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German Pages 232 Year 2003
CARSTEN LUTZ
Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten
Rechtsfragen der Globalisierung Herausgegeben von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Erlangen-Nümberg
BandS
Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten Erste Bausteine einer Weltgerichtsordnung
Von
Carsten Lutz
Duncker & Humblot . Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1619-0890 ISBN 3-428-10957-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9
"Given the number of different international and domestic procedures, and the broad variety of problems which exist regarding coordination of linkage between the two levels, it is nearly impossible to systematize the procedures and their problems." (Meinhard Hilf, Mich. J. Int'[ L. 18 (1997),321 (329))
Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2002 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Dezember 2001 eingearbeitet. Vereinzelt konnte noch später erschienene Literatur berücksichtigt werden. Die Dissertation soll im besten Sinne des Wortes eine Grundlagenarbeit sein. Das Verhältnis zwischen nationalen und internationalen Gerichten ist bisher noch nicht umfassend dargestellt, geschweige denn systematisiert worden. Sie soll zu weiteren Forschungen insbesondere in den Bereichen anregen, die aus Platzgründen nur kurz behandelt werden konnten. Ungelöste Probleme gibt es genug. Es ist zu befürchten, dass durch die in letzter Zeit entstandenen internationalen Gerichte in naher Zukunft eine Vielzahl von Kompetenzkonflikten und Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen werden. Dank gilt natürlich meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Andreas Voßkuhle, der mir mit seiner aufmunternden Art und hohen fachlichen Kompetenz über so manche Klippe geholfen hat. Herrn Professor Dr. Rainer Wahl danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums. Mannheim im Juni 2002
Carsten Lutz
Inhaltsverzeichnis §1
Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Der Trend zur Internationalisierung gerichtlicher Verfahren. . . . . . .. II. Der Gang der Untersuchung ................................... 1. Die Strukturanalyse (Erster Teil) ............................ 2. Die Entwicklung von Grundbausteinen einer Weltgerichtsordnung (Zweiter Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Zwei verschiedene Rechtsordnungen als Grundtypen ............. 1. Die Hierarchierechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Erscheinungsformen .................................... b) Essenzielle Elemente einer Hierarchierechtsordnung ........ aa) Die einheitliche Auslegung und Anwendung durch ein "Norminterpretationsverfahren" ...................... bb) Der Vorrang der übergeordneten Rechtsordnung durch ein "Normenkontrollverfahren" ...................... 2. Die Parallelrechtsordnungen .... :............................ a) Erscheinungsformen .................................... aa) Grundrechte ....................................... bb) Völkerstrafrecht .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Rechtstheoretische und rechtspraktische Folgeprobleme .....
19 19 20 21 22 23 23 23 24 24 25 28 28 28 30 31
Erster Teil Grundprinzipien §2
Die Prinzipien der Vorrangzuständigkeit und der Komplementarität am Beispiel der konkurrierenden Zuständigkeit internationaler und staatlicher Strafgerichte .......................................... I. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Ausgangsüberlegungen ..................................... 2. Das Prinzip der Vorrangzuständigkeit (Das Jugoslawientribunal als ersetzende Strafrechtspflege) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Vorrang für die internationale Instanz ......... . . . . . . . . . . .. b) Einschränkung der Vorrangzuständigkeit durch das Prinzip Ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Das Prinzip der Komplementarität (Der Internationale Strafgerichtshof als ergänzende Strafrechtspflege) .................
33 33 33 35 35 38 39
10
Inhaltsverzeichnis
11.
§3
§4
a) Vorrang für nationale Gerichte ........................... b) Eingeschränkte Überprüfung nationaler Gerichtsentscheidungen 4. Entscheidungskompetenz und Beweislast. .................... Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. l. "Norrnenumsetzungs-" und "ProzessführungspfIicht" durch komplementäre Zuständigkeit .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die rechts gestaltende Funktion der Vorrangzuständigkeit ....... 3. Interpretationskonkurrenz zwischen den Rechtsordnungen ...... 4. Koordination der konkurrierenden oder parallelen Zuständigkeit
Das Prinzip der Aufgabenparallelität am Beispiel der bundesdeutschen Verfassungsgerichte ........................................ I. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Konkurrenzsituationen durch wachsende Bedeutung der Landesverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Aufgabenparallelität von Landes- und Bundesverfassungsbeschwerde ................................................. a) Die Aufgabenteilung bei der Überprüfung von Akten der Landesstaatsgewalt ..................................... b) Kompetenzerweiterung der Landesverfassungsgerichte bei der Anwendung von Bundesrecht ........................ 3. Folgeprobleme der Aufgabenparallelität ...................... a) "Rechtswegverdoppelung" durch faktischen Hinzugewinn einer Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Rückkopplungen zwischen Bundes- und Landesverfassungsgericht ................................................ aa) Rückkoppelung auf der Normebene .................. bb) Begrenzte Überprüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts ........................................... cc) Parallelisierung der Rechtsprechung durch Art. 100 Abs. 3 GG? ....................................... dd) Freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung .......... Il. Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. l. Verzahnung und Wechselbeziehungen zwischen den Parallelrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Umfassende Parallelrechtsordnung als Garant verfahrensrechtlicher Mindeststandards .................................... 3. Typische Probleme der Aufgabenparallelität .................. 4. Steuerbares Abhängigkeitsverhältnis ......................... 5. Rechtsprechungsdelegation an die untergeordnete Parallelrechtsordnung ..................................................
39 41 41 44 44 46 48 49 50 50 50 51 51 53 55 55 55 56 57 57 58 59 59 60 61 61 63
Das Prinzip der Instanzerweiterung am Beispiel der internationalen Menschenrechtsgerichtshöfe ...................................... 64 I. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 64 l. Verfahren................................................. 64
Inhaltsverzeichnis
11.
§5
a) Der neue ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ........................................ b) Der Menschenrechtsausschuss des IPBürgR ............... 2. Beschränkung des Prüfungsgegenstands auf die jeweilige Parallelrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Normenkontrolle staatlichen Rechts ......................... 4. Konfliktvermeidungsstrategien .............................. a) Zwischen BVerfG und EGMR ........................... b) Zwischen EGMR und MR-Ausschuss ..................... aa) "una via electa" (Art. 35 EMRK) - Koordination durch Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) "pendente lite" (Art. 5 Abs. 2 FP) - Der MR-Ausschuss als "Superrevisionsinstanz" .......................... Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Das Phänomen hierarchisch strukturierter Parallelrechtsordnungen 2. Die Aufgabenverteilung bei der Normenkontrolle staatlichen Rechts ................................................... 3. Wechselseitige Abhängigkeit der Zulässigkeitsvoraussetzungen 4. Überkomplexität des derzeitigen nationalen und internationalen Grundrechtsschutzes .......................................
11
64 65 66 67 68 68 69 70 70 71 71 75 75 76
Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs: Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 79 I.
11.
Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 79 1. Die Besonderheiten des Vorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 79 a) Vorlageverfahren statt hierarchischer Strukturen. ........... 80 b) Wahrung der Rechtseinheit innerhalb der Hierarchierechtsordnung ohne hierarchische Strukturen. ................... 80 2. Das Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 81 a) Die Verzahnungsfunktion: Strikte Aufgabenteilung ......... 81 b) Mittelbare Normenkontrolle der untergeordneten Rechtsordnung............................................... 83 c) Kein Rechtsbehelf bei Verletzung der Vorlagepflicht . . . . . . .. 84 aa) Sanktionen innerhalb des nationalstaatlichen Rechts .... 85 bb) Auflösung der Gleichordnung durch Einführung eines Rechtsmittels zum EuGH. ........................... 87 cc) Mittelweg: Renvoi dans l'interet de la loi ............. 87 Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90 1. Einfache Realisierbarkeit durch strenge Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90 2. Effizienzgesichtspunkte des institutionalisierten Dialogs . . . . . . .. 91 3. Stufenlose Annäherung des Vorlageverfahrens an ein klassisches Gerichtssystem ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 92 4. Das Problem der Verfahrensverlängerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 93
12
Inhaltsverzeichnis
§6
Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts" als Wesensmerkmal des Konflikts zwischen BVerfG und EuGH .................... I. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die Verortung des Konflikts - Quis iudicabit? ................ 2. Das "Kooperationsverhältnis" - Von "Solange I" zum Bananenmarktbeschluss .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. Strukturanalyse .............................................. 1. Das "Kooperationsverhältnis" als ruhender Kompetenzvorbehalt 2. Das Phänomen der "hinkenden Hierarchierechtsordnung" ......
§7
§8
Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses" als Teilaspekt des Konflikts zwischen EGMR und EuGH .................. I. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konflikt zweier regionaler Rechtsordnungen .................. 2. "Umgekehrtes Kooperationsverhältnis" oder Primat des EGMR 11. Strukturanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenzkonflikte zwischen internationalen Organisationen ... 2. Konflikt zwischen effektiver Sicherung der Grundrechte und Integrationsoffenheit ....................................... 3. Konflikt internationaler Rechtssysteme mit regionalen oder internationalen Menschenrechtsschutzsystemen .................... 4. Das "umgekehrte Kooperationsverhältnis" zur pragmatischen Entschärfung von Konfliktsituationen ........................ Die Prinzipien der Gleichrangigkeit und der Unterordnung ......... Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die konkurrierenden Auslegung völkerrechtlicher Verträge ..... 2. Hierarchische Strukturen zwischen internationalen Organisationen ...................................................... 11. Strukturanalyse .............................................. 1. Konfliktverrneidung zwischen gleichrangigen internationalen Rechtssystemen ........................................... 2. Die unvollständige Hierarchierechtsordnung .................. I.
§9
95 95 95 98 101 101 103 106 106 106 107 111 111 112 114 116 117 117 117 118 122 122 123
Zusammenfassung des Ersten Teils ............................... . 125
Zweiter Teil
Grundbausteine einer Weltgerichtsordnung § 10 Vergleichende Strukturanalyse der Aufgabenverteilungsprinzipien ... 127 I. Systematisierung und Weiterentwicklung der Aufgabenverteilungs-
prinzipien ................................................... 127 1. Die verschiedenen Verknüpfungse1emente innerhalb einer Hierarchierechtsordnung ......................................... 129
Inhaltsverzeichnis a) Die Aufgabenverteilung innerhalb des Norminterpretationsverfahrens ............................................. aa) Das Prinzip der eigenständigen Norminterpretation ..... (I) Die Nachteile .................................. (2) Der Gedanke der gegenseitigen Bindungswirkung (stare decisis) .................................. (3) Die Idee des "Gemeinsamen Senats" . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Prinzip der vorauseilenden Rechtsprechungssynchronisierung (I' interpretation conforme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs (fakultatives Verfahren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. dd) Zwingendes Vorlageverfahren als Mindestvoraussetzung einer Hierarchierechtsordnung ....................... ee) Das Prinzip der internen Kontrolle ................... ff) Das Prinzip der nachträglichen Kontrolle: Der "Renvoi dans I' interet de la loi" ............................. (I) Aufgabe der strikten Aufgabenteilung ............. (2) Die retardierende Wirkung ............... . ....... gg) Das Prinzip der Nichtvorlagebeschwerde .............. hh) Die Schwachstelle der Rechtsanwendung .............. b) Die Aufgabenverteilung innerhalb des Normenkontrollverfahrens .................................................. aa) Normenkontrolle durch das untergeordnete Gericht ..... bb) Aufgeteilte Zuständigkeiten ......................... cc) Eingeschränkte Normenkontrolle durch das internationale Gericht ...................................... . dd) Normenkontrolle durch das internationale Gericht ...... ee) Bewertung ........................................ 2. Die verschiedenen Verknüpfungselemente zwischen Parallelrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Das Prinzip der Aufgabenparallelität ..................... b) Das Prinzip der relativen Subsidiarität .................... c) Das Prinzip der freiwilligen Rechtsprechungssynchronisierung .................................................. d) Überprüfung verfahrensrechtlicher Mindeststandards . . . . . . . . e) Das Prinzip der Komplementarität ........................ f) Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs: Voriageverfahren bei wort- oder inhaltsgleichen Normen ................ g) Sanktion der Nichtvoriage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Das Prinzip der Vorrangzuständigkeit ..................... i) Das Prinzip der Instanzerweiterung (hierarchisch strukturierte Parallelrechtsordnungen) ................................ 3. Beliebige Kombinierbarkeit der Einzelelemente (Baukastenprinzip) ..................................................
13
129 129 131 13 3 134 135 137 138 139 140 140 143 143 145 145 147 147 148 148 148 151 152 154 157 159 160 162 163 163 165 166
14
Inhaltsverzeichnis 11.
Kompetenzkonflikte (Zusammenfassung) ........................ 166 1. Kompetenzkonflikte durch Reservezuständigkeiten ............ 167 2. Kompetenzkonflikte durch Inkompatibilität von Zuständigkeitsnormen .................................................. 168
§ 11 Eigener Ansatz: Bausteine einer WeItgerichtsordnung .............. 169
I. 11. 111. IV. V.
VI.
VII.
These: Durchsetzung der Hierarchierechtsordnung als Grundform .. These: Notwendigkeit einer eindeutigen Regelung des Vorrangverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. These: Die Utopie einer weltweit geltenden Hierarchierechtsordnung ........................................................ These: In der Regel keine Auslegung oder Anwendung einer fremden Rechtsordnung durch internationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . .. These: Unerlässlichkeit tief greifender Veränderungen des nationalen Rechtsmittelsystems auf Grund vermehrter Einbeziehung internationaler Spruchkörper ...................................... . 1. Verkürzung des nationalen Rechtswegs auf maximal zwei Instanzen ...................................................... 2. Das endgültige Urteil als "gemeinsames Produkt" aller beteiligten Gerichte .............................................. 3. Die Zulassungsberufung als Lösungsweg bei Beibehaltung des dreistufigen nationalen Gerichtsaufbaus ...................... These: Überlastungsschutzmechanismen sind für die internationalen Instanzen nötig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Vertikale Ressourcenverteilung ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Modifizierter Renvoi "dans l'interet de la loi" als Alternative zu einem Vorlageverfahren ................................... . These: Implosion der Rechtspflege durch Zunahme internationaler Rechtssysteme ............................................... 1. Koppelung jedes internationalen Rechtssystems an ausschließlich ein Grundrechtsschutzsystem ............................... 2. Gesamtzuständigkeit kraft Sachzusammenhangs - ein rechtspolitischer Ausblick ...........................................
169 172 172 173
174 174 179 180 181 183 186 188 189 191
§ 12 Gesamtbetrachtung und Ergebnis ................................ . 194
Anhang: Zusammenstellung der angesprochenen Rechtsvorschriften ...... 200 Literaturverzeichnis ................................................... 207 Stichwortverzeichnis .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Abkürzungsverzeichnis ABlEG AJIL AMRK AVR BeriVerfGHG
BFH BgbVerfGG Brüssel-I-VO
BVerfG BVerwG CISG CMLRev. Diss. DR DSB DSU
EG EGMR EKomMR E.L.Rev. EMRK
EU EuG EuGH EuGVÜ
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft American Journal of International Law Amerikanische Menschenrechtskonvention Archiv des Völkerrechts (Zeitschrift) Berliner Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Bundesfinanzhof Gesetz über das Verfassungs gericht des Landes Brandenburg Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vom 22. Dezember 2000, Sartorius 11 Nr. 161 Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Convention on Contracts for the International Sale of Goods, Einheitliches UN-Kaufrecht, Sartorius 11 Nr. 465 Common Market Law Review (Zeitschrift) Dissertation Decisions and Reports of the European Commission of Human Rights Dispute Settlement Body Dispute Settlement Understanding, Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten innerhalb des WTO-Übereinkommens, BGBL 1994 11 S. 1749. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Amsterdamer Vertrages Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Review (Zeitschrift) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, mittlerweile ergänzt durch 11. Zusatzprotokolle, Sartorius 11 Nr. 130 Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Amsterdamer Vertrages Gericht erster Instanz beim EuGH (Art. 225 EG) Europäischer Gerichtshof Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968, Sartorius 11 Nr. 160.
16 Fn. FP
FfD GA GATT GVG GWB HessStGH HessStGHG HRLJ ICC ICLQ IGH ILC InStGH IPBürgR IRG ISGH JugStGHG
JugT JugTSt LV LVerfG Mich. J. Int'1 L. MR-Ausschuss NGO NJIL ÖJZ OVG RabelsZ RGB!. Rn. RomSt
Abkürzungsverzeichnis Fußnote Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.Dezember 1966, Sartorius 11 Nr. 20 a Financial Times Deutschland Generalanwalt General Agreements on Tariffs and Trade, Allgemeines Zollund Handelsabkommen Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Hessischer Staatsgerichtshof Gesetz über den Staatsgerichtshof des Landes Hessen Human Rights Law Journal (Zeitschrift) International Criminal Court International and Comparative Law Quarterly (Zeitschrift) Internationaler Gerichtshof International Law Commission Internationaler Strafgerichtshof Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, Sartorius 11 Nr. 20 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, NOMOS Texte Strafrecht Nr. 27 Internationaler Seegerichtshof Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz) vom 10. April 1995, BGBL I. 1995, 480. Jugoslawien-Tribunal Statut des Jugoslawien-Tribunals, UN-Dokument S125704 (1993). Deutsche Übersetzung in BT-Drucksache 13/57 Landesverfassung Landesverfassungsgericht Michigan Journal of International Law (Zeitschrift) Ausschuss des IPBürgR (Art. 28 ff. IPBürgR) non-governmental organization (Nichtregierungsorganisation, nichtstaatliche Organisation) Nordic Journal of International Law (Zeitschrift) Österrreichische Juristenzeitung (Zeitschrift) Oberverwaltungsgericht Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Reichsgesetzblatt Randnummer Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, UNDokument AI ... Deutsche Übersetzung in BT-Drucksache
Abkürzungsverzeichnis RTDE RuandaTSt RUDH SächsVerfGH Sig. SRÜ
UCC UN Un Doc. VA VB VG VO Völ VVDStRL WTO WTOÜ ZaöRV ZEuS ZtRV
2 Lutz
17
Revue Trimestrielle de Droit Europeenne (Zeitschrift) Statut des Ruanda-Tribunals, UN-Dokument S/S/RES/955 (1994). Deutsche Übersetzung in BT-Drucksache 13/7953 Revue universelle des droits de I'Homme (Zeitschrift) Sächsischer Verfassungs gerichtshof Sammlung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, BGBI. 1994 11 S. 1799, Satorius 11 NI. 350. In Kraft getreten am 28.7.1996 Uniform Commercial Code United Nations (Vereinte Nationen) Dokumente der Vereinten Nationen Verwaltungsakt Verfassungsbeschwerde Verwaltungsgericht EG-Verordnung (Art. 249 Abs. 3 EG) Vertreter des öffentlichen Interesses (vgl. z. B. §§ 35-37 VwGO) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer World Trade Organization (Welthandelsorganisation) Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation vom 15. April 1994, BGBI. 199411 S. 1625, Sartorius 11 Nr. 500 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Rechtsvergleichung
§ 1 Einführung I. Der Trend zur Internationalisierung gerichtlicher Verfahren In den letzten Jahrzehnten hat sich die organisatorische und rechtliche Verdichtung der Staatengemeinschaft durch neu entstandene internationale Gerichte erheblich beschleunigt. Neben dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) sind prominente Beispiele das gerichtsähnliche Streitbeilegungsverfahren der Welthandelsorganisation (WTO), die internationalen Strafrechtstribunale von Ruanda, Jugoslawien und Rom, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der Menschenrechtsausschuss (MR-Ausschuss) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. 1 Die Verschmelzung und gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Rechtsordnungen führt dazu, dass durch Klagen vor internationalen Gerichten nationale oder supranationale Urteile überprüft werden können oder dass deren Entscheidungen direkte oder indirekte Auswirkungen auf nationale Prozesse haben. Dies wirft die grundSätzliche Frage nach einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Gerichten auf nationaler, supranationaler und internationaler Ebene auf. Hill befürchtet angesichts der vielzähligen Verknüpfungen unter den Gerichten der verschiedenen Ebenen sogar, dass es fast unmöglich ist, die bestehenden Mechanismen mit ihren Problemen zu erfassen und zu systematisieren. Im Laufe der Arbeit wird versucht, diese Befürchtung zu widerlegen. Die bekannten Kompetenzkonflikte zwischen dem Europäischem Gerichtshof (EuGH) und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)3 zeigen freilich, dass das Zusammenspiel zwischen Gerichten verschiedener Ebenen alles andere als unproblematisch ist. 1 Der EuGH hat seine Arbeit 1952 nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl aufgenommen. Das WTO-Streitbeilegungsorgan besteht in seiner jetzigen gerichtsähnlichen Funktion sei 1994. Die Strafrechtstribunale der UN wurden in den Jahren 1993 und 1994 eingerichtet, der Internationale Strafgerichtshof nimmt seine Arbeit Anfang 2003 in Den Haag auf. Der für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMKR) zuständige EGMR konstituierte sich 1959, die damals vorrangig zuständige Europäische Menschenrechtskommission 1954. Seit 1998 besteht der EGMR als ständiger Gerichtshof, die Menschenrechtskommission wurde aufgelöst. Der UN-Menschenrechtsausschuss trat erstmalig im Jahr 1976 zusammen. 2 Mich. J. In1'l L. 18 (1997), 321 (329). 3 Dazu unten § 6 I. 2*
20
§ 1 Einführung
Charakteristisch für den Internationalisierungsprozess der Judikative sind zwei Faktoren: Das Hinzutreten mindestens einer weiteren Normebene und eines weiteren (internationalen) Gerichts. Schon an dieser Stelle wird man eine grundsätzliche Unterscheidung treffen können: Einmal kann einem internationalen Spruchkörper als Reaktion auf die Globalisierung, die einheitliche Regelungen über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus fordert, die Aufgabe übertragen werden, für eine einheitliche Auslegung und Anwendung des innerhalb der Vertagsparteien gemeinsam geltenden überstaatlichen Rechts verantwortlich zu sein. Diese Erscheinung soll als Hierarchierechtsordnung bezeichnet werden, die immer dann entsteht, wenn eine vorrangige internationale Rechtsordnung neben die weiterbestehenden nachrangigen (i. d. R. nationalen) Rechtsordnungen tritt (dazu sogleich III 1).4 In anderen Bereichen hält die Völkergemeinschaft eine Konfliktlösung allein durch nationale Gerichte nicht für ausreichend. Um Defizite auf diesen Ebenen auszugleichen, werden neben den bestehenden nationalen Rechtssystemen internationale Rechtsordnungen begründet, die mit ihren Spruchkörpern die nationale Rechtsprechung kontrollieren, ergänzen oder ersetzen können. Dieses Phänomen, das zur Zeit im Bereich des Menschenrechtsschutzes und dem Völkerstrafrecht zu finden ist, möchte ich als das der Parallelrechtsordnungen bezeichnen (dazu sogleich III 2).
11. Der Gang der Untersuchung Die Arbeit möchte anhand typischer Problemlagen und Konflikte das Zusammenspiel der verschiedenen nationalen, supranationalen und internationalen Gerichte daraufhin analysieren, ob sie tragfähige und auf zukünftig entstehende Systeme übertragbare Aufgabenverteilungsprinzipien zur Verfügung stellen. Was bisher fehlt, ist eine übergreifende strukturelle Analyse denkbarer Kollisionslagen zwischen den Gerichten der verschiedenen Ebenen; Vorhandenes beschränkt sich meist auf eine Untersuchung von Einzelkonflikten, z. B. dem Verhältnis des Internationalen Strafgerichthofs (lnStGH) zu den nationalen Strafgerichten. Erst im Vergleich und losgelöst von den Besonderheiten der jeweiligen Materie mit ihren spezifischen Problemen lassen sich die Vorzüge und Nachteile bestehender Systeme angemessen beurteilen. Hier setzt die vorliegende Arbeit an (Erster Teil). Auf dieser Grundlage sollen erste dogmatische Bausteine einer internationalen Rechtsmitteldogmatik - einer "Weltgerichtsordnung " - entwickelt werden (Zweiter Teil).
4 Als Beispiel sei nur das Verhältnis zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genannt.
11. Der Gang der Untersuchung
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1. Die Strukturanalyse (Erster Teil)
Ausgangspunkt der Untersuchung sind die bestehenden internationalen Gerichtssysteme, an denen beispielhaft Aufgabenverteilung und mögliche Kompetenzkonflikte zwischen nationalen, regionalen und internationalen Gerichten aufgezeigt werden sollen. 5 Unter Aufgabenverteilung verstehe ich im Folgenden die Aufteilung der Rechtsprechungskompetenzen auf verschiedene Gerichte, wie sie sich nach den geltenden Mechanismen ergibt. Bei einem Kompetenzkonflikt sind diese Zuständigkeiten widersprüchlich und in nicht auflösbarer Form auf verschiedene Gerichte aufgeteilt. Konflikte dieser Art sind in der Regel "Stellvertreterkonflikte" für die Konkurrenz verschiedener völkerrechtlicher Verträge bzw. dieser Verträge und dem nationalem Recht; sie stellen gleichsam die "institutionell-organisatorische Komponente,,6 einer Kollision von verschiedenen Rechtsordnungen dar. Werden beide Zuständigkeitsnormen richtig angewendet, führen sie zu überschneidenden oder sich gegenseitig ausschließenden Zuständigkeiten. 7 Zusätzliche Voraussetzung für einen Kompetenzkonflikt ist, dass zwei Gerichte nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Absicht haben, diese widersprüchlichen Kompetenzen in Anspruch zu nehmen. Untersucht wird im Einzelnen: Das Verhältnis der Internationalen Strafrechtstribunale zu den nationalen Strafgerichten (§ 2), das Zusammenspiel von Bundes- und Landesverfassungsgerichten (§ 3), ergänzt durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und den Menschenrechtsausschuss des IPBürgR (§ 4), sowie das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG (§ 5) als zentraler Mechanismus zur Koordinierung untergeordneter Gerichte innerhalb einer Hierarchierechtsordnung. Daran schließt sich der Kompetenzkonflikt zwischen BVerfG und EuGH an (§ 6). Daneben taucht vermehrt das Problem auf, dass verschiedene regionale oder internationale Rechtsordnungen mit ihren jeweils eigenen Gerichtssystemen untereinander in Konflikt geraten können. 8 Exemplarisch soll dies an dem Verhältnis zwischen dem EuGH und dem EGMR (§ 7) sowie zwischen dem EuGH und den Streitbeilegungsorganen der Welthandelsorganisation (WTO) (§ 8) dargestellt werden. Ziel der Arbeit ist jedoch nicht der Versuch, die vielen in Literatur und in der Rechtsprechung der Gerichte 5 Nicht untersucht werden Verfahren, die ausschließlich der Kon.trolle eines Hoheitsaktes internationaler oder supranationaler Organisationen dieIien und keinen Bezug zur nationalen Ebene haben, z. B. die Nichtigkeitsklage gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 230 EG. 6 Ruffert, AVR 38 (2000), 129 (148). Beispiel: Konflikt zwischen EuGH und BVerfG (unten § 6); Konflikt zwischen EuGH und EGMR (§ 7). 7 Allgemein dazu Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 375 ff. 8 Siehe unten § 7 (Konflikt zwischen EU-Recht und der EMRK), § 8 (Konflikt zwischen WTO-Recht und EU-Recht) und die weiteren Beispiele in § 8.
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vorhandenen Einzelkonflikte mit ihren dogmatischen Hintergründen nachzuzeichnen und einer erneuten Bewertung zu unterziehen. Denn die Fragen, ob und wer zur authentischen Interpretation, wer bei einem Streit zwischen mehreren Interpreten oder bei Zweifeln über die richtige Interpretation zuständig ist, sind vorwiegend rechtspolitischer Natur. Entsprechende Antworten können normiert werden und die wichtigsten müssen auch normiert werden. 9 Deshalb interessieren ausschließlich die einzelnen Aufgabenverteilungsprinzipien und Konfliktsituationen, die in Form einer Bestandsaufnahme (I) und einer anschließenden Strukturanalyse (11) herausgearbeitet werden. Nicht im Vordergrund steht die Frage, ob ein Prinzip in der geltenden Form etwa verfassungswidrig, vertragswidrig und daher unzulässig ist. Entsprechende Nachweise beschränken sich daher auf solche Fundstellen, die einen Überblick über Inhalt und Entwicklung des Konfliktverhältnisses bieten. 10
2. Die Entwicklung von Grundbausteinen einer Weltgerichtsordnung (Zweiter Teil) Im zweiten Teil sollen die vorgestellten Aufgabenverteilungsprinzipien in einer vergleichenden Analyse systematisiert und weiterentwickelt werden (§ 10). Um die einzelnen möglichen Verknüpfungselemente zwischen nationalen und internationalen Gerichten zu verdeutlichen, werden diese je nach Stärke der von der unteren Ebene abzutretenden Souveränitätsrechte in gleitend zunehmende Intensitätsstufen eingeordnet und auf ihre Vor- und Nachteile hin untersucht. Daran anschließend werden thesenhaft die Grundprobleme des beschriebenen Internationalisierungsprozesses aufgezeigt und mögliche Lösungsbausteine präsentiert. Diese Bausteine beschreiben Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit trotz zunehmender Internationalisierung und Verflechtung die Funktionsfähigkeit der einzelnen Rechtsund Gerichtssysteme und damit der Judikative insgesamt gewahrt werden kann (§ 11). In der heutigen Rechtsentwicklung stehen sich zwei Tendenzen diametral gegenüber. Zum einen ist eine immer größere Regionalisierung feststellbar, zum anderen werden immer mehr Kompetenzen auf höhere Ebenen verlagert; die zukünftige Weltordnung wird folglich föderal und stufenförmig aufgebaut sein müssen. Dieser Grundgedanke wird bei der Bewertung der Aufgabenverteilungsprinzipien zu beachten sein. Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 15. Auf Grund des Gegenstands der Arbeit lässt sich naturgemäß eine "deutsche" bzw. "europäische" Sicht nicht ganz vermeiden. Steht das Verhältnis zu nationalen Gerichten zur Diskussion, bezieht sich die Arbeit i. d. R. auf deutsche Gerichte. Ausländische Literatur ist in diesen Fällen nur ausnahmsweise einbezogen worden. 9
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III. Zwei verschiedene Rechtsordnungen als Grundtypen
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III. Zwei verschiedene Rechtsordnungen als Grundtypen Ein Ergebnis der Bestandsaufnahme wird sein, dass sich alle bisher existierenden Aufgabenverteilungsprinzipien zwischen nationalen und internationalen Gerichten auf zwei Grundtypen zurückführen lassen: die Hierarchierechtsordnung und die Parallelrechtsordnung. 1. Die Hierarchierechtsordnung a) Erscheinungsformen
Ziel einer Hierarchierechtsordnung ist Rechtseinheit. Als Hierarchierechtsordnung soll deshalb ein System aus Rechtsvorschriften verschiedener Ebenen bezeichnet werden, das entsteht, wenn neben bestehenden Rechtsnormen (hier bezeichnet als untergeordnete oder nachrangige Rechtsordnung) durch ein internationales Abkommen vorrangig geltende Rechtssätze geschaffen werden, die bei wenigstens zwei Vertragsparteien gleichlautend gelten und ihrem Sinn und Zweck nach auch gleich ausgelegt und angewendet werden sollen ("Internationales Einheitsrecht" 11, hier bezeichnet als übergeordnete oder vorrangige Rechtsordnung).12 In den meisten Fällen Diedrich, Internationales Einheitsrecht, S. 21. Die ungeklärte Frage, ob die entstehenden Systeme (wie z. B. das Europäische Gemeinschaftsrecht) ab einem gewissen Integrationsgrad eine einheitliche Rechtsordnun~ bestehend aus dem internationalen und dem nationalstaatlichen Recht in einem Uber-Unterordnungsverhältnis bilden oder auf gleicher Ebene als miteinander verschränkte Rechtsordnungen stehen (dazu eingehend am Beispiel des Konflikts EuGH-BVerfG Folz, Demokratie und Integration, S. 15 ff.; Heintzen, AöR 119 (1994),564 ff.), bleibt hier außer Betracht. Letztlich wiederholt sich hier der völkerrechtliche Streit zwischen den Vertretern des Dualismus und des Monismus (dazu Kunig, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Kapitel 2 Rn. 28 ff.). Zwar wird mit der Entscheidung für die eine oder andere Meinung immer wieder versucht, die vorhandenen Konfliktfälle zu lösen und den Vorrang einer Rechtsordnung damit zu begründen. Dies ist für das Ziel der Arbeit aber nicht entscheidend. Die Arbeit möchte vorhandene Konflikte aufzeigen und eine sinnvolle Arbeitsverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten vorschlagen, also vorschlagen, was völkerrechtlich "geschuldet" ist. Die Vertragsparteien müssen dies innerhalb ihres Rechtssystems ermöglichen, der völkerrechtliche Vertrag die Voraussetzungen dafür schaffen. Ob der "Vorrang" einer Rechtsordnung sich dann zwingend aus dem Erfordernis einer Normenhierarchie ergibt oder eine Rechtsordnung der anderen den Vorrang einräumt, ist dann sekundär. Gleiches gilt auch für nicht supranational organisierte Gebilde. Zwar beansprucht das internationale Recht dann nicht unmittelbare Wirkung im staatlichen Bereich, es muss erst in Recht der Vertragsparteien umgesetzt werden. Diese Umsetzung ist aber, samt eines möglicherweise vereinbarten Vorrangs, völkerrechtlich geschuldet. 11
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werden dies eine nationale und eine internationale Ebene sein. Zusehends treten aber auch supranationale Gebilde wie die Europäischen Gemeinschaften oder Internationale Organisationen anderen Rechtsordnungen bei (z. B. die EG der WTO). Im Folgenden wird deshalb allgemeiner von "Vertragsparteien", "Ebenen" und "über- bzw. untergeordneten Rechtsordnungen" gesprochen. Prominente Beispiele dieser Erscheinung sind das europäische Gemeinschaftsrecht und das UN-Kaufrecht. Eine weitere Hierarchierechtsordnung dürfte sich mit dem WTO-Recht für den freien Welthandel entwickeln, der ebenfalls keine Fragmentierung nach Regionen verträgt. In der Regel werden die vorrangig geltenden Rechtssätze unmittelbare Wirkung im Rechtsraum der Vertrags parteien besitzen. Inhaltlich bedeutet dies, dass der Hoheitsakt "Durchgriffswirkung" unmittelbar im innerstaatlichen Rechtsraum für und gegen den Einzelnen bzw. einzelne staatliche Stellen entfaltet. 13 b) Essenzielle Elemente einer Hierarchierechtsordnung
Voraussetzung einer Hierarchierechtsordnung ist, dass das gemeinsame Recht einheitlich ausgelegt und angewendet wird 14 (unten aa) und dass das gemeinsame Recht entgegenstehendem untergeordnetem Recht vorgeht (unten bb). aa) Die einheitliche Auslegung und Anwendung durch ein "Norminterpretationsverfahren" Ziel eines Normeninterpretationsverfahrens ist es, den Inhalt der Norm, d.h. dasjenige, was sie an Rechtswirkung erzeugen will, mittels der herkömmlichen Auslegungsmethoden zu bestimmen. 15 Denn zur Erreichung einer wirklichen Rechtsvereinheitlichung wird es nicht genügen, einheitliche Normen aufzustellen, sondern darüber hinaus muss für ihre gleichförmige Auslegung Sorge getragen werden; andernfalls bildet sich allmählich statt der erstrebten Rechtsgleichheit eine neue Rechtsverschiedenheit heraus; diesmal nur auf anderer Ebene. 16 Am Effektivsten - quasi im IdealSiehe dazu Classen, in: vMKS, Art. 24 Rn. 5 ff. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 280 ff., hat dies für die Hierarchierechtsordnung Europarecht folgendermaßen beschrieben: Die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft ist nur gesichert, wenn das einschlägige Gemeinschaftsrecht "in allen Mitgliedsstaaten einheitlich und unantastbar gilt und hierin nicht von unterschiedlichen Entscheidungen oder Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abhängt, die die Einheitlichkeit der Geltung aufheben würden. ". Zu den Begriffen Nonninterpretationsverfahren und Normenkontrollverfahren siehe Rühmann, Normenqualifikation, S. 24 ff. 15 Rühmann, Normenqualifikation, S. 30. 13
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fall - wird die Aufgabe der Rechtsvereinheitlichung von einem internationalen Gericht wahrgenommen (übergeordnetes Gericht).!7 bb) Der Vorrang der übergeordneten Rechtsordnung durch ein "Normenkontrollverfahren" Durch das Hinzutreten einer weiteren Rechtsebene können Normenkollisionen auftreten. Ein Normwiderspruch liegt vor, wenn auf Grund der von mehreren Normen angeordneten Rechtsfolgen nicht mehr erkannt werden kann, was bei einem gegebenen Sachverhalt rechtlich gefordert ist. Das setzt voraus, dass die beteiligten Normen Regelungen derselben Materie enthalten, mit anderen Worten Rechtsfolgen für denselben Sachverhalt anordnen oder Befehle hinsichtlich von Handlungen derselben Art erteilen. Ein echter Normwiderspruch in diesem Sinne wird sowohl zwischen Normen, die für denselben Sachverhalt einander ausschließende Rechtsfolgen anordnen, als auch zwischen Normen angenommen, die dieselbe Handlung zugleich gebieten und verbieten (echter Normwiderspruch). Daneben werden zu Recht als widersprüchlich auch Befehle angesehen, von denen der eine ausdrücklich erlaubt, was der andere verbietet, obwohl ein Verhalten möglich ist, das beiden Befehlen gleichzeitig gerecht wird, nämlich die Nichtausübung der gewährten Erlaubnis (unechter Normwiderspruch).!8 Ist der Normwiderspruch nicht durch Auslegung nach dem Prinzip der harmonisierenden Normeninterpretation zu beseitigen, besteht eine Normenkollsi on, die durch eine Kollisionsnorm aufgelöst werden muss. Eine Kollisionsnorm bestimmt das (Vor-)Rangverhältnis zwischen den Normen der beiden Rechtsordnungen.!9 Innerhalb einer Hierarchierechtsordnung gilt in der Regel ein generelles Vorrangprinzip, das die rechtliche Beziehung zwischen den unterschiedlichen Normebenen durch ein allgemeines, vorbehaltloses Rangverhältnis der Normen zueinander regelt (ähnlich dem bundesstaatlichen Grundsatz ,Bundesrecht bricht Landesrecht', Art. 31 GG).zo Die Riese, RabelsZ 1961,604 (614); Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1 (7). Siehe unten § 5 (Vorlageverfahren nach Art. 234 EG). Zu den Problemen, die entstehen, wenn keine internationale Instanz geschaffen wird, ausführlich unten §lOIIlaaa. 18 Siehe Schilling, Gestufte Rechtsordnungen, S. 377 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1465 f.; Dreier, Art. 31 Rn. 36 ff.; ausführlich Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), S. 331 ff. 19 Schilling, Gestufte Rechtordnungen, S. 396 ff. Aufgabe einer Kollisionsnorm ist es gerade, sicherzustellen, dass es auf die Frage nach dem anwendbaren Recht nur eine Antwort gibt. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 62; Stettner, Kompetenzlehre, S. 376 ff. 20 Siehe dazu beispielhaft das Verhältnis von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, unten § 6 I 1. Siehe auch Art. XVI WTOÜ. 16
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,weitere' Norm hat absoluten Vorrang 21 vor jeder entgegenstehenen ,niedrigeren' Rechtsnorm (wenn vereinbart, auch vor einer Verfassungsnorm der Teilnehmerstaaten), die in diesem Fall entweder unanwendbar oder nichtig ist. Für die Rechtmäßigkeit der ,übergeordneten Rechtsordnung' kommt es deshalb nicht auf deren Vereinbarkeit mit untergeordnetem Recht an. Der Vorrang der übergeordneten Rechtsordnungen muss durch ein Normenkontrollverfahren sichergestellt werden, durch das eine Norm der untergeordneten Rechtsordnung daraufhin überprüft wird, ob sie mit einer vorrangigen Rechtsnorm vereinbar ist. 22 Dieses Verfahren kann entweder losgelöst vom Einzelfall (abstrakt) oder im Rahmen eines anhängigen Verfahrens (inzident) durchgeführt werden, vollständig dem untergeordneten oder dem übergeordneten Gericht übertragen werden bzw. arbeitsteilig wahrgenommen werden. Dadurch ergeben sich völlig unterschiedliche Aufgabenverteilungsprinzipien, die im Laufe der Untersuchung herausgearbeitet werden?3 "Konstruktionsfehler" innerhalb einer Hierarchierechtsordnung treten auf, wenn die Abstimmung zwischen den bei den Ebenen unzureichend ist, weil das vereinbarte (Vor-)Rangverhältnis von den Gerichten einer Ebene nicht vorbehaltlos und eindeutig akzeptiert wird, die Reichweite der jeweiligen Kompetenzen von beiden Gerichten unterschiedlich bestimmt wird (Fall der "hinkenden" Hierarchierechtsordnung)24 oder in einer Hierarchierechtsordnung Normenkontroll- oder Normeninterpretationsverfahren nicht vollständig ausgeprägt sind (Fall der unvollständigen Hierarchierechtsordnung)?5 Als einfachstes Aufgabenverteilungsprinzip innerhalb einer Hierarchierechtsordnung drängt sich geradezu ein klassisch nationalstaatliches Gerichtssystem eines föderalen Staates mit Eingangsinstanz, Berufungs- und 21 Ob man in diesem Fall von einer Lex superior sprechen darf, ist umstritten. Teilweise wird gefordert, das Vorrangprinzip streng von der Frage der Normhierarchie zu trennen, da eine Norrnhierarchie nur innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung bestehen könne und dies für das Verhältnis von internationalem und nationalem Recht nicht zutreffe, vgl. am Beispiel des Europäischen Gemeinschaftsrechts von BogdandylNettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. I EGV Rn. 8 ff., 33 ff. Die Problematik ist die gleiche wie oben in Fn. 12 beschrieben. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 63 f. geht aber zu Recht davon aus, dass, wenn der Begriff des Vorrangs wie im Gemeinschaftsrecht - neben Geltungs- auch Anwendungsvorrang umfasst, die Annahme einer weitgehenden Bedeutungsgleichheit zwischen Vorrang und hierarchischer Überordnung vertretbar ist. Der Begriff Vorrang wird hier in diesem weiten Verständnis gebraucht. 22 Maunz, in: MDHS, Art. 93 Rn. 17; BK-Stern, Art. 100 Rn. 19 ff., 31 ff. 23 Siehe unten § 5 I 2 b (Vorlageverfahren nach Art. 234 EG), § 4 I 3 (EMRK vs. nationales Recht) und zusammenfassend unten § 10 I I b. 24 Siehe unten § 6 (Konflikt zwischen EuGH und BVerfG). 25 Siehe unten § 8 I 2 (Verhältnis WTO-EG).
