reformation 15 (2010). S. 23–49. 60 Driver, Martha: The Image in Print. Book Illustration in Late Medieval England and Its Sources. London 2004. Kapitel 6: Iconoclasm and Reform. S. 185–214. 61 Müller-Oberhäuser, Gabriele: „Erased and put out of all the books“. Zensur und Expurgation von Büchern in der englischen Reformation am Beispiel von Thomas Becket. In: Frühmittelalterliche Studien 51 (2017). S. 267–323.
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den Exemplaren, an denen – mehr oder weniger gehorsam und gründlich – getilgt, gestrichen, gekratzt, zum Teil auch geschnitten wurde, und zwar nicht nur am Text, sondern gerade auch bei Becket an Bildern, die meist die zentrale Mordszene vor dem Altar zeigen und daher als Darstellung des Märtyrertums erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Allerdings sind gerade in besser ausgestatteten Manuskripten (anders als bei den Drucken!) eine gewisse Zurückhaltung und die Tendenz zu beobachten, das Bild zu verschonen und eher nur den Text mit dem entsprechenden Gebet zu beschädigen wie in British Library, MS Harley 2900 (fol. 56v), in dem der Gebetstext durchkreuzt ist. In British Library, MS Harley MS 2985 (fols. 29v-30r) ist das an den Hl. Thomas gerichtete Gebet auf der dem Bild gegenüberliegenden RectoSeite radikal herausgeschnitten worden, während das Bild völlig unbeschädigt ist. Wie auch immer der Einzelfall aussieht: Texte und Bilder können bei den illustrierten Manuskripten und Drucken nicht getrennt voneinander betrachtet werden, zumal die Proklamation auch explizit die Zerstörung von Bildern mit einbezog. Art und Textumfang der Streichungen bestimmen die angewandten Verfahren: So ist es eine Sache, das einzelne Wort papa zu streichen, eine Zeile wie in British Library, MS Royal 2.B.VII (fol. 83r) auf dem Dezemberkalenderblatt mit der Löschung des Todestages Beckets auszuradieren oder textliche Becketbezüge wie in British Library, MS Stowe 22 (fol. 25r) zu löschen.62 Aber es ist eine andere Sache, eine ganze Passage oder gar ein ganzes Kapitel zu Becket aus der Legenda Aurea zu löschen; dann wird meist nur grob quer über die Seite durchkreuzt, wodurch die Lesbarkeit allerdings weitgehend erhalten bleibt, wie es an einigen Exemplaren der Drucke der Legenda Aurea von William Caxton (1415x24–1491) und Wynkyn de Worde im BecketKapitel deutlich wird. Für die praktische Durchführung der Zensuranordnung Heinrichs spielen die technischen Verfahren und die benutzten Instrumente für die daraus resultierende Text- und Buchgestalt eine große Rolle, nicht zuletzt mit Blick auf den Schrift- bzw. Druckträger. Pergament hält beim Radieren und Schaben mehr aus als Papier, wasserlösliche Tinten können anders ‚gelöscht’ werden als öl-basierte Druckerschwärzen! Mit dem Federmesser richtet man anderes und mehr an als mit Tinte und Feder. Gerade das Ausmaß der Veränderung des Textes wie der Grad der damit einhergehenden ‚Verschandelung’ des Buches hängen damit eng zusammen, wie man es an einem schönen, 1511 in Paris auf Papier gedruckten Stundenbuch in Cambridge (SSS 15.20) sehen kann, in dem die Papstnamen so heftig ausradiert wurden, dass erhebliche Löcher entstanden sind und es sich weniger um ein korrigiertes, d.h. ‚reformed book‘, sondern vielmehr um ein ‚mutilated book‘ handelt.63 62 Abbildungen zu Becket aus Manuskripten der British Library in London unter britishlibrary.typepad.co.uk/digitisedmanuscripts/2001/09/erasingbecket.html (23.01.2021); weitere Abbildungen in Duffy, Hours (wie Anm. 58), S. 148–157, 161, 164f. 63 Z.B. fols. lxxii v–lxxiii r; vgl. auch Roberts, Expurgation (wie Anm. 59), S. 32 („sheer vandalism“); in Bezug auf beschädigte Bilder durch ausgekratzte Augen und Gesichter Camille, Michael: Obscenity under Erasure. Censorship in Illuminated Medieval Manuscripts. In: Obscenity, Social Control and
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Man kommt der religiösen Haltung und den möglichen Motiven des einzelnen Buchnutzers näher, wenn neben der sanften Durchstreichung mit Erhalt der völligen Lesbarkeit oder der einfachen Tilgung mit der Schaffung einer gräulichen Lücke, einer Leerstelle, die Stelle neu überschrieben wird, wenn z.B. statt pope dann bishop of rome oder gar Antichrist eingefügt wird, oder wenn bei Becket martyr durch traitor ersetzt und die Neueinschreibung für zukünftige Leser auf Dauer fixiert wird, d.h. zum festen Bestandteil des Buches wird. Der für den Leserforscher ergiebigste Fall ist natürlich der, dass nicht nur kleinere Lücken im Text punktuell wieder gefüllt werden, sondern auf den Rändern weitere Anmerkungen wie „this is a popish boke“ oder gar längere Annotationen erscheinen.64 Hier geht es nicht mehr nur um die simple Befolgung des Löschungsgebots, möglicherweise nur aus Gehorsam und oberflächlicher Konformität, sondern um eine klare und explizit vertextete Stellungnahme, die Bekenntnischarakter annehmen kann. In aktiver Auseinandersetzung mit dem Text wird in der Marginalie auf der Grundlage eines genaueren linearen Leseprozesses an den Rändern neu Sinn gesetzt und eine Art Dialog im Buch verankert, der mit einer Grenzziehung zwischen damals und der veränderten Sicht der Gegenwart einhergeht. Wenn dann noch das Buch hintereinander von mehreren Besitzern mit zum Teil auch unterschiedlichen Meinungen annotiert wird, die aufeinander reagieren, wie es Elizabeth Bryan 2006 an Bodleian Library, MS Hatton 50 gezeigt hat,65 dann ist eine interessante Mehrstimmigkeit im Buch für die Zukunft festgeschrieben. Ähnlich interessant, wenn auch rar, sind lesersteuernde allgemeine, das ganze Buch betreffende Einschreibungen. So wurde in einem Manuskript mit John Lydgates Boccaccio-Übersetzung, The Fall of Princes, aus dem 15. Jahrhundert und mit einer kurzen Chronik auf den Vorsatzblättern in einer späteren Schrift im Vorderdeckel innen ein kleines Gedicht an den Leser eingefügt, in dem dieser aufgefordert wird, die Stellen, in denen der Papst noch auftauchen sollte, doch bitte selbst auszustreichen, verbunden mit einer Loyalitätserklärung an Heinrich VIII. (Bodleian Library, MS Rawlinson C. 448).66 Wenn auch die religiösen Bücher in solchen Untersuchungen zur Expurgation durch einzelne Buchnutzer durchaus berechtigt im Mittelpunkt der Forschung
Artistic Creation in the European Middle Ages. Hrsg. von Jan M. Ziolkowski. Leiden 1998. S. 139–154 („these small theaters of destruction“, S. 145). 64 Zur Marginalienforschung Sherman, William H.: Used Books. Marking Readers in Renaissance England. Philadelphia 2008; Pearson, David: Books as History. The Importance of Books Beyond Their Texts. London 2008; Milde, Wolfgang: Metamorphosen. Die Wandlung des Codex durch den Leser oder der dritte Aspekt der Handschriftenkunde – ein Überblick. In: Gutenberg-Jahrbuch 70 (1995). S. 27–36. 65 Bryan, Elizabeth J.: Dialoguing Hands in MS Hatton 50. Reformation Readers of the Middle English Prose ‚Brut‘. In: Readers and Writers of the Prose Brut. Hrsg. von William Marx [u.a.]. Lampeter 2006. S. 131–187. 66 „Who reddith in this boke discretly, / Finding the pope in ony place, / Put him out I beseech yow hertely, / For I refuse hym and all his trace, / Submyttyng my syllf to our kings grace, / Who is owr hede and most noble governor, / Whom god preserve every tym and howr.“
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stehen, so hat doch das Einbeziehen der mittelalterlichen Chroniken mit Blick auf die Kapitel zum Konflikt zwischen Heinrich II. und Becket gezeigt, dass die Buchbesitzer und Leser auch in historischen Werken korrigierend in die Texte eingreifen, jedoch nicht so häufig und vor allem nicht so drastisch mit stärkeren Beschädigungen wie im Falle religiöser Bücher.67 Die beiden zuletzt genannten Beispiele mit expliziten Marginalien sowie mit einem Gedicht, MS Hatton 50 und MS Rawlinson C. 448, beziehen sich interessanterweise auf Chroniken. Die zentrale Frage ist, wie man die Vielfalt der Einzelbeobachtungen an den religiösen wie den historischen Büchern im Privatbesitz einordnet und deutet, ob man vor dieser Vielfalt kapitulieren sollte – jedes ist durch den Eingriff des Lesers irgendwie anders und letztlich einzigartig –, oder ob man auf der Grundlage der Art und des Umfangs der Eingriffe nicht doch so etwas wie eine Typologie der Reaktionsmöglichkeiten entwickeln kann. Das Problem der Interpretation von Streichungen und Substitutionen wird in der Forschung je nach Einschätzung und Bewertung der Besonderheiten der englischen Reformation unterschiedlich angegangen: Die einen sehen die Vielzahl der Streichungen und vereindeutigenden (negativen) Kommentare aus der Feder von Buchnutzern bzw. -lesern als deutliches Zeichen einer willigen Befolgung der Forderung Heinrichs, als Zustimmung und damit als Zeichen einer auch von unten akzeptierten Reformation mit dem König als weltlichem Oberhaupt der Kirche in England – dies oft in deutlicher Abwehr von Sichtweisen einer nur erzwungenen Reformation von oben, die eigentlich keine Basis im frommen und romtreuen Volk gehabt habe. Dieser anderen Position entsprechend werden deutliche Verweigerungen der Befolgung des Zensurgebots oder ein nur sehr vorsichtiges, auf den Erhalt der Lesbarkeit ausgerichtetes Umgehen mit den gestrichenen Textstellen häufig als Indiz für die tiefe Verwurzelung des Volkes im römischen Katholizismus interpretiert (so Eamon Duffy). Auf der anderen Seite wird wiederum gerade die häufige Befolgung des Gebots im Privatbereich durch Laien, auch in Verbindung mit Texten in der englischen Sprache statt der lateinischen, als nicht explizit geforderte Leistung angesehen, vor allem bei ausführlichen Annotationen, die somit eher freiwillig und aus religiöser Überzeugung erbracht wird.68 Weniger beachtet wird m.E. allerdings, dass mit der Umsetzung zugleich erhebliche praktische Probleme verbunden waren, die sich gerade in der ansonsten leichter erscheinenden Kontrolle des institutionellen Buchbesitzes in Kirchen und Klöstern feststellen lässt. Es muss nicht immer Nachlässigkeit oder gar religiöser Widerstand der Grund für nicht erfolgte oder nur unsystematisch durchgeführte Streichungen sein. Zum einen fehlen häufig die Kommunikationsmittel, um unter dem von Thomas Cromwell und Erzbischof Thomas Cranmer (1489–1556) erzeugten zeitlichen Druck 67 Grundlage sind ca. 40 Chroniken in Manuskripten aus dem 15. Jahrhundert sowie einige vom Beginn des 16. Jahrhunderts im Besitz von Bibliotheken in London (British Library und Lambeth Palace Library) und in Oxford (Bodleian Library). 68 Roberts, Expurgation (wie Anm. 59), S. 26 („supererogatory censorship“).
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möglichst schnell eine große Zahl von Adressaten auf lokaler Ebene über die Anordnung zu informieren, sodass John Longland (1473–1547), Bischof von Lincoln, sogar die Druckerpresse zur Vervielfältigung und damit zur Beschleunigung der Umsetzung einsetzt.69 Zum anderen gelingt es selbst mit den klarsten textbezogenen Ausführungsanordnungen einiger bemühter Bischöfe wie John Clerk, Bischof von Bath und Wells, im Jahr 1535 nicht, alle Stellen in der Liturgie korrekt anzugeben (was genau bis wohin?), an denen durch die zum Teil auch überforderten Geistlichen in den Gemeinden gestrichen werden musste.70 Und wenn im wenig bis gar nicht kontrollierbaren Privatbereich dennoch ein Buchbesitzer in einer umfangreichen mittelalterlichen Chronik wirklich alle Stellen, die mit dem Papst zu tun haben, finden und löschen möchte, erforderte dies vom Leser als gründlichem Zensor einiges an Aufwand, von ästhetischen Widerständen gegen das Beschädigen oder gar Ruinieren von illuminierten alten Büchern ganz zu schweigen. Daher kann man zur wichtigen Interpretationsfrage der am Buch festgestellten Merkmale festhalten, dass nicht jeder Verzicht auf Eingriffe ein Zeichen des latenten Widerstands aus religiösen Motiven heraus sein muss, sondern es sich auch um sehr praktische Gründe handeln kann. Deutlich wird damit aber zugleich, wie schwierig die Interpretation der beobachteten Eingriffe (bzw. der völlige Verzicht auf diese) mit Blick auf die tatsächlichen Motive und religiösen Einstellungen der als Zensoren am Buch agierenden Individuen ist, und wie hilfreich es ist, wenn die Buchbesitzer namentlich bekannt sind und in weiteren Quellen Informationen über sie zu finden sind wie im Fall von MS Hatton 50, d.h. wenn zusätzlich zu den Indikatoren im Buch eine historische Kontextualisierung möglich ist. Abschließend lässt sich zu den Expurgationen als Form der Zensur das Folgende im Vergleich mit den Bücherverbrennungen sagen: Im Spannungsfeld von Text und Buch ist jeder Eingriff in den Text auch immer einer in die Materialität, und je nach Art und Ausmaß des Eingriffs mit entsprechenden Schädigungen des Buches verbunden. Das Resultat ist ein markiertes Buch, das Zeichen der Aneignung und Neuanpassung an eine veränderte religiöse Situation in die weitere Zukunft vermittelt statt durch Verbrennen völlig ausgelöscht zu werden. Das engagiert markierte Buch veranschaulicht in Anlehnung an Margaret Astons Studie über Ruinen im Rahmen der Auflösung der Klöster in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts „the visible rupture with the past“71 und ist als Zeichen des durchaus konflikthaften Dialogs mit der Vergangenheit im Kontrast von Gelöschtem, Bewahrenswertem und Neuem zu deuten. Die völlige
69 Wabuda, Susan: Bishop John Langland’s Mandate to his Clergy, 1535. In: The Library. 6. Serie 36 (1991). S. 255–261, bes. S. 258. 70 Mézerac-Zanetti, Aude de: Reforming the Liturgy under Henry VIII. The Instructions of John Clerk, Bishop of Bath and Wells (PRC, SP6/3, fols. 42r–44v). In: Journal of Ecclesiastical History 64 (2013). S. 96–111, S. 103–111: Appendix (25 auf liturgische Texte bezogene Instruktionen). 71 Aston, Margaret: English Ruins and English History. The Dissolution and the Sense of the Past. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 36 (1973). S. 231–255, hier S. 232.
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Vernichtung des Buches in der öffentlichen Verbrennung bringt die Verachtung und Verdammung der in der Materie Buch vermittelten Gedanken sowie seiner Urheber zum Ausdruck. Sie zielt damit letztlich langfristig auf das Vergessen und bedeutet im Moment der Buchvernichtung das Ende jeden Diskurses. Dagegen veranschaulicht das markierte (und möglicherweise beschädigte) Buch konkret den Konflikt zwischen Tradition und Umbruch, sowohl auf textlicher wie auf materieller Ebene, aus der Sicht der betroffenen Individuen in ihrem Bemühen um ihre religiöse Identität zu Beginn der Reformation in England, die als eine Phase der Infragestellung jahrhundertealter religiöser Gewissheiten und damit großer Verunsicherung erlebt wurde.
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Bildpropaganda im Konflikt Der Streit um das ‚Prager Bild‘ 1585 In meiner Studie über die volkssprachlichen Religionsstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts findet sich ein Kapitel, in dem der komplexe Streit zwischen dem Stuttgarter Hofprediger Lucas Osiander und den beiden Wiener Jesuiten Georg Scherer und Christoph Rosenbusch über das sog. ‚Prager Bild‘ rhetorikgeschichtlich rekonstruiert und interpretiert wird.1
Abb. 2.1: Das ‚Prager Bild‘ 1585, abgedruckt nach Bremer: Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 1), S. 135.
1 Bremer, Kai: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104). S. 134–173. Die folgenden Überlegungen bauen auf meinen Ausführungen ebd. auf. Sie nehmen das in der Dissertation Erörterte auf und entwickeln es in zweierlei Hinsicht weiter. Zum einen werden neuere Forschungen zum Thema ergänzt und berücksichtigt. Zum anderen liegt mit der Frage der Beurteilung des Streits als Medienkonflikt eine Neuausrichtung vor, so dass die Überlegungen neu akzentuiert werden. https://doi.org/10.1515/9783110725193-003
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Kai Bremer
Ergänzend dazu liegen weitere Studien zu diesem Streit vor.2 Was aber alle diese Untersuchungen bisher nur am Rande beachtet haben, ist der Umstand, dass hinter dem ‚Wort-Streit‘ um ein Bild zwischen dem Lutheraner und den beiden Jesuiten ein komplexerer Medienstreit im Sinne des vorliegenden Sammelbandes steht, der im Folgenden aufgearbeitet werden soll. Das geschieht in zwei Schritten: Zunächst wird das Bild, das den Streit auslöste, historisch kontextualisiert und interpretiert. Anschließend soll gezeigt werden, wie über das Bild nicht nur mit Worten, sondern auch mit einem weiteren Bild im Medium Streitschrift gestritten wurde, um die mediale Verfasstheit dieses Medienkonflikts in seiner Vielfalt und Komplexität zu beschreiben.
1 Historischer Hintergrund: Das ‚Prager Bild‘ Das Bild, das den Streit initiierte, wurde auf Veranlassung der Prager Jesuiten im Rahmen der Feierlichkeiten zur Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies an den deutschen Kaiser Rudolf II. erstellt.3 Die Ordensverleihung an den Kaiser erfolgte ausgesprochen spät angesichts des Umstands, dass der Orden selbst von zentraler Bedeutung im Herrschaftsverständnis der Habsburger war. Gegründet wurde er 1429. Schon zu dieser Zeit verband der Begriff ‚Orden‘ mönchische und militärische Diskurse und Ideen.4 Er stand in der breiten, frühchristlichen Tradition der militia christi, die im Spätmittelalter reaktualisiert wurde.5 Der Orden war zunächst in Burgund gegründet worden, gelangte dann durch die Heirat von Maria von Burgund mit Maximilian von Österreich, dem späteren Kaiser, in die Obhut der Habsburger. Dass der Orden sich trefflich in dessen Konzept von Ritterlichkeit fügte, liegt auf der Hand. 2 Vgl. Gloning, Thomas: The Pragmatic Form of Religious Controversies around 1600. A case Study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch Controversy. In: Historical Dialogue Analysis. Hrsg. von Andreas H. Jucker [u.a.]. Amsterdam, Philadelphia 1999. S. 81–110; Glüer, Juliane: Moves and strategies in a religious pamphlet war. Protestants vs. Jesuits in the 1580s. In: Theological Controversies. Hrsg. von Marcelo Dascal [u.a.]. Gießen 2001 (Controversies in the République des Lettres. Technical report 4). S. 18–41; Bremer, Kai: Techniken der Leserlenkung und -selektion im volkssprachlichen Buch der Gegenreformation um 1600. In: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period. Hrsg. von Karl A. E. Enenkel u. Wolfgang Neuber. Leiden, Boston 2005 (Intersections 4). S. 509–531; Paintner, Monika: ‚Des Papsts neue Creatur‘. Antijesuitische Publizistik im Deutschsprachigen Raum (1555–1618). Amsterdam, New York 2011 (Chloe 44). S. 220–298; Bremer, Kai: Kat. 6.9. (Rettung der Jesuiter Vnschuld), 6.10. (Triumph der Wahrheit). In: Luther und Tirol. Religion zwischen Reform, Ausgrenzung und Akzeptanz. Hrsg. von Leo Andergassen. Schloss Tirol 2017. S. 172f. 3 Vgl. Vocelka, Karl: Die politische Propaganda Kaiser Rudolfs II. (1576–1612). Wien 1981. S. 140–146; Ders.: Rudolf II. und seine Zeit. Wien [u.a.] 1985. S. 86f. 4 Vgl. Vocelka, politische Propaganda (wie Anm. 3), S. 142f. 5 Vgl. Wang, Andreas: Der ‚Miles Christianus‘ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit. Frankfurt a. M. 1975.
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Mit der Aufnahme Maximilians in den Orden avancierte dieser zugleich zu einer Art habsburgischem Hausorden – und zwar sowohl für die spanischen als auch die österreichischen Habsburger. Besonders deutlich wird das im Familienbild der Habsburger von Bernhard Strigel, auf dem der Kaiser links und u.a. auch dessen Enkel Karl, der spätere Kaiser Karl V., zu sehen ist. Alle männlichen Habsburger tragen auf dem Bild, das heute im Kunsthistorischen Museum Wien hängt, die Ordenskette.6 Auch auf dem berühmten Bild Karls V., das in der Alten Pinakothek München zu sehen ist, vielfach Tizian zugeschrieben wird, heute aber als Arbeit von Lambert Sustris gilt, trägt der Kaiser den Orden.7 Er stand nicht nur für soziale Gemeinschaft, sondern auch für Gemeinschaft im Glauben. So erschien 1535, also noch vor dem berühmten Porträt des Kaisers, ein Holzschnitt, der ihn zusammen mit den Rittern vom Goldenen Vlies als Verteidiger des Weinbergs Gottes zeigt.8 Für unseren Zusammenhang zentral ist zunächst, dass die Ordensikonographie mit diesem Flugblatt, soweit ich sehe, erstmals auf die Reformation bezogen wird. Es gab die an sich dezenten Hinweise auf den Orden in den vor- und nachreformatorischen Herrscher-Porträts. Sie waren eindeutige Bekenntnisse, zugleich aber wird kaum zu behaupten sein, dass ihnen polemisches Potential eigen war. Sie resultieren entschieden aus einer vorreformatorischen Tradition. Bei dem Holzschnitt 1535 ist das erkennbar anders. Hier wird Kaiser Karl V. als Verteidiger eines dezidiert katholischen Weinbergs dargestellt. Zweifellos markiert ist das durch einen zentralen Kelch, aus dem heraus die übrigen sechs Sakramente gespeist werden, von denen bekanntlich mit Ausnahme der Taufe die übrigen fünf rein katholische Sakramente sind. Ergänzt wurden die bildlichen Hinweise und Bekenntnisse zum Orden diskursiv. 1579 publizierte Reichshofrat Georg Eder, der dieses Amt unter Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. ausübte, ein umfassendes Buch mit dem Titel Das guldene Fluess.9 Eder stand im direkten Austausch mit den Wiener Jesuiten und war ein vehementer Verfechter der römisch-katholischen Kirche und Gegner der Ausgleichsbemü6 Vgl. www.khm.at/objektdb/detail/1849/ (22.01.2021). 7 Vgl. https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/RQ4XP7p410 (28.01.2021). 8 Vgl. Thomas, Alois: Die Darstellung Christi in der Kelter. Eine theologische und kulturhistorische Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde des Weinbaus. Düsseldorf 1935 (Forschungen zur Volkskunde 20/21 [1935]). S. 136f., vgl. dort Abb. 25. Das Prager Bild geht auf einen Holzschnitt aus dem Jahr 1535 zurück, der ein Wappenbild der Ritter vom Goldenen Vlies darstellt. Der Aufbau des Bildes ist gleich geblieben, doch wurde das Personal aktualisiert. Im Zentrum ist 1535 Karl V. abgebildet, während 1585 gleichberechtigt Rudolf II. und Philipp II. nebeneinander stehen – Ausdruck für das brisante Machtgefüge des Ordens, weil in diesem Philipp II. dem Kaiser übergeordnet war, was aber in einer graphischen Darstellung nicht als Herabwürdigung des Kaisers zum Ausdruck kommen durfte. 9 Eder, Georg: Das guldene Fluess christlicher Gemain und Gesellschafft / das ist: ain allgemeine richtige Form der ersten uralten prophetischen vnd apostolischen Kirchen gleich als ein Kurtze Historia / von der hailigen Statt Gottes / wie es vmb dieselbe vor dieser Spaltung ain Gestalt gehabt […]. Ingolstadt 1580.
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hungen von Maximilian II. Als der Kaiser 1576 starb, bemühte sich Eder mit dem Regierungsantritt von Rudolf II. seiner Position mehr Gehör zu verschaffen. In seinem Buch von 1579 kommt das direkt zum Ausdruck. Das zeigt schon das Motto des Buches aus Psalm 7,13f. „Kehrt einer nicht um und wetzt sein Schwert und spannt seinen Bogen und zielt, so hat er sich selber tödliche Waffen gerüstet und feurige Pfeile bereitet.“ Das guldene Fluess ist von Eder in vier Traktate unterteilt, in denen er zunächst auf die Geschichte des frühen Christentums eingeht, um sodann in einer „Historia von der Maß vnnd Form der vralten Catholischen Kirch“ die Legitimität der katholischen Kirche historisch zu begründen. Im dritten Traktat folgt eine „Summa“, in der eine idealisierte, einige Kirche entworfen wird, um dann im letzten Traktat die „Ainigkait Christlicher Religion“ in den Blick zu nehmen bzw. um die Frage zu erörtern, wie diese erlangt werden soll. Dabei argumentiert Eder, immerhin als Reichshofrat, faktisch und gänzlich kompromisslos gegen den Augsburger Religionsfrieden. Außer den „Catholici“ kennt Eder lediglich „Schismatici“, zu denen er die Angehörigen der Augsburgischen Konfession trotz anders lautender reichsrechtlicher Voraussetzungen zählt.10 Eder argumentiert also strikt nach katholischer Auslegung des Religions friedens und nicht nach geltendem Reichsrecht.11 Der Orden vom Goldenen Vlies, der seinem Buch den Titel gibt, ist für die Argumentation hingegen weitgehend unbedeutend. In erstere Linie darf Eders Buch wohl so interpretiert werden, dass es versucht, dem Kaiser und seinen Getreuen zu signalisieren, wofür der Orden steht: nämlich für ein entschiedenes Eintreten für katholische Positionen im Reich. Abschließend erklärt Eder, dass „ain gewisser / beständiger Religionsfrid“12 zwar das politische Ziel sein solle. Um Dialog oder Meinungsaustausch geht es ihm dabei jedoch nicht; Religionsfrieden wird keinesfalls als ‚friedliches Nebeneinander‘ angesehen: „So ist das Ende aller Disputation vnnd Tractation von Glaubenssachen fürnemblich dahin zudirigiern vnnd zurichten / daß die Secten widerumben zu der Gemainschafft Catholischer Kirchen tretten / vnd derselben die wider Gott vnd Recht abgetrungene Religion vnd Kirchengüter widerumben zustellen.“13 Zu diesem Zeitpunkt war der Kaiser allerdings kein Ordensmitglied, was vor allem ordensinterne Gründe hatte. Denn mit der Teilung des Habsburger Reichs in die spanische und die österreichische Linie durch Karl V. war der Orden vom Goldenen Vlies an die spanische Linie gefallen. Doch war, wie Eders Buch von 1579 zeigt, das Wissen und die Bedeutung des Ordens in Österreich präsent, bereits 1580 wurde Das guldene Fluess nachgedruckt. 10 Eder, Das guldene Fluess (wie Anm. 9), S. 357: „Ain solche Absönderung vnnd Trennung hat sich bey vnseren Zeiten / wie augenscheinlich am Tag / mit Luthers Abfall / von der Catholischen Kirchen / auch zugetragen.“ 11 Vgl. Heckel, Martin: Deutschland im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1983. S. 88. 12 Eder, Das guldene Fluess (wie Anm. 9), S. 372. 13 Eder, Das guldene Fluess (wie Anm. 9), S. 372.
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1585 verlieh Ferdinand von Tirol, der älteste regierende Habsburger, seinem Neffen Rudolf II. den Orden vom Goldenen Vlies.14 Die Verleihung fand mit viel Aufwand in Prag statt. Sie ist durch 13 Bilder von Siegmund Elsässer als sog. ‚Vliesfest‘ dokumentiert.15 Dramaturgisch war die Ordensverleihung nicht unproblematisch, weil sie an sich mit einem Ritterschlag für die Neumitglieder einherging, was sich aber für die Berufung des Kaisers ausschloss. Die späte Ehrung des Kaisers erklärt sich dadurch, dass nach dem Tod Karls V. die Führung des Ordens nicht an den Kaiser, sondern an die spanische Linie des Hauses Habsburg, konkret an Philipp II. gegangen war.16 Die Ordensüberreichung war ein ausführliches und feinsinniges Zeremoniell, das in Prag stattfand. In dessen Verlauf übergaben die Prager Jesuiten dem Kaiser einen kolorierten Holzschnitt mit einem lateinischen Gedicht.17 Auf dem Bild (vgl. Abb. 2.1) zu sehen ist der Weinberg Gottes in der Mitte mit Christus in der Kelter sowie darunter das Lamm-Vlies über dem Eingang, das beispielsweise auch auf den genannten Gemälden zu sehen ist. Dazwischen befindet sich der heilige Kelch, um den herum in sechs Piktogrammen in tabernakelartigen Gebilden die übrigen sechs Sakramente angeordnet sind: Der Weinberg Gottes ist also ein katholischer Weinberg, wie es schon sein Vorbild von 1535 war. Das Bild wurde umgehend auch als Flugblatt mit einem deutschen Gedicht verbreitet.18 Es gab nicht nur die Zeremonie, die in ihrer Wirkung sehr begrenzt war. Die Jesuiten nutzten das Ereignis zugleich medial, um es für eine gegenreformatorische Offensive zu instrumentalisieren. Diese zielte darauf, das durch das Bekenntnis zum Orden zum Ausdruck kommende Bekenntnis des Kaisers zur katholischen Kirche publik zu machen. So wie Eder zunächst politisch-theologisch argumentierend den habsburgischen Orden als Streitmacht der alten Kirche positioniert hatte, so verorten die Jesuiten ihn jetzt medial als zentrale Instanz zur Verteidigung des Christentums. Innerhalb der deutschen Fürsten dürfte der Ordenseintritt zunächst vorgeführt haben, dass der Kaiser anders als sein Vater sich wieder entschieden zur römischen Kirche bekannte. Dass sein Onkel der Zeremonie vorstand, verstärkte diesen Eindruck. Durch die jesuitische Flugblattpublizistik bekam die Ordensverleihung eine Dimension, die die Reichspolitik berührte. Gerade diese Verbindung aus Militärgewalt und gefestigtem katholischen Glauben war es, die den Widerspruch von Lucas Osiander (1534–1604) provozierte. Osiander wurde nach kurzem Studium Diaconus in Göppingen (1555), wo zu dieser
14 Vgl. Buzek, Václav: Ferdinand von Tirol zwischen Prag und Innsbruck. Der Adel aus den böhmischen Ländern auf dem Weg zu den Höfen der ersten Habsburger. Wien [u.a.] 2009. S. 283–300. 15 www.europeana.eu/portal/en/search?q=who%3A%28Sigmund+Els%C3%A4sser%29 (22.01.2021). 16 Ausführlich dargestellt bei Vocelka, politische Propaganda (wie Anm. 3), S. 140–146. 17 Die Vorlage ist abgebildet bei Harms, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. 7. Tübingen 1997. Nr. 157, dort auch weitere Angaben zum Bild. 18 Vgl. Harms (wie Anm. 17), Bd. 7, 157; vgl. auch Kaufmann, Thomas: Konfession und Kultur. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation N.R. 29). S. 285–298.
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Zeit noch Jacob Andreae tätig war, bevor dieser nach Tübingen berufen wurde.19 1567 wurde Osiander württembergischer Hofprediger und blieb bis zum Tode Herzog Ludwigs (1593) einflussreicher Berater am Hof.20 Wiederholt publizierte er engagierte und derbe Streitschriften zu zahlreichen religionspolemischen Themen, etwa zur Einführung des Gregorianischen Kalenders. Außerdem entsandte ihn der Herzog mehrfach zu Religionsgesprächen. Osiander hatte früh ein kritisches Auge auf die Jesuiten geworfen und veröffentlichte 1568 eine erste Warnung21 gegen den jungen Orden: DIeweil durch Gottes Gnad die Lehr deß H. Euangelij in der Christenheit ettliche Jar widerumb rein vnd vnuerfelscht gepredigt / […] / Hat der laidig Sathan wol gesehen / daß sollichs zu vndergang vnd verstörung seines Reichs gerhaten wölle. […] Zu disem seinem verderblichen fürnemen hat er ein newen Orden vor ettliche jaren gestifftet / […] / die sich Jesuiter / oder auß der gesellschafft Jesu / fälschlich nennen.22
In dieser Schrift setzt sich Osiander besonders mit dem seelsorgerlichen Engagement der Jesuiten auseinander. Er greift die Katechismen von Petrus Canisius an und kritisiert die diesen zugrunde liegende Rechtfertigungslehre mit den üblichen evangelisch-lutherischen Argumenten. Damit ist die Warnung von 1568 eine der frühen volkssprachlichen Polemiken gegen den Jesuitenorden, in der neben aggressiven Äußerungen, wie der ‚Verteufelung‘ im Zitat, auch argumentative Elemente entscheidenden Text-Anteil haben. Von der engagierten Vorrede einmal abgesehen, kann die Warnung als kontroverstheologisches Handbuch zur Widerlegung der Katechismen des Canisius betrachtet werden, wofür auch der Umfang spricht (164 Seiten). Trotz
19 Die Bande zwischen den beiden waren übrigens nicht nur ‚beruflicher‘ Natur, sie waren auch verschwägert. Alle Angaben zur Biographie nach Schott, Theodor: Osiander, Lucas. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 24 (1887). S. 493–495. 20 Hofprediger übten in Stuttgart eine zentrale Funktion aus, weil sie nicht nur mit der Ausbildung und Seelsorge des adeligen Nachwuchses betraut waren, sondern auch Verbindungsglied zwischen dem Hof und der Universität Tübingen waren, vgl. dazu Mertens, Dieter: Hofkultur in Heidelberg und Stuttgart um 1600. In: Späthumanismus. Hrsg. von Walther Hammerstein. S. 65–83, bes. S. 79f. Allgemein zur Bedeutung des Hofpredigers Sommer, Wolfgang: Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. In: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Sommer. Göttingen 1999 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 74). S. 74–90. Zur Bedeutung Herzog Ludwigs in diesem Zusammenhang vgl. Press, Volker: Württemberg, Habsburg und der deutsche Protestantismus unter Herzog Ludwig (1568–1593). In: Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Hrsg. von Sabine Holtz u. Dieter Mertens. Stuttgart-Bad Cannstadt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Deutschen Literatur, N.F. 1). S. 17–47 sowie Manfred Rudersdorf: Orthodoxie, Renaissancekultur und Späthumanismus. Zu Hof und Regierung Herzog Ludwigs von Württemberg (1568–1593). In: Holtz u. Mertens (Hrsg.), Nicodemus Frischlin, S. 49–80. 21 Lucas Osiander: Warnung / Vor der falschen Lehr / vnd Phariseischen Gleißnerey der Jesuiter. Tübingen 1568. Bereits ein Jahr darauf folgte ein Nachdruck dieser Schrift. 22 Osiander, Warnung 1568 (wie Anm. 21), S. 1f.
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dieser Anlage regte sich kaum Widerspruch gegen Osiander,23 was nicht zuletzt damit zu tun haben dürfte, dass volkssprachliche Streitschriften von Jesuiten vor 1580 eindeutige Ausnahme sind24 und der direkt angegriffene Canisius im Gegensatz zu zahlreichen anderen Jesuiten nicht zum theologischen Streit neigte.25 Das war bei Lucas Osiander anders, er war – wie sein Vater – ein regelmäßiger Streitschriftenverfasser und oft ein ebenso derber Polemiker, der im Gegensatz zu seinem Vater fest im Zentrum der lutherischen Kirche stand. Im Jahr 1585 nun erschien Osianders zweite Warnung26 gegen die Jesuiten. Gegenstand war nicht erneut deren seelsorgerliches Engagement, sondern ihre Einflussnahme auf reichspolitische Entscheidungen katholischer Fürsten. In dieser deutlich kürzeren Streitschrift (43 Seiten) setzt Osiander sich mit den Festlichkeiten um die Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies an den Kaiser und dem Bild mit den lateinischen Versen auseinander. Die Schrift ist dreigeteilt. Im ersten Teil wird in einer 23 Osianders Warnung war Ausgangspunkt für eine Kontroverse zwischen ihm und Jacob Feucht; vgl. Osiander, Jacob: Auff M. Jacobi Feuchten Buch / darinnen er die 37 Jesuitische Päpstische Artickel […] zuuerthedigen vndersteht. Tübingen 1573. 24 Auf die zahlreichen ‚Historien‘ und ähnlich betitelte Flugschriften reagierte man nicht. Meist waren das anonyme Diffamierungen, in denen die Verfasser die Jesuiten bspw. der Päderastie bezichtigten, vgl. etwa: Zwo Historien zum Muster der Jesuitischen Religion vnd Keuscheyt. Die Erste / wie die Jesuwider mit ihrer Beschneydung Newe Mönche / Das ist / Außgeschnitten machen. Die ander / Was massen vnd warumb Pangratz Schneyder Meßner zu Eckelheim Enthaubt worden ist. o. O. 1565. Vgl. auch Franz, Gunther: Eine Schmähschrift gegen die Jesuiten. Kaiserliche Bücherprozesse und konfessionelle Polemik (1614–1630). In: Bücher und Bibliotheken im 17. Jahrhundert in Deutschland. Hrsg. von Paul Raabe. Hamburg 1980 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 6). S. 90–114. Grundlegend zur anti-jesuitischen Polemik Paintner, ‚Des Papsts neue Creatur‘ (wie Anm. 2). Einen ersten Überblick über die Auseinandersetzungen bei Friedrich, Markus: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München, Berlin 2016. S. 234–248. 25 Canisius hat sogar ausdrücklich vor dem überflüssigen Bücherschreiben mit Blick auf die Zeitumstände gewarnt, vgl. Rädle, Fidel: Petrus Canisius als lateinischer Autor in seinem Verhältnis zum Humanismus. In: Petrus Canisius SJ (1521–1597). Humanist und Europäer. Hrsg. von Rainer Berndt. Berlin 2000. S. 155–168, bes. S. 156f. 26 Osiander, Lucas: Warnung Vor der Jesuiter blut durstigen Anschlägen vnnd bösen Practicken / Durch wölche sie die Christliche / reine / Euangelische Lehr sampt allen denen / so sich zu derselben offentlich bekennen / außzutilgen / vnd des Römischen Antichrists tyrannisch Joch der Christenheit widerumb auff zutringen vnderstehn. Tübingen 1585. Neben Osianders Schrift erschien außerdem ein antijesuitisches Flugblatt zu diesem Bild; vgl. Harms, Wolfgang: Deutsche illustrierte Flugblätter. Bd. 4. Tübingen 1987, Nr. 65, Bd. 7, Nr. 167. Zum diskursiven Terminus ‚Praktik‘ vgl. Groebner, Valentin: Trügerische Zeichen. ‚Practick‘ und das politische Unsichtbare am Beginn der Neuzeit. In: Geschichtszeichen. Hrsg. von Heinz Dieter Kittsteiner. Köln [u.a.] 1999. S. 63–80. ‚Praktik‘ ist nach Groebner um 1500 im Deutschen ein neues Wort, mit dem „verdecktes Handeln“ umschrieben wird, vgl. ebd., S. 71. Wenn Osiander das Handeln der Jesuiten immer wieder als ‚böse Praktiken‘ umschreibt, rekurriert er eben darauf und versucht, bereits durch die Wortwahl den Jesuiten eine Aura des Dubiosen zu unterstellen. Der Vorwurf ‚blutdurstiger Praktiken‘ war in der antijesuitischen Polemik nicht neu, so hatte etwa Fischart diesen gegen die Jesuiten erhoben; vgl. Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Konfessionalismus. Tübingen 1987. S. 139f.
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knappen narratio die Komposition des Bildes geschildert und das Gedicht erwähnt, um im Anschluss daran den zentralen Vorwurf erstmals zu formulieren (accusatio): Mit Bild und Gedicht wollen die Jesuiten die katholischen Potentaten aufhetzen, „daß sie sollen die Ketzer vnd Feind der Römischen Kirchen vertilgen vnd außrotten.“27 Auf diesen Vorwurf folgt eine längere Argumentation zum Beweis der Richtigkeit seiner Vorwürfe. Durch das Bild lasse der Satan seine „scharpffe Klawen“28 hervorschauen, denn es führe allen Betrachtern beim genaueren Hinsehen vor Augen, dass es den Jesuiten und allgemein dem Papsttum nicht darum gehe, „mit lehren oder disputiren“, sondern mit „Wöhren vnd Waffen“29 die Auseinandersetzung mit den Lutheranern zu führen. Anhaltspunkt dafür sei, dass der Weinberg wegen der sieben Sakramente zweifellos katholisch dargestellt sei, der Kaiser jedoch dem Augsburger Religionsfrieden entsprechend zum Schutz beider Konfessionen angehalten sei.30 Doch rechtfertigt diese Feststellung allein nicht den Vorwurf der Aufhetzung. Diese sieht Osiander dadurch erfüllt, dass einige der Tiere, die den Weinberg umkreisen und mit den Ordensrittern kämpfen, den Wappentieren einiger lutherischer Fürsten gleichen. Dieser Befund ist nicht von der Hand zu weisen, besonders der dargestellte Greif (Brandenburg oder Hessen)31 und der wütende Stier (Mecklenburg) sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme. Andererseits finden sich dazwischen zahlreiche Tiere, die nicht für ein lutherisches Fürstentum stehen. Osiander führt weitere Beispiele für die ‚Blutgierigkeit‘ der Jesuiten an32 und beschließt den ersten Teil mit einem Schlussplädoyer: Darumb wann wir sonsten wider den Römischen Antichrist / den Pabst / keine Beweisung hetten / daß er vom Vatter dem Teuffel were / so were er doch dessen darmit gnugsam zuvberzeugen / daß er von wegen der religion souil Blutuergiessens angerichtet: Vnd noch auff disen Tag je lenger je hefftiger die Potentaten dahin hetzet vnd anzutreiben begeret / daß sie ihre Händ mit vnschuldigen Blut frommer Christen beflecken sollen. Vnd hierzu braucht er seine Emissarios (des Teuffels Postbotten) die Jesuiter.33
Der erste Teil der Schrift enthält damit typische Redeteile, derer es bedarf, um eine juristische Anklageschrift zu erstellen. Neben den Vorwürfen und Angriffen ist der wiederholt vorgetragene Hinweis auf das direkte Wirken Satans mittels der Jesuiten wesentlich. Osiander ist sich über die Gefahr für die Evangelischen, die von dem 27 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 2. 28 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 5. 29 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 7. 30 Vgl. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 11), S. 33–66. 31 Vgl. Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 1), S. 155. 32 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 8: „In massen man berichtet ist / daß vnlangst die Jesuiter / in einer geistlichen Procession / zu F. mit Büchsen / auch andern Wehren vnnd Waffen daher geritten / nicht als Apostel / sondern als weltliche Kriegsleut vnnd Landsknecht / Dann sie ihre kriegerisch vnnd blutgirig Hertz nicht verbergen können.“ 33 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 14.
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neuen Orden ausgehen, im Klaren. Der Vorwurf der direkten Satansuntertänigkeit ist nicht steigerbar. Hier erfährt der auf Luther zurückgehende Antichrist-Vorwurf gegen den Papst eine Aktualisierung und Umdeutung auf die Jesuiten.34 In Verbindung mit dem zweiten Teil der Schrift erklärt das außerdem die Titelgebung. Osiander verfasst eben keine Anklageschrift gegen die Prager Jesuiten, sondern eine Warnung. Dazu ‚beweist‘ er zunächst die Richtigkeit seiner Vorwürfe. Er lässt sie in einem zweiten Schritt, dem dargestellten Vorwurf, die Jesuiten seien Handlanger Satans, gipfeln,35 um sich im zweiten Teil an die weltlichen Potentaten zu wenden und sie an ihre obrigkeitlichen Schutzpflichten zu erinnern.36 Erst durch diesen zweiten, appellativen Teil wird die Schrift zur Warnung. Doch wäre Osiander kein Theologe der lutherischen Frühorthodoxie, wenn er damit seine Aufgabe als erfüllt betrachten würde. Für die politischen Konsequenzen seiner Warnung sind die Fürsten zuständig, wozu er diese ermahnt. Außerdem bleibt dem einzelnen Christen immer Gott. Deswegen wendet sich Osiander im dritten Teil an alle „Christen“, also an alle Lutheraner sowie an die ‚verführten‘ Katholiken – eine übliche Hilfskonstruktion, um Leser anderer Konfession nicht auszuschließen. Die ganze Schrift gipfelt in einem Abschlussgebet, das gleichzeitig eine Zusammenfassung der Warnung ist: Vnser HErr Jesus Christus / der Fridenfürst / wölle der Jesuiter vnd ires gleichens / blutdurstige Practicken / vnd grimmige Anschläge zunichten machen: der Potentaten Hertzen zum Christlichen Friden vnnd Einigkeit neigen / fest vnd steiff zuhalten / was man allerseits einander bey dem heiligen hohen Namen Gottes / geschworen hat. […]. Vnd da je […] vnsere Widersacher / nicht Friden halten / sondern nach Vnglück ringen würden: so wölle er [Christus] vmb seines heiligen Namens willen / der Gerechtigkeit vnd reinen Religion beystehn / vns gnädiglich schutzen vnd erhalten / vnd den Jesuitern ir Boßheit auff ihren Kopff vergelten / auff daß wir ihne hie zeitlich / vnnd dort ewiglichen loben vnd preisen / AMEN.37
2 Jesuitische Polemik im Bildmedium Im Zentrum der folgenden Ausführungen wird die erste Reaktion auf Osiander durch den Jesuiten Georg Scherer stehen – als ein Beispiel für artifizielle Bildpolemik, die 34 Diese Umdeutung erfolgt an dieser Stelle nicht zum ersten Mal; vgl. zur antijesuitischen Propaganda Kemper, Konfessionalismus (wie Anm. 26), S. 137–150. 35 Vgl. Preuß, Hans: Die Vorstellung vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Leipzig 1906. 36 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 25: „Da nun jemands / vnbetrachtet dises alles / dem Papst zu Rom / vnd seinen Jesuitern zugefallen / ein Vnrhu im Römischen Reich anfahen / vnd den religionsfriden zerreissen / oder ja andern darzu helffen wollte / der mag wol zusehen / daß er nicht darüber seine Gütter / von aussen ansehen / vnd sein Leib / Ehr vnd Gut / das Leben vnd die Seel darzu einbüssen möge.“ 37 Osiander, Warnung 1585 (wie Anm. 26), S. 42f.
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die schriftliche Polemik ideal ergänzt und dadurch bereichert. Scherer (1540–1605) war einer der ersten Schüler des 1553 in Wien eröffneten Jesuitenkollegs.38 Er war erfolgreicher Prediger und Beichtvater ver schiede ner öster reichischer Herzöge. Außerdem war er der erste volkssprachliche Polemiker der Jesuiten, der ein umfangreiches Werk an Streitschriften verfasst hat. Sie wurden wiederholt nachgedruckt und in einem beeindruckenden Sammelband veröffentlicht.39 Scherers Werke wurden auch im 17. Jahrhundert aufgelegt und nachweislich rezipiert – prominente katholi sche Schriftsteller wie Jeremias Drexel oder Abraham a Sancta Clara zählten zu seinen Lesern.40 Da neben zahlreichen Predigten ein Katechismus und ein Dialog aus seiner Feder überliefert sind, darf er zu den wichtigen volkssprachlichen Schriftstellern der Jesuiten gezählt werden.41 Scherers Schrift gegen Osiander trägt den Titel Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Osiander.42 Die Rettung ist eine sehr frühe volkssprachliche Streitschrift, die ein emblematisch strukturiertes Titelblatt hat.
38 Bernhard Duhr widmet Scherer im ersten Band seiner umfangreichen Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge ein eigenes Kapitel (Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. Freiburg i. Br. 1907. S. 798–820). Daneben ist die Dissertation von Mierau, Gottfried: Das publizistische Werk von Georg Scherer S.J. (1540–1605). Dissertation. Wien 1969 einschlägig. Einen ersten Einblick in Scherers Leben vermittelt Müller, Paul: Ein Prediger wider die Zeit. Georg Scherer. Wien 1933. Scherer blieb auch in protestantischen Territorien des Reiches noch lange nach seinem Tod eine bekannte gegenreformatorische Persönlichkeit; so kam er etwa in dem nie aufgeführten Schuldrama Die Jebusiter des Freiberger Konrektors Andreas Möller von 1628 zu zweifelhaften Ehren. In diesem Drama bemüht sich – letztlich erfolglos – ein jesuitischer Pater Scherer mit falschen Versprechungen und drohenden Gesten um die Seelen protestantischer Bauern. Der Bezug auf den historischen Jesuiten Scherer ist offensichtlich: vgl. Möller, Andreas: Die Jebusiter. In: Die Schuldramen des Freiberger Konrektors Andreas Möller. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rainer Hünecke. Stuttgart 1999 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 19). S. 361–455, sowie das Nachwort ebd., S. 507f. 39 Scherer, Georg: Erster Theil Aller Schrifften / Bücher und Tractätlein / welche Georg Scherer Societatis IESV Theologus bißhero zu vnterschidlichen Zeiten durch den Truck außgehen lassen. Bruck/ Mähren 1599. 40 Vgl. Eybl, Franz M.: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 6). S. 141f. Vgl. außerdem Werz, Joachim: Predigtmodi im frühneuzeitlichen Katholizismus. Die volkssprachliche Verkündigung von Leonhard Haller und Georg Scherer in Zeiten von Bedrohungen (1500–1605). Münster 2020 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 175). S. 225–390; John M. Frymire: The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany. Leiden, Boston 2010 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 147). 41 Dramen fehlen völlig, was sein volkssprachliches Engagement betont. Allerdings hat er vermutlich mit einer Streitschrift die Anregung zu einem Theaterstück gegeben; vgl. dazu Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 1), S. 281ff. 42 Scherer, Georg: Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Osiander. Ingolstadt 1586.
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Abb. 2.2: Georg Scherer, Titelblatt Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Osiander, abgedruckt nach Bremer: Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 1), S. 143.
Unter dem genannten Titel, den man gemäß der Emblematik als inscriptio einzuschätzen hat, findet sich als pictura eine Rose, in deren Blüte eine Biene und eine Spinne sitzen.43 Durch ein kleines Gedicht werden Titel/inscriptio und Holzschnitt/pictura im Sinne einer subscriptio näher erläutert: Ich Rosen hab ein edlen Safft / Dem Menschen gib ich Stärck vnd Krafft. Erfrisch ihm Augen / Hertz vnd Blut / Bin gar zu vilen Sachen gut. Von Aertzten wirdt ich hoch geacht / Die Binn auß mir süß Hönig macht. Eins aber mich bekümmert hart / Die Spinnen daß sie hat die Art. 43 Die Anregung zu diesem Titelblatt könnte aus der erst 1585 erschienenen Emblematik von Hadrianus Junius stammen, vgl.: Henkel, Arthur u. Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Erg. Neuausgabe. Stuttgart 1976. S. 302.
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Was sie in meinen Blättern findt / In lauter Gifft verkehret gschwindt. Daran ich doch vnschuldig bin / Niemandt zuschaden steht mein Sinn. Nun erklärt dieses kleine Gedicht nicht die Titulierung Osianders als „Gifftspinne“, sie bleibt dem Leser vielmehr rätselhaft, erst recht wenn dem die Warnung unbekannt ist. Deswegen setzt Scherer nach den zitierten Einleitungssätzen des Haupttextes zu einer anschaulichen Rechtfertigung seines Titels und seines Titelblatts an: Die Rosen ist an ihr selber ein herrliche / schöne / wolriechende Blum / eines edlen / guten vnnd gesundten Saffts / darauß die Binn oder Imme / […] köstliches Hönig / die Spinnen aber […] schädliches Gifft zumachen pflegen. […] Ein solliche Gifftspinnen bist du Osiander / welliches allein auß dem mehr dann genugsam erscheint / daß du vnlängst / in einem gedruckten Schmachbüchel / ein Christliches Gemäl vom Weinberg deß Herrn […] auff das aller bitterist vnd gifftigist gedeutet vnnd ausgelegt hast […].44
Osiander ist eine Giftspinne, weil er den ursprünglich lieblichen Sinn des Bildes verkehre. Was im ersten Moment nur wie eine anschauliche Metapher für Osianders Auslegung erscheint, ist verbreitete Vorstellung im volkstümlichen Aberglauben.45 Scherers Metaphorik ist also sofort jedem Leser verständlich. Vergegenwärtigt man sich ferner die emblematische Titelblattstruktur, dann wird eine zweite Dimension dieser Bildlichkeit offenbar, die den meisten Lesern verborgen geblieben sein dürfte, wenn sie nicht durch gelehrte Lehrer oder Geistliche erläutert wurde. Die Bienen-Metapher existiert seit der Antike zur Darstellung der literarischen imitatio. Sie wird im frühen Christentum dahingehend umgedeutet, dass sie die christliche Exegese versinnbildlicht.46 Mit der Spinnen-Metapher unterstellt das Titelbild Osiander, das Bild wie eine Spinne, also ‚falsch‘, auszulegen. Doch nicht nur das. Vielfach wird mit der Metaphorik von Biene und Spinne konkret christliche und ketzerische Bibelexegese umschrieben. Welcher gelehrte Leser mag da noch daran zweifeln, dass die ‚Giftspinne‘ Osiander nicht auch die Heilige Schrift falsch auslegen wird? Scherer appelliert durch die Nutzung der Metaphorik in Verbindung mit dem emblematischen Titelblatt an
44 Scherer, Rettung (wie Anm. 42), S. 1f. Die Rose ist in der Lyrik der Gegenreformation ein verbreitetes Motiv; vgl. Moser, Dietz-Rüdiger: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. Berlin 1981. S. 511–519. 45 Vgl. Bächtold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. VIII. Berlin 1936/37. Sp. 266f. 46 Stackelberg, Jürgen von: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen ‚Imitatio‘. In: Romanische Forschungen 68 (1956). S. 271–293; Lange, Klaus: Geistliche Speise. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 95 (1966). S. 81–122, bes. S. 103–106.
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den Scharfsinn des gebildeten Lesers.47 Ja, man kann festhalten, dass sich hier erste argute Spuren jesuitischer Prägung im volkssprachlichen Schrifttum finden.48 Das gilt besonders, weil ein Emblem vorliegt, das zwar zunächst durch similitudo der delectatio des Lesers dient, wie es in der humanistischen Emblematik postuliert wurde. Dieses Titelblatt ist darüber hinaus aber auch einem utilitas-Gedanken verpflichtet, der üblicherweise erst den zehn Jahre später erschienenen Werken des Jacob Pontanus zugeschrieben wird.49 Nicht nur wegen des Titelblattes ist Scherers Rettung eine bemerkenswerte Streitschrift. Sie ist entgegen der Gattungszuordnung50 des Titels gewiss keine Defensivschrift. Scherer verfasst eine äußerst aggressive Entgegnung, in der er durch unterschiedliche Streittechniken versucht, Lucas Osiander und mit ihm die lutherischen Theologen als unglaubwürdig, aufrührerisch und dem Gemeinwohl abträglich darzustellen. Mit der Rettung prägt Scherer den Streitverlauf. Er hält sich nicht mit den Vorwürfen Osianders auf, sondern setzt zum Gegenangriff an. Dabei gelingt es ihm, sich kurz zu fassen, so dass die Rettung im Gegensatz zu anderen Streitschriften sehr prägnant ist. Ihre Stärke liegt in der polarisierenden Tendenz. Scherer gibt sich nicht dem Versuch hin, durch moderate oder gar seelsorgerliche Einschübe integrierend zu wirken, wie etwa Jacob Andreae im Streit mit Friedrich Staphylus.51 Vor dem Hintergrund zunehmender Aggressivität und Distanz zwischen den Konfessionen gegen Ende des 16. Jahrhunderts war dieses Vorgehen nur konsequent. Vor allem aber reprä47 Dieser Befund ist überraschend, weil die Ratio studiorum (endgültige Fassung 1599) als erstes Dokument gilt, in dem das Interesse der Jesuiten am Emblem geäußert wird, vgl. Dimler, G. Richard: Humanism and the Rise of the Jesuit Emblem. In: Emblematic Perceptions. Essays in Honor of William S. Heckscher. Hrsg. von Peter M. Daly u. Daniel S. Russel. Baden-Baden 1997. S. 93–109, bes. S. 98f. Zu berücksichtigen ist auch die „Verwandtschaft zwischen den Eigentümlichkeiten des […] Emblems und den Exerzitien des Ignatius“, Knapp, Éva u. Gábor Tüskés: Emblematische Viten von Jesuitenheiligen im 17./18. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 80 (1998). S. 105–142, hier S. 106. 48 Zur Funktion des stylus argutus im Rahmen des jesuitischen Rhetorikunterrichts vgl. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. S. 352–366. 49 Vgl. Knapp u. Tüskés, Emblematische Viten (wie Anm. 47), S. 106–110. 50 Der ‚Rettung‘ entspricht im lateinischen Schrifttum die besonders in der Frühen Neuzeit weit verbreitete vindicatio, die in Übersetzungen ins Deutsche in aller Regel mit „Rettung“ betitelt wird, was für die apologia nicht gilt. Dieser Typ der ‚Rettung‘ unterscheidet sich wesentlich von den ‚Rettungen‘ der Aufklärung, die formvollendet bei Lessing zu finden sind. Dessen ‚Rettungen‘ sind verstorbenen Personen gewidmet; sie verfolgen die nachträgliche Rechtfertigung einer Person und dadurch nur indirekt den Widerspruch gegen einen herrschenden Diskurs; vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Vorrede zu den Schrifften. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3. auf‘s neue durchges. und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Bd. 5. Leipzig 1890. S. 267–271, hier S. 268: „Die wenigen Abhandlungen desselben, sind alle, Rettungen, überschrieben. Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbne Männer, die mir es nicht danken können.“ Vgl. dazu Multhammer, Michael: Lessings ‚Rettungen‘. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 183). S. 55–131. 51 Vgl. Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 1), S. 129ff.
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sentiert dieses aggressive Streitverhalten in Verbindung mit dem äußerst geschickten, um nicht zu sagen hinterlistigen Umgang mit Zitaten und Argumenten der Gegner gerade das, wovor Osiander sich zu warnen aufgemacht hat, nämlich die neue Qualität, die die propagatio fidei durch die Jesuiten erhielt und noch erhalten sollte.52 Vor allem aber ist Scherers Streitschrift deswegen bemerkenswert, weil er den Streit um das ‚Prager Bild‘ zu einem Medienstreit gezielt umgestaltet. Dieser hat zwei wesentliche Dimensionen: Zunächst schafft Scherer – erstens – eine zweite Streitebene, auf der nicht mehr über den ursprünglichen Streitgegenstand gestritten wird, sondern über die Befähigung des Kontrahenten zum Streit. Scherer schafft also eine Metaebene, die aus einem Streit um ein Bild der Jesuiten einen Streit über die Lauterkeit und Redlichkeit des Stuttgarter Hofpredigers zu machen versucht. Scherer lenkt gezielt durch das eindrucksvolle Titelbild die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Streitgegenstand ab. Damit führt er zugleich – zweitens – mittels der emblematischen Struktur des Titelbildes eine gewissermaßen ‚kunstvollere‘ Form des Streitens ein, die nicht nur darauf zielt, den Gegner zu diffamieren, sondern die auch die Überlegenheit der eigenen Position in jeder Hinsicht auszustellen versucht. Wie programmatisch das angelegt war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die zweite Schrift Scherers in diesem Streit Triumph der Wahrheit betitelt war.53 Insbesondere durch das emblematische Titelblatt erhält der Streit zudem eine konfessionelle Dimension. Indem Scherer den Konflikt um ein optisches Moment ergänzt, das die eigene Gelehrsamkeit belegt und die des Gegners in Zweifel stellt, widersetzt er sich zugleich einer protestantischen Fokussierung allein auf das Wort. Derart betrachtet ist das Titelblatt also nicht nur als eine inhaltliche Volte gegen den Lutheraner zu begreifen, sondern zugleich Ausdruck einer dezidiert katholischen Konfessionskultur.54
52 Vgl. Schieder, Wolfgang u. Christof Dipper: Propaganda. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von Otto Brunner [u.a.]. Bd. 5. Stuttgart 1984. S. 69–112, S. 69f. 53 Scherer, Georg: Triumph der Wahrheit / wider Lucam Osiandrum. Ingolstadt 1587. 54 Wassilowsky, Günther: Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur. Zur Einführung. In: Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563–2013). Hrsg. von Peter Walter u. Günther Wassilowsky. Münster 2016 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 163). 1–29; Ders.: Was ist katholische Konfessionskultur. In: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018). S. 402–412; vgl. auch Kaufmann, Thomas: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998; Ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006; Emich, Birgit: Konfession und Kultur, Konfession als Kultur? Vorschläge für eine kulturalistische Konfessionskultur-Forschung. In: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018). S. 375–388.
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Zwischen Propaganda, Polemik und Programmatik Das Bild des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen in der Flugpublizistik des Dreißigjährigen Krieges
Einführung Im Dreißigjährigen Krieg, der von Johannes Burkhardt als Staatsbildungskrieg beschrieben wurde,1 drückte sich zum einen der Kampf eines universalistischen Ideals der politischen Einheit Europas mit Begriffen wie Christenheit, Imperium und Monarchie unter Führung der habsburgischen Dynastie gegen Prozesse der Einzelverstaatlichung an den Rändern der habsburgischen Staatenverbindung aus, die wie im Fall der Schweiz oder der Niederlande, aber auch den Ländern der böhmischen Krone und des Königreichs Ungarn maßgeblich von den jeweiligen regionalen Landständen vorangetrieben wurden.2 Zum anderen erfuhren diese Konflikte eine Akzeleration durch den Kampf der katholischen, lutherischen und calvinistischen Konfessionsparteien um die von ihnen exklusiv beanspruchte universale Wahrheit in Glaubensdingen. Orchestriert wurde der Krieg der Kriege zugleich von einem publizistischen Feder- und Bilderkrieg der Konfliktparteien. In der zeitgenössischen Publizistik der spannungsvollen Jahre nach dem Prager Fenstersturz von 1618 changierte das Bildnis des Fürsten von Siebenbürgen Gabriel Bethlen (1580–1629) zwischen der Darstellung eines gleichzeitig tapferen wie milden Fürsten, eines „Hercules“ (Abb. 3.1),3 und der Warnung vor einem Krieg, Aufruhr und Unglück stiftenden „Bluthund“, der mit dem Osmanischen Reich paktierte und den Türken „Thuer vnd Thor“ ins Alte Reich öffne (Abb. 3.4).4 Bethlen schien nach seinem Amtsantritt 1613 zur politischen Schlüsselfigur innerhalb der europäischen Mächtediplomatie zu werden, da die Lage seines Fürstentums zwischen den rivalisierenden Großmächten – Osmanisches und Habsburgisches Reich – die Hoffnung nährte, eine eigenständige Politik betreiben zu können. Medial zu einem der prominentesten calvinistischen Führer in Europa stilisiert, überstieg diese Zuschreibung jedoch die politischen Handlungsmöglichkeiten des bescheidenen Fürstentums Siebenbürgen, das 1 Vgl. Burkhardt, Johannes: Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 2018. S. 92. 2 Vgl. Burkhardt, Krieg (wie Anm. 1), S. 93f. 3 Paas, John Roger: The German Political Broadsheet 1600–1700. Bde. 1–14. Wiesbaden 1985–2017. Bd. 2. S. 270 (P-463) (1619). 4 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621). https://doi.org/10.1515/9783110725193-004
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zudem in einem Vasallenverhältnis zur Hohen Pforte stand, im europäischen Mächtesystem bei weitem. Trotzdem sollte Gabriel Bethlen zu einem maßgeblichen Gegner der katholischen Habsburger in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges, dem Böhmisch-Pfälzischen Krieg, avancieren.5 Dieses wechselvolle Bild des Fürsten von Siebenbürgen in der Augenblickspublizistik zwischen Propaganda, Polemik und Programmatik nachzuzeichnen, übernimmt der nachfolgende Beitrag. Zuerst geht dieser auf den Begriff der Illustrierten Flugblätter ein und verortet diese im Medienverbund der Frühen Neuzeit. Anschließend werden die historischen Hintergründe für den medialen Konflikt um den siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen geschildert. In der Folge beleuchten exemplarische Analysen verschiedener Flugblätter das Bemühen der jeweiligen Konfliktparteien, die propagandistische, polemische und programmatische Deutungshoheit über die historischen Geschehnisse, deren vermeintliche Ursachen und die Gestalt des schillernden Fürsten von Siebenbürgen, Gabriel Bethlen, zu gewinnen.
1 Illustrierte Flugblätter im 16. und 17. Jahrhundert Seit Mitte des 16. Jahrhunderts ist die Einordnung bestimmter Druckpublikationen als „fliegende […]“ Zeitungen“6 geläufig. Im Rückblick auf die Metaphorik des Fliegens wird bereits der ephemere Gebrauchscharakter dieser Medien deutlich. Im sogenannten „Ritterkrieg“ 1522/23 nahm der reformatorisch gesinnte Franz von Sickingen (1481–1523) dies 1522 wörtlich und ließ etliche gedruckte Zettel, auf denen er den Trierer Bürgern Schonung versprach, in die belagerte Stadt schießen. Dieser Versuch, Menschen über eine kurze Distanz massiv zu beeinflussen, blieb allerdings erfolglos, verdeutlicht aber bereits die markante Rolle, die den druckgraphischen Medien in den bevorstehenden Konflikten der Reformationszeit und im Zeitalter der Konfessionalisierung sowie Glaubenskämpfe zufallen sollte.7 Der Terminus des „fliegenden Blattes“ bezieht sich nicht allein auf die illustrierten Flugblätter oder Einblattdrucke des 15. bis 17. Jahrhunderts, sondern auf die Gesamtheit gedruckter Zettel in allen Variationen, die unter dem neueren Begriff der Flugpublizistik, zu der auch die Bildpublizistik gehört, subsumiert werden. Sie umfassen alle nichtperiodischen und ‚kleinen‘ Publikationen des sogenannten
5 Vgl. Duchhardt, Heinz: Der Weg in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Die Krisendekade 1608–1618. München 2018. S. 96–98. 6 Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990. S. 3. 7 Vgl. Schilling, Michael u. Daniel Bellingradt: Flugpublizistik. In: Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Till Dembeck [u.a.]. Berlin, Boston 2013. S. 273–289.
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Tagesschrifttums8, die u.a. vom Pamphlet, der Newen Zeitung, über das Edikt bis hin zu den Avisen oder vom einblättrigen Flugblatt und Einblattdruck im Folio-Format zur mehrblättrigen oft mit einem Titelblatt versehenen Flugschrift im Quart- oder Oktav-Format reichten. Als „formal komplexester Publikationstypus“9 ist den illustrierten Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts gemein, „dass sie ungewöhnlich schnell eine publizistische Antwort auf Ereignisse oder auf andere Publikationen“10 geben konnten, dass sie Bild und Text miteinander kombinierten und besonders eingängige, gut memorierbare Informationen boten. Ihre unregelmäßige Erscheinungsweise ermöglichte die gezielte Auswahl von Nachrichten, Inhalten und Ereignissen, die einen erfolgreichen Absatz versprachen und sich konzentriert darstellen ließen.11 Illustrierte Flugblätter generierten folglich mit ihren multiperspektivisch angelegten Themen eine weite Aufmerksamkeit in breiten Bevölkerungsschichten. Motive aus der Bildpublizistik wurden auch über Jahrzehnte hinweg variiert, adaptiert oder einfach nur kopiert. Als Versatzstücke sind diese in vielen anderen zeitgenössischen Medien, etwa Medaillen, Gebrauchskeramik, Gemälden u.a., wiederzufinden. Zwischen den einzelnen Medien als auch in deren inhaltlichen Vermittlungsleistungen für die frühneuzeitliche Gesellschaft ist daher von einer intensiven Intermedialität auszugehen, die ein Ereignis überhaupt erst zu einem Medienereignis werden ließ. Ab den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts entbrannte ein publizistischer Wort- und Bilderkampf zwischen den neuen reformatorischen Strömungen und den Anhängern der Römischen Kirche, der sich einschließlich des Dreißigjährigen Krieges weit ins sog. konfessionelle Zeitalter erstreckte. Mit den Stilmitteln der Antithese, plakativer Selbstdarstellung und Kritik diente die Flug- und Bildpublizistik in Phasen sich pola-
8 Vgl. Schottenloher, Karl: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. 2 Bde. Berlin 1922. 9 Tschopp, Silvia Serena: Rhetorik des Bildes. Die kommunikative Funktion sprachlicher und graphischer Visualisierungen in der Publizistik zur Zerstörung Magdeburgs im Jahre 1631. In: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Johannes Burkhardt u. Christine Werkstetter. München 2005. S. 79–103, hier S. 82. 10 Harms, Wolfgang (Hrsg.): Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe, 24. Juli–31. Oktober 1983, Kunstsammlungen der Veste Coburg, bearb. von Beate Rattay. Coburg 1983. S. VII u. XI, Anm. 4. 11 Vgl. Schilling, Bildpublizistik (wie Anm. 6), S. 105. Zu den Traditionen, Aufgaben, Leistungen, Wirkungen, Intermedialität, Vertrieb und Distribution der illustrierten Flugblätter in der Frühen Neuzeit vgl. bspw. Schottenloher, Flugblatt (wie Anm. 8); Schilling, Bildpublizistik (wie Anm. 6); Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin 1992; Harms, Wolfgang (Hrsg.): Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998; Tschopp, Rhetorik (wie Anm. 9); Harms, Wolfgang u. Michael Schilling (Hrsg.): Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte. Stuttgart 2008; Emich, Birgit: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für Historische Forschung 38/1 (2008). S. 31–56; Heesen, Kerstin te: Das illustrierte Flugblatt als Wissensmedium der Frühen Neuzeit. Bochum 2009 und Schilling u. Bellingradt, Flugpublizistik (wie Anm. 7).
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risierender Glaubensgrundsätze der Inklusion und Überzeugung der eigenen und potentiellen Anhängerschaft sowie der Exklusion der jeweils Andersgläubigen.12 So wurde das Illustrierte Flugblatt zu einem populären Medium, das nahezu alle militärischen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts publik machte.13
2 Der siebenbürgische Fürst Gabriel Bethlen und die Königreiche Böhmen und Ungarn im BöhmischPfälzischen Krieg 1618 bis 1623 In einem dynamisierten und in zunehmendem Maße multipolare Strukturen aufweisenden europäischen Staatensystem eskalierte eine eher innerhabsburgische Angelegenheit in den von konfessionellen Spannungen und religiösen Dauerkonflikten geprägten Ländern der Wenzelskrone zum Dreißigjährigen Krieg.14 Die böhmischen Stände erklärten infolge des Prager Fenstersturzes vom 23. Mai 1618 den Habsburger Ferdinand (1578–1637) als König von Böhmen15 für abgesetzt und wählten den pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. (1596–1632) am 27. August 1619 zu ihrem neuen König. Nur wenige Tage später erfolgte in Frankfurt am 9. September 1619 jedoch auch mit den Stimmen der kurpfälzischen Gesandten die einstimmige Kaiserwahl Ferdinands II. durch das versammelte Kurfürstenkollegium. Verschärft strebte nun der interkonfessionelle Konflikt auch in der Flug- und Bildpublizistik typographisch und bildlich einem Höhepunkt im Böhmisch-Pfälzischen Krieg (1618–1623) entgegen. Propagandistische Hoffnungen auf Seiten der böhmischen Aufständischen, Calvinisten und Protestanten im Reich stützten sich vor allem auf den calvinistischen Fürsten von Siebenbürgen, Gabriel Bethlen, der 1619 in kurzer Zeit fast das gesamte habsburgische Königreich Ungarn erobert hatte und am 25. August 1620 von einer ungarischen Ständeversammlung auf dem Landtag von Neusohl (slowak. Banská Bystrica; ungar. Besztercebánya) zum König von Ungarn gewählt wurde. Er trat zunächst als Verbündeter der böhmischen Stände in den Dreißigjährigen Krieg ein. Für die europäische Öffentlichkeit wurde der siebenbürgische Fürst von den Reformierten und Luthe-
12 Rekow, Matthias: ‚Fliegende Blätter‘ auf ‚engen‘ und ‚weiten‘ Wegen. Flug- und Bildpublizistik im Dienst der reformatorischen und altkirchlichen Polemik. In: Re:bellion//Re:ligion//Re:form. Künstler agieren im Umbruch. Hrsg. von Susanne Altmann u. Petra Lewey. Leipzig 2015. S. 13–18, hier S. 14f. 13 Schilling u. Bellingradt, Flugpublizistik (wie Anm. 7), S. 284. 14 Zu den historischen Geschehnissen und Ursprüngen des Dreißigjährigen Krieges vgl. bspw. Duchhardt, Weg (wie Anm. 5); Rebitsch, Robert (Hrsg.): 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Wien [u.a.] 2017. 15 Ferdinand war seit 1617 König von Böhmen und seit 1. Juli 1618 Apostolischer König von Ungarn.
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ranern zum Befreier vom „[r]ömisch[en] Joch“16 stilisiert, der Oberungarn innerhalb kürzester Zeit aus der Herrschaft der Habsburger befreit hatte. Als helle Lichtgestalt und Verteidiger Böhmens werde „der thewre Held“ Gabriel Bethlen, mit „Musqueten klingen“ dem römischen Klerus eine „schoene Meß“ anrichten.17 Nach der Schlacht am Weißen Berg vom 7. November 1620, der desaströsen Niederlage des ständischen Heeres der Böhmen und der überstürzten Flucht des Pfalzgrafen Friedrich V. setzte dagegen die katholische Propaganda gegen den Winterkönig und dessen Verbündeten Gabriel Bethlen ein. In dieser galt Bethlen als Vasall des Osmanischen Reiches, und auch die Bündnisbemühungen der sogenannten Anhaltischen Kanzlei18 der Kurpfalz mit der Hohen Pforte unter Vermittlung des siebenbürgischen Fürsten waren den katholisch-römischen Polemikern und Publizisten nicht entgangen. Gabriel Bethlen hatte bereits als junger Mann zahlreiche Schlachten um das Fürstentum Siebenbürgen gegen die Habsburger militärisch begleitet. Als Gesandter weilte er während des sogenannten Bocskai-Aufstandes (1604–1606) ab 1604 am Hof des Sultans Ahmed I. (1590–1617) in Konstantinopel, um die osmanische Unterstützung im Krieg Stephan Bocskais (1557–1606) gegen Kaiser Rudolf II. (1552–1612) um das Fürstentum Siebenbürgen durch türkische Truppenhilfe sicherzustellen.19 1612 floh Bethlen in das Osmanische Reich, als der nunmehrige siebenbürgische Fürst Gabriel Báthory (1589–1613) die Oberhoheit der habsburgischen Krone über Siebenbürgen anerkannte.20 Schon 1613 zog er an der Spitze eines osmanischen Heeres in Siebenbürgen ein. Bethlen rief die siebenbürgischen Stände zum Landtag nach Klausenburg und zwang diese mit Gewaltandrohung durch das osmanische Militär zum Abfall von Báthory. Schließlich „wählten“ ihn die Stände am 23. Oktober 1613 zum Fürsten von Siebenbürgen.21 Für das Haus Habsburg war diese inszenierte Wahl ein unmissverständliches Zeichen der Abhängigkeit Gabriel Bethlens vom Osmanischen Reich, sodass die kaiserliche Kanzlei ihn als „Turcarum creatura“ bezeichne16 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 270 (P-463) (1619) u. Bd. 3, S. 109 (P-553) (1620) sowie für die franz. Version des Flugblatts Bd. 3, S. 459 (PA-110) (1620) u. S. 460 (PA-111) (1621). 17 Niemetz, Michael: Antijesuitische Bildpublizistik in der frühen Neuzeit. Geschichte, Ikonographie und Ikonologie. Regensburg 2008. S. 91f., 332, Abb. 64 (1619). 18 Benannt nach dem Kanzler des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V., Christian von Anhalt (1568– 1630), der die in- und ausländischen Regierungsgeschäfte der Pfalz führte. 19 Vgl. Pálffy, Géza: Ewige Verlierer oder auch ewige Gewinner? Aufstände und Unruhen im frühneuzeitlichen Ungarn. In: Die Stimme der ewigen Verlierer. Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450–1815). Hrsg. von Peter Rauscher u. Martin Scheutz. Wien, München 2013. S. 151–175, hier S. 156; Glettler, Monika: Überlegungen zur historiographischen Neubewertung Bethlen Gábors. In: Ungarn-Jahrbuch 9 (1978). S. 237–255, hier S. 237. 20 Vgl. Tóth, István György: Zwischen Kaiser und Sultan. In: Geschichte Ungarns. Hrsg. von István György Tóth. Budapest 2005. S. 257–288, hier S. 264; Schmidt-Rösler, Andrea: Princeps Transilvaniae – Rex Hungariae? Gabriel Bethlens Außenpolitik zwischen Krieg und Frieden. In: Kalkül – Transfer – Symbol. Europäische Friedensverträge der Vormoderne. Hrsg. von Heinz Durchhardt u. Martin Peters. Mainz 2006. S. 80–98, hier S. 80 u. Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 237. 21 Vgl. Tóth, Kaiser (wie Anm. 20), S. 265; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 237.
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te.22 Herzog Maximilian von Bayern (1573–1651) verstand Bethlen als „des türkischen Erbfeindes fast Leibeigenen“23 und das spöttische Urteil der europäischen Öffentlichkeit über ihn lautete: „Gabriel[,] de[r] Mohammedaner“.24 Gerüchten zufolge sei der siebenbürgische Fürst sogar zum Islam konvertiert und habe sich in Konstantinopel beschneiden lassen.25 Angesichts des sensiblen Kräftegleichgewichts zwischen der Hohen Pforte und Habsburg sowie der Funktion des Großfürstentums Siebenbürgen als Pufferstaat zwischen den osmanischen und habsburgischen Herrschaftsansprüchen musste der Wiener Hof jedoch in den Tyrnauer Verträgen vom 6. Mai 1615 und vom 31. Juli 1617 letztlich die Regentschaft des neuen siebenbürgischen Fürsten anerkennen.26 Im Juli 1619 baten die Böhmen den siebenbürgischen Fürsten um Hilfe und trugen ihm die böhmische Krone an.27 Gabriel Bethlen wies dieses Ansinnen von sich, kontaktierte am 18. August 1619 jedoch die böhmischen und mährischen Stände zum Zwecke eines gemeinsamen Bündnisses und signalisierte diesen die Zustimmung des Osmanischen Reiches zum Feldzug gegen Habsburg.28 Die vorläufige Eroberung des Königreichs Ungarn durch den siebenbürgischen Fürsten startete am 26. August 1619, das sich mit der Kapitulation der ungarischen Krönungsstadt Preßburgs (slowak. Bratislava; ungar. Pozsony) bereits am 14. Oktober 1619 in seiner Hand befand.29 Damit war der Weg zur Belagerung Wiens frei, die vom 26. November bis 5. Dezember 1619 durch die vereinigten Heere der konföderierten Stände unter dem Befehl des siebenbürgischen Fürsten erfolgte. Zuvor wurde Gabriel Bethlen am 21. September 1619 auf dem Landtag zu Kaschau (slowak. Košice, ungar. Kassa) von den versammelten Ständen zum Führer und Verweser des Königreichs Ungarn gewählt.30 Nach dem Einfall des kaisertreuen ungarischen Adligen Georg Drugeth de Homonna (1583– 22 Zitiert nach Depner, Maja: Das Fürstentum Siebenbürgen im Kampf gegen Habsburg. Untersuchungen über die Politik Siebenbürgens während des 30jährigen Krieges. Stuttgart 1938. S. 32 u. Anm. 14; Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 81. 23 Zitiert nach Hurter, Friedrich von: Geschichte Kaiser Ferdinands II. und seiner Eltern. PersonenHaus- und Landesgeschichte. Bd. 8. Schaffhausen 1857. S. 147 u. bes. Anm. 65. Vgl. auch Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 32 u. Anm. 15; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 237. 24 Tóth, Kaiser (wie Anm. 20), S. 265. 25 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 32 u. Anm. 16. Dieser Vorwurf wird 1620 erneuert: „Gabor der kein Christ / […] / sondern ein Tuerck / der beschnitten vnnd zur Mahometischen Abgoetterey gefallen / [ist.]“. Harms, Wolfgang [u.a.] (Hrsg.): Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl. Tübingen 1983. S. 90f., Nr. 43 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 106 (P-550) (1620), S. 107 (P-551) (1620) u. S. 108 (P-552) (1620). 26 Vgl. Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 82f.; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 23f. u. 34f. 27 Vgl. Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 239; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 44. 28 Vgl. Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 84. 29 Vgl. Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 84; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 39–43. 30 Vgl. Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 84; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 238; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 42f.