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Revisionsinstanz auf. 26 Die Kompetenz des internationalen Gerichts als Revisionsinstanz wäre darauf beschränkt, angefochtene Entscheidungen untergeordneter Gerichte zu überprüfen; in der Auslegung wäre das Gericht auf das "revisible" internationale Recht beschränkt. Das untergeordnete Recht bliebe in der Verantwortung der jeweiligen Gerichte; dadurch wäre die internationale Instanz - von Ausnahmen abgesehen - an die Auslegung der nicht-revisiblen Rechtssätze durch die nachrangigen Gerichte gebunden. Hinzu käme die Funktion eines Verfassungsgerichtshofs, in der die internationale Instanz nachrangiges Recht auf Vereinbarkeit mit internationalem Recht überprüfen könnte (ähnlich der Normenkontrolle in Art. 93 Abs. I Nr. 2, 100 Abs. 1 S. 2 GG). Der hierarchische Aufbau vermeidet auf den ersten Blick Kollisionen und Zuständigkeitsprobleme. Normgeltungskonflikte zwischen nationalen und internationalen Rechtsnormen können durchgängig nach der lex superior-Regel gelöst werden. Rechtspraktisch überwiegen aber die Bedenken. Allgemein stehen Staaten einem Rechtszug von ihren nationalen zu internationalen Gerichten skeptisch gegenüber, da eine derartige Lösung ein Höchstmaß an Souveränitätsbeschränkungen erfordert, insbesondere weil das internationale Gericht Entscheidungen untergeordneter (nationaler) Gerichte aufheben könnte; dies wird immer noch als ein die Souveränität allzu weit beeinträchtigender Eingriff empfunden und hat sich (bis jetzt) nicht einmal in der EU durchgesetzt. 27 Erst wenn sich ein supranationales Gebilde zu einem Bundesstaat verdichtet, wird ein derartiger Instanzenzug wahrscheinlich unausweichlich werden. Die insbesondere durch das Vorlageverfahren nach Art. 234 EG und deren Abwandlung vorgeschla~ genen Aufgabenverteilungsprinzipien werden darauf zu untersuchen sein, ob sie funktionsfähige und souveränitätsschonende Alternativen zu einem klassischen Instanzenzug darstellen?8
26 Zur grundSätzlichen Konzeption siehe RosenberglSchwablGottwald, ZPR, § 134; Weitzel, JuS 1992, 625 ff. 27 Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 8 ff. Ganz ohne Vorbild ist das hierarchische System freilich nicht. Im Schifffahrtsrecht (Mannheimer Revidierte Schifffahrtsakte vom 17.10.1868, Sartorius 11 Nr. 340) existiert ein Rechtszug von den
nationalen Gerichten an das gerichtliche Organ einer Internationalen Organisation. Der Rechtszug geht von den nationalen Rheinschifffahrtsgerichten entweder an die nächsthöhere nationale Berufungsinstanz oder an ein internationales Gericht, nämlich an die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (Art. 45 i. V. m. Art. 45 bis Rheinschifffahrtsakte ). Sie kann das Urteil des nationalen Gerichts aufheben. Dazu Seidl-HohenveldemlLoibl, Internationale Organisatio" nen, Rn. 1378 f.; Riese, RabelsZ 1981, 604 (624). Der EGMR (unten § 4) befindet sich mehr und mehr in einer ähnlichen Situation, auch wenn seine Urteile bisher nationale Entscheidungen nicht direkt aufheben. 28 Unten § 5, § 10 I 1.
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§ 1 Einführung
2. Die Parallel rechtsordnungen
a) Erscheinungsformen
Kennzeichnend für diese Erscheinung sind wort- oder inhaltsgleiche Rechtsordnungen verschiedener Ebenen 29 mit jeweils eigenständigen Spruchkörpern. 3o Diejenige Normebene, die für alle Vertragsparteien gemeinsam gilt, soll als "weitere" (Parallel)-Rechtsordnung bezeichnet werden, diejenige Rechtsordnung, die nur innerhalb der jeweiligen Vertragspartei gilt, als "engere" (Parallel-)Rechtsordnung. Bisher taucht dieses Phänomen in "Reinform" bei zwei verschiedenen Rechtsgebieten auf: aa) Grundrechte Sowohl Landesverfassungsgerichte (L VerfG) und Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Europäischer Gerichtshof (EuGH) und der Menschenrechtsausschuss des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (MRAusschuss) überprüfen Hoheitsakte auf Grund ähnlicher Maßstäbe, nämlich anhand der "Grundrechte". Zwar judizieren die einzelnen Gerichte streng genommen an unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben31 , durch gemeinsame Wurzeln, häufig fast wortgleiche Formulierungen und gegenseitige Beeinflussung kommt es aber in weiten Teilen zu einer immer größeren Harmonisierung bis hin zu einer Herausbildung eines gemeinsamen Grundrechtsstandards, bei dem das Rechtsverständnis des EGMR eine entscheidende Rolle spielt. In diesem Sinne judizieren alle am "gleichen Maßstab". 32 29 Nur Parallelrechtsordnung verschiedener Ebenen sind Gegenstand dieser Untersuchung. Der große Bereich wortgleicher oder inhaltsähnlicher Normen auf gleicher Ebene (i. d. R. in verschiedenen Staaten) bleibt außen vor. Die Koordination dieser Verfahren ist Thema des Internationalen Prozessrechts, dazu Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht. 30 Parallel bedeutet gleich laufend, gleichgerichtet oder genau entsprechend, vgl. Duden, Rechtschreibung. 31 Nämlich anhand der Landesverfassung, des Grundgesetzes, der EMRK, der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im europäischen Gemeinschaftsrecht (jetzt Art. 6 Abs. 2 EU) und den Gewährleistungen des IPBürgR. 32 Inspiriert worden sind alle von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung vom 10. Dezember 1948. Dazu umfassend Kirchhof, EuGRZ 1994, S. 16 (21 ff.); Stern, Staatsrecht III/2 § 94 VII, S. 1612 ff.; Frowein, HStR VII, § 180 Rn. 1 f., 29 ff.; rechtsvergleichend Sommermann, AöR 114 (1989), 391 (410 ff., 417 ff.). Die Landesverfassungsgerichte sind bei der Auslegung der inhalts gleichen oder inhaltsähnlichen Landesgrundrechte stark von der Rechtsprechung des BVerfG beeinflusst ("Sogwirkung der bundesstaatlichen Ordnung", "Interpretation des BVerfG als allgemeine Auslegungsgrundsätze"). Zudem
III. Zwei verschiedene Rechtsordnungen als Grundtypen
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Gleichwohl gibt es auch Unterschiede, sei es, dass die eine oder andere Rechtsverbürgung weiter geht oder zurückhaltender ise 3 oder dass das BVerfG bei vielen Grundrechten zur Zeit noch einen breiteren und intensiveren Schutz gewährleistet als die internationalen Kontrollorgane 34 . Die Unterschiede ebnen sich aber zunehmend ein35 , so dass man hinsichtlich des mittlerweile sehr breiten Kernbestands von Menschemechten von Parallelrechtsordnungen sprechen kann. In geradezu mustergültiger Weise treten stimmen die einzelnen Grundrechtskataloge in hohem Maße überein (ausführlich Stern, Staatsrecht IIII2, § 93 11 3 und IV auch zu den abweichenden Bestimmungen). Mittlerweile berücksichtigen einige Landesverfassungsgerichte bei der Auslegung der Landesgrundrechte auch die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR (z.B. SächsVerfGH, EuGRZ 1996,437 (439». Das BVerfG lehnt es zwar ab, die EMRK als Prüfungsmaßstab heranzuziehen (vgl. BVerfGE 10, 271 (274); 74, 102 (128) ständige Rechtsprechung), das Gericht wendet die EMRK in der Auslegung des EGMR aber als Interpretationshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätzen des GG an (BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (114 ff., 120), dazu Bernhardt, EuGRZ 1996, 339). Einen ähnlichen Weg gehen das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) und das Schweizer Oberste Bundesgericht (Sommermann, a. a. 0., S. 402 ff.). Der EuGH hat die europäischen Grundrechte aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der EMRK entwickelt (Kirchhof, a.a.O., S. 25; Oppermann, Europarecht, Rn. 494). Der EuGH betont, er habe bei der Bestimmung der Gemeinschaftsgrundrechte von den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen und könne danach keine Maßnahmen als rechtens erkennen, die unvereinbar seien mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Rechten, Slg. 1974, 491 (507) Rn. 13. Mittlerweile ist dies in Art. 6 Abs. 2 EU normiert. Zu Umfang und Inhalt der einzelnen Grundrechte Callies/RujJert/Kingreen, Art. 6 Rn. 93 ff. Verstärkt zitiert er dabei Bestimmungen der EMRK als Beleg (Nachweise bei Sommermann a.a.O. S. 405 mit Fn. 69 und Kirchhof, a.a.O., S. 32 f.) sowie neuerdings auch die Rechtsprechung des EGMR (Kühling, EuGRZ 1997,437 (439) m.w.N.; siehe z.B. EuGH EuGRZ 1997, 344 (345) Rn. 25 f.). Welche Impulse von der während des EU-Gipfels in Nizza proklamierten EU-Grundrechte Charta (Sartorius 11 Nr. 146) ausgehen werden, ist noch ungewiss (erste dogmatische Ansätze bei Triebel, NJ 2002, 232 ff.). Das BVerfG hat in seiner Solange lI-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 ff.) dem EuGH bescheinigt, dass auf Gemeinschaftsebene mittlerweile ein Grundrechtsstandard existiert, der nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des GG gleichzuachten sei. Die Herausbildung eines gemeineuropäischen Grundrechtsstandards wird durch Art. 6 Abs. 2 EU gefördert, der neben der EMRK als zweite Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten festschreibt. 33 Siehe die Beispiele bei Stern, Staatsrecht IIII2, § 94 V 1, S. 1612 ff. und Kirchhof, EuGRZ 1994, 17 (22 f.). Rechte und Freiheiten auf internationaler Ebene, die keine Entsprechung auf nationaler Ebene haben benennt Kirchhof, a. a. 0., S. 23 f. 34 Siehe die vergleichende Untersuchung bei Kirchhof, EuGRZ 1994, 17 (23 ff.). Aber auch der entgegengesetzte Fall ist möglich, dazu Kirchhof S. 33 ff., 35 ff. mit Anlage V. 35 Vgl. Kirchhof, a. a. 0., S. 25 ff.
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§ 1 Einführung
identische Parallelrechtsordnungen auf, wenn Landesverfassungen die Grundrechte des Grundgesetzes en bloc durch Rezeption übernehmen. 36 bb) Völkerstrafrecht Der Internationale Strafgerichtshof (InStGH), die Strafrechtstribunale von Ruanda (RuandaT) und für das ehemalige Jugoslawien (JugT) sowie nationale Strafgerichte urteilen über Kriegsverbrechen auf Grund von i. d. R. identischen Straftatbeständen, die auf Völkerrechtsverträgen oder Völkergewohnheitsrecht beruhen und in den Statuten beziehungsweise den nationalen Strafgesetzbüchern niedergelegt sind. Unter dem Begriff des Völkerstrafrechts sind die aus Völkerrechtsquellen entstandenen Normen zu verstehen, die unmittelbar (d.h. ohne Vermittlung durch staatliches Gesetz) die Strafbarkeit natürlicher Personen wegen Verletzung international geschützter Rechtsgüter begründen. Völkerstrafrecht ist daher, genau genommen, völkerrechtliches materielles Strafrecht. Es ist damit prinzipiell für internationale Gerichte unmittelbar anwendbares Recht. Für nationale Gerichte ist es hingegen nur dann unmittelbar anwendbar, wenn das Völkerrecht (wie in den meisten Common-Law Staaten) ganz generell einen Teil der jeweiligen nationalen Rechtsordnung bildet und diese auch keine Beschränkungen der geltenden Strafnormen auf formell verabschiedete staatliche Gesetze kennt. 37 In der Regel bestehen deshalb national staatliche (Völker-)Strafgesetzbücher, die bestimmte Tatbestände des Völkerstrafrechts unter Strafe stellen?8 Auch das Römische Statut (RomSt) und das Statut des Jugoslawien-Tribunals (JugTSt) schaffen kein materielles Völkerstrafrecht, sie sind "Gerichtsverfassungsgesetze", die den Tribunalen lediglich einen Teil der Tatbestände des Völkerstrafrechts zuweisen?9 Zumindest in den Bereichen, in denen die Statuten der Internationalen Strafgerichte und der nationalen 36 Art. 2 Abs. 1 LV Baden-Württemberg, Art. 4 Abs. 1 LV Nordrhein-Westfalen, jetzt auch Art. 3 Abs. 2 LV Niedersachsen und Art. 5 Abs. 3 LV Mecklenburg-Vorpommern. Dies ist keine deklaratorische Verweisung, sondern führt zur Schaffung von inhaltsgleichen Landesgrundrechten, dazu Dietlein, AöR (120) 1995, 1 ff. 37 Ipsen, Völkerrecht, § 42, Rn. 1; Triffterer, GS Zipf, S. 500 f. Zum materiellen Gehalt des Völkerstrafrechts siehe Triffterer, Bestandsaufnahme, 1 ff. In Deutschland ist wegen Art. 103 Abs. 2 GG eine Transformation in ein innerstaatliches Strafgesetz notwendig, siehe Wilkitzki, Völkerrechtliche Verbrechen, S. 460 f. 38 So ist beispielsweise Völkermord (Art. 220 a StGB), der in wörtlicher Anlehnung an die Verbotstatbestände der Völkermordkonvention vom 9.12.1948 in das StGB eingefügt worden ist, fast identisch mit Art. 6 RomSt und Art. 4 des JugTSt. Die Verstöße gegen die Genfer Rot-Kreuz-Abkommen vom 12.08.1948 haben größtenteils Entsprechungen im StGB. Vgl. dazu Griesbaum, Verfahrensgrundsätze, S. 124 ff. Zur Zeit arbeitet die Bundesregierung an einem VölkerstraJgesetzbuch (BT-Drucksache 14/8524), mit dem das deutsche materielle Strafrecht an das RomSt angepasst werden soll.
III. Zwei verschiedene Rechtsordnungen als Grundtypen
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Strafgesetze das geltende Völkerstrafrecht abbilden, bestehen Parallelrechtsordnungen. Daneben gibt es einen weiten Bereich nur inhaltsähnlicher Vorschriften, wie z. B. das europäische Wettbewerbsrecht mit seinen nationalen Pendants (in Deutschland das GWB) oder das UN-Kaufrecht und die nationalen Zivilgesetzbücher. Sie sollen im Folgenden als Parallelrechtsordnungen im weiteren Sinne bezeichnet werden. b) Rechtstheoretische und rechtspraktische Folgeprobleme
Im Unterschied zu einer Hierarchierechtsordnung, bei der die Verteilung von Normeninterpretations- und Normenkontrollverfahren zwischen den Gerichten im Vordergrund steht, stellt sich bei Parallelrechtsordnungen immer die Frage nach der besonderen Rechtfertigung einer weiteren inhaltsgleichen Normebene mit zugehörigem Spruchkörper. Diese Rechtfertigung besteht immer in einem (vermuteten) Defizit auf der bisher existenten Ebene. Im Laufe der Untersuchung werden folgende Hauptfunktionen auftauchen: Die Sicherung formeller4o oder materieller41 Mindest- bzw. Höchststandards sowie ein Verfahren, bestimmte Fälle von besonderer Wichtigkeit nicht auf nationaler Ebene zu belassen, sondern auf internationaler Ebene vor einem internationalen Gericht zu verhandeln. 42 Die Funktionsabgrenzung zwischen den Rechtsordnungen entscheidet gleichzeitig über die Aufgabenverteilung zwischen den Gerichten; das Gericht derjenigen Parallelrechtsordnung, die sich materiell durchsetzt, ist zuständig. 43 Werden Höchst- oder Mindeststandards kontrolliert, wird das kontrollierende Gericht hingegen nachträglich tätig. 44 Daneben gibt es noch den Sonderfall, dass zwei Rechtssysteme parallel oder alternativ zuständig sind, wodurch faktisch für den gleichen Streitgegenstand ein zweiter Rechtsweg geschaf39 Trijfterer, GS Zipf, S. 532 f. Die Statuten bilden nicht den kompletten Bereich des Völkerstrafrechts ab. Das Römische Statut spiegelt aber zumindest eine gemeinsame Überzeugung der Verhandlungspartner über den Stand des Völkerstrafrechts wider. Alle Tribunale haben einen ähnlichen Zuständigkeitsbereich rationae materiae. Dazu gehören die "klassischen Nürnberger" Tatbestände von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (Art. 2-5 JugTSt, Art. 5 a-c RomSt) bzw. der Tatbestand der Aggression (Art. 5 d) RomSt. 40 § 2 II 1 (Strafrechtstribunale); § 3 I 3 b bb (BVerfG im Verhältnis zu den LVerfG). 41 § 2 II 2 (Begrenztes Kontrollrecht der Tribunale); § 3 II 1 (Grundrechtsschutz); § 4 II 1 (EMRK/IPBürgR). 42 § 2 I 2 a (Primacy des Jugoslawientribunals). 43 Siehe § 2 I 2, 3 (Die Strafrechtstribunale und die nationalen Gerichte), § 3 I (Bundes- und Landesverfassungsgericht). 44 § 4 II (EGMR/MR-Ausschuss); § 2 II 1 (Strafrechtstribunale).
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§ 1 Einführung
fen wird. 45 In diesem Fall geht es auf Seiten der Gerichte nicht in erster Linie um die Vorherrschaft einer der Parallelrechtsordnungen, sondern um eine Konkurrenz bei der verbindlichen Interpretation der inhaltsgleichen Vorschriften ("Interpretationskonkurrenz,,).46 Welches Gericht im Einzefall zuständig ist, kann zu Kompetenzkonflikten führen, wenn die beiderseits geltenden Zuständigkeitsregeln nicht synchronisierbar sind. 47 Besteht trotz prinzipieller Unabhängigkeit ein Rückkoppelungsmechanismus zwischen den Rechtsordnungen, können vormals unabhängige Parallelrechtsordnungen hierarchisiert und einem klassischen national staatlichen Instanzenzug angenähert werden. 48 Dadurch verschwimmen die Unterschiede zwischen Hierarchie- und Parallelrechtsordnungen.
§ 3 I (Bundes- und Landesverfassungsgericht). Siehe unten §§ 3 und 4. 47 Siehe unten § 2 I 4 (Jugoslawientribunal v. Nationale Gerichte); § 6 (Konflikt zwischen EuGH und BVerfG). 48 Siehe unten § 10 II 2. 45
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Erster Teil
Grundprinzipien § 2 Die Prinzipien der Vorrangzuständigkeit und der
Komplementarität am Beispiel der konkurrierenden Zuständigkeit internationaler und staatlicher Strafgerichte I. Bestandsaufnahme 1. Ausgangsüberlegungen
Das Völkerstrafrecht hat in den letzten Jahren einen enonnen Aufschwung erlebt. Durch die Errichtung der beiden Ad-Hoc-Tribunale von Jugoslawien und Ruanda l und die Verabschiedung des Römisches Statuts für einen Internationalen Strafgerichtshof2 sind die fast hundert Jahre dauernI Das Jugoslawientribunal hat der UN-Sicherheitsrat durch die Resolutionen 808 und 827 (1993) als Nebenorgan (Art. 29 UN-Charta) eingesetzt, UN-Dokument S/25704 (1993). Das Ruanda-Tribunal folgte ein Jahr später durch Resolution 955 (1994). Hintergrund waren die Gräueltaten im Bürgerkrieg in Jugoslawien und die Massaker an der Tutsi Minderheit in Ruanda. Ausführlich zu Geschichte und Hintergrund Roggemann, Strafgerichtshöfe, S. 97 ff. und 156 ff.; Morris, Insider's guide, Chapter 11, III; Shraga/Zacklin, EJIL 1996, 501, 502 ff. Die Besonderheit der Ad-Hoc-Tribunale besteht darin, dass sie nicht auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages geschaffen wurden, sondern der Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UNCharta (Art. 39 ff.) zur Wiederherstellung des Friedens gehandelt hat. Dies hat zur Folge, dass die Beschlüsse der Tribunale für alle UN-Mitglieder verbindlich sind (Art. 2 Abs. 5 und Art. 25 UN-Charta, Art. 29 JugTSt). Ob der Sicherheitsrat die Kompetenz zur Schaffung von Strafgerichtshöfen hat, ist nicht unumstritten. Kritisch z.B. Graefrath, NJ 1993, 433 ff. Zustimmend dagegen Triffterer, ÖJZ 1994, 825 (827 ff.). Die für beide Ad-Hoc Gerichte zuständige Berufungskammer hat im Fall Tadic (HRLJ 1995, 437) die Rechtmäßigkeit des JugT bestätigt. Siehe zum JugT aus der umfangreichen Literatur Wecke!, Annuaire franc,:ais de droit international 1993, 232; Triffterer, ÖJZ 1994, 825 ff.; Bassiouni/Manikas, International Criminal Tribunal; Morris/Scharf, Insider's guide; Roggemann, Strafgerichtshöfe; Morris, Concurrent jurisdiction (Ruanda); zuletzt Wäspi, NJW 2000, 2449 ff.; Blanke/ Molitor, AVR 39 (2001), 142 ff.; DIE ZEIT Nr. 32 vorn 2.08.2001 S. 9 ff. 2 Das Römisches Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs (RomSt, amtliche Übersetzung in BT-Drucksache 14/2682) wurde am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedet. Der Gerichtshof nimmt Anfang 2003 seine Arbeit in Den Haag auf. Zur
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den Bemühungen um einen Internationalen Strafgerichtshof zu einem positiven Ende gekommen. Diese Gerichte haben aber die Frage nach einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Strafinstanzen aufgeworfen und zum ersten Mal Konkurrenzsituationen zwischen den beiden Parallelrechtsordnungen (den nationalen Strafgesetzbüchern und dem in den Statuten der Tribunale kodifizierten Völkerstrafrecht) entstehen lassen (siehe oben § 1 11). Das Völkerstrafrecht ist von seiner Konzeption her darauf angelegt, einen eigenständigen Strafanspruch der Völkergemeinschaft zu begründen. Seine Funktion, Rechtfertigung und Unverzichtbarkeit beruhen unter anderem darauf, mögliche Defizite der staatlichen Strafjustiz aufzufangen und auszugleichen; das gilt vor allem bei Straftaten, die ein Staat selbst anordnet, veranlasst, gefördert oder geduldet hat oder die mit Hilfe staatlicher Machtmittel begangen worden sind? Die folgenden Ausgangspunkte sind entscheidend für eine Kompetenzverteilung zwischen nationalen und internationalen Strafgerichten: Das Grundanliegen des Völkerstrafrechts lässt sich nur dann verwirklichen, wenn zumindest im Prinzip die internationale Strafgerichtsbarkeit gegenüber einer staatlichen Vorrang besitzt. Gerade im Jugoslawien-Konflikt bestand die Notwendigkeit Vorsorge dafür zu treffen, dass rechtskräftige Urteile nationaler Gerichte keine Sperrwirkung entfalten, da im betroffenen Staat oder in benachbarten Staaten keine objektiven Urteile zu erwarten waren. 4 Auf der anderen Seite kann für die Durchsetzung des Völkerstrafrechts auf die Mithilfe der staatlichen Justiz nicht verzichtet werden. Schon wegen der Vielzahl der zu erwartenden Fälle bestand nicht die Intention, die nationalen Gerichte von der Strafverfolgung auszuschließen. 5 Die nationalen Instanzen sollten vielmehr ermutigt werden, die Kriegsverbrechen in ihrem Land zu verfolgen. Die primäre Verantwortlichkeit zur Verfolgung von Kriegsverbrechern sollte weiterhin - nicht zuletzt aus Gründen der staatlichen Souveränität - bei den Staaten liegen;6 eine exklusive Vorgeschichte siehe Eisa Handbook, S. 4 ff.; Triffterer, Commentary, Part 1, Rn. 1 ff.; Roggemann, Strafgerichtshöfe (Erg-Band), S. 5 ff. Siehe umfassend Ambos, ZStW 111 (1999), 175 ff.; Triffterer, Commentary. Zur Zuständigkeit rationae materiae Stahn, EuORZ 1998,577 (579). 3 Siehe dazu Report 0/ the working group on the question 0/ an International Criminal lurisdiction (Annex to the Report of the ILC 44th session), UN-Dokument A/47/l0 (1992) Rn. 27 ff.; Grae/rath, Internationale Strafgerichtsbarkeit, S. 295. 4 Triffterer, OS Zipf, S. 515 u. 519 f. 5 Siehe exemplarisch FTD vom 17.04.2001: "Kriegsverbrechen in Ruanda erstmals auch in Europa angeklagt", in der das Ruanda-Tribunal mit den Worten "zu langsam, zu teuer und zu wenige Urteile" kritisiert wird. 6 Das Strafrecht gilt als Kembereich staatlicher Souveränität, Hollweg, JZ 1993, 980 (983). In den Worten des UN-Generalsekretärs: "In establishing an intema-
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Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichthofs für bestimmte Verbrechensgruppen war deshalb nicht konsensfähig. 7 Diese beiden Grundüberlegungen beschreiben das Spannungsfeld für eine Kompetenzverteilung zwischen den internationalen Strafgerichtshöfen und der nationalen Justiz. Bedingt durch das politische Umfeld sind daraus zwei völlig gegensätzliche Prinzipien entstanden: Die Vorrangzuständigkeit der Ad-Hoc Tribunale von Jugoslawien und Ruanda und das Komplementaritätsprinzip des Römisches Statuts. Ausgangspunkt ist eine grundsätzlich konkurrierende Zuständigkeit der nationalen Gerichte und des internationalen Tribunals. Nur wenn zwei Gerichte nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Absicht haben, ihren Zuständigkeitsanspruch geltend zu machen, treten Konkurrenzsituationen auf. 2. Das Prinzip der Vorrangzuständigkeit (Das Jugoslawientribunal als ersetzende Strafrechtspflege)
a) Vorrang für die internationale Instanz Grundsätzlich besitzen das Jugoslawien-Tribunal und die nationalen Gerichte konkurrierende Zuständigkeit (Art. 9 Abs. I JugTSt)8. Solange kein Überleitungsersuchen nach Art. 9 Abs. 2 JugT vorliegt, stehen die nationale und die Strafverfolgung durch das Jugoslawientribunal gleichrangig nebeneinander; dasjenige Gericht, das zuerst ein Verfahren beginnt, entscheidet auf Grund seiner eigenen Straftatbestände und Verfahrensordnung. Die weite Vorrangzuständigkeit gibt dem Jugoslawientribunal aber das Recht, tional tribunal (das JugT, Anmerkung des Autors) ... it was not the intention of the Security Council to preclude or prevent the exercise of jurisdiction by national courts with respect to such acts. Indeed national courts should be encouraged to exercise their jurisdiction in accordance with their relevant national law an procedures.", UN-Dokument S125704 (1993). Das in den meisten nationalen Strafgesetzbüchern verankerte Weltreehtsprinzip (Universalitätsprinzip). z.B. § 6 deutsches StGB, führt zu einer "flächendeckenden" Zuständigkeit der staatlichen Gerichte im Bereich des Völkerstrafrechts. Zu den einzelnen Voraussetzungen aus deutscher Sicht Griesbaum, Verfahrensgrundsätze, S. 118 ff. Der BGH (BGHSt 45, 64 ff.) hat das Weltrechtsprinzip des § 6 StGB insbesondere dahingehend reduziert, dass ein hinreichender inländischer Anknüpfungspunkt vorhanden sein müsse. Dagegen z. B. Kreß. NStZ 2000, 617 (624). 7 Markant Bassiouni, Draft Statute: .. Of all the jurisdietional bases, exklusive jurisdietion is the most politieally diffieult to aehieve. States are reluetant to relinquish jurisdietion to an lCC for a variety of xenophobie reasons, as weil as legitimate politieal and praetieal eoneems. ". Trotzdem wurde dies in den Beratungen immer wieder gefordert, siehe z. B. Report of the lLC on the work of its 43 th Session. UN-Dokumente A/45/l0 Rn. 155 ff.; A/46/l0 (1991), Rn. 114 f.; Graefrath. ZStW 104 (1992), 190 (198 ff.). 8 Text im Anhang (Nr. 1), unten Seite 200. 3*
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jederzeit nach Antrag des Anklägers ein Verfahren bis zu einer rechtskräftigen nationalen Entscheidung an sich zu ziehen, wann immer es das für richtig hält. Regel 9 der Verfahrensordnung 9 schreibt zwar einschränkend vor, unter welchen Voraussetzungen eine Verfahrensabgabe möglich ist, die weite Formulierung des Abs. (iii) erlaubt dem Tribunal aber die Ausübung der Vorrangzuständigkeit in praktisch jeder Situation; IO Übernimmt das Jugoslawientribunal einen Fall, überprüft es nicht die bisherige Arbeit des nationalen Gerichts im Sinne einer Berufung, sondern führt den national begonnenen Prozess als erstinstanzliches Gericht (Trial-Court) fort. I! Der Vollständigkeit halber ist die erst später eingefügte Regel 11 ader VerfO zu nennen. Sie ermöglicht eine Arbeitsteilung zwischen dem Jugoslawientribunal und den nationalen Gerichten. Das Jugoslawientribunal kann ein an sich gezogenes Verfahren an ein nationales Gericht des Staates abgeben bzw. zurückgeben, in dem der Angeklagte festgenommen wurde. Diese Verfahrensabgabe kann aber auch jederzeit wieder zurückgenommen werden. Die Regel wurde eingefügt, um der wachsenden Zahl von Angeklagten zu beText im Anhang (Nr. 2), unten Seite 200. In der Anfangszeit war nicht klar, ob die Vorrangzuständigkeit des JugT wirklich unbeschränkt ist. Die Unsicherheit rührte von Stellungnahmen der vier ständigen Sicherheitsratsmitglieder bei der Verabschiedung des JugTSther, mit der sie die Reichweite der Primacy einschränken wollten (interpretative statements, UN-Dokument S/PV.3217 (1993), zur Relevanz solcher statements Brown, Primacy or Complementarity, S. 400 ff.). Im Ergebnis laufen die gemachten Einschränkungen darauf hinaus, dass die Vorrangzuständigkeit nur ausgeübt werden dürfte, wenn die (engen) Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 2 JugT (Ne bis in idem, Text unten Fn. 21) vorliegen, also nur dann, wenn das Verfahren vor dem nationalen Gericht in irgendeiner Form defizitär ist. Dies hätte zur Folge gehabt, dass viele Fälle nicht vor dem JugT hätten verhandelt werden können. Das Tribunal und die erste Chefanklägerin Arbour betonten hingegen von Anfang an den uneingeschränkten Primat des JugT (siehe Tribunal's First Annual Report, UN-Dokument A/49/342 (1994), Rn. 20, 87-89: " ... the Tribunal has been endowed with the power to intervene at any stage of national proceedings and take over from them, whenever this proves to be in the interests of justice."; Tadic-Fall IT-94-1-T (Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, 02. Okt. 1995); Interview mit Arbour, DRiZ 1998, 495 (497 f.). Die Literatur unterstützt - so weit ersichtlich - die weite Auslegung der Vorrangzuständigkeit, siehe Brown, Primacy or Complementarity, S. 395 ff.; Morris/Scharf, Insider's Guide, S. 125 ff. (mit Fn. 381); Bos, Complementarity, S. 255 ff.; Triffterer, GS Zipf, S. 519 ff.; Graefrath, NJ 1993, 433 (436); unklar Bassiouni/Manikas, International Criminal Tribunal, S. 311 ff. Häufig wird das Problem gar nicht problematisiert, so z. B. bei Roggemann, S. 93. Die einschränkenden Erklärungen der drei ständigen SR-Mitglieder stehen aber symbolisch für das Unbehagen, das die Staatengemeinschaft einem Tribunal mit derart umfassenden Kompetenzen entgegenbringt. 11 Regel 10 c der VerfO JugT ist zu entnehmen, dass das von dem nationalen Gericht geführte Strafverfahren und das vom JugT geführte Verfahren eine Einheit bilden, siehe BT-Drucksache 13/57, S. 7. Der Prozess wird in dem Stadium übergeben, in dem er sich gerade befindet. 9
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gegnen, die teilweise lange auf ein Verfahren vor dem JugT warten mussten. 12 Der uneingeschränkte Primat des Jugoslawientribunals ist ungewöhnlich, da er die staatliche Souveränität stark einschränkt (Brown bezeichnet diese Kompetenzverteilung treffend als "high-water mark"\\ Trotzdem wurden in den Entwürfen zum JugTSt teilweise noch extremere Varianten der Vorrangzuständigkeit vorgeschlagen, die eine generelle Erstzuständigkeit des Jugoslawientribunals mit Abtretungsmöglichkeit an nationale Gerichte vorsahen oder einen Prozess vor dem Jugoslawientribunal unabhängig von der Tätigkeit nationaler Gerichte zulassen wollten. \4 Erklärbar ist die schnelle und unkomplizierte Verabschiedung des Statuts und die weite Vorrangzuständigkeit vor allem vor dem Hintergrund des begrenzten zeitlichen und räumlichen Zuständigkeitsbereichs des Jugoslawientribunals; für die im Sicherheitsrat vertretenen Gerichtsgründer bestand deshalb nicht die Gefahr, durch Anklagen auf Grund der weiten Vorrangzuständigkeit selbst betroffen zu werden; ihre staatliche Souveränität war nicht in Gefahr. IS Die Entscheidung, ein Verfahren an sich zu ziehen, ist eine Ermessensfrage. Teilweise wurde befürchtet, dass das Jugoslawientribunal in die Rolle eines Berufungs- oder Kassationshofs gelangen könnte, wenn es die Vorrangzuständigkeit zu extensiv ausübe. Gerade die Formulierung der Regel 9 (iii), die eine Zuständigkeit des Jugoslawientribunals in Zusammenhang mit signifikanten sachlichen oder rechtlichen Fragen begründet, könnte den Ankläger dazu verleiten, sich aus seiner Sicht abzeichnende Fehlentscheidungen nationaler Gerichte überprüfen zu lassen oder durch eine Entscheidung des Tribunals Präzedenzfälle zu fordern, wenn völkerstrafrechtliche Tatbestände falsch ausgelegt, Grundrechte verletzt werden oder dem Angeklagten vor dem nationalen Gericht die Todesstrafe droht. Theoretisch wäre eine solche Überprüfung möglich, da eine Verfahrensabgabe in jedem Verfahrensstadium möglich ist. Nach Rechtskraft kann der Vorrang indes nur noch unter den eingeschränkten Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 2 JugTSt (i. V. m. Rule 12) geltend gemacht werden.\6 Die Praxis des Tribunals bestätigt diese Befürchtungen bisher nicht; das TribuText im Anhang (Nr. 3), unten Seite 201. Brown, Primacy or Complementarity, S. 385. 14 Siehe in der synoptischen Zusammenstellung von Morris/Scharj, Insider's guide, S. 396 ff., den französischen und italienischen Statutenentwurf. Text im Anhang (Nr. 9), unten Seite 205. 15 So auch TaUgren, NJIL 67 (1998), 107, 131. Für den ständigen InStGH ist eine derartige Kompetenzverteilung denn auch nicht ernsthaft diskutiert worden. 16 Morris/Scharj, Insider's guide, S. 127 ff. Text im Anhang als Nr. 5, unten Seite 202. Die von der Strafkammer zu verhängenden Strafen sind auf Freiheitsentziehung beschränkt (Art. 24 Abs. 1 JugTSt). 12
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nal hat noch keine einzige rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts überprüft. Die Ennittlungen beschränken sich auf die militärische und politische Führung. Die Tendenz geht eindeutig dahin, Fälle von "durchschnittlicher Bedeutung" grundsätzlich bei den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu belassen und nur Verfahren von hoher politischer oder rechtlicher Bedeutung vor dem Tribunal zu verhandeln. Lediglich in Fällen, die im Hinblick auf das Ausmaß an Opfern oder die besondere Grausamkeit der Tatausführung herausragen, sollen auch einfache Soldaten auf internationaler Ebene angeklagt werden. Eine weitere Rolle für die Ausübung der Vorrangzuständigkeit scheint die Möglichkeit zur Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts zu sein wie die Konkretisierung und Auslegung völkerrechtlicher Straftatbestände. 17 In allen diesen Fällen versucht das Tribunal den Fall in einem frühen Verfahrensstadium von den nationalen Instanzen zu übernehmen 18 oder die Anklagebehörde zieht die Ennittlungen frühzeitig an sich und bringt das Verfahren dadurch vor das Jugoslawientribunal. Sehr deutlich zeigen sich die genannten Aspekte in der Verfahrensordnung des Schwester-Tribunals in Ruanda 19 , das nicht einmal mehr wie Art. 9 (iii) der JugT-VerfO auf einen sachlichen oder rechtlichen Zusammenhang mit laufenden Verfahren vor dem Tribunal abstellt, sondern eine Übernahme des Verfahrens je nach Schwere der Verbrechen, des Status des Angeklagten (militärische und/oder politische Führung) oder einfach nur nach der Wichtigkeit einer zu klärenden Rechtsfrage zulässt. Die grundsätzliche Bedeutung des Falles ist also das wichtigste Auswahlkriterium für die Ausübung der Vorrangzuständigkeit. 20
b) Einschränkung der Vorrangzuständigkeit durch das Prinzip Ne bis in idem Der uneingeschränkte Primat des Jugoslawientribunals endet grundsätzlich mit einem rechtskräftigen nationalstaatlichen Urteil, denn das Jugoslawientribunal ist weder als Kassationshof noch als Revisionsinstanz konzipiert. Eine zeitlich früher ergangene Entscheidung eines nationalen Gerichts verbietet dem Jugoslawientribunal daher in der Regel eine erneute Befassung mit "derselben Handlung", außer wenn geltend gemacht wird, dass die 17 Interview mit der damaligen Chefanklägerin Louise Arbour, Der Spiegel 40/ 1998, "Wir kriegen sie alle"; Uertz-Retzlaff, praktische Arbeit, S. 91. 18 So geschehen im von Deutschland übernommenen Tadic-Fall, dazu Griesbaum, Verfahrensgrundsätze, S. 117 ff. Probleme ergeben sich allerdings dann, wenn die Staaten eine Auslieferung verweigern, siehe dazu 6th Report 0/ the lCTY, UN-Dokument A/54/187 (1999), Rn. 90 ff. 19 Text im Anhang als Nr. 4, unten Seite 201. 20 Siehe dazu Morris, Concurrent Jurisdiction, S. 363.