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1620) in Oberungarn mit polnischen Truppen brach Gabriel Bethlen die Belagerung der habsburgischen Residenzstadt Wien ab und zog sich nach Ungarn zurück.31 Den Feldzug, den der siebenbürgische Fürst zur territorialen Erweiterung seiner Herrschaft im Herbst 1619 gegen Kaiser Ferdinand II. begann, erfolgte mit ausdrücklicher Billigung der Hohen Pforte, jedoch ohne deren offizielle militärische Unterstützung.32 Bereits nach dem Rückzug Bethlens von Wien Anfang Dezember 1619 leitete die kaiserliche Regierung Verhandlungen mit dem siebenbürgischen Fürsten ein, die am 16. Januar 1620 zum Waffenstillstand von Preßburg führten. Mitten in den Vertragsgesprächen wählten die ungarischen Stände Gabriel Bethlen am 8. Januar 1620 auf dem Landtag in Preßburg zum Fürsten des Königreichs Ungarn, dem dadurch sowohl Regierung als auch Verwaltung des Königreichs „nicht anders als wenn er selbst König wäre“33 zufielen. Die kaiserliche Regierung musste die Vorgänge in Preßburg ignorieren, um ihre beiden Gegner, die aufständischen böhmischen Stände sowie Gabriel Bethlen mit den rebellierenden ungarischen Ständen, voneinander zu trennen. Taktisch verzichtete Ferdinand II. vorübergehend auf den Besitz des Königreichs Ungarn. Am 15. Januar 1620 ging Bethlen jedoch mit dem am 4. November 1619 gekrönten König von Böhmen Friedrich I. und den Ständen von Böhmen, Mähren, Schlesien, Ober- und Niederösterreich sowie den beiden Lausitzen einen Bündnisvertrag zur gegenseitigen Hilfe im Falle eines Angriffs ein.34 Im Vertrag von Prag erneuerte Bethlen am 25. April 1620 sein Bündnis mit den Böhmen und deren Konföderierten und machte mobil. Mittlerweile hatte die kaiserliche Regierung unter Ferdinand II. mit Hilfe Maximilians von Bayern ein breites Bündnis gegen die aufbegehrenden Stände der böhmischen Länder, Ober- und Niederösterreich sowie Ungarns zustande gebracht. Ein Großteil der katholischen Reichsstände trat in die Liga ein, Papst Paul V. (1552–1621) und der König von Polen, Sigismund III. Wasa (1566–1632), sagten ihre Unterstützung zu, Savoyen gewährte den Durchzug spanischer Truppen durch sein Territorium, und selbst das protestantische Kurfürstentum Sachsen schlug sich im März 1620 auf die kaiserliche Seite, um den Aufstand in Böhmen zu beenden. Als besonders nachteilig für die Böhmische Konföderation sollte sich herausstellen, dass die Protestantische Union ihre Mitglieder mit dem Ulmer Vertrag auf Neutralität im Streit um Böhmen verpflichtete.35 Auf dem Landtag von Neusohl (slowak. 31 Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 47. 32 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 70 u. 89; Stamm, Alfred: Der erste Feldzug des Gabriel Bethlen, Fürsten von Siebenbürgen, gegen Kaiser Ferdinand den Zweiten, König von Ungarn, bis zum Waffenstillstand von Pressburg im December 1619. Kronstadt 1894. S. 16; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 238. 33 Zitiert nach Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 50. 34 Vgl. Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 85; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 239f.; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 49–51 u. 64. 35 Vgl. Winkelbauer, Thomas: Die Habsburgmonarchie vom Tod Maximilians I. bis zum Aussterben der Habsburger in männlicher Linie (1519–1740). In: Geschichte Österreichs. Hrsg. von Thomas Winkelbauer. Stuttgart 2015. S. 159–289, hier S. 180.
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Banská Bystrica; ungar. Besztercebánya) wurde Gabriel Bethlen am 25. August 1620 zum König von Ungarn gewählt, verzichtete jedoch auf die Krönung.36 Zuvor hatte das Osmanische Reich im Juni 1620 mittels eines Assekurationsbriefes seine Bereitschaft signalisiert, mit Ungarn ein Schutzbündnis einzugehen, wenn es den Habsburger Ferdinand II. absetzen und einen der Pforte ergebenen König wählen würde.37 Eine ungarische, österreichische und böhmische Gesandtschaft ging, versehen mit einer Denkschrift und dem Auftrag, ein Bündnis mit der Pforte abzuschließen und Hilfstruppen zu fordern, von Neusohl aus am 27. August 1620 nach Konstantinopel ab.38 Inzwischen startete die vereinigte katholische Liga ihren Gegenangriff gegen die rebellierenden protestantischen Stände. Ober- und Niederösterreich wurden von Maximilian von Bayern erobert, der sich mit den kaiserlichen Truppen unter Charles Bonaventure Boucquoi (1571–1621) Anfang September zum Angriff auf Böhmen vereinigte. Ambrosio Spinola (1569–1630) führte im August 1620 von Flandern aus ein spanisches Heer gegen die Kurpfalz, und Johann Georg I. von Sachsen (1585–1656) bereitete seinen Angriff auf die Lausitzen und Schlesien vor.39 In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 162040 unterlag das böhmische Ständeheer unter Christian von Anhalt (1568–1630) dem von Boucquoi geführten Heer der Liga. Der sogenannte Winterkönig Friedrich I. von der Pfalz floh über Breslau, Brandenburg und Wolfenbüttel ins niederländische Exil. Böhmen und Mähren fielen wie zuvor die österreichischen Erblande des Kaisers wieder in die Herrschaftsgewalt Ferdinand II. zurück. Mit festem Willen, auch den ungarischen Ständeaufstand zu beenden und den Sieg seiner Truppen in Böhmen nutzend, annullierte Ferdinand II. per Edikt vom 10. Dezember 1620 alle Beschlüsse der Preßburger und Neusohler Landtage inklusive der Königswahl Bethlens bei gleichzeitiger Zusicherung der Wahrung aller bisherigen
36 Vgl. Tóth, Kaiser (wie Anm. 20), S. 267. 37 Vgl. Papp, Sándor: Friedensoptionen und Friedensstrategien des Fürsten Gábor Bethlen zwischen dem Habsburger- und Osmanenreich (1619–1621). In: Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Arno Strohmeyer u. Norbert Spannenberger. Stuttgart 2013. S. 109–127, hier S. 122f., 126f. Der Assekurationsbrief wurde als Flugschrift in deutscher Übersetzung zahlreich verbreitet. Vgl. Deß Trckischen Kaysers Hlff Dem Frsten inn Siebenbrgen / Bethlehem Gabor / nunmehr erwhlten Knig in Ungarn / vnd desselben Stnden / auch den Confoederirten Landen versprochen. Preßburg 1620 [VD17 14:002177V]; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 64 u. 66. 38 Papp, Friedensoptionen (wie Anm. 37), S. 123; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 67f. 39 Vgl. etwa zum Einfall des Marquis Spinola in die Pfalz und zu dessen militärischen Erfolgen dort sowie zur Eroberung von Bautzen, Hauptstadt der Lausitzen, am 25. September 1620 durch Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen die Flugblätter in Bohatcová, Mirjam: Irrgarten der Schicksale. Einblattdrucke vom Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Prag 1966. S. 12f. u. S. 38f., Nr. 41–46 (1620/21) u. S. 39, Nr. 48 (1620). Siehe auch Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 240; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 66f. 40 Vgl. nur die beiden Flugblätter zur Schlacht am Weißen Berg in Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 41f., Nr. 54 (1620) u. 56 (1620).
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Privilegien gegenüber den ungarischen Ständen.41 Am 25. Januar 1621 trat der siebenbürgische Fürst in Friedensverhandlungen mit den kaiserlichen Emissären ein. Aufgrund der Maximalforderungen brachen beide Parteien die in Hainburg stattfindenden Friedensverhandlungen in den letzten Tagen des Aprils 1621 ergebnislos ab. Mit dem Einmarsch kaiserlicher Truppen unter Boucquoi im Februar des Jahres in Ungarn und der Eroberung von Preßburg am 7. Mai verschlechterte sich die militärische und politische Lage für Bethlen nun auch in Ungarn.42 Auf sein dringendes Hilfeersuchen unterstützte die Hohe Pforte ihren siebenbürgischen Vasallen ab Anfang Februar 1621 finanziell und militärisch. Dies trug ebenso zum Scheitern der Friedensverhandlungen mit dem Haus Habsburg bei wie die verhärteten Positionen der Kriegsparteien.43 Nach der Niederlage am Weißen Berg bei Prag hatte sich der Generalfeldmarschall der verbündeten Länder Graf Heinrich Matthias von Thurn (1567–1640) mit den Überresten des böhmischen Heeres nach Mähren abgesetzt und vereinigte seine Truppen mit denen des siebenbürgischen Fürsten in Ungarn.44 Gemeinsam entsetzten sie das von kaiserlichen Truppen unter Boucquoi belagerte Neuhäusl. Bethlen und seine Truppen zogen nach Tyrnau, eroberten dieses und begannen, verstärkt durch die schlesischen Truppen unter Markgraf Johann Georg von BrandenburgJägerndorf (1577–1624), die Belagerung Preßburgs vom 13. August bis zum 1. September 1621. Erneut war das gesamte Ungarn bis auf die Hauptstadt Preßburg in der Hand des siebenbürgischen Fürsten.45 Der Kompromissfrieden von Nikolsburg, der am 6. Januar 1622 zwischen Gabriel Bethlen und Ferdinand II. geschlossen wurde, beendete zunächst den Konflikt. Gegen die Erhebung in den Reichsfürstenstand und den Titel eines Herzogs von Oppeln und Ratibor sowie den lebenslangen Besitz sieben oberungarischer Komitate verzichtete der siebenbürgische Fürst auf den ungarischen Königstitel. Zugleich verpflichtete er sich, sämtliche feindliche Maßnahmen gegen das Haus Habsburg zu unterlassen. Den ungarischen Ständen wurde für ihren neuen Treueeid auf Ferdinand II. der Besitz ihrer alten Freiheiten und Privilegien garantiert.46 Gabriel Bethlen zeigte sich nach weiteren erfolglosen Aufständen gegen das Haus Habsburg im Königreich Ungarn in den Jahren 1623/24 und 1626 ganz im Banne der schwedischen Politik. Gemeinsam plante er 1628/29 mit Gustav II. Adolf (1584–1632) eine groß angelegte Intervention in Polen, um die katholische Polnisch-Litauische Union in einem Zangengriff von Norden und Süden zu zerteilen und die schwedischen und siebenbürgischen Truppen im Kampf gegen Habsburg zu vereinen. Diese hoch41 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 70. 42 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 72–79; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 240f. Siehe auch Jocher, Wilhelm: Fuerstl-Anhaltische geheime Cantzley / […]. o. O. 1621. S. 222 [VD17 3:303087G]. 43 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 84; Papp, Friedensoptionen (wie Anm. 37), S. 123f. 44 Vgl. Hallwich, Hermann: Thurn-Valsassina, Heinrich Matthias Graf. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 39. Leipzig 1895. S. 70–92. 45 Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 85–87; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 240f. 46 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 90–92.
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fliegenden Pläne gelangten jedoch nie über die Projektierung hinaus und wurden durch den Tod des siebenbürgischen Fürsten am 15. November 1629 beendet.47 Kaiserliche und ligistische Armeen unter Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein (1583–1634) und Johann T’Serclaes von Tilly (1559–1632) dominierten bis zur Landung der Schweden 1630 in Pommern militärisch fast das gesamte Reich, zumal sich die Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges mit dem Niedersächsisch-Dänischen Krieg (1623–1629) zunehmend in den Norden verlagert hatten.
3 Propaganda im Dienst des siebenbürgischen Fürsten Zur Unterstützung des Böhmischen Ständeaufstandes eröffnete die protestantische Polemik die Propagandaschlacht zwischen den konfessionellen Lagern mit dem auf das Ende des Jahres 1619 zu datierenden Flugblatt „Boehmische Friedenfahrt vnd was sich denckwuerdiges darbey zugetragen hat.“48 Die Nennung des Fürsten von Siebenbürgen, Gabriel Bethlen, als Verfechter der böhmischen Sache erfolgt in diesem Kontext zum ersten Mal. Ein auf die breite europäische, vor allem aber ungarische, deutsche und französische Öffentlichkeit49 abzielendes Flugblatt ist das Reiterbildnis Gabriel Bethlens in seinem 39. Lebensjahr „GABRIEL BETHLEN D.G. PRINCEPS TRANSYLVANIAE, PART. REGNI HUNGARIAE DOMINUS, ET SICULORUM COMES, &c.“50 (Abb. 3.1) von 1619, das im Folgejahr wiederholt aufgelegt wurde. Zuerst mussten die Mitglieder der Stände im Königreich Ungarn, vor allem die Habsburg treu ergebenen aber wankelmütigen Stände überzeugt werden, sich zumindest einem Teil der antihabsburgischen Forderungen anzuschließen. Im Reich umwarben der calvinistische kurpfälzische Hof in Heidelberg und der siebenbürgische Fürst mit ihren Propagandablättern
47 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 130–134. 48 Harms, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Illustrierte Flugblätter I–VII. 6 Bde. Bd. 2. Tübingen 1985– 2005. S. 246f., Nr. 139 (1618/19); Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 28, Nr. 6 (o. J.); Niemetz, Bildpublizistik (wie Anm. 17), S. 90f., 330, Abb. 62 (1619); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 195 (P-388) (1619). Das Flugblatt erschien auch in einer eidgenössischen Ausgabe. Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 194 (P-387) (1619). 49 Darüber hinaus richtete sich die calvinistische Propaganda auch an die niederländische Öffentlichkeit bzw. wurde von der Vereinigten Republik der Niederlande unterstützt. Vgl. bspw. Bahns, Jörn (Hrsg.): Flugblätter. Aus der Frühzeit der Zeitung. Gesamtverzeichnis der Flugblatt-Sammlung des Kurpfälzischen Museums der Stadt Heidelberg anläßlich der Ausstellung des Kupferstichkabinetts vom 30. Oktober 1980 bis 11. Januar. 1981, bearb. von Sigrid Wechssler. Heidelberg 1980. S. 18, Nr. 29 u. S. 20, Nr. 40. 50 „Gabriel Bethlen, von Gottes Gnaden Fürst von Transsilvanien, des geteilten Königreichs Ungarn Herr und Graf des Szeklerlandes etc.“. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 270 (P-463) (1619) u. Bd. 3, S. 109 (P-553) (1620).
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Abb. 3.1: Jacques Granthomme, GABRIEL BETHLEN D.G. PRINCEPS TRANSYLVANIAE, PART. REGNI HUNGARIAE DOMINUS, ET SICULORUM COMES, &c., 1619, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 50, 1.
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geschickt die protestantischen Reichsstände.51 Propagandistisch rechtfertigten sie in der Darstellung zum einen den Krieg gegen Habsburg, zum anderen hofften sie, das in Westeuropa kursierende Gerücht, Bethlens Feldzug werde durch das als Erbfeind der Christenheit angesehene Osmanische Reich gelenkt, zu marginalisieren. Gleiches galt für die ungarischen Stände, die seit zweihundert Jahren mit der Expansion der Osmanen nach Südosteuropa konfrontiert waren. Für die Aufstandsbewegung mussten europäische Verbündete gefunden werden, die die Sache der Aufständischen wenn nicht militärisch oder finanziell, so doch zumindest politisch unterstützten.52 Dafür sprechen auch die französischen Versionen dieses Flugblattes von 1620 und 1621. Die französische Krone wurde aufgrund ihres Kampfes um die Vorherrschaft in Europa gegen die spanische wie österreichische Linie des Hauses Habsburg als natürlicher Verbündeter betrachtet.53 Links oben auf dem Blatt befindet sich die Devise Gabriel Bethlens. Diese zeigt einen gerüsteten linken Arm, der ein Schwert aufrecht in die Höhe hält; am Ende des unteren Drittels des Schwertes ist eine Krone aufgesteckt. Durch ein Spruchband mit dem Motto Bethlens „CONSILIO FIRMATA DEI“54 wird das nur zur Hälfte sichtbare Schwert unterbrochen. Auf der rechten Seite des Einblattdruckes findet sich ein Emblem, das unter der Fürstenkrone, die von zwei Löwen gehalten wird, die wiederum auf dem runden Drachenring der Bethlen’schen Familie stehen, drei Wappen zeigt. Die obere, dominierende Tafel zeigt das Wappen der Fürstenlinie Bethlens mit zwei Wildgänsen, die mittels eines Pfeils an ihren Hälsen verbunden sind. Auf den beiden unteren Schilden findet sich das siebenbürgische Wappen, links Sonne, Halbmond und Sterne sowie die sieben Burgen in der Kombination 3-3-1, rechts ein nach links gewandter junger Adler.55 Unter diesen Sinnbildern ist auf einem nach links springenden Pferd Gabriel Bethlen in ungarischer Tracht zu sehen, der auf dem Kopf den niedrigen magyarischen Kalpag mit Agraffe und Reiherbusch trägt. Seine rechte Hand mit dem Kommandostab weist in Richtung auf seine Devise, während die linke Hand die Zügel des Pferdes führt. Bewaffnet ist er mit einem breiten Säbel. Im Hintergrund findet vor einem nicht zuordenbaren Stadtprospekt eine heftige Schlacht mit Artilleriefeuer, Kavallerie und Fußtruppen statt. Der beschreibende Text in Ungarisch, Latein und Deutsch feiert Bethlen Gabor als Befreier des Königreichs Ungarn vom „Rmisch Joch“.
51 Vgl. Pálffy, Verlierer (wie Anm. 19), S. 162–165. 52 Vgl. Pálffy, Verlierer (wie Anm. 19), S. 162. 53 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 459 (PA-110) (1620) u. S. 460 (PA-111) (1621) für die franz. Versionen des Flugblattes. 54 Lat. „durch Gottes Zustimmung bestätigt“. Die Devise ist auch auf einem 10-Dukatenstück des Fürstentums Siebenbürgens von 1616 zu sehen, das Gabriel Bethlen prägen ließ. Vgl. Resch, Adolf: Siebenbürgische Münzen und Medaillen von 1538 bis zur Gegenwart. Hermannstadt 1901. S. 84, Nr. 12 u. Tafel 22, Nr. 12. 55 Vgl. Resch, Münzen (wie Anm. 54), S. 85, Nr. 25 u. 29 sowie Tafel 22, Nr. 25 u. 29.
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Nachdem Ungarn „sein Hlff“ erbeten hatte,56 nahm er „gantz Hungarn ohne Blut“ mit „viertzig tausent Mann“ ein, setzte die Stände wieder in ihre „alte Freyheit“ ein und begehrte, wie „Hercules“, nicht „mehr als Helffers Rhum“ dafür. Der Text endet mit einer vierzeiligen Anrufung Gottes um Einigkeit an allen Orten.57 Der Kupferstich wurde durch den flämischen Künstler Jacques Granthomme (1578–1625) gestochen, der 1596 an der Universität Heidelberg studierte und von 1609 bis 1622 am Hof des calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz tätig war.58 Erstaunlich an der Wiedergabe Gabriel Bethlens ist seine idealisierte Darstellung als junger, tatkräftiger Führer – wahrhaftig ein tugendhafter Herkules, der uneigennützig und heldenhaft die alten Freiheiten der ungarischen Stände gegen die Ansprüche des Hauses Habsburg verteidigt und ganz Ungarn von den Anmaßungen der katholischen Kirche befreit. Gerade die Beschneidung der althergebrachten Ständerechte in Ungarn und Böhmen durch die Herrschaft Habsburgs, wie etwa das Wahlrecht der Stände oder die Freiheit des Bekenntnisses, hatte schon im Vorfeld des Prager Fenstersturzes zu Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien geführt. Ein hier erstmalig beschriebenes Flugblatt warb gerade bei den ungarischen und konföderierten Ständen um das am 25. April 1620 geschlossene Waffenhilfeabkommen zwischen dem siebenbürgischen Fürsten, dem Winterkönig Friedrich I. und den böhmischen Ständen, welches das Beistandsabkommen vom Januar 1620 präzisierte und erweiterte.59 Das illustrierte Flugblatt „Wahre Contrafactur vnnd Abbildung / deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Frsten vnd Herren / Herrn Betlehem Gabor / Frsten in Siebenbrgen / rc. Sampt einem Gesprch zwischen demselben vnd der Religion / sampt dero zugethanen gemeinen Landsstnden gegenwertiges Kriegswesen betreffendt.“60 (Abb. 3.2) zeigt vor einer bergigen Kulisse eine gestikulierende mit bäuerlichen Waffen ausgerüstete Ansammlung von Menschen, die gemeinen Stände der beiden Königreiche darstellend. Sie gruppieren sich um den zentral stehenden Gabriel Bethlen in ungarischer Kleidung, der mit einem Streithammer und einem Schwert bewaffnet ist. Dieser wendet sich zu einer Frauengestalt am linken Rand, die durch das hinter ihr stehende Kreuz als Allegorie der Religion bzw. des Glaubens zu deuten ist. In ihrer rechten Hand hält sie zerrissene Dokumente als Zeichen für die durch Habsburg beschnittenen Stände- und Religionsrechte. Am Boden vor der 56 Tatsächlich bat die oppositionelle protestantische Bewegung innerhalb der ungarischen Stände Bethlen im Sommer 1619 um seinen militärischen Beistand bei dem Aufstand gegen die Habsburger. Vgl. Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 238; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 39. 57 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 270 (P-463) (1619). 58 Gyulai, Éva: „Nézd meg ezt sok ország népe, Bethlen Gábornak ez képe” – Bethlen Gábor ikonográfiai reprezentációja. In: Bethlen Gábor képmása. Hrsg. von Klára Papp u. Judit Balogh. Debrecen 2013. S. 251–270, hier S. 263f. Das ungarische Zitat im Aufsatztitel von Éva Gyulai entstammt den ersten beiden Zeilen des ungarischen Textes im behandelten Flugblatt (vgl. Abb. 3.1). 59 Schmidt-Rösler, Princeps (wie Anm. 20), S. 86; Glettler, Überlegungen (wie Anm. 19), S. 239; Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 56. 60 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 98 (P-542) (1620).
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Menschenmenge liegt eine zerbrochene Pflugschar, während im Hintergrund eine zerstörte Burg und vier aufgestellte Kanonen auf die zeitgenössischen militärischen Ereignisse aufmerksam machen. Im Begleittext berichtet die personifizierte Religion Gabriel Bethlen von ihrer Unterdrückung durch die „siebenkpffig gifftig Schlang“, den Papst, mit „Sacrament / […] Gtzendienst“, Ablaß und römischer Messe. Um Beistand rufend, erbittet sie vom „fromme[n] Held Bethlehem Gabor“, die reine „Evangelisch Lehr“ zu erretten und den „vngehewren Drachen wildt“ mit seinem „Schwert vnd Schilt“ zu verjagen. Der Fürst verspricht, ihre Lehre im ganzen Land gegen die Doktrin des Papstes, des „Drach vngehwr“, und dessen „Tyranney vnd Falschheit“ zu verbreiten. Anschließend fordert Bethlen den „gmeine[n] Standt“ auf, „beherzt zur Wehr“ zu greifen und mit ihm Gottes Ehre, seine Kirche und das ungarische Vaterland zu verteidigen. Die „gemeinen Landleuth“ weisen auf die Zerstörungen durch den habsburgischen Feind hin.61 Zugleich äußern sie die Anschuldigung, der Feind habe dem „Trcken […] geschrieben“, „[e]r soll mit seiner Macht geschwindt / Erwrgen vnser Weib vnd Kind / Und soll alsdann das gantze Land / Ohn schonen stecken in den Brandt“, was sie als „ein grausam That“ bezeichnen. Deswegen möchten sie unter die Herrschaft des siebenbürgischen Fürsten treten und bitten ihn, sie mit seiner „Helden Hand“ zu beschirmen. Er beruhigt diese mit den Worten, dass er um die List und Verräterei der katholisch-habsburgischen Seite wisse, doch „[d]er Trck halt mehr auff Trew vnd Ehr / Dann daß er sich zum Feinde kehr“. „Der Feind mit seinen Esawiten“ werde mit Gottes Hilfe scheitern. Erneut macht Gabriel Bethlen den Ständen das Angebot, sich mit ihm zu verbünden. Nun antworten die „Landstnd“, dass sie dem siebenbürgischen Fürsten ihr gesamtes Hab und Gut vermachen sowie mit ihm und für ihn sterben wollen. Nichts sei so schlimm wie die Tyrannei, Zwang und Not, welche sie von den „Knigs Mrder Lojoliten“ erfahren haben, bei denen das „Gwissen […] nicht frey bleiben“ könne und die sie „gern in [die] Trkey vertreiben“ wollten. Solche Schandtaten hätten die Jesuiten etwa im „Bhmerland“ verübt. Gabriel Bethlen berichtet nun, dass Gott die Böhmen erhört, ihnen einen neuen „Knig geschenckt“ und Unglück über ihre Feinde verhängt habe. Abermals wiederholt er seine Aufforderung an die Stände, sich zu bewaffnen, „[l]egt d[en] Harnisch an / vnd holt die Spieß“, und sich mit ihm „widern Feind“ zu wehren – es gehe um „GOtt vnd das Vatterland“. Mit der lateinischen Phrase „Læse Patientia fit Furor“, die sowohl als Appell an die Stände als auch Warnung an ihre Feinde zu verstehen ist, wird die letzte Äußerung Bethlens noch einmal verstärkt.62 Ein Flugblatt mit geradezu explosivem Inhalt, denn es forderte nicht weniger als die Vereinigung der Stände und den aktiven militärischen Widerstand unter Führung des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen zum Schutz der „Religion“, der Gewissensfreiheit in der Religions61 Die kaputte Pflugschar im Bildvordergrund ist sichtbarer Ausdruck dieser kaiserlichen Gewalt, die „fast alls verhergt / Und vns viel schoener Plaetz zerstoert“. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 98 (P-542) (1620). 62 „Verletzte Geduld wird Wut“. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 98 (P-542).
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Abb. 3.2: Anonym, Wahre Contrafactur vnnd Abbildung / deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Frsten vnd Herren / Herrn Betlehem Gabor / Frsten in Siebenbrgen / rc. Sampt einem Gesprch zwischen demselben vnd der Religion / sampt dero zugethanen gemeinen Landsstnden gegenwertiges Kriegswesen betreffendt, 1620, o.O., Universitätsbibliothek Göttingen, 2°Hist.germ.un.VIII, 82 Rara, 32.
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ausübung und der Verteidigung der Autonomie der Stände gegen die Römische Kirche und gegen die habsburgische Zentralgewalt. Tatsächlich gelang den ungarischen Ständen nach dem Frieden von Nikolsburg auf dem ungarischen Reichstag in Ödenburg im Sommer 1622 durch Nikolaus Esterházy (1582/83–1645) der Abschluss eines günstigen Kompromisses mit den Habsburgern. Nach Festigung ihrer Führungsposition im Land, Zusicherung ihrer Privilegien und der Religionsfreiheit in Ödenburg war die Mehrheit der ungarischen Adligen nicht mehr an einem landesweiten Aufstand gegen Ferdinand II. interessiert.63 Bemerkenswert an diesem Flugblatt ist zudem, dass den Gegnern der Stände, insbesondere den „königsmörderischen“ Jesuiten und der Papstkirche, intensive Kontakte zum Osmanischen Reich unterstellt werden. Diese würden die Osmanen zu Mord, Brandschatzungen und Eroberungen im Königreich Ungarn ermuntern. Die Jesuiten trifft die Unterstellung, alle Protestanten in die Türkei vertreiben zu wollen. Sie seien die Urheber allen Frevels, die sogar noch den ärgsten Feind der Christenheit, den Türken, steuern und beauftragen. In der Person des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen wird jedoch zugleich die im Flugblatt aufscheinende Ambivalenz im Verhältnis zu den Osmanen sichtbar. Ausgerechnet Bethlen, der selbst intensive und nachhaltige Kontakte zur Hohen Pforte pflegte, wird von den Ständen um Hilfe angerufen, sie mit seiner „Heldenhand“ vor den Türken zu schirmen. Die undurchsichtige Haltung Bethlens tritt retrospektiv deutlich zu Tage, doch zeitgenössisch wusste er die Stände zu beruhigen. Das Osmanische Reich wolle sich nicht mit seinem großen Gegenspieler Habsburg im Kampf um die Hegemonie in Südosteuropa verbrüdern oder mit diesem gemeinsame Sache gegen die Protestanten machen. Vielmehr halte der Türke auf Treue und ehrenvolle Beziehungen zu seinen Vasallen und natürlichen Verbündeten, um Habsburg außenpolitisch und militärisch ablenken bzw. schwächen zu können.64
4 „Der Union Mis[s]geburt“ – Distanzierung vom protestantischen Bündnis der Union Unter dem Druck der militärischen Umstände – der Aufstand in Böhmen war mit der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg praktisch isoliert – richteten die konföderierten Stände eine auch im eigenen Lager umstrittene Denkschrift an den Diwan der Hohen Pforte. In dieser ersuchten sie das Osmanische Reich um ein ewiges Bündnis gegen den habsburgischen Kaiser, um dessen dominierende Stellung in Südwesteuropa
63 Vgl. Pálffy, Verlierer (wie Anm. 19), S. 160f. 64 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 98 (P-542) (1620).
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Abb. 3.3: Anonym, Der Union Misgeburt, 1621, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 96, 5.
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zu brechen.65 Selbst einer der führenden Vertreter des böhmischen Ständeaufstandes, Wenzel Wilhelm Freiherr Budowecz von Budowa (1551–1621), weigerte sich, diese Gesandtschaft nach Konstantinopel zu führen.66 Die protestantischen Verbündeten des reformierten Pfalzgrafen Friedrich V. im Reich zeigten sich irritiert. Vor allem die kursächsisch-protestantische Flug- und Bildpublizistik warnte öffentlich vor dem Calvinismus,67 brachte ihr Befremden gegenüber einem Bündnis mit dem osmanischen Erbfeind sowie Gabriel Bethlen zum Ausdruck und spottete nach der Schlacht am Weißen Berg über die unterlegenen Stände und das militärische Schutzbündnis der Protestantischen Aktionspartei.68 Die Entstehung und Auflösung der Protestantischen Union (1608–1621)69 wird in Bezug auf den Böhmisch-Pfälzischen Krieg im Flugblatt „Der Union Mißgeburt“70 (vgl. Abb. 3.3) satirisch als Lebensgeschichte einer unzüchtigen jungen Frau geschildert. In verschieden bildlichen Szenen innerhalb des Kupferstichs werden Text und Graphik anhand von Verweiszahlen eng miteinander verzahnt. Johannes Calvin (1509–1564), der in Frankreich mit „Knaben […] das Venusspill“ getrieben habe, entschied sich nach seiner Flucht an den Fürstenhof der Pfalz, sich nun auf das „Weibsgeschlecht“ einzulassen. Hier trieb er Unzucht mit „Fraw Ketzerey / Fraw Ehrgeiz / Raub / Verraetherey / Unthrew / Ungehorsamb / Gleichsnerey / Letztlich die Armuet auch darbey“ (Szene 1). Mit seiner liebsten „Schlafbuel vnd Concubin“, der Armut (Szene 2), habe er schließlich „[n]ach hoffnung lang / vor wenig Jahr“ eine Tochter gezeugt und diese „Vnion“ genannt. Ihre Mutter möchte das leichtfertige Mädchen 65 Zum Inhalt der Denkschrift vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 67f.; Gindely, Antonín: Geschichte des Dreissigjährigen Krieges. Bd. 3. Prag 1878. S. 182f. 66 Vgl. Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 67; Gindely, Geschichte (wie Anm. 65), S. 176–184. 67 Vgl. etwa das Flugblatt „Der Sibenkoepffige Calvinisten Geist.“, 1619 in Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 281 (P-474) (1619) u. S. 282 (P-475) (1619); Bahns, Flugblätter (wie Anm. 49), S. 23f., Nr. 53 (1619); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 66f., Nr. 33 (1619); Oelke, Konfessionsbildung (wie Anm. 11), S. 370f. u. Abb. 40 (1619). 68 Vgl. nur Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 294f., Nr. 166 (1621); Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 38, Nr. 40 (o. J.); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 110 (P-554) (1620), S. 111 (P 555) (1620), S. 111a (P-556) (1620) u. S. 393 (P-842) (1621); Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, 250f., Nr. 141 (1620); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 108f., Nr. 51 (1620); Hofmann-Randall, Christina (Bearb.): Die Einblattdrucke der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg. Erlangen 2003. S. 89, Nr. AIII 33 (1620); Niemetz, Bildpublizistik (wie Anm. 17), S. 93f. u. S. 335, Abb. 67 (1620). 69 Die norddeutschen, lutherischen Territorien waren dem Bündnis ferngeblieben und die Nichteinbeziehung des größten und mächtigsten lutherischen Territoriums im Reich, des Kurfürstentums Sachsen, sollte sich als schwerer Konstruktionsfehler der Union erweisen. Vgl. Ernst, Albrecht u. Anton Schindling (Hrsg.): Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? Stuttgart 2010. 70 Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 334f., Nr. 189 (1621); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 196f., Nr. 95 (1621); Hofmann-Randall, Einblattdrucke (wie Anm. 68), S. 106, Nr. AIII 50 (1621); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 330 (P-778) (1621); Coupe, William A.: The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century. Historical and Iconographical Studies. 2 Bde. Baden-Baden 1966–1967. Bd. 1. S. 123f. u. Bd. 2, Nr. 114 (1621).
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gern an einen solventen Freier vermitteln. In Szene 4–12 verkuppelt sie ihre Tochter, die schamlos vor den Freiern ihr Kleid anhebt (Szene 3), der Reihe nach an einen Franzosen (Szene 4), Engländer (Szene 5), Niederländer (Szene 6), Schweizer (Szene 7), „Ungarischen reneganten“ (Szene 8), Schweden (Szene 9), Venezianer (Szene 10) und einen Savoyer (Szene 11). Zuletzt „richt[et] sie sich bey dem Sultan Gar zu Constantinopel an / Hofft sie werde von ihm auffgenommen Und in sein Frawenzimmer kommen“ (Szene 12). Als sich die Union nun in froher Erwartung wähnt, bestellt sie eine Hebamme aus dem „Weinmarischen-Sachsenharz“ und zwei Beisitzerinnen. Sie erwartet, da sie vom Niederländer schwanger sei, eine große Mehrlingsgeburt und überlegt sich schon passende Namen für ihre Töchter, etwa „Bohemiam / Morauiam / Silesiam / Lusaram / […] Austriam / Hungariam / […]“ und weitere. Als nun jedoch die Zeit der Geburt herannaht, kann sie nicht entbinden. Daraufhin schieben ihr die Hebamme und die Beisitzerinnen fünf fremde aber „edle zarte Kind / Von einer ehrlichen Matron“ unter. Die Union nimmt diese Kinder mit Namen „Bohemiam / Morauiam / Silesiam / Lusariam [und] Austriam“ als „jre iunge Aeffelein“ an (Szene 13). Bei einem Besuch zweier ehrwürdiger Damen aus Sachsen und Bayern bemerken diese das falsche Spiel, nehmen die Kinder an sich und geben sie der rechtmäßigen „from Fraw“ und „rechten Mutter“ zurück. Nachdem die noch immer im Kindbett liegende Union weiterhin starke Schmerzen verspürt, bittet sie vier ihrer ehemaligen Freier, den Franzosen, Engländer, Schweizer und Niederländer, um Unterstützung. Doch diese können ihr nicht helfen, da sie momentan keine Zeit für sie haben. Einzig ein Genueser Arzt, Spinola, stellt nach einer „Harm vnd Urin“-Schau die richtige Diagnose (Szene 15): Die Union sei gar nicht schwanger, sondern sei durch ihre Völlerei an „Lorenzer Sandhasen“ (Szene 16), „Ulmer Zwisel vnd Knoblauch / Straßburger kraut zu grob vnd rauch“, gewürzt mit „schlechtem Salz aus Schwebischhall“, (Szene 18) und schwedischem Stockfisch (Szene 19) so aufgebläht und vergiftet, dass ihr das Herz in die Schuhe gerutscht sei (Szene 17). Auf das Wagnis zu sterben, lässt Spinola der Union eine starke, scharfe Medizin anrühren (Szene 20) und verabreichen. Als sie daraufhin „Statt vnd Schlosser […] Kelch / Monstranzen vnd Pateen“ von sich gibt, vergehen ihr die Schmerzen. Statt der gewünschten vielen Kinder, sei vielmehr „[v]on ihr gegangen eitel Wind“. Nach dieser Kur sei die Union nicht mehr zu Kräften gekommen und eines sanften Todes gestorben. Mit einem pietätvollen „Requiem“ entlässt das hochkomplexe und anspielungsreiche Flugblatt seine Leser aus der kurzen Lebensgeschichte der Protestantischen Union.71 Das Flugblatt führt die Entstehung der Protestantischen Union, gegründet am 14. Mai 1608, ganz entschieden auf calvinistische Umtriebe am Hof des Kurfürsten von der Pfalz, der das Direktorium der Union führte, zurück. Calvin und seine allegorisch gemeinten Buhlschaften am pfälzischen Hof werden als die Erzeuger der Union benannt. Ihre unlautere Herkunft und schamlose Sexualität sind metaphorisch auf die ausländischen Verbün71 Vgl. Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 334, Nr. 189 (1621); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 196f., Nr. 95 (1621).
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deten der Union bezogen. Direkte Abkommen hat es jedoch nur mit England, Friedrich V. hatte 1613 eine Tochter des englischen Königs Jakob I. (1566–1625) geheiratet, Schweden, Savoyen und der Republik der vereinigten Niederlande (Bündnis vom 16. März 1613) gegeben. Hinsichtlich ihrer politischen Interessen (Frankreich, Venedig, Osmanisches Reich) und der gemeinsamen reformierten Konfession (tlw. Frankreich, Schweiz, Ungarn-Siebenbürgen) standen die übrigen Freier jedoch in einem mehr oder weniger intensiven diplomatischen Austausch mit der Allianz reformierter und lutherischer Fürsten und Städte im Reich.72 Über seinen Bündnispartner Gabriel Bethlen, den „Ungarischen reneganten“73, hatte der sogenannte böhmische Winterkönig Friedrich I. ein Schutzabkommen mit dem Osmanischen Reich lanciert. Mit deutlichen Worten, unter Verwendung sowohl geschlechtlich als auch sexuell konnotierter Metaphorik, kritisiert der Begleittext diesen Versuch, sich zur ‚Haremsfrau im osmanischen Serail‘ zu machen. Die unrechtmäßig erworbenen Kinder der Union, Böhmen, Mähren, Schlesien, Lausitzen und Ungarn, werden durch Bayern (Maximilian von Bayern) und Sachsen (Johann Georg I. von Sachsen) schließlich der rechtmäßigen, frommen Mutter (Kaiser Ferdinand II.) zurückgegeben. Mit der beginnenden Besetzung der Kurpfalz im August 1620 durch spanische Truppen unter Ambrosio Spinola wurde sozusagen die Kur der Protestantischen Union eingeleitet. Ihre Dysfunktion hatte sie jedoch bereits mit dem Ulmer Vertrag („Ulmer Zwisel vnd Knoblauch“) vom 3. Juli 1620 bewiesen, als katholische Liga und Protestantische Union sich zur gegenseitigen Neutralität bezüglich der pfälzischen Erblande und Böhmen verpflichteten.74 Am 24. April 1621 wurde die förmliche Auflösung der Union offiziell vollzogen.75 Wegen der entschieden anticalvinistischen Tendenz des Flugblattes sowie der gleichrangigen Behandlung von Sachsen und Bayern, welche die rechtmäßigen Ansprüche Kaiser Ferdinands auf die Länder der Confoederatio bohemica unterstützten, wird der Ursprung des Flugblattes von der historischen Forschung im lutherischen Milieu gesucht. Die Lutheraner waren offenbar daran interessiert, sich nach der unleugbaren Niederlage Friedrichs V. in der Schlacht am Weißen Berg und der Zerrüttung der Union von der calvinistisch dominierten Allianz zu distanzieren.76 72 Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 334, Nr. 189 (1621); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 196f., Nr. 95 (1621); Schels, Johann Baptist: Kriegsgeschichte der Oesterreicher. Wien 1844. S. 261. 73 Physiognomisch ist Gabriel Bethlen (Szene 8), der im Text nur als ungarischer Renegat bezeichnet wird, eindeutig zu identifizieren. Vgl. nur das Reiterbildnis Bethlens in Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 109 (P-553) (1620). 74 Der Abschluss des Ulmer Vertrages ermöglichte Maximilian von Bayern, seine Truppen ohne Behinderung und Zwischenfälle über Reichsterritorium nach Böhmen zu führen. Vgl. Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 39, Nr. 46 (1620). 75 Vgl. hierzu das Flugblatt vom Tod der Union: „Kurtzer bericht, wie des treves in niederlandt schwester, die VNION in ober Teutschland gestorben, […]“ in Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 49, Nr. 89 (o. J.). 76 Vgl. Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 334, Nr. 189 (1621); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 196f., Nr. 95 (1621). Siehe auch das stilistisch gröbere, aber ebenso anspielungsreiche Flugblatt „Der Caluinischen Union Testament / oder letzter Willen“, das ebenfalls protestantischen Ursprungs
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5 Die programmatische Warnung an die gesamte Christenheit Nachdem die katholische Flug- und Bildpublizistik gegenüber den protestantischen Erzeugnissen der Druckerpressen seit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs zahlenmäßig weit unterrepräsentiert gewesen war, entfaltete sich ihre Aktivität im Jahr 1621 fast ungehemmt. Das Ziel ihrer polemischen Propaganda ist der gescheiterte Winterkönig Friedrich I., seine politischen Berater und militärischen Verbündeten. Gabriel Bethlen, der von den ungarischen Ständen erwählte König Ungarns, hält das Territorium des Königreichs nach wie vor in seiner Hand. Verstärkt positionierte sich nun die katholische Polemik in zahlreichen Drucken der Flug- und Bildpublizistik gegen den siebenbürgischen Fürsten mit seinen undurchsichtigen Beziehungen zum Osmanische Reich. In der zweiten Hälfte des Jahres 1620, aber noch vor der Schlacht am Weißen Berg lassen sich zwei katholische Flugblätter nachweisen, die gegen Gabriel Bethlen und dessen Bündnis mit dem Osmanischen Reich polemisieren: Zum einen das Flugblatt „Denckwürdiges Geheimnuß: Einer allbereit erfüllete und noch zukünfftigen Prophetey, welche anzeigt den vergangenen und noch continuierenden Zustand deß Böhemischen Unwesens“, das in einer Traumvision Ferdinands II. die Ereignisse um den böhmischen Aufstand schildert,77 zum anderen der Bericht über eine menschliche Missgeburt mit zwei Köpfen, deren Geburtsdatum auf den Tag der Wahl des siebenbürgischen Fürsten zum ungarischen König am 24. August 1620 fiel.78 Dessen zweites „vnfrmliche aber / vngeheüre vnd vngestalte“ Haupt wurde als Zeichen für den siebenbürgischen Fürsten ausgelegt, der „ein vnnatrlicher vnrechtmssiger Knig“79 sei und sich gegen den „rechtmssigen vnnd ordenlichen Knig Ferdinand / auß Hoffart vnd vbermuth auffwirfft“. Er habe sich „nicht allein lassen Beschneiden / sondern auch den Türckischen Aberglauben angenommen“.80
sein könnte, in Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 328 (P-776) (1621), Coupe, Broadsheet (wie Anm. 70), Bd. 1, S. 125 u. Bd. 2, Nr. 243, Abb. 54 (1621); Bahns, Flugblätter (wie Anm. 49), S. 37, Nr. 102 (1621) und das Flugblatt „Kurtzer bericht, wie des treves in niederlandt schwester, die VNION in ober Teutschland gestorben, […]“ in Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 49, Nr. 89 (o. J.). 77 Vgl. Harms, Flugblätter (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 287, Nr. 161 (1620); Bahns, Flugblätter (wie Anm. 49), S. 18, Nr. 30 (1620); Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 156f., Nr. 75 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 116 (P-561) (1620) mit deutschem Text; Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 52, Nr. 102 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 466 (PA-118) (1620) für die lat. erste Fassung. Letztere wurde als Illustration einer lat. Flugschrift über Kaiser Ferdinand II. beigegeben, EXPLANATIO HVIVS PICTVRAE AVFERIBILITATEM FERDINANDI II. ZC. ZC. TOLLENS ET AVSTRIACÆ ECLIPSIM REFVTANS. Prag 1621 [VD17 23:289503B]. Vgl. Harms, Flugblätter (wie Anm. 10), S. 156f., Nr. 75. 78 Vgl. Tóth, Kaiser (wie Anm. 20), S. 267. 79 Erste lat.-dt. Fassung: Harms, Flugblätter (wie Anm. 25), S. 90f., Nr. 43 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 107 (P-551) (1620). 80 Zweite dt. Fassung: Hofmann-Randall, Einblattdrucke (wie Anm. 68), S. 157, Nr. AIV 9 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 106 (P-550) (1620) u. S. 108 (P 552) (1620).
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Auf seiner überstürzten Flucht aus Prag nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg am 7. November 1620 hatte der böhmische Winterkönig Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz Akten, Schriften und diplomatische Briefwechsel, die Anhaltische Kanzlei, zurückgelassen, die ihn, seine Berater und die protestantische Union politisch kompromittierten. Gleiches gilt auch für die brisanten Schriftstücke, die Spinola bei der Eroberung der Pfalz in die Hände fielen.81 Die exponentielle Aktivität, die die katholische Propagandamaschinerie dann im Jahr 1621 entfaltete, lässt sich auf diese Munitionierung aus dem Aktenarsenal der gegnerischen Partei zurückführen. Maximilian von Bayern, der einen Großteil der Anhaltischen Kanzlei und deren diplomatische Korrespondenz kassiert hatte, beauftragte seine Räte, diese Schriften in wörtlichen Auszügen und Exzerpten, begleitet von zusammenfassenden Parenthesen und Kommentaren, herauszugeben. Ende Mai 1621 erschien die maßgeblich durch den bayrischen Rat Wilhelm Jocher von Egersperg (1565–1636) besorgte Druckschrift unter dem vollständigen Titel Fuerstl-Anhaltische geheime Cantzley / Das ist: Gegruendte Anzeig / der verdeckten / vnteutschen / nachtheiligen Consilien, Anschlaeg und Practicken / welche der Correspondirenden Vnion Hupter vnd Directores, in der Bheimischen Vnruhe / zu derselben Cron / auch des H. Rmischen Reichs hchster Gefahr / gefhrt / vnd auß sonderbarer Verordnung Gottes / durch die den 8. Nouember juengst frgangene / ernstliche / namhaffte Bheimische Niderlag vor Prag / in der Anhaltischen geheimen Cantzley in originali gefunden / vnd der Welt kundtbar worden. Allen / so wol auß- als innlndischen Potentaten / Chur-Frsten / Stnden vnd Herrschafften / auch sonst mennigklich zu bestendiger Nachricht / trewhertziger Warnung / vnd warhaffter information.82
Neben den führenden Häuptern der Union, Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, dem Fürsten von Anhalt und dem Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, gilt der publizistische Angriff auch dem siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen. Bereits im Vorfeld waren schriftliche Auszüge aus der Anhaltischen Kanzlei dem Kaiserhof in Wien, dem Kurfürsten von Sachsen, einigen Reichsständen und schließlich auch den Bündnispartnern der Protestantischen Union zugegangen.83 Letzteres beschleunigte nur deren Auflösung.84 Die unerhörte Aufmerksamkeit, die diese umfangreiche Anklage-
81 Vgl. Schmidt, Peer: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet“. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 2001. S. 51f.; Körber, Esther-Beate: Deutschsprachige Flugschriften des Dreißigjährigen Krieges 1618 bis 1629. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 3 (2001). S. 1–47, hier S. 9f. 82 Jocher, Cantzley (wie Anm. 42). Vgl. auch Koser, Reinhold: Der Kanzleienstreit. Ein Beitrag zur Quellenkunde des dreissigjährigen Krieges. Halle (Saale) 1874. S. 6. 83 Vgl. Koser, Kanzleienstreit (wie Anm. 82), S. 11f. Siehe auch Petersen, Adolf: Über die Bedeutung der Flugschrift die anhaltische Kanzlei vom Jahre 1621. Jena 1867. S. 1f. 84 Vgl. Koser, Kanzleienstreit (wie Anm. 82), S. 13–15 u. das Flugblatt „Kurtzer bericht, wie des treves in niederlandt schwester, die VNION in ober Teutschland gestorben, […]“ in Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 49, Nr. 89 (o. J.).
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und Propagandaschrift in der zeitgenössischen Öffentlichkeit erregte,85 wurde zusätzlich durch ein illustriertes Flugblatt angefacht, das mit dem Symbol der festen Glaubensburg, in der sich unter Gottes Schirmung Rom, Reich, Spanien und Bayern
Abb. 3.4: Anonym, Trewhertz warnung, An die gantze werthe Cristenheit, das man sich in gegenwertiger zeit, fur den einschleichenden Turckischen Bluthhundt wol vorzusehen hat, ca. 1621, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 50,25.
zusammenfanden, gegen die calvinistischen „Ketzern […] zu erhaltung der Religion“ polemisierte.86 Mit Verweisangaben im Begleittext, wie auch in der Graphik, wird 85 Allein für das Jahr 1621 hat Reinhold Koser zehn Ausgaben nachweisen können. Vgl. VD 17 sowie Koser, Kanzleienstreit (wie Anm. 82), S. 16–23. 86 Flugblatt „Extract Der Anhaltischen Cantzley / Das ist: Abriß / wie der Calvinische Geist durch seine gehaime Raeth / wider das Roemische Reich / vnd consequenter wider die Catholische Roemi-
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der Einblattdruck direkt mit der Jocher’schen „Fuerstl-Anhaltische geheime Cantzley“ verknüpft. Unüberhörbar ist der Tenor der Druckschrift, die im Calvinismus den Auslöser für den Böhmisch-Pfälzischen Krieg sieht, der „niemand neben sich leiden“ kann, „allenthalben das voellige Regiment / in Religion- vnd Prophanssachen / vber alle andere allein haben“ will und „all seine actiones, consilia vnd Anschlaeg“ dahingehend ausrichtet.87 Letztlich wolle der „Caluinisch Geist“ oder Teufel „ein rechten Caluinischen / oder […] gar Tuerckischen dominat“ aufrichten und die gesamte Christenheit in „deß Erbfeindts Rachen vnd seruitut“ überantworten.88 Gerade die in der Flugschrift von Wilhelm Jocher zusammengefassten Dokumente, die eine direkte Verbindung zwischen dem „Ottomannischen porten auffrichtiger bestendiger Sclaue[n] vnd Diener“89 Gabriel Bethlen, dem Calvinismus und den osmanischen Expansionsbestrebung nach Westeuropa herstellen sollten, fanden dann in dem illustrierten Flugblatt „Trewhertz warnung, An die gantze werthe Cristenheit, das man sich in gegenwertiger zeit, fur den einschleichenden Turckischen Bluthhundt wol vorzusehen hat.“90 (Abb. 3.4) eine kämpferische Verbildlichung. Der aggressiv agierende Text unterstellt Gabriel Bethlen, mit dem Osmanischen Reich gemeinsame Sache zu machen, diesem die christlichen Länder auszuliefern und den Weg in das Herz Mitteleuropas zu öffnen. Das Flugblatt bezeichnet den siebenbürgischen Fürsten als „Trckische[n] Bethlehem / Vnd Mahometische[n] Gabor“91 und spielt dabei mit den europaweit kursierenden Gerüchten über eine mögliche Konversion des calvinistischen Fürsten zum islamischen Glauben seit 1613.92 Antithetisch stehen sich im gedrängten Kupferstich des Blattes zwei schwer gerüstete Kriegsheere in einer flachen Landschaft gegenüber, die zum Horizont in einer Hügelkette aufsteigt. Auf der linken Seite ist in einer geordneten Dreierformation das christliche Heer unter Fahnen, die den gekreuzigten Jesus zeigen, vereinigt.93 Im Rücken der aufmarschierten Streitmacht, die von einem Engel und geflügelten Engelsköpfen umschwärmt wird, liegt eine stark befestigte Stadt oder Festung. Auch die osmanischen Truppen auf der gegenüberliegenden Seite sind in drei Heeresblöcken formiert. Aus den Haufen des Kriegsvolks ragen Flaggen mit Halbmond und Stern, die Fahne sche Kirchen practiciert, doch die Rahtschlaeger ob jhren Practicken selber zuschanden worden“, in Bohatcová, Irrgarten (wie Anm. 39), S. 43, Nr. 65 (o. J.). 87 Jocher, Cantzley (wie Anm. 42), S. 272. 88 Jocher, Cantzley (wie Anm. 42), S. 274. 89 Jocher, Cantzley (wie Anm. 42), S. 135. 90 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621). 91 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621). 92 Vgl. Harms, Flugblätter (wie Anm. 25), S. 90f., Nr. 43 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 107 (P-551) (1620). Für die dt. Fassung vgl. Hofmann-Randall, Einblattdrucke (wie Anm. 68), S. 157, Nr. AIV 9 (1620); Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 106 (P-550) (1620). Siehe auch Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 32 u. Anm. 16. 93 Es ist nicht zu weit hergeholt, an die Erscheinung eines leuchtenden Kreuzes und die tradierte Darstellung der Vision Konstantin des Großen vor der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahre 312 zu denken: In hoc signo vinces. (lat. „In diesem Zeichen wirst Du siegen.“).
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des Königreichs Ungarn und des Fürstentums Siebenbürgen heraus. Das osmanische Heer wird von einer abgesetzt stehenden Gestalt, dem „Trckischen Blutthundt“, mit Turban, Krummsäbel und Streitaxt angeführt. Konträr zum christlichen Heer überfliegen drei geflügelte, teuflische Dämonen mit Echsenschwänzen die türkische Streitmacht. Beide werden nur von einer im Vordergrund stehen hügelartigen Erhebung getrennt, auf der sich ein burgähnlicher Aufbau befindet. Vor dem Tor der Burg erstreckt sich ein Plateau zum Betrachter hin. Auf diesem steht Gabriel Bethlen (A), der den türkischen Heereszug heranwinkt (C) und mit seiner rechten Hand auf die zu erobernde Festung (D) auf christlicher Seite weist. Aus seiner Brust kriecht eine Kröte, die nach dem Begleittext zu urteilen, das Gift des Abfalls verdeutlichen soll, das der siebenbürgische Fürst in seinem Herzen trägt (B).94 Mit einem Blasebalg (K) gibt Heinrich Matthias von Thurn (I) dem siebenbürgischen Fürsten aufrührerische Gedanken ein, während Bethlens militärischer Parteigänger, der calvinistische Graf Franz II. Batthyány (1577–1625) (G), abwartend hinter diesem steht. Links neben ihnen bläst Johann Georg Markgraf von Jägerndorf (E) das Signal zum Kampf (F). Arglistig schlängelt sich ein Krokodil (H) an die im Bildzentrum stehende Vierergruppe und symbolisiert deren Tücke, Heuchelei und Brutalität.95 Dass sich Ungarn noch in der Hand des siebenbürgischen Fürsten befindet, zeigt neben den ungarischen Regimentern in den Reihen des osmanischen Heeres auch das Wappen Ungarns96 über dem Torbogen der Burg an. Jedoch hat der Reichsadler (L) das Wappenschild bereits in seinen Fängen und soll dem unrechtmäßigen König die ungarische Königskrone mit der Hilfe Gottes entreißen: „Gott wirdt den Adler fein erhalten / […] / Welcher nunmehr viel hundert Jahr Mit grosser Leibs vnd Lebens gefahr Wieder den Trckischen Bluthundt / Das Vngerlandt beschtzt / all stundt. Der helt dieß Koenigreiches Schildt Mit seinen Klauben starck vnd mildt / Der wirdt das Landt an allen ecken / Mit seinen Firtigen recht bedecken.“ Das Flugblatt untermauert damit den rechtmäßigen Anspruch des Hauses Habsburg auf die ungarische Königskrone, da es sich in der Vergangenheit bei der Türkenabwehr in Südosteuropa, speziell Ungarn, verdient gemacht habe. Mit diesem Rückblick in die Vergangenheit, dem Hinweis auf die Vorfahren, die mit dem Türken zu Wasser und Land stritten, wird auch das Flugblatt eingeleitet. In einer didaktischen Wende erfolgt dann die Beschreibung der gegenwärtigen Zustände. Klagend wird der Verlust der christlichen Nächstenliebe beschrieben, da man sich „jetzunder trotziglich / Mit dem Trcken verbindet“. Als aktuelles Exemplum werden Ungarn und vor allem Gabriel Bethlen angeführt. Rhetorisch fragt das Blatt: Wie sich 94 Dieses Gift stamme von der „grosse[n] Schlang“, die in Wahrheit der Teufel als Verführer der Welt ist. „Und ich sah aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tiers und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister gehen, gleich Fröschen; diese sind Teufelsgeister, […]“. Offb 16, 13f. 95 Mit seinem Krokodilmaul besteht natürlich auch eine Analogie zum Höllenschlund des teuflischen Drachens. Vgl. Wetzel, Christoph: Das große Lexikon der Symbole. Darmstadt 2008. S. 170. 96 Wappen des Königreichs Ungarn: Doppelkreuz (Patriarchenkreuz) auf (grünem) Dreiberg, das in einer (goldenen) Krone steht.
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Bethlen so „artlich vnd Heimtckischn stelln“ und dem Osmanischen Reich als Vasall dienen kann? Warum stiften seine „Adherenten“97 und Rebellen zum Krieg an, der zu „Brandt / Mordt / Auffruhr / vnd Unglck führe? Weshalb öffne Bethlen den „Trcken Thr vnd Thor“ zum Herzen der Christenheit? Anschließend werden Jägerndorf und Batthyány als Bluthunde bezeichnet, die mit ihren militärischen Streifzügen in Mähren, der Steiermark und Ungarn „nur der Christen Landt“98 verwüsten und dabei „[ä]rger / als der Trck“ rauben und brennen. Im Schlussteil fordert der Begleittext alle Stände der Christenheit, geistlich und weltlich, adlig oder gemein, dazu auf, sich am Kampf sowohl gegen die osmanische Bedrohung von außen als auch gegen den ‚inneren Türken‘ in Gestalt des calvinistischen Fürsten und seiner Anhänger zu beteiligen. Abgeschlossen wird der vierspaltige Text durch ein aufforderndes Gebet, dem türkischen „Ertzbsewicht“, der die christliche Lehre verspottet und nur nach „Mahomets Lob“ trachtet, sowie dessen schmeichlerischen Worten nicht zu trauen. Zum Nutzen der „Wehrten Christenheit“ sollen alle Rechtgläubigen vereint gegen das „grewlich Lster Horn“ des Türken streiten.99 Türken, Bethlen Gabor und die beiden militärischen Führer der Überreste böhmischer und schlesischer Ständetruppen dienen als Projektionsflächen, an denen sich die aggressive Semantik des 1621 entstandenen Flugblattes100 austobt. In seiner deutlichen Formulierung fast einmalig, werden in diesem Flugblatt die inneren Feinde, die „Rebellen gantz trotziglich / […] Dem Erbfeind Christlichn Namens gt“ ganz explizit mit dem Namen des äußeren Feindes bezeichnet. Diesen „Trcken in Gemein“101, die rebellierenden Stände lutherischer und reformierter Konfession, auszurotten, sei Aufgabe eines jeden „recht[en] Christn Hertz“. Nach Lösung des inneren Problems fordert das Flugblatt nun die „recht[en] Christn“ auf, zusammenzutreten und den gemeinsamen äußeren Feind, „[d]en Trcken vnd sein Hoffgesind“ zu bekämpfen. Unnachgiebig und unmissverständlich fordert es: „Zerstrt / zerstrewt vnd schlaget Todt“ und verstärkt noch einmal die hasserfüllten Inhalte, die in diesem Flugblatt propagandistisch Verwertung finden. Zugleich warnt es die Christenheit erneut vor einem Bund mit dem als Erzfeind wahrgenommenen Türken und fordert diese zur Einigkeit unter den kaiserlichen Heerfahnen, zu „Lob / Preiß vnd Ehr Gottes Namen“ auf.102 Mit dem Wissen um die Bündnisverhandlungen der pfälzischen Diplomatie unter Friedrich V. und Christian von Anhalt sowie des siebenbürgischen Fürsten mit dem Osmanischen Reich fällt es der kaiserlichen Propaganda nicht schwer, aggressiv aufzutreten und in einem programmatischen Entwurf ihr Vorhaben zu beschreiben. 97 Anhänger, von lat. adhaerere: anhängen, kleben, anschließen. 98 [Hervorhebung im Zitat durch M.R.] 99 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621). 100 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621); Depner, Fürstentum (wie Anm. 22), S. 98–103; Hallwich, Thurn-Valsassina (wie Anm. 44), S. 70–92; Hirsch, Theodor: Johann Georg, Markgraf von Brandenburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 14. Leipzig 1881. S. 175–176. 101 [Hervorhebung durch M.R.] 102 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621).
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Zuerst erfolgt der Aufruf zur Vereinigung der „recht[en] Christn“, um die rebellierenden Stände in den konföderierten Ländern und in Ungarn sowie den calvinistischen Fürsten Gabriel Bethlen und die verbliebenen Anhänger des pfälzischen Kurfürstens Friedrich V. als innere Feinde und zugleich konfessionell Andere innerhalb des Christentums zu bekämpfen. Dann gelte es zusammenzustehen und gemeinsam gegen den religiösen, außerchristlichen Feind, den „Christe Ehr [zu] Mahomets Lob“ verspottenden türkischen „Ertzbsewicht“, vorzugehen und sich seinem Expansionsdrang ins Zentrum der europäischen Christenheit zu widersetzen. Im Begleittext des Flugblattes verschmolz so der innere Feind – „Trcken in Gemein“ – sehr direkt mit dem äußeren Feind – „[d]en Trcken vnd sein Hoffgesind“ – im Feindbild des sich in „die gantze werthe Cristenheit […] einschleichenden Turckischen Bluthhundt[es]“.103
6 Propaganda, Polemik und Programmatik – Eine Zusammenfassung Wie vorstehend aufgezeigt werden konnte, degenerierte das Bild des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen in der Bild- und Flugpublizistik in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges von der Idealisierung und Heroisierung als tugendhafter Herrscher über die Unsicherheit in der Einordnung seiner als zwiespältig empfundenen Bündnispolitik mit dem Osmanischen Reich bis zu seiner Perhorreszierung als absolutem Feindbild der Christenheit. Diese Zuschreibungen waren konfessionell konnotiert und Ausdruck der religiösen Identität und Differenz der sich zu diesem Zeitpunkt unversöhnlich gegenüberstehenden Glaubens- und Kriegsgegner. Zugleich geben die illustrierten Flugblätter die wechselvollen Machtkonstellationen der einzelnen Konfliktparteien im Böhmisch-Pfälzischen Krieg in den Jahren 1618 bis 1623 medial wieder. Als weiteres Ergebnis kann festgehalten werden, dass die konfessionellen Parteien in ihren propagandistischen und polemischen Wort- und Bildfindungen vehement eine jeweils eigene Programmatik verfochten, die die zeitgenössische Sicht auf Gabriel Bethlen maßgeblich bestimmte und zugleich verantwortlich ist für das dunkle und gewissermaßen rätselhafte Bild des siebenbürgischen Fürsten in der Geschichtsschreibung. Von reformierter Seite wurde Gabriel Bethlen zunächst zum Befreier der Protestanten von der Römischen Kirche, den oft gewaltsamen (Re-)Katholisierungsbestrebungen durch die Jesuiten in den habsburgischen Kronländern Böhmen sowie Ungarn und der Beschränkung der ständischen Freiheitsrechte durch die Wiener Hofburg stilisiert. Programmatisch rief der siebenbürgische Fürst zur Vereinigung der Landstände und den aktiven Kampf gegen den universalen Herrschaftsanspruch des habsburgischen Kaisers auf. Er appellierte an patriotische Gefühle der Landstände 103 Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621).
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und beschwörte sie, in ihrem Glauben für die evangelische Lehre zu beharren, denn es gehe um „Gott vnd das Vatterland“. Die Angst der Stände vor der Bedrohung durch das Osmanische Reich kehrt Bethlen fast in ihr Gegenteil um, denn der Türke sei treuer und ehrlicher als die katholischen Glaubensfeinde.104 Damit verband sich indirekt ein offizielles Bekenntnis zum Bündnis mit der Hohen Pforte. Nach der Schlacht am Weißen Berg distanzierten sich die Lutheraner im Reich als ehemalige Parteigänger unter anderem auf Grund dieser publik gewordenen ‚antichristlichen‘ Allianz vom calvinistisch dominierten Schutzbündnis der Union. Insbesondere das Kurfürstentum Sachsen, das sich als Sachwalter der reinen lutherischen Lehre verstand, suchte unter den Vorzeichen einer territorialen Erweiterung und des Ausschlusses der konkurrierenden reformierten Konfession den Schulterschluss mit Kaiser Ferdinand II. Im diplomatischen Schriftverkehr der Anhaltischen Kanzlei der calvinistischen Kurpfalz fand die habsburgische Propaganda ohne Zweifel ein Reservoir, das sie als Kriegsbeute ohne Zögern retrospektiv auswertete und für ihre polemischen Anwürfe gegen die Calvinisten, Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz und Gabriel Bethlen nutzte. Aktiv wendete sich nun die katholische Publizistik gezielt an die gesamte Christenheit und entwarf den Plan, sich der Bekämpfung des inneren Feindes in Gestalt der aufrührerischen Landstände und abweichenden Glaubensbekenntnisse zuzuwenden, bevor man vereint gegen den äußeren Feind, das Osmanische Reich, vorgehen könne.105 Allen konfessionspolemischen Invektiven der Konfliktparteien war gemein, dass sie zur Kennzeichnung und Diskreditierung des jeweiligen Gegners auf das Bild des türkischen Erzfeindes zurückgriffen. Im Bündnis des reformierten siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen mit dem Osmanischen Reich hatte zumindest das Haus Habsburg in der ersten Phase des Dreißigjährigen Krieges den Grund gefunden, die Idee einer konfessionell homogenen Universalmonarchie auf eine äußerst aggressive Weise programmatisch vorzutragen.
104 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 98 (P-542) (1620). 105 Vgl. Paas, Broadsheet (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 375 (P-823) (1621).
Christian Mühling
Die französische Tagespublizistik unter Ludwig XIV. Im Spannungsfeld von innerer Kirchen- und europäischer Mächtepolitik.
Einleitung Im Europa der Frühen Neuzeit waren Politik und öffentliche Debatte eng miteinander verknüpft.1 Vertreter der neueren Politikgeschichte haben in der Folge zunehmend die Forderung erhoben, die öffentlichen Debatten bei der Betrachtung frühneuzeitlicher Politik mit einzubeziehen.2 Während die Tagespublizistik3 Denkrahmen konstruierte, in denen sich politische Handlungsträger bewegten, waren die politischen Akteure umgekehrt auf die Presse angewiesen, um ihren Entscheidungen durch gezielte Nachrichtenvermittlung Geltung zu verschaffen, ihre Anhänger zu mobilisieren und ihre Gegner zu neutralisieren.4 Dabei achteten die politischen Akteure auf eine adressatengerechte Argumentation, die mitunter ein Spannungsverhältnis zwischen innenund außenpolitischem Diskurs erzeugen konnte. Eine Vorreiterrolle bei der Beeinflussung öffentlicher Meinungen nahm der französische Staatsapparat unter Ludwig XIV. ein.5 Sowohl die Ministerien als auch Pat-
1 Brétéché, Marion: Les compagnons de Mercure: journalisme et politique dans l’Europe de Louis XIV. Ceyzérieu 2015. S. 16f. 2 Die Frühneuzeitforschung konnte zeigen, dass die Debatten in Publizistik und Öffentlichkeit großen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen konnten. Arndt, Johannes: Gab es im frühmodernen Heiligen Römischen Reich ein „Mediensystem der politischen Publizistik“? Einige systemtheoretische Überlegungen. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004). S. 74–102, hier S. 75; Gestrich, Andreas: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994. 3 Als Tagespublizistik werden hier diejenigen Printmedien bezeichnet, die auf die Behandlung aktueller politischer Fragen zielten. Gattungsspezifisch konnte es sich dabei sowohl um Flugschriften, Zeitschriften oder Zeitungen handeln. Die Gattungsgrenzen waren fließend und eine äußerliche Abgrenzung außerhalb der inhaltlichen Zielsetzung dieser Medien erweist sich dementsprechend als wenig sinnvoll. Vgl. Mühling, Christian: Die europäische Debatte über den Religionskrieg (1679–1714). Konfessionelle Memoria und internationale Politik im Zeitalter Ludwigs XIV. Göttingen 2018. S. 61. 4 Gestrich, Andreas: The Early-Modern State and the Rise of the Public Sphere. In: Beyond the Public Sphere. Opinions, Publics, Spaces in Early Modern Europe. Hrsg. von Massimo Rospocher. Bologna 2012. S. 31–52, hier S. 37–40; Schlögel, Rudolf: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008). S. 581–616, hier S. 614. 5 Burke, Peter: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993; Klaits, Joseph: Printed Propaganda under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion. Princeton 1976. https://doi.org/10.1515/9783110725193-005
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Christian Mühling
ronagenetzwerke des Hofes unterstützten publizistische Anstrengungen zur Rechtfertigung der Politik des Sonnenkönigs.6 Obwohl Französisch im 17. und 18. Jh. die am weitesten verbreitete Sprache des europäischen Kontinents war und als lingua franca diente, ist die französische Tagespublizistik bisher inhaltlich nur in Ansätzen erforscht. Bestehende Studien konzentrieren sich meist auf die äußere Form7 und blenden die zeitgenössischen politischen Debatten weitgehend aus. Im Folgenden möchte ich mich deshalb thematisch auf einen Gegenstand konzentrieren, der für die politische Öffentlichkeit in der zweiten Regierungshälfte Ludwigs XIV. große Bedeutung besaß. Um 1700 war die Debatte um einen Religionskrieg ein zentrales Thema der französischen Tagespublizistik. Die Atmosphäre des Versailler Hofes war seit dem Einsetzen der gewaltsamen Verfolgungsmaßnahmen gegen die Hugenotten 1679 durch eine gesteigerte konfessionelle Unnachgiebigkeit geprägt.8 Der katholische Dogmatismus des Hofes schlug sich auch in der französischen Tagespublizistik zwischen 1679 und 1714 nieder. Viele zeitgenössische Beobachter nahmen im Neunjährigen Krieg und im Spanischen Erbfolgekrieg neuerliche Religionskriege wahr.9 Die französische Krone beteiligte sich aktiv an dieser Debatte. Im Folgenden soll exemplarisch das Spannungsverhältnis der französischen Tagespublizistik zwischen innerer Kirchen- und europäischer Mächtepolitik untersucht werden. An der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert lassen sich drei Gruppen identifizieren, gegenüber denen die französische Tagespublizistik das Argument des Religionskrieges in ganz unterschiedlicher Weise benutzte: 1. gegenüber der eigenen Bevölkerung, 2. den katholischen Feinden Ludwigs XIV. und 3. seinen protestantischen Gegnern. Die folgenden Ausführungen gliedern sich entsprechend unterschiedlicher Adressatenorientierung in drei Teile, deren Ergebnisse in einem Fazit gebündelt werden.
6 Klaits, Propaganda (wie Anm. 5); Rameix, Solange: Justifier la guerre. Censure et propagande dans l’Europe du XVIIe siècle (France-Angleterre). Rennes 2014. S. 152. 7 Chartier, Roger: Lectures et lecteurs dans la France d’Ancien Régime. Paris 1987; Martin, Henri-Jean: Livre, pouvoirs et société à Paris au XVIIe siècle (1598–1701). 2 Bde. Genève 1969; Martin, Henri-Jean: Histoire et pouvoirs de l‘écrit. Paris 1988. 8 Hengerer, Mark: Ludwig XIV. Das Leben des Sonnenkönigs. München 2015. S. 105–108, 112; Tischer, Anuschka: Ludwig XIV. Stuttgart 2017. S. 116–132. 9 Vgl. Mühling, Die europäische Debatte (wie Anm. 3), und nun auch die überarbeitete, französische Übersetzung unter Ders.: Le débat européen sur la guerre de religion (1679–1714). Mémoire confessionnelle et politique internationale à l’époque de Louis XIV. Paris 2021. Der vorliegende Beitrag folgt im Wesentlichen den Ausführungen dieser Studie, spitzt ihre Ergebnisse allerdings in besonderem Maße auf das Spannungsverhältnis der französischen Tagespublizistik zwischen innerer Kirchenund europäischer Mächtepolitik zu.
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1 Die Inszenierung Ludwigs XIV. als destructeur de l’hérésie10 Im Lob der Revokation des Edikts von Nantes waren sich die katholischen Franzosen einig.11 Einhellig feierte die französische Tagespublizistik Ludwig XIV. für die Vernichtung der „calvinistischen Häresie“ im eigenen Land.12 Durch diese Großtat habe er die Taten seiner Vorfahren übertroffen und wahrhaftig den Titel eines Allerchristlichsten Königs und Ältesten Sohnes der Kirche verdient.13 Die Verdienste des französischen Königs wurden in den Augen der ludovizianischen Publizistik durch seine Unterstützung für die Rekatholisierungspolitik Jakobs II. von England noch gesteigert.14 Die Ausbreitung des Katholizismus durch Ludwig XIV. und seinen Verbündeten Jakob II. sollte zudem den Papst erweichen, sich auf die Seite Frankreichs zu stellen. Die Streitigkeiten zwischen Frankreich und der römischen Kurie würden nichts anderes als einen Verlust der katholischen Kirche bewirken.15 Jakob II. sei mit gutem Beispiel vorangegangen. Bei seiner Landung in Irland habe er ewige Dankbarkeit für den Beistand Ludwigs XIV. bekundet, der ihm nach seiner
10 Daniel, Gabriel, HISTOIRE DE France […]. Bd. 1. Paris, Denis Mariette, 1713, überliefert in: Stanford University, 944.D184V.1, Epitre [5]. 11 Burke, Ludwig XIV. (wie Anm. 5), S. 143–145; Sauzet, Robert: Au Grand Siècle des âmes. Guerre sainte et paix chrétienne en France au XVIIe siècle. Paris 2007. S. 174–176. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählten bekanntlich Jean-Baptiste Colbert de Seignelay und Sébastien Le Prestre de Vauban. Charakteristisch für den Mehrheitsdiskurs im katholischen Frankreich ist aber, dass weder der eine noch der andere seine Ablehnung öffentlich zu rechtfertigen wagte. Adams, Geoffrey: The Huguenots and French Opinion, 1685–1787. Waterloo/Ontario 1991. S. 25. 12 Riencourt, Simon de: HISTOIRE DE LOUIS XIV. […]. Bd. 1. Paris: Claude Barbin 1694, überliefert in: University of Michigan Library (UML), DC 125. R56 1694, EPITRE [8 f.]. „LOUIS XIV. l’auroit merite pour avoir banni l’Heresie de ses Etats“. Richard, René, DISCOURS SUR L’HISTOIRE DES FONDATIONS ROYALES […]. Paris: Jacques Le Febvre, Charles Osmont, 1695, überliefert in: Bibliothèque Nationale de France (BNF), 8–LB37–4047. S. 51. 13 „V.M. a terrassé ce monstre terrible de l’heresie, qui a fait tant de desordres, & produit tant de maux depuis plus d’un siecle dans ce Royaume. Vous avez, SIRE, par une pieté digne d’un Roy Tres-Chrêtien, & du Fils Aîné de l’Eglise, réüni tous vos Sujets de la Religion Pretenduë Reformée, d’embrasser la Foy ancienne de leurs Peres, de quitter leurs erreurs & de professer la même Religion des Rois vos Predecesseurs“. Riencourt, HISTOIRE DE LOUIS XIV. (wie Anm. 12), EPITRE [8]. Des Weiteren: Richard, DISCOURS (wie Anm. 12), S. 51f.; Donneau de Visé, Jean: AFFAIRES DU TEMPS. Bd. 8. Lyon: Thomas Amaulry, 1689, überliefert in: Bibliothèque Municipale de Lyon (BML), 807158. S. 67. 14 Saint Charles, Hyacinthe de: PANÉGYRIQUE DE LOUIS LE GRAND […]. Paris: Jean Anisson 1694, überliefert in: BNF, 8–LB37–4037. S. 133. 15 Sandras, Gatien Courtilz de: NOUVEAUX INTERETS DES PRINCES DE L’EUROPE […], TROISIEME EDITION. Cologne: Pierre Marteau 1688, überliefert in: Bayerische Staatsbibliothek München (BSB), J.publ.e.190. S. 175.
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Vertreibung zuteil geworden sei.16 Die Unterstützung Ludwigs XIV. trug dazu bei, den französischen König als wichtigsten „défenseur de la religion“ zu inszenieren.17 Es gereiche den anderen katholischen Mächten zur Schande, dass „cette union neanmoins regarde la Religion, & que nostre Monarque se trouvant aujourd’huy seul, qui comme le Fils aîné de l’Eglise, & Roy Tres-Chrestien, soûtient & deffend cette Religion Chrestienne & Catholique, contre les Souverains mesmes qui en font une profession publique, & qui la devroient deffendre“.18 Diese Argumentation der französischen Publizistik zielte in erster Linie auf die katholische Öffentlichkeit im eigenen Land. Der französischen Öffentlichkeit wurde die Legitimität des Kampfes Ludwigs XIV. gegen eine Welt von Feinden vor Augen geführt, damit sie die französischen Kriegsanstrengungen finanziell, militärisch und ideell unterstützte. Die Propaganda klagte die katholischen Alliierten wegen ihres widernatürlichen Bündnisses mit Wilhelm von Oranien an. Im Gegensatz zu den treulosen Engländern stünden die katholischen Franzosen voll und ganz hinter ihrem Monarchen. Als treue Untertanen des Allerchristlichsten Königs seien sie begierig darauf, Jakob II. bei der Rückeroberung seines Thrones zur Seite zu stehen.19 Der „MERCURE GALANT“ inszenierte den Kampf Frankreichs gegen Wilhelm von Oranien als einen Religionskrieg.20 Darin stehe Gott unverkennbar den Franzosen bei, wie die Siege über Wilhelm in den Augen der ludovizianischen Publizistik beweisen und die Te-Deum-Gottesdienste in Frankreich bestätigen würden.21 16 „Le Roy Jacques II. […] têmoigna qu’il conservoit toûjours dans son souvenir les obligations qu’il avoit à Sa Majesté Tres-Chrestienne, qui luy avoit si genereusement donné, à la Reyne son épouse, & au Prince de Galles son fils un azile si favorable dans son Royaume, & un secours considerable d’hommes & d’argent“. Riencourt, Simon de: HISTOIRE DE LA MONARCHIE FRANÇOISE […]. Bd. 2. Paris: Guillaume Cavelier 1691, überliefert in: BML, SJIF 238/154. S. 427. 17 Sainte-Marthe, Denis de: ENTRETIENS TOUCHANT L’ENTREPRISE DU PRINCE D’ORANGE SUR L’ANGLETERRE […]. Paris: Arnousa Seneuze 1689, überliefert in: BML, 326912, Avertissement [28]; Remarques sur la reponse faite par le Roi d’Espagne au Bref écrit par Sa Sainteté pour l’exhorter à la paix. o. O. 1692, überliefert in: BNF, 4–OC–543. S. 1; Saint Charles, PANÉGYRIQUE (wie Anm. 14), S. 130, 148; Riencourt, HISTOIRE DE LA MONARCHIE (wie Anm.16), S. 431. Darüber hinaus Burke, Ludwig XIV. (wie Anm. 5), S. 143–146; Maral, Alexandre: Le Roi-Soleil et Dieu. Essai sur la religion de Louis XIV. Courtabœuf 2012. S. 190–208, die vor allem auf die Aufhebung des Edikts von Nantes rekurrieren und die mit Ausnahme der knappen Stellen ebd., S. 213f., die außenpolitische Inanspruchnahme dieses Ereignisses durch die französische Propaganda und Diplomatie weitgehend vernachlässigen. 18 Riencourt, HISTOIRE DE LA MONARCHIE (wie Anm. 16), S. 431. 19 „Vous trouvez en France plus de cœurs dévoüez à vôtre service, sous les ordres de NOSTRE GRAND MONARQUE, que vous n’en avez laissé d’infideles dans vos Royaumes“. Sainte-Marthe, ENTRETIENS (wie Anm. 17), EPITRE [8]; MERCURE GALANT DEDIÉ A MONSEIGNEUR LE DAUPHIN. Paris 12.1691, überliefert in: BML, ANCIEN MADPER 807156, 289f. 20 „La guerre que soutient la France, c’est une guerre de Religion“. MERCURE GALANT. Paris 08.1690, überliefert in: BML, ANCIEN MADPER SJZ 494b. S. 178. 21 „Elle […] est protegée du Ciel, & défend la cause de Dieu & la gloire des Autels que ses Ennemis cherchent à détruire, puis qu’il font rendre des actions de graces à Dieu pour les victoires remportées sur la Religion Catholique. C’est un fait qui a esté connu par les Te Deum qui se font chantez pour la
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Der Krieg wurde so medial zu einem liturgischen Akt, einem wahrhaftigen Religionskrieg der katholischen Gläubigen in Frankreich gegen den oranischen Usurpator des englischen Thrones. Das katholische Frankreich und Ludwig XIV. erschienen als Verteidiger des Katholizismus in einem Religionskrieg gegen den Protestantismus. Der Religionskrieg diente zur Herstellung der Geschlossenheit des französischen Volkes und seines Monarchen im Kampf gegen die Häresie.