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nationalen Gerichte eine in die Zuständigkeit des Tribunals fallende Verhaltensweise als Allgemeinverbrechen (Beispiel: Mord statt Genozid) eingestuft haben, das Verfahren nicht unparteiisch und unabhängig, zum Schutze des Angeklagten vor internationaler strafrechtlicher Verantwortlichkeit oder nicht sorgfältig geführt haben (Art. 10 Abs. 2 JugTSt).21 Der Grundsatz Ne bis in idem gilt also uneingeschränkt nur in Bezug auf rechtskräftige Urteile des Jugoslawientribunals (Art. 10 Abs. 1 JugTSt). Dem Tribunal eröffnet dies eine beschränkte Überprüfungsbefugnis 22, um einen formellen und materiellen Mindeststandard zu gewährleisten. 3. Das Prinzip der Komplementarität (Der Internationale Strafgerichtshof als ergänzende Strafrechtspflege) a) Vorrang für nationale Gerichte
Bei den Beratungen zum Rom-Statut war die konkrete Ausgestaltung der Zuständigkeit des Gerichtshofs - und damit die Abgrenzung zur nationalen Strafhoheit - die "wichtigste, politisch schwierigste und daher am stärksten umstrittene Frage der gesamten Verhandlungen,m. Das Ringen um eine Zuständigkeitsabgrenzung zieht sich wie ein roter Faden durch die viele Jahrzehnte lang andauernde Diskussion um einen Internationalen Strafgerichtshof. Dass der InStGH im Gegensatz zum Jugoslawientribunal nach dem Grundsatz der Komplementarität nur ergänzend, nicht ersetzend zu nationalen Gerichten tätig werden sollte, war schnell konsensfähig. Seiner komplexen Ausformulierung im Rom-Statut gingen jedoch jahrelange intensive Diskussionen voraus. 24 Herausgebildet hat sich schließlich ein Verständnis von Komplementarität als ein Gegenbegriff zur unbeschränkten Vorrangzuständigkeit der Ad-Hoc Gerichte. Zwar geht auch das Römische Statut von einer konkurrierenden Text im Anhang als Nr. 5, unten Seite 202. Die begrenzten Überprüfungsbefugnisse der Strafrechtstribunale entsprechen nach dem Verständnis des deutschen Prozessrechts weder einer "Revision", noch einer "Berufung". 23 Kaul, Zuständigkeit, S. 178; Holmes, Complementarity, S. 73, bezeichnet den Komplementaritätsgrundsatz als "cornerstone". 24 Der Begriff "Komplementarität - Complementarity - Complementarite" ist ein "Newcomer" im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeitsverteilung. Er taucht zum ersten Mal 1994 im ILC-Drajt Statute (Report of the International Law Commission, UN-Dokument A/49110 (1994» auf. Ganz allgemein soll damit die Beziehung zwischen dem InStGH und den nationalen Gerichten umschrieben werden. Seine Entstehungsgeschichte zeichnen nach: Tal/green, NJIL 67 (1998), 107 ff.; Holmes, Comp1ementarity, S. 41 ff. 21
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Zuständigkeit nationaler und internationaler Instanzen aus, das Komplementaritätsprinzip ersetzt jedoch den Vorrang der internationalen Gerichte durch eine vorrangige Zuständigkeit der nationalen Instanzen (Art. 17 Abs. 1 a RomSt25 ). Dies ist der augenfälligste Unterschied zu den Ad-Hoc-Tribunalen. Damit sollten Bedenken besonders souveränitätsfreundlicher Staaten zerstreut werden, denn es hängt von einer effizienten Strafverfolgung ihrer nationalen Gerichte ab, ob ein Fall vor dem InStGH verhandelt werden darf oder nicht. Aus diesem Grund wurde Komplementarität immer wieder mit dem Subsidiaritätsprinzip der EU verglichen. Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen dem InStGH und den nationalen Strafinstanzen ist im Römischen Statut umfangreich und in vielen Einzelheiten geregelt worden. 26 Auf Betreiben von sogenannten "gerichtshofskeptischen Staaten" wurden viele Sicherungsmechanismen bis zu einem Tätigwerden des Anklägers und des InStGH aufgenommen. Das Komplementaritätsprinzip, das dem Statut als ein institutioneller Leitsatz vorangestellt wird und durch Art. 17 RomSt inhaltlich präzisiert wird, enthält mehrere materielle Grundaussagen, die den staatlichen Gerichten Vorrang eimäumen und Kompetenzkonflikte mit diesen vermeiden sollen. Zunächst ist der InStGH nur zur Aburteilung schwerster Verbrechen von internationaler Bedeutung zuständig (Art. 1 und Art. 17 Abs. 1 d RomSt27 ). Des weiteren legt es den Vorrang der nationalstaatlichen Gerichte fest, da der InStGH nur tätig werden kann, wenn die einzelstaatlichen Strafverfolgungsorgane unfähig oder nicht willens sind, die Tat angemessen zu verfolgen (Art. 17 Abs. 1 a und b RomSt28 ). Dies sind ganz ähnliche Elemente, wie sie in Art. 10 JugTSt als Ausnahmen zum Prinzip Ne bis in idem formuliert werden. Der Gerichtshof darf deshalb insbesondere dann tätig werden, wenn kein Staat zu einer Verfahrenseinleitung bereit ist. Nach der Regel-Ausnahme Formulierung in Art. 17 Abs. 1 RomSt wird die Unzuständigkeit des Gerichts bereits bei der Aufnahme nationaler Ermittlungen vermutet. 29 Ein nationalstaatliches Verfahren blockiert daher in der Regel den InStGH. Die Vertragsstaaten haben im Gegenzug die - im Statut nicht vorgesehene - Möglichkeit, dem InStGH eine Situation freiwil-
Text im Anhang (Nr. 6), unten Seite 203. Siehe dazu aus der schon umfangreichen Literatur Bergsmo, Jurisdictional Regime, S. 345 ff; TrifftererlWilliams, Commentary, Art. 17; ders., GS Zipf, S. 521 ff; Lattanzi, Complementarity, S. 1 ff.; Stahn, EuGRZ 1998, 577 (580 ff). Die verschiedenen Entwürfe behandelt Holmes, Complementarity, S. 41 ff. 27 Text im Anhang (Nr. 6), unten Seite 203. 28 Definitionen von "mangelndem Willen" und "Unvermögen" finden sich in den Abs. 2 und 3. 29 Das Komplementaritätsprinzip gilt auffälliger Weise nicht nur für das Verfahren vor dem Gericht, sondern auch schon für die Ermittlungsphase. Dazu umfassend und kritisch HoffmeisterlKnoke, ZaöRV (59) 1999, 785 ff 25
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lig zu überweisen; dies ergibt sich daraus, dass das Komplementaritätsprinzip als Schutzmechanismus zugunsten der Staaten ausgestaltet ist. 30 Ob die Voraussetzungen für ein Einschreiten vorliegen, muss der Gerichtshof von Amts wegen prüfen (Art. 17 Abs. 1 S. 1, 19 Abs. 1 S. 1 RomSt). Dem Angeklagten sowie den zuständigen Staaten eröffnet Art. 19 RomSt die Möglichkeit, die Jurisdiktion des InStGH anzufechten, wenn sie der Auffassung sind, die nationalen Instanzen seien zuständig. 3 ) Diese Rüge soll grundsätzlich vor Beginn der Hauptverhandlung angebracht werden (Art. 19 Abs. 4 S. 2 RomSt), um danach ein Mindestmaß an Endgültigkeit und Rechtssicherheit bzgl. der Zuständigkeit des Gerichtshofs herzustellen. b) Eingeschränkte Überprüfung nationaler Gerichtsentscheidungen
Als eine weitere Aussage enthält das Komplementaritätsprinzip - ähnlich Art. 10 JugT - den Grundsatz, dass nationale Strafurteile vom InStGH nicht aufgehoben werden können. Abgeschwächt wird dies durch Art. 20 Abs. 3 RomSt32 (Ne bis in idem). Ausnahmen vom Verbot der Doppelbestrafung gelten nur, wenn die nationalstaatlichen Verfahren mit fehlender Sanktionsabsicht geführt wurde oder nicht den völkerrechtlich anerkannten Grundsätzen eines ordnungsgemäßen Verfahrens entspricht (v gl. die fast identische Regelung im JugTSt, oben 2 b).
4. Entscheidungskompetenz und Beweislast Trotz klar formulierter Zuständigkeitsregeln, die den internationalen Tribunalen unter bestimmten Voraussetzungen den Vorrang einräumen, hängt deren Wirksamkeit von der Verteilung der Entscheidungskompetenz und der Beweislast ab. Entscheidungskompetenz bezeichnet die Berechtigung eines Gerichts, im Falle einer Konkurrenzsituation über die eigene Zuständigkeit abschließend zu befinden, wenn es angerufen wird. Diese Kompetenz kann entweder den nationalen Strafgerichten als Spruchkörpern der engeren Parallelrechtsordnung, der internationalen Instanz als Spruchkörper der weiteren Parallelrechtsordnung oder nach dem Grundsatz der Priorität dem zuerst angerufenen Gericht zugesprochen werden. 33 Im vorliegenden Fall liegt diese 30 31
Zimmermann, ZaöRV 1998,46 (97) Fn. 249. Ausführlich dazu Triffterer, Commentary, Art. 19 Rn. 1 ff.
Text im Anhang (Nr. 7), unten Seite 204. Im deutschen Prozessrecht gilt mit § 17 a Abs. I GVG der Grundsatz der Kompetenzautonomie eingeschränkt durch den Grundsatz der Priorität, siehe 32 33
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"Kompetenz-Kompetenz" in den Händen der internationalen Strafgerichte?4 Dies ist notwendige Konsequenz aus dem Sinn und Zweck einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, notwendige Defizite auf nationaler Ebene auszugleichen (siehe oben I 1). Bejahen diese ihre Zuständigkeit, ergibt sich daraus im Umkehrschluss die Unzuständigkeit des konkurrierend zuständigen Gerichts. Nach Stellung eines Abtretungsersuchens durch das Jugoslawien-Tribunal darf dessen Zuständigkeit beispielsweise von dem jetzt unzuständigen nationalen Gericht nicht mehr bestritten werden, es darf das Verfahren nicht mehr fortführen. Probleme entstehen, wenn die in den Statuten festgelegte Kompetenz-Kompetenz von der engeren Parallelrechtsordnung nicht vollständig anerkannt wird. 35 Deutschland geht dabei nicht gerade mit gutem Beispiel voraus, da nach § 2 Abs. 3 und § 3 Abs. 2 JugStGHG i. V. m. § 12 IRG das deutsche Gericht abschließend über das Vorliegen der Überstellungsvoraussetzungen entscheidet. 36 Diese Regelung widerspricht deshalb den Verpflichtungen Deutschlands nach dem JugTSt. Den Gerichten bleibt aber die Möglichkeit, das JugStGHG völkerrechtskonform auszulegen und so ihre eigene Überprüfungskompetenz zu verneinen. 37 Ist dies nicht möglich, liegt eine echter Kompetenzkonflikt vor (Fall der Inkompatibilität von Zuständigkeitsnormenps , der i. d. R. unauflösbar sein wird, da die nationalen Gerichte an die völkerrechtswidrigen nationalen ZuständigManfred Wolf, in: MK-ZPO, Art. 17a GVG Rn. 6 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, § 41 Rn. 8 ff. Das zuerst angerufene Gericht entscheidet die Rechtswegfrage endgültig und für alle anderen Gerichte bindend. 34 Für den InStGH ergibt sich dies aus Art. 19 RomSt, das Jugoslawientribunal hat dies im Tadic-Prozess für sich selbst bestätigt. Das Tribunal stellt fest, dass "This power [seine eigene Zuständigkeit festzustellen, der Autor), known as the principle of ,Kompetenz-Kompetenz' in German or ,la comperence de la competence' in French, is part, and indeed a major part, of the incidental or inherent jurisdiction of any judicial or arbitral tribunal, consisting of its ,jurisdiction to determine its own jurisdiction.' It is a necessary component in the exercise of the judicial function and does not need to be expressly provided for in the constitutive documents of those tribunals, although this is often done ... ", Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, Fall IT-94-I-AR72, 2. Okt. 1995, Rn. 18 (HRLJ 1995, 437). Ob dieser Grundsatz für den InStGH ebenfalls gelten sollte, war während der Verhandlungen zum RomSt keinesfalls unumstritten; siehe die Zusammenfassung von Bleich, Complementarity, S. 233 ff. und 239 ff. 35 Siehe die Beispiele für eine mangelnde Umsetzung des Primats des JugT in den nationalen Gesetzen bei Lattanzi, Complementarity, S. 3 ff. 36 Texte im Anhang als Nr. 3, unten Seite 201. 37 Diesen Weg schlagen Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, S. 1195 Rn. 3, vor. 38 Siehe dazu Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 375 ff.; Schoh, Die Zulieferung an den Jugoslawien-Strafgerichtshof, S. 101, 106 f.; Wirth/Harder, ZRP 2000, 144, 145 f. und oben § 1.
I. Bestandsaufnahme
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keitsregelungen ihrer Prozessordnungen gebunden sind?9 Der Staat ist völkerrechtlich zur Änderung seiner Vorschriften verpflichtet. Mindestens ebenso wichtig wie die Kompetenz-Kompetenz ist die Beweislastverteilung: 4o Welche Partei trägt die Beweisführungslast für das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen? Die die Zuständigkeit des internationalen Gerichts unterstützende Partei oder die Partei, die die Zuständigkeit bestreitet? Wie entscheidet das Gericht bei einem Non-liquet? Eine negativ formulierte Zuständigkeitsregel schwächt die internationale Instanz, da sie sich zwangsläufig für unzuständig erklären muss, wenn die beweislastpflichtige Partei nicht den nötigen Nachweis erbringt. Die Vermutung spricht in diesem Fall für eine Zuständigkeit der nationalen Gerichte ("strong presumption in favor of the national jurisdiction"). Diesen Weg geht - ganz im Sinne des Komplementaritätsprinzips - das Römische Statut mit der Regel-Ausnahme Formulierung in Art. 17 Abs. 1 RomSt (" ... entscheidet der Gerichtshof, dass eine Sache nicht zulässig ist, wenn in der Sache von einem Staat ... Ermittlungen ... durchgeführt werden, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen ... ", oben Fn. 25) und Art. 20 Abs. 3 RomSt (oben Fn. 32). Die Beweislast trägt also der Ankläger; kann dieser den Nachweis nicht führen, muss sich der InStGH für unzuständig erklären. Dies ist bedauerlich, denn sinnvoll darlegen können Kriterien wie "nicht willens" oder "nicht in der Lage" (Art. 17 RomSt) nur die Staaten, die die Zuständigkeit des Tribunals bestreiten. 41 Als Zuständigkeitsvermutung für den InStGH muss die in Art. 35 des Entwurf der International Law Commission (ILC) formulierte Regelung gedeutet werden: "The Court may ... decide ... that a case is inadmissible on the ground that: a) ... ".42 Hintergrund negativ formulierter Zuständigkeitsregeln und die Ablehnung einer Letztentscheidungskompetenz für die internationalen Instanz ist das fehlende Vertrauen der Nationalstaaten in klar formulierte Regeln und die Befürchtung, dass die internationale Ebene offenbar grundsätzlich zur Aus39 Der Vorrang des JugTSt ergibt sich zwar aus Art. 2 Abs. 5 und Art. 25 UNCharta sowie Art. 29 JugTSt. Nationale Regelungen, die diesen Vorrang nicht adäquat umsetzten, sind aber in den meisten Staaten nicht (wie in einem supranationalen Gebilde) nichtig oder unanwendbar, da sie nur den jeweiligen Staat völkerrechtlich zur Anpassung der widersprechenden Vorschriften verpflichten. Siehe dazu allgemein Kunig in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Kapitel 2 Rn. 28 ff. (insbesondere Rn. 43 ff.). 40 Allgemein dazu Rosenbe rg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 117, S. 617 ff. 41 So auch Bergsmo, Jurisdictional Regime, S. 359. Für unklar hält die Vorschrift Triffterer, GS Zipf, S. 537 f., der sich für eine KlarsteIlung in der VerfO ausspricht. Der aktuelle Entwurf bringt keine Klarheit, siehe Ambos, NJW 2001, 405 (408). 42 Text im Anhang (Nr. 8), unten Seite 205.
44
1. Teil, § 2 Die Prinzipien der Vorrangzuständigkeit
dehnung ihrer Kompetenzen neigt. 43 Das aus dieser Sicht negative Beispiel der extensiven EuGH-Rechtsprechung spricht dafür, dass diese Befürchtungen nicht ganz unberechtigt zu sein scheinen. 44
11. Strukturanalyse 1. "Normenumsetzungs-" und "Prozessführungspflicht" durch komplementäre Zuständigkeit Das Ziel der drei Völkerstrafrechtssysteme ist trotz ihrer unterschiedlichen Konstruktion dasselbe. Garantiert werden soll eine effektive und gerechte Bestrafung von schweren Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht bei Betonung der primären Verpflichtung der Vertragsparteien zur Strafverfolgung. Auf welcher Ebene und vor welcher Instanz der Fall verhandelt wird, ist zunächst zweitrangig; entscheidend ist nur, dass überhaupt ein Verfahren stattfindet. Rechtsverletzungen oder eine falsche Feststellung des Sachverhaltes, die innerstaatlich eine vollumfängliche Neuverhandlung (Berufung) oder eine auf die Verletzung des Rechts beschränkte Revision ermöglichen, eröffnen weder für den Angeklagten noch für den Chefankläger oder die nationalen Staatsanwaltschaften ein Rechtsmittel zu den Tribunalen. 45 Durch das Komplementaritätsprinzip werden aber zwei Dinge erreicht: Zum einen muss innerhalb der engeren Parallelrechtsordnung dem internationalen Recht vollständig und effektiv entsprechendes materielles Recht geschaffen werden, eine Klage- bzw. Anklagemöglichkeit geschaffen und - bezogen auf das Strafrecht - Hauptverhandlungen eröffnen werden, sonst greift die Reservezuständigkeit der weiteren Parallelrechtsordnung ein ("Normenumsetzungspjlicht U und "ProzessführungspjlichtU). Ein Rechtsweg muss nicht nur vorhanden sein, er muss auch effektiv sein und beschritten werden. Die Staaten sind sonst "nicht in der Lage" oder "nicht Siehe z.B. die Beobachtung von Bleich, Complementary, S. 239. Die Tendenz des EuGH, Kompetenzvorschriften sehr großzügig auszulegen, war aus der Sicht der Europäischen Gemeinschaften sinnvoll und hat wesentlich zum großen Erfolg der Gemeinschaften beigetragen (dazu Stein, Richterrecht, S. 619 ff.). Für die Vertragsstaaten bleibt aber der Nachteil, dass der Umfang der übertragenen Hoheitsrechte nicht abschließend bestimmbar ist. Siehe dazu die deutlichen Worte des BVerfG im Maastricht-Urteil dahingehend, dass eine innerstaatliche Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen dort nicht mehr gegeben sei, wo die grundSätzlich zulässige Rechtsfortbildung durch den EuGH einer Vertragserweiterung gleichkomme, BVerfGE 89, 155 (188, 209 f.). Der EuGH erscheint im Kompetenzkonflikt zwischen EG und Mitgliedstaaten eher als Partei denn als unabhängiger Schiedsrichter (Huber, AöR 116 (1991), 210 (213». 45 Die Art. 81 ff. RomSt; Art. 25 JugTSt sehen freilich den nach Art. 15 Abs. 5 IPBürgR vorgeschriebenen Rechtszug zu einer innerhalb des Gerichts angesiedelten Appellationskammer vor. 43
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H. Strukturanalyse
45
willens", eine Strafverfolgung im vollen Umfang zu betreiben. 46 Dies führt dazu, dass zur Zeit viele Staaten ihre Strafgesetzbücher "durchforsten", um in Hinblick auf das Komplementaritätsprinzip zweifelsfrei sicherzustellen, dass sie stets in der Lage sind, in die Zuständigkeit des InStGH fallende Verbrechen selbst zu verfolgen. 47 Diese Reservezuständigkeit folgt ganz ähnlichen Gedanken, wie sie der EuGH zur Direktwirkung von nicht umgesetzten Richtlinien entwickelt hat: 48 Kommen die Vertragsparteien ihren legislativen oder richterlichen Pflichten nicht nach, versucht die übergeordnete Ebene, den gewünschten Effekt durch direkte Wirkung der internationalen Normen oder durch ein Eingreifen der internationalen Instanz zu erreichen. 49 Zum anderen muss der nationale Prozess gewissen formellen und materiellen völkerrechtlichen Mindeststandards entsprechen (Art. 10 Abs. 2 b JugTSt, Art. 20 Abs. 3 RomSt. Stichworte: Kein Scheinprozess, Verfahrensführung unabhängig und unparteiisch). Etwas weiter geht Art. 10 Abs. 2 a JugTSt, der eine erneute Verhandlung zulässt, wenn eine Handlung in eine falsche Kategorie eingeordnet wurde (Bezeichnung als "gewöhnliches Verbrechen", nicht als Völkerrechtsverbrechen). Damit werden Grundanforderungen an die rechtliche Qualifizierung der Tatbestände wie an die Subsumtion des Sachverhalts gestellt. Durch das begrenzte Überprüfungsrecht der internationalen Instanzen lassen sich Elemente eines Hierarchieverhältnisses zwischen den Gerichten der Parallelrechtsordnungen nicht leugnen. Der Angeklagte hat zwar kein Recht, im Wege eines außerordentlichen Rechtsbehelfs eine erneute Verhandlung - eine "Revision" - vor den Gerichtshöfen zu erreichen, er kann aber den Verfahrensgegenstand vorlegen und so versuchen, ein erneutes 46 In diesem Sinne auch Bos, Complementarity, S. 254; Hennsdöifer, DRiZ 2000, 70 f.; Triffterer, ÖJZ 1996,321 (339 f.); EntwurfsbegfÜndung des Völkerstrafgesetzbuchs (BT-Drucksache 14/8524), S. 5. Die Ne bis in idem-Sperren in Art. 10 Abs. 2 JugTSt und Art. 20 Abs. 2 RomSt setzen voraus, dass nationale Strafgesetze die in den Statuten beschriebenen Tatbestände ebenfalls unter Strafe stellen. Klarer Art. 12 des US-Vorschlages zum JugTSt (abgedruckt in Morris/Scharf, Insider's guide, S. 400): "The tribunal should be able to try a person tried for the same acts by a national court - if the charges did not cover the crimes listed in the tribunal's statute ... 47 So die Zielsetzungen des Entwurfs "Völkerstrafgesetzbuch" der Bundesregierung (BT-Drucksache 14/8524), S 25; Handlungsbedarf zur Anpassung des deutschen Strafrechts sehen z. B. Hennsdörfer, DRiZ 2000, 70 f.; Werle, JZ 2000, 755 ff. 48 Siehe dazu nur EuGH Slg. 1970, 1213 (1222) - Spa SACE; Slg. 1982, 53 (70 f.) - Wirkung der RL, st. Rechtsprechung; Oppermann, Europarecht, Rn. 556 ff. m.w.N. 49 Im Fall der Nichtumsetzung von Richtlinien ist das die richterrechtliche Anerkennung eines gemeinschaftsrechtlichen Schadenersatzanspruches, der dann allerdings vor nationalen Gerichten eingeklagt werden muss, EuGH Slg. 1991 1-5403 (5413) Rn. 28 ff. - Franeovieh. H.
1. Teil, § 2 Die Prinzipien der Vorrangzuständigkeit
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Einschreiten auszulösen. 5o Die immer drohende Ausübung der Reservekompetenz erhöht den Druck auf die Gerichte der untergeordneten Parallelrechtsordnung, Strafverfahren einzuleiten und sorgfältig durchzuführen. Die nationalen Gerichte werden mit größter Sorgfältigkeit vorgehen, um jeden Anschein zu vermeiden, ihr Gerichtssystem funktioniere nicht richtig. Insofern ist die Gerichtsbarkeit der engeren Parallelrechtsordnung subsidiär; sie wird lediglich in dem Maße in Anspruch genommen und anerkannt, in dem sie dem Anliegen der Völkergemeinschaft nach Durchsetzung ihres Strafanspruchs gebührend Rechnung trägt (korrigierende Zuständigkeit).51 Die "Kompetenz-Kompetenz" beim internationalen Spruchkörper anzusiedeln ist konsequent und in diesem Fall unverzichtbar. 2. Die rechtsgestaltende Funktion der Vorrangzuständigkeit Die Funktion des InStGH ist auf die eben beschriebene korrigierende Reservefunktion beschränkt. Seine eher passive Funktion (,Permanent Reserve Court') dient der Abschreckung (negative Generalprävention) und der Stärkung des Rechtsbewusstseins unter den Völkern (positive Generalprävention).52 Pointiert ausgedrückt besteht die alleinige Funktion des InStGH darin, nie tätig zu werden, Roggemann hat die Funktion des Komplementaritätsprinzips deshalb als stellvertretende oder ergänzende Strafrechtspflege bezeichnet. 53 Das Jugoslawientribunal wirkt dagegen nicht nur ergänzend, sondern vor allem ersetzend. Das Prinzip der Vorrangzuständigkeit verlagert das Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, S. 1195 Rn. 7. Triffterer, GS Zipf, S. 520. 52 Hausgemachte Probleme, die aber nicht die grundsätzliche Konzeption in Frage stellen, sind die komplizierten und verschachtelten Zulässigkeitsfragen des Römischen Statuts. Dadurch besteht die Gefahr, dass ein Tätigwerden des InStGH verhindert oder zumindest stark verzögert wird, wenn die verschiedenen Rechtsmittel unter Ausnutzung aller "Finessen" ausgeschöpft werden. (Erinnert sei an die mehrfachen Anfechtungsmöglichkeiten in den Art. 17 - 19 RomSt). Sowohl beim Ankläger als auch beim Gericht können dadurch wichtige Ressourcen gebunden werden. Eine Auslegung der Merkmale "nicht willens oder unfähig" in Art. 17 Abs. 2 RomSt stellen beispielsweise eine hoch komplexe Fragestellung dar, die den Gerichtshof und den Ankläger gerade in der Anfangszeit lahm legen könnte. Der InStGH wird bei der Durchführung eines Verfahrens oft auf gerade den Staat angewiesen sein, dem er vorher mangelnden Willen oder Unfähigkeit bei der Strafverfolgung attestiert hat (Bergsmo, lurisdictional Regime, S. 359 f.) Deshalb wird befürchtet, dass das Römische Statut zu hohe Hürden für ein Eingreifen aufstellt, dass der Gerichtshof eine unbedeutende und passive Institution werden würde und nie eine "kritische Masse" an Fällen erhalte, Report of the Preparatory Committee, UNDokument A/51122 (1996), Rn. 157; Triffterer, GS Zipf, S. 537 f. 53 Roggemann, Strafgerichtshöfe, S. 35 f. 50
51
11. Strukturanalyse
47
Schwergewicht auf die internationale Instanz, ohne das Grundkonzept zu verändern. Neben die Reservezuständigkeit tritt die Aufgabe, bestimmte Fälle von besonderer rechtlicher oder politischer Bedeutung vorrangig und letztverbindlich selbst zu verhandeln. Durch die Vielzahl von eigenen Fällen und seine dadurch exponierte Stellung beeinflusst und formt das Jugoslawientribunal die Rechtsentwicklung in diesem Bereich nachhaltig; die Urteile haben deshalb auch eine rechtsvereinheitlichende Wirkung (siehe unten 3). Durch die Kombination mit der Vorrangzuständigkeit ist eine Misch/orm zwischen konkurrierender und ausschließlicher Zuständigkeit gefunden. Der Primat des Jugoslawientribunals führt zu einer "beweglichen Zuständigkeit", durch die der Ankläger frei steuern kann, ob er den Fall den nationalen Staatsanwaltschaften überlässt oder vor das Jugoslawientribunal bringt. Aus deutscher Sicht ist diese Regelung nicht unproblematisch, da eindeutig festgeschriebene Abgrenzungskriterien fehlen, was vereinzelt zu dem Vorwurf geführt hat, die Regelung verstoße gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (Gesetzlicher Richter).54 Wenn auch mittlerweile eine Linie der Anklagebehörde erkennbar ist (oben I 2 a), bleibt für den Angeklagten im Einzelfall schwer ersichtlich, nach welchen - qualitativen oder quantitativen - Kriterien die Anklagebehörde Ermittlungs- oder Strafverfahren übernehmen will. 55 Dies öffnet einer gewissen Willkür Tür und Tor. Der Angeklagte könnte es als Zufall empfinden, vor welchem Gericht er angeklagt wird. Durch eine genaue Festschreibung der Kriterien müsste insbesondere gewährleistet sein, dass das internationale Gericht nicht doch in die Rolle eines Revisions- oder Kassationshofs gerät. In der Praxis ist der Unterschied zwischen der Vorrangzuständigkeit und dem Komplementaritätsprinzip nicht groß. Kaum ein Staat hat die Vorrangzuständigkeit adäquat in nationales Recht umgesetzt, die Bundesrepublik Jugoslawien ist mehrfach Abtretungsersuchen nach Art. 9 Abs. 2 JugTSt nicht nachgekommen. 56 Die einschränkenden Erklärungen der vier ständigen Sicherheitsrat-Mitglieder zur Vorrangzuständigkeit des Jugoslawientribunals 57 lassen erkennen, dass der Sicherheitsrat wohl nur unter diesen Voraussetzungen einem Abtretungsersuchen des Tribunals Unterstützung zukommen lassen würde. Dies zeigt die geringe Akzeptanz der Staatengemeinschaft für derart weite Rechtsprechungskompetenzen. Die im Sicherheitsrat vorgeschlagene enge Auslegung der Vorrangzuständigkeit ist nicht 54 Roggemann, Strafgerichtshöfe, S. 93. Zur vergleichbaren "beweglichen Zuständigkeit" nach StPO und GVG siehe zustimmend BVerfGE 9, 223 ff.; 22, 254 ff.; kritisch MK/Kunig, Art. 101 Rn. 23 ff., 28. 55 Dies beklagt Griesbaum, Verfahrensgrundsätze, S. 137. 56 Vgl. die Aufstellung von Lattanzi, Complementarity, S. 3 ff.; 6 th annual report 01 the feTY, UN-Dokument A/54/187 (1999), Rn. 90 ff. 57 Oben Fn. 10.
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1. Teil, § 2 Die Prinzipien der Vorrangzuständigkeit
weit vom Komplementaritätsprinzip entfernt: Sie stellt eine außergewöhnliche Form der internationalen Gerichtsbarkeit dar, die nur in Betracht kommt, wenn die nationalen Verfahren ineffektiv oder unerreichbar sind.
3. Interpretationskonkurrenz zwischen den Rechtsordnungen Das System Völkerstrafrecht besteht aus Parallelrechtsordnungen, die fast unabhängig nebeneinander stehen. Die Aufgabe der Tribunale ist - abgesehen von den Ne bis in idem-Ausnahmen - nicht die Überprüfung von nationalen Gerichtsurteilen oder die Vorgabe von rechtlich verbindlichen Auslegungen völkerrechtlicher Straftatbestände. Eine Bindung an die von den Strafrechtstribunalen vertretene Auslegung im Sinne eines stare decisisPrinzips besteht für die nationalen Strafgerichte nicht. 58 Ausgehend von dieser Grundkonzeption kann deshalb eine einheitliche Rechtsprechung nicht gewährleistet werden, es kommt zur Interpretationskonkurrenz innerhalb der beiden Parallelrechtsordnungen, die sich dadurch unabhängig voneinander weiterentwickeln. Jedes Gericht legt die eigenen, aber i. d. R. identischen Tatbestände abschließend und unabhängig von den anderen Gerichten aus. So ist es möglich - und in Detailfragen höchst wahrscheinlich -, dass der InStGH den Tatbestand des Völkermords (Art. 6 RomSt) anders auslegen wird, als ein deutsches Gericht den fast wortgleichen Art. 220 a StGB. Dies ist nicht von vornherein negativ, da das Primärziel des Völkerstrafrechts nicht die Rechtsvereinheitlichung ist, sondern nur eine effektive und gerechte Bestrafung von Kriegsverbrechen. Eine einheitliche Rechtsprechung kann nur dann entstehen, wenn sich andere (nationale oder internationale) Gerichte an der Rechtsprechung der (weltweiten) Strafrechtstribunale als persuasive authority orientieren. Hier tritt zum ersten Mal eine Erscheinung auf, die als "freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung" bezeichnet werden kann. Gemeint ist damit eine freiwillige Ausrichtung der eigenen Rechtsprechung an einem anderen Gericht kraft (vermuteter) höherer Autorität, Sachverstandes und größerer Sachnähe. 59 Dem trotz allem gehegten Wunsch nach einheitlicher Rechtsprechung im Völkerstrafrecht entspricht es, dass beide Ad-Hoc Tribunale über eine gemeinsame Berufungskammer verfügen (siehe Art. 12 Abs. 2 RuandaTSt). Zumindest die zur Zeit aktiven internationalen Strafrechtstribunale sollen keine inhaltlich 58 Zu dem im common law geltenden Präjudizienrecht siehe Lundmark, JuS 2000, 546 ff.; Blumenwitz, Anglo-amerikanisches Recht, S. 23 ff. 59 Diese Möglichkeit betont das Ruanda-Tribunal auf seiner Intemet-Homepage: "Since its establishment ... the ICTR has ... Laid down definitions in international law, which will serve as precedents tor other International Criminal Tribunals and tor courts alt over the world ....., http://www.ictr.org/ (achievements of the ICTR). Ausführlich zu diesem Aspekt Scheurer, ICLQ 23 (1974), 681 (694 ff.).
11. Strukturanalyse
49
voneinander abweichende Rechtsprechung entwickeln. Da aber sowohl das Jugoslawientribunal wie auch das Ruandatribunal nach Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs weiter bestehen sollen, entsteht ein neues Konfliktfeld. 4. Koordination der konkurrierenden oder parallelen Zuständigkeit
Das Verhältnis zwischen nationaler und internationaler Strafjustiz zeigt, welche Punkte zwischen zwei konkurrierend zuständigen Parallelrechtsordnungen mindestens koordiniert werden müssen: Das sind zum einen Zugangsregeln über die Frage, ob Verfahren gleichzeitig, hintereinander oder nur alternativ eingeleitet werden können. Zum anderen sind die Auswirkungen eines Prozesses auf den anderen zu klären (Probleme der Rechtskraft und der Rechtshängigkeit). Sobald ein - wenn auch nur theoretisches Wahlrecht zwischen zwei verschiedenen Gerichten besteht, tritt zudem das Phänomen des "forum shoppings" auf. Der Ausdruck "forum shopping" steht für das Verhalten des Klägers/Angeklagten, der das Forum für den Rechtsstreit unter mehreren zuständigen Gerichten berechnend auswählt. Dieser Effekt kann erwünscht sein oder muss als unerwünschte Nebenerscheinung weitgehend verhindert werden. 6o
60 4 Lutz
Dazu unten § 10 I 2 b.
§ 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität am Beispiel
der bundesdeutschen Verfassungsgerichte I. Bestandsaufnahme
1. Konkurrenzsituationen durch wachsende Bedeutung der Landesverfassungsbeschwerde
Das Verhältnis zwischen den Landesverfassungsgerichten und dem BVerfG (also zwischen staatlichen Gerichten) wird deshalb mit in die Betrachtung einbezogen, weil sich hier exemplarisch die Probleme der Interpretation und Anwendung wort- oder inhaltsgleicher Parallelrechtsordnungen' aufzeigen lassen. Die Existenz zweier, vielfach miteinander verflochtener Rechtsebenen, deren Verfahren parallel eingeleitet werden können, führt zu schwierigen Abgrenzungsfragen, insbesondere an den nicht deckungsgleich verlaufenden Nahtstellen zwischen den Zuständigkeitsbereichen des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte. Durch die Einführung der Verfassungsbeschwerde in den neuen Bundesländern und den verschärften Annahmevoraussetzungen des BVerfG wird die Landesverfassungsbeschwerde zunehmend als prozessuale Alternative wahrgenommen, wodurch die Abgrenzungsprobleme in letzter Zeit offener zu Tage getreten sind. 2 Die Einbeziehung der zum Teil kontroversen Auffassungen in der Literatur zeigt zudem, wie Parallelrechtsordnungen verschiedener Ebenen durch Koppelungsmechanismen in unterschiedlich starke Abhängigkeit voneinander gebracht werden können.
I Siehe die Nachweise oben S. 28 in Fn. 32. Geschichtlich gesehen ist die Bundesverfassungsbeschwerde als zweite Rechtsordnung später hinzugetreten. Bis zur Wiedervereinigung war die Landesverfassungsbeschwerde relativ unbedeutend und führte eher ein Schattendasein, da sie nur in Bayern, Hessen und dem Saarland erhoben werden konnte. Zudem stand die Landesverfassungsbeschwerde auch für die Öffentlichkeit erkennbar im Schatten der Bundesverfassungsbeschwerde und der Rechtsprechung des BVerfG, nach der sich die Landesverfassungsgerichte bei ihrer Auslegung der Landesverfassung teilweise freiwillig gerichtet haben (unten 3 b dd). Eine Aufstellung der verschiedenen Landesverfassungsgerichte und deren Zuständigkeit findet sich bei Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Anhang zu § 9, Rn. 529 ff. 2 Siehe BMJ, Kommissionsbericht, S. 85 ff.