2 Frankreichs Warnung vor einem Religionskrieg Die Existenz eines Religionskrieges diente aber auch als Argument gegenüber den katholischen Feinden Ludwigs XIV., die sich mit seinen protestantischen Gegnern verbünden könnten. Ein Schwerpunkt der publizistischen Einflussnahme der französischen Außenpolitik stellte der Reichstag in Regensburg dar.22 Besonders während des Neunjährigen Krieges beabsichtigte die französische Propaganda hier Zwietracht zwischen den protestantischen und katholischen Reichsständen zu säen. Mit dem Argument des Religionskrieges versuchte sie, die Erklärung des Reichskrieges gegen Ludwig XIV. zu verhindern sowie die Augsburger Liga und die sich gerade formierende Wiener Große Allianz zu sprengen.23 Dabei wandte sie sich in erster Linie an die katholischen Reichsstände, um ihnen die vom Protestantismus ausgehenden Gefahren vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck benutzte sie das Mittel literarischer Verfremdung und setzte Flugschriften am Reichstag in Umlauf, die vorgaben, aus den Händen eines Lütticher Edelmannes, eines fürstbischöflichen Gesandten oder eines
premiere victoire du Prince d’Orange en Irlande“. MERCURE GALANT (wie Anm. 20), S. 380. „Quant aux moyens surnaturels, personne n’avoit tant de droit d’y pretendre que luy [Louis XIV]“. Bussy-Rabutin, Roger de: HISTOIRE EN ABREGE DE LOUIS LE GRAND, […]. Paris: Florentin/Pierre Delaulne 1699, überliefert in: BML, SJIF 238/160. S. 302f.; Saint Charles, PANÉGYRIQUE (wie Anm. 14), S. 137f.; Klaits, Propaganda (wie Anm. 5), S. 15–20; Rameix, Justifier (wie Anm. 6), S. 73–76. Fogel, Michèle: Les cérémonies de l’information dans la France du XVIe au milieu du XVIIIe siècle. Paris 1989. S. 233–242, weist dabei aber auch auf die inneren Konflikte zwischen Klerus und König hin. Nichtsdestotrotz dienten die öffentlichen Te-Deum-Gottesdienste auch während der Herrschaft Ludwigs XIV. als Mittel, die königliche Politik einer breiten Masse der Franzosen näher zu bringen. 22 Zur Funktion des Immerwährenden Reichstags als Nachrichtenbörse vgl. Friedrich, Susanne: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007. 23 Zum Zustandekommen der Reichskriegserklärung vom 3. April 1689: Kampmann, Christoph: Ein Neues Modell von Sicherheit. Traditionsbruch und Neuerung als Instrument kaiserlicher Reichspolitik. In: Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit. Hrsg, von Christoph Kampmann [u.a.]. Köln [u.a.] 2012. S. 213–233, hier S. 220–222, und der Wiener Großen Allianz vgl. Mühling, Christian: Konfessionelle Bündnisse. Vom Umgang mit konfessionellen Bedrohungsszenarien im Zeitalter Ludwigs XIV. In: Historisches Jahrbuch 139 (2019). S. 359–374, hier S. 372f.
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kaiserlichen Hofrates zu stammen.24 Mit diesen Winkelzügen sollten die katholischen Reichsstände und die Berater des Kaisers von der französischen Position überzeugt werden. Die LETTRE D’UN MINISTRE CATHOLIQUE Deputé à la Diette de Ratisbonne etwa gab vor, aus den Händen des Gesandten eines Fürstbischofes aus dem Heiligen Römischen Reich zu stammen, der seinen Herren vor den Gefahren eines protestantischen Religionskrieges warnte. Diesen beschwöre man herauf, wenn die Verantwortlichen in die interkonfessionelle Allianz und einen Reichskrieg gegen Frankreich einwilligten.25 Es liege auf der Hand, dass die größeren protestantischen Reichsstände dem Prinzen von Oranien Hilfstruppen bereitgestellt hätten, um seinen katholischen Schwiegervater aus England zu vertreiben.26 Das Beispiel Englands sollte den katholischen Reichsfürsten zeigen, was sie von dem Bündnis der protestantischen Mächte in Deutschland zu erwarten hätten.27 Ihre großen Armeen seien dazu bestimmt, die katholischen und insbesondere die geistlichen Reichsstände zu unterdrücken.28 Dies sei vor allem dadurch zu erkennen, dass sie unter dem Vorwand des Schutzes gegenüber Frankreich die geistlichen Reichstände mit harten Kontributionen belegten, während sie ihre protestantischen Nachbarn verschonen würden.29 Die militärische Stärke der Protestanten könnte leicht dazu führen, dass die katholischen Kirchengüter als „boulevart à la Catholicité“ zwischen Lutheranern und Reformierten aufgeteilt würden.30 Letztendlich zielten die Bemühungen der protestantischen Fürsten darauf „de leur disputer la secularisation des grands Benefices d’Allemagne, qu’elle n’étoit dans le Traité de Munster, où la France, quoique leur alliée, faisoit le seul obstacle à leurs demandes“.31 Frankreich sei die einzige Schutzmacht der Reichskirche. Die 24 Réponse d’un Gentilhomme Liégeois à la Lettre d’un Conseiller Aulique de Vienne. o. O. 1689, überliefert in: BNF, MP–1034; LETTRE D’UN MINISTRE CATHOLIQUE Deputé à la Diette de Ratisbonne, Ecrite à M. l’Evêque de * *. [Ratisbonne?] 1689, überliefert in: BNF, MP–791; Replique du Conseiller aulique à la Lettre du Gentilhomme Liegeois. Traduite de l’Allemand. In: LETTRES ET REPONSES AU SUJET DE LA LIGUE D’AVGSBOVRG […]. Amsterdam: Henry Desbordes 1689, überliefert in: BNF, M–21693. S. 12–20. 25 Lettre d’un Ministre (wie Anm. 24). 26 LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 1. 27 Le Mercure de France […]. Paris: Michel Guerout, 1689, überliefert in: UML, 840.6 M 558 1689 Mar pt. 2. S. 81–134. 28 LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. 29 „Qu’on ne peut douter que celles que les Etats Generaux des Provinces Unies, les Electeurs de Saxe & de Brandebourg, la Maison de Brunsvvick, le Landgrave de Hesse-Cassel, toutes les villes & Etats protestants de l’Empire, même la Suede peuvent mettre sur pied ne soient tellement superieures aux Catholiques, qu’il ne sera plus possible de parvenir à un Traité de paix, sans partager entre les Lutheriens & les Calvinistes, la plupart de ces grands benefices d’Allemagne, qui ont servi jusqu’à present de boulevart à la Catholicité“. LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. 30 Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 14f. Die gleiche Argumentation vertreten auch Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1; LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. 31 LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. Die Angst vor Säkularisierungen durch die protestantischen Truppen schürte auch Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 15: „Les
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Anschuldigungen der katholischen Alliierten, Frankreich sei für die Säkularisierungen des Westfälischen Friedens verantwortlich, wurden mit dem diplomatischen Widerstand der französischen Gesandtschaft auf dem Kongress von Münster und Osnabrück widerlegt. Frankreich sei vielmehr die einzige Macht, die es gewagt hätte, sich den Säkularisierungen zu widersetzen. Vom Kaiserhof sei keine Hilfe zu erwarten, weil er ein Bündnis mit den Protestanten eingegangen sei, zudem durch seine notorisch hohe Verschuldung nicht für deren Kriegskosten aufkommen könne und sie so anderweitig entschädigen müsse.32 Wenn Frankreich nicht erhebliche Gewinne in einem Friedensschluss erziele, obsiege der Protestantismus im Reich.33 Frankreich sei die einzige Macht, die sich neuen Säkularisierungen der Protestanten widersetzen könne.34 Der französischen Propaganda erschienen insbesondere die katholischen, geistlichen Reichsstände als geeignete Verbündete, um die Interessen ihres Königs in Deutschland durchzusetzen. Unter dem Deckmantel des Schutzes des Katholizismus im Reich sollte eine neue französische Partei auf dem Reichstag aufgebaut werden. Die französische Publizistik wandte sich aber auch direkt an die kaiserlichen Räte und das Reichsoberhaupt in Wien. Sie baute explizit auf diejenigen Berater Leopolds I., die sich einer Allianz mit den protestantischen Mächten widersetzt hatten und
Princes Protestants se serviront plus utilement du pretexte de la défense de l’Empire, pour se rendre les maîtres des Electorats de Cologne & de Tréves, des Evéchez de Munster, de Paderborn, & d’Hildesheim, & generalement de toutes les Principautez Ecclesiastiques qui sont à leur bienseance depuis le Rhin jusqu’en Prusse, & agissans toûjours de concert avec les Etats Generaux des Provinces-Unies, avec l’Angleterre, & peut-être même avec les deux Couronnes du Nord, ils n’auront pas de peine à détruire, quand il leur plaira, sans le secours de la France, toute la puissance de la Maison d’Austriche, & de tous les Princes Catholiques ses adherans, & de rendre la Religion Protestante maîtresse absoluë des déliberations de l’Empire, & de toutes les assemblées qui s’y feront à l’avenir“. 32 „Si au contraire la France a le malheur de succomber aux efforts du prodigieux nombre d’ennemis qui s’élevent contr’elle, je ne sçais si les Princes & Etats Protestans qui ont joint ensemble beaucoup plus de forces que l’Empereur n’en peut avoir, ne songeront pas à se rendre les maîtres absolus des plus grands benefices d’Allemagne, & si la Cour de Vienne pourra s’empêcher de les leur abandonner pour le dédommagement des dépenses qu’ils auront faites durant la guerre“. Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1. 33 „Vous pouvez bien juger, Monseigneur, qu’à moins que la France ne remporte des avantages considerables dans l’Empire, il ne faut rien attendre d’un Traité de paix, qui ne soit tres-prejudiciable à nôtre Religion, & que les Etats Catholiques n’auront pas assez de forces pour empêcher que les Princes Protestans n’obtiennent de nouvelles dignitez Electorales, & generalement tout ce qu’ils pourront demander à l’Empereur, sous pretexte de leur dédommagement, même l’alternative en faveur de leur Religion pour l’élection d’un Empereur“. LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. Die Gefahr eines protestantischen Kaisertums beschwört auch Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 14. Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1, fragt sich „Ne croyez vous pas aussi qu’ils voudront rendre le nombre des Electeurs Protestans égal à celuy des Catholiques, & qu’ils pretendront pouvoir élire à l’avenir un Empereur de leur Religion?“ 34 LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2; Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 14; Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1.
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daher, so die Publizistik, noch immer von der alten Maxime des Hauses Österreichs beseelt seien, den katholischen Glauben aufrechtzuerhalten und zu verbreiten.35 Der Kaiser wurde wegen seines Bündnisses mit den protestantischen Fürsten selbst für alle seine Niederlagen verantwortlich gemacht. Ihm und seinen Beratern wurde vor Augen geführt, dass der Untergang der katholischen Kirche in Deutschland auch den Untergang der Kaiserwürde des Hauses Habsburg bedeuten würde. Denn mit dem Verlust der geistlichen Kurfürstentümer käme keine katholische Mehrheit bei einer Kaiserwahl mehr zu Stande und die Herrscherwürde fiele unweigerlich einer protestantischen Dynastie zu.36 Letzten Endes müsste dem Kaiser also mehr an einer Niederlage als an einem Sieg über Frankreich gelegen sein, denn nur Frankreich könne die katholische Konfession gegen eine Vereinigung so vieler protestantischer Fürsten aufrechterhalten.37 Mit dem Argument des Religionskrieges versuchte die französische Publizistik Ende 1688, Anfang 1689, den Kaiser und die katholischen Reichsfürsten zum Ausscheren aus ihren interkonfessionellen Allianzen zu bewegen und im Interesse des katholischen Glaubens die französischen Reunionen am Rhein, die französischen Erbansprüche auf die Kurpfalz sowie die Wahl des Kardinal Fürstenbergs zum Erzbischof von Köln anerkennen zu lassen. Durch die Wahl der französischen Sprache wandte sie sich darüber hinaus auch an ein französisches und internationales katholisches Publikum, das sie auf die Ziele der ludovizianischen Außenpolitik einschwören wollte. Namentlich die nicht-französischen Katholiken sollten durch eine Mischung aus Selbstlegitimation Ludwigs XIV. und Desavouierung der Politik ihrer eigenen Monarchen auf Seiten Frankreichs gezogen werden.
35 „Comme cette guerre pourra bien être funeste à nôtre Religion […] & c’est ce que quelques uns de nos Ministres, ausquels il reste encore quelque teinture de l’ancienne maxime que la Maison d’Autriche avoit toûjours eüe, de faire paroître un zele ardent pour le maintien & l’augmentation de la Religion Catholique ont vivemẽt representé dans le Conseil de l’Empereur“. Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 12f. 36 „La destruction de la Religion Catholique peut causer aussi celle de la puissance de l’Empereur, & faire passer dans une autre Maison la dignité Imperiale“. Replique du Conseiller (wie Anm. 24), S. 12–20, hier S. 17, sowie Replique du Conseiller (wie Anm.24), S. 12-20, hier S. 14; LETTRE D’UN MINISTRE (wie Anm. 24), S. 2. Der Kaiser selbst habe „perdu son credit dans le College Electoral, en augmentant le nombre des Protestans, & donné un grand acheminement à une prochaine élection d’un Prince de cette Religion à la dignité Imperiale, qu’une si longue suite d’Empereurs d’Autrichiens avoit rendu presque hereditaire dans cette Maison“. Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1. 37 „Enfin l’on peut dire, que les victoires qu’elle pourroit remporter, luy feroient plus fatales & plus ruineuses, que la plus sanglante défaite qui luy pourroit arriver“. Réponse d’un Gentilhomme (wie Anm. 24), S. 1. „L’on peut dire en effet que la Maison d’Autriche oublie en cette occasion ce qu’elle doit à elle-même, & à la Religion, & qu’il seroit tres-dangereux pour les Catholiques que les Protestans eussent l’avantage sur la France, puis qu’il n’y auroit plus de puissance capable de leur resister; & ainsi ils aneantiroient la Religion Romaine, & tourneroient leurs armes contre tous ceux qui se mettroient en état de s’opposer à leurs desseins“. Riencourt, Simon de: HISTOIRE DE LOUIS XIV. […]. Bd. 2. Paris: Claude Barbin 1693, überliefert in: BSB, Gall. G. 783–1/2. S. 169.
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Dementsprechend beschuldigte die französische Propaganda die katholischen Alliierten, durch ihr Bündnis mit Wilhelm von Oranien die Ausbreitung des Protestantismus in England und Frankreich zu begünstigen und auf diese Weise einen universellen protestantischen Religionskrieg gegen den Katholizismus zu unterstützen.38 Statt sich mit den Häretikern einzulassen, die einen katholischen Monarchen entthront hatten, wurden sie dazu aufgefordert, sich auf die Seite Ludwigs XIV. zu stellen und dazu beizutragen, Jakob II. wieder auf den englischen Thron zu bringen.39 Sie sollten Wilhelm keinen Glauben schenken, der vorgegeben habe, die Freiheit Englands zu verteidigen.40 Sein Vorgehen beweise vielmehr, dass es sich dabei um einen Religionskrieg gegen den Katholizismus gehandelt habe, bei dem die anderen katholischen Mächte sich keinesfalls gegen Frankreich stellen durften.41
3 Frankreichs Leugnung des Religionskriegs gegenüber den protestantischen Mächten Im Verlaufe des Neunjährigen Krieges steigerte die französische Argumentation eines Religionskriegs dann allerdings das Misstrauen der protestantischen Gegner Ludwigs XIV. Im Spanischen Erbfolgekrieg wurde sich die französische Diplomatie zunehmend der Schwäche ihrer Argumentation bewusst und unternahm nun verstärkte Bemühungen, die protestantischen Mächte von der Nicht-Existenz eines Religionskrieges zu überzeugen. Hierfür bediente sie sich eines fingierten Briefwechsels zwischen einem Schweizer und Edelmännern verschiedener anderer europäischer Nationen, den Jean De la Chapelle im Auftrag des Staatssekretariats der Auswärtigen Angelegenheiten anfertigte.42 Diese Lettre d’un Suisse à un François wurden zur Herstellung größerer Glaubwürdigkeit in Frankreich selbst auf den Index gesetzt, während sie französische Agenten in fast alle Sprachen Europas übersetzen, drucken und heimlich an fremden Höfen und Ständevertretungen verteilen ließen.43 Die Leugnung französischer Autorenschaft ermöglichte es so, scheinbar protestantische Positionen zu übernehmen und die Politik Ludwig XIV. vor einem protestantischen Pub38 LE MERCURE DE FRANCE (wie Anm. 27), S. 36f. 39 Riencourt, HISTOIRE DE LA MONARCHIE (wie Anm. 16), S. 431. 40 „La liberté qu’elle y avoit, est ce qui luy a servir de pretexte pour envahir les trois Royaumes“. MERCURE GALANT (wie Anm.20), S. 380f. 41 „Ainsi cette guerre que les Princes liguez ont soumentée avec luy, est une guerre de Religion, & le Roy ne doit point appréhender ses Ennemis en défendant contre eux la cause de Dieu“. MERCURE GALANT (wie Anm. 20), S. 381. 42 Bely, Lucien: Colbert. In: Dictionnaire des ministres des affaires étrangères 1589–2004. Hrsg. von Lucien Bely [u.a.]. Paris 2005. S. 90–103, hier S. 100; Klaits, Propaganda (wie Anm. 5), S. 115, 122. 43 Zur Verlagsgeschichte der Lettre d’un Suisse à un François: Klaits, Propaganda (wie Anm. 5), S. 113, 145–155.
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likum zu rechtfertigen. Immer wieder wurde dort die konfessionelle Motivation der Politik Ludwigs XIV. geleugnet. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. Die Dixième lettre d’un Suisse à un François klagte den kaiserlichen Gesandten in der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Franz Ehrenreich von Trauttmansdorff, einer machiavellistischen Politik an, die Protestanten und Katholiken gleichermaßen beunruhigen müsse.44 Eine Sammlung französischer Flugschriften legte der Dixième lettre d’un Suisse à un François als Beweis dieser Anschuldigung eine ebenfalls im Druck erschienene Rede Trauttmansdorffs an die Schweizer Tagsatzung bei.45 Der österreichische Diplomat selbst habe den Beweis für die weltlichen Absichten Habsburgs geliefert, indem er erklärt habe, Leopold I. habe den Krieg zur Rückeroberung des Herzogtums Lothringen begonnen.46 Da es sich bei Lothringen um ein durch und durch katholisches Herzogtum handele, könne hier keine Rede von einer konfessionspolitischen Motivation sein. Obwohl es ein rein weltlicher Konflikt sei, habe es Trauttmansdorff gewagt, den Protestanten zu erklären, dass es sich beim Spanischen Erbfolgekrieg um einen Religionskrieg handele, in dessen Zuge sie ihren Glauben gegen Frankreich verteidigen müssten.47 Er habe die Schweizer Protestanten aufgefordert, sich von ihren katholischen Eidgenossen zu lösen, um auf Seiten des Kaisers einen Krieg gegen Frankreich zu beginnen.48 Mit dieser Darstellung Trauttmansdorffs, die aus französischer Sicht ein Beleg für die politische Unmoral der Kaiserli44 „Pour moi qui ne suis point si habile, & qui n’ay point étudié les perverses maximes de Machiavel, je pense que cette conformité de langage avec les heretiques, doit donner de l’indignation aux Catholiques, & de la defiance aux Protestans. Quelle assurance peut-on prendre sur les conseils, & sur les paroles d’un homme qui employe toute son adresse, à faire douter de sa Religion?“ La Chapelle, Jean de: LETTRE D’UN SUISSE A UN CONSEILLER DE FRIBOURG, A Paris le Mars 1703. In: LETTRES D’UN SUISSE, QUI DEMEURE EN France, A UN FRANÇOIS, QUI S’EST RETIRE EN SUISSE […]. Hrsg. von Jean de La Chapelle. o. O. 1704, überliefert in: Bibliothèque Cantonale et Universitaire de Lausanne, 1F285, [13]. 45 Trautmansdorff [sic], Franz Ehrenreich von: TRADUCTION DE LA LETTRE de M le Comte de Trautmansdorff au Corps Helvetique, du septiéme Février 1703. In: LETTRES, MEMOIRES ET ACTES CONCERNANT LA GUERRE PRESENTE. SECONDE PARTIE. Hrsg. von Jean de La Chapelle. Bd. 2. Basle 1703, überliefert in: BML, 326042–T.02. S. 219–236. Das deutsche Original der Flugschrift findet sich abgedruckt in: Historischer und Politischer MERCURIUS […]. Nürnberg: Johann Ziegern 01.1703, überliefert in: BSB, 4 Eur. 186–1703,1. S. 447–457. Zur Funktion der Tagsatzung als internationaler Nachrichtenbörse vgl. Hacke, Daniela: Zwischen Konflikt und Konsens. Zur politisch-konfessionellen Kultur in der Alten Eidgenossenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005). S. 575–604, hier S. 580, 603. 46 La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [14]. 47 „N’est-ce point de la même école encore, qu’il tire cette negligence affectée, avec laquelle, laissant échapper comme sans dessein, dans sa lettre que la grande Alliance est publiée tant à Rome que dans les autres Pays, comme une guerre de Religion. Il tâche d’insinuer adroitement à nos Cantons protestants, qu’effectivement ils doivent regarder comme une querelle qu’on veut faire à leur Religion, tout ce qui n’est qu’un démêlé ordinaire de droits & d’interests purement humains, & s’armer pour la defence de leurs Temples“. La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [11]. 48 La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [11].
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chen darstellte und den säkularen Charakter des Spanischen Erbfolgekrieges belegte, sollten die Neutralität und nationale Einheit der Schweizerischen Eidgenossenschaft aufrechterhalten und die Schweizer Protestanten von einem Religionskrieg gegen Frankreich abgehalten werden. Auf diese Weise hoffte man zu verhindern, dass die alliierten Truppen in der Eidgenossenschaft warben. Darüber hinaus wäre im Fall des Erfolgs der französischen Propaganda ein wesentlicher Teil der französischen Grenze vor einem Angriff der Alliierten geschützt gewesen. Auch Frankreich selbst weigerte sich, den Spanischen Erbfolgekrieg als Religionskrieg zu betrachten. In der Dixième lettre d’un Suisse à un François hieß es dementsprechend, in Frankreich sehe niemand den gegenwärtigen Krieg als Religionskrieg an, und die Völker dürften nach den Erfahrungen der Vergangenheit durch das Argument des Religionskrieges nicht länger zum Narren gehalten werden.49 Wenn die Diplomatie des Kaisers gleichermaßen alle Konfessionen bedienen wolle, könne man Österreich wegen seines Machiavellismus zu Recht der Verschwörung gegen alle Völker und Konfessionen bezichtigen.50 Denn diejenigen Fürsten, die in wahrhaftiger Weise das Wohl ihrer Religion im Sinne hätten, würden den wahren Beweggrund ihrer Politik nicht verheimlichen und die konfessionelle Einheit innerhalb der Grenzen ihres Territoriums herstellen.51 Auf diese Weise leugnete de La Chapelle die französischen Erklärungen, es handele sich beim Spanischen Erbfolgekrieg um einen Religionskrieg und rechtfertigte gleichzeitig die Rekatholisierungspolitik seines eigenen Monarchen, der keinesfalls eine Rekatholisierung außerhalb der französischen Grenzen anvisiere. Die protestantischen Schweizer und die anderen protestantischen Mächte sollten so von den friedlichen Absichten Ludwigs XIV. überzeugt werden. Statt einen Religionskrieg zu propagieren warnte die Trente-Deuxième Lettre d’un Suisse à un François mit historischen Exempeln vor den Folgen eines gegenwärtigen Religionskrieges. Sie führte den deutschen Protestanten die Schrecken der vergangenen Religionskriege in Deutschland vor Augen. Religionskriege hätten das Heilige Römische Reich mit Unterbrechungen von der Zeit Karls V. bis zum Westfälischen Frieden heimgesucht.52 Durch weltliche Motive und einen falsch verstandenen religi-
49 „Je vous asseure qu’en France personne ne s’est encor avisé de dire que la Religion eût aucune part dans la guerre presente. Aprés tout les peuples si souvent abusez par ces specieux pretextes de cause de la Religion, ne doivent plus en-estre les duppes“. La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [11f.]. 50 La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [12]. 51 „Les autres Princes, qui plus unis, plus ouverts dans leur conduite, ne rougissent point de leur foy, ne dissimulent point le zele qu’ils ont pour leur Religion, & ne veulent souffrir dans leurs Etats que la seule qu’ils croyent veritable, contents de posseder paisiblement les Royaumes que Dieu leur à donnés, n’envahiront point ceux des autres“. La Chapelle, LETTRE (wie Anm. 44), [12]. 52 „Les Guerres de Religion qui commencerent sous cet Empereur, quelquefois assoupies pour un temps, jamais bien calmées; n’ont esté entierement esteintes, que par le Traitté de Westphalie, sous Ferdinand III. après avoir duré plus d’un siècle & demy“. La Chapelle, Jean de: Trente-Deuxième Lettre d’un Suisse à un François. Basle 1705, überliefert in: BNF, 4–LB37–4292. S. 8.
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ösen Eifer hätten sie ganz Deutschland verwüstet.53 Immer noch müsse sich Deutschland von ihren Folgen erholen.54 Das Beispiel der vergangenen Religionskriege sollte die deutschen Protestanten davon abhalten, im Spanischen Erbfolgekrieg einen Religionskrieg zu sehen und sich daran zu beteiligen. Die französische Propaganda suggerierte ihnen damit, keinen Grund für eine Beteiligung am Krieg zwischen Habsburg und Bourbon zu besitzen. Ganz im Gegenteil könnten sie in einem solchen Krieg immer nur verlieren und täten deshalb besser daran, sich neutral zu verhalten.
Fazit Zur Zeit der Revokation des Edikts von Nantes entfachte der religiöse Konflikt zwischen Protestantismus und französischer Krone eine breite, publizistische Debatte über einen gegenwärtigen Religionskrieg. Die französische Krone bediente sich zur Rechtfertigung ihrer Position massiv der Publizistik. Hierfür nutzte sie, wie alle frühneuzeitlichen Staaten, ein System von Patronage, das von einzelnen Staatsdienern gesteuert wurde. Entsprechend der Zuständigkeit einzelner Ministerien und der dementsprechenden Diversität der Patronagenetzwerke richtete sich die französische Tagespublizistik an unterschiedliche Adressatengruppen: 1. die französischen Katholiken, 2. die katholischen Feinde Ludwigs XIV. und 3. seine protestantischen Gegner. In Frankreich selbst forderte der Herrscherdiskurs vom französischen König die Ausrottung der Häresie und Verteidigung des katholischen Glaubens. Die Religionskriegsforderung der französischen Herrscherpanegyrik wurde schnell von den Debatten innerfranzösischer Kirchenpolitik auf die europäische Staatenpolitik übertragen. Auch hier wurde Ludwig XIV. als „destructeur de l’hérésie“55 gefeiert. Gleichzeitig forderte die Tagespublizistik von ihrem Monarchen den Schutz der bedrängten katholischen Glaubensgenossen im protestantischen Herrschaftsbereich. Die französischen Untertanen sollten durch diese Darstellung für die Unterstützung der Kriegsanstrengungen ihres eigenen Monarchen gewonnen werden. Vor allem aber sollten auch die anderen katholischen Mächte ein Einsehen haben und die Führungsrolle Frankreichs im Kampf gegen die Häretiker akzeptieren. Namentlich die Ereignisse der Glorious Revolution und das Schicksal Jakobs II. von England sollten sie zur Unterstützung Frankreichs motivieren. Während die französische Publizistik im eigenen Land den Religionskrieg propagierte, machte sie nach außen die protestantischen Mächte für die Führung eines Religionskrieges verantwortlich. 53 „Qui ne connoist toute l’horreur des Guerres, auxquelles la Religion sert de pretexte? A quels excez ne se porte point la fureur qu’un faux zele anime?“ La Chapelle, Trente-Deuxième Lettre (wie Anm. 52), S. 8. 54 „Les ravages que ce faux zele a faits pendant plus d’un siecle en Allemagne, ne sont pas encore reparés“. La Chapelle, Trente-Deuxième Lettre (wie Anm. 52), S. 8. 55 Daniel, HISTOIRE (wie Anm. 10), Epitre [5].
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Besonders während des Neunjährigen Krieges versuchte die französische Kriegspropaganda, die katholischen Fürsten aus ihrer Allianz mit den protestantischen Mächten zu lösen. Hauptadressat waren dabei die katholischen Reichsfürsten. Zentrales Argument war die Existenz eines protestantischen Religionskrieges gegen die katholische Kirche. Die französische Propaganda führte den katholischen Reichsständen die Gefahr für die Kirchengüter vor Augen. Nur von Frankreich sei ein effektiver Schutz der katholischen Kirchengüter zu erwarten, denn die Habsburger hätten die Interessen der katholischen Kirche ihren eigenen machtpolitischen Interessen geopfert. Würden sich die katholischen Reichsstände nicht aus der Allianz mit den Protestanten lösen, bestünde die Gefahr einer protestantischen Mehrheit im Kurkolleg und eines protestantischen Kaisertums. Die katholischen Reichsstände und der Kaiser selbst täten deshalb gut daran, auf ihre eigene Niederlage zu hoffen, sich neutral zu verhalten oder sich auf Seiten Frankreichs zu stellen. Die politische Auseinandersetzung mit den interkonfessionellen großen Allianzen von Wien und Den Haag wurde bewusst religiös repräsentiert, während man die religiöse Semantisierung des europäischen Mächtekonflikts gegenüber den protestantischen Mächten gezielt profanisierte. Die französische Argumentation eines Religionskriegs musste unweigerlich die protestantischen Mächte erschrecken. Aus diesem Grunde war es nötig, den Protestanten zu versichern, der Religionskrieg sei eine Erfindung der Gegner Frankreichs. Die französische Leugnung des Religionskrieges zielte auf eine Diskreditierung der Politik des Kaisers. Die deutschen Protestanten hätten in der Vergangenheit aus den Religionskriegen keine Vorteile gezogen. Das Ausstreuen von Falschnachrichten wie den Lettres d’un Suisse à un François vermochte die Widersprüche der französischen Propaganda nur vordergründig zu verdecken. Sie wurden rasch von den Gegnern Frankreichs entlarvt.56 Die unterschiedlichen, argumentativen Strategien, die für die Gewinnung der eigenen Bevölkerung, der katholischen und protestantischen Gegner Ludwigs XIV. im Neunjährigen Krieg und im Spanischen Erbfolgekrieg nötig waren, führten zu einem inneren Widerspruch der französischen Propaganda. Dieser Widerspruch lässt sich nur im Lichte der Bedürfnisse der genannten Adressaten erklären. Auf medialer Ebene der französischen Tagespublizistik tritt so der äußere Konflikt zwischen französischem Katholizismus und europäischem Protestantismus vor dem Spannungsverhältnis zwischen innerer Kirchen- und außenpolitischer Mächtepolitik zurück. Die Medienpolitik des Allerchristlichsten König war weit mehr durch politischen Pragmatismus als durch einen erstarrten Dogmatismus gekennzeichnet, wie er oft für die zweite Phase der Regierung dieses Monarchen angenommen wurde.
56 Mühling, Debatte (wie Anm. 3), S. 470–501.
Nicola Glaubitz
Ben Jonsons Volpone (1605/1606) und der Gunpowder Plot Staatliche und religiöse Medienpolitiken auf der Bühne Der sogenannte Gunpowder Plot (die ‚Pulververschwörung‘) von 1605 in England ist ein geeigneter Ausgangspunkt, um ein Schlaglicht auf den Medienbezug religiöser Konflikte in der Frühen Neuzeit zu werfen.1 Der Plan einer kleinen Gruppe von Katholiken, das Londoner Parlamentsgebäude zur feierlichen Parlamentseröffnung am 5. November 1605 in die Luft zu sprengen und neben den Abgeordneten auch König James I. und seine Familie zu töten, wurde in der Nacht vor dem Anschlag aufgedeckt.2 Die angeblichen Beteiligten wurden unter Einsatz von Folter ermittelt und die Verschwörer – unter ihnen der Söldner Guy Fawkes, den die volkstümliche Erinnerungskultur später in den Mittelpunkt rückte – Ende Januar 1606 hingerichtet. Vorausgegangen war dem Gunpowder Plot eine wechselhafte religionspolitische Geschichte: Nach der Abspaltung von der katholischen Kirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts etablierte Heinrich VIII. die anglikanische Kirche als Staatskirche. Mary I. führte England zurück zum Katholizismus und verfolgte Protestanten; Elizabeth I. setzte den Anglikanismus wieder ein und beschränkte sukzessive die Möglichkeiten, den katholischen Glauben zu praktizieren. Dabei verband sich Staatsräson mit religiösen Motiven: Die Königin sah ihre Autorität in Frage gestellt, nachdem nordenglische katholische Adlige 1569 rebelliert hatten und als der Papst 1570 ihre legitime Abstammung in Frage stellte. Und auch nach dem militärischen Sieg über die spanische Armada 1588 blieb die Furcht vor einer spanischen Unterwanderung Englands durch die Jesuiten bestehen. Katholiken wurden von Staatsämtern ausgeschlossen und mussten Strafzahlungen für das Versäumen der anglikanischen Messe leisten. Dennoch hatten sie unter Elizabeth gewisse Freiräume. Als der calvinistisch erzogene, zunächst als katholikenfreundlich geltende James I. 1603 den englischen Thron bestieg, enttäuschte er Hoffnungen auf eine weitere Ausweitung religiöser Toleranz. Der als Befreiungsschlag intendierte Gunpowder Plot hatte schärfere Sanktionen gegen Katholiken, aber auch gegen radikale protestantische Gruppierungen zur Folge. Im Gunpowder Plot und in den Reaktionen der Regierung kulminierten politischreligiöse Spannungen, die schon länger bestanden hatten. Abgesehen von allegorischen Umsetzungen der offiziellen Darstellung der verhinderten Verschwörung als 1 Ich danke Dilâra Yilmaz und Mila Stöver, die mich im Vorfeld mit Recherchen und bei der Finalisierung des Textes unterstützt haben. 2 Vgl. Sharpe, James: Remember, Remember the Fifth of November. Guy Fawkes and the Gunpowder Plot. London 2005. S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110725193-006
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göttliche Intervention zum Schutz der Monarchie (wie z.B. in Thomas Dekkers The Whore of Babylon, uraufgeführt 1606) blieben unmittelbare literarische und dramatische Verarbeitungen aus. Religiöse Medienkonflikte und ihre Politisierung fanden aber dennoch ihren Weg auf die jakobäische Bühne. Viele Stücke, die innerhalb des von der Zensur gesteckten Rahmens vor und nach dem Gunpowder Plot Religiosität thematisierten, folgten der offiziellen Linie von Hof und Regierung: Katholiken werden ebenso wie die abfällig als Puritaner bezeichneten radikalen Protestanten zum Gegenstand von Spott und Stereotypisierung, und häufig werden sie gleichgesetzt.3 In explizit antikatholischen Kontexten finden sich denn auch vernehmbare Resonanzen der Pulververschwörung. Ben Jonsons satirische Komödie Volpone, unmittelbar nach der Pulververschwörung verfasst und im Frühjahr 1606 zum ersten Mal aufgeführt, erhält durch Jonsons Konversion zum Katholizismus 1598 und seine Verbindung zu den Verschwörern besondere Bedeutung. Jonson kommentiert im Modus der Satire die aktuellen religionspolitischen Spannungen und verwendet dabei Versatzstücke aus Mediendebatten um die Theatralität der katholischen Messe, das Exorzismusritual und die Auslegung von Zeichen, um schlussendlich das satirische Theater als Medium einer kritischen Öffentlichkeit zu positionieren.
1 Religiöse Medienkonflikte Die Bilder- und Theaterfeindlichkeit, insbesondere der calvinistischen Lehre, und ihre Folgen in Ikonoklasmus und Streitschriften gegen das Theater sind bekannt. Theologisch drückt sich diese Haltung in der Formel sola fide, solus Christus, sola scriptura aus. Das zum Symbol und Erinnerungszeichen umgedeutete Abendmahl und die Privilegierung des Hörens der Predigt noch vor dem Lesen der Schrift4 im reformierten Glauben lassen sich aus heutiger Sicht als Medienwechsel ansprechen, und die Debatten darüber wären als Medienreflexionen zu betrachten. Jochen Hörisch geht so weit, bereits die zentrale Stellung Christi und der Heiligen Schrift als Mittler zwischen Gott und Menschen oder der Kirche als Mittlerin innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen im Juden- und Christentum insgesamt als Medientheorie und Medienpraxis zu bezeichnen.5 Figurationen und Institutionalisierungen von Vermittlung sind 3 Der Begriff Puritaner wurde von ihren Gegnern geprägt (in England bezeichneten sie sich selbst als „the godly“, vgl. Collinson, Patrick. The Reformation. London 2003. S.114 –115). James I. bezeichnete 1604 in einer Parlamentsrede Puritaner als Sektierer, deren Unzufriedenheit mit der Regierung und jeder Form von Autorität sie zu einem Störfaktor des Gemeinwesens werden ließen (vgl. Heinemann, Margot: Puritanism and Theatre. Thomas Middleton and Opposition Drama under the Early Stuarts. Cambridge 1980. S. 22). 4 Vgl. Dixon, C. Scott: Contesting the Reformation. Malden 2012. S. 165. 5 Vgl. Hörisch, Jochen: Theologie. In: Handbuch Medienwissenschaft. Hrsg. von Jens Schröter. Stuttgart 2014. S. 373–376, hier S. 373.
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in der Tat Strukturmerkmale der christlichen Religion, und mit modernen Medienbegriffen lässt sich rückblickend die Religionsgeschichte nicht nur der Frühen Neuzeit rekonstruieren.6 Wenn auf diese Weise religiöse und mediale Praktiken, Religion und Medialität systematisch weitgehend zur Deckung kommen, ist der zugrundeliegende Medienbegriff allerdings historisch nicht mehr sonderlich trennscharf.7 In einer stärker historisierenden Perspektive könnte man daher darüber nachdenken, ob die Reformation und ihre Folgen bereits Reflexionen über Medialität und spezifische Medienproblematiken anstoßen. Plausibel ist das, denn die protestantischen und die katholischen Theologien und Glaubenspraktiken liefen mit ihren unterschiedlichen Arten und Weisen der Glaubensvermittlung auf eine Medienkonkurrenz hinaus, mit jeweils festgelegten und absichtlich eingerichteten Formen von Bild, Schrift, Körpertechnik (z.B. Niederknien, Pilgern), Kleidung (z.B. Priesterornat), Zeremonie (Liturgie), Architektur und olfaktorischen Reizen (z.B. Weihrauch). Solange die Medienensembles der (vorreformatorischen) ‚katholischen‘ Kirche nur in Details umstritten blieben, bestand wenig Anlass dazu, Medialität und Mediatisierung8 zu problematisieren. Das geschieht erst auf grundlegendere Weise, als die unterschiedliche Verwendung und Zusammensetzung von Medienkonfigurationen sich mit Autoritätskonflikten innerhalb der Kirche, zwischen Konfessionen und in Staat und Gesellschaft verbindet und so an Brisanz gewinnt. Erst jetzt beginnen Reflexionen und Kontroversen darüber, inwiefern Speicher-, Übertragungs-, Verar6 Vgl. Person, Raymond F. u. Chris Keith: Media Studies and Biblical Studies. An Introduction. In: The Dictionary of the Bible and Ancient Media. Hrsg. von Tom Thatcher [u.a.]. London, New York 2017. S. 1–16. 7 Hörisch verwendet in seinen Arbeiten zu Religion und Medien eine Vielzahl an Medienbegriffen und belegt damit Thesen unterschiedlicher Reichweite, deren systematischer Zusammenhang nicht immer ganz klar wird. So argumentiert er mit einem kommunikationswissenschaftlichen Medienbegriff, dass das Abendmahl ein frühes „Massen- und Leitmedium“ (Hörisch, Theologie [wie Anm. 5], S. 374) gewesen sei; er zeigt mit einem systemtheoretischen Medienbegriff, dass Gott bis in die Frühe Neuzeit hinein als ‚symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‘ fungierte. Das Abendmahl erfüllt die Funktionen des Erinnerns, Übertragens, Koordinierens und der Herstellung von Wahrscheinlichkeit für Ereignisse bzw. Anschlusskommunikationen; es kann mit McLuhan als Körperextension (d.h. als Anwesenheit des Leibs Christi) verstanden werden und beruht auf Beglaubigungsstrategien (vgl. Hörisch, Jochen: Geld, Gott und Medien. Frankfurt 2004. S. 20–21). Medienfragen erhalten in Theologie und ihren Teildisziplinen inzwischen Aufmerksamkeit jenseits der Frage, wie Religion in oder durch Medien repräsentiert und vermittelt wird. Person und Keith verweisen auf wichtige Anschlüsse an die Oralität/Literalitätsdiskussion, memory studies, Tanz- und Performanzstudien, Kommunikationswissenschaft und Musikwissenschaften und die Notwendigkeit, biblische Texte als Teile von plurimedialen Konfigurationen zu betrachten (Person, Media Studies [wie Anm. 6], S. 1). 8 Mit diesen Begriffen ist gemeint, dass Medien keine ontologisch definierbare Gegenstandsklasse sind. Medialität bestimmt sich durch ihren Gebrauch (vgl. Schüttpelz, Erhard: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Archiv für Mediengeschichte. Sonderheft Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?) [2006]. S. 87–110), ihre Zwecke (Speichern, Übertragen, Verarbeiten von Information) und ihren Problembezug (Unwahrscheinlichkeit von kommunikativen Anschlüssen in Wahrscheinlichkeit überführen).
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beitungs- und Vergegenwärtigungsmedien die christliche Botschaft verändern oder gar korrumpieren, anstelle sie transparent zu machen.9 In diesem Beitrag steht ein Aspekt von Medialität im Mittelpunkt, der in der neueren Medientheorie an Bedeutung gewinnt: Materialität. Mit der Materialität der Kommunikation10 brachten K. Ludwig Pfeiffer und Hans Ulrich Gumbrecht dieses Stichwort schon 1988 wirkmächtig in die Diskussion. Hier ging es darum, die selbst nicht sinnhaften Voraussetzungen von Kommunikation in den Blick zu nehmen. Dieses Programm löste sich von einer informationstheoretischen und semiotischen Problemorientierung der Medientheorie an Fragen, wie (nach Luhmann unwahrscheinliche) kommunikative Anschlüsse zustande kommen und wie Sinn, Bedeutung oder Information vom Sender zum Empfänger gelangt. Im Zeichen der Materialität sollte es nun auch um die Mitwirkung von (Zeichen)Körpern, technischen Medien und Apparaten, um Bedeutsames und um stummes Wissen gehen. Inzwischen lösen sich Teile der Medientheorie ganz vom Problembezug des Darstellens und des Übertragens, Zirkulierens und Prozessierens von Sinn/Information: Im jüngsten Siegener Beitrag zu diesem Feld verlagert sich der Problembezug auf die Materialitäten der Kooperation11, d.h. auf die Frage, wie Kopplungen von Dingen und Praktiken gemeinsames Handeln (auch jenseits von Sprache und Bedeutung) ermöglichen. Das medientheoretische Interesse verlagert sich außerdem auf Dinge wie Werkzeuge, Nahrungs- und Verkehrsmittel oder Möbel, die im landläufigen Sprachgebrauch nicht als Medien angesprochen werden, die aber dennoch Interaktionen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteuren ermöglichen, aufrechterhalten und modifizieren.12 9 Vgl. Höfele, Andreas u. Stefan Laqué: Introduction. In: Representing Religious Pluralization in Early Modern Europe. Hrsg. von Andreas Höfele [u.a.]. Berlin 2007. S. IX–XVIII, hier S. XII; in Bezug auf moderne Einzelmedien und ihre theoretische Reflexion Leschke, Rainer: Medien – Ein loser Begriff. Zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines Begriffskonzepts. In: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 7, 1 (2007). S. 219–229: „Die Konstruktion eines Medienbegriffs benötigt insofern einen Horizont, der immer schon aus mehr als einem Medium bestehen muss. Medien tendieren nur als Elemente von Systemen zur Begriffsbildung. Sobald [und solange, N.G.] das Medium sich selbst genug ist, ist der Medienbegriff überflüssig.“ (hier S. 224). Historisch wäre also bereits die Differenzierung in zwei große Konfessionen als Fall von Medienkonkurrenz und als Anlass für Medienreflexionen anzusprechen und nicht erst die Konkurrenz religiös eingebundener Medien(praktiken) mit anderen Medien, wie Jochen Hörisch beobachtet (Hörisch, Theologie [wie Anm. 5], S. 374). Die Frühe Neuzeit zeichnet sich zudem durch ein hohes Maß an Reflexivität über religiöse Differenzen aus. Religion kann nun aus einer funktionalen Perspektive heraus betrachtet werden (Karremann, Isabel [u.a.]: Introduction. In: Forgetting Faith? Negotiating Confessional Conflict in Early Modern Europe. Hrsg. von Isabel Karremann. Göttingen 2012. S. 1–38, hier S. 4), so dass die Aufmerksamkeit für mediale Dimensionen zusätzlich geschärft wird. 10 Vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: Materialität der Kommunikation? In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1988. S. 15–30. 11 Vgl. Gießmann, Sebastian [u.a.] (Hrsg.): Materialität der Kooperation. Wiesbaden 2019. 12 Vgl. Schüttpelz, Kulturtechniken (wie Anm. 8); Macho, Thomas: Second-Order Animals. Cultural Techniques of Identity and Identification. In: Theory, Culture, Society 30, 6 (2013). S. 30–47; Win-
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2 Materialität, Medialität und Transsubstantiation Ein Teil der frühneuzeitlichen Mediendebatten wurde um Materialität geführt: Wie Hörisch und andere13 zeigen, gibt vor allem die Transsubstantiationslehre Anlass dazu, das Verhältnis von Zeichen und Dingen aus protestantischer Sicht neu zu fassen. Mit dieser Neuverhandlung verbunden waren Diskussionen um Theatralität und die Bedeutungspotentiale des Performativen. Um die Art und Weise, wie diese Debatte wieder Eingang in Reflexionen über das Theater findet und wie diese auf die politische Situation bezogen werden, wird es im Abschnitt über Ben Jonson gehen. Hier skizziere ich zunächst einige Argumentationslinien der Transsubstantiationsund Theatralitätsdebatte in der englischen Reformation. Die Eucharistie rückte in den Mittelpunkt konfessioneller Differenzen, da die Abendmahlsfeier nach katholischer Lehre vieles vereint, was Protestanten getrennt wissen wollen: die Wandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi ist sowohl Erinnerung an den Kreuzestod als auch seine Vergegenwärtigung; die Hostie ist zugleich Geist und Materie, Zeichen und Ding.14 Während Luther nicht von der Realpräsenz-Annahme abrückte, sprachen Calvin und Zwingli der Eucharistie eine rein symbolische und erinnernde Funktion zu und wiesen die Auffassung zurück, es handle sich um eine reale Vergegenwärtigung. Diese Debatte warf die Frage auf, wo die Grenze zwischen dem Materiellen und dem Sinnhaften zu ziehen war. Sie warf auch die Frage nach der Bedeutung und der Wirksamkeit der liturgischen Handlungen mitsamt ihrer Ausstattung auf. Das Hochhalten der Hostie in der katholischen Messe war im anglikanischen Book of Common Prayer gestrichen worden, um alle Spuren der Transsubstantiationsvorstellung zu tilgen und eine idolatrische Vereh-
throp-Young, Geoffrey: Cultural Techniques. Preliminary Remarks. In: Theory, Culture and Society 30, 6 (2013). S. 3–19. 13 Vgl. Hörisch, Geld (wie Anm. 7); Read, Sophie: Eucharist and the Poetic Imagination in Early Modern England. Cambridge 2013; Wald, Christina: The Reformation of Romance. The Eucharist, Disguise, and Foreign Fashion in Early Modern Prose Fiction. Berlin 2014. 14 Vgl. Hörisch, Geld (wie Anm. 7), S. 16, 20. Die Annahme der Realpräsenz Christi im Abendmahl hatte schon im Frühchristentum Befremden ausgelöst und Anlass zu Spekulationen gegeben. Die Annahme einer Transsubstantiation – einer Verwandlung der Substanzen Brot und Wein in Christi Leib und Blut während der Messe bei gleichbleibenden Akzidenzien, d.h. unveränderten materialen Eigenschaften – war eine theologische Lösung des Problems, die vom Trienter Konzil 1562 erneut bekräftigt wurde (Read, Eucharist [wie Anm. 13], S. 15, 16). Sie blieb aber umstritten und konnte die unbehagliche Nähe der Vorstellung zu Theophagie oder Anthropophagie nicht ausräumen: „The problem of literalism has dogged Christianity since its very beginning. As early as a hundred years after Christ there is evidence from both the enemies of Christianity and apologists for the nascent religion that rumors of Christianity as a cannibalistic cult were firmly established.“ (Price, Merrall Llewellyn: Consuming Passions. The Uses of Cannibalism in Late Medieval and Early Modern Europe. New York 2003. S. 34).
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rung der Hostie zu verhindern. In der anglikanischen Liturgie sollte nicht eigens zubereitetes, gewöhnliches Brot lediglich als Erinnerungszeichen dienen.15 Die protestantischen Vorwürfe der Idolatrie richteten sich auch gegen den angeblich theatralen Charakter der katholischen Messe.16 Eine beliebte Strategie in protestantischen Kritiken an der Heiligen Messe war Sophie Read zufolge, die figurativ-symbolische Interpretation der Eucharistie mit der vermeintlich auf das Materiell-Fleischliche reduzierten katholischen Version zu kontrastieren.17 Thomas Cranmer, der in den ersten beiden Versionen des Book of Common Prayer die Grundlagen der anglikanischen Liturgie legte, verzerrt die katholische Lehre ins Groteske, wenn er den im Sakrament vermeintlich präsenten Leib durch eine Aufzählung der einzelnen Körperteile so sehr konkretisiert, dass er abstoßend erscheint: „They say, that in the sacrament, the corporall membres of Christe be not distaunt in place, one from another, but that [...] in every parte of the bread & wyne, is altogither, whole head, whole feet, whole fleshe, whole bloud, whole hearte, whole lunges, whole brest, whole backe, and altogither whole, confused, and mixte without distinction or diversitie.“18 Thomas Becons The Displaying of the Popish Mass (1559) bringt die Materialität der Hostie, welche die Katholiken angeblich als ihren Gott verehren, ebenfalls durch die Technik der akribischen Beschreibung zu Bewusstsein. Er rekonstruiert ihre menschliche Verfertigung, beginnend mit dem Getreide, kulminierend im Kannibalismus und endend mit der Ausscheidung der verdauten Hostie: A wonderful god it is that ye set forth to the people to be worshipped. Not many days past it was corn in the ploughman’s barn; afterward the miller ground it to meal; then the baker, mingling a little water with it, made dough of it, and with a pair of hot printing-irons baked it. Now at the last come you, blustering and blowing, and with a few words spoken over it, ye charm the bread on such sort that either it trudgeth straightways away beyond the moon, and a fair young child, above fifteen hundred years old, come in the place of the bread; or else, as the most part of you papists teach, of the little thin cake ye make the very same body of Christ that was born of Mary the virgin, and died for us upon the altar of the cross, the bread being turned into the natural flesh of Christ, and the accidents of the bread only remaining, according to the doctrine [of transubstantiation, N.G.] of pope Nicholas and pope Innocent. O wonderful creators and makers! O marvellous fathers, which beget a child older than the father! And, after ye have made him, ye tear him on pieces, ye eat him, ye digest him, and send him down by a very homely place.19
15 Vgl. Read, Eucharist (wie Anm. 13), S. 27; vgl. Becon, Thomas: A Comparison Between ‚The Lordʼs Supper‘ and ‚The Popeʼs Mass‘. 1564. In: Prayers and Other Pieces of Thomas Becon. Hrsg. von John Ayre. Cambridge 1844. S. 353–355. The Digital Library of Classic Protestant Texts. https://tcpt.alexanderstreet.com/cgi-bin/TCPT/hub.py?type=source_details&browse=full&filename=SA0320004.xml&showfullrecord=ON (9.1. 2020), S. 360. 16 Vgl. Barish, Jonas: The Antitheatrical Prejudice. Berkeley, Los Angeles 1981. S. 61. 17 Read, Eucharist (wie Anm. 13), S. 13. 18 Cranmer, Thomas: A Defence of the True and Catholike Doctrine of the Sacrament. London 1550. S. 47, zit. nach Read, Eucharist (wie Anm. 13), S. 13. 19 Becon, Thomas: The Displaying of the Popish Mass. 1559. In: Prayers and Other Pieces of Thomas Becon. Hrsg. von John Ayre. Cambridge 1844. S. 254–286. The Digital Library of Classic Protestant
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Der Kanoniker und Bewunderer Zwinglis Becon vergleicht in A Comparison Between The Lord’s Supper And The Pope’s Mass (1564) die Bibelworte zum letzten Abendmahl Schritt für Schritt mit der katholischen Liturgie und bezeichnet den Pastor als „massmonger, handling his scenical and stage-like supper [...]. And what other thing is this, I pray you, than plain idolatry and a mere worshipping of idols, utterly to be abhorred of all godly persons?“.20 Becon interpretiert auf diese Weise die Gesten, welche in der Messe auf die Wandlung folgen, als Einladung zur Verehrung von Nahrungsmitteln: „The massmonger, as one altogether set upon earthly and worldly things, inflameth and stirreth up such as be present unto earthly, and not unto heavenly things, while that they, lifting up the bread and the wine above their pates, most wickedly set them forth to the people instead of God, to be honoured and worshipped.“21 In dieser ebenfalls weit verbreiteten protestantischen Darstellung der Heiligen Messe als Theateraufführung äußert sich das Bestreben, eine genaue Trennline zwischen Gegenständen und ihrer Zeichenfunktion zu ziehen. Sie ist von der Überzeugung getragen, in der katholischen Liturgie gehe es um die Verehrung von Gegenständen, und sie sei auf die Wirksamkeit weltlicher Rituale fixiert. „Following the logic of Luther’s argument, the ceremony [Mass] must cease to be an act efficacious in itself, and become a symbol, not a vessel, of that grace already given.“22 Eben diese Annahmen greift Ben Jonsons Volpone, or The Fox auf, und setzt eine quasi-religiöse Verehrung von Reichtum und Scharlatanerie in Szene.
3 Volpone, or The Fox Wenig an Ben Jonsons moralischem Lehrstück über Gier, Geiz und Gewissenlosigkeit deutet zunächst auf eine politische oder religiöse Dimension hin. Die Kritik hat die satirische Erbschleicherkomödie lange Zeit nicht in diesen Kontext gestellt, denn die Nähe zur Tierfabel verdeckte die unmissverständlichen Anspielungen auf die religionspolitische Situation unter James I. und auf den Gunpowder Plot.23 In Volpone findet sich (trotz Jonsons Konversion zum Katholizismus 1598) keinerlei Parteinahme für irgendeine Konfession: Richard Dutton zufolge ist Volpone von der unbequemen
Texts. https://tcpt.alexanderstreet.com/philologic/TCPT/navigate/370/table-of-contents/ (9.1.2020), S. 262. 20 Becon, Comparison (wie Anm. 15), S. 357. Immer wieder werden Priester mit Theaterschauspielern verglichen. In The Displaying of the Popish Mass kritisiert Becon die prächtigen liturgischen Gewänder als Theaterkostüme: „But I know not whether your gay, gaudy, gallant, gorgeous game-player’s garments, which ye wear at the mass, are more to be disallowed than your blind and corrupt judgment is to be lamented in the wearing of them.“ (Becon, Mass [wie Anm. 19], S. 260). 21 Becon, Comparison (wie Anm. 15), S. 375. 22 Read, Eucharist (wie Anm. 13), S. 15. 23 Vgl. Dutton, Richard: Ben Jonson, Volpone and the Gunpowder Plot. Cambridge 2008. S. 6.
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Einsicht in die Pluralität religiöser Wahrheiten und ihre Vereinnahmung für politische Zwecke getragen.24 Die Intrigenhandlung belässt religiöse und politische Motive und Semantiken in der Form gelegentlicher Anspielungen, die von Zuschauenden oder Lesenden jedoch zusammengesetzt werden können. Die Hauptfigur Volpone trägt z.B. mit ‚the fox‘ nicht nur den Beinamen des listigen Fabeltiers und den Spottnamen William und Robert Cecils.25 Sie trägt auch die gängige Bezeichnung für Jesuiten, die als Spione und Agenten Spaniens und der katholischen Kirche galten.26 Volpones Listigkeit und Wandelbarkeit lassen die Figur zu einer idealen – da von der Zensur kaum greifbaren – Projektionsfläche für religionspolitische Zuschreibungen werden. Die Referenzen auf katholische und puritanische Praktiken folgen der offiziellen Linie von Krone und Regierung, durch die Konstruktion eines monolithischen ‚Anderen‘ Einigkeit unter den Anglikanern zu stiften. Sie werden jedoch im Gewand einer Auseinandersetzung mit Versatzstücken zeitgenössischer religiöser Mediendebatten zu einer scharfen Kritik der Politisierung von Religion erweitert. Die satirische Komödie spielt im katholischen Venedig, das jedoch nach und nach als Spiegelbild des zeitgenössischen London erkennbar wird. Der alternde Geizhals Volpone, sein Diener Mosca und einige venezianische Bürger, die auf sein Erbe spekulieren, kleiden ihre Gier nach Reichtum in religiöse Semantiken und Gesten. Bereits die erste Szene zeigt Volpone beim Morgengebet, das er an eine Truhe voller Gold richtet. Er spricht das Gold als „my saint [...] the world’s soul, and mine“27 an. Programmatisch für die gesamte Handlung wird es als „dumb God“ angesprochen, der selbst handlungsunfähig ist, aber das primäre Movens menschlicher Handlungen darstellt und als transformative Kraft axiologische Werte (hier Gut und Böse) umzuwerten imstande ist.28 Wenn Volpone das Wort „substance“29 für seinen Besitz verwendet, schwingen die philosophische und die theologische Bedeutung zumindest mit, so dass eine Analogie zur Transsubstantiationslehre aufgerufen wird. In der semantisch-metaphorischen Ausgestaltung der Satire steht das Gold für Materie im weiteren Sinne und schließt auch menschliche Körper ein: Volpone zeigt bezeichnenderweise erst dann Interesse an der Ehefrau einer der Erbschleicher, als sein Diener Mosca sie ihm mit den Worten „Bright as your gold! And lovely as your gold!“30 beschreibt. Mosca soll dann Volpones Geld verwenden und sogar ihn selbst in Münz24 Vgl. Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 119, 237; vgl. Maxwell, Julie: Religion. In: Ben Jonson in Context. Hrsg. von Julie Sanders. Cambridge 2010. S. 229–236, hier S. 229, 232. 25 Vgl. Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 4. 26 Vgl. Yates, Julian: Parasitic Geographies. Manifesting Catholic Identity in Early Modern England. In: Catholicism and Anti-Catholicism in Early Modern English Texts. Hrsg. von Arthur F. Marotti. Houndmills/ Basingstoke 1999. S. 63–84, hier S. 68, 71. 27 Jonson, Ben: Volpone, or The Fox. In: The Cambridge Edition of the Works of Ben Jonson. Bd. 3. Hrsg. von David Bevington [u.a.]. Cambridge 2012. S. 1–191, hier I, 1, Z. 2–3, S. 45. 28 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), I, 1, Z. 22–25, S. 46, 47. 29 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), I, 1, Z. 74, S. 49. 30 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), I, 5, Z. 114, S. 72.
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geld konvertieren, um Celia zu bekommen: „coin me too“ 31. Wenn Volpone und die anderen Figuren den aus christlicher Sicht verwerflichsten Inbegriff des Materiellen, nämlich Gold, anbeten, dann hat diese Substanz tatsächlich die medialen Qualitäten, die in der katholischen Eucharistie Brot und Wein zugesprochen wurden: Es ist sowohl materiell als auch immateriell, es transformiert gleichermaßen Körper und Geist, Werte und Handlungen.32 Auch das Theaterstück im Theaterstück in der zweiten Szene zieht die transformativen Wirkweisen des Spirituellen gegenüber der Materie, Kerndogma der Transsubstantiation, in Zweifel. Zwei Bedienstete Volpones ziehen die pythagoreische Lehre der Seelenwanderung ins Lächerliche und präsentieren eine Niedergangsgeschichte – die Seele wird, der Gesamtanlage als Tierfabel entsprechend, auf ihrer Wanderung immer tierähnlicher und ist zunehmend von Leidenschaften getrieben. Die Hauptfiguren sind allesamt nach fleisch- oder aasfressenden Tieren benannt und verhalten sich entsprechend: Volpone entspricht dem schlauen (Reineke) Fuchs und sein Parasit trägt den Namen Mosca (Fliege); wie der Anwalt Voltore (Geier), der ältere Edelmann Corbaccio (Krähe) und der Händler Corvino (Rabe) sind sie von der Gier nach Gold getrieben, schrecken aber auch vor kannibalistischen Gedanken nicht zurück. Das Kannibalismusmotiv und der dadurch verdinglichte menschliche Körper sind in den folgenden Szenen präsent: Volpone selbst rühmt sich, Menschen nicht wie Korn in Mühlen zu zerreiben, um sich zu bereichern33 und relativiert seine Methode, sich Geschenke zu erschwindeln, als „better than rob churches, yet, / Or fat, by eating once a month a man“.34 Die Beteuerung, kein Menschenfresser zu sein, wird so beiläufig eingestreut, dass diese Praxis ganz alltäglich erscheint – so kann Mosca im vierten Akt dann auch Voltore vorschlagen, den vermeintlich todkranken Volpone mit einem Kissen zu ersticken und, um noch mehr Profit aus seinem Tod zu schlagen, seine Leiche zu Mumienpulver, einem begehrten Heilmittel, zu verarbeiten. Volpone selbst tritt im zweiten Akt als Quacksalber auf, um Celia nahezukommen, und bietet
31 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), III, 4, Z. 23, S. 90. 32 Hörisch sieht in der protestantischen Redefinition des Abendmahls eine Verlagerung der Mittler- oder Medienfunktion von Gegenständen auf Zeichen: „Luther macht aus einer Semontologie eine Ontosemiologie. Nicht die Gewißheit eines Realen bestimmt den Wert der Zeichen, vielmehr verleihen Worte realen Zeichen ihren Wert. Die Korrelationen zwischen Worten und Sachen stiftet nicht länger eine (fetischismusverdächtige) Sache; das Dritte zwischen Worten und Sachen sind vielmehr wiederum Worte, die wertvolle Zeichen einzusetzen vermögen.“ (Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt 1992. S. 121). Das Gold in Volpone ist ein solcher fetischismusverdächtiger Gegenstand. 33 Dies klingt auch in Volpones Selbstpräsentation in der ersten Szene des ersten Akts an, wenn er sich rühmt, seinen Reichtum auf nichtausbeuterische Weise erlangt zu haben – die Einreihung von Menschen in die Aufzählung der Güter, die in Betrieben oder Mühlen zerrieben werden, würdigt sie jedoch zu Material herab: „[I] have no mills for iron, / Oil, corn, or men, to grind ‘em into powder“ (Jonson, Volpone [wie Anm. 27], I, 1, Z.35–36, S. 47). 34 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), I, 5, Z. 91–92, S. 71.
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ein Wundermittel aus (u.a.) menschlichem Fett an.35 Da Volpone in derselben Szene auch die heilenden Qualitäten von Gold herausstreicht,36 wird auch hier die Konvertibilität von Gold in Körper und schließlich in Heil(ung) deutlich. Jonsons Satire geht damit insgesamt über die Mensch-Tier-Analogisierung der klassischen Fabel hinaus: die menschlichen Begierden sind nicht nur animalisch, sondern auch kannibalisch und – wie man in modernen Begriffen sagen würde – fetischistisch, da sie letztlich durch tote Materie entfacht werden und wieder auf diese zielen. Ganz ähnlich hatte Becon das Zelebrieren der Eucharistie als Anfachen der Begierde nach weltlichen Dingen bezeichnet („inflameth and stirreth up such as be present unto earthly, and not unto heavenly things“37) Die Satire zielt allerdings mit diesen Versatzstücken aus der protestantischen Eucharistiekritik (einschließlich der seit Theodor Beza gängigen Verdammung des Abendmahls als Anthropophagie und Theophagie38) nicht oder nicht nur auf eine strikt katholische Praxis und ein katholisches Mediationsverständnis ab. In der Welt Volpones ‚kannibalisieren‘ sich auch die notorisch sektiererischen Puritaner und verzehren „flesh“39, menschliches Fleisch, was Dutton gemäß eine Anspielung auf die Eucharistie darstellt. Jonson folgt hier der offiziellen religionspolitischen Linie nach dem Gunpowder Plot, radikale Protestanten und Katholiken gleichzusetzen. In Volpone werden jedoch weder vermeintlich puritanische noch katholische Praktiken und Dogmen – die Verehrung von Brot und Wein –, sondern eine religiösen Vorstellungs- und Praxismustern analoge Geld- und Machtgier als Kernprobleme der zeitgenössischen Gesellschaft identifiziert.40 Volpone führt in anderen Szenen Religion als Instrument zynischen Machtmissbrauchs vor. Der Kaufmann Corvino stellt das Vorhaben, seine Frau Celia (die einzige wirklich religiöse Figur im Stück) zum Sex mit Volpone zu zwingen, als Akt der Barmherzigkeit und Frömmigkeit dar41 und droht ihr sofort mit grausamen Verstümmelungen, falls sie sich widersetzt. Ihr bleibt nur der Ausweg, sich dies als Martyrium schönzureden42 und den Tauschwert von Gebeten in Anschlag zu bringen: Sie bietet Volpone einen Handel an – wenn er nicht mit ihr schläft, sondern nur ihr Gesicht entstellt, wird sie für ihn beten und seinen guten Leumund aufrechterhalten.43 Eine Nebenfigur präsentiert, mit deutlichen historischen Bezügen, Konfessionalität als
35 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), II, 2, Z. 132, S. 85. 36 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), II, 2, Z. 80, S. 83. 37 Becon, Comparison (wie Anm. 15), S. 375. 38 Vgl. Hoffmann, George: Anatomy of the Mass. Montaigneʼs ‘Cannibals’. In: Publications of the Modern Language Association of America (PMLA) 117, 2 (2002). S. 207–221, hier S. 209–210. 39 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), I, 2, Z. 42–46, S. 52; vgl. Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 55. 40 Vgl. Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 102. 41 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), III, 7, Z. 64–66, S. 115. 42 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), III, 7, Z. 107, S. 117. 43 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), III, 7, Z. 257–259, S. 124.
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opportunistische Entscheidung,44 und die Nebenhandlung um einige englische Reisende in Venedig erweitert den moralistischen Blickwinkel um die allgemeinere Beobachtung einer Politisierung von Religion. Die Figur Sir Politic-Would-Be als Verkörperung der leichtgläubigen englischen Öffentlichkeit wittert sogleich eine spanische Verschwörung, als er in Venedig von der Sichtung eines Wals in der Themse erfährt.45 Er verdächtigt daraufhin einen verstorbenen Narren der Spionage und nimmt an, dieser habe kodierte Instruktionen in Form von Obst- und Gemüselieferungen aus den katholischen Niederlanden erhalten sowie während eines Essens in Venedig Geheiminformationen durch die Anordnung der Fleischstücke auf seinem Teller verschlüsselt und übermittelt.46 Die Ratschläge, die er dem englischen Neuankömmling Peregrine im vierten Akt für seinen Aufenthalt in Venedig erteilt, lassen sich leicht auf die Situation in London nach dem Gunpowder Plot übertragen: Man könne sich dem Verdacht, ein Verschwörer zu sein, entziehen, wenn man weder Geheimnisse verrate noch die Wahrheit sage, nicht fabuliere und seine Zunge im Zaum halte.47 Auf keinen Fall solle Peregrine eine Konfessionszugehörigkeit offenbaren: „And then for your religion, profess none,/ But wonder at the diversity of all“.48 Jonson greift hier die von der katholischen Kirche als letzten Ausweg gutgeheißene Technik der equivocation auf, das Verschweigen potenziell inkriminierender Details vor Gericht und den von Jonson selbst praktizierten church papism, die Praxis des äußerlich konformen Besuchs der anglikanischen Messe bei gleichzeitiger Treue zur katholischen Kirche.49 Auch hier trifft die satirische Kritik die politische Instrumentalisierung religiöser Konflikte: Es wird deutlich, dass dubiose Praktiken der Religionsausübung erst unter politischem Druck entstehen. Für Richard Dutton verdichtet sich in der allegorischen Figur Sir Politics eine „post-Gunpowder-Plot paranoia in England“.50 Sir Politic beachtet seine eigenen Ratschläge nicht, so dass Peregrine ihm einen Strick aus seinem leichtfertigen Gerede darüber dreht, wie man ohne weiteres mit einer Zunderbüchse ins venezianische Arsenal spazieren und es in die Luft jagen könne. Die von Misstrauen und Angst geprägte Öffentlichkeit verkörpert Sir Politic, als er sich schließlich in einem Schildkrötenpanzer verkriecht. In der Nebenhandlung 44 Auch in der Spielszene im ersten Akt erscheint das Annehmen der protestantischen Konfession als Akt des Opportunismus, der zudem aus Dummheit und Misanthropie heraus geschieht: „how of late thou hast suffered translation, / And shifted thy coat in these days of reformation?“ (Jonson, Volpone [wie Anm. 27], I, 2, Z. 29–30, S. 51). Die Seele wird auf ihrer Station in einem Puritaner sowohl mit einem Esel als auch einem betrügerischen Kannibalen verglichen. „Into a very strange beast, by some writers called an ass; / By others, a precise, pure, illuminate brother/ Of those devour flesh, and sometimes one another, and will drop you forth a libel, or a sanctified lie, / Betwixt every spoonful of a nativity-pie.“ (Jonson, Volpone [wie Anm. 27], I, 2, Z. 42–46, S. 52). 45 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), II, 1, Z. 50–51, S. 76. 46 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), II, 1, Z. 68–73, Z. 78–84, S. 77. 47 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), IV, 1, Z. 13–17, S. 130. 48 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), IV, 1, Z. 22–23, S. 130. 49 Vgl. Sharpe, November (wie Anm. 2), S. 21; Maxwell, Religion (wie Anm. 24), S. 231. 50 Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 65, vgl. S. 110.
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werden so die Mechanismen und Effekte von religionspolitischer Repression herausgestellt, ohne konfessionelle Glaubenssätze zu bewerten oder auch nur zu thematisieren. Die Spekulation um die zeichenhafte Bedeutung von Dingen, die Sir Politic mit so großer Energie vorantreibt, zeigt, dass eine zunächst in interkonfessionellen Disputen problematische Zeichenpraxis auch in einem politischen Kontext zentral werden kann; die transformierende Macht des Goldes zeigt, dass religionsanaloge Vorstellungen und Praktiken mit Materiellem gesellschaftliche Verhältnisse prägen. Was aber qualifiziert das Theater als Medienkonfiguration dazu, eine solche kritisch-distanzierende Rückführung von Versatzstücken interkonfessioneller Streitigkeiten auf anthropologische Dispositionen einerseits und auf eine repressive Staatsmacht andererseits vorzunehmen? Die Selbstpositionierung des Theaters in Volpone macht sich Elemente der religiös motivierten, aber auch der platonischen Vorwürfe gegen das Theater zunutze. Mehrere Szenen führen die täuschenden (also epistemologisch suspekten) und die transformierenden (also Ontologien destabilisierenden) Funktionen des Theatralischen vor. Volpone spielt bereits im ersten Akt den Todkranken, um Geschenke und Vergünstigungen zu erhalten; er tritt im zweiten Akt als Scharlatan und Quacksalber auf, um Celia zu verführen; präsentiert sich als unendlich wandelbare Proteusfigur, als er Celia schließlich in seinem Schlafzimmer hat; und führt im fünften Akt mit Voltore ein Schauspiel vor den venezianischen obersten Richtern auf, um sich, des Betrugs überführt, der Verurteilung zu entziehen: Voltore, der Anwalt, spielt den Besessenen und Volpone den Exorzisten. Auch Exorzismen standen als vermeintlich jesuitische und puritanische religiöse Praktiken seit 1603 im Zentrum religionspolitischer Aufmerksamkeit, und ihre Kontrolle war Dutton zufolge ein weiteres Argument für den Ausbau staatskirchlicher Autorität.51 Ebenso wie die Eucharistie wurde auch das Exorzismusritual als unglaubwürdiges Theater gebrandmarkt, so etwa 1599 von Samuel Harsnett. Er war der auch für Theaterzensur zuständige Mitarbeiter des Bischofs von London, Richard Bancroft. Greenblatt argumentiert, Jonas Barishs Gedanken zu Jonson folgend, Volpone nehme direkt auf Harsnett Bezug und laufe auf eine antitheatralische Haltung hinaus. „Exorcisms, argues Harsnett, are stage plays, most often tragicomedies, that cunningly conceal their theatrical inauthenticity and hence deprive the spectators of the rational disenchantment that frames the experience of a play.“52 Dieser Argumentation kann ich nur bedingt folgen, denn viele der metatheatralischen Referenzen in Jonsons Satire sind nicht notwendigerweise antitheatralisch: Sie zielen darauf ab, genau jene ‚rationale Entzauberung‘ von betrügerischer Theatralität zu leisten, welche das Gezeigte als Fiktion der Reflexion zugänglich macht. Der fünfte Akt schließt überdies nicht mit dem Richterspruch, sondern überlässt das letzte Wort über die jeweiligen Verhältnisse von Moral und Unmoral, Wahrheit und Fiktion Volpone, der Verkörperung des listigen, proteischen Flunkerers und vielleicht des Theatralischen selbst. Er 51 Dutton, Jonson (wie Anm. 23), S. 124. 52 Greenblatt, Stephen: Loudun and London. In: Critical Inquiry 12 (1986). S. 326–346, hier S. 338.
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fordert – wie viele Figuren in anderen Stücken Jonsons – die Zuschauenden auf, sich ein eigenes Urteil über das Gesehene zu bilden.53 Eine ähnliche Zielrichtung verfolgt die Überzeichnung der hermeneutischen Anstrengungen in der Nebenhandlung. Sir Politic, der übereifrig nach Geheimbotschaften in Gemüselieferungen suchte, wird selbst zum Opfer der böswilligen Auslegung seines leichtfertigen Geredes von Zunderbüchsen im Arsenal und dem Verkauf Venedigs an die Türken. Die Episode gewinnt eine deutlich medien- und theaterreflexive Dimension, als der Beschuldigte schließlich beteuert, diese (neben offensichtlichen Trivialitäten) auch in seinen Notizbüchern verzeichneten plots seien bloß Exzerpte aus Theaterstücken und Essays gewesen.54 Die Nebenhandlung verweist damit auf Theaterskandale wie die Aufführung von Shakespeares Richard II am Vorabend der Essex-Rebellion 1601 oder die erst im August 1605 durchgesetzte Absetzung der Komödie Eastward Ho!, für die sich Jonson, George Chapman und John Marston auch vor Gericht verantworten mussten. Zugleich wird deutlich, dass politische Brisanz erst in Theaterstücke hineingelesen werden muss. In der Vorrede (‚The Epistle‘), die Jonson der Druckfassung des Stücks von 1607 voranstellte, finden sich eine Verteidigung der Satire und das Argument, jede Äußerung könne absichtlich missverstanden werden („nothing can be so innocently writ or carried, but may be made obnoxious to construction“55) und Böswilligkeit könne jede noch so simple Bedeutung verdrehen. Dieser Hinweis, dass die jeweilige Bedeutung einer Äußerung immer auch eine Zuschreibung durch die Adressat*innen ist, lässt sich – wie der doppeldeutige Ausdruck plot nahelegt – auf das Theater übertragen. Sobald sie in den fiktionalen Raum der Theateraufführung eintreten, liegt es bei den Rezipienten, plots als erfundene Handlungen oder Referenzen auf politische Aussagen oder Bedrohungen aufzufassen. Das Theater kann nicht über Wahrheit und Lüge oder über das Für und Wider religionspolitischer Positionen entscheiden, es kann aber – so wie Jonson es in der Mehrstimmigkeit von Haupt- und Nebenhandlung anlegt – die Bedingungen freilegen, auf denen solche Unterscheidungen und Festlegungen beruhen. Volpone, or The Fox folgt also der offiziellen religionspolitischen Linie nach dem Gunpowder Plot, wenn sowohl Katholiken als auch radikalen Protestanten dieselben Dispositionen und Praktiken unterstellt werden: Niedertracht, Starrsinn, Lüsternheit und Materialismus. Jonsons satirische Komödie beschwört dieses Negativbild allerdings nicht herauf, um den Anglikanismus als Staats- und Nationalreligion zu affirmieren, sondern um eine humanistische Alternative zu entwerfen. Die Muster der protestantischen Kritik an der Eucharistie und an Exorzismusritualen werden nicht im Sinne einer konfessionellen Parteinahme aufgegriffen, sondern zu Vehikeln der Kritik an einer Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Religion und Theater durch die Politik umgeformt. Die Position, die das Stück den Zuschauenden nahe53 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), V, 12, Z. 156, S. 187. 54 Vgl. Jonson, Volpone (wie Anm. 27), V, 4, Z. 42–43, S. 166. 55 Jonson, Volpone (wie Anm. 27), S. 29.
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legt, ist eine Position außerhalb von politischen Interessen und religiöser Zugehörigkeit, wie sie im frühneuzeitlichen Humanismus vorgezeichnet wird. Damit entwickelt Jonson die ursprünglich in interkonfessionellen Debatten aufgeworfene Fragestellung nach der Relation von Dingen und Zeichen weiter und trägt sie über religiösdogmatische Dimensionen hinaus in eine Neuverhandlung des Theaters als Medium humanistischer Aufklärung.
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Theaterfeindschaft ohne Grenzen Interkonfessioneller Wissenstransfer in Theaterdebatten des späten 17. Jahrhunderts „[U]n poète de théâtre est un empoisonneur public, non des corps mais des âmes des fidèles, qui se doit croire coupable d’une infinité d’homicides spirituels, ou qu’il a causés en effet, ou qu’il a pu causer par ses écrits pernicieux […]“.1 Diese vehemente Verurteilung von Dramatikern als Seelenvergifter und geistige Mörder ist keineswegs ein Einzelfall im Europa des 17. Jahrhunderts. In der Tat sind die Zeilen, die der Jansenist Pierre Nicole 1667 verfasste, eher ein typisches Zeugnis für die unnachgiebige Haltung religiös motivierter Theatergegner, die vielerorts anzutreffen war. Welche Vorstellungen über die fatale Wirksamkeit des Mediums Theater unter Theatergegnern in Europa zirkulierten und oft über konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg diskutiert wurden, ist Thema der folgenden Ausführungen. Das Beispiel der konkreten Verbindungen zwischen französischer und deutscher Theaterfeindlichkeit im ausgehenden 17. Jahrhundert ermöglicht einen geschärften Blick auf religiöse Medienkonflikte als grenzüberschreitende Phänomene.2 Im frühneuzeitlichen Europa entzündeten sich Debatten über die Legitimität des Theaters vor allem in Gebieten, in denen radikale christliche Strömungen Einfluss auf das kulturelle Leben nahmen: Englische Puritaner verdammten das elisabethanische Theater Marlowes und Shakespeares, Calvinisten bewirkten die Schließung von städtischen Theatern in den Niederlanden und der Schweiz, Jansenisten forderten den großen französischen Dramatiker Racine zu einer ganzen Serie von Verteidigungsschriften heraus, während Pietisten in deutschen Landen die lutherische Toleranz gegenüber Schauspielen grundlegend in Frage stellten. Trotz ihrer unterschiedlichen Einbettung in bestimmte politische und sprachliche Kontexte war diesen Bewegungen ein besonderes Interesse an der medialen Verfasstheit von Theater gemein. Kernpunkt der Auseinandersetzung war die Frage, ob sich öffentliche Schauspiele zur Vermittlung christlicher Inhalte eignen, oder ob sie zumindest als harmloser Zeitvertreib gelten dürfen. So übereinstimmend negativ die Beantwortung dieser Frage auch ausfiel: in den Ausführungen der Theatergegner findet sich eine Vielzahl von Beobachtungen und Reflexionen zum Medium Theater, die erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrer modernen Sprengkraft verstanden wurden. So benutzte etwa Antonin Artaud bewusst die Begrifflichkeit der frühneuzeitlichen Theatergegner, um 1 Nicole, Pierre: L’hérésie imaginaire. Brief XI. Auszugsweise zitiert in: Ders.: Traité de la comédie et autres pièces d’un procès du théâtre. Hrsg. von Laurent Thirouin. Paris 1998. S. 219. 2 Die Forschungsarbeiten zur vorliegenden Studie wurden durch ein Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung ermöglicht. https://doi.org/10.1515/9783110725193-007
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die Wechselwirkungen zwischen Schauspielern und Zuschauern als unkontrollierbaren Prozess darzustellen, bei dem kreative Energien freigesetzt werden.3 Auf proto-moderne Aspekte der frühneuzeitlichen Texte gegen das Theater haben Forschungsarbeiten in den letzten Jahren verstärkt hingewiesen und dabei betont, wie wegweisend die Überlegungen der Theatergegner zur körperlich-seelischen Wirkung von Schauspielen für aktuelle medientheoretische Debatten sind.4 Die Notwendigkeit einer komparatistischen, transnational angelegten Erforschung der Theaterfeindlichkeit ist gerade in jüngster Zeit erkannt, aber bisher nur ansatzweise erfüllt worden.5 Studien, die ihren komparatistischen Anspruch wirklich einlösen, sind rar und – wie etwa Jonas Barishs Titel The Anti-Theatrical Prejudice (1981) verrät – nicht selten voreingenommen in ihrer Auffassung von Theatergegnern als ideologisch verblendeten Feinden der Künste.6 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag zur Erforschung der Theaterfeindlichkeit als mediengeschichtliches Phänomen im Europa der frühen Neuzeit. Dabei soll am Beispiel der Rezeption eines jansenistischen Traktats im deutschen Pietismus gezeigt werden, dass die Parallelen in der Argumentation von Jansenisten und Pietisten anders zu erklären sind als durch den üblichen, aber etwas zu offensichtlichen Verweis auf die Verwendung derselben maßgeblichen Quellentexte, etwa von Augustinus oder Tertullian. Mir ist vor allem daran gelegen, zu zeigen, dass es konkrete, wenn auch oft verdeckte Verbindungen zwischen radikalen katholischen und protestantischen Strömungen gab. Der theaterfeindliche Diskurs wurde über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg entwickelt.