I. Bestandsaufnahme
51
2. Aufgabenparallelität von Landes- und Bundesverfassungsbeschwerde a) Die Aufgabenteilung bei der Überprüfung von Akten der Landesstaatsgewalt
Grundsätzlich erscheint die Aufgabenverteilung der Gerichte einfach und eindeutig: Jedes Gericht überprüft den angegriffenen Hoheitsakt auf die Vereinbarkeit mit "seiner" Parallelrechtsordnung: Das BVerfG ist zuständig für die Prüfung, ob Akte des Bundes oder der Länder gegen das GG verstoßen. Die Landesverfassungsgerichte sind im Prüfungsmaßstab auf Landesgrundrechte und Akte der Landesstaatsgewalt beschränkt. 3 Die Zuständigkeit des BVerfG für Akte der öffentlichen Gewalt der Länder führt dazu, dass in derselben Sache sowohl das BVerfG als auch ein Landesverfassungsgericht angerufen werden kann, wenn die behauptete Grundrechtsposition sowohl im Grundgesetz wie auch in der Landesverfassung verbürgt ist (doppelspuriger Grundrechtsschutz). 4 Wendet sich der Kläger gegen einen Hoheitsakt eines Bundeslandes5 , stellt § 90 Abs. 3 BVerfGG ausdrücklich klar, dass Landes- und Bundesver3 Siehe z.B. BayVerfGH 22, 124 (125 f.); HessStGH ESVGH 11 11 22; BVerfGE 96, 345 (371); SchlaichlKorioth, Rn. 339 f. m. w. N.; a. A. nur v. Olshausen, S. 78 ff., 84 ff. Eine Überprüfung einer Entscheidung eines Bundesgerichts, einer Maßnahme einer Bundesbehörde oder einer bundesrechtlichen Norm scheidet deshalb aus. In diesen Fällen kommt nur eine Bundesverfassungsbeschwerde in Betracht (Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 199; Dreier, Art. 142 Rn. 86 f., jüngst SächsVerfGH, NJW 1999,51 [Maßnahme einer Bundesbehörde)). 4 In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob es sich bei übereinstimmenden Grundrechten in GO und Landesverfassung um zwei verschiedene Grundrechte handelt (so Dietlein, AöR (120) 1995, 12 ff.; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde, S. 119 ff.; Friesenhahn, FS-BVerfG I, S. 763 f.) oder um "ein und dasselbe Grundrecht" (BVerfGE 22, 267 (271); BerlVerfGH NJW 1993, 513 (514)), das allerdings mehrfach gesichert ist (so insbesondere Geiger, FS Laforet, S. 251 (259); v. Münch, in: ders./Kunig, Art. 142 Rn. 9). Die Frage hat keine tiefgreifenden Auswirkungen auf die Entscheidung von Streitfragen, sondern dient i. d. R. lediglich zur Untermauerung eines wie auch immer gearteten Vorverständnisses vom Verhältnis zwischen Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht und verstellt deshalb den Blick auf die Frage, wie ernst man die Feststellung des BVerfG nimmt, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit vollzögen sich im Bundesstaat in grundsätzlich getrennten Räumen (BVerfGE 4, 178 (189); 64, 301 (317)) und stünden selbständig nebeneinander (BVerfGE 6, 376 (381 f.); zuletzt 96, 231 (242)). Angemerkt sei nur, dass die Theorie vom identischen Grundrecht logischerweise auf die EMRK, die Grundrechte des EuGH und den IPBürgR ausgedehnt werden müsste und spätestens dann zu absurden prozessualen Ergebnissen führte. 5 Präzisierend sei angemerkt, dass es um die Überprüfung von Akten der Landesstaatsgewalt bei der Anwendung von i. d. R. materiellem Landesrecht geht, also um 4*
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1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
fassungsbeschwerde unabhängig voneinander bestehen, sofern auf Landesebene ein Beschwerdeverfahren eröffnet ist. Hat der Landesgesetzgeber das Verhältnis beider Verfahren nicht anders ausgestaltet, gilt weder das Prinzip des zeitlichen Vorrangs, noch schließen sich die Rechtsinstitute gegenseitig aus. De~ Beschwerdeführer kann deshalb alternativ oder kumulativ Verfassungsbe\chwerde vor dem Landesverfassungsgericht und dem BVerfG erheben. Diesem auf den ersten Blick prozessökonomisch unsinnigen Ergebnis hatte die Literatur vergeblich die Einwände der Rechtshängigkeit, der Subsidiarität oder der Rechtskraft entgegenzusetzen versucht. 6 Heute ist unbestritten, dass der Gesetzgeber mit § 90 Abs. 3 BVerfGG, der die verfahrensrechtliche Konsequenz aus der mehrfachen Garantie der Grundrechte zieht, eine echte Rechtsbehelfskonkurrenz zugelassen hat. 7 Wegen des besonderen Annahmeverfahrens beim BVerfG ist dem Beschwerdeführer sogar immer ein doppelspuriges Vorgehen anzuraten, denn auf Grund der Fristgebundenheit sowohl der Bundesverfassungsbeschwerde als auch der meisten Individualrechtsbehelfe zu den Landesverfassungsgerichten wird ein verfahrensrechtlich zulässiges hintereinandergeschaltetes Einlegen beider Verfassungsbeschwerden in der Regel sogar unmöglich sein. 8 Hält der EGMR an der Auffassung der (mittlerweile aufgelösten) Europäischen Menschenrechtskommission (EKomMR) fest, dass vor Anrufung des EGMR (Art. 35 Abs. 1 EMRK - Erfordernis der Rechtswegerschöpfung) auch nach erfolgloser Landesverfassungsbeschwerde noch das BVerfG mit der Sache befasst werdie Frage, ob die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung dieser Normen gegen die Landesverfassung verstoßen haben. Dies führt auch zur Aufhebung von Entscheidungen der Gerichte der Länder, wenn sie - wie regelmäßig - in bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind. Diese Fallgruppe ist heute unstrittig, siehe z.B. Berg, Kassation, S. 538 ff.; Rozek, AöR (119) 1994,451 (460 ff.); BayVerfGHE 26, 127 (133, 137); 41, 39 (43). Umstritten ist hingegen der Prüfungsumfang bei Landesverfassungsbeschwerden wegen Verletzung der Landesverfassung, die auf einer verfassungswidrigen Anwendung des Bundesverfahrensrechts oder des materiellen Bundesrechts durch Fachgerichte des Landes beruhen (dazu unten b). 6 So z.B. Milleker, DVBI. 1969, 129 ff.; v. Hammerstein, Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, S. 48 ff.; Burmeister, Vorlagen nach Art. 100 Abs. 3, S. 458. Siehe auch unten 11 2. 7 Jetzt ausdrücklich BVerfG NJW 1996, 1464; siehe auch E 22, 267 (272). Die Landesverfassungsbeschwerde ist insbesondere kein zu erschöpfender Rechtsweg i. S. d. § 90 Abs. 2 BVerfGG (BVerfG, a. a. 0.). In der Literatur ist dies weitgehend unbestritten, siehe Schäfer, JZ 1951, 199 ff.; Geiger, DRiZ 1969, 137 ff.; Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 191 ff.; Schmidt-Bleibtreu, in: M/SB/K/U, BVerfGG, § 90 Rn. 210 ff. u. 215 ff. An dieser klaren Regelung kann auch die Lehre vom Streitgegenstand nichts ändern (richtig Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG § 90 Rn. 132 und 133). Wahrscheinlich liegen sogar verschiedene Streitgegenstände vor (Domcke, FS-BayVerfGH, S. 324 m. w.N.). 8 Bis zur Entscheidung des ersten Gerichts wird die Frist zur Anrufung des zweiten verstrichen sein. Zutreffend Schmidt-Bleibtreu, in: M/SB/KlU, BVerfGG, § 90 Rn. 215.
1. Bestandsaufnahme
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den muss,9 ist ebenfalls doppelspuriges Vorgehen notwendig; andernfalls ist der Weg zum EGMR versperrt. Nur durch doppelspuriges Vorgehen hat der Beschwerdeführer daher die Möglichkeit, beide Gerichte zu befassen. Hier liegt ein diametraler Gegensatz zu dem sonst vorherrschenden prozessrechtlichen Grundsatz, durch die Sperrfunktionen der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft eine doppelte Entscheidung in derselben Sache zu verhindern (dazu unten § 10 I 2b). Jede Parallelrechtsordnung kann für sich jedoch die Verfahrenskonkurrenz ausschließen, indem eine gleichzeitige Befassung beider Gerichte generell oder für bestimmte Fallgruppen ausgeschlossen wird (absolute/relative Subsidiarität, Präklusion oder Verfahrensaussetzung).10 b) Kompetenzerweiterung der Landesveifassungsgerichte bei der Anwendung von Bundesrecht
Als Beschwerdegegenstand können nicht nur Maßnahmen der Landesstaatsgewalt auf Grundlage landesrechtlicher Ermächtigungen in Betracht kommen. Der Streit um die Reichweite des Prüfungsumfangs der Landesverfassungsgerichte bei der Anwendung von Bundesverfahrensrecht oder Bundesrecht durch Fachgerichte der Länder war schon vor dem HonneckerBeschluss des Berliner VerfGH 11 Gegenstand kontroverser Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur. 12 Denn nach Art. 31 GG geht Bundesrecht auch der jeweiligen Landesverfassung vor. Somit scheinen die Landesverfassungsgerichte in diesen Fällen von einer Kontrolle ihrer Gerichte generell ausgeschlossen zu sein. Das BVerfG hat sich jüngst 13 zumindest in der Begründung der Auffassung des BerlVerfGH angeschlossen und eine Überprüfung von Bundesverfahrensrecht (ZPO, StPO, VwGO etc.) im Grundsatz zugelassen und den Landesverfassungsgerichten unter engen VoraussetzunEKomMR Rs. 6729174, DR 1, 93. Siehe z.B. § 49 Abs 2 BerlVerfGHG, § 9 Abs. 1 BgbVerfGG und jüngst § 43 Abs. 1 S. 2 HessStGHG. 11 BerLVerfGH NJW 1993, 515 ff., dogmatisch vorbereitet durch BerLVerfGH NJW 1993,513 ff. 12 Eine exakte Bestimmung der Reichweite landesverfassungsrechtlicher Prüfungskompetenz führt tief in die bundesstaatliche Kompetenzordnung und kann hier nicht geleistet werden. Siehe dazu Friesenhahn, FS BVerfG I, S. 765 ff.; v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde, S. 39 ff.; Berg, Kassation, S. 529 ff.; Zierlein, AöR 120 (1995), 205 (206 ff.). SchlaichlKorioth, BVerfG, Rn. 340 ff.; Lemhöfer, NJW 1996, 1714 ff. Zur Rechtsprechung des BayVerfGH und des HessStGH bis BVerfGE 96, 342 siehe Rozek, AöR 119 (1994), 545 ff. 13 BVerfGE 96, 342 ff. Zum Urteil siehe Hain, JZ 1998, 620 ff.; Dreier, Grundrechtsschutz, S. 25 ff.; Lange, NJW 1998, 1278 ff.; Menzel, NJW 1999, 1314 ff.; Wittreck, DÖV 1999, 634 ff. Die Entscheidung bezieht sich ausdrücklich nur auf die Anwendung von Bundesverfahrensrecht (dazu Hain, a. a. 0., S. 623), ist aber grundSätzlich auf die Anwendung von Bundesrecht übertragbar. 9
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1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
gen 14 eine erweiterte Prüfungskompetenz zugesprochen. Ziel dieser Rechtsprechung ist erkennbar die Verlagerung eines Teils der Arbeitslast auf die Landesverfassungsgerichte, ohne dabei die Letztentscheidungskompetenz aus den Händen zu geben. 15 Für den Bürger dürfte sich allerdings dort eine Verstärkung des grundrechtlichen Rechtsschutzes ergeben, wo keine besonderen Annahmeverfahren für die Landesverfassungsbeschwerde bestehen. 16 Dadurch dürfte eine Veifahrensverlagerung innerhalb der Parallelrechtsordnungen vom überlasteten BVerfG zu den leichter zugänglichen Landesverfassungsgerichten eintreten. Die Landesverfassungsgerichte werden wie ein "Filter" vor das überlastete BVerfG geschaltet. 17
14 Kern der Entscheidung bildet ein "Sonderregime" für die landesverfassungsrechtliche Überprüfung der Anwendung von Bundesverfahrensrecht, die nur bei inhaltsgleichen Grundrechten zulässig sein soll. Einschränkend definiert das BVerfG Inhaltsgleichheit als Ergebnisgleichheit im Einzelfall, die die Landesverfassungsgerichte nach einem engen mehrstufigen Prüfungsschema festzustellen haben (BVerfGE 96, 342 (374 f.»: Zunächst muss das LVerfG prüfen, zu welchem Ergebnis die Anwendung des parallelen Bundesgrundrechts führt. Dabei unterliegt es der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 S. 1 BVerfGG verbunden mit einer Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 3 GG (dazu Pestalozza, Art. 142 GG, S. 245 (249 ff.). Kritisch Hain, JZ 1998, 620 (623 ff.); Lange, NJW 1998, 1278 (1279 f.». Sodann ist der Vorgang am Maßstab der Landesverfassung (LV) zu wiederholen. Ist das Ergebnis identisch, darf ein Verstoß gegen die LV festgestellt werden, im Fall einer Divergenz erweist sich die Beschwerde bereits als unzulässig. Das LVerfG muss also will es seine Zuständigkeit wahren - Landesgrundrecht und Bundesgrundrecht identisch auslegen. 15 Die Entscheidung ist deshalb von großer praktischer Bedeutung, da sie insbesondere im Bereich der Verletzung von Verfahrensgrundrechten zum Tragen kommt. Dieser Bereich macht den Schwerpunkt der Arbeitslast des BVerfG aus (siehe BMJ, Kommissionsbericht, S. 22 f.; Lange, NJW 1998, 1278 (1279 f.». Zudem übernimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Bereich durch Verkürzung der normalen Rechtswege immer mehr auch inhaltlich die Funktion eines Instanzgerichts (so BVerfGE 49, 252 (259); Berg, Kassation, S. 538; Finkeinburg, Doppelspuriger Rechtsschutz, S. 183). Entlastung soll das durch die jüngste ZPO-Reform eingeführte Abhilfeverfahren bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bringen (§ 321 a ZPO n.F.). 16 So auch deutlich BVerfGE 96, 342 (374). 17 Unsicher sind sich die ersten Stellungnahmen bei der Bewertung der erwarteten Entlastungswirkung, da die Landesverfassungsgerichte als Prüfungsinstanzen "nur addiert, nicht aber substituiert worden sind" (Wittreck, DÖV 1999, 634 (642); siehe auch Klein, FS Graßhof, S. 390.) Konsequenterweise dürfte das BVerfG in Zukunft doppelt eingelegte Verfassungsbeschwerden in diesen Fällen wegen des Grundsatzes der Subsidiarität nicht mehr zur Entscheidung annehmen. In diesem Sinne auch Enders, JuS 2001, 462 ff.
I. Bestandsaufnahme
55
3. Folgeprobleme der Aufgabenparallelität a) "Rechtswegverdoppelung" durch faktischen Hinzugewinn einer Instanz Die Entscheidung jedes Gerichts ist für seinen Rechtskreis abschließend, ein generelles Vorrangprinzip zugunsten des BVerfG kennt das Grundgesetz nicht; das Karlsruher Gericht ist insbesondere keine regelmäßige "zweite Instanz" über den Landesverfassungsgerichten, die deren Entscheidungen voll nachprüft. 18 Die parallele Zuständigkeit führt dazu, dass der angegriffene Hoheitsakt mit beiden Parallelrechtsordnungen vereinbar sein muss. Deshalb hat der Ausgang eines Verfahrens auch bei inhaltsgleichen Grundrechten keine Präjudizwirkung auf das andere Verfahren. Der Spruch des zuerst entscheidenden Verfassungsgerichts ist nur dann ausschlaggebend, wenn dieses dem Antrag stattgibt; im entgegengesetzten Fall ist letztendlich das Urteil des als zweites entscheidenden Verfassungsgerichts maßgebend; entweder weist es die Verfassungsbeschwerde ab und bestätigt damit inhaltlich das erste Urteil oder es gibt der Verfassungsbeschwerde statt. 19 Dies kann dazu führen, dass - wie das BVerfG festgestellt hatZO - "gelegentlich einmal die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts und des BVerfG, die dieselbe Sache betreffen, auseinander gehen". Diese ,,!nterpretationskonkurrenz" wirft keine systematischen Probleme auf, da jedes Urteil nur für seinen Rechtskreis die Richtigkeit beansprucht, Abweichungen betreffen den jeweils autonom ausgelegten eigenen Prüfungsmaßstab. Z1 Durch die "zweite Chance" gewinnt der Beschwerdeführer faktisch eine Instanz hinzu ("Primat der für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung"zz). b) Rückkopplungen zwischen Bundes- und Landesverfassungsgericht Wenn auch das BVerfG betont, dass der Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder vom Bundesverfassungsgericht möglichst unangetastet bleiben müsse und die Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht in größere 18 BVerfGE 6, 445 (449); 60, 175 (208); Bethge, Verfassungsgerichtsbarkeit, S.184. 19 Ausführlich Milleker, DVBI. 1969, 129 (132 f.). Die Kassation führt zur Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes und damit zur VerfahrenseinsteJlung des verbleibenden Verfahrens. Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 197 m. W.N. 20 BVerfGE 36, 342 (368 f.). 21 Schumann, FS 50-Jahre BayVerfGH, S. 214. 22 Deshalb ist die Aussage des BVerfG, letztlich setze sich seine Auffassung durch (BVerfGE 36, 342 (369)), nicht ganz richtig. Vielmehr setzt sich jeweils die gegenüber dem Hoheitsakt negative Entscheidung durch, gleich von wem sie erlassen wurde (Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 198).
1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
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Abhängigkeit gebracht werden dürfe, als es nach dem Bundesverfassungsrecht unvermeidbar sei 23 , kommt dem höchsten deutschen Gericht durch seine Letztentscheidungskompetenz für die vorrangige Bundesverfassung eine dominante Rolle innerhalb der bei den Parallelrechtsordnungen zu. aa) Rückkoppelung auf der Normebene Eine Besonderheit des föderalen Grundrechtssystems besteht in der Rückkoppelung der beiden Parallelrechtsordnungen bereits auf der Normebene. Das Grundgesetz als weitere Parallelrechtsordnung stellt bestimmte inhaltliche Voraussetzungen für die Gültigkeit der Landesverfassungen als engerer Parallelrechtsordnung auf, denn die Landesgrundrechte gelten nach Art. 142, 31 GG nur, soweit sie mit den Grundrechten des Grundgesetzes oder sonstigem Bundesrecht übereinstimmen?4 Bei der Frage, ob sich die Landesgrundrechte in der autonomen Auslegung des Landesverfassungsgerichts noch "in Übereinstimmung" mit den korrespondierenden Bundesgrundrechten befinden, ist mittelbar die authentische Auslegung des BVerfG entscheidend, die damit den genauen Inhalt und Umfang der engeren Parallelrechtsordnung mitbestimmt. 25
BVerfGE 36, 342 (357); 60, 175 (209); 96, 231 (242) ständige Rechtsprechung. Zu den sich daraus ergebenden komplexen Einzelfragen siehe ausführlich Stern, Staatsrecht IIII2, § 93 V insbesondere Ziff. 4, 5; Zierlein, AöR 120 (1995), 205 (222 ff.); Rozek, Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab, S. 200 ff.; Dreier, Kommentierung des Art. 142. Weicht ein LVerfG bei der Auslegung des Grundgesetzes von der Rechtsprechung des BVerfG oder eines anderen LVerfG ab, ist das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 3 zu beschreiten. Hält es eine Norm der Landesverfassung für grundgesetzwidrig oder bundesrechtswidrig, bedarf es einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 oder 2 GG (Stern, Staatsrecht IIII2, § 93 VII 3 a S. 1505 ff.; BayVerfGHE 26, 28 (34); Rozek, Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab, S. 201). 25 Rozek, Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab, S. 211. Die jetzt vorherrschende Lehre, die sowohl Mindergewährleistungen als auch "überschießende Landesgrundrechte" i. d. R. in Kraft lässt (jetzt ausdrücklich BVerfGE 96, 345 (365 f., 368); NJW 1996, 1464 (Kammer); Lotz, FS 50 Jahre BayVerfGH, S. 115 (123 f.); v. Olshausen, S. 121 ff.; Zierlein, AöR 120 (1995), 205 (224) m.w.N.; Dreier, Art. 142 Rn. 47), vereinfacht jedoch diese Inzidentkontrolle; die Vorfrage wird für die Landesverfassungsgerichte deshalb nach derzeitigem Normbestand problemlos zu überwinden sein. Zur Gegenmeinung, nach der Mindergewährleistungen Art. 31 GG zum Opfer fallen, siehe noch BVerfGE 42, 312 (325) und statt vieler Stern, Staatsrecht IIII2, § 93 V I 3 S. 1476 mit umfangreichen Nachweisen: "grundgesetzwidriges Homogenitätsdefizit führt zur Derogation der entsprechenden Landesgrundrechte ". 23
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I. Bestandsaufnahme
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bb) Begrenzte Überprüfungs befugnis des Bundesverfassungsgerichts Obwohl das BVerfG keine Revisionsinstanz über den Landesverfassungsgerichten ist, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG gegen eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG zu erheben. 26 Trotzdem dürfte eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen eher die Ausnahme sein. Die unzutreffende Auslegung des Landesverfassungsrechts durch das Landesverfassungsgericht ist nicht rügefähig. 27 Relativ unproblematisch ist es hingegen, wenn eine solche Verfassungsbeschwerde die Verletzung verfahrensrechtlicher Grundrechte des GG zum Gegenstand hat, denn auch das Landesverfassungsgericht ist als bundesdeutsches Gericht an die prozessualen Grundrechte des GG gebunden?S cc) Parallelisierung der Rechtsprechung durch Art. 100 Abs. 3 GG? Eine weitere wichtige Streitfrage, von der die Eigenständigkeit der Landesverfassungsgerichte entscheidend abhängt, ist, ob ein Landesverfassungsgericht zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG verpflichtet ist, wenn es eine landesverfassungsrechtliche Norm auslegt und dabei von der Interpretation einer inhaltsgleichen Norm des Grundgesetzes durch das BVerfG (oder durch ein anderes Landesverfassungsgericht) abzuweichen gedenkt. 29 Die 26 Deren Statthaftigkeit ist unbestritten, BVerfGE 6, 445 (447); zuletzt 96, 231 (242); Bethge, in: M/SB/K/U, BVerfGG, Vorb. Rn. 281. 27 Hat der Beschwerdeführer das Landesverfassungsgericht erfolglos angerufen, steht ihm eine Bundesverfassungsbeschwerde nur mit der Behauptung offen, die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts verletzte ein Grundrecht des Grundgesetzes. Prüfungsgegenstand ist dann nicht mehr die ursprünglich angefochtene Maßnahme der Landesstaatsgewalt - die Verletzung von Grundrechten durch die fachgerichtliche Entscheidung -, sondern eine mögliche neue Grundrechtsverletzung durch das Landesverfassungsgericht (Friesenhahn, FS BVerfG I, S. 792; BVerfG (Kammer) NVwZ 1994, 59 (60); Schmidt-Bleibtreu, M/SB/K/U, § 90 Rn. 216; Dreier, Art. 142 Rn. 88. Für ein extensiveres Prüfungsrecht des BVerfG wohl Geiger, DRiZ 1969, 137 (140 f.». Deshalb ist schwer vorstellbar, wie eine Entscheidung, ein Hoheitsakt sei mit den Landesgrundrechten vereinbar, gegen Bundesgrundrechte verstoßen kann. Beispielhaft BVerfGE 30, 112 (123 ff.). Siehe dazu Schumann, FS 50Jahre BayVerfGH, S. 213 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Diseher, Landesverfassungsgerichte, S. 188 ff.; Geiger, DRiZ 1969, 137 (140 f.). 28 Insbesondere die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 100 Abs. I S. 2 GG) und der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. I GG). 29 Für eine Vorlagepflicht bei inhaltsgleichen Grundrechten BerlVerfGH NJW 1993, 513 (514). Aus der Literatur z.B. Geiger, DRiZ 1969, 137 (138); Friesenhahn, FS BVerfG I, S. 798; Zierlein, AöR 120 (1995), 205 (237 ff.); Stern, Staats-
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1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
Entscheidung für die eine oder andere Meinung wird letztlich davon determiniert, inwieweit man unterschiedliche Interpretationen der Parallelrechtsordnungen für möglich hält und die dadurch zwangsläufig eintretenden Entscheidungsdivergenzen als Konsequenz der weitgehenden Eigenständigkeit hinnimmt oder der Auffassung ist, dass sich letztlich doch die Auffassung des BVerfG durchsetzen muss. Von Wortlaut und Systematik her zwingend ist die eine Vorlagepflicht bejahende Auffassung jedenfalls nicht, die Auslegung der inhaltsgleichen Landesverfassung ist eben keine Auslegung des Grundgesetzes?O Die von Rühmann31 vertretene analoge Anwendung von Art. 100 Abs. 3 GG kann daher nur befürworten, wer mit Unbehagen sieht, dass zwei höchste Gerichte inhaltsgleiche Bestimmungen der Parallelrechtsordnungen für ihren Rechtskreis abschließend unterschiedlich auslegen. Das zuletzt entscheidende Gericht stellt mit der Auslegung seiner - wenn auch nur inhaltlich übereinstimmenden Norm - die Auslegung des anderen Gerichts zumindest indirekt in Zweifel. ("Verdunkelungswirkung,,32). Nicht bewertet, sondern als Konsequenz klargestellt bedeutet dies, dass eine Vorlageverpflichtung die Eigenständigkeit der engeren Parallelrechtsordnung beseitigt und die Rechtsprechung unter der Oberaufsicht des BVerfG parallelisiert und nivelliert. 33 dd) Freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung In der Rechtsprechungspraxis der Landesverfassungsgerichte tritt eine Erscheinung auf, die schon bei den Strafrechtstribunalen nachgewiesen wurde (oben § 2 11 3). Selbst in Bereichen, in denen eine umfassende Bindung an recht IIII2 S. 1507 f. (nur bei rezipierten Grundrechten). Gegen eine Vorlagepflicht Rozek, Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab, S. 189; Dreier, Grundrechtsschutz, S. 22 ff.; Domcke, FS 25-Jahre BayVerfGH, S. 326; Bethge, in: M/SB/K/U, BVerfGG, § 85 Rn. 20 ff. Ganz eigener Ansatz bei Burmeister, Vorlagen nach Art. 100 III, S. 421 ff., 457. 30 So jetzt auch lapidar eine Vorlagepflicht verneinend BVerfG, NJW 1999, 1020 (1021) (Kammerbeschluss); NVwZ 1994, 59 (60) (Kammerbeschluss) dazu Sachs, JuS 1994, 796; Tietje, AöR 124 (1999), 282 (296 f.). Die in BVerfGE 96, 345 (373 f.) statuierte mittelbare Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 3 GG stellt ein Sonderregime für die dort behandelte Konstellation dar (oben 2 b) und darf deshalb nicht zu der Annahme verleiten, die Landesverfassungsgerichte müssten bei der Anwendung von Landesgrundrechten immer das dort vorgeschriebene Prüfprogramm beachten. So auch ausdrücklich Dreier, Grundrechtsschutz, S. 26 ff. 31 In: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 85 Rn. 34 ff. 32 Rühmann a. a. O. In diese Richtung auch Klein, FG Graßhof, S. 372. 33 Kritisch deshalb Bethge, in: M/SB/K/U, BVerfGG, § 85 Rn. 21; Dreier, Grundrechtsschutz, S. 24: "Todesstoß für eine eigenständige - und d.h. zuweilen eben auch: eigensinnige - landesverfassungsrechtliche Grundrechtsjudikatur". Von einer "Gleichschaltung" für den Sonderfall in BVerfGE 96, 345 spricht Hain, JZ 1998,620 (621).
II. Strukturanalyse
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die Rechtsprechung des BVerfG zumindest aus Karlsruher Sicht derzeit nicht gefordert wird (soeben cc), lassen sich die Landesverfassungsgerichte von den Interpretationen des BVerfG beeinflussen. Häufig folgen die Landesverfassungsgerichte dem BVerfG bei der Auslegung des parallelen Landesverfassungsrechts. Dies möglicherweise auch deswegen, um eine "Übereinstimmung" i. S. d. Art. 142 GG zweifelsfrei annehmen zu können und gar nicht in die Gefahr der Derogation des eigenen Prüfungsmaßstabs zu gelangen. 34 Die neuere Rechtsprechung des BVeifG (oben 2 b) könnte bei denjenigen Landesverfassungsgerichten zu einer weiteren Parallelisierung der Rechtsprechung führen, die sein Angebot zur Erweiterung ihres Prüfungsumfangs annehmen. Da sie bei derartigen Verfahren über die Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 3 GG in eine umfassende interpretatorische Abhängigkeit des BVerfG geraten, werden sie bei "normalen" Landesverfassungsbeschwerden die eigenen Landesgrundrechte kaum abweichend interpretieren können. Diese "Rückschlagsgefahr" auf die Auslegung der autonomen Landesgrundrechte ist das Hauptproblern der Entscheidung. 35 11. Strukturanalyse Wenn auch betont werden muss, dass sich Verfassungsgerichte auf Grund ihrer besonderen Funktion als "Hüter der Verfassung" nicht ohne weiteres mit Fachgerichten vergleichen lassen, sind fast alle Strukturelemente und Probleme bei der Konkurrenz von Parallelrechtsordnungen erkennbar. 1. Verzahnung und Wechselbeziehungen zwischen
den Parallelrechtsordnungen
Das föderale Grundrechtssystem ist im Gegensatz zum Völkerstrafrecht ein Beispiel für stark verschränkte und voneinander abhängige Parallelrechtsordnungen; dies beruht vor allem auf einer gemeinsamen Rechtsdoktrin. Die besonderes enge Verknüpfung zeigt sich schon in der inhaltlichen Abhängigkeit der engeren von der weiteren Normebene (oben I 3 b aa), 34 Dreier, Grundrechtsschutz, S. 20. Siehe die ausführlichen Nachweise bei Pestalozza, NVwZ 1987, 744 (748 ff.) mit Fn. 56-64 und Dreier, Art. 142 Rn. 25 mit Fn. 61 und Fn. 108. Ernüchternd stellt Pestalozza, a.a.O., fest: "Es macht fast den guten Ton landesveifassungsrechtlicher Entscheidungen aus, die Landesveifassung nach Maßgabe bundesveifassungsrechtlicher Rechtsprechung zum Grundgesetz auszulegen . .. Das selbständige Nebeneinander der, Veifassungsräume' des Bundes und der Länder . .. ist längst der materiell- und prozessrechtlichen Sogwirkung des Bundes zum Opfer gefallen . .. "; siehe auch Stern, FS 50 Jahre BayVerfGH, S. 242; BMJ, Kommissionsbericht, S. 90 f. 35 Eine Möglichkeit zweier verschiedener Auslegungen des Landesgrundrechts deutet hingegen Menzel, NVwZ 1999, 1314 (1316 f.) an.
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1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
wodurch die weitere Ebene direkt auf den Prüfungsmaßstab der engeren Ebene einwirkt. Dadurch können unabhängig von einer möglichen Koordinierung der Gerichte schon auf der Normebene entweder Mindest- oder Höchststandards gesetzt werden, die nicht unter- oder überschritten werden dürfen. Höchststandards entstehen, wenn eine Regelung der höheren Parallelrechtsordnung einen abschließend gemeinten Maximalstandard darstellt und deshalb weitergehende Regelungen der engeren Rechtsordnung keinen Bestand haben. 36 Wenn auch dieser Mechanismus in der Rechtspraxis der Bundesrepublik bisher keine große Rolle gespielt hat, weil praktisch keine Divergenzen auftreten, ist er dennoch beachtlich. Inhaltlich können damit identische Parallelrechtsordnungen erzwungen werden, will die untergeordnete Rechtsordnung nicht die Nichtigkeit des eigenen Prüfungsmaßstabs riskieren. Die Sogwirkung der bundesverfassungsrechtlichen Auslegung ist vor allem auf diese Verzahnung der Rechtsebenen zurückzuführen. 2. Umfassende Parallelrechtsordnung als Garant verfahrensrechtlicher Mindeststandards Selbst in den Bereichen, in denen den Landesverfassungsgerichten eine abschließende Entscheidungskompetenz zuerkannt wird und deshalb Verfassungsbeschwerden zum BVerfG keine Aussicht auf Erfolg haben, überprüft das BVerfG grundsätzlich die Einhaltung der Verfahrensgrundrechte des GG (oben 3 b bb). Dadurch garantiert das Gericht der weiteren Parallelrechtsordnung einen bindenden veifahrensrechtlichen Mindeststandard, den die Gerichte der engeren Parallelrechtsordnung einhalten müssen. Dies entspricht im Grundsatz dem eingeschränkten Kontrollrecht der Internationalen Strafrechtstribunale, die nationale Strafurteile auf die Einhaltung gewisser völkerrechtlicher Mindeststandards überprüfen können (siehe oben § 2 I 3 b und 4 b). Das Gericht der weiteren Parallelrechtsordnung greift in diesem Fall nicht in die materielle Rechtsprechung ein, sondern zieht sich auf die Funktion eines übergeordneten Schiedsrichters zurück: Eine inhaltlich divergierende Rechtsprechung wird toleriert, solange das Verfahren die festgelegten Mindeststandards einhält. Im Unterschied zu den Internationalen Strafrechtstribunalen wird in diesem Fall das Verfahren nicht im Sinne einer "Revision" abschließend entschieden, sondern an das "Instanzgericht" zurückverwiesen.
36 Siehe am Beispiel von Bundes- und Landesgrundrechten Domcke, FS 25 Jahre BayVerfGH, S. 323; Dreier, Art. 142, Rn. 49 ff., 65 ff. und Art. 31, Rn. 54 (mit Beispielen).
11. Strukturanalyse
61
3. Typische Probleme der Aufgabenparallelität Das Nebeneinander der Verfassungsbeschwerden stärkt zwar die Eigenstaatlichkeit der Länder und ist wohlweislich Kalkül, nicht Störfaktor eines Bundesstaates. 3 ? Das BVerfG betont, dass das von manchen als "zu viel" an Gerichtsschutz bewertete, einer strengen Prozessökonomie nicht ganz entsprechende Ergebnis im Bundesstaat in Kauf genommen werden müsse und könne?8 Faktisch verlängert sich jedoch dadurch die Streitentscheidung, da der Beschwerdeführer eine Instanz hinzugewinnt, er hat "zwei gleichzeitige Versuche", sein Rechtsschutzziel zu erreichen. Es ist ersichtlich, dass dieses Günstigkeitsprinzip nicht ohne weiteres auf ein Verfahren zwischen zwei Parteien übertragen werden kann, bei dem der Kläger mehrere konkurrierende Rechtsbehelfe so lange in Anspruch nimmt, bis er ein für ihn günstiges Ergebnis erhält. Im ungüstigsten Fall entstehen Pflichtenkollisionen, wenn nämlich das eine Urteil gebietet, was das andere verbietet (z. B. die Erfüllung eines Vertrages trotz Moratoriums, Zuspruch eines vertraglichen Schadenersatzanspruches in dem einen Verfahren, im anderen Verfahren nicht). Nur durch die Besonderheit der Verfassungsbeschwerde, bei der immer nur das für den Beschwerdeführer günstigere Ergebnis zählt und bei Erfolg der angegriffene Hoheitsakt aufgehoben wird (siehe oben I 3 a), sind solche Kollisionen unproblematisch. Auf der anderen Seite hat das betroffene Land keine zweite Chance. es kann nicht gegen eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Rechtsmittel zum BVerfG einlegen. Das Prinzip der Aufgabenparallelität ist deshalb ungewöhnlich und gilt im nationalen Recht sowie für das Verhältnis zwischen internationaler Instanz und nationalen Gerichten im Allgemeinen nicht (ausführlich dazu unten § 10 I 2 a). Im Fall der Verfassungsbeschwerden ist diese Doppelspurigkeit staatsorganisationsrechtlich bedingt.
4. Steuerbares Abhängigkeitsverhältnis Die Darstellung hat gezeigt, dass es eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten gibt, mit der die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Parallelrechtsordnungen gesteuert werden kann. Die vorgestellten Mechanismen (oben I 3 b) - insbesondere das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 3 GG - können dazu eingesetzt werden, die Abhängigkeiten der engeren von den weiteren Parallelrechtsordnungen zu verstärken und somit eine Hierarchie zwischen beiden Rechtsordnungen zu begründen. Die neueren Urteile zeugen von einer noch nicht abgeschlossenen Neupositionierung der Verfassungsgerichte, die immer wieder in Zusammenhang mit einer notwendigen Entlastung des 37 38
Bethge. in: M/SB/K/U, BVerfGG, Vorb. § 90 Rn. 237. BVerfGE 36, 342 (369).
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1. Teil, § 3 Das Prinzip der Aufgabenparallelität
BVerfG gebracht wird. 39 Dabei ist zwar eine Stärkung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit durch eine Tendenz zur Verantwortungsverlagerung nach unten erkennbar. Das BVerfG scheint mehr und mehr Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte als abschließend zu akzeptieren. Andererseits nimmt es sie aber an anderer Stelle sofort durch Bindungs- und Vorlagepflichten wieder an die "kurze Leine". Einige Landesverfassungsgerichte legen ihre Kompetenzen neuerdings extensiv aus und streben eine weitgehende Unabhängigkeit ihrer Rechtsprechung vom BVerfG an. Die verschiedenen Strömungen in der Literatur (oben I 2 b, 3 b aa-dd), die eine unterschiedlich starke Abhängigkeit der Landesverfassungsgerichte vom BVerfG propagieren, beruhen auf der bisher nicht geklärten Frage, was die beiden Parallelrechtsordnungen im Bundesstaat leisten sollen. Soll die Bundesrechtsordnung einen Mindeststandard sichern, der über die Bundesverfassungsbeschwerde eingeklagt werden kann, aber "Mindergewährleistungen" in den Landesverfassungen trotzdem in Kraft lässt und deshalb "Interpretationskonkurrenz" zulässt, oder erschöpft sich die Gewährleistung von Landesgrundrechten in einem zweiten "Rechtsweg", der einen zweiten "Interpretationsweg" ausschließt? Lässt man Parallelrechtsordnungen zu, so sind sie zumindest apriori darauf angelegt, verschieden ausgelegt zu werden. Im föderalen Grundrechtsschutz des Grundgesetzes überwiegt jedoch immer noch der zweite "Rechtsweg". Die Verfassungsgerichte teilen sich in einer "fortschreitenden Verantwortungsdiversifikation"40 die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte vor allem im Sinne des BVerfG. Die jeweils eigenständige und abschließende Auslegung des eigenen Prüfungsmaßstabs existiert in der Praxis zumindest dann nicht, wenn die Landesverfassungsgerichte das Angebot des BVerfG zur Ausweitung ihrer Prüfungskompetenz (oben I 2 b) annehmen werden. 41 Entscheidungsdivergenzen sind zwar prinzipiell möglich, treten durch die Sogwirkung des BVerfG-Rechtsprechung jedoch selten auf. So verstanden reduziert sich die Bedeutung der engeren Parallelrechtsordnung auf einen prozessualen Aspekt, lediglich darauf angelegt, unter dem Deckmantel der vermeintlichen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit Rechtsprechungsressourcen zur Verfügung zu stellen, um den einheitlichen materiell-rechtlichen Maßstab des BVerfG durchzusetzen (Uniformität der Prüfungsmaßstäbe). 39 BMJ, Kommissionsbericht, S. 90 f.; Tietje, AöR 124 (1999), 282 (302 ff.); Dreier, Grundrechtsschutz, S. 34 f. 40 Tietje, AöR 124 (1999), 282 (304). 41 Der HessStGH hat jüngst in einem Beschluss (NJW 1999,49 LS 3) seine frühere restriktive Haltung aufgegeben und sich der Rechtsprechung des BVerfG (widerwillig) angeschlossen. Gleichwohl muss sich der Beschwerdeführer nach der jüngsten Änderung des HessStGHG (Dezember 2000) für die Landes- oder die Bundesverfassungsbeschwerde entscheiden (§ 43 Abs. I S. 2); eine zweigleisige Verfassungsbeschwerde ist seitdem ausgeschlossen.
11. Strukturanalyse
63
5. Rechtsprechungsdelegation an die untergeordnete Parallelrechtsordnung Die (oben I 2 b) besprochene Kompetenzerweiterung der Landesverfassungsgerichte ist wegen ihres Mechanismus interessant: Nimmt man mit vielen Stimmen in der Literatur an, dass die Landesverfassungsgerichte in diesen Fällen unzuständig sind, führt die Entscheidung des BVerfG zu einer (nach Auffassung der ablehnenden Literatur rechtswidrigen) Rechtsprechungsdelegation: Der eigentlich zuständige Spruchkörper einer Parallelrechtsordnung ist überlastet, der im konkreten Fall unzuständige Spruchkörper der untergeordneten Parallelrechtsordnung "übernimmt" deshalb den Fall und entscheidet ihn anstatt des zuständigen Gerichts. Dies akzeptiert das Gericht der weitere Parallelrechtsordnung jedoch nur unter einer strikten Bindung an die eigene Rechtsprechung und abgesichert über ein Vorlageverfahren. Wird diese Vorlageverpflichtung verletzt, kann das Gericht der weiteren Parallelrechtsordnung entweder nachträglich angerufen werden bzw. die unterlassene Vorlage feststellen, verbunden mit einer Verpflichtung, den Fall unter Berücksichtigung der eigenen Rechtsauffassung neu zu entscheiden. Die Gerichte der engeren Parallelrechtsordnung werden durch eine inhaltliche Bindung an die Rechtsprechung der weiteren Rechtsordnung "gleichgeschaltet", wodurch ihnen jeder eigenständige Spielraum fehlt. 42 Insgesamt ist das BVerfG in einer für ein Höchstgericht nicht vorgesehenen Idealposition: Es wird durch die untergeordneten Landesverfassungsgerichte entlastet, hat aber genügend Zugriffsrechte, wenn es einen Fall selbst entscheiden will.
42 Enders, JuS 2001, 463 (466): "nicht mehr gleich-, sondern übergeordnete Kontrollkompetenz des BVerfG". Die Landesverfassungsgerichte können lediglich über eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG das BVerfG dazu anregen, die eigene Rechtsprechung zu überdenken.
§ 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung am Beispiel
der internationalen Menschenrechtsgerichtshöfe I. Bestandsaufnahme
Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)! und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (lPBürgR)2 sind zwei übernationale Grundrechtsschutzsysteme geschaffen worden, an die sich Einzelpersonen mit der Behauptung richten können, ihre in EMRK und IPBürgR verbürgten Rechte seien durch einen Hoheitsakt eines Vertragsstaates verletzt. In beiden Fällen werden Mindeststandards gewährleistet, die ein höheres Schutzniveau auf anderen Ebenen ausdrücklich zulassen (Art. 53 EMRK, Art. 5 Abs. 2 IPBürgR). Dadurch tritt zu den nationalen Parallelrechtsordnungen (Landes- und Bundesgrundrechte)3 eine dritte internationale hinzu. Dieses Nebeneinander von materiellrechtlichen Gewährleistungen führt zu einer Konkurrenz oder Kollision der Institutionen in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Möglich ist sowohl eine Kollision zwischen BVerfG und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bzw. dem Menschenrechtsausschuss des IPBürgR (MR-Ausschuss), als auch eine Kollision auf internationaler Ebene zwischen EGMR und MR-Ausschuss. Die Besonderheit besteht im vorliegenden Fall darin, dass die internationalen Parallelrechtsordnungen EMRK bzw. IPBürgR durch SubsidiaritätsklauseIn hinter die nationalen Parallelrechtsordnungen geschaltet werden und die Beschwerden nicht, wie soeben (§ 3) beschreiben, gleichzeitig eingelegt werden können. 1. Verfahren
a) Der neue ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Gemäß Art. 34 EMRK entscheidet der EGMR über Konventionsverletzungen der Vertragsparteien. 4 Seinem Verfahren geht in aller Regel eine Zur Entstehungsgeschichte siehe FroweinlPeukert, EMRK, Einführung Rn. 1 ff. Umfassend Pappa, IPBürgR; Nowak, CCPR Commentary. 3 Zum Phänomen der Parallelrechtsordnungen siehe allgemein oben § 1 H. 4 Zum Verfahrensablauf nach dem seit Ende 1998 in Kraft getretenen 11. Zusatzprotokoll siehe Oppermann, Europarecht, Rn. 84 ff.; Schlette, JZ 1999,219 ff. 1
2
I. Bestandsaufnahme
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Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG voraus, da die Klageerhebung vor dem EGMR die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges voraussetzt (Art. 35 Abs. I EMRK, "local remedies rule,,)5; dies hat zur Folge, dass Urteile des BVerfG selbst Priifungsgegenstand vor dem EGMR werden. Der im Völkerrecht allgemein anerkannten Regel der Rechtswegerschöpfung liegt der Gedanke zugrunde, den Vertragsstaaten die Möglichkeit zu geben, behauptete Verletzungen der Konvention im Rahmen des eigenen Rechtssystems zu beseitigen. 6 Im Endeffekt ist es eine besondere Ausprägung des Subsidiaritätsgedankens, da der innerstaatliche Verfahrensweg häufig wirksamer sein wird, zumal die Wirkung und Vollstreckung von EGMR-Entscheidungen wie auch anderer internationaler Gerichte schwach ausgestaltet sind. 7 b) Der Menschenrechtsausschuss des IPBürgR
Der Menschenrechtsausschuss (MR-Ausschuss) ist ein quasi-gerichtliches Gremium8 , an das sich Einzelpersonen mit der Behauptung richten können, dass ihre im IPBürgR verbürgten Rechte von einem Mitgliedstaat verletzt 5 Zumindest soweit sich die in der EMRK verbürgten Rechte und Grundfreiheiten mit den Grundrechten des Grundgesetzes decken, EKomMR, NJW 1956, 1376; EuGRZ 1987, 321 (322). FroweinlPeukert, EMRK, Art. 26 Rn. 28; Kleinknechtl Meyer-Goßner, A4 MRK, Art. 26 Rn. 1 mit Einzelheiten. Nicht zu erschöpfen sind unwirksame Rechtsbehelfe. Dem Beschwerdeführer ist nicht zuzumuten, ein Rechtsmittel einzulegen, das bei Berücksichtigung der Rechtspraxis oder der Rechtsprechung der obersten Gerichte des Vertragsstaates absolut keine Aussicht auf Erfolg bieten, sondern aIlenfaIls die Wiederholung einer gegen den Beschwerdeführer ergangenen negativen Entscheidung, FroweinlPeukert, EMRK, Art. 26 Rn. 33 ff. 6 FroweinlPeukert, EMRK, Art. 26 Rn. 1. 7 Nationale Gerichte haben im Gegensatz zum EGMR die Möglichkeit, die Entscheidung eines niedrigeren Gerichts aufzuheben. Aus Art. 46 EMRK folgt lediglich die Pflicht des betroffenen Staates, sich nach der Entscheidung des Gerichtshofs zu richten, also die daraus rechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen. Das liegt daran, dass der EGMR ein völkerrechtliches KontroIlorgan klassischen Musters ist, dessen Entscheidungen die Vertrags staaten binden, aber nicht unmittelbar in den innerstaatlichen Bereich hineinwirken. Bei FeststeIlung der Konventionswidrigkeit ist es zunächst Aufgabe von Verwaltung und Gesetzgebung, einen konventionsgemäßen Zustand wieder herzu steIlen (Ress, Wirkung von EGMR-Urteilen, S. 276 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 217 ff.). Im Gegensatz zu EuGH-Urteilen durchbrechen die Urteile des EGMR den nationalen "Souveränitätspanzer" nicht. Folge einer Verurteilung sind daher i. d. R. einzig und aIlein Wiedergutmachung bzw. eine Entschädigung (Art. 41 EMRK). De lege ferenda wird immer wieder eine Aufhebungsbefugnis für konventionswidrige Entscheidungen oder zumindest die Einführung einer Restitutionsklage gefordert. Dem ist der bundesdeutsche Gesetzgeber im Strafrecht durch § 359 Nr. 6 StPO mittlerweile nachgekommen. Zur Rechtslage vor der Einfügung des § 359 Nr. 6 StPO, siehe Bausback, NJW 1999, 2483 ff. 8 Pappa, IPBürgR, S. 69; Nowak, CCPR Commentary, Art. 28 Rn. 1. 5 Lutz
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
worden sind. 9 Voraussetzung für eine Beschwerde zum MR-Ausschuss ist die Ratifikation des Fakultativprotokolls ("FP", Satorius 11 Nr. 20 a), das für Deutschland am 25.11.1993 in Kraft getreten ist. Eine Beschwerde erfordert ebenso wie bei der EMRK die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 2 FP). Dazu gehört nach h. M. ebenfalls die Verfassungsbeschwerde. 10 Der Ausschuss erlässt keine bindenden Urteile, sondern verfasst nur Mitteilungen ("views"), die er den Vertragsstaaten zur Kenntnis bringt (Art. 5 FP). Diese Mitteilungen sind zwar nicht zwangsweise durchsetzbar und können von einem Vertragsstaat nicht ohne weiteres unbeachtet bleiben, stellen aber trotzdem eine wichtige rechtliche Aussage dar. In ihrer Wirkung dürften sie deshalb Entscheidungen des EGMR sehr nahe kommen.!! 2. Beschränkung des Prüfungsgegenstands auf die jeweilige Parallelrechtsordnung Kennzeichen für Parallelrechtsordnungen sind die materiell getrennten Prüfungsmaßstäbe: Die nationalen Gerichte sowie EGMR und MR-Ausschuss judizieren anhand unterschiedlicher Normen unterschiedlicher Rechtsordnungen: Die Verfassungs gerichte sind auf den Prüfungsmaßstab Grundrechte beschränkt, insbesondere kann sich der Beschwerdeführer im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung der EMRK durch deutsche Behörden oder Gerichte berufen.!2 Prüfungsmaßstab für EGMR und MR-Ausschuss ist au schließlich die Frage der Vereinbarkeit eines staatlichen Hoheitsakts mit einer in der jeweiligen Konvention niedergelegten Garantie. Menschenrechtsausschuss und EGMR stehen nach ihrem Selbstverständnis außerhalb jeglichen innerstaatlichen Instanzenzuges. 13 9 Zum Verfahrensablauf überblicksartig Seidel, Handbuch, S. 435 ff. und ausführlich Pappa, IPBürgR, S. 70 ff. 10 Nowak, CCPR-Commentary, Art. 5 FP Rn. 22. 11 Pappa, IPBürgR, S. 310 ff., erkennt in der Arbeit des Ausschusses Tendenzen, das Gewicht seiner Entscheidungen zu vergrößern. Nach seiner Auffassung hält der Ausschuss die Vertragsstaaten für verpflichtet, die "views" zu befolgen. Dies käme einer Bindungswirkung ähnlich Art. 46 EMRK sehr nahe. Die weitere Praxis wird zeigen, ob der MR-Ausschuss einen ähnlich großen Einfluss erreichen kann wie der EGMR. 12 BVerfGE 10, 271 (274); 34, 384 (395); 74, 102 (128), st. Rspr. anders noch BVerfGE 6, 290 (296); SchlaichlKorioth, BVerfG, Rn. 357; a.A. z.B. Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (155). Nur willkürliche Anwendung der EMRK durch staatliche Organe ist im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG rügeflihig. Für den IPBürgR ist diese Frage noch nicht diskutiert worden, sie dürfte aber genauso zu entscheiden sein. 13 Eiffler, JuS 1999, 1068 ff. Der MR-Ausschuss umschreibt dies mit der Bemerkung: "The Committee has constantly avoided becoming a fourth instance", siehe z.B. Report HRC 1991, § 681/S. 165.
I. Bestandsaufnahme
67
Beide Spruchkörper prüfen deshalb keine Fehler der nationalen Gerichte in der Rechtsanwendung, in der Feststellung des relevanten Sachverhaltes, der Würdigung der Beweismittel oder der Auslegung des innerstaatlichen Rechts. 14 Dies dürfte der Kompetenz des BVerfG, das seine besondere Aufgabe darin sieht, die Beachtung des "spezifischen Verfassungsrechts" durchzusetzen l5 , sehr nahe kommen. Alle drei Verfahren sind deshalb vergleichbar: Sie sind außerordentliche Rechtsbehelfe und keine "Superrevisionsverfahren" für nationale Gerichtsentscheidungen. Bezogen auf diesen eingeschränkten und i. d. R. inhaltsgleichen Prüfungsmaßstab (siehe oben § 1 11 2) findet jedoch in jedem Verfahren eine vollumfangliche Neuverhandlung statt. Dabei gilt erneut der "Primat der für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung" (vgl. oben § 3 I 3 a): Hat schon das BVerfG den Hoheitsakt aufgehoben, sind weitere Verfahren unzulässig. 3. Normenkontrolle staatlichen Rechts
Die Überprüfungsbefugnis beider Institutionen umfasst eine inzidente Normenkontrolle des staatlichen Rechts. Zwar steht im Individualbeschwerdeverfahren der konkrete Fall im Vordergrund - eine abstrakte Prüfung einer innerstaatlichen Norm findet nur im Staatenbeschwerdeverfahren nach Art. 33 EMRK statt - beruht die Rechtsverletzung jedoch auf einem konventionswidrigen Gesetz, ist der Staat grundSätzlich verpflichtet, die Rechtsnorm abzuändern oder aufzuheben. 16 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass sich der EGMR ähnlich dem EuGH (siehe unten § 5 I 2 b) nicht für befugt hält, innerstaatliches Recht auszulegen und anzuwenden; er behandelt deshalb bei der Normenkontrolle die Auslegung dieses Rechts durch nationale Gerichte wie eine Tatsache. Eine für das Gericht unklare Rechtslage wird zu Lasten des beklagten Staates ausgelegt mit der Konsequenz, dass derartige Gesetze einen Grundrechtseingriff nicht zu rechtfertigen vermögen und somit gegen die vorrangige EMRK verstoßen. 17 Dies hat Folgen für die Auflösung eines Normenkonflikts (unten 11 2).
14 Pappa, IPBürgR, S. 95 ff. m. w. N.; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 27 Rn. 23 f.; Ress, Wirkung von EGMR-Urteilen, S. 232. 15 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 418 (420); 34, 269 (280); Dreier/ Wie land, Art. 93 Rn. 34 ff.; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 271 ff. 16 Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 156 ff., 165 ff.; Ress, Wirkung von EGMRUrteilen, S. 235 jeweils m. w.N. Beispiele EGMR EuGRZ 1983,488 ff. bzw. MRAusschuss, EuGRZ 1992, 344 ff. Ein Gesetz kann dann direkt Gegenstand einer Individualbeschwerde sein, sofern in Zukunft das Risiko besteht, dass es auf den Beschwerdeführer angewendet wird, siehe EGMR EuGRZ 1992,477 ff. 17 Vgl. z.B. EGMR EuGRZ 1980,667 (674) Rn. 52; 1984,6 (11) Rn. 54; 1985, 17 (22) Rn. 79; Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 159.
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
4. Konfliktvermeidungsstrategien a) Zwischen BVeifG und EGMR Verfahrensrechtlich ist eine direkte Konkurrenz zwischen BVerfG und EGMR durch das Gebot der Rechtswegerschöpfung gelöst. Der EGMR kann ausschließlich nach dem BVerfG angerufen werden, ein umgekehrter Verfahrensweg (vom EGMR zum BVerfG) ist dadurch ebenso ausgeschlossen wie eine kumulative Inanspruchnahme. 18 Gewährt das Grundgesetz oder eine Landesverfassung einen weitergehenden Schutz als die EMRK oder der IPBürgR, treten Kollisionen i. d. R. nicht auf, da beide Pakte nur einen Mindeststandard festlegen, die internationalen Gremien werden einen Konventionsverstoß nicht feststellen können; die möglicherweise unterschiedlichen Auslegungen der wort- bzw. inhaltsgleichen Grundrechtsgewährleistungen bleiben ohne Folge. Der umgekehrte Fall eines weiteren Grundrechtsschutzes auf internationaler Ebene hat zur Folge, dass es mit der Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht mehr sein Bewenden hat, sondern der EGMR anders entscheiden kann als das höchste deutsche Gericht; die Suprematie des BVerfG hat auch insoweit ihr Ende. 19 Um 18 Dies entspricht dem Subsidiaritätsgedanken der Abkommen, denn die EMRK und der IPBürgR fordern ihre Einhaltung vor allem im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung. Eine Beachtung der EMRK ist durch deren Geltung als Bundesrecht für deutsche Gerichte selbstverständlich (Frowein, HStR VII § 180, Rn. 6; Stern, Staatsrecht III/2, § 94 S. 1613. A.A. für den IPBürgR Bausback, Internationaler Schutz der Religionsfreiheit, S. 96.). Ein dahingehender Wille des Gesetzgebers, diese Wirkung durch späteres einfaches Bundesgesetz außer Kraft zu setzen, ist regelmäßig nicht zu vermuten. Die Gerichte haben innerstaatliches Recht so auszulegen, dass es mit den völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands vereinbar ist, "Völkerrechtstreue des Gesetzgebers", Uerpmann, EMRK, S. 245. In Ländern, in denen die EMRK bisher nicht durch einen Akt der Gesetzgebung umgesetzt worden ist, sind die Gerichte zur konventionskonformen Auslegung der Gesetze verpflichtet, siehe Ress, Wirkung von EGMR-Urteilen, S. 260 ff 19 Hesse, JZ 1995, 265 (270). Auch die Bundesrepublik mit ihrem hohen Grundrechtsstandard ist davon nicht verschont geblieben. Die bisherigen Fälle benennt Kirchhof, EuGRZ 1994,31 (43) Anlage V. In letzter Zeit aktuelle Fälle: Feuerwehrabgabe (Verstoß gegen den Gleichheitssatz), EGMR NVwZ 1995, 365. Entlassung einer DKP-Lehrerin aus dem Schuldienst, EGMR NJW 1996, 375 (freie Meinungsäußerung). Den Verfahren ging jeweils ein Nichtannahmebeschluss (!) des BVerfG voraus. Immer wieder wird Deutschland wegen überlanger Dauer der Gerichtsverfahren auch vor dem BVerfG verurteilt (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Siehe zuletzt die deutlichen Worte des EGMR NJW 2001, 211 ff Probleme können bei einem nicht auflösbaren Normenkonflikt auftreten. Als Beispiel kann der Fall Voigt dienen (EGMR, EuGRZ 1995, 390 ff). Nimmt man an, dass Art. 33 des GG zwingend gebietet, aktive Angehörige radikaler Parteien aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, Art. 10 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR gerade aber dies verbietet, läge ein Normenkonflikt zwischen GG und EMRK vor, der sich auf die Ebene der Gerichte als Kompetenzkonflikt übertra-
1. Bestandsaufnahme
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künftige Feststellungen eines Konventionsverstoßes durch den EGMR zu vermeiden, sind in der deutschen Rechtsprechung vielfältige Versuche zu erkennen, durch eine völkerrechts- und konventionskonforme Entscheidungspraxis Konflikte erst gar nicht aufkommen zu lassen. Neben der Bezugnahme auf materielle Bestimmungen der Abkommen ist in neuerer Zeit die Tendenz erkennbar, sich darüber hinaus der vom EGMR vertretenen Auslegung der EMRK anzupassen. Dies ist konsequent, denn hat der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt, ist höchstwahrscheinlich, dass er in einem vergleichbaren Fall ebenso entscheiden wird. Staaten, deren Gerichte dem nicht durch eine Anpassung an die vom EGMR vertretene Auffassung nachkommen, müssen mit einer Flut von inhaltlich begründeten Individualbeschwerden rechnen?O Nach Auffassung des BVerfG bedeutet dieses Prinzip der "vorauseilenden Rechtsprechungssynchronisierung ", dass Grundrechte im Zweifel nicht nur im Einklang mit der EMRK, sondern auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR auszulegen seien. 21 Ähnlich verfahrt der Sächsische Verfassungsgerichtshof?2 Mittlerweile billigt auch das BVerwG den Urteilen des EGMR eine über den Einzelfall hinausgehende "normative Leitfunktion" zu: Schon um die künftige Feststellung einer Konventionsverletzung zu vermeiden, sei die Rechtsprechung des EGMR "vorrangig zu beachten". 23 b) Zwischen EGMR und MR-Ausschuss
Bei der Ausarbeitung von EMRK und Fakultativprotokoll (FP) wurde das Problem der Co-Existenz verschiedener internationaler Gremien erkannt. In gen würde. Verschlösse sich das BVerfG einer konventionskonformen Auslegung des Art. 33 GG, müsste es eine Verfassungsbeschwerde eines aus dem Staatsdienst entlassenen Klägers verwerfen, der EGMR hingegen einen Konventionsverstoß feststellen. Als Folgeproblem stellt sich die Frage, ob in diesem Fall die EMRK dem GG vorgeht, weil sie einem im wesentlich gleichen Grundrechtsschutz gewährleistet. Funktionell entspräche dies dem Konflikt zwischen Grundgesetz und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht (siehe unten § 6). 20 Ress, Wirkung von EGMR-Urteilen, S. 257 ff. Eine Bindung an EGMR-Urteile in Sinne des stare-decisis-Prinzips gibt es nicht. Ausführlich zur Verbindlichkeit der Auslegung des Konventionsrechts durch den EGMR Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 279 ff. 21 BVerfGE 74, 358 (370). Dazu Sommermann, AöR 114 (1989), 391 ff. Kritisch zu der aus seiner Sicht immer noch "äußerst sparsamen" Erwähnung der EMRK durch das BVerfG Frowein, DÖV 1998, 806 (809). In die gleiche Richtung geht die neuere Rechtsprechung des BVerfG, dass eine Verfassungsbeschwerde bei einer eindeutigen Konventionsverletzung auf Art. 3 GG gestützt werden kann, BVerfGE 64, 153 (157); 74, 102 (128). 22 EuGRZ 1996, 437 ff. 23 BVerwG VBIBW 2000, 189 ff. In diesem Sinne schon Ress, Wirkung von EGMR-Urteilen, S. 257 ff.
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
beiden Konventionen wurden Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass das eine Organ gegenüber dem anderen als Berufungs- oder Revisionsinstanz "missbraucht" wird. 24 aa) "una via electa" (Art. 35 EMRK) - Koordination durch Vorbehalt Die EMRK folgt dem Prinzip des "una via electa". Der Beschwerdeführer kann nur einen Weg einschlagen und seine Sache entweder vor den EGMR oder den MR-Ausschuss bringen. Der Gerichtshof befasst sich deshalb nicht mit einer Beschwerde, die "schon ... einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält" (Art. 35 Abs. 2 b EMRK). Dadurch ist dem EGMR eine Überprüfung einer Entscheidung des MR-Ausschusses verwehrt. 25 Der umgekehrte Weg vom EGMR zum Menschemechtsausschuss bliebe jedoch prinzipiell möglich. Um einen derartigen Instanzenzug zu vermeiden, hat der Europarat seinen Mitgliedern empfohlen, das FP nur unter einem Vorbehalt zu ratifizieren, der den Menschemechtsausschuss nicht in eine Funktion als "Superrevisionsinstanz" bringt. Deutschland hat daraufhin bei der Ratifizierung den Vorbehalt angebracht, "dass die Zuständigkeit des Ausschusses nicht für Mitteilungen gilt, ... die bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft wurden . ... ".26 Folglich muss sich ein Beschwerdeführer aus Deutschland nach erfolgloser Verfassungsbeschwerde entscheiden, ob er sich an den EGMR oder den MR-Ausschuss wenden möchte. Dadurch wird eine Verfahrenskonzentration bei einem internationalen Gremium erreicht, das sich abschließend mit der Beschwerde befasst (relative Subsidiarität, siehe unten § 10 I 2 b). bb) "pendente lite" (Art. 5 Abs. 2 FP) - Der MR-Ausschuss als "Superrevisionsinstanz" Das Fakultativprotokoll verhindert mit Art. 5 Abs. 2 nur eine gleichzeitige Behandlung derselben Angelegenheit durch EGMR und MR-Ausschuss. Eine Überprüfung einer vom EGMR bereits behandelte Beschwerde ist deshalb nicht ausgeschlossen. Hintergrund dieser Regelung - der vor allem eine politische Dimension zukommt - war es, die Position des Ausschusses zu stärken. 27 Mögliche Entscheidungsdivergenzen mit regionalen Ausführlich Meißner, Menschenrechtsbeschwerde, S. 53-68. Zu Einzelheiten FroweinlPeukert, EMRK, Art. 27 Rn. 19; Nowak CCPR-Commentary, Art. 5 FP, Rn. 15 ff.; Tardu, FS Partsch, S. 300 ff. 26 BGBl. 1994, 11 S. 311. Nur die Niederlande haben das FP vorbehaltlos ratifiziert. 24 25
11. Strukturanalyse
71
Menschenrechtspakten und die daraus folgende Position als "Court of Appeal,,28 wurden bewusst in Kauf genommen, um dem FP mehr Gewicht zu verleihen; sie werden aber durch die O.g. Möglichkeit von Vorbehalten relativiert und sind in der Praxis noch nicht relevant geworden.
11. Strukturanalyse 1. Das Phänomen hierarchisch strukturierter
Parallelrechtsordnungen
Entgegen gegenteiligen Bekräftigungen in der Literatur, die betonen, dass EGMR, MR-Ausschuss und die nationalen Verfassungsgerichte "nebeneinander" und nicht "übereinander" stünden29 , bilden alle drei Spruchkörper gemeinsam einen Instanzenzug. Begründet wird die Gleichrangigkeit vor allem mit dem Hinweis, dass Urteile des EGMR nur die Vertrags staaten als Völkerrechtssubjekte und nicht die staatlichen Organe (Gerichte, Behörden) binden würden?O Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ein stattgebendes Urteil des EGMR oder eine Mitteilung des MR-Ausschusses sich in Widerspruch zum BVerfG stellt, das den innerstaatlichen Hoheitsakt für grundrechtskonform erklärt hat. Völkerrechtlich geschuldet ist - auch ohne kassatorische Wirkung der Entscheidung - eine Restitutio in integrum. Wenn Schlaich/Korioth 31 richtigerweise feststellen, dass eine Erweiterung des bundesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs um die EMRK das BVerfG zu einem bloßen Instanzgericht des EGMR werden lassen würde, der mit derselben Rüge (Verletzung der EMRK) in letzter Instanz angerufen werden könnte, gilt dies erst recht bei einem fast identischen Prüfungsmaßstab beider Gerichte. Schließlich versucht das BVerfG zu einer Harmonie und letztlich zu einer Übereinstimmung der nationalen und internationalen Grundrechtsordnung zu kommen, wenn es die Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung ausdrücklich betont. 32 Innerhalb des sich annähernden Grundrechtskatalogs sind EGMR oder MR-Ausschuss "dritte Instanz", die durch das Gebot der Rechtswegerschöpfung (Subsidiarität) und der materiellen Beachtungspflicht der Konventionen im nationalen Recht (Art. 1 EMRK, Art. 2 IPBürgR) gegenüber den letztinstanzlichen Gerichten zur Tardu, AJIL 70 (1976), 778 (785, 794). Tardu, FS Partsch, S. 300. 29 Dreier, Vorb. Rn. 22; Bausback, ZRP 1999, 6 (8); Hilf, Mich. J. Int'l L. 18 (1997), 324 (330): "absence offormal hierarchy". 30 Z. B. von SchlaichlKorioth, BVerfG, Rn. 355. 31 BVerfG, Rn. 357. Vgl. auch Uerpmann, EMRK, S. 106 ff. Eine Erweiterung des Prüfungsmaßstabs fordert z.B. Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 115 ff. 32 Bemhardt, EuGRZ 1996, 339. 27 28
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
höchsten Instanz emporgehoben werden: Als Gerichte der weiteren Parallelrechtsordnung können sie alle Entscheidungen der letztinstanzlich zuständigen nationalen Gerichte ohne Einschränkung auf Einhaltung des inhaltsgleichen Prüfungsmaßstabs überprüfen. Diese Erscheinung soll als das Phänomen hierarchisch strukturierter Parallelrechtsordnungen bezeichnet werden, das auftritt, sobald Parallelrechtsordnungen durch Subsidiaritätsklauseln hintereinandergeschaltet werden und dadurch einer Ebene prozessual und materiell die Letztentscheidungskompetenz zukommt (hier dem EGMR bzw. dem MR-Ausschuss).33 Dieser Begriff mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, beschreibt aber den Umstand, dass wort- oder inhaltsgleiche Rechtsordnungen nicht mehr nebeneinander, sondern hintereinander stehen. Diese Tatsache unterscheidet hierarchisch strukturierte Parallelrechtsordnungen von normalen Parallelrechtsordnungen, in denen zwischen den beiden Rechtsordnungen entweder keinerlei hierarchische Beziehungen bestehen 34 oder aber dem Gericht der weiteren Rechtsordnung nur in bestimmten Fällen und i. d. R. eingeschränkt eine Überprüfungsbefugnis zusteht. 35 Hierarchisch strukturierte Parallelrechtsordnungen kommen deshalb je nach Ausgestaltung einem klassischen Gerichtssystem sehr nahe. 36 Verstärkt wird diese Ähnlichkeit dadurch, dass das Gebot der Rechtswegerschöpfung nicht erfüllt ist - und damit eine Beschwerde zum EGMR unzulässig ist -, wenn der mit der Individualbeschwerde vorgebrachte Beschwerdegegenstand nicht wenigstens einer nationalen Entscheidungsinstanz in beachtlicher Weise vorgetragen wurde. Dies entspricht dem in europäischen Prozessordnungen häufig anzutreffenden Verbot, in der Berufungsinstanz neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzutragen. 37 Dem Subsidiaritätsgedanken entsprechend soll der Fall möglichst weit "unten" geklärt werden. 33 Der gleiche Fall träte ein, wenn die Anrufung des L VerfG zu einem Bestandteil des Rechtswegs i.S. v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG würde, der vor Anrufung des BVerfG erschöpft werden müsste. Zu Recht ablehnend, BM], Kommissionsbericht, S. 89 ff. 34 So grundsätzlich bei einem Wahlrecht, siehe oben § 3 I 2 a. 35 Siehe oben § 2 I 2 b, 3 b (begrenztes Kontrollrecht der Strafrechtstribunale). 36 Der einzige Unterschied zu einer normalen Berufung oder Revision ist der rechtslogisch unterschiedliche Prüfungsmaßstab. Wie beim föderalen Grundrechtsschutz (oben § 3) muss der Hoheitsakt mit zwei verschiedenen Rechtsordnungen übereinstimmen. Überprüft wird zwar i. d. R. nicht das letztinstanzliche Urteil, sondern der nationale Hoheitsakt, der durch ein letztinstanzliches Urteil bestätigt wurde; allein eine abweichende Entscheidung der internationalen Gremien stellt die nationale Entscheidung jedoch zumindest inhaltlich in Frage. 37 FroweinlPeukert, EMRK, Art. 26 Rn. 20 m. w.N. Siehe z.B. EKomMR EuGRZ 1989,308; EGMR, 1986, Serie A, Bd. 104, S. 24 Rn. 44 f.; 1991, Serie A, Bd. 200, S. 18 Rn. 34 f. In den meisten Staaten ist ein neues Vorbringen von Angriffs- und Verteidigungsmitteln in erheblichem Umfang präkludiert. Zu §§ 529, 531 n.F. ZPO siehe Zöller, ZPO, 23. A 2002; Zur Rechtslage vor der ZPO-Reform Rosenbergl SchwablGottwald, ZPR, § 139 IV. Zu den europäischen Rechtsordnungen siehe
11. Strukturanalyse
73
Schließlich verhalten sich nationale Gerichte durch die Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung genauso wie erstinstanzliche Gerichte, die im kontinentaleuropäischen Rechtskreis zwar über den Einzelfall hinaus nicht an Entscheidungen höherer Gerichte gebunden sind, sich aber auf Grund einer ansonsten sehr wahrscheinlichen Aufhebung durch die Obergerichte dennoch daran halten werden (oben I 4 a).38 Durch die inhaltliche Offenheit der Bundes- und Landesgrundrechte haben die bundesdeutschen Verfassungsgerichte sogar die Möglichkeit, auf Grund eines durch die EMRKkonforme Auslegung ihres Prüfungsmaßstabs (oben I 4 a) indirekt festgestellten EMRK-Verstoßes ein nationales Gesetz aufzuheben?9 Dadurch können sie die völkerrechtlich geforderte Anpassung der eigenen Rechtsordnung, die auf Grund der nicht-kassatorischen Wirkung von EGMREntscheidungen vorwiegend den Behörden und dem Gesetzgeber des Mitgliedstaates obliegt, antizipieren und eine Verurteilung verhindern. Verbunden mit der Möglichkeit, in bestimmten Fällen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen (so z. B. nach § 359 Nr. 6 StPO), öffnet sich die nationale Rechtsordnung in zunehmendem Maße, um EGMR-Entscheidungen zur Wirksamkeit zu verhelfen. Diese nicht ganz freiwillige vorauseilende Rechtsprechungssynchronisierung steht im Gegensatz zu der schon mehrfach angesprochenen freiwilligen Rechtsprechungssynchronisierung. 4o Nur dem überwiegend höheren Schutzniveau des Grundgesetzes ist es zuzuschreiben, dass der EGMR bisher nur in wenigen Einzelfällen anders als das BVerfG entschieden hat. 41 Das Gleiche gilt - wenn auch mit Abstrichen - für die Mitteilungen des MR-Ausschusses, der in Deutschland anstatt des EGMR angerufen werden kann. Ein ähnlich starkes Abhängigkeitsverhältnis kann auch zwischen BVerfG und den Landesverfassungsgerichten geschaffen werden. Die (oben § 3 I 3 b) vorgestellten Mechanismen können dazu eingesetzt werden, die Abhängigkeiten der engeren von den weiteren Parallelrechtsordnungen zu verstärken und somit eine Hierarchie zwischen beiden Rechtsordnungen zu begründen. Ist ein Vorlageverfahren zum Gericht der weiteren Parallelrechtsordnung bei abweichender Auslegung inhaltsgleicher oder inhaltsähnlicher Normen obligatorisch (Rechts gedanke des Art. 100 Abs. 3 GG, oben § 3 I 3 b cc) und ist eine Verletzung dieser Vorlagepflicht durch eine Beschwerde überblicksartig Leipold, Rechtsmittel, S. 66 ff. (S. 72 - England; S. 78 - Frankreich; S. 83 - Italien; S. 86 f. - Schweiz/Zürich; S. 90 - Österreich). 38 Siehe Larenz, Methodenlehre, S. 412 ff. Abweichen werden sie nur, wenn sie das Obergericht durch eine erneute Beschäftigung mit der dem Fall zugrunde liegenden Rechtsfrage zu einer Änderung seiner Auffassung bewegen wollen. 39 Diese Möglichkeit schließt der EuGH für sich und die nationalen Gerichte bei einem WTO-Verstoß aus, siehe unten § 8 I 2, 11 1. 40 Siehe schon oben § 2 11 3; § 3 I 3 b dd. 41 Oben Fn. 19.
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
abgesichert (zu den verschiedenen Möglichkeiten unten § 5 I 2 c), verschwindet die engere Rechtsordnung völlig. Dieser Prozess beschleunigt sich, wenn das Gericht der engeren Parallelrechtsordnung neben seinem eigenen Prüfungsmaßstab auch die Normen der weiteren Parallelrechtsordnung anwenden muss oder darf. Dann ist es völlig zu einem Instanzgericht "degradiert".42 Deren Gerichte stellen nur noch einen weiteren Rechtsweg zur Verfügung, inhaltlich sind die Gerichte in einen Instanzenzug integriert, der ihnen jegliche abweichende Auslegung ihres eigenen Prüfungsmaßstabs verbietet. Zieht sich das Gericht der weiteren Parallelrechtsordnung trotz seiner parallelen Zuständigkeit ergänzend durch ein freies Annahmeverfahren43 fast vollständig aus der direkten (Erst-)Bearbeitung von Fällen zurück, sind die Gerichte der engeren Parallelrechtsordnung mit erstinstanzlichen Gerichten vergleichbar, deren Rechtsprechung von den Gerichten der weiteren Rechtsordnung nachträglich überprüft werden. In entgegengesetzter Richtung sind auch losere Strukturen denkbar, die den verschiedenen Ebenen weitgehende Unabhängigkeit lassen und einem Kläger die Entscheidung für den einen oder anderen Rechtsweg mit all seinen Vor- und Nachteilen überlässt. Direkte Konflikte auf internationaler Ebene zwischen EGMR und MRAusschuss sind durch die Kumulationsklauseln (oben I 4 a) ausgeschlossen, die eine parallele Verhandlung des gleichen Streitgegenstandes verhindern. Eine Anrufung des MR-Ausschusses nach dem EGMR wird durch die erklärten Vorbehalte vermieden, IPBürgR und EGMR stehen in diesem Fall nebeneinander und nicht in einem Hierarchieverhältnis (oben I 4 b). Eine inhaltliche Koordinierung der Spruchkörper ist deshalb außer durch eine freiwillige Rechsprechungssynchronisierung nicht erreichbar. Trotz der Möglichkeit, Vorbehalte anzubringen, ist die in Art. 5 Abs. 2 FP getroffene Regelung aber zumindest darauf angelegt, den MR-Ausschuss zur weltweit höchsten Instanz in Grundrechtsfragen werden zu lassen, der auch regionalen Institutionen übergeordnet ist, soweit diese den im IPBürgR verbürgten Mindeststandard (Art. 5 Abs. 2 IPBürgR) unterschreiten. Der MR-Ausschuss wäre dann in gleicher Weise exponiert wie EGMR oder der MRAusschuss im Verhältnis zum BVerfG.
42 Für eine derartige Regionalisierung der bundesverfassungs gerichtlichen Kompetenzen auf die Landesverfassungsgerichte Danter, DÖV 1998, 238 (242 ff.). 43 Für das BVerfG gibt es Vorschläge, die das bisherige Annahmeverfahren ähnlich dem Vorbild des writ of certiorari-Verfahren vor dem U.S. Supreme Courtin ein freies Annahmeverfahren umgestalten. Siehe dazu BMJ, Kommissionsbericht, S. 37 ff.; Wieland, Der Staat 29 (1990), 333 ff.; Wahl/ders., JZ 1996, 1137 ff. jeweils m. w. N.; Anzenberger, freieres Annahmeverfahren, S. 69 ff.; kritisch z. B. Kirchhof, Verfassungsverständnis, S. 73; Voßkuhle, in: vMKS, Art. 94 Abs. 2 Rn. 44; ähnlich Klein, FG Graßhof, S. 383 f.
11. Strukturanalyse
75
2. Die Aufgabenverteilung bei der Normenkontrolle staatlichen Rechts
Der vom EGMR gewählte Mechanismus zur Auflösung von Normenkollisionen stellt einen Mittelweg dar. Einerseits ist der EGMR in einer starken Position, da die Auflösung einer Normenkollsion nicht in der Verantwortung nationaler Gerichte liegt, sondern das Straßburger Gericht eine Konventionswidrigkeit selbst feststellen kann. Andererseits steht dem EGMR die Möglichkeit einer konventionskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht in gleicher Weise zur Verfügung wie dem BVerfG die verfassungskonforme Auslegung, solange er sich einer Auslegung des nationalen Rechts verschließt und dieses wie eine Tatsache behandelt. 44 Der EGMR kann deshalb nicht entscheiden, in welcher Auslegung die angegriffene Norm des engeren Rechtskreises gerade noch konventionskonform wäre, sondern kann nur feststellen, dass die streitige Norm zumindest in der vom Gericht vorgenommenen Auslegung mit der EMRK unvereinbar ist. Das Problem wird aber dadurch abgemildert, dass eine Änderung oder Aufhebung der Rechtsnorm nicht der einzige mögliche Weg eines Staates sein dürfte, seinen Verpflichtungen aus Art. 46 EMRK nachzukommen, sondern eine zukünftig konventionskonforme Anwendung des Gesetzes ausreichen müsste. 45 3. Wechselseitige Abhängigkeit der Zulässigkeitsvoraussetzungen
Hierarchisch strukturierte Parallelrechtsordnungen bilden ein organisches System. Veränderungen der Zulässigkeitsvoraussetzungen innerhalb einer Rechtsordnung können das System ins Ungleichgewicht bringen. Nach Auffassung der EKomMR muss ein Beschwerdeführer beispielsweise - will er dem Gebot der Rechtswegerschöpfung entsprechen - nach erfolgloser Landesverfassungsbeschwerde auch noch das BVerfG anrufen. 46 Hält der EGMR an dieser Haltung fest, schwächt dies die Stellung der Landesverfassungsgerichte nachhaltig, da das Rechtssystem der EMRK eine mögliche abschließende Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts nicht anerkennt. Auf Grund der Fristenregelungen ist der Beschwerdeführer gezwungen, kumulativ Verfassungsbeschwerde vor dem Landesverfassungsgericht und dem BVerfG zu erheben, will er sich nicht den Weg zum EGMR versperren. Versuche, das BVerfG durch eine verstärkte Inanspruchnahme der 44 Diese Art der Auslegung ist nicht unproblematisch, da das höherrangige Gericht die untergeordnete Rechtsordnung auslegen muss. Ausführlich dazu am Beispiel des BVerfG Bettermann, Verfassungskonforrne Auslegung, S. 1 ff. und unten § 10 I 2 b cc. 45 So Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 183. 46 Rs. Nr. 6729/74 DR 1,93.