3 Vgl. Artaud, Antonin: Le Théâtre et la peste. In: Ders.: Le Théâtre et son double. Paris 1938. S. 15–33. Zu Parallelen zwischen Artaud und den französischen Theatergegnern des 17. Jahrhunderts, vgl. Thirouin, Laurent: L’Aveuglement salutaire. Le réquisitoire contre le théâtre dans la France classique. Paris 1997. S. 128–130. 4 Vgl. Kolesch, Doris: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt, New York 2006. S. 152–153; Thirouin, L’Aveuglement salutaire (wie Anm. 3), S. 254–256, 262–263; Diekmann, Stefanie [u.a.]: Theaterfeindlichkeit. Anmerkungen zu einem unterschätzten Phänomen. In: Theaterfeindlichkeit. Hrsg. von Stefanie Diekmann [u.a.]. München 2012. S. 7–15, insbes. S. 9. 5 Typisch für die jüngsten transnational angelegten Bände zur Theaterfeindlichkeit ist, dass einer komparatistisch gehaltenen Einleitung einzelne Beiträge folgen, die das Phänomen in begrenzten kulturellen und sprachlichen Kontexten schildern. Vgl. Lecercle, François u. Clotilde Thouret (Hrsg.): La Haine du théâtre. Controverses européennes sur le spectacle. 2 Bde. Toulouse 2019. 6 Barish, Jonas: The Antitheatrical Prejudice. Berkeley, Los Angeles 1981. Stellvertretend für Studien, welche die Gegner des Theaters als „Feinde der Künste“ darstellen, vgl. Thomke, Hellmut: Die Kritik am Theaterspiel im Pietismus, Jansenismus und Quietismus. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hrsg. von Hartmut Lehmann [u.a.]. Göttingen 2002. S. 159–171, hier S. 159.
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1 Pierre Nicoles De la comédie als Schlüsseltext der querelle de la moralité du théâtre Im Frankreich des 17. Jahrhunderts finden sich Überlegungen zur potentiell gefährlichen Wirkung des Theaters in jenem langen Schlagabtausch, der als querelle de la moralité du théâtre im kulturellen Gedächtnis Frankreichs verankert ist. Diese querelle, die mit Rousseaus Lettre à d’Alembert sur les spectacles (1749) einen vorläufigen Endpunkt erreicht, hat ihren eigentlichen Höhepunkt in der Zeitspanne von 1660 bis 1670.7 In diesem Jahrzehnt erschien ein Schlüsseltext der französischen Debatte um die Legitimität des Theaters: De la comédie8 des jansenistischen Pädagogen Pierre Nicole. 1667 als Teil einer polemischen Streitschrift erstmals publiziert, wurde der Text vor allem in seiner zweiten, überarbeiteten Fassung rezipiert und übersetzt. Ab 1675 ein fester Bestandteil von Nicoles Essais de morale, gilt De la comédie als Hauptstück der jansenistischen Theaterkritik und – zusammen mit Pascals Lettres Provinciales (1656–1657) und Pensées (1670) – als typisches Zeugnis der Spiritualität Port-Royals. Durch Nicoles taktische Entscheidung, den Text aus seinem ursprünglichen polemischen Zusammenhang herauszulösen und als allgemeingültige moralische Reflexion zum Thema Theater seinen anderen Essays zur Seite zu stellen, erreichte der Text europaweit einen großen Bekanntheitsgrad. Jenseits der Grenzen Frankreichs war diese Schrift Nicoles leichter zugänglich als andere zeitgenössische französischsprachige Texte gegen das Theater, wie etwa der Traité de la comédie et des spectacles (1666) des Prinzen von Conti. De la comédie wurde auch deshalb ein erfolgreicher Text, weil Nicole – im Gegensatz zu Conti und einer Vielzahl religiöser motivierter Theatergegner – bewusst darauf verzichtete, seiner Argumentation durch eine ermüdende Kompilation von Bibelstellen und Kirchenväter-Zitaten Autorität zu verleihen. Wie Pascal verstand es Nicole, religiöse Reflexionen in einem leicht zugänglichen, einprägsamen Stil zu formulieren. De la comédie beginnt mit dem programmatischen Anspruch, das Theater nur auf Grundlage seiner kulturellen Praxis zu beurteilen. Dieser notwendigen Beobachtung der konkreten Theaterkultur stellt Nicole im Vorwort die idealisierende Methode der Theaterfreunde gegenüber, die er wie folgt charakterisiert: Le moyen qu’emploient pour cela ceux qui sont les plus subtils est de se former une certaine idée métaphysique de Comédie, et de purifier cette idée de toute sorte de péché. La Comédie, disent-ils, 7 Die wichtigsten Texte der querelle aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind in Laurent Thirouins Ausgabe von Nicole, Traité de la comédie et autres pièces (wie Anm. 1) zusammengestellt. Eine weit umfangreichere, mittlerweile mehr als 150 Texte umfassende Edition von theaterfeindlichen Texten aus Frankreich ist digital zugänglich. Lecercle, François u. Clotilde Thouret (Hrsg.): Haine du théâtre. obvil.sorbonne-universite.site/corpus/haine-theatre/ (12.8.2020). 8 Der Begriff „comédie” bezog sich im französischen Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts auf alle theatralischen Gattungen; in diesem Sinne wäre „De la comédie” heute am besten mit „Über das Theater“ zu übersetzen.
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est une représentation d’actions et de paroles comme présentes; quel mal y a-t-il en cela? Et après avoir ainsi justifié leur idée générale de Comédie, ils croient avoir prouvé qu’il n’y a point de péché aux Comédies ordinaires, et ils y assistent ensuite sans scrupule. Mais le moyen de se défendre de cette illusion est de considérer au contraire la Comédie, non dans une spéculation chimérique, mais dans la pratique commune et ordinaire dont nous sommes témoins.9
Verknüpft mit der Vorstellung einer Gemeinschaft von Autor und Leserschaft ist der Begriff der konkreten Zeugenschaft in Nicoles Traktat sehr aufschlussreich und aus der Sicht der heutigen Theaterwissenschaft auch überaus modern.10 Von Pascals Lettres Provinciales, die Nicole ins Lateinische übersetzt hatte, übernimmt Nicole den schmeichelnden Appell an die Leser als intelligente Zeugen. Der Text verspricht ihnen, dass sie sich nur ihres Verstandes zu bedienen brauchen, um die rhetorische Ummantelung zeitgenössischer Praktiken als heuchlerisch zu durchschauen. Die Idee einer Gemeinschaft von Autor und Lesern wird durch die durchgängige Verwendung des Pronomens nous bestätigt und der angeblich manipulativen Gemeinschaftserfahrung zwischen Akteuren und Zuschauern (die mit ceux bezeichnet werden) gegenübergestellt. So innovativ der betonte Anspruch auf einer kritischen Beobachtung der Theaterpraxis für eine theaterfeindliche Schrift auch war: er sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nicoles De la comédie diesen Anspruch nicht wirklich einlöst. Zeitgenössische Aufführungspraktiken werden nirgends bezeugt, und auch Nicoles Briefe enthalten keine Hinweise darauf, dass seine Ausführungen die eigene Erfahrung von zeitgenössischen Theateraufführungen miteinschließen. Tatsächlich basieren Nicoles Thesen zum Theater vor allem auf zeitgenössischen theoretischen Diskursen über Körperlichkeit und Wahrnehmung, auch wenn die Quellen dieser Diskurse bewusst nicht genannt werden. Eine derartige Diskrepanz zwischen erklärtem Anspruch und tatsächlicher Methode ist in der querelle de la moralité du théâtre nicht selten. Auf der einen Seite gibt es Autoren wie Conti, die eine langjährige und eingehende Kenntnis der zeitgenössischen Theaterpraxis besaßen, aber nach einer religiösen Bekehrung dem Theater abschworen und dramatische Praktiken nicht im Rückgriff auf ihre konkrete Erfahrung, sondern mithilfe von Zitaten der Kirchenväter beschrieben. Auf der anderen Seite steht die kleinere Gruppe von Autoren wie Nicole, welche die theologischen und philosophischen Quellen ihrer Reflexion über das Theater in den Hintergrund stellen und die Aufmerksamkeit des Lesers auf den angeblich konkreten Erfahrungshorizont des Autors lenken. Bezeichnenderweise werden in De la comédie Thesen über die konkrete Wirkungskraft von Schauspielen vor allem anhand von Zitaten aus Corneilles Dramen entwickelt. Ohne Zweifel ist Nicoles epistemischer Zugang zum Theaterprozess das gelesene Drama. 9 Hier und im Folgenden wird aus der zweiten, 1675 erschienenen Fassung zitiert, da diese im deutschen Sprachraum breiter als die erste Fassung rezipiert wurde und als Grundlage für die ersten Übersetzungen ins Deutsche diente. Nicole, Pierre: De la comédie. In: Ders., Traité de la comédie et autres pièces (wie Anm. 1), S. 32–111, hier S. 33f. 10 Vgl. Kolesch, Theater der Emotionen (wie Anm. 4), S. 153.
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Ein zentraler Gedanke von De la comédie ist die Idee, dass sich Dramentexte von anderen Texten dadurch unterscheiden, dass sich bei ihrer Aufführung der Rezeptionsprozess nicht steuern lässt. Folglich hätten insbesondere Autoren von Theaterstücken die Wirkung ihrer Werke nicht in der Hand: „L’auteur […] arrête où il veut [l’impression de la passion] dans ses personnages par un trait de plume; mais il ne l’arrête pas de même en ceux en qui il l’excite.“11 Ansatzweise sah Nicole ein ähnliches Phänomen auch beim Roman, wie einige kurze Stellen in seiner Schrift belegen. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Interaktion zwischen Schauspielern und Zuschauern einerseits, und den Reaktionen des einzelnen Zuschauers in der Menge andererseits. Nicole zufolge entfalten Schauspiele eine emotionale Eigendynamik, die sich beim bloßen Lesen eines dramatischen Textes nicht voll entfaltet. Die Unterscheidung zwischen Drama als Lesetext und Theater als affektgeladenem Schauspiel wurde von dem Dramatiker Jean Racine, Nicoles ehemaligem Schüler an Port-Royal, als irreführend kritisiert.12 Sie folgt jedoch schlüssig aus der Sprachtheorie Port-Royals und bildete einen der Grundsätze der jansenistischen Pädagogik, welche zwar die Lektüre und Übersetzung von dramatischen Werken fördert, nicht aber deren Deklamation oder szenische Aufführung.13 Grundlegend für die jansenistische Theaterkritik ist Antoine Arnaulds und Nicoles Zeichentheorie in Logique ou l’art de penser (1662) (im deutschen Sprachraum als Logik von Port-Royal bekannt), und insbesondere ihre Unterscheidung zwischen dem geschriebenen und gelesenen Wort einerseits, und dem gesprochenen und gehörten Wort andererseits. Bestimmte religiöse Praktiken an Port-Royal, wie die Bevorzugung von einstimmigem gegenüber mehrstimmigem Gesang und die Debatte um den Vorzug des stillen Betens (oraison mentale) gegenüber dem lauten Beten, sind nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.14 Das geschriebene Wort, so Nicole, eigne sich besser zur klaren und eindeutigen Kommunikation, während sich die sinnlichen Komponenten des gesprochenen Wortes vor den Inhalt schieben und diesen dabei potentiell mehrdeutig oder unverständlich machen. Laut den Essais de morale könnten durch die körperliche Absenz des Autors Leser ihre rationalen Fähigkeiten optimal gebrauchen, während die körperliche Präsenz eines Sprechers eine körperliche Reaktion der Zuhörer auslöst und den Sinnen das Urteil überlässt. Laut Nicole löst das gesprochene Wort also vor allem eine affektive Reaktion aus, die es 11 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 41. 12 Vgl. Racine, Jean: Lettre à l’auteur des hérésies imaginaires et des deux visionnaires [1666]. In: Nicole, Traité de la comédie et autres pièces (wie Anm. 1), S. 225–232, insbes. S. 228. 13 Vgl. Delforge, Frédéric: Les Petites Ecoles de Port-Royal. 1637–1660. Paris 1985; Hammond, Nicholas: Fragmentary Voices. Memory and Education at Port-Royal. Tübingen 2004 (Biblio 17). 14 Zur Debatte um die oraison mentale unter Jansenisten, insbesondere zwischen Pierre Nicole und Martin de Barcos, vgl. James, Edward Donald: Pierre Nicole, Jansenist and Humanist. A Study of His Thought. The Hague 1972. S. 78–81. Zur übergreifenden Debatte über die menschliche Stimme als Träger von Affekten im Frankreich des 17. Jahrhunderts, vgl. Salazar, Philippe-Joseph: Le Culte de la voix au XVIIe siècle. Formes esthétiques de la parole à l’âge de l’imprimé. Paris 1995, insbes. S. 127–140.
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zu vermeiden gilt. In diesem Zusammenhang taucht in den Essais de morale häufig die Beschreibung von Zuhörern auf, die einer Rede schutzlos ausgeliefert sind. So charakterisiert Nicole in seinem Traktat über christliche Wachsamkeit gesprochene Worte als Dinge, die die körperlichen Organe treffen und sich der schutzlosen Seele aufzwingen: „[…] ces objets frappant les organes du corps, forcent l’âme de s’appliquer à eux, sans qu’elle s’en puisse ordinairement défendre.“15 Diese Vorstellung des gesprochenen Wortes als Fremdkörper, der zuerst in den eigenen Körper und dann in die Seele eindringt, ist typisch für die jansenistische Auffassung von Sinneseindrücken, die augustinische und cartesische Argumente vereint. Was das Auge sieht, was das Ohr hört, wird als haptisches Phänomen beschrieben, bei dem die Distanz zwischen Akteur und passivem Rezipienten aufgehoben ist. Unter den Bestandteilen, die den Theaterprozess als eigenständige Kunstform charakterisieren, ist Nicole vor allem an Körperlichkeit und Wahrnehmung interessiert. Dass bei Schauspielen die Grenzen zwischen Schauspielern und Zuschauern aufgehoben sind, ist eines der zentralen Argumente von De la comédie und zugleich dasjenige mit der längsten Wirkungsgeschichte. Nicole vertritt eine naturalistische Schauspieltheorie und behauptet dementsprechend, dass diejenigen, die eine Leidenschaft darstellen, von ihnen affiziert sein müssen: „Il faut donc que ceux qui représentent une passion d’amour en soient en quelque sorte touchés pendant qu’ils la représentent […]“.16 In der Folge beschreibt Nicole die Vorgänge im Theaterraum als einen wechselseitigen Steuerungsprozess zwischen Akteuren und Zuschauern, dessen Beginn weder kausal noch zeitlich genau feststellbar ist, weil er letzten Endes in der Erbsünde begründet liegt. Zwar prägen sich die Affekte der Akteure den Zuschauern stark ein, aber dieser Übertragungsprozess ist nur deshalb möglich, weil im Schauspiel die latent immer schon vorhandenen aber im gesellschaftlichen Leben unterdrückten Affekte der Zuschauer angesprochen und ausgedrückt werden. Letzten Endes laufen die Überlegungen sowohl von Nicole als auch anderen jansenistischen Theaterkritikern darauf hinaus, dass das theatralische Spiel als äußerliche Darstellung einer verborgenen menschlichen Interiorität aufzufassen ist. So beschreibt zum Beispiel Nicolas Varet, ein enger Vertrauter Nicoles, dass die Schauspieler nur das darstellen, was bei den Zuschauern im Verborgenen vor sich gehe: „[…] bien souvent les acteurs ne font que représenter ce qui se passe secrètement entre ceux et celles qui les regardent.“17 Aus Nicoles Briefwechsel wird deutlich, dass er in diesem Ansprechen von sonst nur latent vorhandenen psychischen Tendenzen die Schlüsselfunktion des Theaters sieht, zum Beispiel wenn es Dramatikern gelingt, den inneren Hochmut der Menschen unverstellt zu zeigen. In diesem Zusammen15 Nicole, Pierre: Traitté de la vigilance chrestienne. In: Ders.: Essais de morale. Bd. 4. Paris 1678. S. 271–364, hier S. 276. 16 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 37. 17 Varet, Nicolas: De l’Education chrétienne des enfants. In: Nicole, Traité de la comédie et autres pièces (wie Anm. 1), S. 167–183, hier S. 178f.
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hang verteidigt Nicole paradoxerweise Corneilles Stück Le Cid mit dem Hinweis, dass bestimmte schockierende Verse des Dramas notwendig seien zur Darstellung des verborgenen Hochmuts, des „orgueil intérieur tel qu’il est dans le fond du cœur, où il ne se déguise pas.“18 Neben der Wechselwirkung zwischen Akteuren und Rezipienten ist eine weitere Grundfrage Nicoles, welche Eindrücke die sinnlichen Wahrnehmungen beim Publikum zurücklassen, und ob man sich seiner bleibenden Eindrücke bewusst sein kann. In vieler Hinsicht ist es Ziel von De la comédie, das unzuverlässige Urteilen der Zuschauer über ihre eigene Wahrnehmung von Schauspielen zu korrigieren. Zuschauer, so Nicole, täuschten sich oft selbst vor, der Theaterbesuch sei ein flüchtiges und unschuldiges Vergnügen, das keinerlei Spuren hinterlasse: „On se trompe fort en croyant que la Comédie ne fait aucune mauvaise impression sur soi parce que nous ne sentons point qu’elle excite en nous aucun mauvais désir.“19 Dieser Selbstbetrug ist überhaupt erst möglich, weil sich die Wirkungskraft des Theaters, das Leidenschaften darstellt, nur langsam entfaltet: Il y a bien des degrés avant que d’en venir à une entière corruption d’esprit et de cœur, et c’est toujours beaucoup nuire à l’âme que de ruiner les remparts qui la mettaient à couvert des tentations. C’est beaucoup lui nuire que de l’accoutumer à regarder ces sortes d’objets sans horreur et avec quelque sorte de complaisance, et de lui faire croire qu’il y a du plaisir à aimer et à être aimé. L’aversion qu’elle en avait lui servait de dehors qui fermaient l’entrée au diable et quand ils sont ruinés par la Comédie, il y entre ensuite facilement. Il y a souvent longtemps que l’on commence à tomber quand on vient à s’en apercevoir. Les chutes de l’âme sont longues; elles ont des préparations et des progrès, et il arrive souvent qu’on ne succombe à des tentations que parce qu’on s’est affaibli dans des occasions de peu d’importance.20
Wurde das sexuell konnotierte Bild einer belagerten und eroberten Stadt in theaterfeindlichen Schriften nicht selten verwendet, so stellt Nicoles Schrift die Geschlechterrollen beim Theaterprozess anders dar als die Mehrzahl vergleichbarer Texte es tun. Viele zeitgenössische Theaterfeinde beschrieben das Theater als Verführung von Männern durch sich prostituierende Schauspielerinnen und die Wirkung des Theaters auf die Gesellschaft als verweiblichend. Bei Nicole findet sich durchaus die gängige Beschreibung des lasterhaften Lebenswandels von Schauspielerinnen, aber sein Hauptinteresse gilt doch den psychischen Vorgängen, bei deren Beschreibung er die menschliche Seele als weiblich konnotiert darstellt. Mit einem Rückgriff auf christlich-stoizistisches Gedankengut und dem Bild der inneren Festung wird den zahlreichen weiblichen Lesern der Essais de morale nahegelegt, sich vor dem Eindringen des Bösen nur durch strenge Selbstdisziplin und ein Unterlassen von Theaterbesuchen schützen zu können. 18 Nicole, Pierre: Lettre CII. A Madame de La F. In: Ders., Traité de la comédie et autres pièces (wie Anm. 1), S. 116–119, hier S. 118. 19 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 47. 20 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 47f.
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Die drei Metaphernfelder, mit denen Nicole den theatralischen Prozess beschreibt – Theater als Belagerung und Eroberung, Theater als Gift, Theater als Prozess der Ansteckung –, haben gemeinsam, dass sie sich besonders für die Beschreibung von Langzeitprozessen eignen. In seiner Verwendung dieser drei unter Theatergegnern verbreiteten Vergleiche betont Nicole die schleichende, unmerkliche Wirkung der Rezeption von Schauspielen. Interessanterweise erscheint dadurch das Präsenzmedium Theater als ein Medium, das seine volle Wirkung nicht in der gleichzeitigen Anwesenheit von Akteuren und Rezipienten entfaltet. Vielmehr ist es Nicole darum zu tun, das entscheidende Ereignis der Theatererfahrung als die Zeit nach dem Theaterbesuch umzudeuten, als Zeitspanne, während der bestimmte seelische Vorgänge vor sich gehen. Diese Annahme ist eine logische Weiterentwicklung von Nicoles und Arnaulds Sprachtheorie in L’Art de penser, wo auf die besondere Eignung der figurativen Sprache dazu hingewiesen wird, Affekte des Sprechers zu übertragen und dem Rezipienten dauerhaft einzuprägen.21 Wird figurative Sprache darüber hinaus durch die körperliche Präsenz des Sprechers begleitet, potenziert sich die Wirkung der sinnlichen Eindrücke unabhängig vom Inhalt der Botschaft und prägt die Zuhörer auf ihnen unbewusste Weise. Aus heutiger Sicht wurde an Port-Royal ein sehr interessantes Konzept von Theater als starkem Medium entwickelt. Die jansenistische Theaterkritik beschreibt Theater als ein Medium, bei dem zum einen die Grenzen zwischen Akteuren und Rezipienten aufgehoben sind und zum anderen die eigentliche Wirkung zeitverzögert, aber dafür umso stärker auftritt. Damit widerlegt sie die grundlegende Behauptung der Theaterfreunde, das Theater sei ein harmloses Vergnügen, das allein der nötigen Erholung des Geistes diene. Dieses Verständnis von Theater als starkem Medium, bei dem sich nicht in erster Linie Inhalte, sondern lang anhaltende Affekte übertragen, erlaubt es den Denkern von Port-Royal, die zweite Grundthese der Theatergegner – die Vereinbarkeit von Theater mit einem christlichen Lebenswandel – als unhaltbar zu kritisieren. Zu diesem Zweck geht Nicole genauer auf die Rolle von geistlichen Schauspielen ein. In den Auseinandersetzungen um die Rolle des Theaters bei der Vermittlung von christlichen Werten kam den geistlichen Schauspielen eine besondere Rolle zu. Im französischsprachigen Kontext ging es insbesondere um die Frage, ob die unter Richelieu begonnene Reformierung des Theaters tatsächlich zu einer neuen ‚Reinheit’ (pureté) des Theaters geführt habe, wie von Dramatikern und Befürwortern des Theaters behauptet wurde. Am Beispiel von Theaterstücken, die diesem neuen Ideal 21 „[L]es mêmes pensées nous paraissent beaucoup plus vives quand elles sont exprimées par une figure, que si elles étaient renfermées dans des expressions toutes simples, car cela vient de ce que les expressions figurées signifient, outre la chose principale, le mouvement et la passion de celui qui parle, et impriment ainsi l’une et l’autre idée dans l’esprit; au lieu que l’expression simple ne marque que la vérité nue“ (Arnauld, Antoine u. Pierre Nicole: La Logique ou l’art de penser. Paris 1992 [Serie „tel“]. S. 88).
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am besten entsprachen, entwickelten die Theatergegner eine zuerst von Jean-François Senault 1661 formulierte These. Diese in der französischen Forschung „Senaults Paradox“ genannte These besagt, dass Schauspiele desto gefährlicher sind, je reiner und keuscher sie sich geben.22 Als Paradebeispiel dieser Art von Schauspiel gerieten vor allem Corneilles Tragödien und Tragikomödien zur Zielscheibe der Theaterfeinde – zuerst in Frankreich, dann auch im deutschen Sprachraum, wie wir noch feststellen werden. Um aufzuzeigen, dass geistliche Schauspiele ebenso schädlich sind wie Stücke mit weltlichen Stoffen, bespricht Nicole in De la comédie eingehend zwei Stücke Corneilles: die berühmte Tragikomödie Le Cid (1637) und das Märtyrerdrama Théodore, vierge et martyre (1646), das Corneille eine ‚christliche Tragödie‘ nannte und welches gänzlich erfolglos blieb. ‚Reinheit’ (pureté) ist ein Schlüsselbegriff dieser Tragödie und taucht sowohl im Stück als auch in seinen zahlreichen Paratexten auf. Im Stück selbst wird die ‚Reinheit’ des christlichen Gottes von Théodore den heidnischen Göttern gegenübergestellt, während die ‚Reinheit’ des zeitgenössischen französischen Theaters in Corneilles begleitenden Texten betont wird – ein Ideal, das einflussreiche Theoretiker wie der Abbé d’Aubignac vom zeitgenössischen Theater einforderten.23 Die viel beschworene Reinheit von Inhalt und Form machte Théodore zum idealen Text für die Theatergegner, an dem sie aufzeigen konnten, wie die mediale Verfasstheit des Theaters einem christlichen Stoff notwendigerweise unchristliche Züge geben muss. So versucht Nicole anhand einiger geschickt ausgesuchter Verse aus Théodore aufzuzeigen, dass eine christliche Figur auf der Bühne immer auf unchristliche Weise dargestellt werden muss, um dem Publikum zu gefallen: Ce serait un étrange personnage de Comédie qu’un Religieux modeste et silencieux. Il faut quelque chose de grand et d’élevé selon les hommes, ou du moins quelque chose de vif et d’animé – ce qui ne se rencontre point dans la gravité et dans la sagesse chrétiennes. Et c’est pourquoi ceux qui ont voulu introduire des Saints et des Saintes sur le Théâtre ont été contraints de les faire paraître orgueilleux, et de leur mettre dans la bouche des discours plus propres à ces héros de l’ancienne Rome, qu’à des Saints et à des Martyrs. Il faut aussi que la dévotion de ces Saints de Théâtre soit toujours un peu galante. 24
Nicoles Hinweis, dass ein bescheidener und stiller Heiliger eine befremdliche Figur auf der Bühne wäre, bestätigt Corneilles eigene Einschätzung von der Schwierigkeit, 22 „[P]lus elle [la comédie] est charmante, plus elle est dangereuse; et j’ajouterais même que plus elle semble honnête, plus je la tiens criminelle“ (Senault, Jean-François: Le Monarque ou les devoirs du souverain. In: Nicole, Traité de la comédie et autres pièces [wie Anm. 1], S. 142–144, hier S. 142). 23 Vgl. Hédelin, François Abbé d’Aubignac: La Pratique du théâtre. Amsterdam 1715. Zum Begriff der Reinheit des Theaters in Corneilles Märtyrerdrama, s. Fumaroli, Marc: Théodore, vierge et martyre: ses sources italiennes et les raisons de son échec à Paris. In: Ders.: Héros et orateurs. Rhétorique et dramaturgie cornéliennes. Genève 1996. S. 223–259. 24 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 65. Nicole zitiert aus Corneilles Théodore vierge et martyre (II.2.392–394).
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unter den geänderten Anforderungen an das Theater Märtyrer glaubhaft darzustellen. Rückblickend stellte er in seinem Examen de Théodore (1660) fest, dass „[…] une vierge et martyre sur un théâtre n’est autre chose qu’un terme qui n’a ni jambe ni bras, et par conséquent point d’action“ – ein kritisches Urteil, das sich Nicole in seinem Traktat gegen das Theater zu Nutzen machte und noch steigerte.25 Schrieb Corneille den Misserfolg des Stückes der mangelnden Wirkungskraft seiner Hauptfigur zu, die weder weltliche Leidenschaften noch brennenden religiösen Eifer kenne, so sah Nicole dagegen im Drama den Versuch, die Sprache der weltlichen Leidenschaften in den religiösen Diskurs einzuführen. Laut Nicole ist es unmöglich, Heilige auf der Bühne so darzustellen, dass sie durch die weltliche Darstellungsweise nicht als weltlich-sündhafte Figuren erscheinen. Daraus leitet Nicole den allgemeinen Schluss ab, dass das zeitgenössische Theater einer christlichen Vorstellung von Reinheit nicht gerecht werden kann. Die kritische Interpretation von Corneilles geistlichem Drama dient Nicole in seinem Traktat als Beweis dafür, dass geistlichen Theaterstücken immer etwas Ungeistliches inne ist. Da die Einübung und Aufführung von Märtyrerdramen in der Erziehungspolitik der Jesuiten eine große Rolle spielte, ist zwischen den Zeilen von Nicoles Verurteilung geistlicher Schauspiele auch eine Kritik am jesuitischen Schultheater mitzulesen. Zum Zeitpunkt, als Nicole seinen Traktat verfasst, ist die Schule von Port-Royal auf Befehl von Ludwig XIV. bereits geschlossen, aber deren Pädagogik durch die breite Zirkulation von Lehrbüchern und Grammatiken in ganz Europa einflussreich. Die jansenistischen Erziehungsmethoden waren in bewusster Opposition zur jesuitischen Unterrichtspraxis entwickelt und verzichteten auf rhetorische Wettbewerbe und dramatische Darstellung von gelesenen Texten. In dieser Hinsicht ist De la comédie auch ein Zeugnis des Streits zwischen Jesuiten und Jansenisten um den richtigen Einsatz von Medien in der Erziehung. Die Verbindung zwischen Theater und zeitgenössischer Pädagogik ist in Nicoles Traktat implizit anwesend, vor allem, wenn der auf Tertullian zurückgehende Begriff von Schauspielen als officina diaboli erscheint. So heißt es bei Nicole gleich zu Beginn seiner Ausführungen über das Theater: „Ainsi la Comédie, par sa nature même, est une école et un exercice de vice, puisqu’elle oblige nécessairement à exciter en soimême des passions vicieuses.“26 Nicoles Überlegungen zur (ver)bildenden Langzweitwirkung des Theaters zeigen, dass die Idee des Theaters als „school of abuse“27, „école de vice“ und „Schule des Lasters“ im 17. Jahrhundert nicht (nur) ein Allgemeinplatz der frühneuzeitlichen christlichen Kulturkritik war, sondern auch gezielt 25 Corneille, Pierre: Examen de Théodore. In: Ders.: Œuvres complètes. 3 Bde. Hrsg. von Georges Couton. Bd. 2. Paris 1981–1987 (Bibliothèque de la Pléiade). S. 272. 26 Nicole, De la comédie (wie Anm. 9), S. 37. 27 Die Bezeichnung war insbesondere unter den englischen Puritanern verbreitet. Vgl. Gosson, Stephen: The shoole of abuse. Conteining a plesaunt inuectiue against poets, pipers, plaiers, iesters, and such like caterpillers of a comonwelth […]. London 1579.
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eingesetzt wurde, um neue Ideen über die mediale Verfasstheit des Theaters über konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg in Umlauf zu bringen.
2 Gottfried Vockerodt und die Rezeption der jansenistischen Theaterkritik im Streit um die ‚Mitteldinge‘ Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Pädagoge Nicoles Kritik an Schauspielen im deutschen Sprachraum bekannt machte. Es handelte sich um den streitbaren Gothaer Schulrektor Gottfried Vockerodt, der in enger Verbindung zum Halleschen Pietismus stand und einen langjährigen Briefwechsel mit August Hermann Francke führte. Zwischen 1697 und 1700 verfasste Vockerodt nicht weniger als fünf umfangreiche polemische Schriften, in denen er das zeitgenössische Verständnis der lutherischen Adiaphora-Lehre im Allgemeinen, und den zeitgenössischen Missbrauch der Musik und des Theaters im Besonderen heftig kritisierte. Hatte sich die Adiaphora-Debatte unter Lutheranern im 16. Jahrhundert an der Frage entzündet, ob es in der Kirche Zeremonien und Riten geben könne, die für das Heil eines Christenmenschen unerheblich seien, so erfuhr der Streit im folgenden Jahrhundert eine thematische Verschiebung. Zu Vockerodts Zeiten wurde nun gefragt, ob es Tätigkeiten gebe, die als moralisch indifferent aufgefasst werden dürften, weil sie von der Bibel weder geboten noch verboten werden und somit als ‚Mitteldinge‘ an sich weder moralisch gut noch schlecht seien, sondern sich erst im konkreten Gebrauch als solche erwiesen. Zu diesen Tätigkeiten zählten die Verteidiger der Adiaphora-Lehre die Ausübung und den Genuss von Kunst.28 In diesem sogenannten Streit um die ‚Mitteldinge‘, wie er in deutschen Landen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts an verschiedenen Orten ausgetragen wurde, stand das Theater nie allein im Mittelpunkt. Es ging auch immer um den Eigenwert der Musik und der Oper, deren Rolle in diversen lokal begrenzten Streiten bereits vor Vockerodt Thema der Auseinandersetzung war. Da es im Gegensatz zu Frankreich in deutschen Landen noch kein staatlich institutionalisiertes Theater gab, wurden Schauspiele als 28 Zum Verhältnis von modernem ästhetischem Denken und dem theologischen Adiaphora-Diskurs der Frühen Neuzeit, vgl. Sdzuj, Reimund B.: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005. Zur spezifischen Rolle Vockerodts im Streit um die ‚Mitteldinge‘, vgl. Busch, Gudrun: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper. Oder: Pietistische Opernkritik als Zeitzeichen. In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hrsg. von Rainer Lächele. Tübingen 2001. S. 131–170; Scheitler, Irmgard: Der Streit um die Mitteldinge. Menschenbild und Musikauffassung bei Gottfried Vockerodt und seinen Gegnern. In: Alter Adam und Neue Kreatur: Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hrsg. von Udo Sträter. Tübingen 2009. S. 513–530; Jahn, Bernhard: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005. S. 129–132.
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eines unter zahlreichen anderen Divertissements des Adels dargestellt, neben Hofmusik, Opern, Tänzen etc. Daraus erklärt sich, dass in den kulturkritischen Schriften der Pietisten vor allem allgemeine Argumente über den Wert von Musik und Theater für ein christliches Leben zu finden sind, aber üblicherweise kein eingehender Vergleich der medialen Verfasstheit und Wirkung der einzelnen Künste. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deswegen zum einen auf Passagen in Vockerodts Streitschriften, die speziell dem Theater gewidmet sind, und zum anderen auf Passagen, aus denen sich ein Vergleich des Theaters mit anderen Künsten herausarbeiten lässt. In diesem Zusammenhang geht es dann vor allem um die Frage, warum und wie sich Vockerodt Teile der jansenistischen Theaterkritik zu eigen macht und in die pietistische Kulturkritik aufnimmt. Im Laufe seines mehrjährigen Engagements in der Adiaphora-Debatte wurde Vockerodts Ablehnung einer Beurteilung der Künste durch kunstimmanente Kriterien zunehmend radikaler. In seinem ersten, 1697 erschienenen Beitrag zur Debatte gestand Vockerodt noch zu, dass ein schlechter Christ sehr wohl ein guter Musiker sein könne und beim Musizieren sogar den Glauben der Zuhörer zu festigen vermöge, da das Ohr des Zuhörers „oft reiner [ist] als der Mund des Lehrers / und also auch als das Herz / Zunge und Mund des gottlosen Musicanten“.29 Diese Grenzziehung zwischen künstlerischem Können und religiösem Glauben einerseits, und zwischen der Glaubensstärke des Künstlers und des Publikums andererseits wurde in den nachfolgenden Schriften immer seltener. Verstärkt betonte Vockerodt in Folge den Gedanken, dass die Künste keine anderen Zwecke verfolgen dürfen als den „Endzweck“, Christen in ihrem Glauben zu festigen. Aus dieser Annahme folgte notwendigerweise eine Ablehnung der Vorstellung, dass es überhaupt indifferente Tätigkeiten gibt, wie Vockerodts Neudefinition von ‚Mitteldingen‘ belegt. In seiner Streitschrift Erleuterte Auffdeckung des Betrugs und Ärgernisses durch M. Rothens höchstnöthigen Unterricht von Mitteldingen (1699) behauptet er in diesem Sinne, daß diese Mitteldinge keines weges daher ihren Nahmen bekommen / daß sie in indifferenten das ist / ohnsittlichen / oder vom guten und bösen freyen Handlungen bestehen […]. Solchem Begrieff wiederspricht die ausdrücklich erfoderte gute Absicht und Endzweck. Darumb aber werden sie Mitteldinge genennet / weil sie die Kirche / nach ihrer Christlichen Freyheit / anordnen, und abstellen kann […].30 29 Vockerodt, Gottfried: Mißbrauch der freyen Künste / insonderheit Der Music / nebenst abgenöthigter Erörterung der Frage: Was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comödien zu halten sey?: gegen Hn. D. Wentzels / Hn. Joh. Christian Lorbers / und eines Weissenfelsischen Hof-Musicantens Schmäh-Schrifften gründlich und deutlich vorgestellet und mit einer Zugabe, darinnen enthalten: I. Eine Erinnerung an die Censores dieser Schrift: II. Das von den Pasquillanten angefochtene Programma III. Der hochlöblichen Theol. Facultät zu Giessen Bedencken: IV. Vorstellung des unfertigen und seltsamen Beginnens des Weissenfelsischen Pasquilanten […]. Franckfurt 1697. S. 27. 30 Vockerodt, Gottfried: Erleuterte Auffdeckung des Betrugs und Aergernisses / So mit denen Vorgegebenen Mitteldingen und vergönneten Lust In der Christenheit angerichtet worden: abgenöthiget
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In Vockerodts Umdeutung des Begriffs ‚Mitteldinge‘ erscheinen diese als Handlungen, die nur eine mögliche Absicht und einen möglichen Endzweck – die Festigung des Glaubens – verfolgen dürfen. Damit kritisiert Vockerodt den zeitgenössischen, angeblich falschen ‚Mittelding‘-Begriff seiner Zeit, wonach es Tätigkeiten gibt, denen kein moralischer Wert eignet. Die verbreitete, zeitgenössische Theorie der ‚Mitteldinge‘ nannte Vockerodt eine „Lehre von vergönnerter Lust“, deren Hauptannahme es sei, dass es „den Menschen frey stünde, ihre Zeit nach eigenem wollüstigen Sinn und Fleisches Willen zu brauchen.“31 Wie August Hermann Francke sah auch Vockerodt die Verbreitung dieser angeblich falschen Lehre über zulässige Vergnügungen als Kennzeichen der höfischen Welt. Der Missbrauch von Musik, Tanz und Theater sollte als fürstliches Divertissement theologisch gerechtfertigt werden, so vermuteten beide Pietisten.32 Als Rektor des Gothaer Gymnasium illustre interessierte sich Vockerodt jedoch auch für die Verantwortlichkeit der Schulen, durch Curricula den Gebrauch der Künste in die richtigen Bahnen zu lenken. Sowohl im höfischen als im schulischen Leben sah Vockerodt Anzeichen dafür, dass die Ausübung und Rezeption der Künste durch eine falsch verstandene theologische Lehre von zulässigen Vergnügungen legitimiert wurde. Alle fünf Schriften Vockerodts zur Adiaphora-Debatte billigen eine mögliche Unterscheidung zwischen Musik und Theater „in abstracto“ und „in concreto“, d.h. zwischen dem Wesen von Musik und Theater und den konkreten geschichtlichen Ausformungen beider Künste.33 Diese Unterscheidung – die im Halleschen Pietismus nicht selbstverständlich war – erlaubte es Vockerodt, direkt auf die Argumente seiner Widersacher einzugehen. So bediente sich zum Beispiel der Hofmusiker Johann Beer
Durch Herrn M. Rothens / Predigers in Leipzig / herausgegebenen so betitulten Höchstnöthigen Unterricht von Mitteldingen und vergönneter Lust: welches Tractätlein hiemit widerleget / und zum Exempel vorgestellet wird / daß durch die Mitteldings-Lehre der Grund des Christenthums umgestoßen / und nicht allein die heilsame Lehre Jesu Christi verkehret; sondern auch der gesunden Vernunfft widersprochen werde […]. Halle 1699. S. 90f. Zu Vockerodts Umdeutung des ‚Mittelding‘-Begriffs, s. Sdzuj, Adiaphorie und Kunst (wie Anm. 28), S. 274; Kutschke, Beate: Gemengelage. Moralisch-ethischer Wandel im europäischen Musiktheater um 1700. Paris, Hamburg, London. Hildesheim, Zürich, New York 2016. S. 180–182. 31 Vockerodt, Gottfried: Wiederholetes Zeugnüs der Warheit Gegen die verderbte Music und Schauspiele / Opern / Comödien und dergleichen Eitelkeiten / Welche die heutige Welt vor unschuldige Mitteldinge will gehalten wissen: abgenöthiget Durch die andere von einem Weissenfelsischen HofMusicanten / im Jahr 1697. herausgegebenen Schmäh-Schrifft; Welche zugleich gründlich wiederleget wird ; Hierzu komt als eine Zugabe / Nebst andern erbaulichen hierher gehörigen Materien / des Herrn von Chanteresme gründliches und ausführliches Bedencken von denen heutigen Schau-Spielen: wie auch des Hn. Armand von Bourbon, Printzens von Conty herrliches Tractätlein von denen Pflichten grosser Herren. Franckfurt, Leipzig [, Jena] 1698. S. 7. 32 Zu antihöfischen Tendenzen im Umkreis des Haller Pietismus, vgl. Martens, Wolfgang: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989. S. 32. 33 Vgl. Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 55; Ders., Mißbrauch der freyen Künste (wie Anm. 29), S. 98.
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aus Weißenfels, Adressat der ersten Adiaphora-Schrift Vockerodts, dieser Unterscheidung, um zu zeigen, dass der teilweise schlechte Gebrauch einer Kunst nichts über ihren eigentlichen Wert aussage, und dass neben dem schlechten Gebrauch stets auch ein guter zu finden sei. Interessanterweise scheint Vockerodt in dieser Frage die Musik und die Schauspielkunst verschieden zu beurteilen: In seinen Schriften zur Adiaphora-Frage betont er den grundsätzlichen Wert der Musik, nennt sie „eine Wunder- und Geheimnisvolle Kunst“ und „eine Wunder=Gabe […] / mit welcher die alten Heiligen den H E R R N ihren G O T T geehret und ihm in ihren Herzen Dank= und Lob=Lieder gesungen uns gespielet haben“.34 Im Gegensatz zur Musik sieht Vockerodt jedoch beim Theaterspiel eine Unterscheidung zwischen dem Wesen der Kunst und ihren konkreten Formen als irreführend an. Dieses Urteil verschärft sich im Lauf seiner Interventionen in der Debatte um die ‚Mitteldinge‘. Während Vockerodt 1696 im Hinblick auf Theater und Tanz noch zugesteht, dass „solche Dinge an und vor sich selbst betrachtet sündlich nicht zu nennen sind“, argumentiert er im nächsten Jahr, dass der Missbrauch des Theaters sich so weit durchgesetzt habe, dass „[e]rbauliche Comödien und Davidischer Tanz […] heut zu Tage respectu praxeos blosse Entia rationis“ seien.35 In der schulmeisterlichen Ausdrucksweise Vockerodts erscheint als „Entia rationis“, was Nicole in bewusstem Verzicht auf einen gelehrten Stil „une idée chimérique“ nannte: eine idealisierte Vorstellung vom Wesen des Theaters, die von der schauspielerischen Praxis Lügen gestraft werde. Vockerodts erster expliziter Hinweis auf Pierre Nicole findet sich in seinem zweiten Werk zum Thema Adiaphora, der Streitschrift Wiederholetes Zeugnüs der Warheit […], die mit einer „Zugabe“ von acht kulturkritischen Texten deutscher und französischer Autoren 1698 erschien. Der volle Titel der Streitschrift wirbt ausdrücklich mit dem Hinweis auf zwei im Band enthaltene Texte aus Frankreich, darunter „des Herrn von Chanteresme gründliches und ausführliches Bedencken von denen heutigen SchauSpielen“.36 Chanteresme (alternativ auch Chanteresne) war eines der zahlreichen Pseudonyme von Pierre Nicole, dessen De la comédie in der Originalsprache zu dem betreffenden Zeitpunkt in Deutschland zirkulierte, aber noch nicht übersetzt war. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Vockerodt zweimal eine Übersetzung von De la comédie ins Deutsche unternahm, wobei er sich beide Male nicht explizit als Übersetzer zu erkennen gibt: 1698 erscheint eine stark gekürzte übersetzte Fassung des Texts als „Zugabe“ in Vockerodts Wiederholetes Zeugnüs der Warheit […] mit dem Vermerk „von einem berühmten Chursächs. Schulman verteutschet“;37 1700 erscheint dann eine anonyme Übersetzung des gesamten Textes, bei der die Über34 Vockerodt, Mißbrauch der freyen Künste (wie Anm. 29), S. 19; Ders., Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 137. 35 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 67. 36 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), Titelblatt. 37 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 8 der Zugabe.
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setzer- und Herausgeberrolle mit ziemlicher Sicherheit Vockerodt zuzuschreiben ist. Wie aus der Veränderung des Originaltitels in der Übersetzung von De la comédie klar hervorgeht, stellt Vockerodt seinen Lesern den jansenistischen Theatertraktat als einen Beitrag zur Debatte um die ‚Mitteldinge‘ unter Lutheranern vor: „Deutlicher Erweiß Daß Operen und Comoedien spielen und sehen Kein Mittel-Ding / Sondern eine genommene Freyheit seye / welche mit den Pflichten deß wahren Christenthums streite […]“.38 So wird durch Vockerodts Eingriff der knappe, neutrale Originaltitel so verändert, dass der jansenistische Text als ein Instrument im pietistischen Kampf gegen die ‚Mittelding‘-Lehre erscheint. Mit der gezielten Aufnahme theaterkritischer Schriften aus Frankreich konnte Vockerodt die Argumente jener Theaterfreunde untergraben, die im französischen Theater ein Vorbild sahen, eine „Moral-Philosophie und Tugend=Schule“.39 Vockerodt war nicht nur mit zeitgenössischen französischen Dramentexten vertraut, wie aus dem Katalog seiner Privatbibliothek zu ersehen ist, sondern sah gerade in den an deutschen Höfen beliebten französischen Schauspielen und italienischen Opern die Hauptzielscheibe seiner Theater- und Opernkritik.40 Die Stücke, die Vockerodt am häufigsten bespricht, sind dementsprechend Corneilles Tragödien und Molières Komödien. Das kulturelle Prestige der französischen Hofkultur und der große Erfolg französischer Stücke an deutschsprachigen Höfen erschwerten dabei eine allzu direkte Verurteilung des französischen Theaters. Wie bei anderen Autoren im Umfeld des Haller Pietismus haben die kulturkritischen Schriften Vockerodts antihöfische Tendenzen, betonen diese aber nicht. Vockerodts Entscheidung, eine Verurteilung des Theaters Corneilles und Molières eigenen Landsleuten zu überlassen, war in dieser Hinsicht strategisch klug. Durch die Aufnahme und Verwendung von theaterkritischen Argumenten aus Frankreich konnte Vockerodt die Bewunderer französischer Theaterkultur in deutschen Landen mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Vockerodts erste Übersetzung von Nicoles De la comédie verkürzt den Originaltext auf etwa ein Fünftel seiner eigentlichen Länge, von 43 auf 8 Seiten. Die (übri38 [Nicole, Pierre:] Deutlicher Erweiß Daß Operen und Comoedien spielen und sehen Kein MittelDing / Sondern eine genommene Freyheit seye / welche mit den Pflichten deß wahren Christenthums streite: Nebst mit-unterlaufender Censur Der Romanen /Aus einem Französischen Autore, nahmentlich Herrn von Chanteresne, gezogen. Samt einem Anhang von eben dieser Materie. Jena 1700. Für die These, dass die deutsche Übersetzung tatsächlich von Vockerodt vorgenommen wurde, spricht neben der Wortwahl auch der Verlag des Textes. Bei Bielke erschien sowohl die stark gekürzte Übersetzung von Nicoles Text als Teil von Vockerodts Wiederholetes Zeugnüs der Warheit als auch, zwei Jahre darauf, die Gesamtübersetzung des jansenistischen Traktats. 39 Vockerodt, Mißbrauch der freyen Künste (wie Anm. 29), S. 126. 40 Der Versteigerungskatalog der umfangreichen Bibliothek Vockerodts belegt, dass Vockerodt von 1659 bis 1692 in den Besitz zeitgenössischer dramatischer Opernlibretti und Theatertexte kam, darunter ein Band mit Stücken von Corneille und Molière. Vgl. Catalogvs Bibliothecae Vockerodtianae: In V. Partes Theologicam, Ivridicam, Medicam, Philosophicam Et Historico-Philologicam Distribvtae […]. Lipsiae, Gothae 1728. Zu Vockerodts Interesse an zeitgenössischen deutschen und europäischen Dramen, vgl. Busch, Beer-Vockerodt-Kontroverse (wie Anm. 28), S. 160, Anm. 57.
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gens nicht angezeigten) Auslassungen weisen darauf hin, welche Passagen des jansenistischen Traktats dem Pietisten wichtig erschienen und welche entbehrlich. Wie zu erwarten, belässt Vockerodt die eingehende Besprechung der Dramen Corneilles durch Nicole, einschließlich aller Zitate aus diesen. Unter den grundlegenden Überlegungen Nicoles zum Theater konzentriert sich Vockerodt in seiner Übersetzung auf vier Hauptpunkte: 1) die Beobachtung der Theaterpraxis als Ausgangsbasis für die Beurteilung von Theater schlechthin; 2) das geistliche Schauspiel als paradigmatisches Beispiel für die Sündhaftigkeit des Theaters; 3) die negativen Langzeitfolgen des Schauspiels für die Zuschauer; und letztlich 4) die Bewertung des Divertissement als unversöhnlich mit dem christlichen Leben. In welchem Maße der Pietist Vockerodt durch die jansenistische Theaterkritik bei der Abfassung seines zweiten Traktats beeinflusst war, lässt sich leicht übersehen. Zum einen zitiert Vockerodt in seinen Beiträgen zur ‚Mittelding‘-Debatte aus zahlreichen anderen theaterfeindlichen Traktaten aus dem Ausland, zum Beispiel aus Texten des Puritaners William Prynne und des Calvinisten Gijsbert Voet. Zum anderen weist Vockerodt nicht explizit darauf hin, welcher Glaubensrichtung Pierre Nicole angehört, sondern benutzt für den Titel Nicoles Pseudonym Monsieur de Chanteresme, was eine Identifizierung des Autors für eine Vielzahl von Lesern erschwert haben dürfte. Außerhalb Frankreichs war Nicole vor allem unter dem Pseudonym Guillaume Wendrock als Verteidiger des Jansenismus bekannt, eine Verbindung, die durch die Verwendung von Nicoles anderem Pseudonym, Chanteresme, verdunkelt wurde.41 Dass dieses Nicht-Ausweisen von Nicole als Katholik und Jansenist eine bewusste Auslassung von Vockerodt war, ist daraus ersichtlich, dass sich Vockerodt in seiner Einleitung zu einem weiteren französischen, aber nicht-jansenistischen Text in der „Zugabe“ eingehend dafür rechtfertigt, den Text eines französischen Katholiken „selbst […] zu übersetzen“ und abdrucken zu lassen.42 Auch wenn Vockerodt also nicht explizit eine Anleihe bei der jansenistischen Kulturkritik zugibt, kommt letzterer jedoch im Vergleich zu Vockerodts Verwendung anderer theaterfeindlicher Quellen aus dem Ausland eine besondere Stellung zu. Der Traktat De la comédie ist derjenige Text über das Theater, mit dem sich Vockerodt am meisten beschäftigt hat, was durch die wiederholte Übersetzungsarbeit und die häufigen Parallelen zwischen Nicoles Text und Vockerodts Traktaten ersichtlich ist. Der „Vorbericht“ Vockerodts in Wiederholetes Zeugnüs […] weist eine auffallende Ähnlichkeit zu Nicoles Vorrede in De la comédie auf. Vockerodt übernimmt von Nicole den Anspruch, das Theater an der Wirklichkeit zu messen, verbindet dieses Argument
41 Unter dem Pseudonym Guillaume Wendrock übersetzte Nicole Pascals Lettres Provinciales 1657 ins Lateinische. Bis 1678 veröffentlichte Nicole die ersten drei Bände der Essais de morale unter dem Pseudonym Monsieur de Chanteresne, verzichtete aber bei der Veröffentlichung aller weiteren Bände auf das Pseudonym. 42 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 29 der Zugabe.
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jedoch mit dem theologischen Begriff der ‚Mitteldinge‘. So schreibt er über Autoren, die ‚Mitteldinge‘ verteidigen: Damit sie aber mit gutem Schein solch schändliche Vertheidigung fuehren moegen / machen sie sich von der Sache lauter Hirngespenste / und ganz andere Ideen, als in der Praxi gefunden werden. Geben vor / daß sie nur dem in ihre Gedancken gefasten rechten Gebrauche das Wort redeten / keines weges aber dem Mißbrauche / ob sie schon nicht beweisen können / auch selbst nicht glauben / daß / wenns zur Praxi komt / die vorgegebenen Mitteldinge nach solcher eingebildeten ohnsuendlichen Idee iemalhs moechten gebraucht werden / sondern vielmehr erkennen und bekennen muessen / daß es allezeit bey dem gewoehnlichen Mißbrauche bleibet / und bleiben werde.43
Die Parallelführung der Argumentation in Nicoles Vorrede und Vockerodts Vorbericht ist auffällig. Sie ist nur deshalb möglich, weil die Schrift des Jansenisten ihrem rhetorischen Anspruch nach auf einer bloßen Beobachtung der konkreten Wirklichkeit beruht, was ein in anderen religiösen Kontexten wiederverwertbares Argument darstellt. Der Begriff der ‚Mitteldinge‘, der für das Selbstverständnis der lutherischen Kultur eine zentrale Rolle spielte, hatte hingegen kein wirkliches Äquivalent in der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts. Es ist durchaus möglich – und speziell auch im Hinblick auf die Jansenisten plausibel – , die querelle de la moralité du théâtre als eine querelle de la moralité du loisir aufzufassen, also als eine umfassendere Debatte um die ethische Dimension des Zeitvertreibs.44 Gerade in Pascals Pensées erscheint etwa der Theaterbesuch als nur eine von vielen vergeblichen Formen des Versuchs, der drohenden Lebenslangweile, dem ennui, zu entkommen. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Adiaphora-Debatte wurde die öffentliche Debatte um die Rolle des Theaters in Frankreich aber nicht mithilfe gelehrter Begrifflichkeit ausgetragen, weil sich alle Seiten eine breite Rezeption sichern wollten. Mit dem Hinweis auf die notwendige Beobachtung der Theaterpraxis bedient sich Vockerodt also desjenigen Arguments des Jansenisten Nicole, das am leichtesten in andere Kontexte übertragbar ist, und stellt es in den Zusammenhang des unter Lutheranern ausgetragenen Streits um die ‚Mitteldinge‘. Ein weiteres Argument, das Vockerodt offensichtlich von den Theaterdebatten in Frankreich in seine Schriften übernimmt, ist die Verurteilung des geistlichen Schauspiels als paradigmatisches Beispiel für die Sündhaftigkeit des Theaters. In diesem Zusammenhang scheint Vockerodt zwei Ziele zu verfolgen: zum einen will er die Theaterpraxis an deutschen Höfen diskreditieren, wo Corneilles Märtyrerdramen wie Polyeucte große Erfolge feierten. Zum anderen fühlt er sich genötigt, das Verbot des Schultheaters am Gymnasium illustre zu rechtfertigen, da dies der Tradition des protestantischen Schultheaters mit seiner Darstellung von geistlichen Stoffen auf 43 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 5. 44 Zum Zusammenhang zwischen der querelle de la moralité du théâtre und der Debatte über die Rolle von divertissement und loisir, vgl. Fumaroli, Marc: La querelle de la moralité du théâtre au XVIIe siècle. In: Bulletin de la Société française de Philosophie 84 (1990). S. 65–97.
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der Schulbühne entgegenlief. Entgegen der gängigen Behauptung, das Schultheater würde zur „Schaerffung des Gedächtnisses / Muth zu reden / Hoeffligkeit und Tugend“ beitragen, zeige laut Vockerodt ein Blick auf die Realität, „dass die Jugend durch die Comoedien […] Frechheit / Affectation und Comoediantische offt lang anhaengende Unanstaendigkeit sich angewoehne.“45 Das Interesse an der Langzeitwirkung des Mediums Theater verbindet den pietistischen Schulrektor mit dem jansenistischen Theologen und Lehrer. Vockerodt beschränkt sich jedoch in seiner Beschreibung auf die äußerlichen Veränderungen im Verhalten, während Nicole die unbewussten psychischen Vorgänge beleuchtet, die den verlängerten Rezeptionsprozess von Schauspielen begleiten. Beide Autoren betonen dabei, dass christliche Stoffe auf der Bühne nicht adäquat dargestellt werden können, weil im Theaterprozess die Aufmerksamkeit der Zuschauer von der plurimedialen sinnlichen Wirkung gebannt ist und einen Reflexionsprozess verhindert. Deswegen könnten selbst lehrhaft konzipierte Schauspiele nicht wirklich moralisch lehrhaft wirken. Vockerodt hat die Möglichkeit, dass die künstlerische Darbietung den Lehrinhalt verstellt, noch radikaler als Nicole auf den Begriff gebracht und dabei jeglichen Autonomieanspruch der Künste verurteilt: Wo der „Endzweck“ der Kunst, nämlich die Festigung im Glauben, nicht erreicht werden kann, werde die Kunst zum „Neben-Gott“.46
3 Verdeckter Wissenstransfer in frühneuzeitlichen Theaterdebatten Die Strategie des Gothaer Pietisten Vockerodt, einen Schlüsseltext der französischen querelle de la moralité du théâtre – Pierre Nicoles De la comédie – im deutschen Streit um die ‚Mitteldinge‘ als Kampfmittel einzusetzen, wirft eine zentrale Frage auf, die über diese spezifische Konstellation hinausreicht: Gab es im frühneuzeitlichen Europa unter heterodoxen christlichen Strömungen in ihrem Einsatz gegen das Theater eine Solidarität über konfessionelle Grenzen hinweg? Vockerodts anonyme Übersetzer- und Herausgebertätigkeit und seine Veränderungen am jansenistischen Originaltext, einschließlich des Titels, weisen darauf hin, dass eine explizite Stellungnahme zugunsten dieser radikalen katholischen Bewegung für einen Lutheraner potentiell problematisch war. Da die konkrete Verbreitung von jansenistischem Gedankengut von Pietisten wie Vockerodt nur verdeckt betrieben wurde, ist sie von der Forschung kaum zur Kenntnis genommen worden.47 Aus demselben Grund sind 45 Vockerodt, Wiederholetes Zeugnüs der Warheit (wie Anm. 31), S. 87. 46 Vockerodt, Erleuterte Auffdeckung (wie Anm. 30), S. 104. 47 Meines Wissens findet sich der einzige Hinweis auf Vockerodts mögliche Rolle in der Verbreitung jansenistischer Texte im deutschen Sprachraum in einem vor über hundert Jahren erschienenen Arti-
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auch die Parallelen zwischen jansenistischer und pietistischer Kulturkritik bislang nur vor dem Hintergrund vergleichbarer theologischer Grundannahmen analysiert worden.48 Die Tatsache, dass es zwischen Jansenismus und Pietismus eindeutig zu einem interkonfessionellen Wissenstransfer kam, sollte uns dazu anregen, neue Erklärungsansätze in der komparatistischen Erforschung der Theaterfeindlichkeit zu entwickeln. In einem jüngst erschienenen Beitrag zu diesem gesamteuropäischen Phänomen heißt es: „La théâtrophobie n’est pas une épidémie qui aurait progressivement gagné toute l’Europe: c’est une suite de crises ponctuelles, liées à des contextes particuliers.“49 Die gängige These, dass die Theaterfeindlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit eine Serie von diskreten, jeweils in bestimmte Kontexte eingebetteten Krisen war, ist daher durch ein besseres Verständnis der konkreten Verknüpfungen zu vervollständigen, die jene Krisenmomente miteinander verbinden. Im größeren Zusammenhang einer Geschichte der Medien und ihrer Theorien sind gerade die unvermuteten Verbindungen zwischen theologischen Mediendebatten der Frühen Neuzeit von großem Interesse. Anhand ihrer lässt sich zum einen aufzeigen, welche Tragweite konfessionsübergreifenden Fragen in der Entwicklung von Medientheorien zukommt. Zum anderen belegen die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Kontroversen, dass die Frühe Neuzeit durch das reiche Konfliktpotential ihrer Mediendebatten ein ergiebiges Forschungsfeld für mediengeschichtliche Studien ist.
kel. Vgl. Brenet, Michel: Essai de bibliographie musicale historique. In: La Tribune de Saint-Gervais. Bulletin mensuel de la Schola Cantorum 10 (1904). S. 163–176, hier S. 175. 48 Vgl. Thomke, Die Kritik am Theaterspiel (wie Anm. 6); Hinrichs, Ernst: Jansenismus und Pietismus – Versuch eines Strukturvergleichs. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hrsg. von Hartmut Lehmann [u.a.]. Göttingen 2002. S. 136–158. 49 Lecercle, François u. Clotilde Thouret: Introduction. In: Dies., La haine du théâtre (wie Anm. 5), Bd.1, S. 5–12, hier S. 10.
Johann Anselm Steiger
Mediensynthese und Konflikte Der Heilige Perlen-Schatz des Kopenhagener Theologie-Professors Johannes Lassenius und die Emblemausstattung der Kirche zu Mellenthin (Insel Usedom)
Einleitung Die Kirche in Mellenthin verfügt über eine Orgelempore (Abb. 7.1), an der acht emblematische Gemälde untergebracht sind, die auf das frühe 18. Jahrhundert zurückgehen dürften. Sie alle basieren auf Emblemkupferstichen, die in dem äußerst verbreiteten Erbauungsbuch Heiliger Perlen-Schatz1 aus der Feder des (allzu wenig erforschten) lutherischen Theologen Johannes Lassenius (26.4.1636–29.8.1689)2 zu finden sind. 1 Erstauflage in drei separat erschienenen Teilen: Lassenius, Johannes: Heiligen Perlen-Schatzes Erste Vertheilung über die Monaht JANUARIUS, FEBRUARIUS[,] MARTIUS und APRILIS. Jn der Furcht GOttes/ auß dessen geoffenbahrten Wort also eingesamlet/ Daß zu Beforderung des Thätigen und GOtt Wolgefälligen Christenthums Die Gott-begierige Seel/ Täglich mit Zweyen Christlichen Betrachtungen sich Erbauen könne. Mit überal hinzugethanen Sin-Bildern. Kopenhagen 1688; Ders.: Heiligen Perlen-Schatzes Andere Vertheilung über die Monaht MAJUS, JUNIUS, JULIUS, und AUGUSTUS. Zu Aufferbauung des Algemeinen Christenthums Jn der Furcht des HErrn eingesamlet/ Auch zu mehrer Verständnüß der heiligen Betrachtungen/ überal mit nöhtigen Sin-Bilder [sic!] versehen. Kopenhagen 1688; Ders.: Heiligen Perlen-Schatzes Dritte und letzte Vertheilung über die Monaht SEPTEMBER, OCTOBER, NOVEMBER und DECEMBER. Zu Aufferbauung des Algemeinen Christenthums Jn der Furcht des HErrn eingesamlet/ Auch zu richtiger Verständnüß der heiligen Betrachtungen Uberal mit nöhtigen Sinbildern versehen. Kopenhagen 1689 (HAB Wolfenbüttel Xb 8847:1–3). Verwendet wurde dieser Druck: Lassenius, Johannes: Heiliger Perlen-Schatz/ in Dreyen Vertheilungen über die zwölff Monate des gantzen Jahres Jn der Furcht GOttes/ aus dessen geoffenbahrten Worte also eingesammlet/ daß zu Beförderung des thätigen und GOTT wolgefälligen Christenthums Die GOtt-begierige Seele täglich mit zweyen Christlichen Betrachtungen sich erbauen könne/ Mit überall hinzugethanen Sinn-Bildern/ Die Dritte Edition, Auffs neue mit Fleiß übersehen/ von vielen Erratis und Druckfehlern gesaubert/ mit einer Anweisung zum Gebrauch bey den Sonn- und Fest-täglichen Evangelien/ Episteln und der Paßion/ sampt andern nützlichen Registern/ theils der darin befindlichen Schrifft-Stellen/ theils der vornehmsten Sachen und Moralien/ auch beygefügten Lebens-Lauff des Sel. Autoris verbessert/ nach weiterer Vermeldung des Vorberichts. […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12). 2 Der folgende biographische Abriss basiert auf der detaillierten Beschreibung von Lassenius’ Vita bei Brämer, Christian: Seeliger Zustand Der Verstorbenen Gerechten/ Bey der am 19ten Septemb. 1692 angestelten/ Hochansehnlichen Leichbegängniß/ Des Weyland/ Hoch-Ehrwürdigen/ Hoch-Edlen/ und Hoch-gelahrten Herrn/ HERRN JOHANNIS LASSENII, Der Heil. Schrifft Weitberühmten Doctoris, Der hiesigen Königlichen Universität ältesten Theologi, und an der Teutschen St. Petri Kirchen ins 17te Jahr Treufleißigen Seelsorgers. Auß den Worten des Propheten Jesaias Cap. 57/ v. 1. 2. Jn einer sehr Volckreichen Versamlung fürgestellet/ und nachmahls zum Druck dargegeben […]. Kopenhagen 1692 (HAB Wolfenbüttel J 64n.4° Helmst.). S. 82–96. Hinzuzunehmen ist: Lebens-Lauff Des Berühmten https://doi.org/10.1515/9783110725193-008
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Abb. 7.1: Orgelempore der Kirche zu Mellenthin.
Der in Waldow (Hinterpommern, heute Wałdowo) als Sohn des gleichnamigen Pastors geborene Johannes Lassenius genoss zunächst Privatunterricht und besuchte sodann die Lateinschule in Stolp (1650–1653) sowie die Akademischen Gymnasien in Danzig (1653–1654) und in Stettin (1654). Nach dem Tod des Vaters (1654) studierte Lassenius als Stipendiat des Danziger Magistrats von 1655 (Immatrikulation im
THEOLOGI HERRN D. JOHANNIS LASSENII. In: Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), S. 1–27 (2. Paginierung). Vgl. ferner diese (z.T. korrekturbedürftigen) Lexikonartikel: Lohmeier, Dieter u. Wilhelm Kühlmann: Lassenius, Johannes [Art.]. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u.a.]. Bd. 7. Berlin [u.a.] 2010. S. 249f.; Harms, Wolfgang: Lassenius, Johannes [Art.]. In: Neue Deutsche Biographie 13 (1982). S. 674f. Vgl. ferner Rahe, Wilhelm: Johannes Lassenius (1636–92). Ein Beitrag zur Geschichte des lebendigen Luthertums im 17. Jahrhundert. Gütersloh 1933 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie II, 30) sowie Dünnhaupt, Gerhard: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Teil 4. 2. Aufl. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, 4). S. 2479–2511. Vgl. insbesondere diese neueren Studien: Kühlmann, Wilhelm: Aporien der biblischen Urgeschichte. Bemerkungen zu Johannes Lassenius’ populärem Handbuch von 1700 über die „scheindunklen Örter“ in Genesis 1–11 im Horizont der älteren Kommentartradition (D. Pareus, R. Bellarmin). In: Hebraistik, Hermeneutik, Homiletik. Die ‚Philologia Sacra‘ im frühneuzeitlichen Bibelstudium. Hrsg. von Christoph Bultmann u. Lutz Danneberg. Berlin, Boston 2011. S. 535–555; Spiekermann, Björn: Der Gottlose. Geschichte eines Feindbildes in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2020 (Das Abendland NF 34), Kap. III.2.4 und III.3.4.
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April3) bis 1657 in Rostock Theologie, wo ihn insbesondere Heinrich Müllers (1631– 1675)4 äußerst wirkungsträchtige Frömmigkeitstheologie und gewiss auch die von diesem gepflegte geistliche Emblematik prägten. 1657 nach Danzig zurückgekehrt, begab sich Lassenius als Hofmeister eines (namentlich nicht bekannten) Patriziersohnes auf eine peregrinatio academica, welche die beiden zunächst in die niederländischen Universitätsstädte Leiden, Utrecht und Groningen und sodann nach Flandern sowie nach Paris führte, wo Lassenius in der königlichen Bibliothek und in der Bibliothèque Mazarine studierte. Weitere Stationen der Reise waren Orléans, Bordeaux und Oxford. Wenig später fungierte Lassenius als Begleiter von adeligen Studenten und bereiste mit ihnen erneut die Niederlande, Frankreich und England, aber auch Italien, Spanien und Portugal. Es liegt nahe, anzunehmen, dass Lassenius auf diesen Reisen mit unterschiedlichen Ausprägungen der frühneuzeitlichen ars emblematica in Kontakt gekommen ist. Nach dieser zweiten Bildungsreise hielt sich Lassenius in Berlin, Leipzig, Wittenberg, Prag, Dresden und Jena auf, wo er u.a. Johann Ernst Gerhard (1621–1668)5 kennenlernte. Über Straßburg, wo Lassenius u.a. Johann Caspar Dannhauer (1603–1666)6 besuchte, Basel und Zürich führte der Weg sodann nach Nürnberg. Hier pflegte Lassenius intensiven Austausch mit dem Bibliothekar, Professor am Gymnasium Aegidianum und Hauptpastor an St. Sebald Johann Michael Dilherr (1604–1669),7 von dessen geistlicher Literaturproduktion und insbesondere von der von diesem gepflegten geistlichen Sinnbildkunst Lassenius stark beeinflusst wurde. 1666 wurde Lassenius als Rektor der Lateinschule in Itzehoe und Prediger bestallt, 1667 erfolgte seine Promotion zum Licentiaten und Doktor der 3 Vgl. Hofmeister, Adolph (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Rostock. Bd. 3: Ost. 1611–Mich. 1694. Rostock 1895. S. 183. 4 Zu Müller vgl. folgende ausgewählte Lexikon-Artikel: Krausse, Helmut K., Redaktion: Müller, Heinrich [Art.]. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u.a.]. Bd. 8. Berlin [u.a.] 2010. S. 394–396; Wieden, Helge Bei der: Müller, Heinrich [Art.]. In: Biographisches Lexikon für Mecklenburg 1 (1995). S. 170–174; Ders.: Müller, Heinrich [Art.]. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997). S. 405f. 5 Vgl. Ben-Tov, Asaph: Gerhard, Johann Ernst [Art.]. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. von Stefanie Arend [u.a.]. Bd. 3. Berlin [u.a.] 2021 (im Druck). 6 Vgl. Wenz, Armin: Dannhauer, Johann Conrad [Art.]. In: Arend (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Bd. 2 (wie Anm. 5), Sp. 460–476; Kühlmann, Wilhelm: Dannhauer, Johann Conrad [Art.]. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2. vollständig überarbeitete Auflage. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u.a.]. Bd. 2. Berlin [u. a.] 2008. S. 551–553. Vgl. ferner Bolliger, Daniel: Methodus als Lebensweg bei Johann Conrad Dannhauer. Existentialisierung der Dialektik in der lutherischen Orthodoxie. Berlin [u.a.] 2020 (Historia Hermeneutica Series Studia 15). 7 Vgl. Steiger, Johann Anselm: Dilherr, Johann Michael [Art.]. In: Arend (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Bd. 2 (wie Anm. 5), Sp. 536–554. Eine heutigen Standards genügende Personalbibliographie zu Dilherr fehlt. Vgl. daher weiterhin Dünnhaupt, Gerhard: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Teil 2. 2. Aufl. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, 2). S. 1256–1367.
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Theologie in Greifswald. 1669 wurde Lassenius zum Hofprediger Detlevs von Rantzau nach Barmstedt und 1676 zum Hauptpastor der deutschen Gemeinde an St. Petri nach Kopenhagen berufen. Von 1678 an bis zu seinem Tod wirkte Lassenius darüber hinaus als Theologie-Professor an der Universität Kopenhagen. Insbesondere in seiner Kopenhagener Schaffensphase publizierte Lassenius zahlreiche Andachtswerke, aber auch Predigtsammlungen, von denen nicht wenige in das Dänische und in weitere nordeuropäische Sprachen übersetzt wurden. Der Heilige Perlen-Schatz erschien in drei separaten Teilen erstmals in den Jahren 1688 und 1689 in Kopenhagen im Druck8 und erfuhr zahlreiche Neuauflagen bis hinein in das 19. Jahrhundert. Das Erbauungsbuch wurde zudem ins Isländische und ins Niederländische übersetzt, wobei die isländische Ausgabe zwei Auflagen erlebte (17139, 1716) und die niederländische eine (1745).10
1 ecclesia pressa et militans. Die bedrängte und geistlich fechtende Kirche Das erste Mellenthiner Emblemgemälde (Abb. 7.2) zeigt ein Kirchengebäude, das auf einem Felsen errichtet ist, der von im Sturm heftig aufgepeitschten Wellen umgeben ist und von sieben fliegenden sowie Feuer speienden Drachen attackiert wird. Das Gemälde basiert auf demjenigen Kupferstich (Abb. 7.3), der in Lassenius’ Heiligem Perlen-Schatz der Morgenmeditation zum 1. Juni beigegeben ist, die sich mit dem Thema „Die Kirche“ befasst. Die Bildkomposition thematisiert die Kirche, die zeitgenössischem Verständnis gemäß bis zum Jüngsten Tag in zahlreichen Konflikten mit den Verderbensmächten steht und sich im geistlichen Kampf mannigfacher Bedrohungen zu erwehren hat (ecclesia pressa et militans). Der Fortbestand der Kirche und ihr siegreiches Hervorgehen aus diesen permanenten Konflikten werden dieser Sicht der Dinge gemäß einzig und allein durch Gott garantiert. Entsprechend lautet die Unterschrift des Gemäldes, welche mit derjenigen des Kupferstichs übereinstimmt: „Entgegen alles schrecken, | Wird sie der Herr bedecken.“ Genau diesen Aspekt entfaltet Lassenius in seinem Text und hebt hervor, dass gemäß Matthäus 16,18 keinerlei verderbliche Macht die Kirche zerstören kann, weil diese von Gott und durch die Macht seines ewigen Wortes geschützt wird. Zur Untermauerung dieser Gewissheit führt Lassenius das Motto „verbum Domini manet in aeternum“ (das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit) an – ein Zitat aus Jesaja 40,8 bzw. aus 1. Petrus 1,25, das seit der 8 S.o. Anm. 1. 9 Lassenius, Johannes: ANTHROPOLOGIA SACRA, Edur ANDLEGAR Vmpeinking ar/ Vr Aß Mañsins Høfudpørtum/ Hañs sierlegustu Limum, Skilningarvitum, og nockrum ødrum sierdeilislegustu Tilfellum […]. Hoolum i Hialltadal 1713 (Königliche Bibliothek Kopenhagen 5,-120 8°). 10 Vgl. Rahe, Johannes Lassenius (wie Anm. 2), S. 174.
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Reformation in einer Vielzahl von Präsentationsformen weite Verbreitung fand, u.a. an prominenten Orten wie z.B. auf Titelblättern und in Kirchenausstattungen. Das ist mein Trost; die Höllen-Pforten werden doch gegen die Wahrheit nicht obsiegen (Matthäus 16,18). […] Gott kann doch so gar seines Brünnleins nicht vergessen, daß er ihm alles Wasser nehmen sollte. Sein Wort wird dennoch bleiben bis in Ewigkeit, was auch in der Zeit täten alle, so es hassen. Verbum Dei manet in aeternum war hierbevor aller getreuen Bekenner Leib-Wort. Das unserige soll es auch bleiben und das unser Trost sein; wann kein Mensch für Gottes Kirche sich interessieren wird, wird Gott ins Mittel treten und den Feinden der evangelischen Kirche ein Gebiß [= Zaumzeug] ins Maul legen […].11
Der Lutheraner Lassenius kommt in diesem Zusammenhang übrigens nicht auf anderskonfessionelle Infragestellungen der (lutherischen) Kirche zu sprechen. Überhaupt sind es Lassenius zufolge keineswegs nur externe Akteure, welche die Kirche bedrohen. Vielmehr sieht er die bedrohlichen Mächte (auch) in seiner eigenen Konfession am Werke, welche nicht einhellig das Erbe der Reformation bewahrt und gepflegt habe, sondern durch interne Konflikte und einen eklatanten Mangel an „Gottseligkeit“, mithin pietas, in Frage gestellt sei, und sich eine Deformation des reformatorischen Erbes habe zu Schulden kommen lassen. Hiermit greift Lassenius einen Topos auf, der sich (mit jeweils spezifischen Akzentuierungen) bei zahlreichen lutherischen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts finden lässt, etwa bei Johann Arndt (1555–1621)12, Johann Gerhard (1582–1637)13 und Johann Rist (1607–1667).14 Wir haben wohl die wahre Kirche, fürwahr aber nicht alle die wahren Werke der Gottseligkeit. Wir sind nach der heilsamen Reformation zum Teil unsere selbst heillose Deformatores geworden […]. Der Rock des Herrn ist zerrissen, und es gibt sich noch heut’ keiner an, der ihn ergänze […].15
11 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 149. 12 Vgl. Schneider, Hans: Arndt (Aquila), Johann [Art.]: In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u.a.]. Bd. 1. Berlin [u.a.] 2011. Sp. 146–157. 13 Vgl. Steiger, Johann Anselm: Gerhard, Johann [Art.]. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u.a.]. Bd. 2. Berlin [u.a.] 2012. Sp. 557–571. 14 Vgl. Steiger, Johann Anselm u. Bernhard Jahn (Hrsg.): Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Berlin [u.a.] 2015 (Frühe Neuzeit 195). 15 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 148.
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2 providentia specialissima. Von Gott dem einzelnen Christen gewährter Schutz Das zweite Emblemgemälde (Abb. 7.4) hat ebenfalls den göttlichen Schutz zum Inhalt, thematisiert allerdings nicht die Bewahrung, welche Gott der Christenheit kollektiv zuteilwerden lässt, indem er die Kirche gegen die Verderbensmächte verteidigt, sondern nimmt – im Sinne der Lehre von der sich auf die je einzelnen glaubenden Subjekte richtenden Vorsehung Gottes (providentia specialissima) – das schützende Handeln Gottes in den Blick, welches er dem einzelnen angedeihen lässt. Wie der Kupferstich (Abb. 7.5), der diesbezüglich als Vorlage diente, stellt das Gemälde dem Betrachter die Hand Gottes vor Augen, die aus einer dunklen Wolke mit hellen Lichtstrahlen hervorbricht. Sie hebt ein Schaf, das die glaubende Seele verkörpert, empor und entzieht es buchstäblich einem unmittelbar bevorstehenden Konflikt mit zwei Wölfen, den das Schaf unweigerlich verlieren würde, fände die göttliche Intervention nicht statt. Klar erkennbar basiert die Bildkomposition auf Jesu Ausspruch, er sende die Jünger (und mit ihnen alle Glaubenden) als die kleine Schar von Arbeitern in die große Ernte (Lukas 10,2) und zugleich wie die Lämmer unter die Wölfe (Lukas 10,3). Zugleich aber steht das Em blemgemälde in einem gewissen Kontrast zu dieser Aussendungsrede Jesu, insofern es die tröstliche Perspektive eröffnet, dass die unter die Wölfe Gesandten der göttlichen Rettung gewiss sein dürfen. Die Inschrift unter dem Gemälde lautet: „Die seinen hält der Herr in huth | und schützt sie für der feinde wuth.“ Auf diesen Sachzusammenhang kommt Lassenius in seiner Abendmeditation zum 10. Februar, welche unter der Überschrift „Der Schutz“ steht, ausführlich zu sprechen. Satan und die sündhafte Welt bedrohen Lassenius zufolge die Glaubenden permanent und hätten diese längst ein für alle Mal besiegt, würden diese nicht von Gott als ihrem „Rück-Halter“ beschützt. Was die Schafe sind unter den Wölfen, das sind Gottes Kinder unter den Gottlosen. Ginge es nach dieser Sinn, lebte derer keiner. Teufel und Welt ist Vater und Kind. Diese böse Familie hätte Gottes Haus längst über einen Haufen geworfen, so sie keinen Rück-Halter hätten.16
Um die von Gott gegebene Verheißung, die Glaubenden beschützen zu wollen, in den Vordergrund zu heben und deren Verankerung in der Heiligen Schrift zu verdeutlichen, führt Lassenius eine ganze Kette diesbezüglich einschlägiger Kernstellen des Alten Testaments an: Den Rachen mag der Wolf aufschlagen, das Maul der Löw’ aufsperren, darum werden uns die wilden Tier’ nicht zermalmen! Gott ist unser Schutz und Zuflucht (2. Samuel 22,3). Der Herr ist
16 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 157.