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
Landesverfassungsgerichte zu entlasten (siehe oben § 3 I 2), gehen dadurch fehl. In umgekehrter Richtung wird die Erschwerung des Zugangs zum BVerfG durch ein freieres Annahmeverfahren47 entgegen dem Subsidiaritätsgedanken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Verfahrensflut auf internationaler Ebene führen (Verlagerung des Grundrechtsschutzes vom BVerfG weg auf internationale Instanzen): Beschwerdeführer, die vor dem BVerfG kein Gehör mehr finden, werden verstärkt vor dem EGMR oder dem MR-Ausschuss klagen. 48 Bausback49 stellt mit Recht die Frage, ob bei einem freien Annahmeverfahren aus Sicht des EGMR die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde überhaupt noch Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Beschwerde vor dem EGMR wäre. 50 Infolge der eigenen Beschränkung fiele das BVerfG zumindest auf den Einzelfall bezogen aus dem Grundrechtsschutzsystem völlig heraus. An den beiden Beispielen sieht man, dass es sehr problematisch ist, Parallelrechtsordnungen jeweils isoliert zu betrachten. Die deutsche Reformdiskussion um eine Entlastung des BVerfG - die diesen Aspekt häufig beiseite lässt - zeigt, dass das System "Grundrechte" als solches immer noch nicht wahrgenommen wird und mangels einer übergreifenden Darstellung innerhalb der eigenen Parallelrechtsordnung rein nationalstaatlich argumentiert wird. 4. Überkomplexität des derzeitigen nationalen und internationalen Grundrechtsschutzes
Der Grundsatz der Prozessökonomie erfordert, die nicht unbeschränkt vermehrbare "Ressource Recht" bestmöglich zu nutzen und auch auf das Verhältnis von Aufwand und möglichem Ertrag zu achten. Bei einem sich immer weiter annähernden Prüfungsmaßstab aller Grundrechtsinstanzen wird das derzeitige System brüchig. Beispiel: Der bei einer Bewerbung zum öffentlichen Dienst unterlegene männliche Bewerber erhebt nach dem abschließendem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Der Kläger ist der Auffassung, dass das die weibliche Bewerberin bevorzugende Landesgleichstellungsgesetz gegen den Gleichheitssatz und die EG-Gleichstellungsrichtlinie verstoße. Das Landesarbeitsgericht hatte vorher das Landesgesetz dem Landesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vorgelegt, das allerdings einen Grundrechtsverstoß verneint hatte. 51 Parallel holte das Landesarbeitsgericht eine Entscheidung des EuGH ein, da es ebenfalls an der Vereinbarkeit des Landesgleichstellungsgesetzes Siehe oben Fn. 43 S. 74. Dies befürchten Bausback, ZRP 1999, 6 ff.; ders., internationaler Schutz der Religionsfreiheit, S. 105 ff.; Fink, Schutz der EMRK, S. 100 f. 49 Bausback, ZRP 1999,6 (9). 50 Ansatzpunkt ist das Merkmal "effektiver" Rechtsbehelf in Art. 35 EMRK. 47 48
11. Strukturanalyse
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mit der EG-Richtlinie zweifelt. Durch die Entscheidung des EuGH ergibt sich aber, dass die Richtlinie auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Nach erfolgloser Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wendet sich der Kläger an den EGMR. Eine sich anschließende Beschwerde vor dem Menschenrechtsausschuss des IPBürgR ist zwar durch den von Deutschland erklärten Vorbehalt nicht zulässig, aber prinzipiell denkbar.
Durchläuft der Kläger alle Verfahren, ist sein Begehren inhaltlich von sieben (!) Instanzen überprüft worden. Eine ausschließlich grundrechtliche Prüfung haben drei Gerichte vorgenommen. Addiert man nur überschlagsmäßig die normale Dauer der einzelnen Verfahren, muss die Frage erlaubt sein, ob eine Verfahrenslänge von weit über 15 Jahren 52 mit den Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit noch vereinbar ist. Das Beispiel ist zugegebenermaßen ein konstruierter Extremfall, er zeigt aber, welche Rechtsschutzinstanzen prinzipiell in Anspruch genommen werden können. Sobald der neue ständige EGMR mehr im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, wird zumindest der Weg nach Straßburg genauso selbstverständlich sein wie eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Außerhalb Europas könnte der MR-Ausschuss mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Solange ein Rechtsweg eröffnet ist, kann keinem Beschwerdeführer vorgeworfen werden, ihn auch auszuschöpfen. Daher muss in Staaten mit einer ausgeprägten Verfassungsgerichtsbarkeit und identischem bzw. höherem Schutzniveau die Frage erlaubt sein, ob das globale Grundrechtsschutzsystem in dieser Form rechtspolitisch und prozessökonomisch noch mit dem jeweiligen nationalen Rechtssystem kompatibel ist. Trechsel53, spricht provokant von einer "Inflation im Bereich der Menschenrechte" und befürchtet eine "Verwirrung der Konsumenten". Hinzu kommt der völlig andere Stellenwert der EMRK in denjenigen Staaten, die keine so starke Verfassungsgerichtsbarkeit wie Deutschland besitzen. In diesen Staaten bietet das Rechtsschutzsystem der EMRK zusätzliche Möglichkeiten mit geradezu "revolutionärer Wirkung".54 Dazu zählt die in vielen Ländern innerstaatlich nicht vorgesehene Möglichkeit, nationale Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten zu überprüfen (Normenkontrolle). Dieser Unterschied innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten könnte sich in einer je nach Mitgliedsstaat differenzierten Annahmepraxis des EGMR widerspiegeln, wodurch zum einen das internationale Gericht entlastet würde 51 Folgt man der oben § 3 I 3 b cc abgelehnten Auffassung, müsste das Landesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 3 GG vorlegen, wenn es bei inhaltsgleichen Grundrechten von der Auslegung des BVerfG abweichen wollte. 52 Fink, Schutz der EMRK, S. 93, spricht sogar von "gelegentlich zwanzig Jah-
ren",
ZEuS 1998, 371 ff. FroweinlPeukert, EMRK, Einführung Rn. 12. Das gilt etwa für Großbritannien, Frankreich und die Schweiz. 53
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1. Teil, § 4 Das Prinzip der Instanzerweiterung
und zum anderen der nationale Rechtsweg auf ein vernünftiges Maß reduziert werden könnte (dazu unten § 11 V, VI).
§ 5 Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs: Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG J. Bestandsaufnahme 1. Die Besonderheiten des Vorlageverfahrens
Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG 1 ist eine geradezu klassische Ausprägung eines Vorlageverfahrens. Grundgedanke ist die Sicherung der Rechtseinheit innerhalb der Hierarchierechtsordnung "Europarecht" (siehe oben § 1 11 1) durch eine Zusammenarbeit des EuGH mit den mitgliedstaatlichen Gerichten ("Dialog der Richter")? Wird in einem Prozess die Vorfrage nach der Auslegung oder Gültigkeit von Europarecht aufgeworfen, besteht die Möglichkeit - und in bestimmten Fällen sogar die Pflicht -, den EuGH um die Beantwortung abstrakter und genereller gemeinschaftsrechtlicher Vorfragen zu ersuchen. Eine geteilte Zuständigkeit besteht bei der Normenkontrolle des staatlichen Rechts (siehe unten 2 b). Art. 234 EG vereinigt dadurch Elemente aus Normeninterpretations- und Normenkontrollverfahren.
I Zum Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG im einzelnen siehe: Tomuschat, Vorabentscheidung; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren; Pescatore, BayVBl. 1987, 33 ff.; Everling, Vorabentscheidung; Merchiers-Bericht; Lieber, Vorlagepflicht. Zuletzt 19lesias, NJW 2000, 1889. Das Vorlageverfahren des EG-Vertrages war nicht ohne Vorbild (Siehe dazu die Aufstellung bei Schermers/Blokker, § 1377 und Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 23 ff.). Hervorzuheben ist der Vertrag vom 15. Juli 1957 zwischen der BRD und der Republik Östemeich zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen, dessen Schiedsgerichtshof bindende Gutachten über die Anwendung und Auslegung des Vertrages erstatten konnte (Siehe Art. 108 Abs. 1 a und Art. 110 des Vertrages, BGBL 1958 11, S. 130). Das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten weist viele Parallelen auf, die konkrete Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG und die Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 sind schon mehrfach erwähnt worden. Der Erfolg des Vorabentscheidungsverfahren hat die Benelux-Länder dazu gebracht, einen Benelux-Gerichtshof zu errichten, der in einem sehr ähnlichen Verfahren für die Auslegung der diesen drei Ländern aus der napoleonischen Zeit gemeinsamen Vorschriften zuständig ist, siehe Schermers/Blokker, § 622. Der weitgehend gleichlautende Art. 150 EAGV sowie der ähnliche Art. 41 EGKSV bleiben außer Betracht. 2 Geiger, EGV, Art. 234 Rn. I; EuGH, Slg. 1965, 1151 Schwarze/Einfuhr- u. Vorratsstelle; Slg. 1981, 3045 (3062 f.) - Foglia/Novello 11.
1. Teil, § 5 Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs
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a) Vorlageveifahren statt hierarchischer Strukturen
Die EU verfügt über kein eigenes hierarchisch strukturiertes Gerichtssystem. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip wurden den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft nur solche Zuständigkeiten übertragen, die nicht den nationalen Gerichten zugewiesen werden konnten. 3 Der EuGH ist daher von wenigen Ausnahmen abgesehen 4 - für den Bürger nicht direkt anrufbar. Die nationalen Gerichte sind durch den vorherrschenden dezentralen Verwaltungsvollzug vorrangig dazu berufen, das entscheidungserhebliche Europarecht in eigener Verantwortung auszulegen und anzuwenden, das ihnen zur "Verwirklichung anvertraut und nicht nur zur Beachtung aufgegeben ist"s. Folgerichtig werden sie als Gemeinschaftsgerichte im "funktionellen Sinne" bezeichnet. 6 Ihr Rechtsschutzauftrag erweitert sich dadurch erheblich, da sie die rechtmäßige Durchführung des innerstaatlich beachtlichen Primär- und Sekundärrechts gewährleisten müssen; die Kontrolle des Gemeinschaftsrechts wird dadurch dezentralisiert. b) Wahrung der Rechtseinheit innerhalb der Hierarchierechtsordnung ohne hierarchische Strukturen.
Gerade die Tatsache, dass verschiedene Gerichte - der EuGH und die Gerichte der 15 Mitgliedstaaten - Europarecht auszulegen und anzuwenden haben, verdeutlicht die potentielle Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsentwicklung durch divergierende Entscheidungen. Die notwendige einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts übernimmt der EuGH als zentrale Instanz durch ein Nonninterpretationsverfahren. 7 Im Unterschied zu einem nationalen Rechtssystem, in dem die einheitliche Auslegung und Anwendung durch einen Instanzenzug sichergestellt wird, schied eine derartige Lösung in der Europäischen Gemeinschaft aus rechtspolitischen Erwägungen aus. Die Gemeinschaft ist kein staatenähnliches Gebilde, sondern ein auf die begrenzte Übertragung von Hoheitsrechten begründeter Staatenverbund. 8 Von einem klassischen Rechtsbehelfsverfahren, das der Korrektur Iglesias, NJW 2000, 1889. Dem Bürger steht unter den Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG eine direkte Nichtigkeitsklage gegen an ihn ergangene Entscheidungen sowie gegen Akte der Gemeinschaft zu, die ihn unmittelbar und individuell betreffen. 5 Burgi, DVBI. 1995, 773, 778. Ausführlich zum Verwaltungsvollzug des Gemeinschaftsrechts Streinz, HStR VII, § 182. 6 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43 f. 7 EuGH Slg. 1974, 33 (38 f.) - Rheinmühlen; Slg. 1981, 3045 (3062) - Foglia/ Novell. 8 BVerfGE 89, 155 (181). Siehe dazu Kirchhof, in: HStR VII, § 183 Rn. 50 ff., 69; Kunig, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Kapitel 2 Rn. 26 m. w.N. 3
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I. Bestandsaufnahme
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einer bereits erlassenen Entscheidung dient, unterscheidet sich das Vorabentscheidungsverfahren dadurch, dass es keine selbständige Streitsache darstellt, sondern ein "ausgelagertes Zwischen- oder Konsultationsverfahren", welches die "prozessuale Nahtstelle zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht,,9 bildet. Das Verfahren macht den EuGH nicht zu einer europäischen Revisions- oder Kassationsinstanz; nach dem Selbstverständnis des EuGH besteht deshalb zu den mitgliedstaatlichen Gerichten kein Hierarchieverhältnis, sie üben ihre Zuständigkeiten vielmehr auf Grund unterschiedlicher Kompetenzen kooperativ nebeneinander aus. 1O Diese kooperative Gleichrangigkeit meint der EuGH nur verfahrensrechtlich, indem er damit den Unterschied des Vorabentscheidungsverfahrens zu einer nationalstaatlichen Berufung bzw. Revision klarstellen möchte. Keinesfalls wird damit der von ihm selbst aufgestellte unbedingte Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht in Frage gestellt (dazu ausführlich unten § 6). 2. Das Verfahren a) Die Verzahnungsjunktion: Strikte Aufgabenteilung
Grundgedanke des Vorlageverfahrens ist eine gleichrangige Zusammenarbeit mit den Ziel, eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Hauptcharakteristikum eines Vorlageverfahrens ist seine strikte Aufgabenteilung zwischen den zwei beteiligten Rechtsprechungsorganen, die im Idealfall mehr auf "Koordination und Kooperation" und weniger auf "Über- und Unterordnung" beruht. 11 Vereinfacht gesprochen liegt die Letztbeurteilung für das Europarecht beim EuGH, die Anwendung dieses Rechts auf den konkreten Fall obliegt dem vorlegenden Richter. Seine Aufgabe besteht darin, die gemeinschaftsrechtliche Frage des Ausgangsfalls zu identifizieren. Er ist Herr des bei ihm anhängigen Verfahrens und allein für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreites zuständig, insbesondere für die Tatsachenfeststellung und die Beweiserhebung. Ebenso ist er für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, also die Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes unter das ausgelegte Gemeinschaftsrechts zuständig. 12 Die Funktion des EuGH beschränkt sich ausschließlich auf die gleichwohl verbindliche Auslegung des strittigen Gemeinschaftsrechts und ggf. auf die Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43 f. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43 f. 11 Caflish, Reference Procedure, S. 588 f. 12 Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass er nicht befugt ist, den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden, also über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf den konkreten Einzelfall zu befinden, EuGH Slg. 1963, 63 (81) Da Costa; Slg. 1976, 1871 (1883) Rn. 7/8 - Simmenthal. 9
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Prüfung der Gültigkeit eines gemeinschaftlichen Rechtsakts. Das Vorlageverfahren ist daher zwar fallbezogen, aber abstrakt, da die Vorlagefrage losgelöst vom Einzelfall beantwortet wird. Das Verfahren ist nicht-kontradiktorisch ausgestaltet, das heißt, es gibt keine "Parteien" im eigentlichen Sinn. 13 Dem objektiven Charakter des Vorlageverfahrens entsprechend sind die Rechte der Parteien des Ausgangsverfahrens und anderer möglicher Verfahrensbeteiligter (siehe Art. 20 EuGH-Satzung) deshalb schwach ausgestaltet. Ihre Einflussmöglichkeiten beschränken sich auf das Einreichen schriftlicher Stellungnahmen und der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Das Urteil ist zwar nur für das vorlegende Gericht des Ausgangsverfahrens bindend (inter partes)14, dennoch kommt den Urteilen wie den höchstrichterlichen Entscheidungen im kontinentaleuropäischen Rechtsraum eine weit über den Einzelfall hinausreichende Präjudizwirkung zu. Diese äußert sich zwar nicht in einer unmittelbaren Bindungswirkung ("stare decisis"), erzeugt jedoch insoweit eine "tatsächlich rechtsbildende Kraft", als ihre Tragweite über den konkreten Einzelfall hinausgeht, da der Gerichtshof nicht ohne Grund von einer einmal zur Rechtsvereinheitlichung eingeschlagenen Spruchpraxis abweichen wird. 15
13 Kenntner, VBlBW 2000, 297 (303); Caflish, Reference Procedures, S. 588 f. Auch Art. 100 Abs. 1 GG ermächtigt das BVerfG nicht zur Entscheidung des konkreten Einzelfalls, sondern nur zur Auslegung der Maßstabsnormen, siehe Dreierl Wieland, Art. 100 Rn. 4. 14 EuGH Slg. 1977, 163 (183); Slg. 1986,947 (952); GTEIHans Krück, Art. 177 Rn. 86 ff. 15 Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen, S. 183 ff.; BBPSIStreil, S. 259 f.; GTEIHans Krück, Art. 177, Rn. 93 ff.; Pescatore, BayVBl. 1987, 33 (42 f.); für eine "erga omnes-Wirkung" Trabucchi, RTDE 1974, 56 ff. Die Präjudizwirkung wird durch den Ablauf des Vorabentscheidungsverfahrens verstärkt, das auf reine Rechtsfragen ausgerichtet ist. Zudem findet in seinem Rahmen eine Diskussion statt, an der sich - wenn auch eingeschränkt - neben den Parteien des Ausgangsverfahren auch die Mitgliedsstaaten, die Kommssion und ggf. Rat, Parlament und Zentralbankrat der EU beteiligen können (Art. 20 Abs. 1 EuGH-Satzung). Eine direkte Folge dieser Präjudizwirkung zeigt sich in der Rechtsprechung des EuGH: Letztinstanzliche Gerichte sind von der Vorlagepflicht entbunden, wenn die gleiche Streitfrage bereits vom EuGH im Rahmen eines anderen Verfahrens entschieden worden ist (Slg. 1963, 63 (81); 1982, 3415 (3428) Rn. 7 ff.). Dies gilt insbesondere für einen vom EuGH für ungültig erklärten Rechtsakt (EuGH Slg. 1981, 1191 (1214) Rn. 9 ff. - International Chemical Corporation). Daraus ergibt sich, dass letztinstanzliche Gerichte die frühere Entscheidung des EuGH ihrer Urteilsfindung zugrunde legen müssen, es sei denn, sie entschließen sich zu einer erneuten Vorlage (Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, P. 11 Rn. 137 ff.).
I. Bestandsaufnahme
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b) Mittelbare Normenkontrolle der untergeordneten Rechtsordnung
Innerhalb einer Hierarchierechtsordnung besteht neben einer einheitlichen Auslegung des gemeinsamen Rechts ein zweites Hauptproblern darin, dass untergeordnetes Recht der Vertragssparteien in Widerspruch zu vorrangigem internationalen Recht geraten kann (siehe oben § 1 11 1 b bb). Das Vorlageverfahren beschreibt eine erste Möglichkeit, wie eine solche Normenkollision aufgelöst werden kann. Das Problem tritt auf, sobald eine Partei die Unvereinbarkeit von staatlichem Recht mit unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht vorträgt oder das Prozessgericht selbst zu diesem Ergebnis tendiert. Faktisch werden damit Vertragsverletzungen der Mitgliedsstaaten gerügt, die entgegenstehendes nationales Recht nicht dem Europarecht angepasst haben. Im Rahmen der strikten Aufgabenteilung zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH ist die Normenkontrolle der untergeordneten Rechtsordnung konsequent auf beide Gerichte aufgeteilt. Da der Gerichtshof sich nicht zur Auslegung, Tragweite und Gültigkeit nationaler Rechtshandlungen äußert 16 und er deshalb in ständiger Rechtsprechung die Vereinbarkeit einer Maßnahme des innerstaatlichen Rechts mit dem EGVertrag nicht prüft, muss die Normenkollision von den Gerichten der untergeordneten Rechtsordnung aufgelöst werden. Sie entscheiden abschließend, ob eine Norm ihrer Rechtsordnung dem vorrangigen Europarecht in der vom EuGH bindend vorgegebenen Auslegung widerspricht und müssen dies auch selbst dann eigenständig feststellen, wenn in ihrem nationalen Gerichtssystem die Normverwerfungskompetenz bei einer bestimmten Stelle (meist Verfassungsgericht) konzentriert iSt. 17 Diesen Grundsatz schwächt der EuGH allerdings dadurch ab, dass er in der Regel unzulässige Vorlageersuchen, die den Gerichtshof um eine direkte Normenkontrolle nationalen Rechts ersuchen, dahingehend umdeutet, dass das vorlegende Gericht eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts begehrt, die es ihm ermöglichen soll, daraus die Folgerungen für die Anwendbarkeit des nationalen Rechts zu ziehen. Der EuGH überprüft so mittelbar das behauptete gemeinschaftsrechtswidrige nationale Recht am Maßstab des Gemeinschaftsrechts. 18 Da16 EuGH Sig. 1964, 1253 (1258) - Costa/ENEL; EuGH, Sig. 1998, 1-7875 (7899) Rn. 19 - Saddik; Sig. 1995, 1-511 (516) Rn. 6 - Ambry; EuGH Sig. 1984, 1299 (1324) Rn. 10; Sig. 1986, 1457 Rn. 12 - Ajes; Pescatore, BayVBI. 1987,68 (69 f.). 17 EuGH Sig. 1978, 629 (644 f.) Rn. 17 ff. - Simmenthal; Sig. 1990, 1-2433 (2473) - Factorame: Die mitgliedstaatliche Vorschrift sei ohne weiteres außer Acht zu lassen. Dies ist in Deutschland bereits seit BVerfGE 31, 145 (174 f.) anerkannt: "umfassende Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des zuständigen Gerichts"; Streinz, HStR VII, § 182 Rn. 72. 18 Everling, Vorabentscheidung, S. 18 ff.; GrabitzfHilfIWohlfahrt, Art. 177 Rn. 25; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 49.
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durch wird eine Lücke im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem geschlossen, da Einzelpersonen vor dem EuGH keine Möglichkeit haben, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedsstaaten zu rügen. Im Hinblick darauf, dass dies aber nicht die Hauptfunktion des Verfahrens ist, wird in der Literatur häufiger die mangelnde Eignung des nicht kontradiktorisch ausgestalteten Vorabentscheidungsverfahrens für die Normenkontrolle bemängelt. 19 Hinzu kommt der fehlende Einfluss der Prozessbeteiligten, einen - ihrer Meinung nach - vorhandenen Widerspruch zwischen den zwei Rechtsebenen effektiv zu rügen, da sie eine Vorlage im laufenden Verfahren nur anregen können. Eine Kontrolle von Gerichten, die das Bestehen einer Normenkollisionen negieren, besteht in den meisten Mitgliedstaaten nur über das schwerfällige Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 226 EG) und für die Prozessbeteiligten auf Grund des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des BVerfG nur unzureichend über das Institut der Verfassungsbeschwerde (Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S.2 GG),zo c) Kein Rechtsbehelf bei Verletzung der Vorlagepflicht
Ist ein vorlagepflichtiges Gericht21 mit einer europarechtIichen Frage befasst, bei deren Beantwortung es Zweifel hat, muss es grundsätzlich den Gerichtshof anrufen. Ob eine solche Frage entscheidungserheblich, also zum Erlass des Urteils erforderlich ist oder nicht, steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen des nationalen Richters, der insoweit "Souverän seines Vorabentscheidungsersuchens" ist. 22 Eingeschlossen darin ist die Beantwor19 Durch die schwach ausgestalteten Verfahrensrechte haben die betroffenen Staaten kaum eine adäquate Möglichkeit, "ihre" Normen zu verteidigen, Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 49 f.; BBPS/Streil, S. 253; Kutscher, EuR 1981, 392 (407). 20 Das Vertragsverletzungsverfahren eignet sich nicht zur Kontrolle der nationalen Gerichte, da der Staat wegen des Gewaltenteilungsprinzips im konkreten Fall keine "Maßnahmen" (vgl. Art. 228 Abs. 1 EG) ergreifen kann, den rechtskräftigen Richterspruch zu ändern, siehe GTE/Hans Krück, Art. 177, Rn. 78 f.; Allkemper, Rechtsschutz, S. 178 f. De lege ferenda wäre nur die Einführung eines innerstaatlichen Wiederaufnahmegrundes bei Verletzung des Gemeinschaftsrecht analog § 359 Nr. 6 StPO (Urteile des EGMR) und § 79 Abs. 1 BVerfGG möglich. Das BVerfG greift nur bei einer willkürlichen Verletzung der Vorlagepflicht ein. Infolgedessen hat das nationale Gericht insbesondere bei der Entscheidung, ob eine Frage überhaupt entscheidungserheblich ist, ein weites Ermessen. Ein Schutz vor (einfachen) Rechtsirrtürmern des Prozessgerichts besteht nicht. Ausführlich dazu unten c aa und § 10 I I a ee. 21 Vorlegen müssen letztinstanzliche Gerichte (Art. 234 Abs. 3 EG) sobald sich in einem anhängigen Verfahren eine entscheidungserhebliche Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage stellt und insbesondere dann, wenn sie von der Rechtsprechung des EuGH abweichen wollen (Divergenzvorlage), GTE/Hans Krück, Art. 177 Rn. 91 ff.; Sig. 1982,3415 (3419) Rn. 14 - CLIFIT.
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tung der Frage, ob trotz gegebener Entscheidungserheblichkeit ausnahmsweise von einer Vorlage abgesehen werden kann. Dies ist aber nur dann zulässig, wenn die Frage bereits durch eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH geklärt23 oder die richtige Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich ist ("acte clair-Doktrin,,).24 Die Gleichordnung des nationalen Richters und des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren hat zur Folge, dass die Parteien zwar streitig über die Frage des Bestehens einer Vorlagepflicht verhandeln können, jedoch keine Prozesspartei eine Vorlage erzwingen kann, insbesondere gibt es keinen "Rechtsbehelf' zum EuGH, mit dem eine rechtswidrig unterbliebene Vorlage gerügt werden kann?5 Die vereinheitlichende Wirkung der EuGHRechtsprechung entfaltet sich nur, wenn die nationalen Gerichte ihrer Vorlagepflicht nachkommen und Entscheidungen in ihren eigenen Urteilen beachten. In Literatur und Rechtsprechung wurden deshalb verschiedene Vorschläge entwickelt, diese Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens zu lindern. Alle Vorschläge laufen darauf hinaus, bei einer Verletzung der Vorlagepflicht einen Rekurs zu einem anderen Gericht oder dem EuGH selbst zuzulassen, um eine rechtswidrig unterlassene Vorlage nachträglich zu erzwingen: aa) Sanktionen innerhalb des nationalstaatlichen Rechts Eine erste Möglichkeit besteht darin, gegen eine rechtswidrige Nichtvorlage innerstaatlich Rechtsschutz zu suchen. Als einzige der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sieht lediglich die deutsche eine eigene nationale Sanktionsmöglichkeit VOr. 26 Nachdem das BVerfG den EuGH als gesetzlichen Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt hat, steht gegen 22 Wägenbaur, EuZW 2000, 37 (39); EuCH Slg. 1999,1-135 (171) Rn. 20 - Bagnasco; Slg. 1998 1-3949 (3991) Rn. 27 - Corsica Ferries Francf; Pescatore, BayVBI. 1987, 68 (70); EuCH Slg. 1982, 3415 (3428) Rn. 10.; vgl. ~uch BVerfCE 82, 159 (192 ff.). 23 EuCH Slg. 1963,80 (81) - Da Costa; CTE/Hans Krück, Art. 177 Rn. 72. 24 Voraussetzung ist, dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vemüftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt. Dies setzt die Überzeugung des innerstaatlichen Gerichts voraus, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit besteht, EuCH Sig. 1982, 3415 (3419) Rn. 14 CLIFIT; CTE/Hans Krück, Art. 177, Rn. 72. 25 EuCH, Sig. 1962, 1027 (1042); Sig. 1972,443 (448); Allkemper, Rechtsschutz, S. 155 m. w. N. Im Verfahren nach Art. 234 EG kann dies nicht gerügt werden, weil hier gerade nicht vorgelegt wird, im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 227 EG auch nicht, da es in solchen Fällen de facto nicht durchgeführt wird, Lieber, Vorlagepflicht, S. 69 ff. Siehe auch oben Fn. 20. 26 Siehe Dauses, Gutachten DJT, S. D 1 26.
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eine willkürlich unterbliebene Vorlage eines vorlageverpflichteten Gerichts der Weg zum BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde offen?7 Deren Begründetheit würde nach § 95 Abs. 2 BVerfGG zu einer Aufhebung des unter Missachtung der Vorlagepflicht erlassenen Urteils und zur Zurückverweisung an ein zuständiges Gericht führen. Dieses wäre dann verpflichtet, die Vorlage nachzuholen und den Rechtsstreit unter Beachtung der EuGHAuffassung neu zu entscheiden. Das BVerfG hat jedoch durch eine restriktive Auslegung des Willkürmerkmals den strengen "acte clair-Maßstab" des EuGH 28 nicht übernommen, was zu einem wesentlich engeren Verständnis einer rügefahigen Vorlagepflichtverletzung führt?9 Nur eine eindeutige Abweichung von einer bestehenden EuGH-Rechtsprechung oder eine offensichtlich rechtswidrig unterbliebene Vorlage wird durch das BVerfG sanktioniert, folgerichtig besteht kein Schutz vor (einfachen) Rechtsirrtümern des Prozessgerichts. 3o Hinzu kommt, dass das BVerfG die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Frage für den Ausgangsrechtsstreit in der Verantwortung des Fachgerichts belässe 1 und deshalb eine bewusste oder unbewusste Verkennung der Entscheidungserheblichkeit durch das vorlageverpflichtete Gericht nicht rügefähig ist. Der Willküransatz des BVerfG ist häufig kritisiert worden 32 , es ist aber zweifelhaft, ob das BVerfG, das nach seinem eigenen Verständnis gerade keine "Superrevisionsinstanz" sein möchte 33 , die richtige Adresse ist, um die Funktion des "obersten Vorlagen-Kontroll-Gerichts,,34 zu übernehmen, das schlichte Rechtsanwendungsfehler der Fachgerichte behebt. BVeifGE 73, 339 (366 ff.) - Solange II. Soeben Fn. 24. 29 Die Willkürlichkeit einer Nichtvorlage hängt vom Stand der EuGH-Rechtsprechung ab. Wird diese trotz der - nach Auffassung des Prozessgerichts bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der Frage grundsätzlich verkannt oder weicht das Gericht ohne Vorlage bewusst von ihr ab, bedeutet diese Vertragsverletzung zugleich einen Verfassungsverstoß. Liegt hingegen keine gefestigte EuGH-Rechtsprechung vor, verfügt das Gericht über einen großen Ermessensspielraum. Dieser ist nur überschritten, wenn "mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind". Siehe BVeifGE 82, 159 (195); 75, 223 ff.; NJW 1988, 1456 (1457); zuletzt BVeifG NJW 2001, 1267 ff. mit Besprechung von Sensburg, NJW 2001, 1259 ff.; Wölker, EuGRZ 1988, 97 (99); Allkemper, Rechtsschutz, S. 155 ff., S. 162 f. 30 BVeifGE 23, 289 (320). 31 BVeifGE 82, 159 (194); Sensburg, NJW 2001, 1259 (1260). 32 Wölker, EuGRZ 1998, 97 (103): "Der im Solange lI-Beschluss eindrucksvoll freigesetzte Tiger hat weder Zähne noch Krallen"; Clausnitzer NJW 1989, 641 (643); Glaesner, EuR 1990, 143 (150); Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 120 ff.: Notwendig sei eine" Übernahme des vom EuGH definierten acte clair-Maßstabs". 33 Siehe z.B. BVeifGE 7, 198 (207); 28, 151 (160), st. Rspr; SchlaichlKorioth, BVerfG, Rn. 274 ff. 27
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I. Bestandsaufnahme
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bb) Auflösung der Gleichordnung durch Einführung eines Rechtsmittels zum EuGH De lege ferenda wurde immer wieder in Betracht gezogen, dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, den EuGH mit der Sache zu befassen?5 Vorgeschlagen wurde dabei sowohl eine präventive a-priori wie eine repressive a-posteriori Kontrolle. Im Rahmen der a-priori-Kontrolle könnten die Prozessbeteiligten noch während des Prozesses gegen die - ihrer Meinung nach - rechtswidrige Nichtvorlage eine Beschwerde beim EuGH einlegen. Das auf diese Weise eingeleitete Verfahren würde ähnlich wie das Vorabentscheidungsverfahren selbst den Charakter eines Zwischenverfahrens teilen. 36 In einer abgemilderten Form könnte die Vorlage bindend ausgestaltet werden, wodurch das untergeordnete Gericht auf Antrag einer Partei ohne Rücksicht auf die eigene Rechtsauffassung verpflichtet wäre, eine die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. In bei den Fällen würde die Vorlage und die Formulierung der Vorlagefrage faktisch in die Hand einer Prozesspartei gelegt. Bei einer a-posteriori-Kontrolle könnte vor dem EuGH eine Kassationsbeschwerde gegen das die Vorlagepflicht missachtende Urteil eingelegt werden. 37 Der EuGH bekäme die Stellung einer "Superrevisionsinstanz" über alle staatlichen Gerichte. Stellte der EuGH als Ergebnis der Nichtvorlagebeschwerde fest, dass ein Vorabentscheidungsverfahren zur Streitentscheidung des Falles erforderlich gewesen wäre, entschiede der Gerichtshof abschließend die Auslegungs- bzw. Gültigkeitsfrage und verwiese den Fall zur erneuten Verhandlung an das nationale Gericht zurück. cc) Mittelweg: Renvoi dans l'interet de la loi Der Renvoi dans L'interet de La Loi ist ein Rechtsmittel aus dem französischen Rechtskreis, durch das dem Generalstaatsanwalt beim Kassationshof die Möglichkeit eingeräumt wird, eine Kassationsbeschwerde gegen ein Gerichtsurteil einzulegen, das er für rechtswidrig hält, wenn die Prozessparteien auf die Erhebung der Kassation verzichtet haben. 38 Ausgangspunkt Ress, Die Verwaltung 1987, 177 (217). Ausführlich zu den einzelnen Vorschlägen Allkemper, Rechtsschutz, S. 205 ff. m. w.N.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 210 ff. 36 EuGH, EG-Bull. 1975, Beilage 9175, S. 19; EG-Kommission, Bulletin der EG, Beilage 5175, S. 39; Riese, EuR 1966,24 (49); Karoff, RabelsZ 1984,649 (715 f.). Kritisch Dauses, Gutachten DJT, S. D 128; Rösler, ZRP 2000, 52 (56). 37 Rejlexionspapier des EuGH, EuZW 1999, 750 (754); Art. 43 des Entwurfs einer Entschließung des EP (Eröffnung eines Kassationsverfahrens) vom 14.02.84, abgedruckt bei Schwarze/Bieber, Verfassung für Europa, S. 340; Mutke, DVBl. 1987, 403 (405); Riese, EuR 1966,24 (49). Kritisch Kutscher, EuR 1981, 392 (398). 34 35
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1. Teil, § 5 Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs
dieses Rechtsmittels "im Interesse des Rechts,,39 sind rechtskräftige Entscheidungen, die nachträglich auf ihre Richtigkeit hin untersucht werden. Die Besonderheit des Verfahrens besteht in der fehlenden Beteiligung der Ausgangsparteien an dem nachträglichen Verfahren sowie in der Tatsache, dass ein begründetes Rechtsmittel keine Auswirkungen auf die rechtskräftige Entscheidung des nationalen Gerichts hat; ganz im Mittelpunkt steht deshalb die objektive Rechtsvereinheitlichung. Die rechtsvereinheitlichende Wirkung beruht entweder auf der Annahme einer "erga omnes" -Wirkung der Entscheidungen oder auf einer Präjudizwirkung pro futuro, die als "persuasive authority" und Grundsatzentscheidung von den untergeordneten Gerichten im Allgemeinen beachtet werden wird. 40 Am Vorbild der französischen Rechtsordnung orientiert sich das Auslegungsprotokoll zum EuGVÜ41 (Sartorius 11 Nr. 160 b), das eine Kombination von Vorlageverfahren (Art. 3 Auslegungsprotokoll EuGVÜ - fast identisch mit Art. 234 EG) und Divergenzvorlage (Art. 4 Auslegungsprotokoll EuGVÜ42 ) vorsieht. Ziel des Verfahrens ist es, im Falle divergierender Entscheidungen untergeordneter Gerichte eine authentische Auslegung der bisher strittigen Norm durch das übergeordnete Gericht zur Verfügung zu stellen, um pro futuro eine einheitliche Auslegung sicherzustellen. Deshalb 38 Art. 17 des Gesetzes Nr. 67-523 vom 3.7.1967 über den Kassationshof bestimmt: "Si le procureur general pres de la Cour de Cassation apprend qu'il a eri rendu, en matiere civile, une decision contraire aux lois, aux reglements ou aux formes de procedere contre laquelle cependant aucune des parties n'a reclame dans le delai fixe, ou qui a ete executee, il en saisit la Cour de cassation apres l'execution. Si la cassation intervient, les parties ne peuvent s'en prevaloir pour eluder les dispositions cassees. " 39 Allgemein Merchiers-Bericht, Rn. 76; Jenard, AblEG 1979, Nr. C 59, S. 67 ff.; kritisch dazu schon Tomuschat, Vorabentscheidungsverfahren, S. 199; Dauses, Gutachten DJT, S. D 90 ff. Einen. verstärkten Einsatz dieses Rechtsinstituts fordert jüngst wieder Jayme, Divergenzvorlage, S. 43 ff.: "Originelle Neuschöpjung des europäischen Verfahrensrechts ". 40 Während Jayme, Divergenzvorlage, S. 50 nur für eine Präjudizwirkung pro futuro plädiert, ergibt sich für Trabucchi, RTDE 1974, 56 (680. "indiscutablement" eine erga-omnes Wirkung. Siehe auch oben Fn. 14 zur Bindungswirkung von Entscheidungen nach Art. 234 EG. 41 An die Stelle des EuGVÜ ist mit Wirkung zum 1. 3. 2002 weitgehend die so genannte Brüssel-I-Verordnung (EG-VO Nr. 4412001, Sartorius 11 Nr. 161) getreten. Siehe dazu Pilitz, NJW 2002, 789 ff. Als Sekundärrecht unterstehen derartige Harmonisierungsakte nach Art. 61 ff. EG in vollem Umfang der Rechtsprechung des EuGH. Gesonderte Auslegungsprotokolle sind zur Begründung der Gerichtsbarkeit des EuGH nicht mehr erforderlich. Allerdings modifiziert Art. 68 EG das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EG) für diese Fälle in einschneidender Weise, da nur noch die jeweils letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten vorlagebefugt sind. Zu Recht kritisch Heß, NJW 2000, 23 (28 f.) m.w.N. 42 Text im Anhang (Nr. 10), unten Seite 205. Für die Brüssel-I-Verordnung gilt über Art. 68 Abs. 3 EG ein ähnliches Verfahren.
I. Bestandsaufnahme
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setzt eine Vorlage nach Art. 4 Auslegungsprotokoll EuGVÜ schon bestehende Auslegungsdifferenzen voraus, ein nachträgliches Rechtsmittel "im Interesse des Rechts" ist nur zulässig, wenn die Entscheidung, die zum Anlass für die Vorlage genommen wird, hinsichtlich einer Auslegungfrage von einer Entscheidung eines anderen vorlageberechtigten Gerichtes der Vertragsstaaten oder des EuGH abweicht. 43 Stellt sich die Frage zum ersten Mal, ist von einem vorlageberechtigten Gericht eine Entscheidung nach Art. 3 Auslegungsprotokoll verpflichtend einzuholen, eine nachträgliche Vorlage ist unzulässig. 44 Der Renvoi könnte aber auch wie im französischen Recht allgemeiner ausgestaltet werden, indem eine Beschwerde an den übergeordneten Spruchkörper im "Interesse des Rechts" immer dann zulässig ist, wenn eine rechtskräftige Entscheidung eines untergeordneten Gerichts nicht mit dem gemeinsamen Recht vereinbar scheint. Die Initiative zu einer solchen Beschwerde könnte sowohl von den Mitgliedstaaten wie auch von einer Gemeinschaftsstelle, beispielsweise von den Generalanwälten beim EuGH oder einem "Vertreter des öffentlichen Interesses" (Völ), ausgehen. 45 Stellt das internationale Gericht auf Antrag fest, dass gemeinsames Recht falsch ausgelegt wurde, ungültig ist oder in rechtswidriger Weise nicht angewendet wurde, entscheidet es diese Fragen abschließend, wenn auch ohne Auswirkungen auf den konkreten Fall. Im Unterschied zu Art. 4 Auslegungsprotokoll EuGVÜ kann das französische Vorbild schon dann eingeleitet werden, wenn noch keine divergierenden Entscheidungen untergeordneter Gerichte vorliegen. Ausreichend ist vielmehr die nach subjektiver Auffassung der vorlageberechtigten Stelle getroffene "Fehlentscheidung" eines untergeordneten Gerichts und die Tatsache, dass die Prozessparteien das höhere Gericht - aus welchen Gründen auch immer - nicht angerufen haben. Übertragen auf das Vorlageverfahren wäre nur erforderlich, das die zuständigen Stellen der Auffassung sind, dass ein untergeordnetes Gericht ein Vorlageverfahren hätte einleiten müssen.