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des Armen Schutz (Psalm 9,10). Der Gott Jakobs ist mein Schutz (Psalm 46,12). Unser Schutz ist unser Not [recte: Gott] (Psalm 59,10). Felsen werden unser Schutz sein (Jesaja 33,16).17
Das Bild von der göttlichen Hand, die das Schaf aus irdischen Gefilden heraus- und zu sich in den Himmel nimmt, ist freilich auch dahingehend zu deuten, dass selbst dann von einer Schutzmaßnahme Gottes zu sprechen ist, wenn dieser es den Gegnern des Glaubenden gestattet, ihn zu töten, weil der Märtyrer nicht in das Verderben, sondern in Abrahams Schoß (Lukas 16,22) gelangt. Wollen haben unsere Feinde wohl, das Vollbringen wird ihnen Gott nimmer geben. Und wann die Welt ja allzu wölfisch werden sollte, weiß Gott für die Seinen allezeit ein Auskommen: aus der Welt in den Himmel. Da muß die Welt, so im Argen lieget, uns wohl mit Frieden in Abrahams Schoß liegen lassen.18
3 Vergeblichkeit pastoraler Tätigkeit Das dritte Emblemgemälde trägt die Unterschrift „Ach Ach, | Schwartz vor alß nach“ und zeigt drei Raben, die durch das Wasser, das ein Mann aus einer Gießkanne auf sie fließen läßt, nicht heller werden (Abb. 7.6). Der reichlich Wasser spendende Brunnen am linken Bildrand suggeriert, dass sich am Schwarzsein und Schwarzbleiben der Raben selbst dann nichts ändern würde, wenn man deren Begießung unablässig fortsetzte. Im Bildmittelgrund ist eine Kulturlandschaft mit Bäumen und Wiese dargestellt, während im Hintergrund eine Gebirgslandschaft sowie drei schwarze fliegende Vögel zu erkennen sind, bei denen es sich um die drei schwarz gebliebenen Raben handeln dürfte. Sie fehlen in der Kupferstichvorlage (Abb. 7.7), woran sich zeigt, dass der unbekannte, in Mellenthin tätige Künstler seinen Vor-Bildern zwar äußerst genau folgte, zugleich jedoch offenbar bestrebt war, hie und da eigene bildkompositorische Akzente zu setzen. Der besagte Kupferstich, in dem ein vierter Rabe zu erblicken ist, der dem Betrachter gleichsam entgegenschwimmt, ist in Lassenius’ Heiligem PerlenSchatz der Abendandacht zum 28. Juni zugeordnet, welche die Überschrift „Vergeblich“ trägt. Der Rabe steht traditionellerweise nicht nur – wie in vorliegendem Falle – für den hartnäckigen Sünder, der sich nicht um das Angebot der Sündenvergebung schert, sondern fungiert auch (im Anschluss an 1. Mose 8,7, wo erzählt wird, dass der aus der Arche Noah entlassene Rabe nicht zu dieser zurückkehrte) als Sinnbild der Undankbarkeit. Wie die männliche Gestalt zu deuten ist, welche die Raben begießt, ist Lassenius’ Meditation zu entnehmen: Die Person steht für den Prediger, dessen Wirken – gemäß der bereits vom Apostel Paulus gemachten Erfahrung – häufig vergeblich ist 17 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 158. 18 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 158.
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(1. Korinther 15,14), weswegen „der Arbeit Frucht“, auch derjenigen eines Predigers, „Gott heimgestellet bleiben“19 muss. Wie jede Berufstätigkeit, etwa diejenige eines Arztes, dessen Therapien zuweilen nicht zum Erfolg führen, ist auch diejenige eines Predigers nicht selten vergeblich, wie Lassenius (auf Jesaja 49,4 Bezug nehmend) deutlich macht: „Nun arbeitet wohl mancher vergeblich“.20 Wenn die Berufstätigkeit nichts bewirkt, sei, wie Lassenius hervorhebt, nicht immer die Inkompetenz des menschlichen Akteurs daran schuld, vielmehr müsse damit gerechnet werden, dass Gott derartige Fruchtlosigkeit kausiere. Die Gnade Gottes hingegen sei „nirgends vergeblich“, und allein sie habe die Macht, die „blutrote Sünde […] weiß [zu] machen“,21 wie Lassenius unter Bezug auf Jesaja 1,18 („Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden“) formuliert. Daher könne auch nur die Gnade Gottes die schwarzen Raben weiß machen. Dasselbe gelte für das Gebet, das ebenfalls niemals vergeblich ist: „So werden wir auch nicht vergeblich beten, sondern Gott wird dem Gebet seine Kraft in wirklicher Erhörung geben um Christi willen.“22
4 Gottes Züchtigungen als Maßnahmen gegen die Herzenshärtigkeit Das vierte Emblemgemälde (Abb. 7.8) stellt zwei Engel dar, die mit Hämmern ein zur Glut gebrachtes Herz bearbeiten, welches von einem der Engel mittels einer Zange auf einem Amboss festgehalten wird. Dies veranschaulicht, dass es sich um ein glühendes Herz handelt, was im Gemälde durch die rote Farbgebung deutlicher sinnfällig wird als in der monochromen Kupferstichvorlage (Abb. 7.9). Die Unterschrift „Der hamer ist wol schwer, | Doch bringt er Zier und Ehr“ legt die Deutung nahe, dass hier – ähnlich wie dies in den Emblemata Sacra des Daniel Cramer (1568–1637)23 der Fall ist24 – von der Wirkmacht des Wortes Gottes gehandelt wird, welches Jeremia 23,29 zufolge die Macht hat, Felsen zu zerschmettern und daher auch die Herzenshärtigkeit des Sünders zu überwinden vermag. Zugleich gilt der Amboss in der frühneuzeitlichen Emblematik als Sinnbild der Geduld (patientia). In Lassenius’ Morgenandacht zum 20. April, welcher der Emblemkupferstich beigesellt ist, der als Vorlage für das Mellenthiner Gemälde diente, steht allerdings ein 19 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 274. 20 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 274. 21 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 274. 22 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 274. 23 Vgl. Mödersheim, Sabine: Cramer, Daniel [Art.]: In: Kühlmann (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Bd. 2 (wie Anm. 13), Sp. 23–30. 24 Cramer, Daniel: EMBLEMATUM SACRORUM Prima [– Secunda] Pars. […]. Frankfurt a. M. 1624 (SUB Hamburg A/208541), I, Nr. 1.
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deutlich anders gelagerter Aspekt im Vordergrund, nämlich derjenige der „Züchtigung“, wie der Überschrift zu entnehmen ist. Lassenius führt aus, dass Maßnahmen, die auf den ersten Blick als schädlich erscheinen könnten, in Wahrheit eine förderliche Funktion haben wie etwa das Beschneiden von Bäumen, das Pflügen der Äcker und die Läuterung des Goldes im Feuer. Ähnliches gelte bezüglich der Züchtigungen, die Gott (gemäß Sprüche Salomos 3,12: „Denn welchen der Herr liebt, den straft er, und hat Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn“) dem Menschen nicht mit dem Ziel auferlege, ihn ins Verderben zu stürzen, sondern weil er ihn liebt. Es ist dem Baum gut, daß er beschnitten wird, so wächset er in die Höhe. Wann die Erde wohl durchgegraben wird, trägt sie das beste Korn. Der gedroschene Halm gibt edlen Weizen, das vielgebleichte Leinwand wird das weißeste, das oft geläuterte Gold das beste; auch das harte Eisen erweicht durch’s Feuer; der gezüchtigte Knab’ gedeihet zum besten Mann.25
Lassenius vertritt wie Luther die Auffassung, dass der allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigte Mensch bis zum Jüngsten Tag noch ganz Sünder ist, es also innerhalb der irdischen Existenz einen Dauerkonflikt zwischen dem bereits neuen und doch noch alten Menschen gibt, woraus die tägliche Aufgabe resultiert, den alten Adam zu bekämpfen. Daher begreift es Lassenius als Akt der Liebe Gottes, wenn dieser vermittels von Widrigkeiten entscheidend zur Niederringung der sündigen Existenz beiträgt: „Darum muß dieser Hammer das Herz schlagen, daß es seines Schöpfers nicht vergesse; darum wird es gepeiniget, daß es gereiniget bleibe […]“.26
5 Christus medicus und Allheilmittel Das fünfte Emblemgemälde (Abb. 7.10) ist das einzige der Serie, das unmittelbar auf einen biblischen Erzählzusammenhang Bezug nimmt, nämlich auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,30–37). In der rechten Bildhälfte ist der kniende Samariter zu sehen, der sein Pferd an einem Baum angebunden hat und die Wunden des unter die Räuber Gefallenen versorgt. In der linken Bildhälfte sind die zwei Personen zu sehen, die an dem Halbtoten ohne Leistung von Erster Hilfe vorbeigezogen waren und bei denen es sich laut Lukas 10,31f. um einen Priester und einen Leviten gehandelt hat. Auch hier hat der Künstler, der die Mellenthiner Gemäldeserie schuf, leicht in seine Vorlage eingegriffen, indem er nämlich der linken Person eine Tonsur verpasste und sie so als Mönch inszenierte, während die rechte, weiß gewandete Gestalt eine Bischofsmütze trägt, womit eine polemische Akzentuierung gegeben ist, die Ausdruck der interkonfessionellen Konfliktsituation zwischen dem (lutherischen) Protestantismus und dem Katholizismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist. 25 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 456. 26 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 456.
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Die subscriptio des Gemäldes „Es werden unsre Wunden | Allein von Gott verbunden“ lässt erkennen, dass hier auf die zeitgenössisch übliche Deutung des Gleichnisses Bezug genommen wird, die des Samariters Tun, mithin die Versorgung der Wunden des unter die Räuber Gefallenen, allegorisch mit der nur von Gott zu bewerkstelligenden Heilung der Sündenwunden in Beziehung setzt. Luther und die frühneuzeitlich-lutherische Auslegung des Gleichnisses sehen, anknüpfend an ältere Tradition, in dem Samariter den Sohn Gottes verkörpert. Er behandelt als göttlicher Arzt den durch die Sünde tödlich verletzten Menschen mit Wein und Öl, in denen sich das scharfe Gesetz und das Linderung bringende Evangelium spiegeln. Sodann verbringt Christus den vom Tode erretteten Menschen in ein Spital und verheißt wiederzukommen. Der von Christus als Arzt behandelte und gerechtfertigte Mensch ist demnach – wie Luther hervorhebt – Sünder und Gerechter, Geheilter und Kranker zugleich, und er befindet sich im Status der Rekonvaleszenz: Seine Wunden sind verbunden, aber noch nicht ausgeheilt. „Stets bleiben die Wunden offen und sind gleichwohl verbunden, bis er [Christus] zurückkehre und hole uns heim am Tag des Jüngsten Gerichts“.27 Bis zum Jüngsten Tag steht der Glaubende demnach in einem Prozess medizinischer Rehabilitation, die erst im himmlischen Jerusalem zum Abschluss kommen wird, wo kein Leid, Geschrei noch Schmerz mehr sein werden (Offenbarung 21,4) und das Holz des Lebens als Apotheke des Leibes wie der Seele für ewige Gesundheit sorgen wird (Offenbarung 22,2). Ähnlich äußert sich Lassenius in seiner Abendandacht zum 22. Mai. Ihr ist der Emblemkupferstich (Abb. 7.11) zugeordnet, der für das in Rede stehende Mellenthiner Emporengemälde verwendet wurde. Lassenius profiliert Christus als den einzigen Arzt, der über das Allheilmittel (panacea) verfügt und gemäß Jesaja 53,5 paradoxerweise mit Hilfe seiner Wunden heilt, von denen man vernünftigerweise doch annehmen müsste, sie bedürften selbst der Verarztung. Zudem sei der Sohn Gottes der einzige Arzt, dessen Arznei allen Menschen gleichermaßen zugutekommt.28
6 Leiden und Freuden von Gott Im sechsten Emblemgemälde (Abb. 7.12) begegnet (ähnlich wie im zweiten) erneut die aus dem bewölkten Himmel im Lichtglanz herausragende Hand Gottes, die sich nun allerdings in umgekehrter Richtung bewegt. Denn hier wird nicht ein Schaf emporgehoben, sondern es werden ein Lorbeerzweig und eine Geißel herabgereicht, die ausweislich der Inschrift Freude und Leid symbolisieren: „Von Gott komt leid und Freuden | Drüm schicke dich zu beiden.“ Bei Lassenius steht dieses Sinnbild (Abb. 7.13) mit der Morgenandacht zum 26. Februar in Zusammenhang, die sich laut Über27 Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009, hier Bd. 29,537,15f. 28 Vgl. Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), II, S. 111.
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schrift mit „Freud und Leid“ befasst. Lassenius erörtert, dass die Menschen gerne und willig die von Gott gestifteten Freuden in Anspruch nehmen, sich allerdings schwer damit tun, durch Leiden in die Nachfolge Christi (imitatio Christi) einzutreten und ihm ähnlich zu werden. Dies sei unsinnig, da doch feststehe, dass alles, was Gott den Menschen zuschicke, gut sei, auch wenn es auf den ersten Blick als böse erscheinen mag. Hier wird die Lehre von den – nur auf den ersten Blick, nicht aber tatsächlich konfligierenden – Werken Gottes zur Rechten (opera propria) und zur Linken (opera aliena) traktiert. Gegenstand dieser Lehrauffassung ist es, darzulegen, dass Gott sowohl in seinem rettenden, sündenvergebenden als auch in seinem den Menschen anfechtenden und ihn in Krisensituationen führenden Handeln ein und derselbe ist und innerhalb beider Handlungsweisen letztlich ein Ziel verfolgt, nämlich die Menschen zum ewigen Heil zu führen. Lassenius zufolge ist ferner unbezweifelbar, dass nur vor dem kontrastiven Hintergrund der Widrigkeiten die Freude recht wahrzunehmen ist. Niemand wüßte, was die Freude wäre, so er nicht erfahren [hätte], wie widerwärtig das Leid schmecket. Wer würde seine Gesundheit hoch achten, so er nicht einmal krank gewesen.29
7 Befreiung durch den Tod „Zur rechten Freyheit bringt der Todt | Und rettet uns aus aller Noth“ steht unter dem siebten Emblemgemälde (Abb. 7.14), das den als Skelett visualisierten Tod als Befreier darstellt, der einen Vogel aus einem Käfig entlässt, das heißt der Seele die Möglichkeit eröffnet, den Leib zu verlassen und zu Gott emporzusteigen. Einer bis in die griechisch-pagane Antike zurückreichenden Tradition gemäß, die z.B. in Platons Phaidon belegt ist (62b und 67d), wird hier der Leib (σῶμα) des Menschen als ein Grab (σῆμα) der Seele aufgefasst, aus welchem diese erst durch den Tod wie aus einem Gefängnis entlassen wird. Die Bezeichnung des Leibes als carcer animae und der Ausblick auf die Befreiung der Seele durch den Tod sind in der Frühen Neuzeit gängige, konfessionsübergreifende Motive, die u.a. in Johann Gerhards Meditationes Sacrae begegnen: Vita haec carcer animae est, mors autem liberatio; ideò moriturus Simeon exclamat: nunc di mittis servum tuum Domine, dimitti desiderat, veluti corporeo ergastulo inclusus: gratulandum ergo nostris, quod ex hoc carcere soluti ad veram libertatem aspiraverint; […].30
29 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 182. 30 Gerhard, Johann: Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch. Kritisch hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Bde. Bd. I. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Doctrina et Pietas I, 3). S. 240, Z. 26–30. Vgl. ferner Dilherr, Johann Michael: Kurtze Anweisung/ Zu Christschuldiger Gebühr/ Jn Gesundheit/ Jn Kranckheiten/ Und Jm Sterben […]. Nürnberg 1655 (HAB Wolfenbüttel Th 542). S. 200: „Was ist der Christen ihr Todt? Jst er nicht eine Auflösung aus den
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Das Mellenthiner Emblemgemälde basiert auf einem Sinnbild (Abb. 7.15), das bei Lassenius die Abendmeditation zum 3. Januar begleitet; diese ist mit „Der Tod“ überschrieben. Ebenfalls im Anschluss an griechisch-heidnisches Traditionsgut verdeutlicht Lassenius, dass das gesamte Leben des Menschen von Beginn an vom Tode geprägt ist, kommt auf den Leib-Gefängnis-Topos freilich nicht explizit zu sprechen: Das erste, so uns in der Welt begegnet, wann wir aus [dem] Mutterleibe kommen, ist der Tod. Wir fangen nicht so bald an zu leben als wir auch beginnen zu sterben. Der Tod ist nicht unser letztes; er hat sich schon im Mutterleib mit uns vermählet […].31
Dass der Beginn des Lebens als Anfang eines Sterbeprozesses anzusehen ist, ist eine in der Frühen Neuzeit gängige Sichtweise, die tief in der Antike verankert ist. Dies geht z.B. aus einem Zitat aus dem römisch-antiken Lehrgedicht mit dem Titel Astronomica hervor, das vermutlich von Marcus Manilius (1. Jahrhundert n. Chr.) verfasst wurde. Hier heißt es: „nascentes morimur, finisque ab origine pendet“32 (von Geburt an sterben wir, und das Ende hängt am Ursprung). Dieses Zitat erfreute sich von jeher im christlichen Kontext und auch in der Frühen Neuzeit – etwa als Inschrift auf Epitaphien – außerordentlich großer Beliebtheit. Es begegnet regelmäßig in Leichenpredigten und Texten, welche die Erlernung und Einübung der Sterbekunst (ars moriendi) zum Gegenstand haben, und wurde oftmals mit dem Ausspruch des Apostels Paulus „ich sterbe täglich“ (1. Korinther 15,31) in Verbindung gebracht, der ebenfalls als Ausweis der Tatsache gewertet wurde, dass eine permanente Befassung mit der Sterblichkeit und eine tägliche Vorbereitung auf den Tod nötig seien. Diese Perspektive verbindet Lassenius mit genuin christlich-biblischen Trostgründen, wobei er sich mit der Aussicht, dass der Mensch durch den Tod in die lang ersehnte Ruhe eingeht, auf die Offenbarung des Johannes bezieht (14,13)33 und mit der exclamatio „O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen, die ihr durch den Tod zu Gott gekommen“34 den Anfang eines in der Frühen Neuzeit stark verbreiteten Sterbegesangs aus der Feder des Königsberger Dichters und Professors für Poetik Simon Dach (1605–1659)35 in seinen Text einfließen lässt. Der im Mellenthiner Emblemgemälde intermedial vorgetragenen Auffassung gemäß besteht ein Konflikt zwischen Tod und Leben nur scheinbar: Zwar beendet
Elends-banden dieses kümmerlichen Weltkerckers/ und eine Einführung/ von dem Unfriede/ zu dem Frieden!“ 31 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 12. 32 Manilius: Astronomica. With an English Translation by George P. Goold. Cambridge (Massachusetts), London 1972 (The Loeb Classical Library o. Nr.), hier lib. 4, 16. 33 Vgl. Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 12. 34 Fischer, Albert Friedrich Wilhelm u. Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. 6 Bde. Gütersloh 1904–1916 (Reprint Hildesheim 1964), hier Bd. 3, S. 62, Nr. 79. 35 Vgl. Walter, Axel E. (Hrsg.): Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126).
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der Tod die irdische Existenz und ist als ständiger Begleiter der auf Erden lebenden Subjekte anzusehen, zugleich aber öffnet er die Tür zum ewigen Leben, weil er durch Tod und Auferstehung Jesu Christi eine grundlegende Umwertung erfahren hat.
8 coronatio aeterna. Tröstliche Aussichten für den christlichen Streiter Das letzte Emblemgemälde an der Mellenthiner Empore (Abb. 7.16) zeigt zwei aufgerichtete und über Kreuz stehende Lanzen, an denen je eine Fahne befestigt ist und die durch eine Krone zusammengehalten werden, und trägt die Bildunterschrift „Durch Kriegen | Zum Siegen“. Versinnbildlicht wird hier der noch ausstehende Sieg des Glaubenden, der in dieser Welt als miles Christianus im Konflikt mit den Verderbensmächten steht, womit eine Thematik wiederaufgegriffen und variiert wird, die schon das erste Emporengemälde bestimmt. Auch für dieses Gemälde fand eine Vorlage (Abb. 7.17) Verwendung, die sich in Lassenius’ Andachtswerk findet und dort der Morgenandacht zum 1. April zugeordnet ist, welche die Überschrift „Der Faule“ trägt. Der Text beklagt, dass Menschen enormen Fleiß an den Tag legen, um irdische Güter zu erwerben, die aber zur Erlangung der ewigen Seligkeit nicht das Geringste beitragen, während sie zugleich Faulheit an den Tag legen, wenn es um das Streben nach der „Perle der ewigen Seligkeit“36 geht. Zeitliche Güter zu erwerben, lässet man den Schweiß über die Wangen laufen, himmlische zu erwerben ist jedermann träg’. Dieses achtet man für ein Nebenwerk, das sich zu seiner Zeit findet. Wer zur rechten Zeit nicht suchet, wird zur Unzeit nichts finden.37
Dieser Diskrepanz entgegenzuwirken, ruft Lassenius zu geistlichem Fleiß auf, der sich in der angesichts des nahe bevorstehenden Jüngsten Tages notwendigen Wachsamkeit konkretisiert sowie in der Bereitschaft, mit dem „Schwert des Geistes“ (gemäß Epheser 6,17) zu kämpfen und „mit dem Gebet“ gegen die Verderbensmächte „zu streiten“. Die inhaltliche Kohärenz zwischen dem besagten Emblemkupferstich und dem auf ihn bezogenen Andachtstext ist in vorliegendem Fall weniger stark ausgeprägt als in den zuvor besprochenen Fällen. Deutlich ist, dass die Emblem-pictura die den Glaubenden gewiss bevorstehende Krönung in Erinnerung ruft und auf die diesbezüglich relevanten biblischen Kerntexte rekurriert, etwa auf 2. Timotheus 4,7f., wo Paulus die Gewissheit zum Ausdruck bringt, dass ihm trotz aller erfahrener Widrigkeiten die Bekrönung mit dem göttlichen Siegeskranz bevorsteht: 36 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 374. 37 Lassenius, Heiliger Perlen-Schatz 1701 (wie Anm. 1), I, S. 374.
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Ich habe einen guten Kampf gekämpfet, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten. Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung liebhaben (2. Timotheus 4,7f.).
Auf diese den christlichen Streitern von Gott verheißene Krönung, die in der pictura des Emblems thematisiert wird, geht die Andacht freilich nicht ein.
Ausblick Die Mellenthiner Serie von Emblemgemälden ist ein eindrückliches Zeugnis der sogenannten buchexternen Sinnbildkunst38 sowie der frühneuzeitlich-geistlichen Intermedialität von Bildern und (Kurz-)Texten in Sakralräumen. Da Lassenius’ Heiliger Perlen-Schatz recht weit verbreitet war, ist es durchaus denkbar, dass die betreffenden Emblemkupferstiche als Vorlagen für die Mellenthiner Gemälde gewählt wurden, weil auf diese Weise auf das frömmigkeitliche Bildgedächtnis der Gemeindeglieder zurückgegriffen werden konnte. Insofern ist die Mellenthiner Emblemausstattung auch als eindrückliche Konkretion der Intermedialität eines Sakralraums und der zeitgenössischen Andachtsliteratur anzusehen. Doch auch abgesehen davon darf die Serie der Emporengemälde als ein Beispiel frühneuzeitlicher Synthetisierung von geistlichen Bild- und Textmedien gelten, welche sich gegenseitig amplifizieren, interpretieren und explizieren. Daher ist diesbezüglich nicht von einem Medienkonflikt zu sprechen, sondern von einer Konkretion hermeneutisch reflektierter Mediensynthese, in welcher die je medienspezifischen Vorzüge und Stärken von Texten und Bildern zum Tragen kommen. Diese Konvergenz kooperierender (und nicht konfligierender) Medien dient allerdings einerseits der Thematisierung konflikthafter Oppositionen (wie Tod und Leben, Bedrohung und Schutz, Leid und Freude, neuer und alter Mensch, Anfechtung und Trost, Faulheit und Fleiß) und andererseits der Plausibilisierung der Verheißung, dass all diese Konflikte durch göttliche Intervention beigelegt werden, sei es bereits in der Gegenwart, sei es in der Zukunft. 38 Vgl. hierzu z.B. Strasser, Gerhard F. u. Mara Wade (Hrsg.): Die Domänen des Emblems. Außerliterarische Anwendungen der Emblematik. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 39); Freytag, Hartmut [u.a.]: Gesprächskultur des Barock. Die Embleme der Bunten Kammer im Herrenhaus Ludwigsburg bei Eckernförde. 2. Aufl. Kiel 2004; Harms, Wolfgang [u.a.] (Hrsg.): SinnBilderWelten. Emblematische Medien in der Frühen Neuzeit. Ausstellungskatalog München 1999; Harms, Wolfgang u. Hartmut Freytag (Hrsg.): Außerliterarische Wirkungen barocker Emblembücher. Emblematik in Ludwigsburg, Gaarz und Pommersfelden. München 1975. Vgl. ferner zur spezifisch außerliterarisch-geistlichen Emblematik Steiger, Johann Anselm, Michael Schilling u. Stefanie Arend: Sinnbilder im Sakralraum. Die Kirche in Lucklum – Ein Kompendium der geistlichen Emblematik der Frühen Neuzeit. Regensburg 2020 sowie Kemp, Cornelia: Angewandte Emblematik in süddeutschen Barockkirchen. München, Berlin 1981 (Kunstwissenschaftliche Studien 53).
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Auffällig ist, dass in Lassenius’ Erbauungsbuch (und entsprechend in der Mellenthiner Emblemserie) – verglichen etwa mit der Nürnberger Frömmigkeits- und Emblemkultur – ein stärker moralisch ausgerichteter Duktus erkennbar ist, der die Einübung christlicher perseverantia und die Bewährung des Glaubens in von Konflikten bestimmten Krisensituationen besonders konsequent ins Zentrum rückt. Hieran zeigt sich, dass eine derartige Akzentuierung, die man eher im Pietismus erwarten würde, auch in solchen lutherischen Konfessionskontexten möglich war, die keine pietistische Prägung aufwiesen, was ein Beleg dafür ist, wie ausgeprägt die binnenkonfessionelle Pluralität des frühneuzeitlichen Luthertums (auch an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert) war. Die Vermutung liegt nahe, dass die bei Lassenius und in Mellenthin beobachtbare Fokussierung der den Christen angesichts aller Widrigkeiten abverlangten Beständigkeit (zumindest auch) als Respons auf die im Ostseeraum in der fraglichen Zeit herrschenden politisch-militärischen Konfliktsituationen zu verstehen ist. Als Lassenius’ Heiliger Perlen-Schatz erstmals erschien, lag der Nordische Krieg von 1674 bis 1679 zwischen Dänemark und Brandenburg-Preußen auf der einen und dem Königreich Schweden auf der anderen Seite noch nicht lange zurück. Dieser Krieg hatte u.a. Südschweden (Schonen) und das westliche Pommern schwer getroffen. In der Zeit, in der die Mellenthiner Emblemgemälde entstanden sein dürften, wütete sodann der sog. Große Nordische Krieg (1700–1721), der auch Usedom stark in Mitleidenschaft zog. Nach der Vertreibung der Schweden und der Eroberung Usedoms durch preußische Truppen wurde die Insel im April 1715 von den Schweden zurückerobert, die allerdings bereits im Dezember dem gegnerischen dänischen Militär weichen mussten. Im am 3. Juli 1720 geschlossenen Frieden fiel Usedom wieder an die Schweden.39 Das Erbauungsbuch, welches die Vorlagen für die Gemälde spendete, stammt zwar von einem Deutschen pommerscher Herkunft, jedoch von einem solchen, der in der fraglichen Zeit seinen Wirkungs- und Publikationsort in der dänischen Residenzstadt Kopenhagen hatte. Die Mellenthiner Emporengemälde sind demnach einerseits Konkretionen der Tatsache, dass zwischen den Anrainer-Regionen rund um das mare balticum in der Frühen Neuzeit ein reicher Kulturaustausch herrschte. Andererseits dokumentieren die Artefakte auch die Tatsache, dass es in diesem Kulturaustausch zuweilen gelang, politisch-militärische Konfliktlinien – in diesem Fall zwischen dem schwedischen Pommern und den dänischen Invasoren – zu überschreiten. Abbildungsnachweis Abb. 7.1, 7.2, 7.4, 7.6, 7.8, 7.10, 7.12, 7.14, 7.16 © Johann Anselm Steiger, Hamburg. Abb. 7.3, 7.5, 7.7, 7.9, 7.11, 7.13, 7.15, 7.17 © Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle/S.
39 Vgl. Inachin, Kyra T.: Die Geschichte Pommerns. Rostock 2008. S. 92–94.
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Abb. 7.2: Erstes Emblemgemälde an der Orgelempore der Kirche zu Mellenthin.
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Abb. 7.3: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 147.
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Abb. 7.4: Zweites Emblemgemälde.
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Abb. 7.5: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 157.
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Abb. 7.6: Drittes Emblemgemälde.
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Abb. 7.7: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 273.
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Abb. 7.8: Viertes Emblemgemälde.
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Abb. 7.9: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 458.
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Abb. 7.10: Fünftes Emblemgemälde.
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Abb. 7.11: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 109.
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Abb. 7.12: Sechstes Emblemgemälde.
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Abb. 7.13: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 181.
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Abb. 7.14: Siebtes Emblemgemälde.
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Abb. 7.15: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 12.
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Abb. 7.16: Achtes Emblemgemälde.
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Abb. 7.17: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 375.
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Theologie der Medien: Stimme, Schrift, Bild
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Irenische Phantasie Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift in Constantino Ponce de la Fuentes Suma de doctrina cristiana (1543) Die kultur- und religionsgeschichtliche Einordnung des wohl berühmtesten reformatorischen Predigers im spanischen Siglo de Oro wirft bis heute zahlreiche Fragen auf, nicht zuletzt angesichts der schmalen Quellenlage, der erst einige jüngere Arbeiten neue Einsichten zugeführt haben. Entsprechend kann der Blick auf Constantino Ponce de la Fuente (ca. 1505–1559) und die protestantische Gruppe in Sevilla je nach ideologischem Standpunkt sehr verschieden ausfallen. Galt er insbesondere den älteren innerspanischen Historikern noch aus einer katholischen Perspektive als überzeugter Lutheraner, der seine antirömische Ausrichtung in nur scheinbar gemäßigten Schriften verbarg, so begreift ihn die neuere Forschung eher als erasmisch beeinflussten Vertreter einer gemäßigt-irenischen Tendenz, der bis zuletzt auf innerkirchliche Versöhnung hoffte. Hierfür bestanden Aussichten, solange der Reformprozess des katholischen Konzils, aber auch die deutschen Religionsgespräche und Reichstage noch keine endgültige konfessionelle Abschließung herbeigeführt hatten.1 Ihren Ausgangspunkt nimmt Constantinos Biographie in der Reformuniversität von Alcalá de Henares bei Madrid. Dort nahm der Sohn aus einer jüdischen ConversoFamilie wahrscheinlich ab 1524 sein Studium der Theologie auf. Bereits durch die Einrichtung von Lehrstühlen für Skotismus und Nominalismus neben dem üblichen scholastisch-thomistischen Kerngebiet war Alcalá für eine plurale innerkatholische Debatte stärker geöffnet, die die Klerusbildung insgesamt und die Breite der theologischen Diskussion fördern sollte. Hinzu kam das humanistische Großvorhaben der biblia polyglotta, das sich mit Kardinal Cisneros und dem Colegio Mayor verband. Michel Bœglin konnte zeigen, inwiefern für die hier entscheidende Zeitspanne um
1 Für die ältere Deutung als Lutheraner vgl. insbesondere Schäfer, Ernst: Sevilla und Valladolid. Die evangelischen Gemeinden Spaniens im Reformationszeitalter. Halle an der Saale 1903 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 78); Menéndez Pelayo, Marcelino: Historia de los heterodoxos españoles. Bd. 4: Protestantismo y sectas místicas. Hrsg. von Enrique Sánchez Reyes. Santander 1947. S. 81–104; Guerrero, José-Ramón: Catecismos españoles del siglo XVI. La obra catequética del Dr. Constantino Ponce de la Fuente. Madrid 1969 (Colección de estudios del Instituto Superior de pastoral. Universidad pontificia de Salamanca 1); ähnlich aber noch Giesen, Christine: Audacia y precaución: Constantino Ponce de la Fuente, defensor del protestantismo. In: Res Publica. Revista de Historia de las Ideas Políticas 20/2 (2017). S. 227–241. Für die neuere Lesart vgl. insbesondere die rezente Studie von Bœglin, Michel: Réforme et dissidence religieuse en Castille au temps de Charles Quint. L’affaire Constantino de la Fuente (1505?–1559). Paris 2016 (Littératures étrangères 17); daneben Bataillon, Marcel: Erasmo y España. Estudios sobre la historia espiritual del siglo XVI. Übers. v. Antonio Alatorre. 2. Aufl. México D. F. 1966. S. 522–548. https://doi.org/10.1515/9783110725193-009
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1520 bis 1525 eine sozialhistorische Mikroanalyse der „petites sociétés“2 zu schreiben wäre, in denen sich humanistische Gelehrte, Studenten, Prediger und Laien in kleinen Zirkeln zusammenfanden und reformatorisches Gedankengut deutscher und spanischer Herkunft aufnahmen und diskutierten. Neben der devotio moderna, erasmischen und lutherischen Schriften gelangten hier auch die Gedanken der alumbrados als mystischer Bewegung innerhalb der Iberischen Halbinsel zur Bedeutung, in den durchlässigen „eaux mêlées de l’illuminisme et du luthéranisme“3. Aus den Akten der Inquisition lässt sich dokumentieren, dass spätestens ab 1525 in Alcalá de Henares reformatorische Schriften zirkulierten, bis schließlich 1530 offiziell die Abgabe lutherischer bzw. nichtorthodoxer Werke gefordert wurde. Diese Änderung des Klimas verbindet sich zum einen mit der Konferenz von Valladolid (1527), bei der erstmals Aussagen des Erasmus als potenziell häretisch deklariert wurden, aber auch mit den ersten inquisitorischen Vernehmungen und Prozessen in Alcalá de Henares selbst. Als die von den alumbrados beeinflusste beata Francisca de Hernández 1530 in Valladolid verhört wurde, beschuldigte sie zahlreiche ebenso bekannte wie einflussreiche Persönlichkeiten, namentlich Juan de Vergara, den Sekretär des Erzbischofs von Toledo Alonso de Fonseca, aber auch dessen Halbbruder Bernardino de Tovar, ihren ehemaligen Geliebten. Vergara wurde schließlich der Besitz lutherischer Schriften zum Verhängnis. Umfang und Ausführlichkeit von Francisca de Hernández’ Aussagen und ihre ungewöhnlich genaue Kenntnis lutherischer Positionen zur Beichte und zur Gnadenlehre nährten zuletzt den Verdacht einer weiterreichenden factio lutherana, der die Amtskirche zum Handeln zwang.4 Constantino Ponce de la Fuente war während seiner Studienzeit Mitglied dieser ideologisch geöffneten Kreise in Alcalá, wenngleich die Quellenlage hier wenige genaue Anhaltspunkte bietet.5 Angesichts der zunehmenden kirchlichen Verfolgung verließ er nach 1530 die Stadt, so wie zahlreiche weitere Gelehrte der humanistischen Elite auch, und ließ sich in Sevilla nieder, wo unter dem erasmisch geprägten Kardinal Alonso Manrique ein aufgeschlossenes Klima herrschte. Hier erwarb er sich über die Stadtgrenzen hinaus einen Ruf als herausragender Prediger, der ein großes Publikum in seinen Bann ziehen konnte: „se consideraba el más grande predicador de su época“6. Worin genau diese Faszinationskraft begründet lag, ist angesichts der fehlenden Überlieferung des gesprochenen Wortes nicht leicht zu beantworten. Aus den gedruckten sechs Predigten zum Psalm Beatus vir geht hervor, dass inhaltlich eine christologische Ausrichtung im Vordergrund stand, die die Barmherzigkeit Christi und die göttliche Gnade betonte, den Werken jedoch nur nachgeordnete Bedeutung
2 Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 67. 3 Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 61, vgl. auch S. 61–70. 4 Vgl. Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 70–74. 5 Vgl. Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 79–90. 6 Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 529.
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zuerkannte.7 Der zeitgenössische Humanist Alfonso García Matamoros bewundert in De asserenda Hispanorum eruditione (1553) die klare und einfache Sprache der Darstellung, deren eindringliche Schlichtheit sich von der schulmäßigen Kanzelrede abhob,8 wie es schon Antonio de Valdés im Diálogo de Mercurio y Carón (1528) empfohlen hatte.9 Sein wachsender Ruhm begründet eine rasche Karriere, er wird Hofprediger und Kaplan von Philipp II., begleitet Karl V. auf seiner Reise durch Europa zwischen 1548 und 1552, bevor er 1557 Magistralkanonikus an der Kathedrale von Sevilla wird. Gleichzeitig beginnt der Generalinquisitor Fernando de Valdés ihn ob seiner reformatorischen Predigten zu verfolgen und führt schließlich die Verhaftung am 16. August 1558 herbei. Die spektakuläre Entdeckung einer reichhaltigen Privatbibliothek mit zahlreichen Werken von Luther, Zwingli und anderen als häretisch denunzierten Autoren, aber auch ein offen kirchen- und papstkritisches Dossier begründen die Anklage und den zuletzt post mortem durchgeführten Prozess. Constantino starb Ende 1559 im Kerker der Inquisition; seine Gebeine wurden nach dem Urteil beim Autodafé von Valladolid am 22. Dezember 1560 öffentlich verbrannt.10
1 Die Suma de doctrina cristiana – klandestin oder irenisch? Die Suma de doctrina cristiana en que se contiene todo lo principal y necesario que el hombre cristiano debe saber y obrar, auf der Constantino Ponce de la Fuentes literarischer Ruhm maßgeblich beruht, wurde 1543 in Sevilla beim Verleger Cromberger gedruckt und ist der erste der drei Katechismen des Predigers. Diesem ‚kleinen Katechismus‘ in der Form eines literarischen Dialogs folgten 1547 der Catecismo christiano para instruir los niños sowie 1548 die Doctrina christiana. Ähnlich wie andere geistliche Dialoge der spanischen Renaissance erfuhr auch die Suma einen außergewöhnlichen publizistischen Erfolg, von dem die raschen Neuauflagen und eine Verbreitung bis nach Mexiko zeugen.11 Erst das Zensurverbot dieses heterodoxen Dialogs, der zur 7 Vgl. hier zur Exposición del primer psalmo de David cuyo principio es Beatus vir, dividida en seys sermones (1546) die Analyse bei Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 530–534. 8 Vgl. Menéndez Pelayo, Heterodoxos (wie Anm. 1), S. 84. 9 Vgl. Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 91–102; Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 529–534. 10 Vgl. Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 187–331. 11 Es folgten im 16. Jahrhundert vier weitere Auflagen in Spanien (1544, 1545, 1547, 1551) und zwei anonyme Ausgaben in Mexiko, bevor das Werk auf den Index des Generalinquisitors Valdés von 1559 gesetzt wurde, vgl. zur Publikationsgeschichte Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 121–123; Guerrero, Catecismos (wie Anm. 1), S. 39–42; Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 539–540. Wir verwenden im Folgenden die einzige moderne Ausgabe, Ponce de la Fuente, Constantino: Suma de doctrina cristiana. Sermón de Nuestro Señor en el monte. Catecismo Cristiano. Confesión de un pecador. ND hrsg. von Luis de Usoz y Río. Madrid 1863 (Reformistas antiguos españoles). In dieser Ausgabe haben
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bevorzugten Lektüre von Kaiser Karl V. zählte,12 beendete die weitere Verbreitung. Von Beginn an wurde die hohe sprachlich-literarische Qualität des Werks betont, so konzediert der katholische Historiker Menéndez Pelayo in einer vielzitierten Passage: „El estilo del autor es firme, sencillo y de una tersura y limpieza notables; sin grandes arrebatos ni movimientos, pero con una elegancia modesta y sostenida: cumplido modelo en el género didáctico. Es el mejor escrito de los Catecismos castellanos, aunque, por desgracia, no el más puro.“13 Freilich handelt es sich hier wohl um eine Art von vergiftetem Lob: Gerade allzu kunstreiches Dichterhandwerk konnte aus inquisitorischer Perspektive als suspekt gelten, da der Blick sozusagen am äußeren Glanz der Eloquenz verhaftet blieb, anstatt zum Glauben vorzudringen.14 Gemäß den Bedingungen des Genremusters verschränken sich in Constantinos literarischem Dialog systematisch-dogmatische, dialektische und poetische Prinzipien der Darstellung. Ungeachtet dieser heterogenen Komposition wird das Werk indessen häufig gleichsam als bloße historische Quelle aufgefasst, als quasi-faktuales Dokument der spanischen Reformationsgeschichte, in der es zweifellos eine wichtige theologische Übergangsstelle anzeigt. Nicht wenige Deutungen konzentrieren sich entsprechend auf die Frage der heterodoxen Elemente in den Sprechakten, auf die starke Rezeption und das abschließende Zensurverbot. Ein wesentlicher Befund besteht dabei darin, dass in der Suma de doctrina cristiana sozusagen klandestin ‚reformatorische‘ Konzeptionen in einen sonst überwiegend orthodoxen, der katholischen Auffassung entsprechenden Katechismus eingebaut sind. Die sprachliche Arbeit folgt demnach einer Poetik der Dissimulation; theologisch prekäre Aussagen werden gleichsam unmerklich in die inszenierte Katechese integriert. Auf diese Weise entsteht eine hybride und diffuse konfessionelle Signatur, die sich oft schwer einer bestimmten Richtung zuordnen lässt.15 Die Deutung dieser inneren Komplexität sowie der ihr zugrunde liegenden Intention kann indessen sehr verschieden ausfallen. Eine ältere Tradition in der Linie von Menéndez Pelayo, Bataillon und noch Giesen betont das zensurpolitische Kalkül solcher Manöver, die den Rahmen des im historischen die Seiten der einleitenden Paratexte keine Pagination; wir verwenden im Folgenden ersatzhalber durchnummerierte römische Ziffern. Die historische Orthographie des Herausgebers Usoz wird von uns beibehalten. 12 Vgl. Schäfer, Sevilla (wie Anm. 1), S. 7. 13 Menéndez Pelayo, Heterodoxos (wie Anm. 1), S. 89; auch Bataillon lobt „los recursos de su elocuencia habitual“ (Bataillon, Erasmo [wie Anm. 1], S. 535). 14 Rhetorik und Beredsamkeit konnten den Inquisitoren als Merkmal protestantischer Überredungsund Verdrehungskünste gelten, vgl. Vega, María José: Coram simplicibus: disputatio y diálogo doctrinal en el pensamiento censorio del siglo XVI. In: Diálogo y censura en el siglo XVI (España y Portugal). Hrsg. von Ana Vian Herrero [u.a.]. Frankfurt a. M., Madrid 2016 (Tiempo emulado 45). S. 73–104, insbes. S. 90–92. 15 Vgl. zu diesem Synkretismus Giesen, Audacia (wie Anm. 1), S. 235–237; Menéndez Pelayo, Heterodoxos (wie Anm. 1), S. 89. Entsprechend war Constantino kein eindeutig ‚lutherisch‘ einzuordnender Humanist, sondern eher Befürworter einer verinnerlichten und biblisch fundierten Frömmigkeit im Zeichen erasmischer Einflüsse, vgl. Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 523.
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Wissensdiskurs Sagbaren mit poetischer List unterlaufen: „desafiando las dificultades, Ponce consigue […] exponer sus doctrinas y críticas, con audacia en ocasiones, con cautela la mayoría de las veces, valiéndose de disimulos, omisiones, insinuaciones y procedimientos legitimadores.“16 Dem Autor gebührte demnach das zweifelhafte Lob eines Meisters der Verstellung („maestro en este arte del disimulo“17), eines primär taktisch agierenden ‚Nikodemiten‘. Andere Ansätze betonen demgegenüber Constantinos Versuch, im Modus der poetischen Fiktion eine tentative Aussöhnung zwischen protestantischen und katholischen Auffassungen durchzuspielen und auf diese Weise eine irenische Phantasie des Möglichen aufzubauen. Man kann den geistlichen Dialog auch als den eindrucksvollsten, vielleicht innerhalb von Spanien ersten Versuch lesen, katholische Lehre und protestantische Kritik in einer produktiven Interpretation zusammenzudenken.18 Der literarische Text wäre dann Brennspiegel einer diskursiven Pluralität und signalisierte Umbrüche in den historischen Ideologien und theologischen Wissenskonfigurationen. Für diese Lesart spricht unter anderem der Publikationszeitpunkt des Dialogs unmittelbar nach dem Reichstag von Regensburg 1541, denn das dort von beiden Seiten entworfene sogenannte Regensburger Buch stellte einen der avanciertesten Entwürfe für die potenziell wiedervereinigte ecclesia dar.19 Entsprechend könnte der Dialog eine publizistische Nebenstrategie zur Rezeption des Regensburger Buchs in Spanien gewesen sein, um so kirchliche und kaiserliche Kreise für die Vermittlung zu gewinnen, denn „la coïncidence des dates du début de son [i.e. de Constantino] activité littéraire et de la diète de Ratisbonne de 1541 n’était nullement fortuite“20. Zu den dissimulativen Verfahren, um ein Beispiel zu nennen, gehört in der Suma die behutsame Akzentverschiebung in zentralen Aspekten der katholischen Dogmatik. Aufschlussreich ist etwa im achten Kapitel („Del conozimiento de Dios“) der christologisch ausgerichtete Passus zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott, die laut der persona Ambrosios allein durch einen lebendigen Glauben möglich ist, der 16 Giesen, Audacia (wie Anm. 1), S. 227. 17 Giesen, Audacia (wie Anm. 1), S. 232. 18 Der einzige hierin vergleichbare Vorgänger könnte Juan de Valdés’ Diálogo de doctrina cristiana (1529) sein. Dort beobachtet die fiktionale Autoren-persona Eusebio einen schlecht ausgebildeten Geistlichen als Katecheten und lädt diesen ein, gemeinsam den Erzbischof von Granada zu besuchen. Beim Gespräch im Garten lobt der ausdrücklich erasmisch beeinflusste Prälat das Studium der Heiligen Schrift und ein verinnerlichtes Christentum. Ein lutherischer Einfluss bei den Passagen zum Dekalog ist teils überbetont worden, eher handelt es sich um „an attempt to find an acceptable compromise between Catholic and Lutheran views on the relation of faith and works“ (Crews, Daniel A.: Twilight of the Renaissance. The Life of Juan de Valdés. Toronto 2008. S. 37, vgl. auch S. 35–44). Vgl. dazu Valdés, Juan de: Obras completas. Bd. 1: Diálogos. Escritos espirituales. Cartas. Hrsg. von Ángel Alcalá. Madrid 1997 [Biblioteca Castro]. S. 7–150, weiter Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 124–126. 19 Vgl. Klueting, Harm: Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648. Stuttgart 1989 (UTB 1556). S. 128–129; zur Rezeption der Regensburger Ergebnisse in Spanien weiter Crews, Twilight (wie Anm. 18), S. 135– 159. 20 Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 118, vgl. auch S. 111–130.
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sich an göttlicher Liebe und Barmherzigkeit entzündet und seinen Bezugspunkt in der Passion Christi findet. Einzig dieser gelebte Glaube („Fé […] enamorada“21) mit seinem Vertrauen auf das bedingungslose Geschenk göttlicher Gnade sei entscheidend, nicht die Werke, denn menschliches Wirken an sich könne das Seelenheil nicht erzwingen. Zwar seien die äußeren Werke gut, wenn sie aus eben jenem lebendigen Glauben natürlich hervorgingen, sie seien aber nicht das Entscheidende und blieben letztlich nur Krümel am Tisch des Herrn, „pedazos, i sobras, de la riqueza de Jesu Cristo“22. Ohne den rechten Geist dargebrachte gute Werke seien dann vollends wirkungslos und Ausdruck einer „Fé muerta“23. Auf diese Weise wird die katholische Werkefrömmigkeit zwar nicht grundsätzlich negiert, jedoch abgeschwächt und an eine Gnadenlehre mit protestantischen Zügen angenähert.24 Ein ähnliches Vorgehen findet sich in Kapitel XIX, das den neunten Glaubensartikel des Credo behandelt, also „creér, que hai una Iglesia Católica, i Sancta“25. Hier wird die katholische Kirche zwar nicht als Institution, sondern als Gesamtheit der Christen definiert, aber immerhin werden schismatische und häretische Abspaltungen explizit verurteilt.26 Eine zweite zentrale Strategie ist die Ellipse, durch die sich die Gewichte in der Dogmatik entscheidend verlagern. So werden von den Sakramenten nur Beichte, Eucharistie und Messe thematisiert; die übrigen werden nicht vertieft, aber auch nicht ausdrücklich in ihrer Wirkung als Heilsmittel bestritten.27 Zuletzt bleibt bei zahlreichen kritischen Aspekten eine vieldeutige Vagheit bestehen, die das historische Publikum entsprechend ausdeuten konnte, etwa bei den Reliquien oder der Marienverehrung.28 Die Kirche als Institution und der Papst werden im Dialog nicht erwähnt. Anders gesagt, „el libro, en suma, era mucho más peligroso por lo que calla que por lo que dice“29. Als übergeordnete Legitimierungsstrategie, die auch die gesetzten Akzente zumindest teilweise erläutert, gilt die Ursprünglichkeit der vorgelegten Doktrin, der „vieja
21 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 29. 22 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 45. 23 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 29. 24 So Dionisio: „Porque, ya sabeis, que hai una Fé sin obras, la cuál, es Fé muerta, i que no basta para llevarnos al zielo: e otra, enamorada, i enzendida con caridád, que no se contenta, ni queda satisfecha, sin ponér en obra aquello que cree. Esta es, la que, de verdád, salva a los hombres, i la que, con suavísimo yugo, los trae afizionados a sí, e subjetos a los que quiere“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. 29, vgl. ebd., S. 41–42). Vgl. weiter dazu Guerrero, Catecismos (wie Anm. 1), S. 76–79 und Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 126–127. 25 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 78, vgl. auch S. 78–82. 26 Vgl. Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 79. 27 Vgl. Guerrero, Catecismos (wie Anm. 1), S. 134–153. Im Dialog selbst begründet Dionisio die begrenzte Auswahl mit der vorgerückten Stunde sowie damit, dass die übrigen Sakramente nicht im gleichen Maße nötig und alltäglich seien, „como materia mas larga, i aun no tan nezesaria, ni tan cotidiana“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. 215). 28 Vgl. Guerrero, Catecismos (wie Anm. 1), S. 47. 29 Menéndez Pelayo, Heterodoxos (wie Anm. 1), S. 90.
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doctrina“30, die sich allein an der christlichen Urkirche orientieren und von späteren Streitigkeiten und Verkrustungen lösen will, zugunsten einer Orientierung an der Heiligen Schrift – ein Topos reformatorischer Argumentationstechnik.31
2 Authentizität und Störung: die Medialität der Sprechsituation Innerhalb der spanischen Dialoge der Renaissance bilden die Katechismen in Gesprächsform eine eigene Untergruppe. In diesem Korpussegment nimmt Constantinos Suma dann noch einmal eine besondere Stellung ein, da es sich hier um kein archetypisches Schulgespräch handelt, bei dem der Katechismus in stereotypen Formeln gleichsam als leeres Vorzeigewissen vom Schüler hergesagt wird. Vielmehr handelt es sich um einen umfangreichen und stark fiktional elaborierten Text, in dem die verbale Prozedur des Examens als komplexe Szene spiritueller Selbstpraxis eines Kindes konstruiert ist, das Wege zu einer verinnerlichten, evangelischen Frömmigkeit aufzeigt und verkörpert. Im Zentrum des Dialogs steht folglich die katechetische Unterweisung, deren intellektuellen Tiefstand in der historischen Wirklichkeit Constantino im Prolog metaphorisch als Wunden der Christenheit schildert.32 Hierzu entwirft der Text dann im Modus der Dialogfiktion ein ideales Gegenbild, im exemplarischen Unterricht des Ambrosio. Besonderes Interesse muss dabei die ungewöhnliche Sprechsituation mit ihren semantischen Implikationen verdienen. Die das Geschehen einleitende praeparatio (Kapitel I–IV) zeigt den besorgten Vater Patrizio, der sich frühmorgens zum Taufpaten seines Sohnes Ambrosio begibt, Dionisio, um von diesem den Glaubensstand seines Sohnes und damit auch die Qualitäten des bisherigen Unterrichts überprüfen zu lassen. Diesem Wunsch fügt sich Dionisio gern: „Porque quiero ver, si por las señas que os dí, supistes hallar buen
30 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 79. 31 „Esta doctrina (porque nadie la menosprezie, ni tenga en poco), es la que la Iglesia Católica en su prinzipio enseñó, con grandísimo cuidado, a sus hijos. Esta era la predicazión de estónzes: i lo que en las públicas, i particulares Congregaziones se tractaba, del negozio de Jesu Christo Redemptór, i Señór del mundo. Aquí esta sumado, i recolejido, todo lo que está sembrado por las Scripturas Divinas: profetizado por muchas maneras, cubierto con grandes misterios, declarado en el Evanjelio, por la boca del Hijo de Dios, confirmado con milagros, i obras de grande espanto“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. VI). 32 „No quiero conferír aquí nuestros tiempos, con aquellos [i.e. antiguos], ni tractár de cuán grande afrenta sería, para muchos enseñadores, deszendér a tan baja cosa, como les pareszería, que era enseñár el Credo, i los Mandamientos. Vengamos al remedio d’esto, si remedio se puede dezír, tán blanda medizina como es la que quiere el mundo, para tan grandes, i tan envejezidas llagas, como son las que tiene. Siempre lo es cosa áspera, i escandalosa, dezirle, que vuelva á la virtúd antigua“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. VIII).
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Maestro, para mi ahijado Ambrosio“33. Im längeren Vorgespräch zwischen Patrizio und Dionisio betont dieser stets die hohe Bedeutung einer ernsthaften und sorgfältigen Ausbildung, die auf verinnerlichten und gelebten Glauben ebenso wie auf ein vertieftes Verständnis der Lehre abzielt. Denn die meisten Christen verstünden ihren Glauben als leere Wiederholung von Formeln und Ritualen, sie bewegten sich wie in einer Stadt, von der sie nur die Fassaden, nicht aber das Innenleben kennten. Diese kulturkritische Allegorie formuliert das erste Kapitel („De la obligazión de enseñár la Doctrina Cristiana: i del descuido, que en esto hai“) im bitteren Urteil des Dionisio: „qué nos queda, sino una vida de fariseos, o falsos Cristianos; que solamente tengamos las zerimonias, e ningún sentimiento, ni provecho d’ellas?“34 Sogleich findet sich Patrizio selbst in dieser Beschreibung wieder, auch er habe etwa die Gebete ohne Anteilnahme nachgesprochen, „como si fuera picaza, o papagayo“35. Gesteigerte Bedeutung kommt daher der Auswahl des rechten Lehrers zu, wobei sich die Wahl im Falle des Ambrosio als besonders günstig erweist, wie die Untersuchung zeigen wird. Im Hauptteil der Suma schreitet das Prüfungsgespräch zwischen Ambrosio und Dionisio dann die doktrinalen Lehrinhalte ab, und zwar in der Reihenfolge: doctrina de la fe (Glaubensartikel des Credo), doctrina de las obras (Dekalog), Vaterunser, Sakramente und Messe (Kapitel V–LII). Entgegen seiner pessimistischen Zeitdiagnose stellt Dionisio dabei die hohe geistliche Bildung des kleinen Ambrosio fest, der – so schon Constantino im Prolog – freilich eher eine Jugend zeigt, wie sie idealerweise sein sollte.36 In einer gewissen Nähe zum sokratischen Hervorlocken fordert Dionisio dabei nicht nur das Wissen und Erinnern doktrinaler Lehrinhalte selbst, im Sinne bloßen Hersagens, sondern wünscht jeweils auch eine persönlicher gehaltene Betrachtung, die vertieftes Verstehen, aber auch innere Reflexion und Assimilation anzeigt: „la oración se prolonga en la contemplación“37. Der Schlussteil der Suma schlägt den Bogen zurück zur Einleitung. Patrizio, als Allegorie des gesunden Menschenverstandes, des gutwilligen aber ungebildeten Christen, reut sein oberflächlicher Glaube, und er gelobt die Umkehr zu jener gelebten Frömmigkeit, die sein Sohn bereits vollzogen hat.38 Constantinos Anlage der Sprechsituation ist aus medialer Perspektive hier besonders aufschlussreich. Formal erinnert sie, wie von späteren Lesern mehrfach betont worden ist, in gewisser Weise an die Pietas puerilis aus den Colloquia des Erasmus von Rotterdam.39 Auch dort ist es ein Kind, der reichlich altkluge und selbstgewisse 33 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 15. 34 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 3. 35 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 12. 36 „I si agora no se hallan muchachos, que sepan tanto como aquél; yo no tracto de cómo son, sino de cómo habían de ser“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. XV). 37 Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 537; vgl. Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 2. 38 Vgl. Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. 234–237. 39 Vgl. Erasmus, Desiderius: Opera omnia. Bd. 3,1: Colloquia. Hrsg. von Léon-Ernest Halkin [u.a.]. Amsterdam 1972, S. 171–181, vgl. Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), S. 535.
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Gaspar, der Auffassungen einer protestantischen Frömmigkeit in musterschülerhafter Vollkommenheit vorträgt, stets nur kurz unterbrochen von den sarkastischen Fragen und Einwürfen des Erasmius, der gleichwohl als Fragender die Prozedur des Examens steuert. Die Suma de doctrina cristiana übernimmt aus diesem Intertext das Prinzip der veränderten Blickrichtung; nicht der ältere und erfahrenere Lehrer ist hier ethisches Exemplum und Inhaber des Wissens, sondern das Kind als Medium evangelischer Wahrheit. Im Licht dieser erasmischen Analogie, die bis in konkrete Zitate hineinreicht,40 treten aber auch die Eigentümlichkeiten des späteren Textes hervor. So würde die Pietas puerilis etwa dem Ambrosio eine andere, selbstbewusste bis überhebliche Redehaltung zuweisen, also das genaue Gegenteil zur hier inszenierten rhetorischen Sprechweise. Gemeinsam bleibt jedoch, dass beide Dialoge den Knaben als Herren über die Rede ausweisen, dessen auctoritas im Falle der Suma nicht durch lächerliche Perfektion, sondern durch ethische Aufrichtigkeit und suchendes Ringen um die christliche Wahrheit bestimmt ist, wie sie einer Rhetorik der Parrhesie eignet.41 Diese authentisch-wahrhaftige persona ist es, die nun das Stimme-Werden einer irenischen philosophia Christi performativ entwickelt, im Modus der dialogtypischen Bedingungen des Befragens. Die Figurenkonstellation kennt hier zwar noch eine geistlich gebildete, vielleicht klerikale Kontrollinstanz in Dionisio, der die thematische Entwicklung steuert und jederzeit in die Aktualität der Wahrnehmung zurückgeholt werden kann. Allerdings ist es nicht diese persona, die im Mittelpunkt steht, sondern vor allem Ambrosio, dessen lange Ausführungen quantitativ über weite Seitenstrecken dominieren, kaum je unterbrochen, um uns so in einer Art von Appellstruktur anzusprechen und zuletzt die conversio zur verinnerlichten Frömmigkeit in der beschriebenen, spezifisch irenischen Gestalt nahezulegen. Die solchermaßen inszenierte Stimme ist ihrerseits in ein komplexes Mediengefüge eingebettet, wie insbesondere eine entscheidende Belegstelle ganz am Ende des in 52 Kapitel unterteilten Dialogs offenbart. Denn tatsächlich enthält die zunächst scheinbar intuitive und frei erklingende Stimme Spuren einer vergangenen Schrift, sie beruht auf auswendig gelernten oder abgelesenen Notizen, die das Kind im Unterricht bei seinem bisherigen Lehrer aufgezeichnet hat und die so auf eine noch andere, aktuell abwesende und nur zitierte Stimme verweisen. Anders gesagt, Ambrosio ist eine Stimme, die nur teilweise als Rede eigenen Rechts bzw. eigener Autorität wahrgenommen werden kann, auch wenn die immanente Rezeptionsvorgabe vom Mythos
40 Vgl. etwa die semantische Affinität bei der abwertenden Haltung gegenüber allzu frommen Kindern: Die Aussage „que el ser mozo cuerdo, i buén Cristiano es señál de parár en neszio“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. 10) entspricht der Kritik der persona des Erasmius: „Aiunt vulgo pueros angelicos in satanam verti, vbi consenuerint“ (Erasmus, Opera [wie Anm. 39], S. 172). 41 Vgl. zur Parrhesie-Rhetorik hier Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/1982). Übers. v. Ulrike Bokelmann. Frankfurt a. M. 2004. S. 451–481.
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der Oralität, der naiv-wahrhaftigen Frömmigkeit des sprechenden Kindes zehrt.42 So lautet es im letzten Kapitel: Dionisio: […] A vuestro maestro sois en grande cargo: i siempre le tenéd grande reverenzia, como a vuestro mismo padre. I, veamos: ¿esta doctrína, no la escrebistes toda? No os tengo yo a vos, por tan perezoso, que dejásedes cosa d’ella. Ambrosio: Toda la tengo por escripto, ansí como aquí la he dicho: i enmendada de mano de mi Maestro. Dionisio: Eso bién. Agora os id, con la bendizión del que os crió, i os hizo tan grandes merzedes: i dezíd en casa, que aderezen de comér, que pasa ya de hora. I, mirád, que me vengais a ver muchas vezes: que holgaré mucho con vos.43
Der Hinweis auf dieses Widerspiel von Stimme und Schrift, das der inszenierten Rede des Ambrosio eignet, bedeutet indessen keine Diskreditierung, vielmehr verweist er auf historische Kontexte der Mediennutzung, insbesondere im Bereich der spirituellen Selbstpraxis. Offenbar steht hier der antike Gebrauch des Schreibens als Form innerer Assimilation im Raum, wie Michel Foucault ihn in seinen Vorlesungen zur älteren Subjektgeschichte und zur Meditation behandelt hat; dort erscheint letztere in ihrer historischen Semantik des meletan als gleichsam buchgestützte „Aneignungsübung“44. Dabei geht es nicht um ein mechanisches Auswendiglernen von Vorstellungsinhalten, um ein leeres Vorzeigewissen, sondern um ein intensives gedankliches Hineinversetzen in die Subjektposition desjenigen, der bestimmte Sätze sagen kann und für wahr hält oder bestimmte Erfahrungen macht, so wie es beim berühmtesten Beispiel, der Meditation des Todes, der Fall ist. In diesem Sinne arbeitet Ambrosio zurecht an seiner „Ausstattung an wahren Sätzen, die wirklich zu einem selbst gehören“45, er hat die irenische Glaubenslehre innerlich assimiliert und trägt sie daher so frei und kohärent vor, als wäre er selbst das authentisch-ursprüngliche, sozusagen erste Aussagesubjekt der einzelnen Propositionen. In dieser Aneignungsmeditation haben die Aufzeichnungen eine wichtige Funktion als Gedächtnisstütze (hypomnemata) und gestische Einverleibung: „Das Lesen wird durch das Schreiben, 42 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. München 1998. S. 13–17; Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967. S. 21–31. 43 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 233. [Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit der Argumentation habe ich diese und die folgende zentrale Stelle übersetzt: „Dionisio: […] Eurem Lehrer seid Ihr zu großem Dank verpflichtet, erweist ihm stets die größte Ehre, wie auch Eurem Vater selbst. Und nun lasst einmal sehen: Habt Ihr nicht diese Lehre vollständig niedergeschrieben? Ich halte Euch nicht für so nachlässig, dass Ihr Euch auch nur den kleinsten Teil davon entgehen lasst. — Ambrosio: Hier habe ich alles aufgeschrieben bei mir, so wie ich es aufgesagt habe, auch mit Verbesserungen von der Hand meines Lehrers. — Dionisio: So ist es recht. Und nun geht hin, mit dem Segen dessen, der Euch das Leben geschenkt und so viele Wohltaten erwiesen hat, und sagt zu Hause, dass das Essen vorbereitet werden soll, denn schon ist es höchste Zeit. Und seht zu, dass Ihr recht oft zu mir kommt, da ich an Euch so große Freude habe.“] 44 Foucault, Hermeneutik (wie Anm. 41), S. 435, vgl. zum Zusammenhang ebd., S. 433–441. 45 Foucault, Hermeneutik (wie Anm. 41), S. 437.
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das selbst eine Übung und ein Meditationselement ist, fortgesetzt, angeregt und verstärkt.“46 Ebenso vorgesehen ist, dass die Erinnerungshilfen später auch anderen dienen können,47 und genau dies ist in der Prüfungssituation gegenüber Dionisio hier der Fall. Denn Ambrosios Vater berichtet, nachdem er seinen Sohn verabschiedet hat, in welchem Maße er selbst sowie weitere Kinder und Mitmenschen von ihm profitieren: Patrizio: […] De mí, os zertifico, que muchas vezes, cuando le oigo esta doctrina (porque algunos días se la hago dezír toda: así para que él la tenga en la memoria, como para que los otros niños, i la jente de casa, la oyan, i se afizionen a tales obras, i no á cosas de vanidades) muchas vezes, como digo; pareze, que me toma un grande espanto, puesto que no se lo doi a entendér, porque no se ensoberbezca: i quedo corrido comigo mismo. ¡Sancto Dios! ¿I, qué es esto? ¿qué castigo es, el que yo merezco? ¡Que este mozuelo, conozca a Dios, i lo ame, i lo sienta en su corazón; i que yo me esté, como una cosa perdida!48
Foucault selbst deutet die Reprise von Meditation als Mediengefüge aus Lesen, Schreiben und Sprechen in den spirituellen Strömungen des 16. Jahrhunderts an.49 Diese Beobachtung lässt sich gerade für den spanischen Kontext bestätigen, nicht nur in der poetischen Praxis bei Constantino, sondern ansatzweise auch in theoretischen Reflexionen, wie Iveta Nakládalová gezeigt hat, etwa in Luis de Granadas vielgelesenem Libro de la oración y meditación (1554), demzufolge „la lectura guía el avance de la meditación; no constituye ya su instrumento auxiliar, sino un componente ineludible que la sustenta y dirige de manera directa e inmediata“50. Auch wenn sie schriftliche Spuren in sich trägt, bleibt Ambrosios Stimme doch gewiss in erster Linie eine emphatisch phonozentrisch bestimmte, im Sinne einer inszenierten Figurenrede, die als verstärkender Schallraum irenischer Lehre fungiert. Ein echter inhärenter Medienkonflikt ist ihr indessen auf andere Weise eingezeichnet, nämlich vor dem Hintergrund spezifischer Umbrüche in der Literatur des spanischen Siglo de Oro. Hier vollzieht sich gerade in den dreißiger und vierziger Jahren des 16.
46 Foucault, Hermeneutik (wie Anm. 41), S. 437. 47 Vgl. Foucault, Hermeneutik (wie Anm. 41), S. 433–441. 48 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. 234. [„Patrizio: […] Was mich angeht, so versichere ich Euch, dass ich diese Lehre viele Male von ihm höre – denn an manchen Tagen lasse ich ihn sie vollständig aufsagen, damit er sie gut im Gedächtnis behält und die anderen Kinder, aber auch die Menschen im Haus, sie hören und Freude an solchen Werken gewinnen, und nicht an Eitelkeiten. Viele Male höre ich sie also, wie ich schon sagte, und oft scheint mich dabei ein großer Schauder zu überkommen, wovon ich mir natürlich nichts anmerken lasse, damit er nicht etwa hochmütig wird, und ich schäme mich dann vor mir selbst. Heiliger Gott! Was ist das nur? Welche Strafe ist es, die ich verdient habe? Dass dieser Knabe Gott erkennen soll, ihn liebt und im Herzen vernimmt, und ich stehe daneben als ein Verlorener!“] 49 Vgl. Foucault, Hermeneutik (wie Anm. 41), S. 441–442. 50 Nakládalová, Iveta: La lectura docta en la primera edad moderna (1450–1650). Madrid 2013 (Lecturas. Historia moderna). S. 255, vgl. ebd., S. 252–268.
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Jahrhunderts eine starke Entwicklung der Buchdruckzentren;51 gleichzeitig beeinflusst diese technische Entwicklung natürlich auch das Genremuster des Dialogs selbst im Rahmen einer Dynamik, die Virginia Cox in ihrer Studie zum Renaissancedialog in Italien als Bewegung „from the open dialogue to the closed book“52 beschrieben hat. Doktrinale Dialoge des späteren 16. Jahrhunderts sind demnach zunehmend durch Systematisierung und Professionalisierung gekennzeichnet, auf Kosten einer natürlichen und wahrscheinlichen Gesprächsmimesis. Zur wachsenden Systematisierung gehört ein methodisch geprägter Aufbau des Dialogs, dessen Redegegenstand schematisch definiert und eingeteilt wird. Auf diese Weise dringen genuin skripturale Ordnungsmodelle in das Gespräch ein, die sich auch in paratextuellen Elementen, etwa Tabellen, Kapitelüberschriften oder Marginalglossen, widerspiegeln. Eine solche strikte Regulierung, die eher an den Traktat erinnert, verändert dann die Illusion eines natürlichen Gesprächsverlaufs grundlegend zugunsten konzeptuell schriftlicher Modelle. Die Professionalisierung verweist hingegen zunächst auf die gewachsene Anzahl doktrinaler und technischer Dialoge im historischen Textkorpus, die ihr spezialisiertes Lehrmaterial auf eine Weise anordnen, wie sie auch in faktualen Realisierungsformen anzutreffen ist. Poetische Gestaltungsprinzipien etwa der raumzeitlichen Situierung oder der stilisierten Mündlichkeit treten dann zurück, der Dialog passt sich nun vielmehr den Erfordernissen der technischen Informationen in Ordnungs- und Argumentationsformen an. Zunehmend monologische Ausdrucksweise und Abbau einer lebendigen Diskussion bedeuten freilich immer auch eine gewisse „violence to the nature of the dialogue“53, bei dem der Leser kaum noch virtueller Gesprächsbeobachter, sondern eher Rezipient eines Traktats zu sein scheint. Die entsprechenden Beirrungen im Erwartungshorizont hat Bernd Häsner in seinem historischen Vergleich zwischen Dialog und Essay beschrieben: Gesteigerten Ansprüchen an Stringenz, Systematizität und taxinomische Vollständigkeit, wie sie bestimmte Gegenstände einfordern, kann der Dialog ohnehin kaum oder nur auf Kosten der verosimilitudo einer Fiktion mündlicher Wechselrede gerecht werden. Wenn derartige methodische Ansprüche selber zu generellen und verpflichtenden Validitätsnormen theoretischer Diskurse gleich welchen Gegenstandes werden, wie dies seit dem Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur in den neu entstehenden Naturwissenschaften der Fall ist, erscheint der Dialog nicht länger als eine Option, diese Diskurse zu bewältigen und verliert zunehmend seine Legitimität als wissenschaftliche Textgattung.54
51 Vgl. Marsá, María: La imprenta en los Siglos de Oro. Madrid 2001 (Arcadia de las Letras 8). S. 87–99, 110–114. 52 So die Überschrift des neunten Kapitels in Cox, Virginia: The Renaissance Dialogue. Literary Dialogue in its Social and Political Contexts, Castiglione to Galileo. Cambridge 1992 (Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture 2). S. 99–113. 53 Cox, Dialogue (wie Anm. 52), S. 107. 54 Häsner, Bernd: Dialog und Essay. Zwei ‚Weisen der Welterzeugung‘ an der Schwelle zur Neuzeit. In: Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2006 (Text und Kontext 249). S. 141–203, hier S. 158, vgl. ebd., S. 157–158.
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Dieser dialogspezifische Medienkonflikt zwischen Stimme und Schrift prägt nun gerade auch Constantino Ponce de la Fuentes Suma de doctrina cristiana in erheblichem Maße. Dem perlokutiven Aspekt der kindlichen Stimme Ambrosios, der die spirituelle Kulturtechnik eines buchgestützt sprechenden Meditierens verkörpert, stünde dann eine zweite Textdimension entgegen, die skripturale Materialität des Buches und das methodische Modell des Traktats. Plastische Mimesis der irenischen Stimme und katechetisches Methodenbuch verzahnen sich so auf komplexe und teils undurchsichtige Weise in Constantinos publizistischem Erfolgswerk. In dieser Vermischung von literarischer Kreativität und didaktischer Stringenz unterscheidet sich die Suma von anderen Dialogkatechismen der Zeit. Literarisch ist sie jenen Dialogen überlegen, die eher archetypische Schulgespräche zeigen, „por preguntas y respuestas, a modo de formulario“55. Didaktisch ist sie indessen durch ihren hohen Willen zur methodischen Systematik herausgehoben, denn „le dialogue du docteur Constantino constituait ainsi le premier catéchisme en langue espagnole dont les différentes parties étaient organisées en fonction de critères didactiques et il tournait délibérément le dos à la multiplication de formules stéréotypées afin de développer les matières centrales de la catéchèse religieuse“56. Bemerkenswert ist dabei, dass der Verfasser die Ambivalenz von Stimme und Schrift bereits paratextuell reflektiert. So sticht etwa die explizite Bezeichnung des Werks als „tractado“57 im Prolog hervor, auch wenn diese skripturale Signatur in der historischen Gattungspoetik nicht unüblich ist, da zahlreiche Humanisten ihre Dialoge als Traktat „a manera de diálogo“ ausweisen.58 Nähert Constantino sich hier zunächst dem prestigereicheren Format des gelehrten Traktats an, so betont er kurz darauf wieder das poetische artificium des fingierten Gesprächs im Dienste moralischer Belehrung, denn die Mimesis der idealen Katechese des Ambrosio könne als Anleitung für das echte Leben herangezogen werden, für das sie identifikatorische Rollenmodelle bereithält.
55 Stärker literarische und tendenziell heterodoxe Dialogkatechismen wie Constantinos Suma, aber auch Juan de Valdés’ Diálogo de doctrina cristiana, wären dann von schwächer elaborierten und eher schematischen Lehrgesprächen von Pedro Canisio oder Domingo de Soto zu unterscheiden, vgl. Gómez, Jesús: El diálogo en el Renacimiento español. Madrid 1988 (Crítica y estudios literarios). S. 177–181, Zitat S. 180. 56 Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 125; vgl. Guerrero, Catecismos (wie Anm. 1), S. 45–48. 57 So lautet es gleich zu Beginn des Widmungstextes an den Erzbischof von Sevilla: „Este Tractado, en que con mediana brevedád va declarada la Suma de la doctrina Cristiana, Ilustrísimo, i Reverendísimo Señór: ni era razón que llevase nombre de los que otros libros suelen llevár: ni que saliese sin el favór i authoridád de vuestra Ilustrisima Señoría“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. III). 58 Vgl. Vian Herrero, Ana: Los paratextos dialógicos y su contribución a la poética del diálogo (siglos XV a XVII). In: Paratextos en la literatura española. Siglos XV-XVIII. Hrsg. von María Soledad Arredondo [u.a.]. Madrid 2009. S. 395–446, hier S. 417–420, Zitat S. 420.
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Porque nuestra intenzión, prinzipalmente fué, aprovechár con esta Doctrina, a los mozos de la primera edád, i a los que han de tenér, o tienen, cargo de enseñarlos: i así, la escribimos, por manera de Coloquio, introduziendo uno de los que dezimos.59
Nach diesem Bekenntnis zum mündlichen Lehrgespräch sticht dann im Hauptteil wiederum die skripturale Effizienz in der Ordnung des Lehrmaterials umso mehr hervor, da sie sich klar an herkömmlichen Schulkatechismen orientiert und eine Störung phonozentrischer Authentizität bewirkt. Anders gesagt, das christliche Glaubenswissen organisiert sich nicht in einem natürlichen, dem freien Gesprächsfluss folgenden Verlauf, sondern schreitet mit hoher Systematik den katechetischen Lehrplan des Glaubensbekenntnisses, der Gebote, des Gebetes und der drei ausgewählten Sakramente ab. Diese externe Ordnung wird dabei binnenfiktional durch die methodische Fragetechnik Dionisios hergestellt, der im Hauptteil der Suma kaum längere Digressionen oder Exkurse zulässt.60 Die skripturale Schließung des Dialogs zeigt sich dann auch im Druckbild der Folioseiten selbst auf eindeutige Weise an. Hier ist das lange Gespräch in insgesamt 52 Kapitel eingeteilt, die jeweils mit einer mittig zentrierten Zeile „Capítulo“ samt Überschrift abgesetzt sind; die inhaltliche Gliederung ist durch stichworthafte Marginalglossen angezeigt, so dass die Suma auch als ein katechetisches Nachschlagewerk benutzt worden sein könnte. Zuletzt sind die asymmetrischen Proportionen der Redeanteile als Aspekt hervorzuheben. Während im Vorgespräch zwischen Patrizio und Dionisio (Kapitel I–IV) sowie im Nachgespräch (Kapitel LII) ein ausgewogener, binnenfiktional wahrscheinlicher Redewechsel im Hin und Her der Repliken dominiert, überwiegen im Hauptteil des Prüfungsgesprächs die langen Monologe Ambrosios, die nur durch Nachfragen und zustimmende Äußerungen Dionisios unterbrochen werden. Hier tritt der diegetische Rahmen in der Aufmerksamkeit des Lesers beinahe in den Hintergrund und der Stil nähert sich einer auktorialen Verfasserrede an.
Konklusion Constantino Ponce de la Fuentes Suma de doctrina cristiana ist ein ebenso kunstvoller wie komplexer Text an der epistemologischen Schnittstelle von Religions- und Mediengeschichte in der spanischen Renaissance. Er kann unter anderem als semantische Ausformulierung einer irenischen Position gelesen werden, die im Rahmen spezifischer Konstellationen aus Macht und Wissen situiert ist, zu denen intertextuelle Modelle (Erasmus, Valdés), aktuelle diskursive Ereignisse (Regensburger Buch) 59 Ponce de la Fuente, Suma (wie Anm. 11), S. XV. 60 Etwa mit Formulierungen wie in Kapitel VIII: „Bien está dicho. Mas es menestér, que comenzeis a declarár todo eso, por orden: i porque para entenderlo mejór, i con mayór fazilidád, haze mucho, tenerlo dividido en sus partes“ (Ponce de la Fuente, Suma [wie Anm. 11], S. 28).
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und institutionelle Rahmen (Reformuniversität, Zensurpraxis) gehören. Gewiss dient er auch Constantinos eigener Positionierung im kulturellen Feld, mit Blick auf eine bemerkenswerte Karriere in Sevilla und darüber hinaus. Gemeinsamer Fluchtpunkt dieser Sinnlinien ist, so die Grundannahme Bœglins, der wir hier gefolgt sind, die Hoffnung auf interkonfessionelle Aussöhnung noch während des Konzils von Trient, die der Dialog in der persona Ambrosios verkörpert. Der besondere historische Index dieser Kommunikation zeigt sich im poetischen Text in den Manövern der Dissimulation; diese müssen nicht negativ konnotiert sein, etwa als gespieltes Wahren einer „apparente orthodoxie“61, sondern können auch als Ermöglichungsbedingung einer prekären theologischen Stimme erscheinen. Insgesamt bestätigt sich hier der – für die spanische Renaissance allgemein bezeichnende – Eindruck einer spezifisch hybriden Übergangsphase, den bereits der Literaturhistoriker Otis Green formulierte, eines „complicated interplay of orthodoxy-heterodoxy in the early years of Spain’s uncertain vacillation between innovation and tradition“62. Anders als zahlreiche Seelenführer des spanischen Siglo de Oro verfügt unser Dialog über keine starke präskriptive Wirkung, vielmehr zeigt er – trotz seiner methodischen Stringenz – doch eher eine Poetik der Suche und eine kindliche Identität im Werden. Tatsächlich gehen Stimme und Schrift in der constantinischen Suma dabei zuletzt eine konfliktive, ja beunruhigende Verbindung miteinander ein; sie entwickeln ein kompliziertes Widerspiel aus Authentizität und Störung. Auf paradoxe Weise scheint die irenische Rede in zwei medial verschieden markierten Sprechsituationen zugleich zu wurzeln, bald folgt der Rezipient der kindlich-wahrhaftigen Stimme in der kleinen diegetischen Fabel, bald entsteht eher der Eindruck, einer souveränen Stimme traktathafter Prägung nachzugehen, die ihr dogmatisches Programm methodisch abschreitet. In diesem Oszillieren spiegeln sich letztlich medientechnische Umbrüche des Zeitalters der Druckerpresse, die sich in die dialogische Poetik einzeichnen, nämlich in Form einer Störung der mündlichen Gesprächsillusion zugunsten methodischer Effizienz und skripturaler Schließung des Textes im Sinne von Cox. Auf beirrende Weise droht die so fluktuierende Stimme dabei letztlich keiner Sprechsituation mehr ganz anzugehören und hierin ortlos zu werden. Gerade in dieser Atopie könnte indessen nicht zuletzt auch eine Metapher für den gesamten Text der Suma liegen: Er zeigt gewissermaßen eine ungesicherte Stimme im Modus der Suche nach der noch nicht abschließend definierten irenischen Glaubenslehre und führt in diesem Suchen gleichsam das Schwankende christlicher Existenz angesichts der tiefen religiösen Verunsicherung im Konfessionellen Zeitalter plastisch vor. Darüber hinaus lässt sich die beschriebene Grenzverwischung im Geflecht aus Stimme und Schrift freilich auch als subtile Möglichkeit einer konfessionellen Kodierungsmöglichkeit begreifen, die abweichende Positionen formuliert, ohne theologische Kon61 Bœglin, Réforme (wie Anm. 1), S. 342. 62 Green, Otis H.: Spain and the Western Tradition. The Castillian Mind in Literature from El Cid to Calderón. Bd. 3. Madison 1965. S. 165.
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flikte ausdrücklich zuspitzen zu müssen. Denn während die sozusagen skripturalen Anteile noch weitgehend einer traditionellen Gliederung des Katechismus folgen und so nach außen die katholisch-dogmatische Rahmung wahren, vermittelt die mündliche Performanz das heilsame Wirken einer verinnerlichten Frömmigkeit erasmischer Prägung, die auf moralischer Selbsterforschung und individuell erfülltem Glauben aufbaut, zugleich aber die Amtskirche als Institution ausspart. Gerade dieser poetisch so eindringlichen Stimme, deren Faszination bereits die binnendiegetischen Figuren Dionisio und Patrizio nachgehen, dürften dann aber auch nahezu unwillkürlich die Rezipienten folgen und sich so auf eine evangelische insinuatio einlassen, die als irenisches Zeichen unter dem Eindruck der historischen Reichskirchenpolitik gelten kann.
Stephanie Wodianka
Die Stimme der Betrachtung Medienkonflikte in der romanischen Meditationsliteratur Das Untersuchungsfeld, das dieser Aufsatz fokussieren möchte, ist die meditative Betrachtung bzw. die Betrachtungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Grundund Ausgangsfrage im Kontext dieses Bandes bezieht sich dabei nur indirekt auf die Medialität von (literarischen) Texten und lautet vielmehr: Welcher Status wird der Stimme als Medium der Betrachtung in der Meditationsliteratur der Frühen Neuzeit zugeschrieben, inwiefern wird sie als Träger bzw. Kommunikator religiöser Spiritualität verhandelt? Motiviert ist diese Leitfrage durch den genuinen Gesprächscharakter der Meditation (Selbstgespräch und Gespräch mit Gott), durch die traditionell-monastische Memorialbindung der Betrachtung an die stimmliche Aneignung (ruminatio), aber auch durch kulturgeschichtliche Kontexte,1 die die Medialität der Stimme in der frühneuzeitlichen Meditation profilierungsbedürftig machten (Konzil von Trient). Der Blick wird insbesondere auf französische und italienische Texte gerichtet sein, wohl wissend, dass die Meditation als Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit ein europäisches Phänomen ist, das sich durch das Überschreiten von Sprach- und Konfessionsgrenzen auszeichnet.
1 Meditation und Stimme – Grundsätzliches Im Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wird die Meditation in unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentuierungen fester Bestandteil der Frömmigkeitspraxis. Das ehemals monastische Privileg wandelte sich zur Verpflichtung eines jeden Christen. Die Verbreitung meditativer Literatur durch wiederholte Auflagen und Übersetzungen sowie deren Wurzeln in den vorreformatorischen Traditionen verband die katholischen, lutherischen, calvinistischen, anglikanischen und puritanischen Gläubigen über Konfessions- und Sprachgrenzen hinaus als Meditierende. Zugleich entfaltete sich ein differenzierter Diskurs über das ‚richtige‘ Meditieren in Bezug auf Gegenstand, Progression und Selbstverständnis, der unter anderem durch konfessionsspezifische Sichtweisen geprägt war. In diesem Diskurs erhoffe ich mir Anhaltspunkte über die Stimme als Medium der Betrachtung. Oftmals enthalten Anleitungen zur Betrachtung exemplarische Betrachtungen, sodass sich die Diskursivität der Meditation und die Performanz der Meditation durchdringen 1 Salazar, Philippe-Joseph: Le culte de la voix au XVIIe siècle. Formes esthétiques de la parole à l’âge de l’imprimé. Paris 1995. https://doi.org/10.1515/9783110725193-010
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– was sich für meine Frage nach der Stimme der Betrachtung ebenfalls als relevant erweisen wird. Die Meditation bzw. die Betrachtungsliteratur ist in mehrfacher Hinsicht als Untersuchungsfeld für die Frage nach der Medialität und Medienkonkurrenz der Stimme einschlägig. Erstens, weil die religiöse Betrachtung das Selbstgespräch des Meditierenden mit dem Gespräch mit Gott in unterschiedlichen Akzentuierungen miteinander verschränkt. Günter Butzer hat die europäischen Traditionen und Modelle des Selbstgesprächs sowie deren Literarisierungen untersucht.2 Christian Belin hat die Verschränkung von Selbst- und Gottesgespräch in einer Monographie zur französischen Meditation des 17. Jahrhunderts unter dem Titel La Conversation intérieure aufgezeigt.3 Die Stimme der Betrachtung kennt zwei Adressaten, zwei Kommunikationsrichtungen, die in Einklang zu bringen sind: sich selbst und Gott. Zweitens ist ganz grundsätzlich von einer „Stimme der Betrachtung“ zu sprechen, weil in der Meditation die Selbsterforschung und Selbsterkenntnis als notwendige Etappen auf dem Weg hin zur Gotteserkenntnis von großer Bedeutung sind. Die Meditation als Frömmigkeitspraxis appelliert und trainiert die Gläubigen deshalb daraufhin, ihre Stimme des Gewissens zum Sprechen zu bringen und zu hören. Heinz Dieter Kittsteiner4 hat in seiner Untersuchung zur Entstehung des modernen Gewissens ebenso wie Jean Delumeau in Le péché et la peur5 die Bedeutung der Meditation für die Interiorisierung und Individualisierung des Gewissens in der Frühen Neuzeit aufgezeigt: vom äußerlich und punktuell evozierten Gewitter-Gewissen zur habituell bohrenden Gewissens-Stimme. Die Stimme der Betrachtung lässt sich weiter profilieren über die monastischen Wurzeln der Meditation und ihre metaphorische Beschreibung als ruminatio, als zerkleinerndes, aneignendes Wiederkäuen des biblischen Wortes. Das Wort Gottes wird murmelnd in mundgerechte Stücke zerkleinert und erfährt dabei Wiederholung und stimmliche Materialität durch den Meditierenden. Die ruminatio führt zugleich zu einer Verinnerlichung über die Stimme (Aneignung des Betrachteten) und zu einer Veräußerlichung (Sonorität des Betrachteten). Charakteristisch für die frühneuzeitliche Meditation ist eine performative Medienverschränkung des Schriftmediums mit dem Medium Stimme, aber auch der „Stimme im Text“ mit der „Stimme im Ohr“.
2 Butzer, Günter: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München 2008, insbes. S. 163–180 und S. 241–258. 3 Belin, Christian: La Conversation intérieure. La Méditation en France au XVIIe siècle. Paris 2002. 4 Kittsteiner, Heinz-Dieter: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991. S. 37f. 5 Delumeau, Jean: Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident (XIIe-XVIIe siècles). Paris 1983.
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2 Kreuzungspunkte: religiöse und nicht-religiöse Stimm-Diskurse Aus einer den Meditationsdiskurs überschreitenden Perspektive stößt man auf weitere Differenzierungen und Kontexte, in welchen der mediale Status der Stimme der Betrachtung verhandelt wird. Denn neben den eben genannten genuinen Verbindungslinien zwischen Meditation und Stimme zeigt sich bei profunderer Untersuchung zum einen eine konfessionsspezifisch geprägte Debatte über die Sinnlichkeit und Erfahrbarkeit der Stimme in der Betrachtung bzw. deren Ablehnung. Diese Debatte arbeitet sich vor allem an den Konzepten von oraison vocale und oraison mentale ab, die mit dem Trienter Konzil eine Neubewertung erfahren: Dem geistigen, innerlichen Gebet sei der Vorrang vor dem Wortgebet zu geben, lautete die Richtlinie fortan in den Katechismen: „[…] quoique l’on puisse joindre la prière vocale à cette prière qui est toute intérieure et sprituelle, c’est néanmoins avec beaucoup de justice qu’on donne la préférence à celle-ci, puisque Dieu qui pénètre les pensées les plus secrètes du coeur, l’exauce volontiers, quoiqu’elle ne passe pas jusques aux paroles.“6 Außerdem fördern die Diskussionen um lateinische bzw. volkssprachliche Liturgie7 ein Bewusstsein für die stimmliche Medialität bzw. Materialität des Tons und führen zu Reflexionen über die sinnliche Erfahrbarkeit des betrachteten Wortes. Der religiöse konjunkturelle Stimm-Diskurs wird aber auch seinerseits kontextualisiert und beeinflusst von nicht-religiösen Stimm-Diskursen der Zeit: Die Stimme der Betrachtung steht an einem diskursiven Kreuzungspunkt der Frühen Neuzeit. Als Beispiele für diese nicht-religiösen Stimm-Diskurse sind an erster Stelle die Debatten im Kontext des neuen Genres Oper zu nennen. Streitpunkt war zum einen das in der Oper realisierte Verhältnis zwischen Sinn und Klang, das – aus Sicht der Franzosen – in Italien zu stark zugunsten der sinnlichen Erfahrung des Klangs und der Stimme entschieden wurde.8 Zum anderen waren es Fragen der Moralität, die das plaisir an der sinnlichen Erfahrung von Stimme ambivalent erscheinen ließen und auf das Gefahrenpotenzial aufmerksam machten, das sich hinter der Lust an der Stimme verbergen konnte, die das Ohr des Publikums zu penetrieren drohte.9 Insbesondere weibliche Operngänger galten als gefährdet, und umso umstrittener war der Einsatz
6 „Auch wenn man das Wortgebet dem Gebet, das ganz innerlich und geistig ist, an die Seite stellen kann, so ist es doch gerechtfertigt, dass man das letztgenannte bevorzugt, denn Gott, der die geheimsten Gedanken des Herzens durchdringt, erhört es gerne, auch wenn es nicht zur Äußerung gelangt“ (Catéchisme du Concile de Trente, zit. n. Brulin, Monique: Le verbe et la voix: la manifestation vocale dans le culte en France au XVIIe siècle. Paris 1998. S. 15 [Übersetzung S.W.]). 7 Brulin, Le verbe et la voix (wie Anm. 6), S. 51–54. 8 Le Cerf de la Viéville, Jean-Laurent: Comparaison de la musique italienne et de la musique francaise. 2. Aufl., Bruxelles 1705–1706, Reprint Minkoff, Genève 1972. S.79. 9 Nancy, Sarah: La voix féminine et le plaisir de l’écoute en France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 2012.
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von Frauen als Sängerinnen in der Oper. Hinzu kam in diesem Zusammenhang der Dissens zwischen italienischer und französischer Opernpraxis bezüglich der Kastraten: Während Frankreich mit moralischen und ästhetischen Argumenten den Einsatz von Kastraten ablehnte, wurden in Italien diese außergewöhnlichen Stimmen bis ins 18. Jahrhundert hinein standardmäßig eingesetzt – begünstigt durch ein päpstliches Dekret Ende des 16. Jahrhunderts, das den Einsatz von Frauenstimmen in Kirchenchören verbot. An zweiter Stelle sind jene Diskurse zu nennen, die um Rhetorik im Allgemeinen und um die Art der Deklamation in Oper und Tragödie im Besonderen kreisen.10 In welchem Verhältnis sollen Körpersprache und Stimme stehen, an welchem stimmlichen Ideal sollten sich Opernsänger und Tragödienhelden orientieren? Hinzu kommen Normsetzungen der Rhetorik im geistlichen Bereich,11 aber auch zur lauten Lektüre und Deklamation: Das Vorgetragene bzw. Vorgelesene sollte den Text im Medium der Stimme und des Körpers berührend zur Darstellung bringen, den Textsinn aber auch nicht dominieren. Ein dritter Diskurskreis ist die höfische bienséance, die für den italienischen cortigiano und den französischen honnête homme Regeln für den Stimm-Gebrauch implizierte12 – Häufigkeit, Themenbereich, Aufrichtigkeit und Adressierung des Stimmgebrauches wurden für männliche und weibliche Höflinge definiert und im Sinne der bienséance chrétienne auch in religiöse Diskurse übertragen oder dort reflektiert.13 In diesem Zusammenhang stehen auch StimmDebatten um Gesang und die Gesangsausbildung, die singende Stimme jenseits der Oper: Wer sollte oder darf in welchem Rahmen singen, was sollte von jungen Hofdamen unter Anleitung ihrer Gesangslehrer gesungen werden, welche Melodien und welche Texte? Und nicht zuletzt: Auch der seit der Renaissance erneut in der Romania blühende Paragone-Diskurs, der Wettstreit der Künste, beeinflusst viele Überlegungen zur Stimme der Betrachtung, die zugleich verinnerlichen und veräußerlichen soll. Zusätzlich sind in den verschiedenen Diskursen Differenzierungen festzustellen zwischen öffentlichem und privatem Stimmgebrauch, individueller und kollektiver Stimme, freiem und geleitetem Sprechen sowie zwischen materialem, performativem und metaphorischem Stimm-Verständnis. Die Debatte um die Stimme als Medium erlebt im 16. und 17. Jahrhundert, wie dieser kurze Aufriss zeigt, eine interdiskursive Konjunktur. Er strahlt auf die Betrachtung als Frömmigkeitspraxis und auf die Meditationsliteratur aus bzw. steht mit ihr in wechselseitigem Beeinflussungsverhältnis, wie ich zeigen möchte. 10 Fumaroli, Marc: L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ‚res litteraria‘ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 1980/2002. 11 S. dazu Selmi, Elisabetta: Poesia e retorica del sacro tra Cinque e Seicento. Alessandria 2009 sowie Fumaroli, L’âge (wie Anm. 10), S. 184–186. 12 Brulin, Le verbe et la voix (wie Anm. 6), S. 272–274. 13 Zu frühneuzeitlichen Handlungsanweisungen für Frauen s. Richardson, Brian: Advising on Women’s Conduct in Renaissance Paratexts. In: Conduct Literature for and about Women in Italy, 1470–1900. Prescribing and Describing Life. Hrsg. von Helena Sanson u. Francesco Lucioli. Paris 2016. S. 228–241.
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3 Papagei, Taube und Biene: Lorenzo Scupoli und François de Sales zum Verhältnis von oraison vocale und oraison mentale Zunächst ist dabei der Blick vergleichend auf zwei Werke zu richten, die die katholische Meditationspraxis in Frankreich und Italien stark beeinflusst haben: Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale und die Introduction à la vie dévote von Francois de Sales.14 Beide sind vor dem Hintergrund der Gegenreformation und den in Kapitel 2 genannten Neubewertungen des Konzils von Trient bezüglich des Wortgebets zu sehen. Der Katechismus des Trienter Konzils hatte sich zum Verhältnis von prière vocale und prière mentale positioniert und für letztere plädiert, ohne die prière vocale gänzlich zu verwerfen. Während die oraison vocale durchaus als devotionssteigernd und im kollektiven Gebet sogar als unverzichtbar gehandelt wird, ist bei der individuellen Frömmigkeitspraxis die Stimme als Medium der Betrachtung verzichtbar. Ein ‚wortloses‘ Gebet war aber für viele Laien, die mit dem Anspruch der Betrachtung konfrontiert wurden, schwer vorzustellen, und die Hilfestellungen in Form von schriftlichen Betrachtungsanleitungen basierten wiederum auf der Schrift und dem Wort. Zudem konnten nur wenige Gläubige lesen: Die Bedeutung oraler Vermittlung von Meditations- und Gebetstexten war groß, außerdem las ein Großteil der alphabetisierten Meditierenden noch laut.15 Die implizite Stimme des Textes und die performativ-orale Stimme waren somit nicht wirklich trennbar. Lorenzo Scupolis Combattimento spirituale erschien zunächst anonym 1589 in Venedig und wurde postum im Jahr 1610 auch unter dem Namen seines Verfassers veröffentlicht. Noch zu Lebzeiten Scupolis wurde der „Geistliche Kampf“ fast 50 Mal neu aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Lorenzo Scupolis Werk beginnt mit der Distanzierung vom Wortgebet, das von vielen zu Unrecht für eine wichtige Waffe im Combattimento spirituale angesehen werde. Vor allem die Frauen seien geneigt, so erklärt er, die stimmliche Veräußerlichung ihres Gebets für das rechte Mittel auf dem Weg zur perfezione christiana zu halten „[…] particolarmente le donne, credono di aver fatto molto cammino se dicono molte preghiere vocali“16. Andere wiederum sähen in einseitiger Weise die Stille als Weg zum Heil. Scupolis Betrachtungsanlei14 Zu deren unterschiedlichen Strategien zur Vermeidung des „Gefahrenspotentials“ der Betrachtung s. Wodianka, Stephanie: Soldat und Honigbiene: zum Devianzpotential geistlicher Übung bei Lorenzo Scupoli und François de Sales. In: Kollision und Devianz: Diskursivierungen von Moral in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Yvonne Al-Taie [u.a.]. Berlin [u.a.] 2015. S. 47–62. 15 Brulin: Le verbe et la voix (wie Anm. 6), S. 32: „Même pour ceux qui ont appris à lire, la lecture silencieuse (sans articulation vocale) reste encore une rareté“. 16 „Vor allem die Frauen glauben, einen großen Teil des Weges bewältigt zu haben, wenn sie viele Wortgebete sprechen.“ (Scupoli, Lorenzo: Combattimento spirituale [1589]. https://www.monasterovirtuale.it/lorenzo-scupoli-combattimentospirituale.html [21.01.2021]. Kap. I, o.S. [Übersetzung S.W.]).
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tung ist getragen von der Intention, den Meditierenden die Notwendigkeit eines geistlichen Mittelweges aufzuzeigen, der weder ein Zuviel noch ein Zuwenig stimmlicher Kampfmittel beansprucht. Unmissverständlich macht er klar, dass die erhobene, sich ihrer selbst bewusste Stimme der Betrachtungsschülerin grundsätzlich nicht erwünscht ist: „Fuggi il parlare con eloquenza e ad alta voce, perché l’una e l’altra cosa à assai odiosa ed è inizio di presunzione e di vanità.“17 Bei der Betrachtung ist insbesondere die spontane stimmliche Äußerung zu vermeiden. Jedes Wort ist abzuwägen und zu prüfen, und selbst dann droht die Selbsttäuschung, und Schweigen wäre eigentlich besser: „Le cose che ti cadono in cuore per dirle, siano da te considerate prima che passino alla lingua, perché di molte t’accorgerai che sarebbe bene che da te non fossero mandate fuori. Ma te avverto inoltre; non poche di quelle cose che allora penserai essere bene che tu dica, sarebbe molto meglio se le seppellissi con il silenzio.“18 Der Combattimento spirituale ist auch aus diesem Grund ein Plädoyer für die oraison mentale, das geistige Gebet jenseits der Stimme. Interessant ist jedoch, wie Scupoli die ‚richtige‘ Stimme dennoch über das Wie seiner Meditationsanleitung in die Betrachtungen seiner figliola in Cristo amatissima bringt: Die orazione mentale, das geistige Gebet, wird in wörtlicher Rede in der Betrachtungsanleitung vorformuliert: L’orazione mentale […] si fa quando con parole mentali si chiede la grazia in questo modo o in uno simile: ‘Signore Dio mio, concedimi questa grazia a onore tuo’. Ovvero così: ‘Signore mio, io credo che ti piaccia e sia tua gloria che ti domandi e abbia questa grazia […]’. E quando sei di fatto combattuta dai nemici, pregherai in questo modo: ‘Dio mio, sii pronto ad aiutarmi perché non ceda ai nemici’. Oppure: ‘Dio mio, rifugio mio, fortezza dell’anima mia, soccorrimi presto perché non cada’.19
Wird diese Betrachtungsanleitung gelesen – und in vielen Fällen wurde sie noch laut gelesen, insbesondere von weniger geübten Leserinnen oder im Falle des Vorlesens – dann ist die vorgeschlagene orazione mentale de facto eine orazione vocale. Das anlei17 „Hüte dich davor, wortreich und mit lauter Stimme zu sprechen, denn das Eine wie das Andere ist sehr hochmütig und der Anfang von Überheblichkeit und Eitelkeit“ (Scupoli, Combattimento spirituale [wie Anm. 16], Kap. XXIV [Übersetzung S.W.]). 18 „Die Dinge, die dir einfallen zu sagen, sind abzuwägen, bevor sie auf die Zunge treten, denn bei vielen wirst du dich darauf besinnen, dass es besser wäre, wenn sie nicht nach außen getragen werden. Aber bedenke: nicht wenige der Dinge, von denen du dann denkst, du solltest sie aussprechen, sollten besser in Schweigen gehüllt werden“ (Scupoli, Combattimento spirituale [wie Anm. 16], Kap. XXIV [Übersetzung S.W.]). 19 „Das geistige Gebet vollzieht man, indem man mit geistigen Worten auf diese oder ähnliche Weise Gnade erbittet: ‚Gott mein Herr, lass mir deine Gnade zukommen zu deiner Ehre.‘ Oder so: ‚Mein Herr, ich glaube, dass es dir gefallen und zu deinem Ruhme gereichen würde, wenn ich dich bitten würde und diese Gnade hätte […].‘ Und wenn du tatsächlich von deinen Feinen geschlagen bist, dann bete folgendermaßen: ‚Mein Gott, steh mir bei, damit ich nicht meinen Feinden anheimfalle.‘ Oder: ‚Mein Gott, meine Zuflucht, meine Seelenstärke, komm mir schnell zu Hilfe damit ich nicht falle.‘“ (Scupoli, Combattimento spirituale [wie Anm. 16], Kap. XLV [Übersetzung S.W.]).
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tende Ich unterbreitet der Betrachtungsschülerin Formulierungsvorschläge und lässt den Grad der Emanzipation von dieser wörtlichen Rede offen: „in questo modo o in uno simile“, „ovvero così“20. Je weniger sich die Meditierende vom vorgeschlagenen Text und seinen Alternativen entfernt, desto stimmhafter ist folglich entsprechend der frühneuzeitlichen Lektürepraxis das geistige Gebet der Gotteskämpferin – und desto weniger stimmlich legitimiert ist ihre Betrachtung. Der erst 1567 geborene und somit im Vergleich mit Scupoli 37 Jahre jüngere Francois de Sales wurde 1602 Bischof von Genf und gründete im Jahr 1610 in Annecy eine Frauenkongregation. Francois de Sales hinterließ eine große Zahl von Werken, Abhandlungen und geistlicher Korrespondenz. Zu den wichtigsten zählt die Introduction à la vie dévote (1619),21 die sich zumindest vordergründig vor allem an weibliche Meditierende wendet. Obwohl Francois de Sales Scupolis „Geistlichen Kampf“ gut kannte und als seinen ‚Seelenführer‘ schätzte, entwarf er in der Introduction à la vie dévote ein ganz anderes Verhältnis zu Stimme. Er reduzierte die stimm-feindlichen Äußerungen seines Vorgängers stark, überhaupt scheint ihm die Stimme weniger Problem als Potenzial der Betrachtung seiner Philothée zu sein. Die oraison mentale, das geistige Gebet, gehört auch für ihn zum unverzichtbaren Bestandteil der Meditation, mehr noch: Es ist – hier folgt er ebenfalls dem Trienter Kathechismus – dem Wortgebet vorzuziehen: „Si faisant l’orayson vocale, vous sentés vostre coeur tiré et convié a l’orayson interieure ou mentale, ne refuses point d’y aller, mais laissés tout doucement couler vostre esprit de ce costé la, et ne vous soucies point de n’avoir pas achevé les oraysons vocales que vous vous esties proposees; car la mentale que vous aures faitte en leur place est plus aggreable a Dieu et plus utile a vostre ame.“22 Der Emanzipation vom Korsett des Wortgebetes ist stets zugunsten der aus dem Geiste ‚fließenden‘ oraison mentale stattzugeben. Mit der Emanzipation vom Wortgebet und der Hingabe an das geistige Gebet ist bei Francois de Sales aber nicht so eindeutig der Übergang von der Stimmhaftigkeit zur Stimmlosigkeit in der Betrachtung gemeint. Das Verhältnis der oraison mentale zur Stimme beschreibt er in seinem traité de l’amour de Dieu in Anlehnung an Ezechiel im Vergleich mit dem Gurren der Taube: „les colombes, entre tous les oiseaux, font leur grommellement à bec clos et enfermé, roulant leur voix dans leur gosier et poitrine. […] Ezechias donc […] employait aussi la sainte oraison mentale: Je méditerai […] comme la colombe, roulant et contourant mes pensées dedans mon cœur par 20 „Auf solche oder ähnliche Weise“ – „oder aber so“ (Übersetzung S.W.). 21 De Sales, François: Introduction à la vie dévote (1619). In: Ders.: Oeuvres. Texte établi et annoté par André Ravier et Roger Devos. Paris 1969. 22 „Wenn du so das Wortgebet vollziehst und du dein Herz zum inneren oder geistigen Gebet hingezogen fühlst, so verweigere ihm nicht den Weg dorthin, sondern lass ganz sanft deinen Geist zu dieser Seite hin fließen, und mache dir keine Sorgen darum, die Wortgebete nicht zu Ende geführt zu haben, die du dir vorgenommen hattest; denn das geistige Gebet, das du an deren Stelle vollzogen hast, ist Gott angenehmer und deiner Seele nützlicher“ (De Sales, Introduction à la vie dévote [wie Anm. 21], S. 83 [Übersetzung S.W.]).
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une attentive considération, afin de m’exciter à bénir et à louer la souveraine miséricorde de mon Dieu.23 Hier fällt Folgendes auf: Francois de Sales wählt mit der Taube ein Modell für die oraison mentale, das nicht wirklich stimmlos ist (das Gurren der Taube ist ja durchaus hörbar), aber eines, dessen Stimmhaftigkeit durch den inneren Resonanzkörper zum Ertönen gebracht wird. Die durch den inneren Resonanzraum zum Klingen gebrachte Stimme kann zum Impuls des Gotteslobes werden („afin de m’exciter à bénir et à louer“) und ist deshalb nicht Bedrohung, sondern Zündholz der Betrachtung. Nur die Stimme, die ihre Resonanz eitel im Außenraum sucht, ist der Betrachtung unangemessen.24 In der Introduction à la vie dévote entfaltet Francois de Sales zudem das rechte Verhältnis zwischen Sinn und Stimme, wenn er seiner Philothée die Biene als Beispiel vor Augen stellt. Wie eine Biene soll Philothée von Blüte zu Blüte der Betrachtung fliegen und sich an deren Nektar stärken.25 Diese Stärkung verläuft über die orale Berührung, über das sinnliche ‚Schmecken‘. Die Sinnlichkeit und Materialität der Stimme, der Ton des Wortes, ist für Francois de Sales Medium der Meditation, soll sich aber nicht von der Bedeutung des Wortes emanzipieren. Deshalb wird Philothée auch angehalten, neben dem lateinischen auch den französischen Text der Wortgebete zu kennen und zu verwenden. Nur so könne sie den Sinn des Wortes ‚schmecken‘. In dieser Argumentation treffen sich französischer Operndiskurs und französischer Betrachtungsdiskurs in der Argumentation gegen das ‚italienische‘ Stimmverhältnis: die Sinnlichkeit des Klangs ist nicht ohne den Wortsinn erfahrbar bzw. darf diesen nicht dominieren. Aber grundsätzlich wird von Francois de Sales hiermit die Möglichkeit eines produktiven Verhältnisses Philothées zu ihrer Betrachtungs-Stimme konzipiert: als Taube und Biene in Abgrenzung zum „Papagei“ des Lorenzo Scupoli. Diese positive Haltung Francois de Sales zum kreativen Potential seiner Philothée ist bemerkenswert, zumal sich die Skepsis gegenüber dem Klang der (vor allem weiblichen) Stimme im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts verschärfen sollte. Der Operndiskurs zwischen Frankreich und Italien um die Kastraten und das Maß an Männlichkeit der singenden Stimme dringen zunehmend in die Argumentationen ein. 23 „[…] die Tauben machen ihr Gurren im Unterschied zu allen anderen Vögeln mit geschlossenem und abgeschlossenem Schnabel, indem sie ihre Stimme in ihrem Schlund und in ihrer Brust rollen […]. Ezechiel […] nutzte also ebenso das heilige geistige Gebet: Ich werde meditieren wie die Taube, in dem ich meine Gedanken in meinem Herzen mit einer aufmerksamen Betrachtung rolle und forme, um mich dazu zu bewegen, die übergroße Barmherzigkeit meines Gottes zu loben und zu preisen“ (De Sales, François: Traité de l’amour de Dieu (1616). In: Ders., Oeuvres (wie Anm.21), S. 613 [Übersetzung S.W.]). 24 Vgl. dazu die Position von Martin De Barcos, dem die Unaussprechlichkeit des Wortes Hinweis auf die Erfüllung mit dem Heiligen Geistes ist (Les Sentiments et les Remarques de Martin de Barcos sur l’oraison mentale, avec les occupations inérieures pour toute la journée, Paris 1665, S. 278). S. dazu auch Papasogli, Benedetta: Entre méditation et contemplation. La voix dans l’écriture spirituelle au XVIIe siècle. In: La spiritualité des écrivains XXI. Hrsg. von Olivier Millet. Genève 2008. S. 147–158, S. 151. 25 De Sales, Introduction à la vie dévote (wie Anm. 21), S. 87, 157.
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So werden in den Betrachtungsanleitungen Warnungen vor dem falschen, nämlich eitlen oder „verweiblichten“ Stimmgebrauch im kollektiven Gebet formuliert, auf den sich die männlichen Betrachtenden zu prüfen haben: „N’avons-nous point manqué de modestie […] en contrefaisant notre voix, la forcant trop, l’adoucissant d’une manière molle ou effeminée; commencant souvent avant les autres et finissant après, pour nous faire distinguer davantage?“26. Selbst für männliche Meditierende gilt es, die Stimme auf ihre ‚Richtigkeit‘ zu prüfen, auch sie könnten in ‚weiblich falsche‘ Stimmlagen fallen.
4 Dilemma: lecture touchante und Deklamation Bei weitem nicht alle Meditationsanleitungen teilten die von de Sales repräsentierte gemäßigt-positive Haltung gegenüber der Stimmhaftigkeit der Betrachtung. Denn zwei weitere nichtreligiöse Diskurse beeinflussten neben der Operndebatte die religiösen Konzeptionen der Stimme: Erstens die Rhetorik in Bezug auf die lecture touchante, und zweitens der theaterästhetische und rhetorische Diskurs zur theatralen Deklamation.27 Die wachsenden Ansprüche an die individuelle Aneignung von Betrachtungstexten machten die rhetorischen Anforderungen ‚bewegender‘ Lektüre auch für die Meditation relevant: Wer sich selbst oder die Zuhörenden durch die Betrachtungslektüre ‚bewegen‘ will, muss deklamieren. Grimarest unterscheidet die ‚lecture simple‘ mit dem Ziel „de faire connaître le sens d’un ouvrage“ von der sogenannten ‚lecture touchante‘, die das Herz der Zuhörer bewegen will und „qui a ses principes communs avec ceux de la Déclamation“28. Die spezifische Performanz meditativer Texte macht die Betrachtenden zugleich zum Subjekt und Objekt ihrer Betrachtung, zu Lesern, Sprechern und Hörern ihrer Lektüre. Meditative Texte sind zugleich Anleitung, Vollzug und Ausdruck der Meditation.29 Die Betrachtenden müssen zugleich der sinnfokussierten lecture simple gerecht werden und dem Anspruch, durch die eigene lecture touchante innerlich berührt zu sein. Wurde der Meditierende als Sprecher und Hörer seiner Stimme diesen rhetorischen Idealen gerecht, geriet er aber durch 26 „Haben wir es nicht an Bescheidenheit mangeln lassen, indem wir die Stimme verstellt haben, sie verhärtet haben, sanft gemacht haben auf eine weichliche oder verweiblichte Weise, indem wir vor den anderen angefangen und nach den anderen aufgehört haben, um uns von den anderen umso mehr abzuheben?“ (Tronson, Louis: Examens particuliers sur divers sujets propres aux ecclésiastiques et à toutes les personnes qui veulent s’avancer dans la perfection. Paris 1690. S. 43 [Übersetzung S.W.]). 27 S. dazu Fumaroli, L’âge (wie Anm. 10) sowie Bovet, Jeanne: Au miroir de la déclamation: la voix de lecture touchante dans la nouvelle du second XVIIe siècle. In: Tangence 96 (2011). S. 65–84. 28 De Grimarest, Jean-Léonor Le Gallois: Traité du récitatif dans la lecture, dansl’action publique, dans la déclamation et dans le chant. Paris 1707. S. 74, 91. 29 Wodianka, Stephanie: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004, insbes. S. 326–334.
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die Nähe von lauter Lektüre und theatraler Deklamation in die Gefahr stimmlicher Devianz: Der Verdacht des schauspielerischen ‚Als-ob‘, der der ‚Aufrichtigkeit‘ der Betrachtung diametral entgegensteht. Die Stimme der Betrachtung stand somit im Dilemma der Ununterscheidbarkeit von aufrichtig veräußerlichender Stimme und unaufrichtig äußerlicher Stimme.
5 Inkongruenz: Gesangsstimme als Herzschrittmacher der Betrachtung Einen Ausweg aus diesem Dilemma schien für manche der geistliche Gesang zu bieten. Doch auch die Positionen, die sich nicht auf die sprechende, sondern auf die singende Stimme beziehen, sind oftmals skeptisch-warnend. Dabei ist zu beobachten, dass die Gesangsstimme geradezu als das Konkurrenzmedium der Sprechstimme verhandelt wird. Das zeigt sich in der Anweisung eines Pariser katholischen Geistlichen zum richtigen Verhalten der „personnes laïques“ im Gottesdienst: „les hommes qui savent lire et chanter, doivent avoir un livre d’Église à usage du diocèse, les femmes et les filles pourront en avoir un, pourvu qu’elles disent tout bas ce que l’on chante“30. Nur das leise Mitsprechen des Gesangstextes ist den weiblichen Gläubigen hier erlaubt. Der Jansenist Jean Hamon hingegen propagiert in seinem Traité de l’oraison continuelle ein synergetisches Verhältnis zwischen Meditation und Gesang, das sehr zu befürworten sei: „pendant que les uns chantent, les autres goûtent avec plaisir ce qu’ils entendent chanter: et cette courte méditation qui est mêlée avec le chant et qui réveille le coeur lui donne une nouvelle force pour continuer de chanter […] Il s’instruit en méditant, il s’enflamme en chantant.“31 Wie komplex und differenziert die Diskussionslage im 17. Jahrhundert ist, wird hier ebenfalls deutlich: Das Plädoyer gilt für eine Gesangsstimme, die als gehörte die Meditation beflügelt: Gesang und Meditation sind nicht simultan, sondern zeitlich versetzter wechselseitiger Impuls. Zudem bezieht sich die Begeisterung Hamons auf den kollektiven Gesang, nicht auf den individuellen, und er spricht hier von einem Subjekt im Maskulinum, das zumindest offenlässt, ob hier auch die weiblichen Betrachtenden gemeint sind.
30 „[…] die Männer, die lesen und singen können, sollen ein in der Diözese übliches Gesangbuch haben; die Frauen und Mädchen dürfen eines haben, unter der Voraussetzung, dass sie ganz leise sprechen, was gesungen wird“ (Sonnet, Martin: Cérémonial de l’Église pour les personnes laiques [1658], zit. n. Brulin, Le verbe et la voix [wie Anm. 6], S. 320 [Übersetzung S.W.]). 31 „[…] während die einen singen, schmecken die anderen mit Freude was sie singen hören: und diese kurze Meditation, die mit dem Gesang vermischt ist und das Herz erweckt, verleiht ihm neue Kraft weiter zu singen […] Er erbaut sich indem er betrachtet, und er entflammt sich, indem er singt“ (Hamon, Jean: Traité de l’oraison continuelle divisé en quatre livres. In: Ders.: Traités de piété. 2 Bde. Bd. II. Paris 1689. S. 147 [Übersetzung S. W.]).
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Die katholischen Befürwortungen des Gesanges als integrativer und simultaner Bestandteil der Betrachtung werden in den Meditationsanleitungen des 17. Jahrhunderts zahlreicher. Vor allem deshalb, weil man im Zuge der Gegenreformation der erfolgreichen Gesangspraxis der Reformierten etwas entgegensetzen wollte. Die Betrachtung mit den Worten und dem Gesang des Psalmisten hatten Theodor de Bèze und Jean de Sponde populär gemacht,32 und orientiert an ihrem Beispiel nutzten auch Katholiken wie Francois de Sales dieses Sprechen mit der Stimme Davids in ihren Betrachtungsanleitungen. Vor dem Hintergrund dieser autorisierten und performativ etablierten Stimm-Verschachtelung war der Schritt vom Mitsprechen mit dem Psalmisten zum Mitsingen mit dem Psalmisten nicht groß.33 Katholische Betrachtungs-Autoritäten wie Antoine Godeau und Jean Bossuet bezogen für den geistlichen Gesang Position, weil sie in ihm ein „contrepoison“,34 ein Gegengift mit doppelter Wirksamkeit sahen. Zum einen ein Gegengift, das den Erfolg der Protestanten und Reformierten eindämmen sollte, die mit ihren Gesängen punkteten, und zum anderen ein Gegengift, das eine konstruktive Alternative zum mondänen Gesang darstellte: Die „hymnes de la sainte Sion“ sollten die weltlichen „chansons de Babylone“ ersetzen.35 Dass im Kontext der frühneuzeitlichen Betrachtungs-Diskurse immer wieder eine Medienkonkurrenz zwischen Sprechstimme und Gesangsstimme festzustellen ist, zeigt sich auch an einer weiteren Äußerung des Katholiken Jean Hamon. Er attestiert der gesprochenen Psalmbetrachtung eine gewisse Inkongruenz zwischen der Beweglichkeit der Zunge und der Trägheit des Geistes, der dem Psalmwort kaum zu folgen vermag. Der Psalmgesang hingegen wirkt, so Hamon, als Herzschrittmacher in der Betrachtung, der Zunge und Herz in Einklang zu bringen vermag. „Quand nous récitons les psaumes […] nous éprouvons que la langue est prompte et que l’esprit est pesant, infirme et ne peut suivre la langue. Mais la règle du chant et de la psalmodie qui donne une plus grande étendue à la voix, donne le temps au cœur de se dilater“36. Interessant ist hier, dass das gegen den Operngesang vorgebrachte Argument, dass die stimmliche Ausdehnung des Wortes zu einem Unverständnis bewirkenden Missverhältnis zwischen Sinn und Klang führe, umgekehrt wird: Gerade durch die Ausdehnung des Wortes werden Klang der Stimme und Herzens-Sinn in Kongruenz gebracht.
32 Erdei, Klára: Méditations calvinistes sur les psaumes dans la littérature francaise du XVIe siècle. In: Acta Litteraria Academica Scientiorum Hungaricae 24 (1982). S. 117–155. 33 Wodianka, Betrachtungen (wie Anm. 29), S. 185–206. 34 Favier, Thierry: Le plaisir musical en France au XVIIe siècle. Bruxelles 2006. S. 134. 35 Launay, Denise: La Musique religieuse en France du Concile de Trente à 1804. Paris 1993. S. 170. 36 „Wenn wir die Psalmen rezitieren […], stellen wir fest, dass die Zunge beweglich und der Geist schwerfällig und schwach ist, und dass er der Zunge nicht zu folgen vermag. Aber die Regelmäßigkeit des Gesangs und der Psalmodie, die der Stimme größere Ausdehnung verleiht, gibt dem Herzen Zeit, sich weit zu machen“ (Hamon, Traité de l’oraison continuelle [wie in Anm. 31], Bd. II, S. 147 [Übersetzung S.W.]).
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6 Komplexität und Polyphonie: Literarizität und Betrachtung Wie groß die Herausforderung für die Meditierenden war, die Komplexität und Polyphonie der Stimmen im performativen Nachvollzug der Betrachtung zu überblicken und zur Kongruenz zu bringen, lässt sich wiederum am Beispiel der Introduction à la vie dévote zeigen. Francois de Sales Betrachtungsanleitungen verschachteln die Stimme des anleitenden Père spirituel, die der zur Betrachtung angeleiteten Philothée und die des Psalmisten, dessen Bibelwort immer wieder wörtlich zitiert wird. Hinzu kommt, dass wörtliche Vorgaben oder Vorschläge zur Formulierung durchdrungen sind mit abstrakteren Aufforderungen zur Betrachtung, sodass von der die Betrachtung als Text rezipierenden Philothée eine große Flexibilität zwischen Sprechen, Nachsprechen und Mitsprechen erwartet wird, die auch eine methodisch weder geregelte noch mitreflektierte zeitliche Inkongruenz zwischen Lektüre der Betrachtungsanleitung und Vollzug der Betrachtung impliziert. Die Lektüre des Textes kann zugleich Performanz der Betrachtung sein, muss es aber nicht, da sie auch die Möglichkeit der Emanzipation von vorgeschlagenen Formulierungen zulässt. Führt man sich vor Augen, dass diese Texte im 17. Jahrhundert von vielen Betrachtenden noch laut gelesen wurden,37 ergibt sich eine komplexe, mehrdeutige Sprechsituation. Hier ein Beispiel aus der Meditation über die Schöpfung.38 Nach der ‚Préparation‘ („1. Mettez-vous en la presence de Dieu ; 2. Suppliez-le qu’il vous inspire“)39, zu deren konkreter Verwirklichung Philothée in vorangehenden Kapiteln angeleitet wird, folgen die ‚Considérations‘: „Considerés qu’il n’y a que tant d’ans que vous n’esties point au monde, et que vostre estre estoit un vray rien. Ou estions-nous, o mon ame, en ce tems la? Le monde avoit des-ja tant duré, et de nous, il n’en estoit nulle nouvelle.“40 Schon hier zeigt sich die Verschränkung von allgemein-abstrakter Anweisung und einem Vorsprechen durch das Ich des Père spirituel, dessen Wort Philothée bei ihrer Betrachtung nachsprechen soll. Unter den ‚Affectations und Resolutions‘ wird diese Komplexität noch gesteigert, indem die Stimme des Psalmisten ins Spiel kommt, die ebenfalls anzueignen ist, sowie das Selbstgespräch mit der eigenen Seele: „1. Humilies-vous profondement devant Dieu, disant de coeur avec le Psalmiste: O Seigneur, je suis devant vous comme un vray rien. Et comment eustes-vous mémoire de moy pour me créer? Helas, mon ame, tu estois abismee dans cet ancien néant, et y crois y
37 Chartier, Roger: Lectures et lecteurs dans la France d’Ancien Régime. Paris 1987. 38 De Sales, Introduction à la vie dévote (wie Anm. 21), S. 64–67. 39 „1. Versetze dich in die Gegenwart Gottes; 2. Bitte ihn, dass er dich mit seinem Geist erfüllen möge“ (De Sales, Introduction à la vie dévote [wie Anm. 21], S. 64 [Übersetzung S. W.]). 40 „Betrachte, dass du erst kurze Zeit auf Erden bist, und dass dein Sein ein wahres Nichts ist. Wo waren wir, oh meine Seele, zu dieser Zeit? Die Welt hatte schon so lange Bestand, und von uns wusste noch niemand. […]“ (De Sales, Introduction à la vie dévote [wie Anm. 21], S. 64 [Übersetzung S. W.]).
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serois encores de present si Dieu ne t’en eust retiree ; et qe ferois-tu dedans ce rien?“41. Unter Punkt 5 folgt dann eine weitere Komplexitätssteigerung durch die Ich-Rede Philothées mit dem konkret zu füllenden Platzhalter „telle ou telle chose“ („dies und jenes“) sowie durch den vorgesprochenen Ausblick auf die Stimme des Père spirituel, die die Betrachtung mit guten Ratschlägen ergänzen wird, damit Philothée der Stimme ihres Schöpfers Gehorsam leisten kann: Je ne veux donc plus des-ormais me complaire en moy mesme, qui de ma part ne suis rien. […] Et pour m’humilier, je veux faire telle ou telle chose, supporter telz et telz mespris. Je veux changer de vie et suivre des-ormais mon Createur, et m’honnorer de la condition de l’estre qu’il m’a donné, l’employant tout entierement a l’obeissance de sa volonté par les moyens qui me seront enseignés, et desquelz je m’enquerray vers mon père spirituel.42
Aus dieser Stimm-Verschachtelung resultiert einerseits ein großes Potential der Betrachtung, das insbesondere in der Literatur der Frühen Neuzeit Früchte getragen hat. Die Attraktivität der literarischen meditatio speiste sich aus den Potentialen fiktionaler Stimm-Verhältnisse, die die Komplexität der Sprechsituationen in den Betrachtungsanleitungen produktiv umsetzbar machten: durch das lyrische Ich, das die performative Aneignung seiner Betrachtung durch das rezipierende Subjekt ermöglicht; durch die Theatralität der Betrachtung, die erstens per se durch eine doppelte Kommunikationssituation geprägt ist (Sprechen der ‚Figuren‘ zueinander und der das Geschehen Betrachtenden); zweitens durch Narrativität, die die Differenzierung von Fokalisierungs- und Erzählinstanz genuin ermöglicht; und drittens durch die Ebene der Metafiktion, die die Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Verbalisierbaren mit reflektiert. Gerade in der Betrachtungsliteratur konnten die polyphonen Stimm-Verhältnisse der Meditation in ihrer Besonderheit und Vielfalt zum Ausdruck gebracht bzw. performativ initiiert werden. Doch diese Komplexität der Betrachtung erklärt auch das offensichtliche Bedürfnis nach Entzerrung und zeitlicher Verlangsamung oder Klärung. Eine Überforderung der Meditierenden durch den Betrachtungsanspruch der Meditationsanleitungen zeichnet sich spätestens im 17. Jahrhundert ab, und auch in diesem Kontext zeigen sich stimm-relevante Medienkonkurrenzen, die hier abschließend darzulegen sind. 41 „1. Trete in tiefer Demut vor Gott, indem du von Herzen mit dem Psalmisten sprichst: Oh Herr, ich bin vor Euch wie ein wahres Nichts. Und wie habt Ihr meiner gedacht, um mich zu schaffen? Ach, meine Seele, du warst in diesen alten Abgrund geworfen, und du wärst dort sicherlich noch immer bis zum heutigen Tage, wenn Gott dich nicht herausgezogen hätte; und was würdest du in diesem Nichts tun?“ (De Sales, Introduction à la vie dévote [wie Anm. 21], S. 65 [Übersetzung S.W.]). 42 „[…] Da ich ein Nichts bin, will ich also nie mehr selbstgefällig sein. […] Und um mich zu demütigen, will ich dies und jenes tun, diese und jene Schmach ertragen. Ich will mein Leben ändern und meinem Schöpfer fortan folgen, und das Sein, das er mir gegeben hat, in Ehren halten, indem ich es ganz und gar unter seinen Willen stelle durch die Mittel, die mir beigebracht werden, und nach denen ich mich bei meinem geistlichen Vater erkundigen werde“ (De Sales, Introduction à la vie dévote [wie Anm. 21], S. 65 [Übersetzung S.W.]).
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7 Stimmversagen und Sprachinfarkt Die geregelte Meditation soll, so heißt es in den Betrachtungsanleitungen, einerseits Abhilfe schaffen, wenn ein empfundener Wortüberfluss den Gläubigen überfordert.43 Viel häufiger aber als dieses Überquellen der Stimme ist in der frühneuzeitlichen Betrachtungsliteratur das Beklagen der Wortlosigkeit bei der Betrachtung festzustellen: die Stimme versagt. Diese Stille kann zwar auch positiv konnotiert sein,44 jenseits quietistischer und mystischer Betrachtung wird der Mangel an Worten jedoch eher als behandlungsbedürftiges Problem verhandelt. Der Jesuit Jean Crasset sieht in der Sprachlosigkeit der Betrachtenden und deren Unfähigkeit, bei der oraison mentale eigene Worte zu finden, ein verbreitetes Problem, dem er ein ganzes Werk widmet. Seine Méthode d’oraison will all jenen helfen, „qui ont de la peine à s’entretenir avec Dieu“.45 Um Abhilfe für dieses weit verbreitete Übel zu schaffen, muss die Gebetspraxis vereinfacht werden, so sein Plädoyer: „Pour remedier à un mal si commun & si déplorable, il faut faciliter à tout le monde l’usage de l’oraison.“46 Die von ihm genannten Gründe für die Unfähigkeit, die insbesondere in der oraison mentale geforderte freie Diskursivität im Sinne einer eigenen Stimme zu erreichen, sind vielfältig, immer aber mit einer mangelnden oder aber überfließenden geistigen Flexibilität verbunden47 – zu feste Überzeugung kann genauso zum Versagen der eigenen Worte führen wie eine gewisse wesensmäßige Schwerfälligkeit im Denken oder eine zu große Leichtfüßigkeit der Vorstellungskraft. Zu den von Crasset vorgeschlagenen wirksamsten Gegenmitteln gehört neben der die Affekte in besonderer Weise ansprechenden Passionsmeditation die oraison jaculatoire, das ‚Stoßgebet‘ oder ‚Seufzgebet‘, das eine Stimme jenseits der Sprache nutzt: „elles [les âmes] ne parlent plus que du coeur, soûpirant en respirant, & respirant en soûpirant.“48 Der Überforderung, die aus der Inkongruenz und Polyphonie der Stimmen in den Betrachtungsanleitungen resultierte, wird erstens mit der Reduktion von Diskursivität auf die Sonorität der Stimme begegnet, also mit der Befreiung der Stimme von der Sprache, und zweitens mit der Betonung absoluter Kongruenz: atmend seufzen, seufzend atmen. Mit ungleich weniger Verständnis für die Herausforderungslagen reagiert der reformierte Theologe Pierre Jurieu auf das auch von ihm festgestellte Klagen über Stimmverlust und Sprachlosigkeit der Gläubigen in der Betrachtung. Deutlicher als 43 Z.B. Bérulle, Pierre: Opuscules de piété, présentés par G. Rotureau. Paris 1944. 44 Die mediale Konkurrenz der Stimme ist in diesem Falle nicht die Literatur und nicht der Text, sondern die Stille. 45 „Die Mühe haben, sich mit Gott zu unterhalten“ (Crasset, Jean: Méthode d’oraison. Avec une nouvelle forme de méditations. Paris 1674. Préface. S. VII [Übersetzung S.W.]). 46 „Um einem so verbreiteten und bedauerlichen Übel abzuhelfen, muss man für jedermann die Gebetspraxis erleichtern“ (Crasset, Méthode d’oraison [wie Anm. 45], S. 9 [Übersetzung S.W.]). 47 Crasset, Méthode d’oraison (wie Anm. 45), S. 25. 48 „Sie [die Seelen] sprechen nur noch von Herzen, atmend seufzend, seufzend atmend“ (Crasset, Méthode d’oraison [wie Anm. 45], S. 78 [Übersetzung S.W.]).
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Crasset stellt er das Problem in sachlichen Zusammenhang mit seiner Kritik an der oraison vocale, die er zwar im Gebetskreis der Familie akzeptiert, aber zumindest für die individuell-zurückgezogene Betrachtung verbannt sehen will: „pour les Dévotions du cabinet, il faut qu’elles [les prières] se fassent du coeur plutôt que de la langue“49. Die hier nunmehr unterdrückte Stimme soll im freien, kreativen „composer“ der stattdessen privilegierten oraison mentale ihren Ausdruck finden, und ungehalten bringt Jurieu sein Unverständnis für das Gejammer über diejenigen zum Ausdruck, die sich hier mit mentaler Stummheit geschlagen sehen: „Je ne saurois souffrir qu’on me diese que tout le monde n’est pas capable de composer: Tous ne sont pas capables de composer pour les hommes, mais tous sont capables de composer pour Dieu […] Dieu entend toutes les langues & tous les stiles; il ne demande, ni ordre, ni élégance.“50 Und in der wenige Seiten später vorgeschlagenen Betrachtungsformulierung heißt es: „Ah! Mon ame, si tu amois ton Dieu parfaitement, tu ne serais jamais lasse de l’entretenir […], jamais tu ne manquerois de paroles.“51 Wer die eigene Stimme im geistigen Gebet nicht findet, ist selber schuld, so die im Vergleich zu den katholischen Verständnisäußerungen ablehnende Reaktion. Bemerkenswert ist die Position Jurieus im Vergleich mit den engagierten Gegenreformatoren Jean Crasset und Francois de Sales aber auch deshalb, weil er explizit mit dem Begriff „composer“ die der Betrachtung bzw. der oraison mentale implizite Kreativität der eigenen Stimme als Forderung und Kompetenz der (reformierten) Gläubigen formuliert.
Fazit In den hier untersuchten Texten zeigte sich einerseits eine explizite Thematisierung und Problematisierung der Stimme in der Betrachtung. Normierungen differenzieren dabei nach männlicher und weiblicher Stimme, Gesangs- und Sprechstimme, individueller und kollektiver Frömmigkeitspraxis, aufrichtiger und verstellter Stimme, Diskursen und Kontexten, fokussieren und umkreisen dabei aber vor allem das Verhältnis von geistig-innerlichem Gebet und äußerlich-sonorem Wortgebet. Implizit wird die Stimme (in) der Betrachtungsliteratur daher andererseits problematisch, wenn
49 „Was die geistlichen Übungen alleine in der Kammer betrifft, sollen die Gebete eher mit dem Herzen als mit der Zunge gesprochen werden“ (Jurieu, Pierre: Traité de la dévotion. Genève 1673. S. 365 [Übersetzung S.W.]). 50 „Ich kann es nicht ertragen, wenn man mir sagt, es wäre nicht jedermann in der Lage, ein Gebet zu formulieren; nicht alle sind in der Lage, für die Menschen zu formulieren, aber alle sind in der Lage, für Gott Worte zu formulieren. […] Gott versteht alle Sprachen und alle Stillagen; er verlangt weder Struktur noch Eleganz“ (Jurieu: Traité de la dévotion [wie Anm. 49], S. 376 [Übersetzung S.W.]). 51 „Ach! Meine Seele, wenn du deinen Gott auf vollkommene Weise lieben würdest, wärst du niemals müde, mit ihm zu sprechen, niemals würden dir die Worte fehlen“ (Jurieu: Traité de la dévotion [wie Anm. 49], S. 380 [Übersetzung S.W.]).
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das stimmliche Ideal von Innerlichkeit und spiritueller Kreativität, (laute) Textlektüre und Gebets- bzw. Betrachtungsperformanz kollidieren: Die Stimme entzieht sich gerade beim Versuch ihrer textuellen Vor- und Festschreibung der Reglementierung und entfaltet Eigendynamiken. Sie ist Medium der Betrachtung, kann in ihrer konzeptuellen, materiellen und performativen Vielfalt aber zu sich selbst in Konkurrenz treten und zu einem Verstummen führen, das die Meditierenden mit einer Situation des Scheiterns konfrontieren kann: Die Stimme wird dann zum Betrachtungs-Hindernis, wenn ihre reflektierte Medialität zu ihrer performativen Realisierung in Widerspruch gerät.
Dieter Fuchs
Vorreformatorische Bildkultur und reformatorische Wortkultur in Shakespeares Hamlet Vorliegender Beitrag soll zeigen, dass Shakespeares Hamlet die vorreformatorische Bildkultur in Konkurrenz zur reformatorischen Wortkultur als frühneuzeitlichen Medienkonflikt verhandelt und dabei die Ikonographie des katholischen Marienkults in Spannung zum reformatorischen Glauben an die Macht des geschriebenen Wortes aufruft. Wie zu zeigen ist, setzt dieser intermediale Dialog mit der aus der vorreformatorischen Darstellung in der bildenden Kunst bekannten Ikonographie der jungfräulichen Empfängnis ein, die sich wie folgt gestaltet:
Abb. 10.1: The Annunciation to Mary, ca. 14751
Während die Heilige Jungfrau die Menschheitsgeschichte im biblischen Buch Gottes als schriftlich fixierten Text liest, wird das Wort des himmlisch entrückten Schöpfers 1 Henry, Avril (Hrsg.): The Mirour of Mans Saluacioun: A Middle English Translation of Speculum Humanae Salvationis; a Critical Edition of the Fifteenth-Century Manuscript Illustr. from Der Spiegel der Menschen Behältnis. Speyer: Drach, c. 1475. Aldershot 1986. S. 66. Eine detailliertere Analyse der Empfängnis-Ikonographie in Hamlet findet sich in Fuchs, Dieter: „Und das Wort ist Fleisch geworden“: Die Jungfräuliche Empfängnis und das vorreformatorische kulturelle Gedächtnis in Hamlet. In: Die Entjungferung – Fiktionen der Defloration. Hrsg. von Renate Möhrmann. Stuttgart 2017. S. 281–302. https://doi.org/10.1515/9783110725193-011
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im Hier und Jetzt zur Tat. Der Erzengel Gabriel erscheint der lesenden Jungfrau und verkündet ihr, dass genau jenes Ereignis, das sie in diesem Moment in der Bibel liest, einzutreten im Begriffe ist: die Fleischwerdung des Gottessohnes im jungfräulichen Schoß der frommen Leserin durch das Wort. Was der biblische Text (Lk 1,26–36) als Mysterium formuliert und deshalb unerklärt lässt, wird durch die Ikonographie des Bildes expliziert: das fleischwerdende Wort des himmlisch entrückten Gottes tritt in Gestalt der den Heiligen Geist symbolisierenden Taube zunächst vom Jenseits ins irdische Hier und Jetzt und dann durch die Körperöffnung des Ohres in den jungfräulich empfangenden Mutterschoß. Obschon es sich bei dem Bildbeispiel um ein Einzelbild handelt und nicht um eine Bewegung ausdrückende Bilderserie, wird die szenische Dynamik des dargestellten Ereignisses durch den Flug des als Taube dargestellten Wort Gottes in den Leib der werdenden Gottesmutter unterstrichen. Wie in der Schöpfungsgeschichte der Genesis – in der Gott die Welt als Sprechakt erschafft2 –, vollzieht sich daher auch die Fleischwerdung des Wortes, das im Anfang war (Joh 1,1), in performativer Weise, sodass auf dem Bildbeispiel Wort und Tat zusammenfallen.3 Da die Jungfrau das sich ereignende Ereignis simultan in der Bibel liest, vereinigen sich Schrift und Bild zur Endlosschleife, die die Ewigkeit des Jenseits, postmodern gesprochen, als MöbiusBand symbolisiert: ∞ Betrachtet man die szenisch-theatralische Weise, in der die Ikonographie der jungfräulichen Empfängnis zur Schau gestellt wird, und die damit einhergehende Verschleifung von Schrift und Bild genauer, scheint es nur ein kleiner aber höchst folgerichtiger Schritt, dass das mittelalterliche Mirakel- und Mysterienspiel die Bildhaftigkeit der als Armen- bzw. Illiteraten-Bibel fungierenden Kirchenmalereien und -skulpturen mit dem biblischen Wort Gottes vereint, aus dem jenseitig entrückten Sakralraum der Kirche ins profane Diesseits des Marktplatzes trägt und performativ 2 Barrie spricht in diesem Zusammenhang von der „officially sanctioned idea of a perfect cosmic order that God, as the Perfect Word had spoken into being“. Barrie, Robert: ‘Unknown Languages’ and Subversive Play in The Spanish Tragedy. In: Explorations in Renaissance Culture 21 (1995). S. 63–80, hier S. 63. Die Performativität des Schöpfungsakts wird durch die in der Genesis mehrfach wiederholten Gottesworte „[l]et there be“ unterstrichen. 3 Die stilisierte Ikonographie der katholischen Empfängnis-Bilder entspricht nur bedingt dem zu Grunde liegenden Bibeltext Lk 1,26–36: dort verkündet der Erzengel das Wort Gottes, dessen simultane Fleischwerdung durch einen göttlichen Sprechakt jedoch nicht erwähnt wird. Ebenso bezieht sich das von Chris Hassell als „ribboned words“ (Hassel, Chris Jr.: Shakespeare’s “Removed Mysteries”. In: Connotations 7.3 [1997/98]. S. 355–367, hier S. 360) bezeichnete Spruchband – das in der Bilddarstellung üblicherweise das Wort des Propheten Isaia „Behold, the virgin shall conceive and bear a son, and she shall call his name Immanuel“ (Isaia 7;14) wiedergibt – auf Mt 1,18–25: dort erklärt der Engel dem Heiligen Joseph in einer Traumvision das Mysterium der jungfräulichen Empfängnis und bezeichnet dies als Erfüllung des zuvor zitierten Prophetenwortes: „And all this was done that it might be fulfilled, which is spoken of the Lord by the Prophet, saying. Behold, a virgin shall be with child, and shall bear a son, and they shall call his name Emmanuel, which is by interpretation, God with us“ (Mt 1,22–23).
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als Theaterspiel auf die Bühne bringt. Diese Verbindung von Wort und Bild ist der allgemein bekannte Ausgangspunkt der frühneuzeitlichen Wiederentdeckung des Dramas aus dem Geist des Katholizismus, der die im sechzehnten Jahrhundert einsetzende Bewegung der Reformation so sehr verstört, da Letztere begünstigt durch die Erfindung des Buchdrucks die Erringung des menschlichen Seelenheils einer Reihe protestantischer Ansätze gemäß exklusiv in der Lektüre des schriftlich fixierten Wort Gottes in der Bibel verortet: sola scriptura. Im Gegensatz zur unverbrüchlichen Wahrheit des göttlich gesprochenen Bibelwortes, die sich dem meditativ lesenden Gläubigen erschließt, erachten diese Glaubensrichtungen, v.a. der (englische) Puritanismus, Bilder als trügerisches Blendwerk und Versuchung des Teufels: obschon sie nicht das Ding an sich, sondern nur dessen bildhafter Abglanz sind, stimulieren Bilder die als concupiscentia oculorum bekannte Augenlust als Schlüssel zur Sinnlichkeit und bewegen den Schauenden dazu, sich dem Abglanz des Hier und Jetzt zuzuwenden anstatt durch contemptus mundi – also durch Abwendung vom gefallenen Hier und Jetzt – die ewige Wahrheit und das Seelenheil im Jenseits zu suchen. Es ist diese protestantische Ausrichtung des englischen Humanismus, die dem Menschen als Knoten des Kosmos eine einzigartige Würde zuschreibt. Da der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Wesen der Schöpfung als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, besitzt diese Spezies als einzige die göttliche Gabe der Sprachfähigkeit und zeichnet sich daher durch göttliches Potential aus, soweit sie sich an der Wahrheit des in der Bibel fixierten Wort Gottes orientiert und nicht durch den Schein trügerischer Bilder des Hier und Jetzt blenden lässt. Das eigentliche Skandalon – das das aus dem Geist des Katholizismus entstehende und diesen weltanschaulichen Hintergrund gleichzeitig subvertierende elisabethanische Drama nach protestantisch-puritanischer Auffassung zum verstörenden Blendwerk macht –, scheint daher weniger das auch aus Gleichnissen Jesu bekannte Phänomen der Fiktion; vielmehr verstört die Kontamination der welterschaffenden Performativität des als göttlich erachteten Wortes durch das trügerische Medium des Bildes. Denn das auf der Bühne inszenierte Drama besteht aus Text und szenisch bewegten Bildern gleichermaßen. Mit aufwendiger Kostümerie und der als Wortkulisse bekannten Magie der Sprache werden Bilder evoziert, die die Schau-Lust bzw. concupiscentia oculorum des elisabethanischen Publikums ähnlich stimulieren wie die als Royal Progress bekannten Auftritte der Königin vor dem Volk, grausig-spektakuläre Hinrichtungsrituale und aufwendig gestaltete Begräbniszeremonien. Letztere beabsichtigen mindestens ebenso sehr, die Erinnerung an den Verstorbenen im Diesseits zu perpetuieren als dessen Seele der Ewigkeit des Jenseits zu überantworten. Wie nun zu skizzieren ist, erfolgt der Aufstieg des Dramas zum elisabethanischen Leitmedium durch einen großen Modernisierungsschub, der sich in der zunehmend als theatral empfundenen Alltagswelt einerseits als Repräsentationswandel von Macht, andererseits als höfische Entdeckung des sozialen Rollenspiels und der perspektivischen Gebundenheit menschlichen Sehens manifestiert.
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Da sich in den Rosenkriegen der englische Hochadel gegenseitig abgeschlachtet und ein Machtvakuum produziert hat, gelangt zu Beginn der frühen Neuzeit das bis dato unbedeutende Haus Tudor an die Königsmacht. Mangels dynastischer Legitimation und machtpolitischer Tradition wird auf diese Weise das feudale Herkunftsargument kontingent. Daher ist das neue Herrscherhaus gezwungen, seine Macht anderweitig zu rechtfertigen und entdeckt dabei – wie viele traditionslos emporgekommene Herrscher der italienischen Renaissance – die Selbstinszenierung durch das Medium der Kunst als Machtmittel. Stephen Greenblatt nennt diese Strategie „Renaissance Self-Fashioning“4, Erving Goffman „impression management“5. Da Macht nach dem Untergang der alten Dynastien nicht mehr durch Geburt garantiert zu sein scheint, ist der frühmoderne Herrscher gezwungen, seine per se nicht vorhandene Macht theatral durch Kunstwerke wie Herrscherportraits oder Sonette und politische Rituale wie das Hofprotokoll und Royal Progresses auszustellen. Nach Michel Foucault entsteht durch diese Inszenierung scheinbar unerschöpflicher Machtfülle ein Realitätseffekt, der die Untergebenen dazu bringt, die inszenierte Machtfiktion nicht nur zu glauben, sondern sogar als selbstverständlich bzw. gottgegeben zu erachten.6 Dies ist die Geburtsstunde des Frühabsolutismus und seiner höfischen Repräsentationskultur. Da die Tudors ihre Macht auf den Hof hin zentralisieren und monopolisieren, erfolgt deren Ausübung zudem als soziales Rollenspiel.7 Da jeder Höfling um die Gunst des Herrschers buhlt, damit jener einen Teil seiner gottgleichen Allmacht an ihn delegiert, versucht sich jedes Hofmitglied möglichst positiv in Szene zu setzen und die höfische Konkurrenz neben sich möglichst schlecht aussehen zu lassen. Dadurch tritt die authentische Persönlichkeit eines Menschen hinter die fiktive Maske einer selbst inszenierten Rolle mit Authentizitäts-Effekt zurück. Und dieses Rollenspiel führt zu politischen Intrigen, Seilschaften etc., in die auch der im Zentralfokus stehende Herrscher eingebunden ist, wie folgendes Zitat von Königin Elisabeths Nachfolger, James I., zeigt: That a King is as one set on a skaffold, whose smallest actions and gestures, all the people gazingly doe behold.8
4 Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning from More to Shakespeare. Chicago 1980. 5 Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959. 6 Foucault, Michel: The Order of Discourse [1970]. In: Untying the Text. A Post-Structuralist Reader. Hrsg. von Robert Young. Boston 1981. S. 48–78. 7 Vgl. Schwanitz, Dietrich: Theatrum Mundi und soziales Rollenspiel – Zur sozialgeschichtlichen Deutung des Hamlet. In: Shakespeare Jahrbuch West (1978/79). S. 114–131. 8 Dies ist der Text der Erstausgabe. James I.: Basilikon Doron. [Repr. 1st ed. Edinburgh 1599]. Hrsg. von Charles Edmonds. London 1887. Als James das Buch in Vorbereitung der englischen Thronbesteigung zum zweiten Mal auflegt (London, 1603), ersetzt er den Begriff „skaffold“ durch den weniger ambivalenten Begriff „stage“. James I.: Basilikon Doron. [Repr. 2nd ed. London 1603/1616]. In: The Political Works of James I. Hrsg. von Charles Howard McIlwain. Harvard 1918; vgl. Höfele, Andreas: Bühne und Schafott. In: Shakespeare-Jahrbuch 135 (1999). S. 46–65, hier S. 46f.; Bate, Jonathan: In-
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Dieser Textauszug ist in mindestens zweifacher Hinsicht signifikant: Wie Andreas Höfele erstens gezeigt hat, bedeutet „skaffold“ nicht nur seit der Zeit der Mysterienspiele die Theaterbühne, sondern auch den als Blutgerüst bekannten, auf einer bühnenartigen Konstruktion gegründeten Richtplatz.9 Obschon sich James der dramatischen Ironie seiner 1599 getroffenen Aussage offenbar nicht bewusst ist, impliziert diese nicht nur, dass seine Mutter, Mary Stuart, Königin von Schottland an ebendiesem Ort 1587 ihren Kopf durch das Henkersbeil verloren hatte; sie nimmt insbesondere die Tatsache vorweg, dass auch sein Sohn und Nachfolger, Charles I., an einem solchen Ort 1649 hingerichtet werden wird.10 Da nach Michel Foucault Macht zirkuliert und nicht linear wirkt,11 kann das Rollen- oder Theaterspiel des Hofes daher für alle Beteiligten einschließlich des Herrschers jederzeit durch einen unnatürlichen Tod enden. Zweitens betont das königliche Zitat, dass es die Taten und Gesten sind, die der Hof schauend beobachtet. Da diese üblicherweise mit Worten unterlegt sind, erweisen sie sich in ihrer Performativität als homolog zum Theaterspiel, dessen Aufführung auf der als „skaffold“ bezeichneten Bühne Worte mit bewegten Bildern verknüpft. Obschon die bisher angeführten Argumente die Hofkultur als lebensweltliches Pendant des auf der Theaterbühne inszenierten Dramas plausibilisieren, fehlt noch ein zentrales Argument, das den Aufstieg des säkularen Dramas als Korrelat höfischpolitischen Agierens einsichtig macht: die Entdeckung der perspektivischen Gebundenheit menschlicher Wahrnehmung, die gleichermaßen das Hofleben, das Drama und die Bild-Kunst der Malerei auszeichnet. Sowohl bei Hofe als auch im Theater kann der unbeteiligte Zuschauer als Publikum erkennen, dass die auf der Bühne agierenden Akteure sich gegenseitig beobachten, während diese Beobachtung wiederum von anderen beobachtet wird und umgekehrt. Dies hat zur Folge, dass je nach Blickwinkel unterschiedliche Interpretationen ein- und derselben Konstellation unterschiedliche Wahrheiten erzeugen.12 Eine Vorstufe jener Einsicht manifestiert sich bereits im morality play des ausgehenden Mittelalters, das das zwielichtige Ränkespiel der Vice-Figur – die das Publikum in einen Teil ihres Intrigenspiels einweiht, das eigene Handeln kommentiert etc. – als performatives Meta-Theater ausstellt. Daher ist es kein Zufall, dass die mittelalterliche Vice-Figur im elisabethanischen Drama als Medium der Illusionsdurchbrechung weiterlebt und mit dem Typus des machiavellistischen HöflingsSchurken verschmilzt. Wie die Vice-Figur spielt auch der machiavellistisch geschulte
troduction. In: William Shakespeare, Titus Andronicus. The Arden Shakespeare 3rd Series. Hrsg. von Jonathan Bate. London [1995] 2006. S. 1–121, hier S. 24. 9 Höfele, Bühne (wie Anm. 8). 10 Vgl. Höfele, Bühne (wie Anm. 8), S. 46f. 11 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, hier S. 82. 12 Schwanitz, Dietrich: Shakespeare Stereoskopisch: Die Schule des Sehens und die Optik der Praxis. In: Shakespeare Jahrbuch 129 (1993). S. 134–149.
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Hofmann die Differenz von Schein und Sein als metadramatisches Perspektivenspiel und Manipulation der Beobachtung aus. Im Gegensatz zur absoluten Wahrheit der biblischen Menschheitsgeschichte – in der Gott die Welt als performativen Sprechakt ins Sein spricht und dies als schriftlichen Text der Bibel fixiert und autorisiert –, muss daher menschlich-diesseitige Performanz – die Worte mit Taten verknüpft, die auf der Bühne zu bewegten Bildern werden – nicht der Wahrheit entsprechen. Wie bereits skizziert, kann nach puritanischer Auffassung das Bild als teuflisches Blendwerk fungieren, das zwar die Sinne und damit die sündhafte Sinnlichkeit des gefallenen Diesseits stimuliert, dabei jedoch die Wahrheit des biblisch verbürgten Wortes als göttliches Medium unterminiert und somit das Seelenheil im Jenseits gefährdet. Im Gegensatz zum MoralitätenSpiel als Variante des religiösen Dramas des Mittelalters – in dem die Wahrheit Gottes durch die Verführung Jedermanns zur Sinnlichkeit nur vorübergehend gestört wird – erweist sich höfische Performanz im säkularen Drama der frühen Neuzeit generell als zwielichtiger und latent diabolischer Akt kultureller Repräsentation. Gleichzeitig unterminiert das elisabethanische Drama aber auch den puritanischen Glauben an die göttlich verbürgte Repräsentationskraft der Schrift, indem es im höfischen Kontext Figuren auf die Bühne bringt, die das schriftlich fixierte Wort als Palimpsest dynamisieren und den Originaltext mit ihren eigenen Worten in performativer Weise fälschend überschreiben. Da es sich analog zum trügerischen Blendwerk des Bildes bei solchen Eingriffen in die göttliche Autorität des Wortes aus puritanischer Sicht ebenso um anti-christliches Teufelswerk handeln muss, ist diese Art der Manipulation gemäß elisabethanischer Staatspropaganda als satirischer Seitenhieb auf die alte Religion verstehbar. Denn Letztere bezeichnet den Bischof von Rom – dessen weltliches Reich des Kirchenstaats als Folge der Konstantinischen Schenkung entstand – unverhohlen als Urkundenfälscher und satanische Inkarnation des Antichrist. Es ist kein Zufall der Geschichte, dass Ulrich von Hutten den von Lorenzo Valla (1406–1457) erbrachten Nachweis, dass es sich bei der Konstantinischen Schenkung um eine päpstlich autorisierte Fälschung handelt, ausgerechnet 1517 – also im Jahr des Lutherschen Thesenanschlags als Zündsatz der Reformation – mithilfe des revolutionären Mediums der Druckerpresse veröffentlichte.13 Nun gilt es, die oben diskutierten Kontexte in Rekurs auf Shakespeares Hamlet als frühneuzeitlichen Medienkonflikt zwischen reformatorischer Wortkultur und katho-
13 Huttens Text erschien in England wahrscheinlich in der Übersetzung von William Marshall 1534 – im Jahr des Act of Supremacy, der Heinrich VIII. zum Oberhaupt der Kirche von England erhob – im Druck. Marshall, William: A treatyse of the donation or gyfte and endowme[n]t of possessyons, gyuen and graunted vnto Syluester pope of Rhome, by Constantyne emperour of Rome: [and] what truth is in the same grau[n] thou mayst se, and rede ye iugement of certayne great lerned men, whose names on the other page of this leafe done appere. Imprynted at London: By Thomas Godfray [for William Marshall] 1534.
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lischer Bildkultur zu analysieren. Bei der eingangs skizzierten Form der Ikonographie der jungfräulichen Empfängnis handelt es sich ebenso wie bei Shakespeares Hamlet um selbstreflexive Meta-Kunst. Denn nicht nur auf der Abbildung der EmpfängnisSzene ereignet sich genau das, was Maria in der Bibel liest: die Fleischwerdung des Wort Gottes, das zugleich die Autorinstanz der Bibel ist. Wie nun zu zeigen ist, stellt Shakespeares Drama genau diese Konstellation ironisch gebrochen als tableau vivant auf die Theaterbühne und reflektiert diese auf einer Meta-Ebene. Während in der vorreformatorischen Sakral-Kunst Text und Bild zur Simultanpräsenz göttlicher Wahrheit verschmelzen, treten sie im Rahmen der säkularisierten Theatralität des Hofes und des Theaterspiels zueinander in Konkurrenz. Ähnlich wie in Machiavellis amoralischer Analyse weltlicher Macht- und Realpolitik wird auf der Bühne vorgeführt und analysiert, welchen Mechanismen und medialen Gesetzen Macht als manipulatorisches Bedeutungsspiel am Schnittpunkt von Wort und Bild folgt. Obwohl der reformatorische Bildersturm den Marienkult in England auszumerzen suchte, bezeugen zahlreiche Relikte die vorreformatorische Popularität der Darstellung der keusch empfangenden Gottesmutter auf den britischen Inseln. Insbesondere Skulpturen, die nicht so leicht zerstörbar sind wie Gemälde, haben den protestantischen Bildersturm überlebt. Da diese Marien-Darstellungen exakt dieselbe Ikonographie der Ohren-Empfängnis aufweisen wie das oben diskutierte Empfängnis-Bild, darf man mit Sicherheit annehmen, dass William Shakespeare – dessen Vater bekennender Katholik im Untergrund war – die Topoi des vorreformatorischen Marienkults gut kannte. Da Shakespeare dafür bekannt ist, seine Texte mit höchst unanständigen Anspielungen anzureichern, lässt er sich bei der Anspielung auf die Ikonographie der Heiligen Jungfrau folgende derbe Spitzfindigkeit nicht entgehen: da das fleischwerdende Wort Gottes auf den Darstellungen der Empfängnis das Frauenohr penetriert und auf diese Weise in den Mutterschoß gelangt, stilisiert Shakespeare das Ohr als vaginale Körperöffnung. Das wohl bekannteste Beispiel der parodistischen Inszenierung des Frauenohres als vaginaler Ort findet sich jedoch nicht in Shakespeares Hamlet, sondern in dessen Römerdrama Anthony and Cleopatra. Obschon in die vorchristliche Antike verlegt, zeugt folgender Textauszug von einer nicht-jungfräulichen ZeugungsParodistik, die nur als ironischer Rekurs auf die katholische Ikonographie der Heiligen Jungfrau verständlich wird. Beim Eintreffen eines Dieners mit einer Botschaft des Antonius fordert die klischeehaft als lüstern dargestellte Cleopatra den Boten auf, ihr die Worte des römischen Geliebten befruchtend ins Ohr zu rammen: Cleopatra:
Ram thou thy fruitful tidings in mine ears, That long time have been barren.14
14 Shakespeare, William: The Tragedy of Anthony and Cleopatra. In: The Oxford Shakespeare. Hrsg. von Michael Neill. Oxford 1994. 2.5.24–25.
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Da das Wort ‚ram’ nicht nur ‚rammen’, sondern auch ‚Bock’ bedeutet, scheint es unzweideutig, dass Cleopatra über das Medium des Dieners Ohrensex, also ‚Auralsex‘ mit dem abwesenden Antonius praktiziert und das Wort zum Phallus umfunktioniert. Doch nun zu Shakespeares Hamlet. Hamlets Mutter Gertrude hat nach dem Tod ihres Ehemanns Hamlet Sr. dessen Bruder Claudius geheiratet, und dies ist nach frühneuzeitlicher Auffassung höchst frevelhaft, da die Heirat des eigenen Schwagers als Inzest galt: da Mann und Frau gemäß biblischer Definition durch die Ehe ein- und dasselbe Fleisch geworden sind, muss es sich um Blutschande handeln, wenn der Bruder mit der Witwe seines Bruders – also dem Fleisch seines Bruders – sexuell verkehrt. Als inzestuöse Beischlaffrevlerin parodiert Shakespeares Stück Hamlets Mutter als Anti-Madonna. Dieser ironische Marien-Bezug wird explizit aufgerufen, wenn Gertrude Hamlets Inzest-Vorwurf mit phallus-förmigen Dolchen vergleicht, die ihren Körper durch das Ohr penetrieren: Queen:
[…] O, speak to me no more. These words like daggers enter in my ears. No more, sweet Hamlet.15
Die keusche Ophelia hingegen – die Hamlet wirklich liebt und treu ergeben ist – zeichnet der Text in ernsthafter Weise als Widerpart der Heiligen Jungfrau. Ironischerweise wird sie genau deshalb von allen Figuren des Stückes verkannt, weil sie als einzige Repräsentantin der intriganten Hofgesellschaft immer die Wahrheit sagt. So verschweigt sie ihrem Bruder Laertes nicht, dass Hamlet ein Auge auf sie geworfen hat. Da Laertes glaubt, Hamlet wolle Ophelia durch die Erotik unzüchtiger Liebesworte verführen, warnt er sie eindringlich davor, wie Gertrude zur unkeuschen Anti-Mutter Gottes zu werden: Laertes:
Then weigh what loss your honour may sustain If with too credent ear you list his songs, Or lose your heart, or your chaste treasure open To his unmastered importunity. Fear it, Ophelia, fear it, my dear sister, And keep you in the rear of your affection, Out of the shot and danger of desire.16
Indem er befürchtet, Hamlet werde durch verführerische Liebesworte das Ohr der Jungfrau so sehr stimulieren, dass dies auch die lüsterne Öffnung ihrer als „chaste treasure“ bezeichneten Scham zur Folge haben könnte, bezieht er sich dabei auf einen intertextuellen Präzedenzfall des ausgehenden katholischen Mittelalters: auf 15 Shakespeare, William: The Second Quarto (1604/5). The Tragical History of Hamlet, Prince of Denmark. In: Hamlet. The Arden Shakespeare 3rd Series. Hrsg. von Ann Thompson u. Neil Taylor. London 2006. 3.4.86–88. 16 Shakespeare, Hamlet (wie Anm.15), 1.3.29–35.