43 Die Vorlage nach Art. 4 Auslegungsprotokoll EuGVÜ setzt deshalb eine rechtsvergleichende Untersuchung voraus, die in den jeweiligen Behörden kaum geleistet werden kann, Jayme, Divergenzvorlage, S. 47. Dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass es bisher zu keinem einzigen Verfahren nach Art. 4 Auslegungsprotokoll EuGVÜ gekommen ist. 44 Ausführlich Jayme, Divergenzvorlage, S. 43 ff. 45 Zu den bisherigen Aufgaben der Generalanwälte beim EuGH und des deutschen Völ siehe Pichier, Der Generalanwalt, der die Parallelen zum französischen Vorbild des commissaire du gouvernement aufzeigt. Zur Diskussion über die Vorund Nachteile eines Völ in Deutschland siehe zusammenfassend Guckelberger, BayVBI. 1998, 257 ff.
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1. Teil, § 5 Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs
11. Strukturanalyse 1. Einfache Realisierbarkeit durch strenge Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes Das Vorlageverfahren ist streng vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt, da der internationalen Instanz nur diejenigen Aufgaben (Auslegung des gemeinsamen Rechts und ggf. eine GültigkeitspTÜfung) übertragen werden, die unerlässlich sind. Das Vorabentscheidungsverfahren hat sich in der Rechtspraxis der Europäischen Gemeinschaft hervorragend bewährt. Effizienz und Bedeutung haben "selbst die kühnsten Erwartungen der Vertragsväter übertroffen".46 Klassische Kompetenzkonflikte zwischen dem nationalen und internationalen Richter können nicht auftreten, da die Verfahrensherrschaft immer in den Händen des nationalen Richters liegt. Die internationale Instanz ist nie Prozessgericht, sondern nur für die abstrakte Klärung von Vorfragen zuständig. Die Probleme verlagern sich auf eine andere Ebene: Nicht die Zuständigkeit zur Entscheidung des Ausgangsfalls ist umstritten, sondern Umfang und Reichweite der jeweils zugewiesenen Aufgaben, wie die Probleme mit der acte clair-Doktrin exemplarisch zeigen. Weitere Probleme im Verfahren nach Art. 234 EG sind die exakte Abgrenzung von "Auslegung" und "Anwendung" des Gemeinschaftsrechts, die in der Praxis fließend sind, sowie die Aufgabenteilung der Gerichte bei der Aufklärung des Sachverhaltes. 47 Die aus dieser Aufgabenverteilung folgende Konsequenz, die Auflösung von Normenkollisionen zwischen nationalem und internationalem Recht vollständig in die Hände der nationalen Gerichte zu legen, ist zwar sehr souveränitätsschonend, bleibt aber problematisch. Die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gleicht dieses Defizit nicht aus, die Gefahr der Aushöhlung des Gemeinschaftsrechts bleibt bestehen. Diese strikte Aufgabenteilung unterscheidet das Verfahren nach Art. 234 EG nicht unerheblich von anderen Vorlageverfahren. Im Rahmen des Art. 100 Abs. 1 GG liegt die Normenkontrolle beispielsweise vollständig in den Händen des höherrangigen BVerfG, das abschließend feststellt, ob eine Norm des niedrigeren Rechtskreises (das Landesrecht eines Bundesstaates) mit der höheren Norm (dem Grundgesetz oder den einfachen Bundesgesetzen) übereinstimmt (Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG).48 Der Vorteil des Verfahrens besteht in seiner einfachen Realisierbarkeit, das schon dann eingesetzt werden kann, wenn nur ein schmaler Bereich internationalen Rechts besteht. Wie das Beispiel des Art. 234 EG zeigt, Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 165. Dazu Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 82 ff. 48 Dabei ist es nicht an die Auslegung des vorlegenden Gerichts gebunden, ausführlich dazu unten § 10 I 1 b. 46
47
11. Strukturanalyse
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müssen i. d. R. nicht einmal die nationalen Verfahrensordnungen ergänzt werden. Es stellt in mustergültiger und souveränitätsschonender Weise ein Gerichtssystem für den Fall zur Verfügung, dass verschiedene nationale Rechtsordnungen durch gemeinsames internationales Recht überlagert werden und eine wechselseitige Durchdringung und Beeinflussung stattfindet. 2. Effizienzgesichtspunkte des institutionalisierten Dialogs Ein systemimmanenter Nachteil ist, dass das Vorlageverfahren in seiner Grundform nur in Rechtsgemeinschaften anwendbar ist, in denen eine treue Vertragserfüllung der nationalen Gerichte erwartet werden kann. Spezifische Probleme wie fehlende "Vorlagefreudigkeit" bzw. "Umsetzungsverweigerung" lassen sich sogar im obligatorisch ausgestalteten gemeinschaftlichen Rechtssystem ausmachen. Wenn der EuGH in diesem Zusammenhang fast schon mahnend von einem notwendigen "Geist der Zusammenarbeit,,49 spricht, zeigt dies nur, wie hilflos der Gerichtshof untergeordneten Gerichten gegenübersteht, die ihrer Vorlagepflicht nicht nachkommen. Obwohl es naturgemäß keine statistischen Erhebungen gibt, geht man davon aus, dass nur ein Bruchteil der notwendigen Vorfragen den Gerichtshof erreicht. 5o Dies wird bestätigt durch die extreme Zurückhaltung der letztinstanzlichen staatlichen Gerichte in der Anfangsphase der Europäischen Gemeinschaft. 5 ! Hinzu kommt, dass mehrere oberste Gerichte der Mitgliedstaaten offen ihrer Vorlagepflicht nicht durchweg nachkommen. So griffen diese Gerichte in manchen Fällen in extensiver Weise auf die Lehre vom "acte clair" zurück und behaupteten, ihre Auffassung - die teilweise im offenen Widerspruch zu früheren Urteilen des Gerichtshofes standen - ergäben sich ohne Zweifel aus dem Wortlaut des Vertrages oder aus seinem Schweigen; deshalb sei keine Vorlage erforderlich. 52 Solche Stellungnahmen lassen nur den Schluss zu, dass diese Gerichte sich weigern, die Konsequenzen aus dem bindenden kommunitären Rechtsschutzsystem zu ziehen. Wenn Pescatore EuGH Sig. 1981, 3045 (3062). Dauses, Gutachten DJT, S. D 125; kritisch Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1 (8) m. w. N., der es einen Trugschluss nennt, dass das Vorlageverfahren die Einheitlichkeit der Rechtsprechung geWährleisten könne. 51 Dies zeigt die Darstellung von Caflish, Reference Procedure, S. 588 für die Jahre 1962-1971. 52 Conseil d'Etat vom 22.12.1978, EuR 1979, 292 ff. mit ablehnender Besprechung von Roland Bieber. Siehe die weiteren Beispiele bei Pescatore, BayVBI. 1987, 68 (70 f.) mit Fn. 42 und Lieber, Vorlagepflicht, S. 126 ff. Zur "acte-claire"Doktrin siehe EuGH, Sig. 1982, 3415 Rn. 16 insbesondere die Schlussanträge des GA Capotorti S. 3432 (3435 f.) - CLIFlT; Steindorff, ZHR 156 (1992), 1 ff. m. w. N.; Merchiers-Bericht, Rn. 45 ff.; Everling, Vorabentscheidung, S. 47 ff.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 102 ff. 49
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1. Teil, § 5 Das Prinzip des institutionalisierten Dialogs
derartige Probleme nur als "Rückzugsgefechte,,53 bezeichnet, gibt dies doch einen Vorgeschmack darauf, wie groß diese Zurückhaltung in anderen weniger stark integrierten Hierarchierechtsordnungen während der Anfangsphase sein dürfte. Nicht unterschätzt werden sollte darüber hinaus die Anzahl unterlassener Vorlagen, die durch die Unkenntnis des neuen und unbekannten Rechtsgebiets bedingt ist, weil weder die Prozessbeteiligten noch die Gerichte der Vertragsparteien die Anwendbarkeit und damit die Entscheidungserheblichkeit des gemeinsamen Rechts erkannt haben. Mangels hierarchischer Strukturen können solche Fälle in der "Grundform" des Vorlageverfahrens nicht autoritär von der übergeordneten Instanz geklärt werden. Deshalb erscheint auch eine Sanktionierung der Nichtvorlage innerhalb der Vertragspartei (oben I 2 c aa) wenig effektiv, da derartig grundlegende Probleme nicht durch die Einschaltung einer weiteren (innerstaatlichen) Instanz gelöst werden können. Dem Grundgedanken der Subsidiarität nach ist es jedoch richtig, den Teilnehmerstaaten die Möglichkeit zu geben, Verstöße gegen die Vorlagepflicht selbst zu beheben. 3. Stufenlose Annäherung des Vorlageverfahrens an ein klassisches Gerichtssystem Durch die vorgestellten Modifikationen54 kann das Vorlageverfahren in seiner Durchsetzungskraft sowohl abgeschwächt (im Extremfall nur Erstellung unverbindlicher Gutachten) wie auch gestärkt werden (Rechtsmittel "im Interesse des Rechts", bindender Antrag oder "Kassationsbeschwerde"). Allen Vorschlägen ist zu eigen, dass sie das bisherige System völlig umgestalten. Das auf "Kooperation" gleichberechtigter Partner beruhende Verfahren würde durch hierarchische Elemente einer Über-/Unterordnung ergänzt, da eine Entscheidung des EuGH erzwungen werden kann. 55 Gleichwohl lässt sich ein gewisses Hierarchieverhältnis schon jetzt nicht leugnen. 56 Die stereotype Wiederholung der "kooperativen Gleichrangigkeit" durch den EuGH hat eher Symbolgehalt und dürfte von dem Gedanken getragen sein, die bisher kaum erzwingbare Vorlagepflicht der nationalstaatlichen Gerichte durch die Betonung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit nicht zu gefährden. Der EuGH besitzt schon jetzt die vorrangige Entscheidungskompetenz in Gemeinschaftsfragen. Ress spricht deshalb treffender von einem "System der übergeordneten Kooperation 57 Die bisher gemeinschaftsH.
BayVBl. 1987,68 (71 f.). Oben I 2 c. 55 Kritisch deshalb Dauses, Gutachten DJT, D 127 ff.; Everling, DRiZ 1993, 5 (12). 56 So auch Seidel, NVwZ 1993, 105 (106); Allkemper, Rechtsschutz, S. 210 (Fn. 916). Dies verneint Everling, DRiZ 1993, 5 (12). 53
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II. Strukturanalyse
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rechtlich bestehende Vorlagepflicht wird durch die Modifikationen lediglich in unterschiedlich starker Weise erzwungen. Die gegen derartige Änderungen vorgebrachten Bedenken sind in ihrer pauschalen Form nicht haltbar, da kritische Autoren immer nur mit einer ihrer Meinung nach systemwidrigen Veränderung des kommunitären Rechtsschutzsystems argumentieren, ohne die Vorschläge inhaltlich zu bewerten. 58 Richtig ist, dass alle Vorschläge tief in die untergeordneten Rechtssysteme eingreifen und deshalb praktisch schwierig durchzusetzen sein werden. Je effektiver ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht durch die vorgestellten Modifikationen sanktioniert wird, desto mehr Souveränität geben die Vertrags parteien ab und desto mehr nähert sich das Vorabentscheidungsverfahren einer klassischen Revision bzw. Kassation an. Dadurch entsteht ein Dilemma zwischen einer möglichst effektiven Kontrolle der Vorlagepflicht und Strukturen, die die Vorteile eines Vorlageverfahrens leicht in ihr Gegenteil verkehren können. Gleichzeitig bietet sich aber die Möglichkeit, hierarchischere Strukturen zu schaffen, ohne zugleich den Schritt hin zu einem voll ausgeprägten Gerichtssystem mit Revisions- oder Kassationsinstanz zu gehen, das aus Gründen der Souveränität und Subsidiarität auf internationaler Ebene nicht wünschenswert erscheint (siehe oben § 1 III 1 b). Problematisch und noch zu vertiefen sein wird jedoch die Frage, ob die Modifikationen deshalb auf praktische Durchsetzungsschwierigkeiten stoßen, weil die internationale Instanz in schwierige Fragen der Auslegung und Anwendung der untergeordneten Rechtsordnung gedrängt würde (siehe dazu ausführlich unten § 10 I 1 a ff). 4. Das Problem der Verfahrensverlängerung Jede Vorlage führt zwangsläufig zu einer Verfahrensverzögerung, die zudem der Dispositionsbefugnis der Parteien entzogen ist. Die Verfahrensdauer beim EuGH ist kontinuierlich gestiegen und beträgt mittlerweile (Stand 1999) 23 Monate. 59 Die ohnehin schon lange nationale Verfahrensdauer verlängert sich dadurch nochmals. Dies reduziert die Vorlagefreudigkeit der nationalen Gerichte, gefährdet die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes und die Akzeptanz des Rechtsschutzsystems. Jayme und Jenard 60 vermuten, dass die "Drohung" mit einem Vorlageverfahren die Ress, Die Verwaltung, 1987, 177 (181). So z. B. Tomuschat, Vorabentscheidungsverfahren, S. 198 f.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 210. Auch inhaltlich argumentierend hingegen Dauses, Gutachten DJT S. D 127. 59 Vergleich: 1975: 6 Monate, 1988: 17 Monate, Financial Times Deutschland (FfD) vom 18. 04. 2000. 60 Jayme, Divergenzvorlage, S. 45; Jenard, AblEG 1979 Nr. C 59, S. 67. 57
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Parteien nicht selten zu einem Vergleich zwingen wird. Bei einer Kassationsbeschwerde tritt dieses Problem besonders stark in den Vordergrund. Die unter I 2 c cc vorgestellte Variante des "Rechtsmittels im Interesse des Rechts" hat einen Vorteil, der bisher nicht hinreichend erkannt worden ist. Es ist vom Ausgangsverfahren unabhängig und ein geeignetes Instrument, die wünschenswerte Rechtseinheit - wenn auch unter vollständiger Ausschaltung des Individualrechtsschutzes - herzustellen. Ohne die genannten Veränderungen des Vorlageverfahrens können damit dessen Schwächen teilweise ausgeglichen werden.
§ 6 Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts" als Wesensmerkmal des Konflikts zwischen BVerfG und EuGH J. Bestandsaufnahme 1. Die Verortung des Konflikts - Quis iudicabit?
Der Konflikt zwischen BVerfG (als Vertreter der nationalen Verfassungsgerichte) und EuGH (als Vertreter eines supranationalen Gerichts) zeigt exemplarisch, welche Kompetenzkonflikte in einer Hierarchierechtsordnung (siehe oben § 1 11 1) auftreten können, wenn der von einer supranationalen Rechtsordnung geforderte absolute Vorrang vor den Rechtsnormen der Mitgliedstaaten bzw. Vertragsparteien von diesen Rechtsordnungen nicht vorbehaltlos und eindeutig akzeptiert wird. Konkret besteht zwischen EuGH und BVerfG Uneinigkeit darüber, wer das letzte Wort in Hinblick auf die Kompetenz- und Grundrechtskonformität von Gemeinschaftsrecht hat, ob also das BVerfG Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane (sekundäres Gemeinschaftsrecht, Urteile) an den Grundrechten des GG messen darf oder aus seiner Sicht kompetenzwidrigen ("ultra-vires") Einzelakten die Gefolgschaft verweigern darf. Hinter der Kompetenzfrage des quis iudicabit steht also die materiell-rechtliche Frage welches Recht, Gemeinschaftsrecht oder innerstaatliches Verfassungsrecht, im Konfliktfall gilt und damit vorgeht. Letztlich ist der Konflikt zwischen EuGH und BVerfG deshalb ein Konflikt zwischen zwei Rechtsordnungen und nicht in erster Linie zwischen zwei Gerichten. Diese Problematik hat sich aus deutscher Sicht zu einer der umstrittensten Fragen des Europarechts entwickelt, die auch nach dem neuesten Bananenmarktbeschluss l des BVerfG dogmatisch bei weitem noch nicht abschließend geklärt ist. Bei allen Versuchen, gegenseitige Konflikte zu vermeiden, gehen EuGH und BVerfG hinsichtlich der Begründung des grundsätzlich anerkannten Vorrangs des Gemeinschaftsrechts weiterhin von jeweils unterschiedlichen Prämissen aus. Beide Instanzen beanspruchen jeweils die abschließende Interpretationskompetenz für sich: Die europarechtliche Lehre leitet die Geltung des Europarechts aus den Gemeinschaftsverträgen selbst ab (supranationaler Rechtsmonismus 2 ). Es I Beschluss vom 7. Juni 2000, BVerfGE 102, 147 ff. Bestätigt durch Beschluss vom 9. Januar 2001 (Kammer), NJW 2001, 1268 ff.
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erteilt von sich aus den Rechtsanwendungsbefehl? Europarechtlich ist die Sache daher eindeutig: Der EuGH ist selbst und ausschließend für die Frage der Grundrechts- und Kompetenzkonformität gemeinschaftlicher Rechtsakte zuständig, da das Gemeinschaftsrecht dem Recht der Mitgliedsstaaten (auch der Verfassung)4 ohne jede Einschränkung vorgeht. Aus internationaler Sicht können Konflikte nicht auftreten, da ein vorbehaltloses Vorrangprinzip dem Einwand der Kompetenzüberschreitung stets die Unbedingtheit des Vorrangs entgegenzusetzen hat. Für die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftsrechts kommt es deshalb nicht auf dessen Vereinbarkeit mit innerstaatlichem Recht an. Eine etwaige "Reservekompetenz" nationaler Verfassungsgerichte kann nicht bestehen. Hierin würde eine Verletzung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und eine Missachtung des Verwerfungsmonopols liegen. 5 Konsequenz daraus ist, dass den Gerichten der Teilnehmerstaaten eine Überprüfung des supranationalen Rechts auf Vereinbarkeit mit nationalen (Verfassungs-)Normen verwehrt ist. Die absolute Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts ergibt sich für diese Lehre dogmatisch zwingend aus dem Verfassungscharakter des Primärrechts (Prinzip der einheitlichen Tragweite und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts).6 Aus deutscher Sicht ist das Europarecht Derivat der staatlichen Rechtsordnung, vermittelt durch Vertragsabschluss und Zustimmungsgesetz (Rechtsanwendungsbefehl). Über die "Brücke" des Zustimmungsgesetzes kann nur solches Gemeinschaftsrecht innerstaatlich wirksam werden, das wesentliche Strukturen des Grundgesetzes, insbesondere dessen Grundrechte achtet und sich in den Grenzen des Integrationsprogramms hält, das durch das nationale Zustimmungsgesetz festgelegt worden ist. Der aus der Isensee, Vorrang, S. 1262. Repräsentativ für diese europarechtliche Lehre sind die Positionen des EuGH (Ständige Rechtsprechung seit EuGH Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 f.; Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 (1135»; Slg. 1990, 1-2433 (2473 f.) - Factortame sowie Oppermann, Europarecht, Rn. 616 ff.; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 70 ff., 255 ff.; Frenz, Der Staat 34 (1995), 586 (591 ff.). Zusammenfassend Folz, Demokratie und Integration, S. 17 ff. Zu weiteren Versuchen, dies dogmatisch zu rechtfertigen, Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 93 ff. 4 Aktuelles Beispiel: Verdrängung des Art. 12 a Abs. 4 S. 2 GG, EuGH NJW 2000, 497 ff. - Kreil. 5 von BogdandylNettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 33. Dies sehen selbst "europakritische Stimmen": "Der Prüfungsvorbehalt ist nach wie vor zwar gemeinschaftsrechtlich problematisch, bei negativem Ergebnis letztlich gemeinschaftsrechtswidrig, veifassungsrechtlich aber geboten. H, Streinz, Kooperationsverhältnis, S. 671. 6 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 280 ff. Dies entspricht dem Grundsatz vom Vorrang der Zentralverfassung in einem föderalistisch strukturierten Staatswesen, Schilling, Gestufte Rechtsordnung, S. 424 ff. 2
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I. Bestandsaufnahme
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Sicht des weiteren Systems absolut geltende Vorrang gilt also aus der Sicht des engeren Systems nur eingeschränkt und steht unter der ständigen Kontrolle des BVerfG. 7 Folgerichtig versieht das BVerfG den grundsätzlich anerkannten Vorrang des Gemeinschaftsrechts8 mit zwei Einschränkungen. Sie betreffen die Wahrung nationaler Verfassungsprinzipien und die Respektierung nationaler Grundrechtsgewährleistungen gegenüber Einwirkungen des internationalen Rechts. Die Einhaltung der Grundrechtsgewährleistungen überprüft das BVerfG aber nur im Rahmen des sogleich zu besprechenden ,Kooperationsverhältnisses '. Hier ist nicht der Platz, diesen Fundamentaldissens, der durch ein bestimmtes (Vor-)Verständnis vom Konstrukt "Europäische Gemeinschaft" determiniert ist, erneut aufzurollen. 9 Wahrscheinlich ist der Konflikt juristisch sogar unauflösbar, solange das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten dem Gemeinschaftsrecht nicht absoluten, unbedingten und nicht mehr nachprüfbaren Vorrang einräumt, wie z. B. Art. 31 GG für das Bundesrecht gegenüber dem Landesrecht lO , da beide Gerichte mit juristisch nicht mehr hinterfragbaren Letztbegründungen arbeiten, die allenfalls politisch begründet werden können. 11 Dem Ziel der Arbeit entsprechend soll nur untersucht werden, wie sich aus der Sicht des BVerfG die Arbeitsteilung zwischen Karlsruhe und Luxemburg bei der Grundrechtskontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts bestimmt. 12 7 lsensee, Vorrang, S. 1262 nennt diesen Fall nationalen Rechtsmonismus. Diese staatsrechtliche Sicht repräsentieren BVerfGE 89, 155 (190 ff.). - Maastricht; Kirchhof, HStR VII, § 183, Rn. 45 ff.; ders., Maastricht-Urteil, S. 13 f. ("Brückenhäuschentheorie"); Schilling, Gestufte Rechtordnungen, S. 183 ff. Zusammenfassend Streinz, Europarecht, Rn. 190 ff., 202 ff. 8 Den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber einfachem Bundesrecht hat das BVerfG schon früh anerkannt, siehe BVerfGE 31,145 (173 f.). 9 Siehe bereits BendalKlein, DVBI. 1974, 389 (390 f.). Umfassende Darstellungen aus deutscher Sicht Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz; Folz, Demokratie und Integration; Kirchhof, HStR VII, § 183, S. 767 ff. 10 Diese Parallele zieht Streinz, Kooperationsverhältnis, S. 673. II lsensee, Vorrang, S. 1263 ff.: "Der Jurist kann im nationalen wie im supranationalen Kontext lege artis arbeiten; aber er kann es nur in dem einen oder in dem anderen. Er vermag nicht die Gegenseite zu widerlegen, weil sie, ebenso sicher und schulgerecht, mit anderen Prämissen arbeitet. "; Hanf, ZaöRV 1999, 51 (82 ff.): "juristische Unauflösbarkeit eines offenen Konflikts"; Heintzen, AöR 119 (1994), 564 (578). Gegen diese Unauflösbarkeit z.B. Hirsch, NJW 1996,2457 ff. 12 Das Problem der Kompetenzkonforrnität soll nicht näher untersucht werden. Anders als im Bereich des Grundrechtsschutzes lässt sich in der Rechtsprechung des BVerfG zur Kompetenzkonforrnität gemeinschaftlicher Rechtsakte keine Rücknahme des eigenen Kontrollanspruchs feststellen. Das BVerfG behält sich weiterhin eine Einzelfallprüfung vor. Ausführlich Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 98 ff.; NicolaysenlNowak, NJW 2001, 1233 (1236 ff.); kritisch Streinz, Kooperationsverhältnis, S. 673 ff. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 11 ff. hat als Voraussetzun7 Lutz
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1. Teil, § 6 Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts"
2. Das "Kooperationsverhältnis" - Von "Solange I" zum Bananenmarktbeschluss
Sollte das BVerfG neben dem EuGH eine Prüfungskompetenz über sekundäres Gemeinschaftsrecht 13 beanspruchen, besteht eine echte Grundrechtskonkurrenz. Abgeleitetes Gemeinschaftsrecht muss sowohl den Gemeinschaftsgrundrechten wie den Grundrechten des Grundgesetzes entsprechen (doppelter Prüfungsmaßstab). Widersprüchliche Entscheidungen über die Grundrechtskonformität eines Gemeinschaftsrechtsakts führen zu einem unauflösbaren echten Kompetenzkonflikt, da in diesem Fall jede Rechtsordnung der anderen die abschließende Entscheidungskompetenz verweigert. Nach einer wechselvollen Entwicklung l4 hat sich die Rechtsprechung durch den Bananenmarktbeschluss gefestigt. Mittlerweile beschränkt das BVerfG seine Kontrollbefugnis gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten; grundsätzlich sei der EuGH für die Gewährung von Grundrechtsschutz zuständig. Demgegenüber aktiviere das BVerfG seinen Auftrag zum Schutz der Grundrechte nur, wenn der unabdingbare Grundrechtsstandard (Wesensgehalt der deutschen Grundrechte) verletzt seiY Seine Gerichtsbarkeit über die Anwendgen für das Auftreten von ultra-vires-Konflikten zwischen Gerichten folgende Punkte ausgemacht: 1. Kompetenzüberschreitungen setzen Kompetenzen i. S. einer bestimmten umgrenzten Rechtsrnacht voraus, 2. Damit es zu einem Kompetenzgegensatz kommt, müssen diese Kompetenzen auf sich gegenüberstehende Kompetenzträger verteilt sein, 3. Existenz von unterschiedlichen Gerichten als Letztentscheidungsorgan auf den unterschiedlichen Kompetenzebenen und 4. Die Rechtsbeziehung zwischen den Ebenen muss in einem bestimmten Maße offen sein. Hierarchie-, Vorrang- oder Konfliktregeln dürfen nicht vorbehaltlos anerkannt sein. 13 Das Maastricht-Urteil hat klargestellt, dass Prüfungsgegenstand auch sekundäres Gemeinschaftsrecht selbst ist, Kingreen, in: Callies/Ruffert, Art. 6 EUV Rn. 91. 14 BVerfGE 37, 271 ff. - Solange I; BVerfGE 52, 187 (202 f.) - Vielleicht; BVerfGE 73, 339 ff. - Solange 11; BVerfGE 89, 155 ff. - Maastricht. Die Entwicklung bis zum Maastricht-Urteil beschreiben Everling, GS Grabitz, S. 60 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 1107 ff.; Trautwein, JuS 1997, 893. Zur Kritik am Maastricht-Urteil siehe statt vieler Hirsch, NJW 1996, 2457 ff. m. w. N.; Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 116 ff. m.N. für beide Seiten. 15 Zur Deutung dieses Maßstabes siehe Classen, in: vMKS, Art. 23 Rn. 52 ff. Siehe jetzt auch BVerfGE 102, 147 (164): "Ein deckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des Grundgesetzes durch das europäische Gemeinschaftsrecht und die darauf fußende Rechtsprechung des EuGH ist nicht gefordert. ". Deutlicher die Leitsätze: ,,1. Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange ll-Entscheidung ... unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist. 2. Deshalb muss die Begründung der Vorlage ... im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in
I. Bestandsaufnahme
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barkeit vom abgeleitetem Gemeinschaftsrecht übe das BVerfG zudem in einem "Kooperationsverhältnis" zum EuGH aus. 16 Folglich hat prinzipiell der EuGH und nicht mehr das BVerfG die Aufgabe, die Einhaltung der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts durch andere Organe der Gemeinschaft zu überwachen. In jüngster Zeit ergänzt das BVerfG diese Konzeption, indem es seine Rechtsprechung zur Verletzung der Vorlagepflicht (oben § 5 I 2 c aa) mit dem "Solange II"-Konzept verbindet. 17 Da der EuGH nicht mittels einer direkten Grundrechtsbeschwerde angerufen werden kann, sondern Grundrechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht nur mittelbar über das Vorlageverfahren nach Art. 234 EG gewährt, muss gleichsam als Kompensation - sichergestellt werden, dass sich der EuGH in einem entsprechenden Rechtsstreit auch tatsächlich mit der Sache befassen und Grundrechtsschutz gewähren kann. Diese "Brückenfunktion,,18 übernimmt das BVerfG, das über Art. 101 Abs. 2 S. 2 GG i. V. m. Art. 234 EG die Aktivierung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH verfahrensmäßig absichert und eine willkürlich unterbliebene Vorlage durch die Fachgerichte sanktioniert. Im Zuge der "Solange 11" und Maastricht-Rechtsprechung war umstritten, ob diese Rechtsprechung so zu deuten ist, dass das BVerfG eine Kontrolle der Wesensgehaltsgarantie im Sinne einer parallelen Zuständigkeit anhand jedes Einzelfalls vornehmen würde (Überwachung der EuGH-Rechtsprechung in einem "kontinuierlichen Prozess,,)19 oder ob eine Kontrollbefugnis so lange suspendiert ist, bis sich die Missachtung des Wesensgehalts durch den EuGH zu einem strukturellen Grundrechtsdefizit "addiert" hat (nur Notkompetenz, keine parallele Zuständigkeit)?O Derartige Unklarheiten be-. zeichnet das BVerfG im Bananenmarktbeschluss als "Missverständnis" und schließt sich inhaltlich der zweiten Deutung an?l Die Kompetenz des BVerfG umfasst folglich weder die laufende Überprüfung einzelner EGder Art und Weise, wie das BVerfG sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381) geleistet hat. " 16 Die eigene Rechtsprechung resümierend BVerfGE 102, 147 (161). 17 Beschluss vom 9. Januar 2001, NJW 2001, 1267 ff. Dazu Anmerkung von Lindner, BayVBl. 2001, 342 ff. 18 Lindner, BayVBl. 2001, 342. 19 MDHS/Rande1zhofer, Art. 24 Abs. 1 Rn. 161; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlieher Grundrechtsschutz, S. 299 ff.; Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193 (1195): "Verletzung des Grundrechtsstandards kein Häujigkeitsproblem". In diese Richtung auch BVerfG (Kammer), EuGRZ 1989, 339 (340). Siehe auch die Zusammenstellung von SchlaichiKorioth, BVerfG, Rn. 357. 20 Der Beschwerdeführer bzw. das vorlegende Gericht müssten in diesem Fall darlegen, dass die EG und ihr Gerichtshof schon in einer Reihe von Fällen den vom GG geforderten Grundrechtsstandard unterschritten haben, siehe Gersdorf, DVBl. 1994,674 (676 ff.); Everling, EuR 1990, 195 (202 f.); Stein, ZaöRV 47 (1987), 279 (284); Hilf, EuGRZ 1987, 1 (6). 7'
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1. Teil, § 6 Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts"
Nonnen noch die einzelner EuGH-Urteile?2 Gelegentliche "Fehlurteile" oder "Ausrutscher", wie sie bei keinem Gericht ausgeschlossen werden können, müssen hingenommen werden und lassen den Prüfungsvorbehalt nicht wieder aufleben. Auf das rechtspraktische Problem, wie das Gesamtverhalten des EuGH über einen längeren Zeitraum sinnvoll zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden kann, ist in der Literatur verschiedentlich hingewiesen worden. 23
In prozessualer Hinsicht ist bisher unklar, ob das BVerfG vor einer Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht die Frage seiner Gültigkeit erneut dem EuGH nach Art. 234 EG vorlegen würde oder direkt entschiede. 24 Aus europäischer Sicht ist eine erneute Vorlage unbedingt erforderlich, um dem EuGH vor der Ultima ratio einer Vertragsverletzung die aus deutscher Sicht besonderen verfassungsrechtlichen Gründe für eine Unanwendbarkeit darzulegen. Aus diesem - wenn auch zugegebenermaßen einseitigen - "Dialog" können entscheidene Impulse auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgehen, die zu einer Fortentwicklung und Verfeinerung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes beitragen?S Der EuGH erhält auf den konkreten Fall bezogen eine Aussage eines mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht, die über Art. 6 Abs. 2 EU zumindest mittelbar den Schutzbereich der Gemeinschaftsgrundrechte verändern und 21 BVerfGE 102, 147 (164). Ablehnend z.B. Schmid, NJW 2001, 249 (252 ff.). Die teilweise geäußerte Einschätzung, das BVerfG habe in Solange 11 einen prozessualen Ansatz gewählt (Vertreter dieser prozessualen Deutung sind z. B. Scholz, NJW 1990, 941 (943); Rupp, JZ 1987, 241; Kirchhof, JZ 1989, 453 (454)) wurde heftig kritisiert. Ein Gericht könne sich trotz aus seiner Sicht bestehenden Prüfungsauftrags nicht durch ein Kooperationsangebot zurückziehen. Wenn ein Gericht zuständig sei, müsse es entscheiden und könne sich nicht zurückziehen (stellvertretend Everling, GS Grabitz, S. 61; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 352). Dieser Deutung widerspricht das BVerfG deutlich unter dem Hinweis, dass Vorlagen die in den LS 2 beschriebenen besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen beachten müssten. Inhaltlich dürfte dies einer materiellen Feststellung entsprechen, nach dem die Grundrechte des GG gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keinen Prüfungsmaßstab darstellen, solange der Wesensgehalt der Grundrechte generell durch die Gemeinschaftsorgane gewährleistet ist. Die Rechtsprechungskompetenzen liegen beim EuGH. 22 Auch Entscheidungen des EuG und des EuGH im Direktklageverfahren können bei Verletzung des unabdingbaren Grundrechtsschutzes grundsätzlich vor dem BVerfG angegriffen werden, Voßkuhle, in: vMKS, Art. 93 Rn. 87. 23 Barden, VBIBW 2000, 425 (427): "Dilemma für die Praxis ... Ein solcher Nachweis wird deshalb kaum gelingen"; Schmid, NJW 2001, 249 (254): " ... von einem Fachgericht kaum zu bewältigende Aufgabe "; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV Rn. 88 ff.; Zuck/Lenz, NJW 1997, 1193 (1195). 24 Für eine Vorlagepflicht Voßkuhle, in: vMKS, Art. 93 Rn. 85, 87; Classen, a.a.O., Art. 23 Abs. 1 Rn. 77. Das beredete Schweigen des BVerfG könnte dahingehend gedeutet werden, dass das Gericht nicht (erneut) vorlegen wird. 25 Dreier/Pernice, Art. 23 Rn. 31; Gersdorf, DVBI. 1994,674 (681).
II. Strukturanalyse
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durch eine daraus folgende Intensivierung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes einen Konflikt vermeiden könnte?6 Der EuGH hätte die Möglichkeit, durch eine bundesveifassungsgerichtskonforme Auslegung seines eigenen Prüfungsmaßstabs einen Kompetenzkonflikt zu vermeiden; das wäre ein erneuter Fall einer vorauseilenden Rechtsprechungssynchronisierung.
11. Strukturanalyse 1. Das "Kooperationsverhältnis" als ruhender Kompetenzvorbehalt
Der Begriff "Koexistenz,,27 dürfte die Gemengelage zwischen BVerfG und EuGH treffender beschreiben als "Kooperation". Denn Kooperationsbeziehungen setzen normalerweise die Gleichrangigkeit der Kooperierenden voraus. Durch das "Kooperationsverhältnis" gibt das BVerfG jedoch seine eigene Position nicht auf, das Karlsruher Gericht versucht lediglich, den Dissens nicht ausbrechen zu lassen. Das Grundproblem bleibt, dass mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsregeln zwei unterschiedliche Rechtsordnungen in demselben Hoheitsgebiet Geltung beanspruchen, die nur teilweise aufeinander abgestimmt sind?S Der (ungelöste) Konflikt der Rechtsordnungen überträgt sich auf einen (ungelösten) Kompetenzkonflikt der Gerichte. Damit mag man dogmatisch nicht leben können, rechtspraktisch hingegen schon. Denn durch die hohen Hürden, die das BVerfG in Leitsatz 2 des Bananenmarktbeschlusses aufgestellt hat, dürfte der Prüfungsvorbehalt nie zum Tragen kommen. 29 Das BVerfG zieht sich auf die Position eines mahnenden Wächters zurück. Der "ruhende Kompetenzvorbehalt,,3o ist für den EuGH ständige Warnung 3l , mit seiner Rechtsprechung ein bestimmtes Grundrechtsniveau nicht zu verlassen oder Kompetenznormen nicht zu extensiv zu interpretieren. 26 Zu Inhalt und Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte siehe oben § 1 Fn. 32. Gersdorf, DVBI. 1994, 674 (678), befürwortet aus diesem Grund eine generelle Zuständigkeit des BVerfG zur Kontrolle abgeleiteten Gemeinschaftsrechts am Maßstab der Grundrechte. Die Vorrangregel des Gemeinschaftsrechts verbiete lediglich eine Verwerfung oder Nichtanwendbarkeitserklärung des Gemeinschaftsrechts. Nur so könne das Vorabentscheidungsverfahren zu einem wirklichen judiziellen Dialog genutzt werden. 27 Heintzen, AöR 119 (1994), 565 (599). 28 Kenntner, VBIBW 2000, 297 (301). 29 So auch die ersten Stellungnahmen zum Bananenmarktbeschluss: Classen, JZ 2000, 1157 (1158): "hohe, faktisch irreale Hürden "; LecheIer, JuS 2001, 120 (123): "Kompetenzvorbehalt nur, wenn das Schutzsystem des Gemeinschaftsrechts aus den Fugen geraten ist. "; Schmid, NJW 2001, 249 (254). 30 Bethge, in: M/SB/K/U, BVerfGG, Vorb. Rn. 335.
102
1. Teil, § 6 Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts"
Fügt sich der EuGH dem vom BVerfG aufgestellten materiellrechtlichen Mindeststandard nicht, droht als Mittel der Disziplinierung, dass der angegriffene Rechtsakt für Deutschland für unverbindlich erklärt wird. Prozessual bedeutet die Durchsetzung des Wesens gehalts für den Beschwerdeführer einen nicht unerheblichen (Zeit-)Aufwand: 32 Das Fachgericht überprüft zuerst den angegriffenen Gemeinschaftsrechtsakt auf seine Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsgrundrechten. Hält es einen Verstoß für gegeben, muss es den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG anrufen. Der EuGH wiederholt dann die Überprüfung anband der Gemeinschaftsgrundrechte. Stellt der EuGH keine Grundrechtsverletzung fest, verstößt der Gemeinschaftsrechtsakt nach Auffassung des deutschen Fachgerichts aber gegen den unabdingbaren Grundrechtsschutz im Sinne der "Solange II"Rechtsprechung, muss es das BVerfG im konkreten Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. I GG befassen. Nach überwiegender Auffassung dürfte das BVerfG die Verordnung erst nach erneuter (und negativer) Befassung des EuGH verwerfen. Das Instanzgericht könnte den Fall erst nach drei (!) Vorlageverfahren endgültig entscheiden, was allein für diesen Verfahrensschritt eine mehrjährige Verzögerung mit sich brächte. Hieran zeigt sich, dass die Grenzen des subjektiven Rechtsschutzes längst überschritten sind: das "Schlussurteil" kommt einfach zu spät. Auf den zweiten Blick ist der "ruhende Kompetenzvorbehalt" nicht ungewöhnlich. Dieses Grundmuster der Durchsetzung bestimmter Mindestgarantien ist im Laufe der Untersuchung schon mehrfach herausgearbeitet worden. Auch die Internationalen Strafrechtstribunale haben primär die Aufgabe, gewisse völkerstrafrechtliche Mindeststandards zu gewährleisten und verharren bei funktionierender staatlicher Strafverfolgung in einer wachenden Ruhestellung. Werden diese unterschritten, dürfen die Tribunale einen national entschiedenen Fall erneut untersuchen und ggf. ein nationales Strafurteil aufheben (siehe oben § 2 I 2 bund 3 b). Das BVerfG gewährt im Verhältnis zu den Landesverfassungsgerichten ebenfalls zumindest gewisse Verfahrensgarantien als Mindeststandards (siehe oben § 3 II 2). Der Unterschied zu den eben vorgestellten Verfahren besteht aber darin, dass normalerweise die höhere (internationale) Ebene auf der niedrigeren (nationalen) Ebene Mindeststandards durchsetzen will. Im Fall des "Kooperationsverhältnisses" ist es aber die niedrigere Rechtsordnung, die diese Standards notfalls auch im Alleingang (vertragswidrig) gegenüber der höheren Ebene durchsetzt.