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die Geschichte von Paolo und Francesca da Rimini in Dantes Divina Commedia, die ebenfalls als Parodie der jungfräulichen Empfängnis angelegt ist.17 Bei der gemeinsamen Lektüre einer Liebesromanze verlieben sich die Leser Paolo und Francesca. Die beiden lesen die Geschichte der illegitimen Liebe von Sir Lanzelot und der Ehefrau von König Artus. Durch die Erotik der Ehebruchs-Erzählung angestachelt, ergeben sich die beiden Lesenden der Fleischeslust. Der geschriebene Text übernimmt also die Rolle des Kupplers. Das im Mittelalter üblicherweise laut gelesene unheilige Wort der Liebesromanze dringt als phallisch konnotierte Vorhut durch das Frauenohr. Während das heilige Wort Gottes der Bibel durch das Ohr hindurch auf keusche Weise Fleisch gebiert, stimuliert der obszöne Text der Ehebruchsgeschichte das Frauenohr, und diese Erregung durch die Erotik der Lettern verführt schließlich zur bereitwilligen Öffnung des fleischlich empfangenden Mutterschoßes. Ganz anders als der besorgte Bruder Laertes – der Ophelia vor dem Schicksal Francesca da Riminis warnt – reagiert ihr Vater Polonius auf Hamlets Verliebtheit. Da niemand geringerer als der Thronfolger seine Tochter begehrt, versucht der als Parodie eines Höflings angelegte Vater, den Prinzen in den Hafen der Ehe zu locken und aus Hamlets Liebe politisches Kapital zu schlagen. Da Polonius seine Tochter wie ein Stück Fleisch zu verschachern beabsichtigt, sucht er ihren Marktwert dadurch zu maximieren, dass er in Rekurs auf die beim Lesen ihrer eigenen Geschichte keusch empfangende Gottesmutter Maria theatral Ophelias Jungfräulichkeit ausstellt. Denn Jungfrauen versprechen bekanntermaßen nicht nur im Menschenhandel der Prostitution, sondern auch auf dem Heiratsmarkt den größtmöglichen Profit: Polonius:
Ophelia, walk you here. – Gracious, so please you, We will bestow ourselves. – Read on this book, That show of such an exercise may colour Your loneliness. We are oft to blame in this, ‘Tis too much proved, that with devotion’s visage And pious action we do sugar o’er The devil himself.18
Indem er die Begegnung der Liebenden so manipuliert, dass Ophelia als Leserin eines Buches auftritt, inszeniert er die Tochter als Widerpart der bei der Bibellektüre keusch empfangenden Jungfrau Maria. Den auf diese Weise trickreich produzierten Keusch-
17 Dante Alighieri: The Divine Comedy [Divina Commedia]. Bd. I: Inferno. Übers. von Mark Musa. Harmondsworth 1984. Die Ausführungen zu Dantes Paolo und Francesca-Episode sind angeregt von Friedrich Kittlers (1994) Analyse dieser Episode in Rekurs auf Goethes Die Leiden des Jungen Werthers. Kittler, Friedrich A.: Autorschaft und Liebe. In: Goethes Werther. Kritik und Forschung. Hrsg. von Hans Peter Herrmann. Darmstadt 1994. S. 285–316. 18 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 3.1.44–50.
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heits- und Frömmigkeitseffekt – oder „devotion’s visage“19 – sucht er gewinnmaximierend einzusetzen. Zudem weiß Polonius, dass Hamlet an der Universität Wittenberg studiert, an der die Reformation mit Martin Luthers Thesenanschlag an der dortigen Schlosskirche 1517 ihren Anfang nahm. Cum grano salis könnte Shakespeares Dänenprinz daher sogar bei Luther – der an der Universität Wittenberg eine Professur innehatte – höchstpersönlich Theologie studiert haben. Da der Protestantismus die Erlangung des Seelenheils, wie bereits erwähnt, in die meditative Privatlektüre der Heiligen Schrift verlegt, versucht Polonius, Hamlets emphatische Liebe zu Ophelias unbefleckter Seele zu wecken. Nimmt man Ophelias Pose der jungfräulichen Empfängnis intertextuell bzw. intermedial ernst, so muss es sich bei dem Buch, das ihr Polonius in die Hand drückt, um die Bibel handeln, in der Ophelia nicht nur als re-inkarnierte Heilige Jungfrau ihre eigene Geschichte liest, sondern die göttliche Providenz der Heiligen Schrift auch in gut protestantischer Manier nach dem Seelenheil befragt. Dies würde eine der sich am zähesten haltenden und oft sehr spekulativ beantworteten literaturwissenschaftlichen Fragstellungen beantworten, die immer wieder an Shakespeares Hamlet herangetragen werden: welches Buch liest Ophelia? Da es bei Hofe keine Privatsphäre gibt und die Wände Ohren haben, ahnt Hamlet jedoch korrekterweise, dass die Szene als Belauschungsszene angelegt ist und hält die Frau, die er liebt, für eine Kollaborateurin jener Hofintrige, deren unfreiwilliges Opfer sie ja tatsächlich ist. Obschon Hamlet nicht weiß, dass Ophelia gegen ihren Willen zur Heiligen Jungfrau gemacht wird und sie in Verkennung ihrer Unschuld als Hure beschimpft, so erkennt er in ihrer Pose dennoch die Ikonographie der Gottesmutter. In Anspielung auf die vorreformatorische Darstellung Mariae – die den kleinen Jesus als Wort Gottes durch das Ohr empfängt und dabei die Bibel liest – spricht Hamlet in dieser Situation ironisch von segensreicher Empfängnis: „Conception is a blessing“.20 Die von Ophelias Vater manipulierte Marien-Pose wird auch von Gertrudes Mann Claudius erkannt, der in diesem Zusammenhang von „painted word[s]“21 spricht. Nach Chris Hassel spielt der Begriff „painted words“ darauf an, dass die vorreformatorische Kunst die Empfängnis Jesu nicht nur ikonographisch abbildet, sondern auch durch Bibelzitate kommentiert. Wie eingangs erwähnt, erscheinen diese Bibelzitate in den Abbildungen als ‚ribboned words‘ genannte Textbänder auf: Claudius’s ‘painted words,’ [...] both suggest the ribboned words of Gabriel’s greeting to Mary and the frescos and wall paintings which so often embodied them. Among those words are Gabriel’s ‘Behold the Virgin shall conceive’ […].22
19 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 3.1.48. 20 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 2.2.184. 21 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 3.1.54. 22 Hassel, Removed Mysteries (wie Anm. 3), S. 360.
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Indem Shakespeares Hamlet die Heilige Jungfrau auf der Bühne des elisabethanischen Theaters erscheinen lässt – und diese Erscheinung als höfische Fälschung entlarvt –, erinnert der Text nicht nur an den katholischen Marienkult, den die Reformation aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen suchte. Indem es das Mysterium der jungfräulichen Empfängnis als von Menschen gemachten falschen Spuk und Hokuspokus ausstellt, verweist Shakespeares Drama zudem auf die manipulatorische Kraft religiöser Mysterien. Letztere sind jedoch nicht nur Teil der katholischen Vergangenheit, die den Ablasshandel und das Fegefeuer als Geldquelle im Namen Gottes erfand. Wie nun zu zeigen ist, wirkt das Heilige als dubioser Macht-Zauber auch in die protestantische Gegenwart der Shakespeare-Zeit hinein. Als Hamlet um 1600 geschrieben und im Theater aufgeführt wird, steht das englische Königshaus vor einer schweren Krise. Das Haus Tudor – das England seit Heinrich VIII. zu einem modernen Staat und zur europäischen Großmacht gemacht hat – droht auszusterben, weil Königin Elisabeth bis zu ihrem Tode 1603 tatsächlich kinderlos blieb. Dabei wiegt die Thronfolge-Krise umso schwerer, weil es Elisabeth meisterhaft verstand, das englische Volk an sich zu binden, indem sie den vorreformatorischen Marienkult säkularisierte und sich als jungfräuliche Königin – also als Virgin Queen – inszenierte. Wie die Heilige Jungfrau auf der Mondsichel schützend ihren Mantel über die Christenheit breitet und den Bitten der Sünder mütterlichen Beistand entgegenbringt, so präsentiert sich die Virgin Queen als keusche Mutter der englischen Nation. All das ist Teil eines großen Tudor-Mythos, der bis zu König Artus zurückreicht, dessen Ehefrau wie Dantes Francesca als unheilige Jungfrau die Ehe gebrochen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die madonnenhafte Ophelia aus Shakespeares Hamlet als ironischer Verweis auf die jungfräuliche Königin Englands lesbar. Idealbild und satirisches Zerrbild der in die Jahre gekommenen Virgin Queen überlagern sich in Ophelia als trügerisches Vexierbild. Und, wie bereits erwähnt, erweisen sich Bilder deshalb als trügerisch, weil sie aus puritanischer Sicht idolatorisches Blendwerk des Teufels sind. Diese Ambivalenz zeigt sich insbesondere beim Auftritt des Geists von Hamlets Vater, der sich dem Sohn nach gut katholischer Manier als im Fegefeuer büßende arme Seele vorstellt: Ghost
I am thy father’s spirit, Doomed for a certain time to walk the night And for the day confined to fast in fires Till the foul crimes done in my days of nature Are burnt and purged away. But that I am forbid To tell the secrets of my prison-house I could a tale unfold whose lightest word Would harrow up thy soul, freeze thy young blood, Make thy two eyes like stars start from their spheres, Thy knotted and combined locks to part And each particular hair to stand on end Like quills upon the fearful porpentine –
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But this eternal blazon must not be To ears of flesh and blood.23
Da er von seinem machiavellistischen Bruder Claudius hinterrücks ermordet wurde – und der Mord als satanische Inversion der jungfräulichen Empfängnis durch in die Körperöffnung des Ohres eingeträufeltes Gift erfolgte –, so führt der väterliche Geist weiterhin aus, hatte er keine Gelegenheit, vor dem Tod seine Sünden zu beichten, und deshalb führt für seine unreine Seele der Weg zum Himmel über das Fegefeuer als Läuterungsort. Dies ist neben der inzestuösen Beziehung zur Witwe der eigentliche Skandal, den Hamlet als Sohn durch Blutrache an Claudius auslöschen soll. Um dabei wirklich Gleiches mit Gleichem zu vergelten, so gibt der väterliche Geist zu bedenken, ist es wichtig, dass die Rache ebenso ohne Beichtgelegenheit erfolgt. Aus vorreformatorischer Sicht ist die Identität des Geistes als im Fegefeuer keine Ruhe findende arme Seele plausibilisiert. Da der Protestantismus das Fegefeuer jedoch zusammen mit dem Ablasshandel und der Beichte abgeschafft und das Seelenheil in die Bibel-Lektüre verlegt hat, interpretiert die Reformation eine Geistererscheinung als schwarze Magie bzw. teuflisches Trugbild. Aus protestantischer Sicht ist der Geist ein Abgesandter des Teufels, der Hamlets Seele durch den Racheauftrag zur Todsünde – und damit in die Hölle – zu (ver-)führen beabsichtigt: Hamlet:
[…] The spirit that I have seen May be a de’il, and the de’il hath power T’assume a pleasing shape. Yea, and perhaps Out of my weakness and my melancholy, As he is very potent with such spirits. Abuses me to damn me! I’ll have grounds More relative than this. […]24
Dies ist der Grund, weshalb Hamlet als an der Universität Wittenberg geschulter Protestant die Identität des Geistes anzweifelt und herauszufinden sucht, ob es sich bei dessen Version der Todesgeschichte des Vaters um die Wahrheit handelt oder nicht. Sollte Letzteres der Fall sein, erwiese sich der frevlerische Jenseits-Text des Geistes als genau jenes teuflische Ohren-Gift, das bereits dem Vater nicht nur das Leben, sondern fast auch das Seelenheil gekostet hatte. Um sich gegen das mögliche Ränkespiel des Teufels zu wehren, bedient sich Hamlet daher des Mediums des Theaters, das, wie Stephen Greenblatt gezeigt hat, nicht nur das von den Protestanten verbotene vorreformatorische Ritual der Teufels- und Dämonenaustreibung in säkularisierter Form kathartisch auf die Bühne bringt; die weiße Magie des Theaters macht zudem wie ein Spiegel jene Dinge sichtbar, die man ansonsten perspektivisch bedingt nicht sehen kann: beispielsweise das, was sich hinter dem eigenen Rücken als machiavellisti23 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 1.5.9–22. 24 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 2.2.533–539.
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sche Hof-Intrige abspielt.25 Daher bezeichnet Hamlet das Theaterspiel als to „hold as ‘t’were the mirror up to nature“.26 Um herauszufinden, ob der Geist die Wahrheit sagt oder nicht, benutzt Hamlet das Theater – dessen elisabethanische Blüte, wie eingangs erwähnt, mit der höfischen Entdeckung des sozialen Rollenspiels und der perspektivischen Manipulation der beobachteten Beobachtung einhergeht –, als Medium, das teuflisch-machiavellistische Intrigengebäude des Onkels zu durchschauen. Dies erfolgt nach Dietrich Schwanitz als Spiel im Spiel, das die Perspektiven verwirrt.27 Indem Hamlet die MordGeschichte des Geistes vor den unvorbereiteten Augen des Onkels als Meta-Drama zur Aufführung bringt, verfällt der mit seiner Tat konfrontierte Claudius in Panik, und dies ist für Hamlet der psychologisch indizierte Beweis, dass der Geist die Wahrheit gesprochen hat. Indem Hamlet aber zuvor dem höfischen Publikum des Spiels im Spiel berichtet, das Stück handle von einem Neffen als Königsmörder, glaubt jener Teil der Zuschauer, dass Hamlet durch das Stück droht, den Onkel zu ermorden und dessen Thron zu usurpieren. Da das Spiel im Spiel perspektivisch bedingt unterschiedliche ‚Wahrheiten‘ produziert, ist es nur Hamlet und nicht der Hof, der zu erkennen im Stande ist, dass Onkel Claudius der Mörder seines Vaters ist. Und das Publikum der Hamlet-Aufführung im eigentlichen Theater ist zudem im Stande, die Perspektive Hamlets, Claudius’ und des höfischen Publikums des Spiels im Spiel gleichermaßen einzunehmen und differenzierend zu unterscheiden. Durch diese kaleidoskopisch gebrochene Manipulation der beobachteten Beobachtung erweist sich das Theater als Medium, das sowohl die höfisch kontaminierte Wortkultur des Protestantismus als auch die Ikonographie der vorreformatorischen Bildkultur auf ihre repräsentative Tragfähigkeit überprüft. Indem Shakespeares Drama zudem die von der Reformation als idolatorisches Teufelswerk unterdrückten Konsolations-Rituale wie Beichte und exorzistische Geister- und Dämonenaustreibung der katholischen Vergangenheit in säkularisierter Form auf die Bühne bringt,28 erweist es sich, wie oben skizziert, als eine Art lebensweltliches Purgatorium. Als Ritualfundus, der den Umstand kompensiert, dass der Protestantismus die Gläubigen mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen allein lässt und die Möglichkeit diesseitiger Absolution und Entlastung durch eine Priesterfigur verweigert. Daher erwähnt Hamlet auch in seinem bekanntesten Monolog (III.1) die psychologisch problematische Bürde des Gewissens, die im Diesseits Furcht vor jenseitigen Strafen produziert und deshalb die Handlungsfähigkeit des Menschen lähmt.
25 Greenblatt, Stephen: Shakespeare and the Exorcists [1985]. In: Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Hrsg. von Stephen Greenblatt. Oxford 1990. S. 94–127. 26 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 3.2.22. 27 Schwanitz, Shakespeare Stereoskopisch (wie Anm. 12). 28 Vgl. Greenblatt, Shakespeare and the Exorcists (wie Anm. 25); Greenblatt, Stephen: Hamlet in Purgatory. Princeton 2001.
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Obschon der aus katholischen Verhältnissen stammende Shakespeare die Erinnerung an die vorreformatorische Vergangenheit durch das Medium des Theaters lebendig hält, erfolgt dies nicht in eindeutig affirmativer Weise. Stattdessen stellt Hamlet der oben eruierten Bildkultur der alten Religion den protestantischen Glauben an die Autorität der Schrift als zukunftsweisendes Leitmedium gegenüber und erörtert die Tragfähigkeit beider Systeme als Medienkonflikt. Wie sich Shakespeares Drama hinsichtlich der Repräsentationskraft der Schrift positioniert, gilt es im Folgenden zu reflektieren. Wie bereits erwähnt, erweist sich Hamlets Mutter Gertrude intermedial gesehen deshalb als Pseudo-Madonna, weil Hamlets satirisches Wort das verführbare Ohr der Mutter wie ein Dolch penetriert und die jungfräuliche Wort-Empfängnis Jesu durch das Ohr parodiert. Gertrudes Profil als pervertierte Madonna wird jedoch insbesondere dadurch erkennbar, dass sie nach Helen Hackett als Parodie Anne Boleyns angelegt ist – Königin Elisabeths Mutter, die im Gegensatz zur Virgin Queen den katholischen Marienkult nicht als ikonographisches, sondern als schriftliches Medium manipuliert und somit in den Glauben an die göttlich verbürgte Universalwahrheit der Heiligen Schrift eingreift.29 Dabei missbraucht Anne Boleyn den katholischen Marienkult als politisches Machtmittel, um den bereits verheirateten König Heinrich VIII. zu verführen. Wie aus folgendem Textauszug ersichtlich, stimuliert Anne Boleyn analog zu Dantes Paolo und Francesca da Rimini-Episode das sexuelle Begehren Heinrichs VIII. durch ein gemeinsames Lektüreerlebnis: [Henry VIII] and Anne [Boleyn] exchanged love-notes in an illuminated Book of Hours which was passed back and forth during morning mass in the royal chapel, and Anne wrote under an illumination of the Annunciation: ‘By daily proof you shall me find / To be to you both loving and kind’. […]; by attaching this motto to the Annunciation, she was offering the King her safelyvirginal and fertile womb for his God-like impregnation, to produce a messianic heir.30
Indem Anne Boleyn im Messbuch die Abbildung der jungfräulichen Empfängnis durch das fleischlich begehrende Wort ihres Liebesbekenntnisses als Analogon der von Paolo und Francesca gelesenen Ehebruchsgeschichte glossiert, erklärt sie die Bereitschaft, sich von ihrem gottgleichen Verehrer Heinrich schwängern zu lassen. Dabei ist zu betonen, dass Anne im Gegensatz zur passiven Bibel-Lektüre der Heiligen Jungfrau ihren eigenen Text als ‚ribboned words‘ ins Buch Gottes einschreibt. Als Folge von Annes textueller Verführungskunst – die das keusche aber fleischwerdende Wort Gottes parodiert und manipuliert – sagt sich Heinrich VIII. mit Hilfe des Papstes von seiner ersten Frau los: Katharina von Aragon, die er analog zu Gertrude aus Shakespeares Hamlet nach dem Tod seines älteren Bruders Arthur als 29 Hackett, Helen: Virgin Mother, Maiden Queen. Elizabeth I and the Cult of the Virgin Mary. Houndmills 1995. 30 Hackett, Virgin Mother (wie Anm. 29), S. 32f.
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Witwe geheiratet hatte. Indem Anne Boleyn das Wort Gottes durch die Sinnlichkeit ihres weltlichen Textes entweiht, überschreibt sie das heilige Buch als Palimpsest und macht es zu einem ähnlich frevelhaft-lüsternen Text wie die Ehebruchs-Romanze von Sir Lanzelot und der Ehefrau von König Artus, an deren Lektüre Paolo und Francesca da Rimini in der Göttlichen Komödie zugrunde gehen. Und wie die ehebrecherische Francesca stirbt Anne Boleyn einen unnatürlichen Tod, weil sie später selbst des Ehebruchs bezichtigt werden wird. Angesichts der Tatsache, dass Anne nicht nur das Buch der Bücher, sondern in Rekurs auf den gehörnten König Artus auch den TudorMythos entweiht, wird sie als Ironie der Geschichte von Heinrich VIII. gewaltsam zum Schweigen gebracht – ihrem Ehemann, dem sie als irdischen Stellvertreter Gottes in England und selbsternannten Nachfahren des legendären König Artus wahrscheinlich sogar die Treue gehalten hat. In Shakespeares Hamlet findet sich eine Konstellation, die die Schrift in ähnlich manipulativer Weise hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit dekonstruiert. Im Gegensatz zur göttlichen Wahrheit des Bibelwortes verfasst Claudius einen machiavellistischen Brief, dessen unheiliger Text zur Ermordung Hamlets aufruft. Als Hamlet den Brief findet und erkennt, dass das frevelhafte Wort des Onkels die Schrift als Medium der Intrige missbraucht, überschreibt er wie Anne Boleyn den Text. Damit rettet Hamlet zwar sein eigenes Leben, nimmt aber den Tod seiner arglosen Studienkollegen Rosencrantz und Guildenstern billigend als Gegen-Intrige in Kauf. Auf diese Weise wird er ebenso schuldig wie sein Onkel Claudius. Während die jungfräuliche Empfängnis sexuelles Zeugen durch textuelles Zeugen ersetzt, Anne Boleyn durch die Erotik der Lettern Henry VIII. textuell in die Ehe lockt, aus der durch sexuelle Zeugung die jungfräuliche Königin Elisabeth I. hervorgeht, erweist sich der von Hamlet abgefangene Brief des Onkels als textueller Mordversuch, der das biblische Mysterium der Fleischwerdung des Wortes umkehrt. Als Hamlet dabei ist, durch einen Giftanschlag des Onkels in der Tat sein Leben zu verlieren, vollzieht Shakespeares Stück jedoch recht unerwartet eine protestantische Wende, die durch Hamlets Beschwörung des Puritanischen Providenz-Glaubens vorbereitet wird: Hamlet: There is special Providence in the fall of a sparrow. If it be, ‘tis not to come. If it be not to come, it will be now. If it be not now, yet it will come. The readiness is all.31
Um sich nach gut elisabethanischer Manier dauerhaft ins Gedächtnis der Nachwelt einzuschreiben, formuliert der sterbende Hamlet nicht den Wunsch eines ikonographisch spektakulären Begräbnis-Rituals, sondern greift in protestantischer Weise zur Strategie der Unsterblichkeit des Biblischen Wortes: So wie der auferstandene Jesus im Wort weiterlebt, weil er seine Apostel bat, das Ritual der Eucharistie zu seinem Gedächtnis bei jeder Zusammenkunft zu wiederholen und den von ihm gesproche31 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 15), 5.2.197–200.
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nen Text nachzusprechen, bittet Hamlet seinen engen Freund Horatio, die Geschichte seines Lebens und Sterbens weiter zu erzählen (5.2.333). Nimmt man diesen Auftrag ernst, endet die von Horatio erzählte Geschichte immer mit dem Letzten Wunsch Hamlets, diese nochmals zu erzählen und wird daher zur narrativen Endlosschleife: „Hamlet ends, and begins again, with its tail [or rather ‘tale’, D. F.] in its mouth.“32 „[T]he play ends with Horatio telling the story of the play in summary form […] and preparing to tell it again, in indefinite reiteration to the world.“33 Während die eingangs diskutierte Ikonographie der jungfräulichen Empfängnis Text und Bild zur Endlosschleife verknüpft, mündet Shakespeares Hamlet in einem Wortgebilde, das sich in unendlicher Weise als Möbius-Band selbst perpetuiert.34 Dies könnte als Restauration der göttlich verbürgten Wahrheit des Wortes – das im Anfang war und immer sein wird –, bzw. als Sieg des protestantischen Wortes über das katholische Bild gedeutet werden. Etwas überspitzt formuliert, überführen Hamlets letzte Worte Shakespeares Text von der höfisch-aristokratischen Gattung des frühneuzeitlichen Dramas in ein narratives Gebilde und nehmen somit das Konzept romanhaften Erzählens – das im 18. Jahrhundert als puritanisch bürgerliches Genre entsteht – als Denkmodell vorweg. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, artikuliert die in Hamlet verhandelte mediale Konkurrenz von katholischer Bildkultur und protestantischer Wortkultur den längerfristigen Medienkonflikt zwischen dramatischer Darstellung und romanhafter Erzählung als Leerstelle im zeitgenössischen Diskurs. Dabei ist bezeichnend, dass Samuel Richardsons Pamela (1740) als Stiftungstext der puritanischen Entwicklungslinie des Romans ebenso mit der Konkurrenz aristokratisch-machiavellistischer Hofkultur und puritanischer Schriftkultur einsetzt wie Shakespeares Hamlet und damit endet, dass der amoralische Aristokrat Squire B. durch die Lektüre der von ihm begehrten Jungfrau Pamela bekenntnishaft niedergeschriebenen Briefe eine quasi-religiöse Bekehrung erfährt, von gewaltsamer sexueller Körper-Penetration ablässt und diese durch die Wahrheit des geschriebenen Wortes sublimiert: O my dear girl! You have moved me sensibly with your mournful tale and your reflections upon it.35
32 Evans, Malcolm: Imperfect Speakers. In: Shakespeare’s Tragedies. Hrsg. von Emma Smith. Malden 2004. S. 161–184, hier S. 176. 33 Wilson, Robert R.: Narratives, Narrators and Narratees in Hamlet. In: Hamlet Studies VI (1984). S. 30–40, hier S. 34. 34 Hawkes, Terence: Telmah. In: Shakespeare and the Question of Theory. Hrsg. von Patricia Parker u. Geoffrey Hartmann. New York 1985. S. 310–332; Jewkes, W. T.: “To tell my story”. The Function of Framed Narrative and Drama in Hamlet. In: Shakespearean Tragedy. Hrsg. von Malcolm Bradbury u. David Palmer. London 1984. S. 31–46. 35 Richardson, Samuel: Pamela; Or, Virtue Rewarded. Hrsg. von Peter Sabor. London 1985. Bd. 1, S. 320.
Vorreformatorische Bildkultur und reformatorische Wortkultur in Shakespeares Hamlet
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Als Schlüssel zur unwiderlegbaren Authentizität ihrer Innerlichkeit erweisen sich Pamelas Briefe als Analogon zur schriftlich fixierten absoluten Wahrheit des göttlichen Bibelwortes, die den triebhaft-sexuell gesteuerten Aristokraten durch ein textuelles Bekehrungswunder in einen sentimentalen Man of Feeling mit bürgerlichem Gefühlshaushalt verwandeln. Während sich also Shakespeares Hamlet am Mysterium der jungfräulichen Empfängnis als Medienkonflikt abarbeitet, operiert Richardsons Pamela vor dem puritanischen Hintergrund des Glaubens an die göttlich garantierte Universalwahrheit der Schrift als Schlüssel zur Providenz. Dies bedeutet nichts Geringeres als die Tatsache, dass die bürgerliche Kultur des 18. Jahrhunderts die im Mysterium der jungfräulichen Empfängnis angelegte Entsexualisierung bzw. Textualisierung familiären Zeugens so sehr verinnerlicht hat, dass das Konzept der bürgerlichen Familie nach Albrecht Koschorke als Analogon zur Heiligen Familie angelegt ist36 und nach Friedrich Kittler und Reinhart Meyer-Kalkus nicht mehr durch das sexuell indizierte Prinzip der Blutsverwandtschaft, sondern durch Surrogate wie textuelle Stiftungsdokumente – beispielsweise die Bibel und Vertragstexte – beglaubigt wird.37
36 Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und die Folgen: ein Versuch. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2000. S. 187–191. 37 Kittler, Autorschaft (wie Anm. 17), S. 143–147; Meyer-Kalkus, Reinhart: Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von Friedrich A. Kittler u. Horst Turk. Frankfurt a. M. 1977. S. 76–138, hier S. 108–114.
Ralf Haekel
„Likening spiritual to corporal forms“ Überlegungen zu einer Lektüre von John Miltons Paradise Lost als frühneuzeitlicher Theorie der Mediation
Einleitung Im fünften Buch von John Miltons Paradise Lost bittet Adam den Erzengel Raphael, ihm über den Krieg im Himmel und den darauffolgenden Fall Satans und der anderen Engel zu berichten. In seiner Antwort kommt Raphael auf das Problem der Mediation zu sprechen: Wie kann er eine Geschichte erzählen, die das Fassungsvermögen der menschlichen Sinne und der menschlichen Erkenntnis übersteigt? In welchem Medium? Sprache ist materiell und sinnlich und scheint damit vollkommen ungeeignet zu sein, um eine Geschichte zu erzählen, die himmlischer und spiritueller Natur ist: Sad task and hard, for how shall I relate To human sense the invisible exploits Of warring spirits; how, without remorse, The ruin of so many glorious once And perfect while they stood; how last unfold The secrets of another world, perhaps Not lawful to reveal? Yet for thy good This is dispensed, and what surmounts the reach Of human sense, I shall delineate so, By likening spiritual to corporal forms, As may express them best, though what if earth Be but a shadow of heaven, and things therein Each to other like, more than on earth is thought?1
Die transzendenten Ereignisse sind nicht unmittelbar den menschlichen Sinnen und dem Verstand zugänglich und müssen daher in die arbiträre menschliche Sprache übersetzt werden. Diese language of accommodation – Sprache der Akkommodation – thematisiert und problematisiert die Anpassung der göttlichen Wahrheit an die menschliche Wirklichkeit – „likening spiritual to corporal forms“. Zugleich ist sie ein zentrales Thema der frühneuzeitlichen Reformationstheologie, insbesondere derjenigen Johannes Calvins.2 Damit wird in dieser Passage Mediation – und Medien1 Milton, John: Paradise Lost. Hrsg. von Stephen Orgel u. Jonathan Goldberg. Oxford 2004. Buch V. Verse 564–576. 2 Vgl. Huijgen, Arnold: Divine Accommodation in John Calvin’s Theology. Analysis and Assessment. Göttingen 2011. https://doi.org/10.1515/9783110725193-012
„Likening spiritual to corporal forms“
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theorie allgemein – als ein zentrales Thema der Erkenntnistheorie angesprochen: Wie verändert bzw. konstituiert ein Medium, hier die Sprache in ihrer materiellen Verfasstheit, eine wie auch immer definierte Wirklichkeit? Dieses Problem ist nicht nur eines, mit dem Adam im Gespräch mit dem Engel konfrontiert wird, sondern es betrifft jede Leserin und jeden Leser von Paradise Lost, denn Raphael verweigert ja nicht die Aussage, sondern er erzählt Adam eine Geschichte und damit uns allen, die wir das Epos in Händen halten. Paradise Lost ist somit in einer Sprache geschrieben, die Menschen zu verstehen vermögen, und dennoch handelt es von Dingen, die die Vorstellungskraft übersteigen: dem Aufstand Satans und seiner Verbannung in die Hölle, dem Ursprung der Welt, dem Sündenfall und letztlich auch von der Erlösung. Miltons language of accommodation weist mithin auf eine zentrale theologische Frage der Frühen Neuzeit hin, die im Epos als ein ästhetisches Problem der künstlerischen Vermittlung und darüber hinaus als Gegenstand der Erkenntnistheorie dargestellt wird. Milton dreht allerdings den Spieß um und macht aus einem Nachteil einen Vorteil: Indem er das linguistische Medium ins Zentrum seines Epos stellt, wird die Thematik medialer Vermittlung zum wesentlichen Merkmal seiner Dichtkunst. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Paradise Lost im Anschluss an den Akkommodationsbegriff eine komplexe frühneuzeitliche Theorie der Medialität und der Mediation entwirft, eine Ästhetik, die ich hier nicht als eine Medientheorie avant la lettre entwerfen möchte, sondern als eine Konzeption, die Medialität als ein Grundproblem von Sprache, Dichtkunst und Erkenntnis begreift. Diese Theorie der Medialität ist dabei keineswegs marginal, sondern sie schließt vielmehr an zentrale theologische, philosophische und ästhetische Konzepte innerhalb von Miltons Werk an, vor allem an die Begriffe der Häresie und der Freiheit. Häresie ist nicht, wie man vermuten könnte, negativ als Ketzerei besetzt, sondern bedeutet bei Milton vor allem die Möglichkeit einer Wahlfreiheit. Diese Wahlfreiheit ist notwendig, da sich eine unmittelbare Erkenntnis der göttlichen Wahrheit, wie eben argumentiert, notwendig dem Menschen verschließt. Das Medium der Sprache setzt durch seine inhärente Ambiguität voraus, dass Menschen immer eine Wahl treffen müssen, um verstehen oder eine Entscheidung treffen zu können. Zudem sind gerade die Mehrdeutigkeit und Arbitrarität der Sprache im Werk Miltons Voraussetzung für Kunst und Dichtung. Bevor ich auf Paradise Lost selbst zu sprechen komme, möchte ich daher zunächst einige Überlegungen darüber anstellen, wie die zentralen Begriffe der Häresie und der Freiheit in Miltons Denken über die Sprache der Akkommodation zu einer komplexen und differenzierten Theorie der Medialität führen.
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1 Häresie und Freiheit Häresie spielt im Werk John Miltons eine zentrale Rolle, und sie ist auch zentral für das Verständnis seines wichtigsten Werks, des christlichen Epos Paradise Lost.3 Miltons Häresie-Begriff ist nicht eindeutig zu definieren, sondern er wandelt sich, abhängig von der Schaffensphase und dem Gegenstand seiner jeweiligen Schrift.4 Letztlich leitet Milton seine Verwendung vom griechischen prohairesis her, was Wahl oder Entscheidung bedeutet. Es lässt sich zunächst festhalten, dass der Häresie-Begriff, so wie ihn Milton ganz bewusst verwendet und reflektiert, positiv besetzt ist und unmittelbar an die zentralen Kategorien seines nicht nur theologischen, sondern auch ästhetischen und politischen Schaffens gebunden ist. Miltons Begriff der Häresie ist zudem eng mit seinem Konzept von Freiheit verknüpft, weswegen beide Begriffe im konstruktiven Dialog miteinander zu betrachten sind. Zunächst ist es wichtig, John Milton historisch zu verorten, um die Bedeutung seiner Schriften in der sich ständig verändernden politischen und religiösen Landschaft Englands des 17. Jahrhunderts nachvollziehen zu können. Dabei ist es elementar, in ihm nicht nur den Dichter zu sehen, sondern auch den politischen und theologischen Denker, der dem republikanisch-revolutionären Flügel in der Jahrhundertmitte zuzurechnen ist, dessen Ansichten sich allerdings im Laufe der Jahrzehnte entwickelten und keineswegs immer der puritanisch-calvinistischen orthodoxen Theologie entsprachen. Dies führt dazu, dass eine eindeutige Definition von Miltons Denken irreführend wäre, weswegen Stephen Dobranski und John Rumrich ihn auch als „monist-materialist, mortalist, divorcer, opposed to tithing, mandatory sabbath observance, and civil interference in religious affairs“5 beschreiben. In den theologischen und politischen Unruhen, die in England ab 1642 zum Bürgerkrieg führten, der wiederum 1649 die Hinrichtung Charles I. und anschließend das Interregnum unter Oliver Cromwell zur Folge hatte, ist Milton religiös und theologisch dennoch im Großen und Ganzen den Puritanern zuzurechnen und politisch dem revolutionären Flügel. In den Bürgerkriegsjahren wurde er zu einem der wichtigsten Autoren politischer Pamphlete. Hervorzuheben ist hier vor allem die rhetorische Schrift Areopagitica, auf die ich gleich eingehen werde, und die Pamphlete The Tenure of Kings and Magistrates und Eikonoklastes, in denen er die Hinrichtung des englischen Königs rechtfertigte, und die ihn europaweit so berühmt wie berüchtigt machten. In den Fol3 Vgl. zum Häresiebegriff in der Frühen Neuzeit allgemein Ní Chuilleanáin, Eiléan u. John Flood (Hrsg.): Heresy and Orthodoxy in Early English Literature, 1350–1680. Dublin 2010; und zu Milton im Besonderen: Dobranski, Stephen B. u. John P. Rumrich (Hrsg.): Milton and Heresy. Cambridge 1998. Zum Häresiebegriff innerhalb von Paradise Lost s. Smith, Nigel: Paradise Lost and Heresy. In: The Oxford Handbook of Milton. Hrsg. von Nicholas McDowell u. Nigel Smith. Oxford 2009. S. 510–524. 4 Einführend zu Miltons Prosaschriften vgl. Corns, Thomas N.: John Milton. The Prose Works. New York 1998. 5 Dobranski, Stephen B. u. John P. Rumrich: Introduction. Heretical Milton. In: Dobranski u. Rumrich (Hrsg.), Milton and Heresy (wie Anm. 3), S. 1–18, hier S. 8.
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gejahren war Milton als Secretary for Foreign Tongues to the Council of State politisch für die republikanische Regierung unter Cromwell tätig. Somit ist es durchaus verwunderlich, dass er 1660, im Jahr der Restauration, zwar kurzzeitig gefangengenommen, aber nicht hingerichtet wurde. Erst nach diesen sehr aktiven Jahren verfasste er seine literarischen Hauptwerke, vor allem Paradise Lost, das zuerst 1667 erschien. John Milton hat seinen Begriff der Häresie vor allem in drei Schriften entwickelt und definiert: In der bereits erwähnten 1644 erschienenen Schrift Areopagitica, seiner vielleicht berühmtesten Prosaveröffentlichung, in der politischen Schrift A Treatise of Civil Power, publiziert 1659, mithin am Ende des Interregnums und ein Jahr vor der Wiedereinführung der englischen Monarchie und der anglikanischen Kirche, und schließlich in der posthum erschienenen theologischen Abhandlung De Doctrina Christiana, die erst 1825 entdeckt und vermutlich in der ersten Hälfte der 1660er Jahre verfasst wurde.6 Zunächst zu Areopagitica, einer Schrift, die im vorliegenden Kontext vor allem deswegen relevant ist, weil es in ihr um Zensur und Meinungsfreiheit geht – ein Thema, das nicht nur politisch und theologisch in den ersten Jahren des englischen Bürgerkrieges, sondern auch medienhistorisch relevant ist. Areopagitica ist dafür verantwortlich, dass Milton in den folgenden Jahrhunderten als Vorreiter des westlichen Liberalismus im Sinne John Lockes angesehen wurde. Allerdings ist diese Lesart auch noch in der heutigen Forschung hoch umstritten.7 Einerseits tritt Milton hier gegen Zensur und für Meinungsfreiheit auf, andererseits schloss er katholische Publikationen nach wie vor kategorisch aus. Zudem weist der Titel auf eine Rede des Rhetorikers Isokrates auf dem Areopag hin, in der der antike Redner nicht etwa mehr Freiheit, sondern mehr Zensur einforderte. Jedoch sind diese Ironie und Ambiguität Charakteristika des Denkens Miltons, das sich simplifizierenden Eindeutigkeiten verschließt, wie Benjamin Myers hervorhebt: „scholars continue to note the tensions and paradoxes in Milton’s writing on liberty and toleration.“8 Areopagitica ist eine rhetorische Streitschrift, die Milton als Reaktion auf die am 14. Juni 1643 vom britischen Parlament verabschiedete Ordinance for the Regulating of Printing geschrieben hat, ein Dekret, das zum Ziel hatte, die Flut an Pamphleten zu Beginn des Bürgerkriegs drastisch mit Zensurmaßnamen einzuhegen. Milton vertritt hier den Grundgedanken, dass Menschen einen freien Willen besitzen, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Milton betont, dass dieser bedingungslose freie Wille nicht nur vor dem Sündenfall, sondern auch danach gegeben ist. Damit widerspricht er der dogmatischen Calvinistischen Prädestinationslehre und stellt sich in die Tradi6 Vgl. zum Häresiebegriff in diesen drei Schriften Myers, Benjamin: „Following the Way Which Is Called Heresy.“ Milton and the Heretical Imperative. In: Journal of the History of Ideas 69 (2008). S. 375–393. 7 Für eine differenzierte Lesart und einen Überblick über die verschiedenen Positionen vgl. Leonard, John: The Value of Milton. Cambridge 2016. S. 1–21. 8 Myers, Following the Way (wie Anm. 6), S. 376.
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tion des niederländischen Protestanten Jacobus Arminius. An einer bekannten Stelle wird die oben angesprochene Mehrdeutigkeit seiner Argumentation deutlich: I deny not, but that it is of greatest concernment in the Church and Commonwealth, to have a vigilant eye how Bookes demeane themselves, as well as men; and thereafter to confine, imprison, and do sharpest justice on them as malefactors: For Books are not absolutely dead things, but doe contain a potencie of life in them to be as active as that soule was whose progeny they are; nay, they do preserve as in a violl the purest efficacie and extraction of that living intellect that bred them. I know they are as lively, and as vigorously productive, as those fabulous Dragons teeth; and being sown up and down, may chance to spring up armed men. And yet on the other hand, unlesse warinesse be us’d, as good almost kill a Man as kill a good Book; who kills a Man kills a reasonable creature, God’s Image; but hee who destroyes a good Booke, kills reason it selfe, kills the Image of God, as it were in the eye.9
Es ist laut Milton ein schlimmeres Verbrechen, ein Buch zu zerstören, als einen Menschen zu töten, da mit einem Buch die Vernunft selbst umgebracht wird. Bücher haben also nach Milton ein Eigenleben und vermögen gewissermaßen eigenständig zu handeln, da sie der Inbegriff der Vernunft selbst sind. Von hier erscheint es nur ein kleiner Schritt zu gegenwärtigen Medientheorien wie etwa Bruno Latours ActorNetwork-Theory, nach der nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände Aktanten sein können. Milton argumentiert folgendermaßen: Bücher können durchaus Schaden anrichten und sind gefährlich und müssen daher kontrolliert, dürfen aber nicht zensiert werden. Denn das Böse ist Teil des menschlichen Lebens nach dem Sündenfall, und um es zu erkennen und uns für das Gute zu entscheiden, muss der Zugang zum Bösen möglich sein. Dadurch wird Miltons Kritik an Zensur und sein Plädoyer für Publikationsfreiheit zu einer allgemeingültigen Aussage: Good and evill we know in the field of this World grow up together almost inseparably; and the knowledge of good is so involv’d and interwoven with the knowledge of evill, and in so many cunning resemblances hardly to be discern’d, that those confused seeds which were impos’d on Psyche as an incessant labour to cull out, and sort asunder, were not more intermixt. It was from out the rinde of one apple tasted, that the knowledge of good and evill as two twins cleaving together leapt forth into the World. And perhaps this is that doom which Adam fell into of knowing good and evill, that is to say of knowing good by evill.10
Milton nimmt also einen konkreten Anlass – Zensur – um eine allgemeine Aussage über moralisch-ethisches Verhalten zu treffen. In einem Wort: Areopagitica ist zwar eine Verteidigungsschrift der Publikationsfreiheit, aber sie nutzt die Möglichkeit, dies in eine allgemeine Aussage über ethische Handlungsfreiheit zu wenden – um zu wissen, was eine ethisch richtige Entscheidung ist, müssen wir Gut von Böse 9 Milton, John: Areopagitica. In: Complete Prose Works of John Milton. Bd. 2. Hrsg. von Ernest Sirluck. New Haven 1959. S. 492. 10 Milton, Areopagitica (wie Anm. 9), S. 514.
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unterscheiden lernen. Das Wissen um Gut und Böse steht im Zentrum einer jeden moralischen und ethischen Wahl. In diesem Zusammenhang spielt auch Häresie eine wichtige Rolle: But of the harm that may result hence three kinds are usually reckn’d. First, is fear’d the infection that may spread; but then all human learning and controversie in religious points must remove out of the world, yea the Bible it selfe; for that of times relates blasphemy not nicely, it describes the carnall sense of wicked men not unelegantly, it brings in holiest men passionately murmuring against providence through all the arguments of Epicurus: in other great disputes it answers dubiously and darkly to the common reader: And ask a Talmudist what ails the modesty of his marginall Keri, that Moses and all the Prophets cannot perswade him to pronounce the textuall Chetiv. For these causes we all know the Bible it selfe put by the Papist into the first rank of prohibited books. The ancientest Fathers must be next remov’d, as Clement of Alexandria, and that Eusebian book of Evangelick preparation, transmitting our ears through a hoard of heathenish obscenities to receive the Gospel. Who finds not that Irenteus, Epiphanius, Jerom, and others discover more heresies then they well confute, and that oft for heresie which is the truer opinion.11
Wenn Diskurse, die Gegenstand möglicher Häresie sind, konsequent durch die Zensur aus der Welt geschafft werden müssten, so argumentiert Milton hier, dann müsste auch die Bibel selbst beseitigt werden. Mit anderen Worten, die Welt ist zu komplex, um sie auf Eindeutigkeiten zu reduzieren. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Miltons Haltung zwar wegweisend ist, seine kategorische Ausgrenzung des Katholizismus jedoch zeigt, dass in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch nicht von einem reinen Liberalismus die Rede sein kann. Fünfzehn Jahre nach Areopagitica, am Ende des Interregnums, kommt Milton in seinem Treatise of Civil Power von 1659 erneut auf die Frage der Häresie zu sprechen. Um den Begriff aus seiner dogmatischen Verwendung zu lösen, verweist er hier auf seine etymologischen Wurzeln: [...] another Greek apparition stands in our way, heresie and heretic; in like manner also rail’d at to the people as in a tongue unknown. They should first interpret to them that heresie by what it signifies in that language, is no word of evil note; meaning only the choise or following of any opinion good or bad in religion, or any other learning: and thus not only in heathen authors but in the New testament it self, without censure or blame.12
Nigel Smith hebt hervor, dass Milton sich in seiner positiven Deutung der Häresie nicht auf den standardisierten Begriff, der sich allein gegen eine anerkannte orthodoxe Lehrmeinung richtet, sondern unmittelbar auf die Etymologie des Wortes und damit auch auf die Verwendung des Begriffs im klassischen Griechenland bezieht:
11 Milton, Areopagitica (wie Anm. 9), S. 517–518. 12 Milton, John: Treatise of Civil Power. In: Complete Prose Works of John Milton. Bd. 7. Hrsg. von Robert W. Ayers. New Haven 1980. S. 246–247.
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In Of Education and Areopagitica Milton had already made a forceful plea for a return to the original meaning of ‘heresy’ in Greek philosophy: choice, from Greek proairesis. Rather than the Augustinian understanding of heresy as that which is forbidden and to be expunged from believers, making them if need be the object of persecution, heresy becomes a fundamental part of a Christian’s life of faith: to choose good from evil and to make a trial of virtue in an active life as opposed to a withdrawn, contemplative one.13
Durch die Betonung des Begriffs „choice“ unterstreicht Milton auch die Bedeutung der Freiheit in Fragen der Religion, der Moral und des politischen Entscheidungswillens. Um eine Wahl treffen zu können, müssen Menschen die Freiheit besitzen, zwischen Optionen wählen zu können. Für Milton sind Häresie und Willensfreiheit somit eindeutig miteinander verbunden, und beide sind positiv besetzt. Das bedeutet allerdings nicht, dass dies unproblematisch ist. Denn wichtig wird die etymologische Rückbindung des Begriffs vor allem vor dem klassisch-philosophischen Hintergrund, dass proairesis bei Platon und Aristoteles eine Wahl bedeutet, die zu einer moralisch-ethischen Entscheidung führt. Da dies eine Wahl zwischen Gut und Böse ist, gibt es folglich auch eine falsche Entscheidung. Auch wenn Milton wegbereitend für das Verständnis von Freiheit in der Aufklärung ist, so ist diese Freiheit nicht absolut, wie Myers hervorhebt: As well as remaining close to this understanding of heresy as error, Milton’s position in Civil Power is strikingly close to the later Lockean theory: the sphere of religious belief is sharply differentiated from the sphere of civil power, and individual liberty gives rise to the subjective right to toleration, irrespective of whether the individual’s religious opinions are right or wrong.14
Milton verwendet mithin einen religiösen Begriff, um zu einer allgemeinen Aussage zum menschlichen Handeln zu kommen, die auch für individuelle und politische Freiheit relevant ist. Die religiöse Dimension rückt in meinem letzten Beispiel wieder stärker ins Zentrum. Zentral für das Verständnis von Häresie ist schließlich Miltons Schrift De Doctrina Christiana, ein lateinisches Manuskript, das erst 1823 entdeckt wurde und – trotz gelegentlicher Anfechtungen der Autorschaft – als Miltons theologisches Hauptwerk gilt. Hier rechtfertigt Milton die positive Deutung der Häresie in aller Deutlichkeit: There are some irrational bigots who, by a perversion of justice, condemn anything they consider inconsistent with conventional beliefs and give it an invidious title – “heretic” or “heresy” – without consulting the evidence of the Bible upon the point. To their way of thinking, by branding anyone out of hand with this hateful name, they silence him with one word and need take no further trouble. They imagine that they have struck their opponent to the ground, as with a single blow, by the impact of the name heretic alone.15
13 Smith, Paradise Lost and Heresy (wie Anm. 3), S. 510. 14 Myers, Following the Way (wie Anm. 6), S. 380. 15 Milton, John: Christian Doctrine. In: Complete Prose Works of John Milton. Bd. 6. Übers. von John Carey. Hrsg. von Maurice Kelley. New Haven 1973. S. 123.
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Direkt vor dieser Passage stellt Milton die Verbindung zwischen Häresie und Freiheit her: I intend also to make people understand how much it is in the interest of the Christian religion that men should be free not only to sift and winnow any doctrine, but also openly to give their opinions of it and even to write about it, according to what each believes. […] Without this freedom to which I refer, there is no religion and no gospel.16
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Freiheit im Werk John Miltons eine absolut zentrale Position einnimmt, die vor allem über den Begriff der Häresie eine Wahlfreiheit meint, zwischen Optionen unterscheiden zu können, und die vor allem eine ethische Dimension besitzt. Häresie und Freiheit werden nicht allein in den Prosaschriften diskutiert, sondern sie haben auch unmittelbaren Einfluss auf Miltons Dichtung. Ästhetisch relevant wird diese theologische, politische und moralphilosophische Position vor allem im Zusammenhang von Freiheit und dem Medium der Sprache in Paradise Lost. Dass der Sündenfall das Ergebnis einer freien Wahl ist, macht das Gedicht sehr deutlich. Damit wendet es sich gegen die Anglikanisch-Calvinistische Doktrin der Prädestination, weswegen Miltons Epos als ein hochpolitisches Kunstwerk seiner Zeit angesehen werden muss. Zugleich setzt Milton diese Freiheit aber auch performativ um: Sie ist nicht nur theoretischer Gegenstand der Dichtung, sondern zugleich Merkmal von dichterischer Sprache selbst, wodurch die selbstreflexiv hervorgehobene Medialität des Gedichts von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Epos wird. Diese Reflexion von Sprache und Medialität soll im folgenden Abschnitt näher untersucht werden.
2 Freiheit in Paradise Lost In einer christlichen Welt kann es kein größeres Thema geben als dasjenige, von dem Paradise Lost handelt: der Fall der Engel, die damit einhergehende Frage nach der Theodizee, die Schöpfung, der Sündenfall und letztlich auch die Apokalypse sowie die Rückkehr Christi, auch wenn diese nur in Prolepsen angedeutet werden. Es geht hier um nichts Geringeres als den eschatologischen Entwurf der gesamten Weltgeschichte. Das Epos ist in zwei narrative Hauptstränge unterteilt: Der erste schildert die Rebellion um Satan und den anschließenden Fall der Engel, der zweite Erzählstrang handelt von Adam und Eva und der ersten Sünde, von Satans Verwandlung in eine Schlange und seine Verführung Evas, die wiederum Adam davon überzeugt, ebenfalls von dem Apfel zu essen. Das bedeutet auch, dass das Verständnis von Freiheit auf zwei verschiedenen Ebenen verhandelt wird. Auf der einen Seite sind da die 16 Milton, Christian Doctrine (wie Anm. 15), S. 122.
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übermenschlichen Engel, die unter der Führerschaft von Luzifer, der durch den Fall zu Satan wird, rebellieren, auf der anderen Seite sind Adam und Eva allzu menschlich und können leicht dazu verführt werden, vom Baum der Erkenntnis zu kosten. Die immense Bedeutung, die Milton der Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse beimisst, findet sich in Paradise Lost gleich zu Beginn des dritten Buchs, in welchem Gott zu seinem Sohn spricht und erklärt, dass er die Menschen als frei erschaffen hat: I made him just and right, Sufficient to have stood, though free to fall. Such I created all the ethereal powers And spirits, both them who stood and them who failed; Freely they stood who stood, and fell who fell. Not free, what proof could they have given sincere Of true allegiance, constant faith or love, Where only what they needs must do, appeared, Not what they would?17
Hier rechtfertigt Gott selbst das Konzept von Freiheit: They therefore as to right belonged So were created, nor can justly accuse Their Maker, or their making, or their fate, As if predestination overruled Their will, disposed by absolute decree Or high foreknowledge. They themselves decreed Their own revolt, not I: If I foreknew, Foreknowledge had no influence on their fault.18
Diese Betonung des freien Willens ist zugleich eine Absage an die orthodoxe Prädestinationslehre: God made thee perfect, not immutable; And good he made thee, but to persevere He left it in thy power, ordained thy will By nature free, not over-ruled by fate Inextricable, or strict necessity; Our voluntary service he requires, Not our necessitated; such with him Finds no acceptance, nor can find; for how Can hearts, not free, be tried whether they serve Willing or no, who will but what they must By destiny, and can no other choose?19
17 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), III.98–106. 18 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), III.111–118. 19 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), V.521–531.
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Hier wird deutlich, welch zentrale Rolle die Freiheit und vor allem die Freiheit einer Wahl in Paradise Lost einnimmt. Hier sei noch einmal auf die Schrift Areopagitica verwiesen, in der Milton den Sündenfall nicht verdammt, sondern als zentrales Element des Menschseins beschreibt: […] many there be that complain of divin Providence for suffering Adam to transgresse, foolish tongues! when God gave him reason, he gave him freedom to choose, for reason is but choosing; he had bin else a meer artificiall Adam, such an Adam as he is in the motions. We our selves esteem not of that obedience, or love, or gift, which is of force: God therefore left him free, set before him a provoking object, ever almost in his eyes; herein consisted his merit, herein the right of his reward, the praise of his abstinence. Wherefore did he creat passions within us, pleasures round about us, but that these rightly temper’d are the very ingredients of vertu?20
Orgel und Goldberg, die Herausgeber der Oxford Edition, bemerken dazu: How do you know anything except by trial, by experience? What would we know if Adam and Eve had not eaten the forbidden fruit? In fact, the central experience throughout all Milton’s moral work is the experience of temptation, of trial, and the point is made over and over again. [...] his point is that people’s innocence must not be preserved; they must be free to choose if choice is to have any moral meaning at all – and that means they must be free to make the wrong choice, to learn by their mistakes.21
Mit anderen Worten: Gott hat Adam und Eva mit der Freiheit ausgestattet zu wählen, und der Sündenfall wird nicht als eine Todsünde geschildert, sondern als notwendige Voraussetzung dessen, was Menschen zu Menschen macht. Auf den Zusammenhang dieser grundlegenden Freiheitsthematik mit dem Medium der Sprache will ich im nächsten Teil zu sprechen kommen.
3 Medialität in Paradise Lost In Paradise Lost entwickelt Milton eine Sprachtheorie, die unmittelbar Einfluss auf die Form des Epos ausübte. Besitzt Adam in der Zeit vor dem Sündenfall noch einen unmittelbaren Zugang zu den Dingen und kann sie intuitiv benennen, so ist ihm dieser nach dem Fall verwehrt. In beiden Fällen allerdings, vor wie nach dem Sündenfall, bedürfen Adam und Eva der Sprache, um die Geschehnisse im Himmel und der Hölle nachvollziehen zu können. Das Medium Sprache bedeutet aber bei Milton nicht nur Vermittlung, sondern ist auch ein Dazwischen, etwas, das einen unmittelbaren – in diesem Zusammenhang wäre dies einen intuitiven – Zugang eher verhindert als ermöglicht. Das Besondere an Miltons Sprach- und Medientheorie ist allerdings, dass Milton diese 20 Milton, Areopagitica (wie Anm. 9), S. 527. 21 Orgel, Stephen u. Jonathan Goldberg: Introduction. In: Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), S. xvii.
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Beeinträchtigung der Sprache positiv wendet und sie ins Zentrum seiner ästhetischen, aber auch ethischen und theologischen Philosophie rückt. Paradise Lost ist somit notwendigerweise in menschlicher Sprache verfasst, das heißt in einem Medium, in dem sich Menschen im gefallenen Stadium miteinander verständigen; sein Sujet ist aber übermenschlicher und göttlicher Art. Damit ergibt sich die Frage, wie ein Epos in diesem ‚gefallenen’ Medium von himmlischen und göttlichen Dingen überhaupt handeln kann. Diese Problematik spiegelt sich auf inhaltlicher Ebene im Gespräch zwischen Adam und dem Engel Raphael, denn Adam ist sich der Medialität nicht nur seiner Sprache, sondern seiner Sinne sehr wohl bewusst: Thus when with meats and drinks they had sufficed Not burdened Nature, sudden mind arose In Adam, not to let the occasion pass Given him by this great Conference to know Of things above his World, and of their being Who dwell in Heaven, whose excellence he saw Transcend his own so far, whose radiant forms Divine effulgence, whose high Power so far Exceeded human [...]22
Raphael antwortet darauf: O Adam, one almighty is, from whom All things proceed, and up to him return, If not depraved from good, created all Such to perfection, one first matter all, Indued with various forms, various degrees Of substance, and in things that live, of life; But more refined, more spiritous, and pure, As nearer to him placed or nearer tending Each in their several active spheres assigned, Till body up to spirit work, in bounds Proportioned to each kind. So from the root Springs lighter the green stalk, from thence the leaves More aery, last the bright consummate flower Spirits odorous breathes: flowers and their fruit Mans nourishment, by gradual scale sublimed To vital Spirits aspire, to animal, To intellectual, give both life and sense, Fancy and understanding, whence the soul Reason receives, and reason is her being, Discursive, or intuitive; discourse Is oftest yours, the latter most is ours, Differing but in degree, of kind the same.23 22 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), V.451–459. 23 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), V.469–490.
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Raphaels Antwort entwirft ein neuplatonisches Weltbild, in dem zwischen Gott als dem Einen und der menschlichen und sinnlichen Welt als dem Vielen nicht kategorisch unterschieden wird, sondern alles mit allem verbunden ist. Die menschliche Sprache wird daher nicht prinzipiell als fehlerhaft beschrieben, sondern, da sie auf einer niedrigeren Stufe der Emanationen steht, als graduell weniger rein und perfekt, aber dergestalt doch der höheren Kommunikation verwandt. Während die Engel intuitiv, also unmittelbar kommunizieren und verstehen, bedarf der Mensch der Sprache und damit auch der Sinnesorgane. Die Sprache ist somit sowohl Mittler als auch Barriere; ein Medium, das eine Verständigung ermöglicht und zugleich erschwert. Die eingangs erwähnte language of accommodation, die die Problematik der Mediation zum Gegenstand hat, ist dabei nicht einfach eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere, sie ist Übersetzung von etwas Außersprachlichem und Übersinnlichem in das Medium Sprache. Damit tritt jedoch zugleich die Eigenschaft der Sprache auf den Plan, fehlerhaft, mehrdeutig und missverständlich zu sein. Aber wie bereits angedeutet, ist Milton sehr weit davon entfernt, den Sündenfall als negativ zu betrachten. Vielmehr ist, so meine These, die Mehrdeutigkeit der Sprache sozusagen die Medium gewordene Möglichkeit der Wahl. Miltons Häresiebegriff ist damit nur die notwendige Voraussetzung dieser Sprachtheorie als Theorie der Mediation. An dieser Stelle muss ich ein wenig ausholen, um meine Verwendung des Mediationskonzepts näher zu erläutern. Es erscheint nicht ohne Risiko, die oben angestellten Sprachreflexionen als eine Medientheorie avant la lettre zu beschreiben, wie Andrew Burkett es ausdrückt: „the modern notion of a ‘medium’ as a technological channel of communication was a concept introduced only late in the Victorian period.“24 Daher erscheint es angebracht zu betonen, dass der Fokus nicht auf einem technischen Medienkonzept liegt, sondern auf dem Begriff der Mediation. Mediation bzw. Vermittlung ist ein Konzept mit einer langen Geschichte. Raymond Williams beschreibt Mediation in Marxism and Literature (1977) als ein Konzept, das im Gegensatz zu Reflexion steht, die wiederum eng mit Repräsentation verwandt ist. Mediation betont die Notwendigkeit des materiellen und prozessualen Charakters aller Kunst und Kommunikation. Williams schreibt, dass „all active relations between different kinds of being and consciousness are inevitably mediated“,25 wobei Mediation den „social and material character of artistic activity“26 betone. Es ist also notwendig zu unterstreichen, dass Repräsentation – im Fall von Paradise Lost wären das die Schilderung der Geschehnisse im Himmel – niemals unmittelbar gegeben ist. Vermittlung ist immer materieller Natur und damit auch selbstreflexiv. Jay David Bolter und Richard Grusin stellen in ihrem Buch Remediation: Understanding New Media aus dem Jahr 1999 die grundlegende These auf, dass „all media24 Burkett, Andrew: Romantic Mediations. Media Theory and British Romanticism. New York 2016. S. 3. 25 Williams, Raymond: Marxism and Literature. Oxford 1977. S. 98. 26 Williams, Marxism and Literature (wie Anm. 25), S. 97.
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tion is remediation“27 sei. Remediation wiederum bedeutet „the representation of one medium in another“,28 was wiederum eine direkte Referenz auf Marshall McLuhans Diktum ist, nach dem „the ‘content’ of any medium is always another medium“.29 Damit ist Mediation immer selbstreflexiv. Auch John Guillory betont diesen autoreflexiven Charakter der Remediation: Remediation makes the medium as such visible. The early modern period saw the first truly major practice of remediation with the invention of printing, which reproduced the content of manuscript writing at the same time that it opened up new possibilities for writing in the print medium.30
Für meine Lektüre von Paradise Lost ist besonders wichtig, dass das Konzept der Mediation wie das der Remediation nach Meinung von Bolter und Grusin durch eine „double logic“ gekennzeichnet ist, das heißt durch eine produktive Spannung von immediacy und hypermediacy. Einerseits neigen Medien dazu, sich selbst transparent zu machen, um einen direkten – unmittelbaren – Zugriff auf die vermittelten Objekte zu simulieren. Dies wäre das, was Williams Reflexion nennt und was bei Milton Repräsentation heißt. Ziel ist es, eine Darstellung möglichst realistisch und natürlich zu gestalten, die Illusion in den Vordergrund zu stellen und die Technik zu verleugnen. Andererseits kann die doppelte Logik nur mit dem Gegenstück zur Unmittelbarkeit funktionieren – das Bolter und Grusin als hypermediacy bezeichnen: Where immediacy suggests a unified visual space, contemporary hypermediacy offers a heterogeneous space, in which representation is conceived of not as a window on to the world, but rather as ‘windowed’ itself – with windows that open on to other representations or other media.31
Mit anderen Worten, hypermediacy bricht die naturalistische Illusion und stellt das Medium an sich in den Vordergrund. Der Konflikt zwischen Reflexion oder Repräsentation und Mediation in Williams’ Terminologie und mediacy und hypermediacy bei Bolter und Grusin steht, so meine These im Folgenden, im Zentrum des Problems der language of accommodation, wie sie in Miltons Paradise Lost selbstreflexiv vorgestellt wird. Durch die Fokussierung auf das Problem, das Unrepräsentierbare darzustellen, rückt das Medium der Sprache ins Zentrum. Milton hebt deren materielle Form hervor – hypermediacy –, und er betont
27 Bolter, Jay David u. Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge/Mass. 1999. S. 55. 28 Bolter u. Grusin, Remediation (wie Anm. 27), S. 45. 29 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. London 2001. S. 15–16. 30 Guillory, John: Genesis of the Media Concept. In: Critical Inquiry 36.2 (2010). S. 321–362, hier S. 324. 31 Bolter u. Grusin, Remediation (wie Anm. 27), S. 34.
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auch, wie das Medium materieller Sprache die Realität strukturiert, gestaltet und konstruiert. Um dies zu kontextualisieren und zu historisieren, werde ich kurz auf die Veröffentlichungsgeschichte von Paradise Lost verweisen. Milton bedient sich bewusst des Mediums des gedruckten Buches und nutzt explizit und lesersteuernd dessen printmediale Qualitäten. Die erste Ausgabe von Paradise Lost wurde 1667 veröffentlicht und bestand aus 10 Büchern, genauer: „books“ genannten Teilabschnitten. Die zweite Ausgabe mit 12 Büchern erschien sieben Jahre später im Jahr 1674, dem Todesjahr Miltons. In dieser zweiten Ausgabe fügte Milton eine kurze Prosa-Zusammenfassung hinzu, in der jedes Buch vorgestellt wurde. Durch diesen Zusatz, das sogenannte argument, veränderte Milton entscheidend die Erscheinungsform des Gedichts: Die Leser werden aus dem Lesezusammenhang gerissen, rezipieren zunächst eine Synopse dessen, was noch folgt, und werden zugleich auf die gedruckte Seite selbst aufmerksam gemacht. Durch diese Doppelung, also dadurch, dass das argument das zusammenfasst, was die Leser in den darauffolgenden Versen ohnehin lesen werden, wird der Text medial selbstreflexiv. So verwendet Milton das Medium der gedruckten Seite, um die Aufmerksamkeit der Leser zu lenken und somit die Interpretation zu beeinflussen. Thomas Festa beschreibt diesen Einfluss des materiellen Mediums auf die Rezeption folgendermaßen: „the materiality of the historical artifact affects interpretation“.32 Diese bewusste Instrumentalisierung der Medialität der Dichtung hat auch unmittelbaren Einfluss auf die Darstellung der christlichen Thematik. Im Folgenden möchte ich mich darauf konzentrieren, wie Milton das Thema und das Problem der Mediation in Paradise Lost besonders hervorhebt. Das semantische Feld von Licht, Vision und Blindheit ist hier besonders bedeutsam. Die Blindheit Miltons – er war selbst bereits blind, als er das Gedicht schrieb – ist im Werk Miltons von besonderer Bedeutung. Sein vielleicht berühmtestes Sonnet – „To His Blindness“ – handelt vom Thema der Blindheit, und auch in Paradise Lost schildert der Sprecher immer wieder seine eigene Erblindung und ermöglicht so die Identifikation von Sprecher und Autor als eine textinterne semantische Ebene. Zugleich reflektiert das Gedicht immer wieder die Parallele von Sehen und tieferer religiöser und rationaler Erkenntnis. Und schließlich, dies ist vielleicht besonders bedeutend, ist dadurch Sehen als Metapher für Mediation immer auch zugleich eine Metapher für Obstruktion und Blindheit. Die Beschreibung der Hölle in Buch Eins umfasst das gesamte Paradoxon, das die Mediation umgibt: from those flames No light, but rather darkness visible Served only to discover sights of woe33
32 Festa, Thomas: Milton’s Sensuous Poetics. On the Material Texts of Paradise Lost. In: Milton Studies 59 (2018). S. 91. 33 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), I.62–64.
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„Darkness visible“ ist vielleicht das berühmteste Bild in Paradise Lost und auch eines der aufschlussreichsten Symbole: Es geht im gesamten Gedicht darum zu vermitteln, was nicht vermittelt werden kann, sichtbar zu machen, was nicht gesehen werden kann – um es in der Kunst zu erschaffen. Mit anderen Worten, das Gedicht betont die Tatsache, dass Mediation auch gleichzeitig ihre eigene Unmöglichkeit impliziert. Sehen bedeutet Blindheit. Es ist eines der zentralen Merkmale des Gedichts, dass es dieses Paradox aushält und ausstellt. Die Geschehnisse in der Hölle müssen in poetische Sprache übersetzt werden, und sie werden gleichzeitig durch das Medium verzerrt. Die Symbolik von Licht und Sichtbarkeit wird im dritten Buch weiterentwickelt, in dem der Erzähler das Licht selbst anruft: Hail holy light, offspring of heaven first-born, Or of the eternal co-eternal beam May I express thee unblamed? since God is light, And never but in unapproachèd light Dwelt from eternity, dwelt then in thee, Bright effluence of bright essence increate.34
Die in dieser Passage speziell hervorgehobene Verwendung von Licht als Metapher für Mediation ist für ein Verständnis von Paradise Lost von zentraler Bedeutung. In neoplatonischer Bildlichkeit adressiert der Erzähler das Licht und damit Gott, den unbewegten Beweger, der nicht geschaffen wurde, sondern selbst Ursprung jeder Schöpfung ist. Licht als Symbol ewiger und göttlicher Schöpfung führt in einer selbstreflexiven Passage über die eigene Blindheit des Dichters zum kreativen Prozess des Schreibens des Epos selbst: thee I revisit safe, And feel thy sovereign vital lamp; but thou Revisit’st not these eyes, that roll in vain To find thy piercing ray, and find no dawn; So thick a drop serene hath quenched their orbs, Or dim suffusion veiled.35
In einer letzten Volte endet der Erzähler mit einer Reflexion über die Natur des Lichts als Quelle der Inspiration und der Imagination: So much the rather thou celestial light Shine inward, and the mind through all her powers Irradiate, there plant eyes, all mist from thence Purge and disperse, that I may see and tell Of things invisible to mortal sight.36 34 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), III.1–6. 35 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), III.21–26. 36 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), III.51-55.
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In dieser bemerkenswerten Passage spricht der Sprecher ein zentrales ästhetisches Problem des ganzen Gedichts an: Wie drückt man das aus, was im Wesentlichen jenseits der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Verständnisses liegt? Die Blindheit des Dichters wird zu einem Vorteil, da er „things invisible to mortal sight“ sehen und ausdrücken kann. Dieses Paradox betont jedoch nur das in diesen Zeilen angesprochene Problem der Mediation. Licht ist einerseits Voraussetzung für Vision und damit Mediation, andererseits, sobald es synonym mit Gott selbst ist, übersinnlich und den menschlichen Organen nicht mehr zugänglich. Das Licht, das sichtbar gemacht werden soll, ist durch sinnliche Wahrnehmung selbst nicht zugänglich. Einerseits scheint eine direkte, das heißt unmittelbare Darstellungsform unmöglich zu sein und wird tatsächlich durch das Medium behindert. Andererseits konstruiert es, in der Form des Epos selbst, ganze Welten. Das Gedicht von Milton aus dem 17. Jahrhundert ist daher eine Reflexion dessen, was Aleida Assmann über die Erschaffung der Welt in und durch Medien sagt: Diese Definition von Medium als Mittler reicht aber nicht aus, sie ist sogar irreführend. Denn indem Medien zwischen Mensch und Welt vermitteln, bringen sie die Welt und den Menschen zugleich erst eigentlich hervor. Medien sind deshalb produktive Instrumente der Weltgestaltung und Welthervorbringung, Konstrukteure der Wirklichkeit und damit auch des Menschen, der in dieser Wirklichkeit lebt.37
Abschließend möchte ich kurz einige Überlegungen dazu anstellen, was diese Mediationsdiskussion innerhalb von Miltons Paradise Lost zu einer Theorie der Ästhetik des Gedichts macht. Die Frage nach Wissen und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit ist hier zentral. Durch die Thematik des ‚Falls‘ und die Frage nach Wissen macht Milton das ganze Feld der Erkenntnistheorie auf. Eva wird durch die Worte der Schlange getäuscht, und Adam entscheidet sich frei, ebenfalls vom Apfel zu essen. Die Verführung durch die Schlange wird allerdings nicht als negativ dargestellt, sondern erhält die Form eines Loblieds auf die Wissenschaft und auf humanistisches Wissen allgemein: O sacred, wise, and wisdom-giving plant, Mother of science, now I feel thy power Within me clear, not only to discern Things in their causes, but to trace the ways Of highest agents, deemed however wise.38
Zum einen deutet Satan an, dass Erkenntnis durch die Frucht quasi engelsgleich unmittelbar zugänglich wird, andererseits ist dies nur möglich über die Wissenschaft – der Baum der Erkenntnis wird zur „Mother of science“. Mit anderen Worten, Eva 37 Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2008. S. 59. 38 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), IX.678-683.
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wird von den humanistischen Idealen verführt, die die Grundlage für Miltons poetische und politische Werke darstellen, wie sie auch in Areopagitica ausgedrückt werden. Gott gab Adam und Eva die Freiheit zu wählen, und der Fall der Menschheit wird nicht als schwere Sünde dargestellt, sondern als Ergebnis einer bewussten Entscheidung basierend auf einer freien Wahl. Der Zustand nach dem Sündenfall erscheint dadurch als die notwendig menschliche Wesensart, und das Gedicht bedauert die Tatsache, dass die Erbsünde stattgefunden hat, in keiner Weise. Der Sündenfall ist vielmehr Vorbedingung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Der Begriff der Mediation ist hier von zentraler Bedeutung. Durch das Hervorheben seiner hypermediacy macht das Gedicht deutlich, dass Wissen notwendigerweise immer vermittelt wird. Daher gibt es keine unbestreitbaren Wahrheiten. Vielmehr erlaubt das Medium der Sprache dem Menschen zu lesen, zu wählen und zu interpretieren. Print-Publikationen, deren Publikation Milton in Areopagitica verteidigt, erweitern das Wissen, aber der Mensch muss sie immer rezipieren und deshalb eine Wahl treffen. Um diesen Punkt zu betonen, verwendet Milton in den Gedichten eine Form poetischer Sprache, die von Paradoxien und Mehrdeutigkeiten geprägt ist. Die self-contradicting puns, die Ambiguitäten der Metaphern und Sprachbilder, unterstreichen daher die hypermediacy und somit den medialen Status des Gedichts.39 Dies findet seine Entsprechung auch in der rhetorischen Form des Gedichts. Nicht nur die Hauptfiguren des Epos – Satan, Adam und Eva – fallen; in gewisser Weise fällt auch Paradise Lost selbst. Ein Vergleich des Stils macht dies deutlich. Zu Beginn des Epos erhebt sich der Erzähler nicht nur über die klassischen Vorbilder Vergil und Homer, er stellt sich auch auf die gleiche Stufe mit Moses, wenn er den Heiligen Geist als Muse anruft: what in me is dark Illumine, what is low raise and support; That to the height of this great argument I may assert eternal providence, And justify the ways of God to men.40
In gewisser Weise könnte man den Stil als hyperbolisch beschreiben, voller Narzissmus und von Stolz gekennzeichnet. Das Ende des Gedichts erscheint in einem viel einfacheren Sprachstil, der an pastorale Poesie erinnert: They, looking back, all the eastern side beheld Of Paradise, so late their happy seat, Waved over by that flaming brand, the gate With dreadful faces thronged and fiery arms: Some natural tears they dropped, but wiped them soon; 39 Zur Verwendung von Paradoxien und puns vgl. Leonard, John: Self-Contradicting Puns in Paradise Lost. In: A New Companion to Milton. Hrsg. von Thomas N. Corns. Malden, Oxford 2016. S. 421–438. 40 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), I.22-26.
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The world was all before them, where to choose Their place of rest, and Providence their guide: They hand in hand with wandering steps and slow, Through Eden took their solitary way.41
Der in hohem Maße metaphorische rhetorische Stil der Eröffnungsbücher, der durch die Verwendung des rhetorischen genus grande gekennzeichnet ist, findet sein Gegenstück im einfachen und pastoralen Stil der letzten Verse. Die Sprache fällt, so wie die Menschen fallen; aber dies ist nichts Negatives. Es ist ein Fall von der Hybris zur Bescheidenheit. Die Sprache wird menschlicher, das heißt, sie drückt eine menschliche und keine göttliche Erfahrung mehr aus. Der Erzähler verzichtet auf den Anspruch „to justify the ways of God to men“, und er begegnet schließlich der Unmöglichkeit der Repräsentation mit einem einfachen Sprachstil, der diese Welt zum Gegenstand hat, nicht mehr die Transzendenz. Diese beiden Merkmale der Sprache von Paradise Lost, die self-contradicting puns und die Abwendung von einem hohen und hyperbolischen Sprachstil, sind die performativ-ästhetische Seite eines Gedichts, das von der Notwendigkeit und gleichzeitigen Unmöglichkeit der Repräsentation handelt und das die Mediation jeder Erkenntnis, jeder Form von Welt ins Zentrum rückt. Am Wendepunkt von der Renaissance zur Aufklärung stellt das Gedicht somit eine Reflexion über das Problem der Vermittlung alter und neuer Wahrheiten dar, ein Problem, das es in seine eigene poetische Form übersetzt.
41 Milton, Paradise Lost (wie Anm. 1), XII, 641–649.
Ulrich Heinen
Gottes Selbstoffenbarung – Ursache und Versöhnung konfessioneller Medienkonflikte Artus Wolfforts Heilige Dreifaltigkeit als metamediale Reflexion1 Im Zentrum religiöser Medienkonflikte steht die Selbstoffenbarung Gottes als Trinität. Einen bemerkenswerten Impuls zu deren Überwindung formuliert die Hl. Dreifaltigkeit des Antwerpener Malers Artus Wolffort von kurz vor 1620 (Abb. 12.1, Abb. 12.2).2 Acht Werkstattfassungen und neun weitere frühe Kopien3 zeugen davon, dass dies einem religiösen Bedarf entsprach. Wie in einer Marginalie erscheint in diesem Bild auf dem Pluviale Gottvaters eine Gestalt mit drei nimbierten bärtigen Köpfen. Dem wohlvertrauten Hauptthema des Gemäldes, der Dreifaltigkeit aus Gottvater als altem Mann, dem Heiligen Geist als Taube und dem auferstandenen Christus, ordnet das Bild im Bild einen gänzlich anderen Zugang zur Dreifaltigkeit kommentierend bei. Mit der dreiköpfigen Figur, dem ältesten Sinnbild für die Substanzeinheit der drei göttlichen Personen, führt die visuelle Anmerkung ins theologische Zentrum der Konflikte, die mit diesem Bildtypus von Anfang an verbunden waren, analysiert deren Struktur und entwirft eine Per spektive zur Konfliktschlichtung.
1 Für wichtige Hinweise zur Theologie und Ikonographie der Trinität danke ich Erika Heinen, Michael Böhnke, Christian Hecht, Anselm Steiger, Elena Tolstichin und Roland Krischel. Der Beitrag nimmt Aspekte einer umfassenden Darstellung des Verfassers zum Thema vorweg. 2 Zu diesem Gemälde sowie zu weiteren Fassungen vgl. Hecht, Christian: Katholische Bildtheologie der Frühen Neuzeit. Berlin 2012. S. 207f.; Heinen, Ulrich: Artus Wolffort. In: Freiheit, Macht und Pracht – Niederländische Kunst im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. von Nicole Hartje-Grave. Ausst.-Kat. von der Heydt-Museum Wuppertal, 21. Juni – 23. August 2009. Wuppertal 2009. S. 419. 3 (1) Zweitfassung: Brügge, Groeningemuseum, Inv.-Nr. 374; (2) Sehr eng folgend: Turnhout, Taxandriamuseum; Koninklijk Instituut voor het Kunstpatrimonium, Brüssel (KIK/IRPA), Objekt.-Nr. 78991; (3) Provo/Utahm Brigham Young University Museum of Art; (4) Christie’s, New York City. Verst. 29. Januar 1999 (?). Los Nr. 145; (5) Kunsthaus am Museum, Köln. Verst. 20.–23. Oktober 1968, Nr. 1347 (als Nicolaes de Liemacker). Variationen: (6) Watermaal-Bosvoorde, Kerk Sint-Clemens; KIK/IRPA, Objekt.-Nr. 20007481; (7) Gent, Museum voor Schone Kunsten Gent (MSK), Inv.-Nr. S 65; (8) Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur. Westfälisches Landesmuseum Münster, Inv.-Nr. 1714 LG; (9) Bonhams, London. Verst. Old Master Paintings, 4. Juli 2018, Los Nr. 104; (10) Flämisch, nach Artus Wolffort: Die hl. Trinität, Öl auf Holz, 83 x 59 cm, Tournai, Cathédrale Notre-Dame de Tournai; KIK/IRPA, Objekt.-Nr. 10061130. (11) Hampel Kunstauktionen, München. Verst. 12.–13. Dezember 2013, Los Nr. 608; (12) Flämisch, nach Artus Wolffort: Die hl. Trinität, Öl auf Leinwand, 102 x 82 cm, Aulnois, Eglise Saint-Brice [Aulnois]; KIK/IRPA, Objekt.-Nr. 10017522; (13) Dorotheum, Wien. Verst. Alte Meister. 11. Dezember 2018, Los Nr. 74; (14) Coronari Auctions. Verst. Asian, European and Islamic Arts. 2. Oktober 2019, Los Nr. 461; (15) Koblenz, Privatbesitz; Heinen, Wolffort (wie Anm. 2), S. 108f., Anm. 29. https://doi.org/10.1515/9783110725193-013
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Abb. 12.1: Artus Wolffort, Hl. Dreifaltigkeit, ca. 1620, Antwerpen.
Wie schon Augustinus erfasst hat, liegt der religiöse Medienkonflikt um die Trinität in der Sache selbst. Das Mysterium des trinitarischen Gottes ist für den Kirchenvater höchstens im meditierenden Anhalten eines blitzhaft geweckten bildlosen ersten Eindrucks Gottes erfahrbar. Jede Versuchung, diese reine Gotteserkenntnis zu durchbrechen und die an sich unsichtbare Trinität begrifflich oder bildhaft zu fassen, verdunkelt das Mysterium dagegen und führt nach Einschätzung Augustins bloß zu irrigen Vorstellungen, die etwa dem aus drei Körpern zusammengesetzten dreiköpfigen antiken Riesen Geryon ähneln.4 Um das unaufhebbare Paradox zu umschreiben zwischen dem einen Gott, der sich in den drei göttlichen Personen offenbart, und den drei göttlichen Personen, die der eine Gott sind, lässt Augustinus dagegen im Begriff persona dessen ursprüngliche Bedeutung als Theatermaske mit der daraus entwi-
4 Vgl. Augustinus: De Trinitate. In: Ders.: Opera. Bd. III. Antverpia: Plantin 1576. Lib. VIII. Col. 132 rechts B–D.
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ckelten Bedeutung als individuelle Identität interferieren.5 Während die Trinität des einen Gottes unmittelbar und ohne Worte erkannt werden könne, erfasst für Augustinus selbst dieser Begriff die Trinität wegen der „großen Armut, an der die menschliche Sprache leidet,“ nur näherungsweise. Sinnvoll sei ein begrifflicher Zugang zur Trinität daher nur, da häretische Bestimmungen der Trinität sonst unwidersprochen blieben.6
Abb. 12.2: Artus Wolffort, Hl. Dreifaltigkeit (Detail), ca. 1620, Antwerpen.
Noch im innerchristlichen Konfessionskonflikt des 16. Jahrhunderts berufen sich von Martin Luther und Johannes Calvin bis zu Kardinal Roberto Bellarmino alle am Glaubensstreit Beteiligten auf diese von Augustinus erfasste Spannung zwischen dem unbegreiflichen Mysterium der Trinität und der Notwendigkeit, dennoch mit dem schillernden Begriff persona über dieses Geheimnis zu sprechen, um den jeweils andersgläubigen Trinitätsauffassungen entgegentreten zu können.7 Wolfforts visuelle Anmerkung knüpft hieran an, wendet die negative Bewertung, die Augustinus
5 Vgl. etwa Drobner, Hubertus R.: Person-Exegese und Christologie bei Augustinus. Zur Herkunft der Formel una persona. Leiden 1986. 6 Vgl. Augustinus, Trinitate (wie Anm. 4), Lib. V, Col. 121 links D – 121 rechts A. 7 Die Quellen nennt Salatowsky, Sascha: De Persona. Philosophisch-theologische Debatten zwischen Keckermann und Goslav. In: Philosophie der Reformierten. Hrsg. von Günter Frank u. Herman J. Selderhuis. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. S. 337–369, hier S. 340.
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jeder dreiköpfigen Vorstellung von der Trinität mit dem Hinweis auf den dreiköpfigen Geryon gegeben hat, nun aber ins Positive. Die älteste Schilderung einer dreiköpfigen Gestalt als Visualisierung der Trinität gibt die Vita Norberti von vor 1155. Als 1120 in der Abtei Prémontré, gleich nach deren Gründung durch Norbert von Xanten, ein Novize in die meditative Kontemplation der „hochherrlichen und unbegreiflichen Trinität“ versunken war, soll ihm der Teufel erschienen sein und zugesagt haben, seine Sehnsucht zu erfüllen und ihn die Dreifaltigkeit schauen zu lassen. Darauf sei der Leibhaftige mit drei Köpfen erschienen und habe erklärt, selbst die Heilige Dreifaltigkeit zu sein. Der junge Prämonstratenser jedoch habe den Betrug bald durchschaut und den Teufel vertrieben.8 Es wurde vermutet, dass die Legende eine Distanzierung von heidnischen Göttergestalten mit drei Köpfen (tricephalus) oder drei Gesichtern (trivultus) überliefert, die auch in Nordfrankreich verbreitet waren und immer wieder in Darstellungen des Teufels aufgegriffen wurden.9 Wie bisher nicht erkannt, ergreift die Legende jedoch ganz unmittelbar Partei in einem zeitgleich eskalierten religiösen Konflikt um den Trinitätsglauben. Der Hauptströmung des Mönchtums, das in der Tradition Augustins auf einem mystischen Zugang zur Ahnung der Wahrheit des trinitarischen Gottes durch meditatives Verharren in der Sprach- und Bildlosigkeit bestand, halten die Konzeptualisten damals definitorische Lehrsätze entgegen, in denen sie die Beziehung zwischen der Einheit des einen Gottes und der Individualität der drei göttlichen Personen rational fassen und gedanklich nachvollziehbar machen wollen. Systemisch verbunden mit dem damals in Nordfrankreich aufkommenden Kampf zwischen der Erwartung kommunaler Selbstkonstitution und dem Anspruch des spirituellen Mönchtums, durch das geistliche Amt der von ihm besetzten Bischofssitze die Städte zu regieren, entlud sich dieser religiöse Konflikt um den Zugang zum Trinitätsglauben auch in Gewalt.10 Der diagrammatische Darstellungsstil der bildlogischen Demonstration, mit welcher der Teufel den Prämonstratensernovizen bei der sehnsuchtsvollen Meditation des Mysteriums der Trinität unterbricht, um eine formallogische Auflösung des Paradoxes von Einheit und Vielheit in der Trinität durch ein simples Schaubild anschaulich zu machen, entspricht ganz dem definitorischen Denk- und Sprachstil, mit dem damals der Konzeptualist Petrus Abaelardus versucht, die Beziehung zwischen der einen Substanz Gottes und der Unterschiedenheit der göttlichen Personen
8 Vita Norberti. In: Laurentius Surius: De probatis Sanctorum vitis. Colonia: Gervinus Calenius 1572. Tom. III. Cap. XIX. S. 525. 9 Vgl. Boespflug, François: Le diable et la trinité tricéphales. A propos d’une pseudo-‚vision de la Trinité‘ advenue à un novice de saint Norbert de Xanten. In: Revue des Sciences Religieuses Année 72.2 (1998). S. 156–175, hier S. 174f. 10 Vgl. etwa Mews, Constant J.: The Council of Sens (1141). Abelard, Bernard, and the Fear of Social Upheaval. In: Speculum 77.2 (2002). S. 342–382.
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rational zu fassen.11 Wegen des Vorwurfs, Vater, Sohn und Geist hierbei auf bloße Attribute des einen Gottes zu reduzieren, wird Abaelard 1121 bei der Provinzialsynode in Soissons sowie erneut 1141 beim Konzil von Sens verurteilt.12 1120 in der Umgebung Norberts angesiedelt, der an der Verurteilung Abaelards in Soissons beteiligt war und wohl mit einem der beiden Hauptfeinde Abaelards identifiziert werden kann, von denen dieser selbst spricht,13 meint die prämonstratensische Legende von der Erscheinung eines tricephalus als satanische Vortäuschung der Trinität ganz offensichtlich die Lehre Abaelards. Im Kontext der unversöhnlichen Konkurrenz von Mönchsgemeinschaften um Schülerschaft und Deutungshoheit karikiert das treffsichere Merk- und Sinnbild des einen Körpers mit den drei Köpfen den Anspruch Abaelards polemisch, die Vereinbarkeit zwischen der Einheit Gottes und der Dreiheit der göttlichen Personen verstandesmäßig fasslich zu machen. Wie man Abaelards rationale Erschließung der Trinität damals als „diabologia“ verteufelte,14 so wird sie in der Legende als teuflisches Trugbild diffamiert, das ganz im Sinn der Warnung des Augustinus vom meditativen Zugang zur Trinitätsfrömmigkeit ablenke – hinter dem aber schon ein Novize aus dem Orden des hl. Norbert unschwer den Leibhaftigen entlarven könne. Im Kreis der Konzeptualisten findet sich nicht zufällig auch die älteste im Bild überlieferte Darstellung der Trinität als tricephalus. Eine antike Gemme im Zentrum des Siegels des Roger von Pont L’Évêque, der 1154 Erzbischof von York wird, zeigt drei Theatermasken, die von einem imaginären Mittelpunkt aus im Profil nach außen blicken. Eine in einem Kreuzzeichen beginnende und endende Umschrift deutet dies zum Sinnbild der Trinität um: „Unser Haupt [caput] ist die Trinität“.15 Am Rande des Konzils von Reims hatte Roger 1148 als Anhänger Gilberts von Poitiers in einer Befragung durch Bernhard von Clairvaux den Satz bejaht: „Drei Per11 Zu Abelaerds Trinitätslehre vgl. Klitzsch, Ingo: Die „Theologien“ des Petrus Abaelardus. Genetisch-kontextuelle Analyse und theologiegeschichtliche Relektüre. Leipzig 2010. S. 80–92. 12 Vgl. Otto von Freising [Otto Episcopus Frisingensis]: De gestis Friderici I. Caesaris. In: Ders.: Leopoldi Pii Marchionis Avstriae F. Chronicon […]. Basilea: Perna 1569. Lib. I. Cap. XLVII–XLIX. S. 220–222; vgl. auch Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie der patristischen und scholastischen Zeit. Hrsg. von Rudolf Reicke. 4., verb. Aufl. Berlin 1873. S. 146. 13 Abaelardus, Petrus: Historia Calamitatum. In: Ders.: Opera. Hrsg. von Franciscus Amboesius. Paris: Buon 1616. Cap. XII. S. 31; vgl. Miethke, Jürgen: Abaelards Stellung zur Kirchenreform. Eine biographische Studie. In: Francia 1 (1973). S. 158–192, hier S. 167–170. 14 [Thomas von Montigny]: Disputatio Catholicorum Patrum adversus Dogmata Petri Abaelardi. In: Saeculum XIII Eugenii III Romani Pontificis Epistolae et privilegia. Bd. 1. Hrsg. von Jacques Paul Migne. Paris 1855 (PL 180). Lib. I. Col. 284A–285A. 15 George Vertue (nach einer Zeichnung von Dems.), Siegel des Roger von Pont L’Évêque (1154–1181 Erzbischof von York). Inschrift: „CAPVT NOSTRV.TRINITAS EST“, aus dem Duchy Office of Lancaster, Kupferstich, 420 x 257 mm. In: Vetusta Monumenta. Hrsg. von der Societas Antiquariorum Londini. 7 Bde. Londonium 1741–1906. Bd. 1 [1741]. P. LIX.B [Vestusta Monumenta. Ancient Monuments (17181796). A Digital Edition. Hrsg. von Noah Hering man [u.a.], Plate 1.59: Engravings of Lancaster Duchy Office Seals, Part B (2 of 3): https://scalar.missouri.edu/vm/media/vm1-59. (23.01.2021).
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sonen sind ein Gott und umgekehrt.“16 Bernhard wollte damit die Schädlichkeit der als häretisch angeklagten gleichlautenden konzeptualistischen Trinitätserklärung Gilberts17 nachweisen, in der er eine Missachtung der substantiellen Einheit Gottes sah.18 Die Inschrift auf Rogers Siegel spielt mit Gilberts Trinitätsdefinition und bekräftigt sie durch die Kombination aus zwei Sätzen, die damals einzeln gegen Gilbert ausgelegt wurden:19 „Der eine Gott ist die Trinität;“20 „das Haupt [caput] Christi aber ist Gott.“21 Im Sinne Gilberts entlarvt die Kombination verschiedener Text- und Bildquellen im Siegel diese Invektive als Sprachzauber. Der Plural der drei Masken (personae) bildet denselben Sachverhalt visuell ab, den die Inschrift mit dem Abstraktum trinitas im Singular nennt, während die Einzahl des Hauptes im Text zugleich mit der Dreizahl der Masken im Bild korrespondiert. Mit der Rede von der Dreiheit (trinitas) als „unserem Oberhaupt [caput]“ und mit der Fügung der drei Masken zum Sinnbild der drei göttlichen Personen, in denen sich – gleichsam als ihr gemeinsamer Maskenträger – der zwischen ihnen als solcher verborgen bleibende eine Gott offenbart, formuliert Roger ein Glaubensbekenntnis zur konzeptualistischen Trinitätsauffassung Gilberts. Indem der in den göttlichen Personen sich offenbarende trinitarische Gott im virtuellen Raum hinter und zwischen den Masken gedacht werden kann, ohne selbst sichtbar zu werden, weist das Siegel auch den Vorwurf zurück, den man Gilbert in Fortsetzung der Geryon-Metapher des Augustinus machte, in seiner Trinitätslehre nur das monströse Bild eines Kopfes mit mehreren Körpern zu zeigen.22 Nahezu zeitgleich mit der teuflischen Vorspiegelung einer rational gefassten Trinität durch eine dreiköpfige Gestalt, von der die Vita Norberti erzählt, entsteht im Missale von Cambrai um 1220 deren mystisches Gegenbild. Erstmals erscheint dort 16 „[T]res personae sunt unus deus, et e converso“ [Johannes von Salisbury]: Historia Pontificalis. Hrsg. von Wilhelm Arndt. In: Georg Heinrich Pertz: Monumenta Germaniae Historica. Bd. 20 [Supplementa Tom. I, V, VII, XII. Chronica aevi Suevici]. Hannovera 1868. § 8. S. 523. 17 „Pater et Filius et Spiritus sanctus sunt unus Deus.“ Gilbertus Porreta: In Librum primum Boethii de Sancta Trinitate Commentaria. In: Anitius Manlius Severinus Boethius: Opera omnia. Basilea: Henricpetrus 1570. S. 1135. 18 Vgl. Otto von Freising, Gestis (wie Anm. 12), Lib. I, Cap. XLVI, S. 220; Cap. L–LVII, S. 222–229; vgl. auch Ueberweg, Grundriss (wie Anm. 12), S. 151. 19 „[S]i unus Deus Trinitas est, ergo unus Deus est tres personae.“ Petrus Lombardus: Sententiarum libri IIII. Lovanium: Gravius 1553. Lib. I. Distinc. IV. Cap. C. Fol. 12r. „Caput vero Christi est Deus Pater […]. Sed si Deus omnia simul tria hic intelligitur, quomodo caput Christi est Deus, id est caput Christi est Trinitas, cum in Trinitate sit Christus […]?“ Ders.: Collectanea in omnes D. Pauli Apostoli Epistolas. Bd. 1. In: Ders.: Opera omnia. Hrsg. von Jacques Paul Migne. Paris 1854 (PL 191). Col. 1629C–D. 20 „Trinitas unus est Deus.“ Augustinus, Trinitate (wie Anm. 4), Lib. V, Col. 121 links C. 21 „caput vero Christi, Deus“ 1 Kor 11,3. 22 So Gaufridus: Libellus Contra Capitula Gilberti Pictaviensis Episcopi. In: Bernard Abbas Primi Clarae-Vallensis: Opera omnia. Bd. 4. Hrsg. von Jacques Paul Migne. Paris 1860 (PL 158). Cap. 2, § 26, Col. 604; vgl. auch Haring, Nicholas M.: The Case of Gilbert de la Porrée Bishop of Poitiers. In: Mediaeval Studies 13 (1951). S. 1–40, hier S. 21.
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der thronende Gottvater, der seinen Sohn durch das Zuhauchen des Heiligen Geistes in Gestalt der Taube in sein Erlösungswerk sendet und den Gekreuzigten zugleich als Erlösungsopfer annimmt.23 Nicht ein zeichenlogisches Räsonnement zur Dreiheit und Einheit in der Trinität Gottes wird hier skizziert. Vielmehr wird zum ersten Mal das in der Bibel verkündete Mysterium visuell auslegend entfaltet, dass sich der eine Gott als Beziehung von Vater, Sohn und Geist offenbart und darin heilsgeschichtlich auf die Erlösung des Menschen als Adressaten dieser Beziehung ausrichtet. Die Symbole der vier Evangelisten ringsum zeigen das Evangelium an, das diese Auslegung eröffnet. Zwischen ihnen durchschneidet die Selbstoffenbarung Gottes die Bildebene. An dieser inszenierten Schnittstelle reißt das Blatt in der Rahmenform einer Mandorla virtuell auf, um im Blick in den Buchblock des Messbuchs und damit in die Liturgie der Heiligen Messe selbst die drei göttlichen Personen aus der Sphäre des unsichtbaren einen Gottes in den menschlichen Vorstellungs- und Erfahrungsraum der Betrachter hervorbrechen zu lassen. Die Mandorla hält die drei einerseits als Einheit zusammen und präsentiert zugleich ihr Hervorkommen aus dem Göttlichen wie auch ihr Zurückgenommenwerden dorthin. So überschneidet der Querbalken des Kreuzes die Rahmenform und zeigt so das Hervorgehen Christi in die Welt des Betrachters wie auch das Aufnehmen des Gekreuzigten von dort durch den Vater. Wer im Verlauf der Liturgie die Seiten des Missale aufblättert, so sagt dieses Bild zu, wird tiefer hineinblicken in die hier aus der Tiefe der Schnittstelle hervorkommende Selbstoffenbarung Gottes. Die Liturgie wird als Weg zur Offenbarung begreiflich. Über dem „Te igit[ur] clem[en]tissime Pat[er]“, den ersten Worten des Kanongebets, illustriert die Darstellung der Trinität wie eine Messerklärung den Sinn der Liturgie und unterstützt das liturgische Flehen des Opfergebets, Gott möge die im Sakrament auf dem Altar dargebrachte eucharistische Opfergabe des gekreuzigten Christus zum Heil der Opfernden annehmen. So antizipiert das Missale während der Messfeier die mystische Herabrufung der trinitarischen Offenbarung in der Eucharistie, wobei die Bedeutung des Deckels der Bundeslade, des Gnadenstuhls (propitiatorium), über dem nach Ex 25,22 Gott erscheint, auf den Altar als Präsenz- und Ereignisort des göttlichen Erlösungsopfers übertragen ist.24 Verortet ist die Bilderfindung im Kampf Norberts und seiner Anhänger gegen Abaelard, zählte Bischof Burchard von Cambrai doch zu Norberts wichtigsten Unter-
23 Anonym, Die Hl. Dreifaltigkeit (Gnadenstuhl), Initiale zum Te igitur, Pergament, 240×155 mm, um 1120, in: Missale von Cambrai, Bibliotheque Municipale, Cambrai, Ms. 234 (224), Fol. 2 [Initiale. Catalogue informatisé de manuscrits enluminés du Moyen Âge, Bibliothèque nationale de France: http:// initiale.irht.cnrs.fr/codex/9487]. 24 Zum liturgischen Bezug von Darstellungen des von Gottvater gehaltenen Gekreuzigten auf die Gebete des Offertoriums und auf die Eucharistie insgesamt vgl. Boespflug, François: Eucharistie et Trinité dans l’art médiéval d’Occident (XIIe–XVe siècle). In: Pratiques de l’Eucharistie dans les Églises d’Orient et d’Occident (Antiquité et Moyen Âge). Bd. 2. Hrsg. von Nicole Bériou [u.a.]. Paris [u.a.] 2009 (Collection des études augustiniennes. Série Moyen Âge et temps modernes 46). S. 1111–1167.
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stützern.25 Im Streit zwischen Konzeptualisten und Mystikern stellt das Kanonbild des Missale von Cambrai gegen Abaelards rationale Trinitätserklärung, die in der Vita Norberti als teuflisches dreiköpfiges Merkbild karikiert ist, die mediale Antizipation der eucharistischen Offenbarung des Mysteriums der Trinität. So erweist diese visuelle Messerklärung den Streit um den Zugang zum Trinitätsglauben in seinem Innersten als konfessionellen Medienkonflikt. Wie hier nur angedeutet werden kann, bleibt die Trinitätsikonographie auch für die konfessionellen Medienkonflikte des 16. Jahrhunderts fundamental. So trägt, wie Anselm Steiger gezeigt hat, eine Allegorie der Hl. Dreifaltigkeit, die Frans Floris 1562 in Antwerpen malte,26 eine explizit lutherische Trinitätsauslegung vor.27 Hierzu entfaltet das Gemälde an zentraler Stelle die Trinität in der Konstellation des sogenannten Gnadenstuhls, in der schon das Missale von Cambrai die Dreifaltigkeit auf den Altar herabrief und als heilswirksame Selbstoffenbarung Gottes vor Augen stellte. Am vorderen Bildrand spricht Johannes der Täufer „Siehe das Lamm Gottes.“ Die Fortführung des Bibeltextes muss der Betrachter hinzudenken, leitet Johannes hiermit doch seine Bekundung ein, dass auf Christus „der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm blieb,“ und dass er „der Sohn Gottes“ ist (Joh 1,29–34). Zur Auslegung dieser Offenbarung der Trinität zeigt Floris am oberen Bildrand das Herabkommen der Taube auf Christus, wie es auch Mt 3,16 und Lk 3,22 zum Abschluss der Taufe Christi berichten, und lässt Gottvater die darauffolgenden Worte sprechen, die das Gemälde in goldenen Lettern darunter notiert: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (Mt 3,17; Lk 3,22). Die Zeile darunter fährt mit dem Satzteil fort, der auf dieselbe Bekundung in Mt 17,5 folgt: „[Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe;] auf ihn sollt ihr hören.“ Zwischen den Aufruf zum Sehen des Lammes und zum gehorchenden Hören des Sohnes spannt das Gemälde die visuelle Auslegung der Trinität.28 Floris folgt dabei einer 1522 gedruckten Predigt Luthers zu Mt 23,34–39.29 Am linken Bildrand zitiert ein Schriftband die dort behandelte Bußpredigt aus Mt 23,37. Die in diesem Vers erwähnte Henne, die ihre Küken unter ihre Flügel birgt, erscheint am unteren Bildrand in der Mitte. Senkrecht darüber veranschaulicht schließlich das Hauptthema des Gemäldes die bei Luther mit diesem Topos verbundene Zusage des Heils unter Gottes Fittichen nach Ps 61,5, Ps 91,4 und Mal 3,20 sowie Luthers Verweis auf den Erlöser Christus als „propiciatorium, den thron der gnaden“, der nach Röm 25 Vgl. Ott, John S.: Bishops, Authority and Community in Northwestern Europe, c. 1050–1150. Cambridge 2015. S. 80. 26 Frans Floris, Allegorie der Hl. Trinität, 165×230 cm, Öl auf Holz, um 1562, Paris, Louvre; Steiger, Johann Anselm: Trinität, Gnadenstuhl und Henne. Zu Intermedialität und bildtheologischer Konzeption eines Meisterwerkes von Frans Floris. In: Scientia Poetica 17.1 (2013). S. 1–25, hier S. 17, Abb. 1 [https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010061750 (26.4.2021)]. 27 Steiger, Trinität (wie Anm. 26). 28 Vgl. Steiger, Trinität (wie Anm. 26), S. 2. 29 Vgl. Steiger, Trinität (wie Anm. 26), S. 9–13.
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3,25 lehrt, durch Christus und unter ihm den Glauben zu behalten. In den weit ausgebreiteten Adlerflügeln und den darauf zu lesenden Heilszusagen Christi entfaltet das Zentrum der Trinitätsoffenbarung so das Sinnbild Christi von der ihre Küken unter den Flügeln schützenden Glucke als großartige Vision göttlicher Rettung.30 Auf der von Steiger aufgezeigten ikonographischen Bekräftigung einer lutherischen Trinitätsauffassung aufbauend, mobilisiert das Gemälde zudem das aktivierende Potential des Trinitätsglaubens im Glaubenskampf. Mit den erhabenen Schutzflügeln Gottes, unter die sich eine Gemeinde verängstigter Menschen bußfertig kauert, ruft Floris ein politisch brisantes Schema auf und gibt der Trinitätsikonographie einen konkreten politischen Bezug. In ganz verwandter Gestalt bekundeten weitverbreitete Darstellungen des Reichsadlers mit einem davorschwebenden Gekreuzigten den sakral legitimierten Schutz durch das Heilige Römische Reich. Wie bedeutend dies für Antwerpen war, belegt ein Holzschnitt von 1510,31 in dem die ausgespannten Flügel des Reichsadlers auch das Wappen von Brabant bergen und es in die idealtypische Ordnung der Reichsstände und den Schutz der Reichsordnung einordnen.32 1548 aber wurde Brabant als Teil des Burgundischen Kreises aus dem Reich ausgegliedert und war seither der Oberherrschaft des Reiches entzogen. Trotz aller Anciennität und Zusagen waren die vom Kaiser weiterhin verbrieften „Schutz, Schirm, […] Freiheiten, Rechten, Gerechtigkeiten“ seither mehr oder weniger wertlos.33 Die tagespolitische Brisanz der Adlerflügel, unter denen anstelle des verlorenen Schutzes durch das Reich nun die Selbstoffenbarung der Trinität den Zufluchtsuchenden „Schirm und Schild“ (Ps 91,4) bietet, erläutert Floris am rechten Bildrand. Ein Pharisäer mit den Gesichtszügen Papst Pauls IV.,34 auf dessen Schulter ein Bild von Moses mit den Gesetzestafeln als Zeichen einer Beschränkung auf bloße Gesetzesbefolgung angebracht ist,35 versucht dort die Menschen, die in den Schutz Gottes drängen, stattdessen in die von einem Dämon beherrschte Wüste zu schicken. Ange30 Vgl. Steiger, Trinität (wie Anm. 26), S. 7f.; das Zitat ebd., S. 13. 31 Jost de Negker nach Hans Burgkmair d.Ä., Reichsadler, Holzschnitt, 285 × 400 mm, 1510; Berns, Holger: Aquila biceps. Die mnemonische Belastbarkeit des Reichsadlers und das Problem der Schemaüberblendung. In: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Hrsg. von Holger Berns u. Wolfgang Neuber. Wien, Köln, Weimar 2000. S. 407–462, hier S. 428, Abb. 35; jenseits des politischen Bezugs erwähnt bei Steiger, Trinität (wie Anm. 26), S. 2. 32 Zum Wappen Brabants in diesem Holzschnitt vgl. Volker Rödel: Kaiser Maximilians Westreich und der Quaternionen-Reichsadler. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 45 (2018). S. 85–116, hier S. 112. 33 Vgl. Piltz, Eric: Reinheit oder Frieden? Religiöse Devianz und die Rhetorik der Gottlosigkeit in Antwerpen 1562–65. In: Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften. Hrsg. von Alexander Kästner u. Gerd Schwerhoff. Konstanz u. München 2013. S. 123–154, hier S. 129f. 34 Zum Vergleich: Philippe Soye: Papst Paul IV, 244 x 164 mm, Kupferstich. In: Onofrio Panvinio: 27 pontificum maximorum elogia, Roma: Antonius Lafrérius 1568. s. p. 35 Vgl. Steiger, Trinität (wie Anm. 26), S. 5.
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sprochen ist damit die Errichtung eines Bistums in Antwerpen, die dieser Papst ohne Rücksicht auf das kommunale Selbstverständnis und das konsensuelle Zusammenleben in der Stadt gerade erst 1559 angeordnet hatte. Im Entstehungsjahr von Floris‘ Gemälde wandte sich der Antwerpener Magistrat auch ausdrücklich und öffentlich dagegen, dass mit diesem Schritt insbesondere die althergebrachte und verbriefte alleinige Zuständigkeit des höchsten städtischen Gerichts für alle Häresieprozesse gegen in der Stadt Verhaftete aufgehoben wurde.36 Nach dem Verlust des Reichsschutzes empfiehlt Floris gegen diese neue kommunale Ohmachtserfahrung seinen Mitbürgern die alleinige Zuflucht unter die Adlersfittiche der Trinität. Den kommunalen Konflikt fokussiert auch die Sentenz aus Mt 23,37, die Jesus am linken Bildrand vorträgt: „Jerusalem, Jerusalem [du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind]. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt [aber ihr habt nicht gewollt].“ Die bibelkundigen Leser Antwerpens wussten die hier ausgelassenen Worte gewiss mitzudenken und die Auslassung zugleich als Hinweis auf die unter dem neuen bischöflichen Regime drohende Zensur zu lesen. Floris konnte dabei sicherlich auch darauf setzen, dass zahlreiche Antwerpener beim Betrachten des Bildes noch im Ohr haben mussten, wie der reformierte Prediger Adrian van Haemstede 1559 inmitten seines Berichts von der Hinrichtung eines als Häretiker verurteilten Malers auf dem Grote Markt von Antwerpen diesem Bibelvers gefolgt war, als er vor der Verfolgung der Bußprediger warnte, die mit ihrer Mahnung den Zorn Gottes von der Stadt noch abwenden könnten: „Oh Antwerpen, Antwerpen! Euch ist Gottes Wort und Wille verkündigt worden; man hat zur Bußfertigkeit gerufen, aber ihr habt eure Ohren verschlossen; die euch ermahnten, habt ihr verfolgt […]. Soll der allerhöchste Gott das sehen und nicht rächen? […] Darum bekehrt Euch noch von Eurer Bosheit […]. Oder sonst ist Euer Verderben näher als Ihr denkt. Gott wird Euch strafen.“37 In dieser lokalen Zuspitzung des Glaubenskampfes aktiviert Floris die Offenbarung des trinitarischen Gottes und legt das heilsgeschichtliche Erlösungswerk Christi als visuelles Fanal einer kommunalen Selbstbehauptung im Schutz Gottes aus. Die lutherische Deutung der innertrinitarisch begründeten und soteriologisch wirksamen Beziehung des Sohnes, der durch sein Opfer Strafaufschub für die sündige Menschheit erreicht, damit diese sich zu Gott bekehren kann, und des Vaters, der das Opfer des Sohnes annimmt und Strafaufschub gewährt, konkretisiert das Gemälde als tagespolitische Warnung vor dem Entzug der städtischen Privilegien und insbesondere der kommunalen Gerichtshoheit sowie vor der damit verbundenen Verfolgung der Prediger, die vor dieser Zerrüttung des Gemeinwesens und seiner religiösen 36 Vgl. etwa Duke, Alastair C.: The ‘Inquisition’ and the Repression of Religious Dissent in the Habsburg Netherlands 1521–1566. In: Dissident identities in the early modern Low Countries. Hrsg. von Alastair C. Duke. Aldershot 2009. S. 109–118, hier S. 106f. 37 Haemstede, Adrian van: De Geschiedenisse ende den doodt der vromer Martelaren. o. O. [Antwerpen] 1559. S. 447; vgl. Piltz, Reinheit (wie Anm. 32), S. 146.
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Grundlagen warnen: Nur wenn man solches Unheil von Antwerpen abwendet und sich als Gemeinschaft doch noch ganz in den Schutz des Gekreuzigten und der Trinität stelle, bleibe die Stadt – so kündigt das Gemälde an – vom Zorn Gottes über die als gottlos bezeichnete Verfolgung seiner Propheten verschont. In den konfessionellen Medienkonflikten des 16. Jahrhunderts bezog man sich auch ausdrücklich auf die Konfrontation der Konzeptualisten und der Mystiker des 12. Jahrhunderts um die Trinitätsfrage. Die damals vorgebrachten Argumente und die gesamte Konfliktkonstellation waren in gedruckter Form umfassend präsent. So behandelt der Leuvener Theologe Johannes Molanus in dem für die katholisch gebliebenen Teile der Habsburgischen Niederlande maßgeblichen Bildtraktat von 1570 auch die Darstellungen der Trinität „mit drei Köpfen oder wenigstens mit drei Gesichtern“.38 Um zu belegen, dass solche Bilder „eine teuflische Erfindung“ seien, referiert er die Legende von der Teufelserscheinung aus der Vita Norberti ausführlich. In einem Kapitel über Bilder, die keine für die Kirche gefährlichen Irrtümer enthalten, nimmt Molanus in der Ausgabe von 1570 das Verdikt dann allerdings doch wieder zurück, da die dreiförmigen Darstellungen der Trinität eigentlich doch nichts anderes bezeichneten als die Einheit der Essenz Gottes und die Dreiheit der göttlichen Personen,39 eine Auffassung, die – anders als zahlreiche andere katholische Autoren40 – 1603 immerhin auch Gregorius de Valentia teilt.41 Dass gerade diese Passage in den Molanus-Ausgaben von 1594 und 1617 getilgt ist,42 dokumentiert allerdings den Streit, der hierum auch innerhalb des Katholizismus wieder aufflammt. Zumal 1594 und 1617 der Traktat des Molanus und 1618 die Vita Norberti erneut gedruckt wurden,43 konnte Wolffort dann darauf rechnen, dass die Aktualität seines visuellen Verweises auf die frühe Medienkonfliktgeschichte um die dreiförmige Trinitätsdarstellung und den Streit zwischen einem mystischen Trinitätsglauben und einem rationalen Trinitätsverständnis in seiner Umgebung verstanden wird. 1586 wendet Bellarmino als neues Argument gegen dreiförmige Darstellungen der Trinität ein, dass diese im Konfessionskonflikt Spott auf die Kirche ziehen. Er verweist dafür auf eine antitrinitarische Sammelschrift, die Ferenc Dávid und Giorgio Biandrata 1568 in Siebenbürgen, einem Vasallenstaat des Osmanischen Reiches, anonym 38 Vgl. Molanus, Johannes: De Picturis et imagines sacris Liber unus. Lovanium: Wellaeus 1570. Cap. III. Fol. 17v–18r; vgl. Hecht, Bildtheologie (wie Anm. 2), S. 462f. 39 Molanus, Picturis (wie Anm. 37), Cap. XVIII, Fol. 43r. 40 Solche etwa bei Vázquez, Carlos Sastre: ‚Imago Trinitatis‘. Acerca de una pintura del Museo de Lima. In: Actas de III Congreso de Historiadores Latinoamericanistas (ADHILAC). Pontevedra 22.–26. Oktober 2001. Santiago de Compostela 2002. S. 1–16, hier S. 5f. 41 Gregorius de Valentia: Commentariorum Theologicorum Tomi quatuor. Ingolstadium: Sartorius 1603. Tom. IV. Col. 384 D–E. 42 S. Molanus, Johannes: De Historia SS. Imaginum et Picturarum. Lovanium 1594. Cap. XXV. Fol. 43r–45r; Ders.: Dass. Antverpia: Bellerus 1617. Lib. II. Cap. XXV. S. 95–97. 43 Vita Norberti. In: Laurentius Surius: De probatis Sanctorum vitis. 12 Bde. Bd. 6: Iunius. Colonia: Kreps u. Mylius 1618. Cap. XIX. S. 112–128, hier S. 116.
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herausgegeben hatten.44 Darstellungen der Trinität werden dort als Ungeheuer und Götzenbilder nach Art der antiken vielköpfigen Gestalten Cerberus, Geryon und Janus verhöhnt,45 und Holzschnitte mit Karikaturen ikonographischer Grundtypen der Trinitätsdarstellung schmähen den katholischen Trinitätsglauben als heidnische Idolatrie. So wird zu Beginn der Bildstrecke eine dreiköpfige Büste auf einem Altar als Ungeheuer bezeichnet, das den zweigesichtigen antiken Gott Janus in Rom vom Altar vertrieben habe, um über den Erdkreis alleine zu herrschen, und das die Diener Satans dort nun anstatt Gottes anbeteten.46 Zum Kapitelabschluss verunglimpfen Dávid und Biandrata alle katholischen Trinitätsdarstellungen als Geryon, Cerberusse des Antichristen und „gottlose Götzenbilder der Papisten“, die ein bibelgemäßes Verständnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist verhinderten und daher vertrieben werden müssten.47 Mit seiner visuellen Randnotiz widerspricht Wolffort der verbreiteten Kritik am tricephalischen Typus nun ausdrücklich. Es ist, als sei Gottvaters Pluviale ein ewiges Archiv, in dem die Originalfassung einer alten Ikonographie aufbewahrt ist und als motivarchäologischer Kommentar in auslegenden Bezug zu der aktuellen Ikonographie gesetzt werden kann. Gottvater selbst führt hier ein Stück aus seinem Archiv der verbotenen Bilder vor und setzt es in den Kontext einer sorgsamen ikonografischen Reflexion: Jenseits jeden Streits um die wahre Trinitätsauffassung sind bei Gott auch historische Vorstellungen und Darstellungen der Trinität gut aufgehoben, auch wenn sie rational unvereinbar sind. In der skizzenhaften Durchführung der Figuration hält Wolffort dabei subtil offen, ob man hier denn tatsächlich, wie es der erste Blick nahelegt, eine einzige Gestalt mit drei Köpfen vor sich hat, oder ob die drei Köpfe doch wie in der triandrischen Darstellungsform der Trinität, die drei gleichförmige Männer zeigt, zu drei selbständigen Körpern gehören, die Rücken an Rücken eng aneinandergerückt sind und so doch nur scheinbar eine einheitliche Gestalt bilden. Ununterscheidbar oszilliert diese Figur der Trinität zwischen der oft angegriffenen tricephalischen und der triandrischen Form. Triandrische Darstellungen der Trinität aber gelten seit jeher als biblisch belegt, da sie die drei Männer zeigen sollen, die Abraham bewirtet und in denen er den einen
44 Anonym [Dávid, Ferenc u. Giorgio Biandrata (Hrsg.)]: De falsa et vera unius Dei patris, filii et spiritus sancti cognitione libri duo. Alba Iulia: Hoffhalter 1568 [oder 1567]. Lib. 1. Cap. VI. s. p. (Fol. E3v; E4v; F,–F3). Zur Edition Kís, Tímea: „Olyan Istent … hordoznak a lelkükben, amilyent meg is festettek.“ Illusztrációk két 16. századi antitrinitárius kiadványban. In: Ars Perennis. Fiatal Művészettörténészek ii. Konferenciája, Budapest 2009, CentrArt Művészettörténeti Műhely Tanulmányok, Primus Gradus Tanulmányok. Budapest 2010. S. 71–80. 45 Bellarmino, Roberto: Disputationes. Ingolstadium: Sartorius 1586. Tom. I. Contr. VII. Lib. II. Cap. VIII. Col. 2103D–2104A; vgl. Hecht (wie Anm. 2), S. 463. 46 Dávid u. Biandrata (Hrsg.), falsa (wie Anm. 43), Cap. VI, s. p. [Fol. 18vf.]. 47 Dávid u. Biandrata (Hrsg.), falsa (wie Anm. 43), s. p. [Fol. 23r].
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Gott erkannt und angebetet haben soll (Gen 18,1–33). Im Rückgriff auf Augustinus48 anerkennen etwa Molanus,49 Bellarmino50 und Cornelius a Lapide51 sie als Darstellungen dieser alttestamentlichen Offenbarung der Trinität des einen Gottes. Um die grammatikalisch überlieferte Paradoxie, dass Abraham dem Bibeltext nach drei sah, aber nur einen anbetete, diagrammatisch sinnfällig zu machen, konnte dieses Thema aber schon früh auch durch eine tricephalische Gestalt illustriert werden.52 Auf subtile Weise nimmt Wolffort hier zudem die Kritik auf, tricephalische Darstellungen der Trinität seien bloße Fortführungen dreiköpfiger heidnischer Götzenstatuen, und wendet diesen Einwand positiv um. Zur oszillierenden Integration von tricephalischem und triandrischem Typus nutzt er nämlich ausgerechnet eine Statue der Göttin Hekate, deren Dreiköpfigkeit bei den Gegnern des tricephalischen Trinitätstypus als Inbegriff der abscheulichen Monstrosität antiker Göttervorstellungen und als völlig ungeeignet zur Darstellung des trinitarischen Gottes galt. Sein Modell für diese Kippfigur fand Wolffort in der Hecate triformis (Hekataion),53 die sich damals in der Antwerpener Antikensammlung des Peter Paul Rubens befand.54 Gab es tatsächlich zahlreiche dreiköpfige Darstellungen der Hekate,55 so stehen in dieser Skulptur doch drei Frauen Rücken an Rücken, können aber aus größerer Entfernung oder bei ungünstigen Lichtverhältnissen doch als eine einzige Figur mit drei Köpfen erscheinen. Damit stellt sich Wolfforts Antikenzitat der Kritik am vermeintlichen Satanismus der Darstellungsform. Die Skulptur der Hekate zeigt das Gemälde als eine vor Christus entwickelte Präfiguration eines christlichen Glaubensinhalts. Unmittelbar einsichtig für alle, die mit diesem ikonografischen Typus der Hekate-Darstellung vertraut sind, überträgt Wolffort die an der antiken Skulptur modellhaft zu gewinnende Erfahrung der Eigenlogik von Wahrnehmung auf seine Veranschaulichung einer grundsätzlichen Integrierbarkeit von Trinitätsauffassungen, die einander rational ausschließen. Die an der Hekate-Skulptur mögliche Erfahrung, dass die Wahrnehmung von Einheit und Dreiheit einer solchen trinären Gestalt nicht nur vom Gegenstand selbst, sondern von den Wahrnehmungsumständen abhängt, stellt er als Modell dafür vor, dass im Oszillieren der Wahrnehmung zwischen dem dreifigurigen und dem dreiköpfigen 48 Vgl. Bartelink, Gerard J. M.: Très vidit, unum adoravit, formule trinitaire. In: Revue des Études Augustiniennes 30 (1984). S. 24–29. 49 Vgl. Molanus, Picturis (wie Anm. 37), Cap. III, Fol. 17r. 50 Vgl. Bellarmino, Disputationes (wie Anm. 44), Tom. I, Contr. VII, Lib. II, Cap. VIII, Col. 2101 B–D. 51 Vgl. Cornelius a Lapide: Commentaria in Pentateuchum Mosis. Antverpia: Haeredes Nutii 1618. S. 165f. 52 Vgl. etwa Hallebeek, Jan: Papal Prohibitions Midway Between Rigor and Laxity. On the Issue of Depicting the Holy Trinity. In: Iconoclasm and Iconoclash. Struggle for Religious Identity. Hrsg. von Willem van Asselt [u.a.]. Leiden, Boston 2007. S. 353–383, hier S. 360, Anm. 14. 53 Hecate triformis, um 420 v. Chr., Marmor, Leiden, Rijksmuseum van Oudheden, Inv.-Nr. 1818 (1745): Pb 136. 54 Anonym, Rubens und sein Sohn Albert, 133,5×112,2 cm, nach 1626, St. Petersburg, Eremitage. 55 Anonym, Hecate, Holzschnitt. In: Vincenzo Cartari: Imagini de gli dei delli antichi. Padova: Pietro Paolo Tozzi 1615. S. 104.
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Typus auch der rational unaufhebbar scheinende Widerspruch zwischen der Einheit und der Trinität Gottes als Scheinwiderspruch erkannt und versöhnt werden kann. Wolfforts visuelle Randnotiz zum diagrammatischen Trinitätsverständnis liest sich wie eine Fußnote zur Hauptszene des Gemäldes, in der die im Missale von Cambrai begründete Ikonographie der Offenbarung des Mysteriums der Trinität neu gefasst wird. Ausgangspunkt hierfür ist eine Hl. Dreifaltigkeit des Pieter Coecke van Aelst von um 1540,56 die bereits emotional nachvollziehbar vorführt, wie die Einheit zwischen Vater und Sohn in der Liebe Gottes gründet (Joh 17,21–24, Joh 17,26). In beiden Gemälden riegelt eine Lichterscheinung den Blick in die Bildtiefe ab, wie es etwa der Römische Katechismus in Bezug auf 1 Tim 6,16 als Ausgangspunkt des Glaubens hervorhebt.57 Wie Coecke entwickelt Wolffort die Bildhandlung von hinten nach vorne auf den Betrachter hin. Zunächst tritt aus der unzugänglichen Lichtglorie Gottvater als thronender alter Mann mit „Haar auf seinem Haupt wie reine [U.H.: also weiße] Wolle“ (Dan 7,9) hervor. Bei Molanus 1570 und bei Bellarmino, der dies 1586 kontroverstheologisch gegen Calvins Ablehnung jeder Darstellung Gottvaters wendet, gilt Daniels Vision als zentraler Nachweis für die bildliche Darstellbarkeit des an sich selbst unsichtbaren und unkörperlichen Gottes, der – wie auch Augustinus betont – selbstverständlich in der Gestalt abgebildet werden könne, in der er sich hier selbst gezeigt hat.58 In der Tradition von Darstellungen der Compassio Patris und insbesondere des Gnadenstuhls zeigt Coecke, wie der Vater das Opfer des Sohnes annimmt, und stellt die Erscheinung der Trinität so in direkten Zusammenhang mit dem Opfergebet über dem Altar.59 Wolffort dagegen ersetzt den Leichnam Christi durch den verklärten Leib des Auferstandenen und folgt so dem Verdikt, in dem Molanus 1594 Darstellungen der Compassio Patris kritisiert, die den nackten toten Christus auf dem Schoß Gottvaters zeigen.60 Der Auferstandene tritt bei Wolffort stattdessen aktiv aus dem Schoß des Vaters (Joh 1,18) hervor. Damit befreit das Gemälde das Hervorkommen des Sohns aus dem Schoß des Vaters nach Joh 1,18 erstmals ganz von jeder Verbindung zur Bildt-
56 Pieter Coecke van Aelst, Die Heilige Dreifaltigkeit, Öl auf Holz, 90,1×58,4 cm, 1540 oder früher, Cassel, Musee dèpartamental de Flandre, Inv.-Nr. 2012.71; Vezilier, Sandrine (Hrsg.): Splendeurs du manierisme en Flandre. 1500–1575. Ausst.-Kat. Musée Departemental de Flandre, Cassel, 4. Mai – 29 September 2013. Gent 2013. S. 140–143, Kat. 28 [Abbildung – noch als „Nachfolge des Barent van Orley“ – auch hier: Christie’s, Mailand, Palazzo Clerici. Verst. Old Master Pictures, 26 November 2009. Los Nr. 5: https://www.lotsearch.de/lot/seguace-di-barent-van-orley-bruxelles-circa-1488-1541-25161609 (11.1.2021)]. 57 Catechismus Romanus. Hrsg. von Andrea Fabricius Leodius. Antverpia: Plantin 1572. Pars I. Cap. II. Qu. 6. S. 16; vgl. auch ebd., Qu. 10, S. 20; vgl. auch Hecht, Christian: Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock, Regensburg 2003, S. 32 f. 58 Vgl. Molanus, Picturis (wie Anm. 37), Lib. I, Cap. III, Fol. 17r; Bellarmino, Disputationes (wie Anm. 44), Tom. I, Contr. VII, Lib. II, Cap. VIII, Col. 2101 B, D. 59 S. die Hinweise hierzu beim Missale von Cambrai. 60 Vgl. Molanus, Historia (wie Anm. 41), Lib. IIII, Cap. XVI, Fol. 187v.
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radition der Compassio Patris oder des sogenannten Gnadenstuhls und macht sinnfällig, dass Christus vom Vater gesandt wird, indem er gezeugt und geboren wird. Indem sich Gottvater leicht vorbeugt, um seinen Sohn vorzustellen und zu empfehlen, verbindet Wolffort dies zudem mit einer Andeutung der Übertragung der Macht vom Vater an den Sohn, wie dies in der Vision Daniels angekündigt ist: „[…] es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war […]. Ihm wurde Macht, Ehre und Reich gegeben […]“ (Dan 7,13f.; vgl. Mt 24,30). Da Wolffort bei Vater und Sohn jeweils den rechten Ellenbogen unter Pluviale und Draperie verbirgt, ruft er zudem ein Vexierspiel auf, in dem der Sohn vom Vater bereits den Globus und damit die Macht übernommen hat und es nun der Vater ist, der die Seitenwunde des Sohnes vorzeigt.61 An Christus, dessen verklärten Leib als den des „fleischgewordenen Wortes“ (Joh 1,14) und als das „lebendige Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) Wolffort in strahlender Überkörperlichkeit geradezu haptisch durchmodelliert, und an Christus als „dem Licht der Menschen“, das hell in den Betrachterraum leuchtet und in die Finsternis kommt (1 Joh 1,4–5), wird dessen Göttlichkeit fasslich. An diesem Präsenzcorpus, in dem Gott hier dem Betrachter frontal entgegentritt, gibt das Gemälde eine Ahnung davon, dass Christus aus der ihm von Gottvater übertragenen Macht allen Menschen das ewige Leben gibt, damit sie Gottvater und den vom Vater gesandten Sohn in ihrer Herrlichkeit erkennen (Joh 1,14; Joh 17,2–3; Joh 23–26), und so die Seligen, wie auch der Römische Katechismus hervorhebt, für alle Zeiten „Gott, das wahre Licht, in seinem Lichte schauen“ (Ps 35,10) lässt.62 Die komplexe Beziehung zwischen Vater, Sohn und Geist legt Wolffort der katholischen Lehre entsprechend so dar, wie sie etwa Bellarmino63 umfassend erläutert. Über den Sohn spannt die aus dem undurchdringlichen Licht zum Betrachter schwebende Taube des Heiligen Geistes ihre Schwingen und verbindet Vater und Sohn. Der Flügelschlag lässt den Schnurrbart Gottvaters und den Umhang Christi, dessen Haupthaar und das des Vaters wehen. So wird die katholische Lehre unmittelbar anschaulich, dass der Geist die gesamte Trinität aus dem undurchdringlichen Licht heraus in die Sichtbarkeit der lebendigen Offenbarung und Präsenz bewegt und als Prinzip der gegenseitigen sowie zum Betrachter übermittelten Lebendigkeit und Liebe64 den Vater mit dem Sohn65 sowie beide mit den Gläubigen vermittelt. Wolffort vollendet im Hauptmotiv seines Gemäldes die Ikonographie der Trinitätsmystik, die letztlich auf das Missale von Cambrai zurückgeht. Wie niemand
61 Diese Beobachtung verdanke ich Michael Rohlmann. 62 Catechismus (wie Anm. 56), Pars I, Cap. XIII, Qu. 6, S. 135. 63 Vgl. Bellarmino, Disputationes (wie Anm. 44), Tom. I, Contr. II, Lib. II, Cap. XX–XXX, Col. 410B–445D, besonders Col. 422A–431B. 64 Zur Zuschreibung der Liebe an den Heiligen Geist s. etwa Catechismus (wie Anm. 56), Pars I, Cap. IV, Qu. 3, S. 42; Cap. II, Qu. 10, S. 22; Qu. 14, S. 25. 65 Vgl. etwa Catechismus (wie Anm. 56), Pars I, Cap. II, Qu. 10, S. 22.
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zuvor richtet er die Selbstoffenbarung der Trinität, das Entgegenkommen Gottes zum Menschen, ganz auf den Betrachter aus und inszeniert die liebende Zuwendung der göttlichen Personen zueinander als beglückendes Seherlebnis. Gütig, huldvoll, konzentriert, ruhig und nachdenklich blicken Vater und Sohn dem Betrachter tief in die Augen. Im Schatten ihrer Bärte sprechen sie ihn leise an. Passend zur Interaktion von Vater, Sohn und Geist, ihrer räumlichen Anordnung zueinander und zu ihrer Ausrichtung auf den Betrachter, kann man so beim Vater etwa die Präsentationsformel mitdenken: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich ein Wohlgefallen habe“ (Mt 3,17; Mt 17,5; Lk 3,22; Joh 1,34). Beim Sohn klingt ähnlich die prägnante Zusammenfassung seines Offenbarungs- und Erlösungswerks mit: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, außer durch mich“ (Joh 14,6). Anschließend hört man dort vielleicht die eucharistische Präsentations- und Einsetzungsformel: „Das ist mein Leib, […] dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,26 und 26,28). An der Spitze der gesamten Trinität ist aber auch der Missionsauftrag Christi mitzudenken: „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Mt 28,19).66 Die Veranschaulichung der Offenbarung, in der die drei Personen des einen Gottes aus der Tiefe des unbegehbaren Lichts heraus immer näher an den Betrachter heranrücken, so dass die Szene sich ganz unmittelbar vor dessen Augen abspielt und das Fensterkreuz des Betrachterraums sich sogar in dem von Gottvater gehaltenen Globus spiegelt, steigert Wolffort zudem in einem Detail, das eine geradezu taktile Wahrnehmung der offenbarten Präsenz Gottes direkt am Körper des Betrachters weckt. Die acht Werkstattfassungen des Bildes67 sowie weitere neun Kopien, die sich davon ableiten,68 lassen Christus zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten die Seitenwunde präsentieren (ostentatio vulnerum). In drei aus Wolfforts Werkstatt stammenden Fassungen69 sowie in zwei danach außerhalb des Werkstattzusammenhangs entstandenen Kopien70 lässt Christus aus der Seitenwunde sogar einen Blutstrom in den Betrachterraum hervorschießen. Auch Wolfforts virtuos gemaltes Original wird bis zu einer älteren Restaurierung wohl noch die Seitenwunde gezeigt haben, ohne die der gesamte Zeigegestus Christi unverständlich bliebe, sowie den Blutstrahl, der über die ästhetische Grenze hinweg aus dieser Schnittstelle hervorbricht. In der gesamten Offenbarungs- und Erlösungsbewegung Gottes aus der Glorie vom Vater durch den Sohn zum Menschen wie auch in deren Steigerung – der direkten Zuwendung des Gnadenstroms, den der Auferstandene als Teil der Trinität aus der Seitenwunde als Quelle der Gnade und des Heils jedem Betrachter spendet – entwi66 Für Hinweise hierzu danke ich Michael Böhnke. 67 Nr. (1) – Nr. (8) in Anm. 3. 68 Nr. (9) – (13) in Anm. 3. 69 Nr. (6) – (8) in Anm. 3. 70 Nr. (11) u. (12) in Anm. 3.
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Ulrich Heinen
ckelt Wolffort eine eigenständige visuelle Auslegung der katholischen Trinitätslehre.71 Auf vollständig neue Weise kombiniert er hierzu verschiedene Bildformulare, in denen der Gnadenstrom des Erlösungsopfers von Christus – sei es als Gekreuzigter oder als Schmerzensmann, sei es als Auferstandener – einen alten Ursprung hat und auch in der katholischen Trinitätsikonographie geläufig ist, aber auch in der lutherischen Erlösungsikonographie besonders betont werden konnte.72 Wolfforts zentraler Bildaussage, dass Gott sich als Trinität in Christus zum Medium seiner selbst macht, um die Distanz des Menschen zu Gott ein für alle Mal zu überwinden, hätten so gewiss auch Lutheraner zustimmen können. In einer irenischen Formulierung73 integriert das Gemälde so den gesamtchristlichen, aber von Luther besonders fokussierten Glauben an die Erlösung durch Christi Opfer mit dem katholischen Trinitätsverständnis, das die sakramentale Zuwendung der durch Leid, Tod und Sieg Christi erwirkten Gnade darüber hinaus dann noch spezifisch mit dem Sakrament der Eucharistie verbindet. Dieselbe Suche nach einer gesamtchristlichen Trinitätsauffassung dokumentiert ja auch die Aufnahme des diagrammatisch reflektierten Trinitätsverständnisses, das Wolffort auf dem Pluviale Gottvaters entwickelt, in die überwältigende Veranschaulichung der mystischen Selbstoffenbarung der Trinität und des Erlösungswerks Christi. Den bei Augustinus formulierten Widerspruch und den daraus entwickelten jahrhundertealten Medienkonflikt zwischen einem mystischen und einem rationalen Zugang zum Trinitätsglauben erklärt Wolffort dabei für aufgehoben, indem er die rationale Reflexion der Trinität dem mystischen Offenbarungsverständnis als visuelle Randbemerkung anerkennend beifügt. Indem das Bild im Bild die Kippfigur zwischen einer Gottesauffassung vorführt, in der die Einheit (tricephalus), und einer, in der die Dreiheit (triandros) der Trinität betont ist, wird zudem unmittelbar fasslich, dass die Integration der Einheit in der Trinität und der Trinität in der Einheit weder eine alleinige Sache der Rationalität, noch eine alleinige der Mystik ist. Vielmehr eröffnet Wolffort dort, wie oben angesprochen, die Erfahrung, dass die beiden einander rational ausschließenden Bestimmungen der Trinität in der Wahrnehmung und Vorstellung desselben Bildes im Wechsel miteinander jeweils neu aktualisiert werden. Mit dem Oszillierenlassen der Vorstellung überschreitet Wolffort aber die rein rationalen Trinitätsvorstellungen und macht dem Betrachter einsichtig, dass einer widerspruchsfreien Wahrnehmung der Trinität die aktive Veränderlichkeit der menschlichen Wahrnehmung und Vorstellung einerseits entgegensteht und dass 71 Vgl. Catechismus (wie Anm. 56), besonders Pars I, Cap. II, Qu. 10–15, S. 20–26; Cap. III, Qu. 3, S. 31; Cap. IV, Qu. 4, S. 43; Cap. V, Qu. 5, S. 52; Cap. IX, Qu. 1–6, S. 89–93. 72 Zur jeweiligen Konfessionalität von Darstellungen des Blutstrahls vgl. etwa Fleck, Miriam Verena: Ein tröstlich Gemelde. Die Glaubensallegorie Gesetz und Gnade in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Korb 2010. S. 408, 478. 73 Zur Bedeutung der Irenik in den Habsburgischen Niederlanden vgl. Louthan, Howard: The Quest for Compromise. Peacemakers in Counter-Reformation Vienna, Cambridge u.a. 1997; siehe auch Esposito, Teresa: Peter Paul Rubens, a Student of Nature in Post-Tridentine Europe, Diss. Ghent 2018, unveröffentlichtes Manuskript 2020, S. 11 f.; ich danke der Autorin für Einsicht in das Manuskript.
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gerade diese Veränderlichkeit andererseits die Integration scheinbar unvereinbarer Trinitätsverständnisse garantiert. So führt das Bild im Bild das schon von Augustinus betonte Unvermögen der menschlichen Sprach- und Vorstellungskraft ganz unmittelbar vor, an der jedes bloß auf begriffliche Eindeutigkeit oder körperliche Vorstellung dringende Erfassen der Trinität scheitern muss. Doch auch dies ist nicht Wolfforts letztes Wort in der Überwindung der Medienkonflikte um die Trinität. Die Einbettung der dreifigurigen oder dreiköpfigen Figuration der Trinität in ein golddurchwirktes Bildfeld, in dem sie im himmlischen Licht blitzartig erstrahlt, wiederholt zugleich die Konstellation von Licht und Figuren aus dem Hauptmotiv des Gemäldes. Die in tricephalischen und triandrischen Darstellungen der Trinität bis dahin noch nie gesehene Wolkenbank, auf der diese Figuration herbeischwebt, tut ein Übriges, um auch dieses Vexierspiel mit dem diagrammatischen Bild von Dreieinheit oder Dreifaltigkeit in eine Vision der Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes aufzulösen und so alle Eindeutigkeit der Veranschaulichung rationaler Definitionen samt ihrer rationalen Negationen in der Offenheit eines mystischen Trinitätsglaubens für die Selbstoffenbarung der Trinität zu negieren, aber auch als Teil eines umfassenderen Trinitätszugangs aufzubewahren. So erweist sich die Argumentation der visuellen Randbemerkung als noch komplexer als jede philologische oder rationale Erörterung der Trinität, wie man sie in Kommentaren der Zeit zur Trinität findet. Gottes trinitarische Selbstoffenbarung eröffnet bei Wolffort nicht nur die heilsökonomische Versöhnung des Medienkonflikts, den der Mensch durch seinen Abfall von Gott verschuldet hat. Das konfessionsirenische Programmbild präsentiert die christliche Offenbarung des „Geheimnisses, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war“ (Kol 1,26), zudem als differenziertes Angebot zur allumfassenden Integration der konfligierenden Trinitätsauffassungen und zeigt diese als nur scheinbar unvereinbar. Die Aufhebung des rationalen Widerspruchs zwischen der tricephalischen und der triandrischen Trinitätserklärung in einer oszillierend wahrzunehmenden Kippfigur, die Überführung dieser diagrammatischen Formen in eine mystische Vision sowie deren Würdigung als interpikturaler Kommentar zum Gesamtmotiv, und in diesem Motiv dann die Entwicklung der inneren Beziehung der göttlichen Personen auf den Betrachter hin sowie die Betonung der darin begründeten interkonfessionell gültigen Erlösungstheologie geben in einem integralen Gesamtbild ein anschauliches Modell zur diskursiven Versöhnung aller scheinbaren Glaubensgegensätze. Wolfforts Hl. Dreifaltigkeit führt vor, dass in der Offenbarung der Trinität des einen Gottes, die selbst Grund der religiösen Medienkonflikte ist, alle religiösen Medienkonflikte immer schon aufgehoben sind, und demonstriert, wie methodische bildtheologische Arbeit dies systematisch begreiflich machen und so zur Versöhnung der jahrhundertalten Kontroversen um den Trinitätsglauben fundamental beitragen kann. Wie sich bei Floris die gesamte Kommune im konfessionell polarisierten politischen Kampf unter dem Schutz der Trinität versammeln konnte, so bietet Wolffort an, sich jenseits aller Konfessionstreitigkeiten vor der Selbstoffenbarung Gottes zu ver-
sammeln und – um Gottes Willen – alle scheinbaren Differenzen als Beitrag zu einem Gesamtbild der Trinitätsoffenbarung diskursiv beizulegen, das menschlichem Begreifen zwar nicht konsistent erscheinen mag, bei Gott aber in Wahrheit konsistent ist.
Abbildungsverzeichnis Abb. 0.1: Neukirchen b. Hl. Blut. Fotografiert von Claus-Michael Ort, 2020. Abb. 0.2: Fortunat Hueber, Zeitiger Granat-apfel Der allerscheinbaristen Wunderzierden In denen Wunderthätigen Bildsaulen Unser L. Frawen / der allerheiligsten Jungfräwlichen Mutter Gottes MARIA Bey zweyen hoch-ansehentlichen Völckern der Bayrn und Boehamen. Besonders Von der Bluttfleissenden Bildsaulen der gnadenreichisten Himmelkönigin und Trösterin aller Betrübten Zu Newkirchen In Chur.Bayrn / am Ober Böhamer-Wald gelegen. München / Gedruckt durch Lucas Straub [...] 1671. S. 96; ND in: Fortunat Hueber. „Zeitiger Granat-apfel“. München 1671. Mirakelbuch des bayrisch-böhmischen Wallfahrtsortes Neukirchen bei Heilig Blut. Photomechanischer Nachdruck. Mit Nachwort und Register hrsg. von Guillaume van Gemert. Amsterdam 1983 (Geistliche Literatur der Barockzeit 4). Abb. 2. 1: Das ‚Prager Bild‘, 1585. In: Bremer, Kai: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104). S. 135. Abb. 2.2: Georg Scherer, Titelblatt Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Osiander. In: Bremer, Kai: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104). S. 143. Abb. 3.1: Jacques Granthomme, GABRIEL BETHLEN D.G. PRINCEPS TRANSYLVANIAE, PART. REGNI HUNGARIAE DOMINUS, ET SICULORUM COMES, &c., 1619, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 50, 1. Abb. 3.2: Anonym, Wahre Contrafactur vnnd Abbildung / deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Frsten vnd Herren / Herrn Betlehem Gabor / Frsten in Siebenbrgen / rc. Sampt einem Gesprch zwischen demselben vnd der Religion / sampt dero zugethanen gemeinen Landsstnden gegenwertiges Kriegswesen betreffendt, 1620, o.O., Universitätsbibliothek Göttingen, 2°Hist.germ.un.VIII, 82 Rara, 32. Abb. 3.3: Anonym, Der Union Misgeburt, 1621, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 96, 5. Abb. 3.4: Anonym, Trewhertz warnung, An die gantze werthe Cristenheit, das man sich in gegenwertiger zeit, fur den einschleichenden Turckischen Bluthhundt wol vorzusehen hat, ca. 1621, o.O., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G 50,25. Abb. 7.1: Orgelempore der Kirche zu Mellenthin. Fotografiert vom Verfasser. Abb. 7.2: Erstes Emblemgemälde an der Orgelempore der Kirche zu Mellenthin. Alle Emblemgemälde photographiert vom Verfasser. Abb. 7.3: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 147. Abb. 7.4: Zweites Emblemgemälde. Abb. 7.5: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 157. Abb. 7.6: Drittes Emblemgemälde. Abb. 7.7: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 273. Abb. 7.8: Viertes Emblemgemälde. Abb. 7.9: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 458. Abb. 7.10: Fünftes Emblemgemälde. Abb. 7.11: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), II, zu S. 109. Abb. 7.12: Sechstes Emblemgemälde. https://doi.org/10.1515/9783110725193-014
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 7.13: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 181. Abb. 7.14: Siebtes Emblemgemälde. Abb. 7.15: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 12. Abb. 7.16: Achtes Emblemgemälde. Abb. 7.17: Johannes Lassenius: Heiliger Perlen-Schatz […]. Kopenhagen, Leipzig 1701 (ULB Halle/S. AB 42 14/i, 12), I, zu S. 375. Abb. 10.1: The Annunciation to Mary, ca. 1475. In: Henry, Avril (Hrsg.): The Mirour of Mans Saluacioun: A Middle English Translation of Speculum Humanae Salvationis; a Critical Edition of the Fifteenth-Century Manuscript Illustr. from Der Spiegel der Menschen Behältnis. Speyer: Drach, c. 1475. Aldershot 1986. S. 66. Abb. 12.1: Artus Wolffort, Hl. Dreifaltigkeit, ca. 1620, Antwerpen. Fotografiert von Peter Mühlbauer. Abb. 12.2: Detail von Abb. 12.1.
Bio-Bibliographische Angaben Corinne Bayerl: Studium in München, Paris, Genf und Chicago. Promotion 2014 (Moral Philosophy and Pedagogy in the Work of Pierre Nicole). Senior Lecturer in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der University of Oregon. Seit 2018 Mitarbeiterin der internationalen Forschungsgruppe CAHSA (Collectif de l’anthropologie et de l’histoire du spirituel et des affects). Forschungsschwerpunkte: Jansenismus, Theaterfeindschaft, interkonfessionelle und interkulturelle Übersetzungspraktiken in der Frühen Neuzeit. Kai Bremer ist Professor für deutsche Literatur der Frühen Neuzeit im europäischen Kontext und Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Interdisziplinäres Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Seine neueren Forschungen widmen sich der europäischen Bibeltragödie sowie dem Zusammenhang von Konversion und Literatur in der Frühen Neuzeit. Zudem erforscht er das Versepos bis zur Gegenwart. Buchveröffentlichungen: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert (2005) sowie (hrsg. zusammen mit Stefan Elit) Forcierte Form, Deutschsprachige Versepik des 20. und 21. Jahrhunderts im europäischen Kontext. (2020). Dieter Fuchs ist Tenure-Track-Professor an der Universität Wien, neben der frühen Neuzeit befasst er sich schwerpunktmäßig mit James Joyce und High Modernism. Monographien: Joyce und Menippos. ‘Portrait of the Artist as an Old Dog’ (2006), eine Studie zur Elisabethanischen Rachetragödie ist in Begutachtung. Nicola Glaubitz ist seit 2018 Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Sie hat an den Universitäten Siegen, Darmstadt und Frankfurt sowie am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen in den Bereichen Anglistik, Medienwissenschaft und Digital Philology geforscht und gelehrt. Ein kürzlich abgeschlossenes Forschungsprojekt mit Julika Griem im DFG-Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten (SPP 1688) erforschte „Eigenzeit und Lesegemeinschaften: Zeitstrukturierung durch Langromane von den 1970er Jahren bis heute“ (20162019). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Sozial- und Diskursgeschichte der anglophonen Literatur, Lesekulturen, Medienästhetik, Wissenspoetik. Zahlreiche Aufsätze zum frühneuzeitlichen Drama, zu Ästhetik und Pragmatik des Langromans und zur Sozialgeschichte der britischen Literatur. Ralf Haekel ist Professor für Britische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. 2003 wurde er an der Freien Universität Berlin promoviert. Von 2008 bis 2016 war er Juniorprofessor für Englische Literatur und Kultur an der Georg-August-Universität Göttingen, an der er sich 2013 mit einer Arbeit über die Seele in der britischen Romantik habilitierte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Romantik, Irish Studies und Medientheorie der Literatur. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. The Soul in British Romanticism (2014) sowie das von ihm herausgegebene Handbook of British Romanticism (2017) Ulrich Heinen unterrichtete Kunst und Chemie am Gymnasium. Seit 2000 ist er Professor für Gestaltungstechnik und Kunstgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsgebiete: Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit, Design- und Kunstpädagogik, Grundfragen der Lehrerbildung. Publikationen: (Hrsg.) Welche Antike? - Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Akten des 12. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung. Kongreß in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 2 Bde. (2011). Kunstunterricht verstehen. Schritte zu einer systematischen Theorie und Didaktik der Kunstpädagogik, hrsg. mit Alexander Glas, Jochen Krautz, Monika Miller, Hubert Sowa und Bettina Uhlig (2015). Die Stimmen der Fächer hören. Fachprofil und Bildungsanspruch in der Lehrerbildung, hrsg. mit Michaela Heer (2019).
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Bio-Bibliographische Angaben
Kai Merten ist seit 2015 Professor für Neuere Englische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Promotion 2002 in München, Habilitation 2011 in Kiel. Forschungsschwerpunkte: Englischsprachige Literatur der Romantik und der Gegenwart, Literatur- als Mediengeschichte, Theater und Theatralität, postkoloniale Medienkulturen und New Materialism. Publikationen u.a.: Intermediales Text-Theater. Die Bühne des Politischen und des Wissens vom Menschen bei Wordsworth und Scott (2014). Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850, hrsg. mit Hansjörg Bay (2006). Postcolonial Studies Meets Media Studies: A Critical Encounter, hrsg. mit Lucia Krämer (2016). (Hrsg.) Diffractive Reading: New Materialism, Theory, Critique (2021). Christian Mühling, Dr., ist Historiker am Leibniz-Institut für europäische Geschichte in Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die abendländische Religionsgeschichte, die Geschichte der internationalen Beziehungen und die Sexualitätsgeschichte der Frühen Neuzeit. Seine Dissertation Die europäische Debatte über den Religionskrieg, 2018, wurde mit dem Deutsch-Französischen Dissertationspreis, dem Caspar Olevian-Preis und dem J. F. Gerhard-Goeters-Preis ausgezeichnet und ist 2021 in französischer Übersetzung bei Honoré Champion, Paris, erschienen. Gabriele Müller-Oberhäuser, Prof. em. Dr.: Englisches Seminar/Buchwissenschaft Universität Münster 1998-2015, Studium Englisch, Soziologie und Philosophie 1969-1975 Universität Köln, 1. Staatsprüfung 1975, 2. Staatsprüfung (Bibliothek) 1979, Promotion Universität Köln 1983, Habilitation Universität Münster 1990, Professur für mittelalterliche Literatur, Englisches Seminar Universität Kiel 1993-1998. Forschungsschwerpunkte: Zensurgeschichte des englischen Spätmittelalters und der Reformationszeit, Debatten in religiösen Konflikten und ihre Vermittlung im Manuskript und im Druck in England (14.-16. Jahrhundert), das Buch in symbolischer Kommunikation im englischen Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Bücher: (Hrsg.) Book Gifts and Cultural Networks from the 14th to the 16th Century (2019) sowie (hrsg. mit Teemu Immonen), Golden Leaves and Burned Books. Religious Reform and Conflict in the Long European Reformation (2020). Frank Nagel, Priv.-Doz. Dr., Akademischer Rat a. Z. am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Studium der Romanistik sowie der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität zu Köln, anschließend Promotionsstipendiat am DFG-Graduiertenkolleg „Imaginatio borealis“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität zu Kiel, Forschungsaufenthalte in Paris und Gotha. Monographien zur spanischen Gegenwartslyrik (Mythologia borealis. Szenen des Begehrens in der nördlichen Lyrik von Luis Alberto de Cuenca, 2014) und zur humanistischen Dialogliteratur (Das Wissen des Dialogs. Epistemische Reflexion und poetische Kreativität bei Pedro Mexía und Pedro de Mercado, erscheint 2021). Zahlreiche Aufsätze zu Literatur und Kultur des Siglo de Oro, zur spanischen Gegenwartsliteratur und zur französischen Lyrik. Claus-Michael Ort, Prof. Dr. phil., lehrt Neuere deutsche Literatur an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Promotion 1993 in München; Habilitation 1999. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Literatur in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, Nachkriegsavantgarden, Literaturtheorie und Literatursoziologie. Buchveröffentlichungen u.a. Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. 1998. Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. 2003. Hrsg. mit Hans-Edwin Friedrich: Recht und Moral. Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. 2015. Matthias Rekow ist promovierter Historiker und seit 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sammlungs- und Forschungsverbunds Gotha „Natur – Wissenschaft – Geschichte“ an der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt tätig. Er ist zudem Diplomingenieur (FH) für Vermessungswesen. Forschungsbereiche: Bild- und Flugpublizistik in der Frühen Neuzeit, Reformationsgeschichte und Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere Naturwissenschaften, Geschichte der Geodäsie und
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Kartographie. Publikationen: Fliegende Blätter. Die Sammlung der Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, 2 Bände (2016). Erneuerung und Eigensinn. Zwickaus Weg durch die Reformation (2017). Johann Anselm Steiger, Dr. theol., ist Universitäts-Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Er ist Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 2008 „Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit“ der Fakultät für Geisteswissenschaften. 1992 Promotion in Heidelberg, 1994 Habilitation in Leipzig, 1995–2001 Vertretungsprofessuren in Saarbrücken, Hamburg und Oldenburg, 2001 Berufung nach Hamburg, 2014/15 Fellow des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald, 2019 Gastprofessor am Sonderforschungsbereich 948 „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Reformation, Theologie und Frömmigkeit der Barockzeit, Aufklärung, Auslegungsund Mediengeschichte der Bibel, Grenzgebiete zwischen Historischer Theologie, Literatur- und Kunstgeschichte, Editorik. Zahlreiche Buchpublikationen, u. a.: Bibelauslegung durch Bilder. Zur sakralen Intermedialität im 16. bis 18. Jahrhundert (2018). Stephanie Wodianka, Dr. phil., ist seit 2010 Professorin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft der Universität Rostock. 2002 Promotion an der Universität Gießen, 2002 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 434 „Erinnerungskulturen“, 2008 Habilitation. 2011-2014 DFG-Projekt zur kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierung moderner Mythen, 2013-2017 Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ und seit 2014 Gründungsmitglied im DFG-Graduiertenkolleg „Deutungsmachtkonflikte in Religion und belief systems“. Forschungsschwerpunkte: Meditative Literatur der Frühen Neuzeit; Mythostheorie und Mythosgeschichte; individuelle und kollektive Identität in Literatur und Film; Literatur und die Künste. Buchpublikationen: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts (2004). Zwischen Mythos und Geschichte: Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur [Jeanne d’Arc / Matière de Bretagne] (2009). Hg., mit Martina Kumlehm: Kulturen des Streits. Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis (2021).
Register Abaelardus, Petrus 253, 254, 256, 257 Abraham a Sancta Clara 70 Achternbusch, Herbert 21 Ahmed I. 79 Ammaniti, Niccolò 21 Amort, Kaspar 10 Andreae, Jacob 66, 73 Angerer, Marie-Luise 3 Aristoteles 1, 238 Arminius, Jacobus 236 Arnauld, Antoine 134, 137 Arndt, Johann 153 Artaud, Antonin 130 Arundel, Thomas 47 Assmann, Aleida 247 Augustinus 251, 252, 254, 255, 262, 263, 266, 267 Bancroft, Richard 127 Barcos, Martin de 134 Bataillon, Marcel 183, 184, 185, 186, 190 Báthory, Gabriel 79 Becket, Thomas 40, 52 Becon, Thomas 121 Beer, Johann 142 Bellarmino, Roberto 252, 260–264 Belting, Hans 8, 16, 33 Bernhard von Clairvaux 254, 255 Bethlen, Gabriel 75–102 Bèze, Theodor de 125, 209 Biandrata, Giorgio 260, 261 Bocskai, Stephan 79 Bodenstein (gen. Karlstadt), Andreas 20, 23 Bœglin, Michel 183 Boleyn, Anne 228 Bolter, Jay David 243, 244 Boucquoi, Charles Bonaventure 82, 83 Bourbon-Conti, Armand de 132, 133 Bredekamp, Horst 12 Budowa, Wenzel Wilhelm Freiherr Budowecz von 92 Burchard von Cambrai 256 Burgkmair, Hans, d.Ä. 258 Burkett, Andrew 243 Calvin, Johannes 23, 28, 92, 93, 120, 232, 252, 263 https://doi.org/10.1515/9783110725193-016
Canisius, Petrus 66, 67 Caxton, William 56 Cecil, Robert 123 Cecil, William 123 Chapman, George 128 Christian I. von Anhalt-Bernburg 79, 82, 96, 100 Clerk, John 43 Cochläus, Johannes 46 Coecke van Aelst, Pieter 263 Corneille, Pierre 130, 133, 136, 138, 139, 144–146 Cramer, Daniel 156 Cranach, Lucas, der Ältere 30 Cranach, Lucas, der Jüngere 30 Cranmer, Thomas 58, 121 Crasset, Jean 212 Cromwell, Oliver 234, 235 Cromwell, Thomas 54, 58 Dach, Simon 160 Dannhauer, Johann Caspar 151 Dante Alighieri 223, 225, 228 d‘Aubignac, Abbé 138 Dávid, Ferenc 260, 261 Day, John 39 De la Chapelle, Jean 111, 113 Dekker, Thomas 117 Derrida, Jacques 7 Dilherr, Johann Michael 151 Drexel, Jeremias 70 du Plessis de Richelieu, Armand Jean 137 Eck, Johannes 21, 23 Eder, Georg 63 Eisenstein, Elizabeth 39 Elisabeth I. 116, 225, 229 Elsässer, Siegmund 65 Emser, Hieronymus 21–23 Erasmus von Rotterdam 184 Esterházy, Nikolaus 90 Fawkes, Guy 116 Ferdinand II. 65, 78, 81–83, 90, 94, 95, 102 Ferus, Georgius 10 Fisher, John 42 Floris, Frans 257–259 Fonseca, Alonso de 184
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Register
Foucault, Michel 8, 15, 192, 218 Foxe, John 39 Francke, August Hermann 140, 142 Franz II. Batthyány 99 Friedrich V. 78, 79, 81, 82, 87, 92–96, 100, 102 García Matamoros, Alfonso 185 Gerhard, Johann 153 Gerhard, Johann Ernst 151 Giesecke, Michael 33 Giesen, Christine 183, 186, 187 Gilbert von Poitiers 254, 255 Godard, Jean-Luc 22 Göding, Heinrich, d. Ä. 31 Goffman, Erving 218 Gosson, Stephen 139 Granada, Luis de 193 Granthomme, Jacques 87 Greenblatt, Stephen 218 Gregor der Große 16 Gregor von Valencia 260 Grusin, Richard 243, 244 Guillory, John 244 Gumbrecht, Hans Ulrich 119 Gustav II. Adolf 83 Hall, Edward 50 Hamon, Jean 208 Harsnett, Samuel 127 Hassel, Chris 224 Heinrich VIII. 40, 41, 43, 44, 47, 52–54, 57, 116, 220, 225, 228, 229 Hernández, Francisca de 184 Höfele, Andreas 219 Hofmann, Peter 26, 27 Homer 248 Homonna, Georg Drugeth de 80 Hörisch, Jochen 4, 5, 6, 117 Hueber, Fortunat 10, 11, 13, 17, 19 Huetter, Martin 9 Hus, Jan 32 Hutten, Ulrich von 220 Isokrates 235 Jacobus de Voragine 22 Jakob I. 94, 116, 218 Jakob II. 105, 106, 111, 114
Jocher, Wilhelm 96–98 Johannes von Damaskus 22 Johann Georg I. von Sachsen 82, 94 Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf 83, 99 Jonson, Ben 116 Jurieu, Pierre 212 Karl I. 219, 234 Karl V. 63, 185 Karl der Große 27 Kittler, Friedrich 223, 231 Klopstock, Friedrich Gottlieb 2 Koerner, Joseph Leo 30 Konstantin V. 24 Koschorke, Albrecht 231 Krüger, Oliver 1, 2, 4, 5 Lacan, Jacques 7 Lapide, Cornelius 262 Lassenius, Johannes 149 Latour, Bruno 3, 236 Lentz, Michael 32 Leopold I. 109, 110, 112, 113, 115 Leo X. 41 Locke, John 235 Longland, John 59 Lotter, Friedrich 23 Ludwig der Fromme 66 Ludwig XIV. 103–107, 110–115, 139 Luhmann, Niklas 32 Luther, Martin 4, 17, 20, 28, 31, 32, 33, 40, 120, 158, 185, 224, 252, 257, 258, 259, 266 Manilius, Marcus 160 Manrique, Alonso 184 Maria I. 116 Maria Stuart 219 Maria von Burgund 62 Marlowe, Christopher 130 Marsden, Lee 6 Marston, John 128 Maximilian I. 10, 80–82, 94, 96 Maximilian von Österreich 62 McLuhan, Marshall 4, 244 Meyer, Birgit 3 Meyer-Kalkus, Reinhart 231 Milton, John 232–249
Register
Molanus, Johannes 260, 262, 263 Molière 130, 144 More, Thomas 41 Moses 248 Müller, Heinrich 151 Müntzer, Thomas 20 Myers, Benjamin 235 Nicole, Pierre 130, 132–140, 143–147 Norbert von Xanten 253, 254, 257 Origines von Caesarea 18 Osiander, Lucas 61 Panofsky, Erwin 8, 16 Pascal, Mercier 132, 133, 146 Paul IV. 258 Paul V. 81 Pelayo, Menéndez 186 Petrus Lombardus 255 Pfeiffer, K. Ludwig 119 Philipp II. 65, 185 Platon 238 Ponce de la Fuente, Constantino 183 Pontanus, Jacob 73 Prynne, William 145 Pynson, Richard 42 Racine, Jean 130, 134 Rantzau, Detlev von 152 Richardson, Samuel 230 Rist, Johann 153 Roger von Pont L’Évêque 254, 255 Rosenbusch, Christoph 61 Rousseau, Jean-Jacques 132 Rubens, Peter Paul 262 Rudolf II. 62, 79 Sales, François de 203 Savigny, Heather 6 Scherer, Georg 61 Schleiermacher, Friedrich 2 Schnitzler, Norbert 7, 21 Scribner, Robert 34 Scupoli, Lorenzo 203 Senault, Jean-François 138
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Shakespeare, William 130, 215–231 Sickingen, Franz von 76 Sigismund III. Wasa 81 Sigl, Roman 9 Simonis, Linda 2 Smith, Nigel 237 Sommeren, Matthias van 10 Spinola, Ambrosio 82, 93, 94, 96 Sponde, Jean de 209 Staphylus, Friedrich 73 Steiger, Anselm 257 Strigel, Bernhard 63 Sustris, Lambert 63 Tertullian 131 Thomas von Aquin 1 Thurn, Heinrich Matthias von 83, 99 Tieck, Ludwig 2 Titzmann, Michael 15 Tizian 63 Tovar, Bernardino de 184 Trauttmansdorff, Franz Ehrenreich von 112 T’Serclaes von Tilly, Johann 84 Tunstall, Cuthbert 41 Tyndale, William 40 Vadés, Antonio de 185 Valdés, Fernando de 185 Valdés, Juan de 187 Valla, Lorenzo 220 van Haemstede, Adrian 259 Varet, Nicolas 135 Velázquez, Diego 9 Vergara, Juan de 184 Vergil 248 Vockerodt, Gottfried 140–147 Voet, Gijsbert 145 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 2 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius von 84 Wallich, Matthias 5 Warburg, Aby 8 Warham, William 42 Wasser, Harald 33 Wilhelm Egon von Fürstenberg 110 Wilhelm III. von Oranien 106, 108, 111 Williams, Raymond 243
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Register
Wolffort, Artus 250, 253, 260–263, 264–267 Wolsey, Thomas 41 Worde, Wynkyn de 45 Wyclif, John 32, 44
Zapata y Cisneros, Antonio 183 Žižek, Slavoj 7 Zwingli, Huldrych 23, 28, 120, 185