31 Zuck, NJW 1994, 978 (979): "psychologischer Zwang (gegenüber dem EuGH)." 32 Dazu Streinz, HStR VII, § 182 Rn. 71.
II. Strukturanalyse
103
2. Das Phänomen der "hinkenden Hierarchierechtsordnung"
Der Konflikt zeigt, dass der Anspruch des internationalen Rechts auf absoluten und unbedingten Vorrang in Widerspruch geraten kann zu dem, was den Vertragsparteien (verfassungs)-rechtlich erlaubt ist. Das internationale Rechtssystem überfordert die "Satisfaktionsfähigkeit" der nachrangigen Rechtsordnungen gegenüber dem völkerrechtlich Geschuldeten. 33 Wenn die Verfassungsvorbehalte aus grundgesetzlicher Sicht nachvollziehbar sind und durch ihre restriktive Formulierung rein akademischer Natur sein mögen, widersprechen sie doch dem Sinn einer Hierarchierechtsordnung, die zum Zweck der Rechtsvereinheitlichung geschaffen worden ist und deshalb Geltungsvorbehalten der Vetragsparteien gegenüber unempfänglich ist. Der Konflikt ist ein Beispiel für eine "hinkende Hierarchierechtsordnung": Innerhalb einer Hierarchierechtsordnung muss zwar die Letztentscheidungskompetenz bezüglich eines Normenkonflikts nicht rechtslogisch bei einem zwischenstaatlichen Gericht liegen34 , eine Hierarchierechtsordnung bedingt aber eine klare - eben hierarchische - Lösung des Normenkonflikts. Rechtseinheit ist nur gegeben, wenn nachrangiges Recht hinter dem gemeinsamen Recht zurücktritt (§ 1 III 1 b bb). Durch die Übertragung von Rechtsprechungskompetenzen auf ein supranationales Gericht wird ein eigenständiges und abschließendes Kontrollsystem geschaffen, eine Nachkontrolle durch die Gerichte der Vertragsparteien ist damit schon prinzipiell unvereinbar. Wenn Verfassungs- oder Obergerichte damit anfingen, das Gemeinschaftsrecht für ihren Hoheitsbereich für unanwendbar zu erklären, würden dem andere Gerichte folgen und das gemeinsame Rechtssystem würde "gesprengt" werden?5 Ein ebenso legitimiertes internationales Gericht übernimmt den - normalerweise den nationalen Gerichten zustehenden Rechtsschutzauftrag. Dies zu bestreiten entzieht der vertraglich vereinbarten Konfliktlösung durch einen internationalen Spruchkörper jeden Sinn. Die Wahrung wesentlicher Strukturprinzipien der Verfassung wird man zwar keiner Vertragspartei verwehren wollen, die Gefahr besteht jedoch darin, dass unter Berufung auf diese Prinzipien politisch unliebsamen Entscheidungen der supranationalen Ebene die Gefolgschaft verweigert wird. Derartige Konflikte werden sich nur vermeiden lassen, wenn es gelingt, innerhalb des supranationalen Rechtsschutzsystems einen den nationalen Rechtsordnungen vergleichbaren rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Schutz zu gewährleisten. Die Virulenz dieses Problems aus deutscher Sicht erklärt sich daraus, dass in kaum einem anderen Land Grundrechte eine so starke Rolle spielen wie in Deutschland. Kenntner36 hat diese Problematik auf den 33 34 35
Kunig, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Kapitel II Rn. 123. Siehe unten § 10 I 1 a aa. Vgl. Tomuschat, EuR 1990, 340 (343).
104
I. Teil, § 6 Das Prinzip des "ruhenden Kompetenzvorbehalts"
Punkt gebracht: "Pointiert zugespitzt besteht hier die Befürchtung, dass ein unbedingtes Zurückweichen der nationalen Rechtsordnungen im , Unglücksfall' dazu führen könnte, dass ein Gemeinschaftsrechtsakt den verfassungsrechtlich verbrieften Garantien nicht entspricht, gleichwohl aber nicht beanstandet werden kann". Die Letztentscheidungsbefugnis bedeutet eben auch die Macht und die Last, unkorrigierbare Fehlurteile zu fällen. In diesem Punkt misstrauen sich die Vertragsparteien gegenseitig und befürchten, dass Besonderheiten der heimischen Rechtsordnung von einem internationalen Richterkollegium nicht ausreichend berücksichtigt werden könnten. 37 Deshalb werden Sicherungsmaßnahmen eingebaut. 38 Möglicherweise sind derartige Vorbehalte nur Momentaufnahmen eines Intemationalisierungsprozesses, die zu Beginn einer Entwicklung zwangsläufig auftreten und hingenommen werden müssen, solange die Vertragsparteien noch nicht die vollständigen Konsequenzen aus der gemeinsam errichteten Hierarchierechtsordnung gezogen haben, gewissermaßen "Rückzugsgefechte,,39, die der Fortschritt der Integration über kurz oder lang von selbst beendet. Dafür könnte die Entwicklung in den USA sprechen. Rechtsvergleichend hat Mayer im 19. Jahrhundert zwischen den amerikanischen "States" und der Zentralgewalt dem Maastricht-Urteil ähnliche Kompetenzkonflikte nachgewiesen, die in der Folgezeit nicht mehr aufgetreten sind. 4o Allerdings ist zu beachten, dass die Konflikte erst verschwunden sind, nachdem sich die VerVBlBW 2000, 297 (301). Dem versucht z. B. die VerfO des EGMR (Sartorius 11 Nr. 137) dadurch entgegenzutreten, dass bei einem Verfahren immer ein Richter der betroffenen Vertragspartei mitwirkt, siehe Art. 26 Abs. 1 a, 29, 51 Abs. 2 VerfO. Der Praxis beim EuGH entspricht es, dass ohne rechtlichen Zwang jeder Mitgliedstaat über einen Richter seiner Staatsangehörigkeit verfügt, siehe Geiger, Art. 223 EG Rn. 4. Darüber wachen die Mitgliedstaaten mit "Argusaugen", obwohl die gewählten Richter Teil eines Gemeinschaftsorgans sind und gerade nicht nationale Interessen zu vertreten haben. Den Regierungen gelten die Richter aber als Vertreter "ihres" Rechtssystems. 38 Bleckmann, Europarecht, Rn. 1135: "Die Kontrollkompetenz ist also ein letztes Sicherheitsventil, das in vollem Umfang aufrechterhalten werden muss"; Kenntner, VBIBW 2000, 297 (302 f.): " .. .auf ,Notfälle' beschränkte Reservekompetenzen. ... ,Hintertürchen' für den (theoretischen) Fall, dass die Gewährleistungen der unabdingbaren Verfassungsschranken dauerhaft bedroht erscheinen. ". Die Kritik an der Qualität der Grundrechtsjudikatur ist nie völlig verstummt. Vgl. z. B. Storr, Der Staat 36 (1997), 557 (570), der erhebliche Zweifel hat, ob der Grundrechtsschutz zur Zeit noch mit dem GG als im Wesentlichen vergleichbar erscheint. 39 Pescatore, BayVBI. 1987, 68 (71). 40 Kompetenzüberschreitung, S. 275 ff. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass auch der blutige Bürgerkrieg (1861-1865) dabei eine Rolle gespielt haben wird. Eine Erfahrung, die man Europa sicher nicht wünschen möchte. Nach Mayer, a. a. 0., S. 140 ff. entspricht das Maastricht-Urteil einer verbreiteten Tendenz in den Mitgliedstaaten, die dort allerdings nicht in gleicher Schärfe zu Tage tritt. 36
37
11. Strukturanalyse
105
einigten Staaten zu einem richtigen Bundesstaat weiterentwickelt hatten, ein Schritt, der für die Europäische Union gegenwärtig nicht zur Diskussion steht. Festzuhalten bleibt aber: Wenn regional oder international weitere Hierarchierechtsordnungen geschaffen werden sollten, müssen sich alle Teilnehmer der daraus entstehenden Konsequenzen bewusst sein: Wer "mitspielen will", muss die gemeinsam aufgestellten Regeln einhalten. Den gemeinsam geschaffenen Spruchkörpern muss das gleiche Vertrauen entgegengebracht werden wie den nationalen Instanzen. Auf beiden Ebenen sind dennoch Tendenzen erkennbar, die Folgen einer möglichen Grundrechtskonkurrenz schon auf der Ebene des Prüfungs maßstabs zu entschärfen. Beide Prüfungsmaßstäbe sollten zur Konfliktvermeidung idealtypisch übereinstimmen: Das durch die Integrationsoffenheit modifizierte Verfassungsrecht und das auf die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten Rücksicht nehmende Gemeinschaftsrecht (gegenseitige vorauseilende Rechtsprechungssynchronisierung).41 Nicht zuletzt angestoßen durch das "Damoklesschwert,,42 einer nationalen Kontrolle verstärkte und intensivierte der EuGH bewusst seine schon vorher begonnene Grundrechtsrechtsprechung. Auf der anderen Seite hat das BVerfG anerkannt, dass auf supra- oder internationaler Ebene nicht im Sinne einer "Hypothekentheorie,,43 eine unbeschränkte Bindung an die deutschen Grundrechte erreicht werden kann. Die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz ist deshalb verfassungsrechtlich durch die Übertragung von Hoheitsrechten modifiziert und Ausnahme, nicht Regelfall (partielle Befreiung vom Grundsatz der Bindung nach Art. lAbs. 3, 20 Abs. 3 GG durch Art. 23 Abs. I GG). Alles andere würde eine Beteiligung Deutschlands an supranationalen Organisationen unmöglich machen.
Streinz. Kooperationsverhältnis, S. 663, 674. Weiler/Haltern. Havard International Law Journal 37 (1996), 411 ff. haben dies drastisch mit der Kalten Krieg-Logik der "mutually assured destruction" umschrieben. Weil beide Seiten um die absolut zerstörerische Wirkung einer "Nichtanwendbarkeitserklärung" durch das BVerfG wüssten, seien auf beiden Seiten Tendenzen zur Entschärfung des Konflikts erkennbar. 43 Dazu MDHS/Randelzhofer. Art. 24 I Rn. 131 m.w.N.; Classen. in: vMKS, Art. 24 Abs. 1 Rn. 24. 41
42
§ 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses" als Teilaspekt des Konflikts zwischen EGMR und EuGH I. Bestandsaufnahme 1. Konflikt zweier regionaler Rechtsordnungen
Sowohl die EMRK mit ihrem Spruchkörper EGMR als auch das Europäische Gemeinschaftsrecht mit dem EuGH sind voneinander unabhängige, getrennte Rechtsordnungen. Trotz dieser Unabhängigkeit sind beide Gerichte im Rahmen ihrer Tätigkeit mit der Auslegung der EMRK befasst, da der EuGH die Konvention bei der Rechtmäßigkeitskontrolle von gemeinschaftlichen Hoheitsakten als Rechtserkenntisquelle zur Bestimmung von Reichweite und Inhalt der Gemeinschaftsgrundrechte heranzieht (normative Bestätigung jetzt durch Art. 6 Abs. 2 EU). I In der Praxis wird deshalb ein EMRK-Verstoß durch die Gemeinschaftsorgane als Rechtsverstoß zu werten sein? Die Europäische Union "koppelt" sich gleichsam an die EMRK als zweite regionale Rechtsordnung an. Auf den ersten Blick scheint ein mögliches Konfliktfeld zwischen EuGH und EGMR nur auf institutioneller Ebene zu liegen, nämlich in der Frage, wem die verbindliche Interpretation ein und desselben völkerrechtlichen Vertrags - der EMRK - zukommt. 3 Wenn der EGMR jedoch Hoheitsakte der Gemeinschaft (inklusive EuGHEntscheidungen) genauso wie nationalstaatliche Hoheitsakte auf Vereinbarkeit mit der EMRK überprüfen dürfte, wenn - mit anderen Worten - der EGMR die Europäischen Gemeinschaften, die im räumlichen Geltungsbereich der EMRK Hoheitsrechte ausüben, nicht von der Bindung an die Konvention entließe, hätte sich Straßburg mit einem Vorherrschaftsanspruch klar positioniert. Der EGMR beanspruchte die Stellung eines "luge Supreme des droits de I'Homme pour I'ensemble de l'Europe,,4 gegenüber allen auf die Mitgliedsstaaten zurückführbaren Hoheitsakten. Dann bestünde 1 GrabitvHilf, Art. F EUV, Rn. 26 ff.; Eiffler, JuS 1999, 1068 (1071); Hilf (a. a. 0.) betont gleichwohl, dass der EuGH bisher dem Bekenntnis einer eindeutigen materiellen Bindung der EG an die EMRK ausgewichen ist. 2 FroweinlPeukert, EMRK, Einführung Rn. 14; Schermers, Ansprachen, S. 32 f. 3 So Ruffert, AVR 38 (2000), 129 (148), Fall der materiellen Divergenz. 4 Cohen-JonathanIFlauss, RUDH 1999, 253 (257); Lenz, EuZW 1999, 311: "EGMR übernimmt die Führungsrolle im europäischen Grundrechtsschutz".
I. Bestandsaufnahme
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eine echte Konkurrenz der zugrunde liegenden völkerrechtlichen Verträge und die Frage, ob das gemeinschaftliche Rechtssystem den Vorrang der EMRK im Sinne einer Unterordnung akzeptiert und bei einem festgestellten Konventionsverstoß die Ungültigkeit des EG-Rechtaktes bejahte. Andernfalls entstünde ein dem Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG entsprechender Kompetenzkonflikt, da die Mitgliedsstaaten sowohl der Bindung der EMRK - und damit den Entscheidungen des EGMR - als auch den aus dem Europäischen Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zur Ausführung des Hoheitsakts und damit der Jurisdiktion des EuGH unterworfen wären (Fall der formellen Divergenz). Inwieweit eine Überprüfungskompetenz des EGMR für EG-Hoheitsakte ohne einen Beitritt zur EMRK de lege lata besteht, ist durch die neuere Rechtsprechung des EGMR nicht eindeutig geklärt.
2. "Umgekehrtes Kooperationsverhältnis" oder Primat des EGMR Vom Geltungsbereich her umfasst Art. 1 EMRK alle der Hoheitsgewalt ("jurisdiction") eines Vertragsstaates unterstehenden Personen. 5 Eine direkte konventionsrechtliche Bindung der Gemeinschaften scheidet aus, da sie bisher der Konvention nicht beigetreten sind. Unmittelbar gegen die Europäischen Gemeinschaften gerichtete Beschwerden sind deshalb immer für unzulässig erklärt worden. 6 Daher hat sich die Diskussion dahin verlagert, inwieweit und unter welchen Umständen es möglich ist, den Erlass und Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Gemeinschaftsorgane oder den Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedsstaaten als nationalen, d.h. vom Konventionsstaat zu verantwortenden Hoheitsakt im Sinne des Art. 1 EMRK zu sehen, der vom EGMR auf seine Vereinbarkeit mit den Konventionsrechten überprüft werden kann (indirekte Bindung)? Ansatz5 Der Begriff ist weit auszulegen und umfasst die Ausübung von Hoheitsgewalt im weitesten Sinne, gleich welcher Form, FroweinlPeukert, EMRK, Art. I Rn. 4. 6 Ständige Rechtsprechung des EGMR zuletzt EuGRZ 1999, 200 (201) Rn. 32 Matthews; Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 155 m. w. N. Ein Beitritt der Europäischen Gemeinschaften bzw. der EU wird seit über zwei Jahrzehnten diskutiert, siehe z.B. das Memorandum der Europäischen Kommission vom April 1979, EuGRZ 1979, 330 ff., sowie die Beiträge von Bieber, EuGRZ 1979, 338 ff.; Golsong, EuGRZ 1979, 70 ff. sowie die Entschließung des Europaparlaments vom 18.01.1994, EuGRZ 1994, 191 ff. Die KlarsteIlung des EuGH, dass ein Beitritt nur durch eine Vertragsänderung erfolgen könne (Slg. 1996, 1-1759 ff. - Gutachten 2/94) sowie die ProkIamierung der EU-Grundrechtecharta (Sartorius 11 Nr. 146) dürften einen Beitritt in weite Ferne gerückt haben. 7 Ausführlich zum folgenden Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 153 ff. Cohen-JonathanlFlauss, RUDH 1999, 253 (257): "Meme si la Communaute n'a pas ratifie la Convention, elle se trouve placee, indirectement mais surement, sous son contröle."
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1. Teil, § 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses"
punkt ist die Überlegung, dass sich ein Staat seiner Verantwortung gegenüber der Konvention nicht durch die Übertragung von Kompetenzen an Internationale Organisationen entledigen kann. 8 Um eine Kollision zwischen beiden Rechtssystemen zu vermeiden, hatte die EKomMR im Fall "M & Co. ,,9 in unverkennbarer Anlehnung an den "Solange II"-Beschluss des BVerfG IO ihren zumindest für den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht grundsätzlich erhobenen Zuständigkeitsanspruch I I reduziert. Die Übertragung von Hoheitsrechten an eine internationale Organisation sei dann mit den Garantien der EMRK vereinbar, wenn auf der Ebene der internationalen Organisation ein der EMRK äquivalenter Grundrechtsschutz (equivalent proteetion) gewährleistet sei. 12 Dies bescheinigte die jetzt aufgelöste Europäische Kommission für Menschenrechte (EKomMR) dem EuGH im konkreten Fall (Fall des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses,,13). Rechtsschutz zu den Konventionsorganen sei ausgeschlossen, die Komission sachlich unzuständig, wenn das Gemeinschaftsrecht dem vollziehenden Mitgliedstaat keinerlei eigenen Spielraum mehr belasse, sondern einen unbedingten Anwendungsbefehl enthalte. Eine Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten bestand deshalb auch dann nicht, Zu solchen Überlegungen schon Stein, Grundrechtsschutz, S. 147 ff. Der dogmatische Ansatzpunkt ist derselbe wie im Maastricht-Urteil. Darf man über den Umweg des Übertragungsgesetzes auch das "Eigenleben" der geschaffenen Institutionen im Einzelfall überprüfen oder entzieht sich dieses Handeln der staatlichen Hoheitsgewalt und ist endgültig den zwischenstaatlichen Organen anvertraut? 8 EKomMR 10.06.1958, YB 2, 256 (300); DR 64, 138 (145); Schermers, Ansprachen, S. 28 ff. 9 EKomMR, DR 64, 138 (145 f.) = ZaöRV 1990,865 ff. 10 Oben § 6 I 2. I1 Genau genommen ging es um den Fall, bei dem der innerstaatliche Akt eine bloße Vollziehung von Gemeinschaftsrechtsakten darstellte. Bejaht man eine prinzipielle Verantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten, kann aber kein Unterschied bestehen zwischen Akten, durch die Organe der EG direkt in Rechtspositionen eines Einzelnen eingreifen und solchen, die noch der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedürfen (vgl. dazu auch Ress, FS Winkler, S. 920 ff.). Der Kompetenzrückzug hätte sich deshalb konsequenterweise auf alle EG-Hoheitsakte beziehen müssen. Siehe auch Fn. 7. 12 EKomMR, DR 64, 138 (145 f.) = ZaöRV 1990, 865 ff.: " ... the transfer of powers to an international organization is not incompatible with the Convention provided that within that organization fundamental rights will receive an equivalent protection. ". Ausführlich Giegerich, ZaöRV 1990, 836 ff. Noch restriktiver EKomMR, EuGRZ 1979, 431 ff. Für einen Ausschluss aller Beschwerden gegen EG-Hoheitsakte schon Klein, Überlegungen, S. 176. 13 "Umgekehrt" deshalb, weil sich nicht ein nationales Gericht wie im Maastricht-Urteil die Kontrolle über ein internationales Gericht vorbehält, sondern ein regionaler Spruchkörper zugunsten eines räumlich kleineren (da in Bezug auf die Mitgliedstaaten nur teilidentischen) Spruchkörpers auf seine Zuständigkeit verzichtet.
I. Bestandsaufnahme
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wenn die EKomMR im konkreten Fall - bei unterstellter Zuständigkeit einen Konventionsverstoß festgestellt hätte. Der Grundrechtsschutz gegen Hoheitsakte der Gemeinschaften war aus deutscher Sicht durch diesen Rückzug und die "Solange lI-Rechtsprechung" des BVerfG nur ein stufig ausgestaltet und für Gemeinschaftsrechtsakte beim EuGH konzentriert. 14 Die Entscheidung ist nicht ohne Kritik geblieben, da die Kommission ihre Prüfungszuständigkeit noch weiter aufzugeben schien als das BVerfG im vergleichbaren "Solange II"-Beschluss. Deshalb wurde in der Literatur auch die Einzelfallbezogenheit der Entscheidung betont und jede Verallgemeinerung abgelehnt. 15 Unstreitig weiter wirkt die Konventionsbindung jedoch in dem Maße, in dem das Gemeinschaftsrecht dem Mitgliedsstaat einen eigenen Beurteilungs- und Ermessensspielraum einräumt, sei es bei der Umsetzung einer Gemeinschaftsrichtlinie (Art. 249 EG), sei es beim staatlichen Vollzug z. B. durch einen Verwaltungsakt. 16 Dies ist konsequent, da dieser Teil des Vollzugsakts durch den EuGH nicht überprüft werden kann und eine "equivalent protection" deshalb nicht gewährleistet ist. Selbst wenn die EKomMR ihre Kompetenz umfassend zurücknehmen wollte, scheint der neue ständige EGMR sich diese Linie in einigen neueren Urteilen 17 nicht zu eigen zu machen oder sie zumindest deutlich zu relativieren. 18 Zwar schließe - so der Gerichtshof - die EMRK die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen nicht aus, dies ändere aber nichts an der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Einhaltung der Konventionsrechte. 19 Die von der EMRK garantierten Rechte seien nicht "theoretical or illusory", sondern "practical and effective"; deshalb müsse ein Mitgliedstaat die Konventionsrechte auch gegenüber Hoheitsakten der Gemeinschaft in vollem Umfang sichern. Bemer14 Giegerich, ZaöRV 1990, 836 (863); Kenntner, VBIBW 2000, 297 (309); Lenz, EuZW 1999, 3l. 15 Kritisch zur Reichweite der Entscheidung z. B. Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (255): " ... cette decision ne pouvait etre analysee comme un blanc-seing general octroye au droit communautaire. ". Die Entscheidung war in Bezug auf die Frage, ob ein Spruchkörper seine Zuständigkeit einfach so beschränken könne, ähnlicher Kritik ausgesetzt wie die "Solange I1"-Entscheidung des BVerfG, siehe statt vieler Bultrini, ZEuS 1998,493 (510) m.w.N. Die Klage hätte deshalb höchstens als "offensichtlich unbegründet" und nicht auf Grund fehlender "sachlicher Zuständigkeit" zurückgewiesen werden dürfen. 16 Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 156 ff. m. W.N. 17 EGMR, EuGRZ 1999, 193 ff. - Cantoni; EuGRZ 1999, 200 ff. - Matthews; EuGRZ 1999, 207 - Wait/Kennedy. 18 Dazu Canor, E.L.Rev. 25 (2000), 3 ff.; Winkler, EuGRZ 1999, 181 ff.; ders., Beitritt zur EMRK, S. 153 ff.; Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 ff.; Busse, NJW 2000, 1074 ff.; Ress, ZEuS 1999,471 ff.; ders., FS Winkler, S. 897 ff. 19 EGMR, EuGRZ 1999,201 Rn. 29 ff.; NJW 1999, 1173. Ausführliche Analyse bei Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 165 ff.
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1. Teil, § 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses"
kenswerterweise stellt der EGMR nicht mehr auf die Herkunft des Hoheitsaktes, sondern wesentlich auf die Wirkung der Maßnahme für den Betroffenen ab. Dies könnte zu einem vollen Rechtsschutz gegenüber EG-Hoheitsakten führen, da diese für den Betroffenen die gleiche Wirkung haben wie staatliche Hoheitsakte. Festigt sich diese Rechtsprechung, kontrolliert Straßburg nicht mehr nur deutsche Hoheitsakte, sondern indirekt über die Verantwortung der EG-Mitgliedsstaaten für die Konventionsrechte auch unmittelbares Gemeinschaftshandeln. 2o Ob sich eine derart weite Prüfungszuständigkeit aus den genannten Urteilen ablesen lässt, ist in der Literatur umstritten. Vielfach wird argumentiert, dass der EGMR mit dem MatthewsUrteil die in Sachen "M & Co." aufgestellten Grundsätze noch nicht verlassen habe, da in diesem konkreten Fall eine Anrufung des EuGH nicht möglich war und deshalb eine "equivalent protection" durch ein eigenständiges Rechtsschutzsystem der internationalen Organisation gerade nicht gegeben war. 21 Endgültige Gewissheit werden erst noch klarere Worte des EGMR bringen. Mit letzter Sicherheit ist deshalb nicht festzustellen, ob der EGMR sich auf die Zurücknahme sowohl der Prüfungskompetenz (Beschwerden generell unzulässig) als auch des Prüfungsmaßstabs (nur Gewährleistung eines "unabdingbaren Grundrechtsstandards") ähnlich dem "Solange"-Vorbehalt des BVerfG beschränkt oder in jedem Fall eine vollumfängliche Einzelfallprüfung anhand der Konventionsrechte vornimmt. 22 Obwohl der EGMR Problembewusstsein zeigt, da er das Spannungsfeld zwischen der Übertragung von Hoheitsrechten und der Integrationsfahigkeit der Mitgliedstaaten erkannt hat23 , sprechen die deutlichen Worte in den Urteilen Matthews und Kennedl 4 zumindest dafür, dass der EGMR (im Unterschied zum BVerfG, oben § 6 I 2) in eine Einzelfallprüfung eintritt und nicht bereit zu sein scheint, derartige Beschwerden generell für unzulässig zu erklären. 25 Künftig ist deshalb vorstellbar, dass der EGMR Beschwerden gegen einen EGMitgliedstaat für zulässig und begründet erachtet, wenn sich der Kläger durch einen Hoheitsakt der Gemeinschaftsorgane oder einen gemeinschaftsrechtlich determinierten nationalen Hoheitsakt in seinen Konventionsrechten verletzt fühlt. Da der EuGH diesen Hoheitsakt i. d. R. vorher als rechtmäßig eingestuft hat - sei es in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 Lenz, EuZW 1999, 311 (3l3). So insbesondere Kenntner, VBlBW 2000, 297 (310); Schermers, CML Rev. 36 (1999), 673 (679). Unentschieden Canor, E.L.Rev. 25 (2000), 3 (18 ff.). 22 Vergleiche die identischen Fragestellungen oben § 6 I 2. 23 EuGH, EuGRZ 1999, 200 (201) Rn. 32, siehe auch Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 182 f. mit Hinweis auf das abweichende Sondervotum zweier Richter im Matthews-Urteil (EuGRZ 1999,205) 24 Oben Fn. 17. 25 So auch Lenz, EuZW 1999, 309 ff.; Busse, NJW 2000, 1074 (1077); Ehlers, Jura 2000, 372 (377). In diese Richtung auch Philippi, ZEuS 2000, 98 (106). 20 21
H. Strukturanalyse
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EG, sei es durch Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EG (Gebot der Rechtswegerschöpfung26 ) -, verneint der EuGH zumindest indirekt auch einen EMRK-Verstoß. Folge ist eine offene Divergenz zwischen beiden Gerichten.
11. Strukturanalyse 1. Kompetenzkonflikte zwischen internationalen Organisationen
Der Konflikt zwischen EGMR und EuGH führt zum ersten Mal zu dem in Zukunft wahrscheinlich immer häufiger auftretenden Problem, dass verschiedene internationale Rechtssysteme untereinander kollidieren. 27 Je weiter die organisatorische Verdichtung auf internationaler Ebene voranschreitet, desto mehr wird auch die Überschneidung von Zuständigkeitsbereichen Internationaler Organisationen und deren Spruchkörpern zum Problem. Konfliktsituationen und Kollisionslagen zwischen Gerichten treten immer dann auf, wenn miteinander verschränkte Rechtskreise mit jeweils eigenen Kontrollverfahren etabliert werden, die nur unzureichend aufeinander abgestimmt sind. 28 Dieses Fehlen einer übergeordneten Kompetenzverteilungsnorm liegt in der dezentralen Struktur des Völkerrechts begründet. 29 Grundsätzlich sind die internationalen Organisationen nicht in hierarchische Strukturen eingeordnet, sondern agieren gleichrangig. Eine Ausnahme bil26 Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 63 ff. Solange der Beschwerdeführer eine Vorlage an den EuGH nicht erzwingen kann (siehe oben § 5 I 2 c), muss es im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK ausreichen, wenn er eine Vorlage beantragt bzw. anregt hat. Verweigert das nationale Gericht die Vorlage an den EuGH, kommt es zu der misslichen Situation, dass der EGMR über die Vereinbarkeit von Gemeinschaftsrecht mit der EMRK zu judizieren hätte, ohne dass der EuGH vorher Gelegenheit zur Prüfung gehabt hätte. 27 Diese Problematik rückt erst seit kurzer Zeit in den Blickpunkt der Völkerrechtswissenschaft. Umfassend jetzt Ruffert, Zuständigkeitsgrenzen, AVR 2000, 129 ff., der dies (S. 162) darauf zurückführt, dass sich erst seit einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum auf globaler Ebene Organisationen hoher Integrationsdichte in einer Weise gegenüber stünden, die Kompetenzüberschneidungen und -konflikte unausweichlich erscheinen ließen. 28 Der Lösungsvorschlag von Ruffert, AVR 38 (2000), 126 (160 ff.), der sich für eine völkerrechtliche Regel des Inhalts ausspricht, dass die Streitbeilegungsorgane internationaler Organisationen die Rechtsnormen einer anderen internationalen Organisation nicht in einer Weise interpretieren dürften, die Störungen im Gefüge dieser anderen Organisationen hervorrufen könne (Übergriffsverbot), führt in diesem Fall nicht weiter. Denn würde der EuGH die EMRK überhaupt nicht mehr zur Bestimmung seiner Grundrechte heranziehen, würde dies mögliche Konflikte zwischen Gemeinschaftsrecht und EMRK eher noch verstärken, da EMRK-Verstöße wahrscheinlicher würden. Durch eine eigenständige Interpretation der EMRK versucht der EuGH im Gegenteil, Konflikte zu vermeiden. 29 Ruffert, AVR 38 (2000), 129 (156).
112
I. Teil, § 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses"
det der Beitritt einer regionalen in die globale internationale Organisation, wie der erwogene Beitritt der EG zur EMRK oder das Verhältnis zwischen EG und WTO (unten § 8 I 2). Durch die vom EGMR beanspruchte Stellung eines "luge Supreme des droUs de I'Homme pour l'ensemble de l'Europe,,3o gegenüber allen Hoheitsakten, die auf die Mitgliedsstaaten zurückzuführen sind, versucht der Straßburger Gerichtshof auch ohne formelle Überordnung, einen Vorherrschaftsanspruch gegenüber anderen regionalen oder - wenn auch noch nicht aufgetreten - gegenüber internationalen Rechtssystemen durchzusetzen. 2. Konflikt zwischen effektiver Sicherung der Grundrechte und Integrationsoffenheit Die Prüfungsbefugnis des EGMR auf das Gemeinschaftsrecht zu erstrecken, erscheint wünschenswert, da andernfalls ein Großteil staatlichen Handelns aus dem Schutzbereich der EMRK herausfiele. Die Aufgabe, Freiheitsräume gegen den Zugriff hoheitlicher Gewalt zu sichern, besteht unabhängig davon, ob deutsche, europäische oder internationale Hoheitsgewalt ausgeübt wird. Im Endergebnis stellt eine direkte oder indirekte Überprüfung von gemeinschaftlichen Hoheitsakten, die durch EuGH-Urteile bestätigt wurden, nichts anderes dar als den "Standardfall" der Überprüfung mitgliedstaatlicher Hoheitsakte, die durch ein letztinstanzliches staatliches Gericht bestätigt wurden. Der EuGH wäre lediglich den letztinstanzlichen nationalen Gerichten gleichgestellt? 1 Der Ansatz, dass "the transfer of powers does not necessarily exclude astate' s responsibility under the Convention,,32, ist deshalb konsequent, zudem sich bei Klagen gegen unmittelbares Gemeinschaftshandeln der Rechtsweg nicht übermäßig verlängert?3 Nur beim indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts käme neben der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde erneut eine Instanz hinzu. Der Prüfungsvorbehalt des EGMR träfe auch nicht auf die gleichen praktischen Schwierigkeiten wie der "Solange"-Vorbehalt des BVerfG (oben § 6 I), da alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft auch die EMRK ratifiziert haben und deshalb die Folgen eines Konventionsverstoßes alle Vertragsparteien gleich treffen. Der Fall unterscheidet sich deshalb vom Karls30 Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (257); Lenz, EuZW 1999, 311: "EGMR übernimmt die Führungsrolle im europäischen Grundrechtsschutz". 31 Dadurch wird die Subordination des EuGH unter den EGMR zwar "in kaum zu überbietender Weise sichtbar" (Klein, Überlegungen, S. 167), ungewöhnlich wäre dies aber nicht. Auch die obersten Gerichtshöfe der Mitgliedstaaten sind dem EGMR "untergeordnet" (siehe oben § 5 11 I). Ausführlich zu dieser "Rechtsmittellösung" Klein, a. a. 0., S. 164 ff. 32 EKomMR, DR 64, 138 (145). 33 Er ginge maximal vom Gericht erster Instanz über den EuGH zum EGMR.
11. Strukturanalyse
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ruher Prüfungsvorbehalt, bei dem ein einzelner Staat die Geltung des gemeinsamen Rechts unter Berufung auf sein entgegenstehendes Verfassungsrecht in Frage stellt. Zudem dürfte die Brisanz möglicher Divergenzen relativ klein sein, da der EuGH selbst Grundrechtsschutz gewährt und die EMRK in der Auslegung des EGMR für die Bestimmung der Gemeinschaftsgrundrechte eine entscheidende Rolle spielt. Durch diese "freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung" (dazu schon oben § 2 11 3, § 3 I 3 b dd) dürften inhaltliche Konflikte die Ausnahme, nicht die Regel sein. Es spricht vieles dafür, den EuGH in die Pflicht zu nehmen, nicht von einer ständigen Rechtsprechung des EGMR abzuweichen zu dürfen, um mögliche Konfliktsituationen auf ein Mindestmaß zu reduzieren?4 Ein (fakultatives) Vorlageverfahren könnte dies ergänzen und apriori formelle Rechtsprechungsdivergenzen vermeiden, da die Auffassung des EGMR schon bei der Entscheidung des EuGH über Auslegung und Gültigkeit von Sekundärrecht berücksichtigt werden müsste. 35 Jedoch sollte bedacht werden, dass neben dem Problem der Verfahrensverlängerung dadurch eine erneute Befassung des EGMR nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtszuges nicht ausgeschlossen ist (Stichwort: Konventionsverletzung durch mitgliedstaatliche Vollzugsfehler).36 Konsequent zu Ende gedacht begegnet die Rechtsprechung des EGMR aber den gleichen Bedenken, wie sie gegen die Maastricht-Rechtsprechung des BVerfG geltend gemacht worden sind, da sich in diesem Fall der Konflikt zwischen BVerfG und EuGH spiegelbildlich auf internationaler Ebene wiederholt: Ein Gericht eines fremden Rechtskreises überprüft Urteile und Rechtsakte einer anderen Rechtsordnung. Mit dem Gedanken der Internationalisierung ist es jedoch unvereinbar, wenn sich die Mitgliedstaaten stets die Kompetenz zurückbehalten müssten, Rechtsakte der internationalen Organe auf ihre EMRK-Konformität zu untersuchen. 37 Die Bedenken werden noch dadurch verstärkt, dass sich der EGMR nach derzeitiger Sicht der Dinge nicht wie das BVerfG auf die Sicherung eines "unabdingbaren Grundrechtsschutzes" zurückzieht, sondern eher dahin tendiert, eine volle Prüfungsbefugnis in jedem Einzelfall zu beanspruchen (oben I 2). Für den 34 Siehe dazu Ruffert, AVR 38 (2000), 126 (160 ff.). Die bisher vereinzelt gebliebenen Fälle materieller Divergenz benennt Philippi, ZEuS 2000, 97 (107 ff.). Der EuGH nimmt die "freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung" ernst. Bei näherer Betrachtung der divergierenden Fälle wird deutlich, dass in allen Fällen die Entscheidung des EuGH zeitlich vor der des EGMR lag. In keinem Fall ist der EuGH von einer bereits existierenden Rechtsprechung des EGMR abgewichen. (Philippi, a.a.O.). 35 Diesbezüglicher Vorschlag z.B. bei Klein, Überlegungen, S. 169 ff. 36 Kritisch deshalb auch Klein, Überlegungen, S. 169 ff.; Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 106 ff. 37 Giegerich, ZaöRV 1990, 836 (861): "Dilemma". 8 Lutz
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1. Teil, § 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses"
EuGH besteht nicht einmal die Chance, sich durch einen effektiven Grundrechtsschutz von der Zuständigkeit des EGMR zu "befreien". Der Herrschaftsanspruch des EGMR markiert die konfliktträchtige Zone: In neu geschaffenen internationalen Rechtssystemen kann offensichtlich nicht ein gleich effektiv ausgestalteter Grundrechtsschutz erreicht werden, so wie ihn EGMR und vor allem das BVerfG fordern. Karlsruhe wie auch Straßburg scheinen von der Befürchtung geleitet zu sein, dass auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH Grundrechte "mehr theoretisch als effektiv,,38 geschützt werden.
3. Konflikt internationaler Rechtssysteme mit regionalen oder internationalen Menschenrechtsschutzsystemen Der Konflikt zwischen EGMR und EuGH zeigt exemplarisch, wie "kollisionsanfallig" das Verhältnis von Internationalen Organisationen zu den Menschenrechtspakten ist. Je mehr Kompetenzen auf internationale Ebene verlagert werden, desto naheliegender ist die Möglichkeit, dass entweder eine Norm des internationalen Rechts oder deren Auslegung durch den internationalen Spruchkörper mit den Bestimmungen des IPBürgR, der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK)39 oder der EMRK nicht übereinstimmt. Die Autoren des Rom-Statuts waren sich dieser Problematik bewusst, wie Art. 21 Abs. 3 RomSt andeutungsweise zeigt. 4o Spätestens wenn sich neben dem EGMR der Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (AGMR) oder der MR-Ausschuss zur Sicherung der Menschenrechte gegenüber internationalen Spruchkörpern wie beispielsweise den Strafrechtstribunalen (InStGH, Ruanda- und Jugoslawientribunal), den WTO-Streitbeilegungsorganen oder dem Intenationalen Seegerichtshof für zuständig erklärte, träten unlösbare Konflikte auf. Die internationalen Spruchkörper wären dann je nach regionaler Zugehörigkeit des Klägers mehreren unterschiedlichen Menschenrechtsschutzsystemen mit möglicherweise unterschiedlichen Grundrechtsinterpretationen verantwortlich. Systematisch entspricht dies einer global ausgedehnten "Solange I"-Rechtsprechung41 des BVerfG, das eine volle Bindung des Gemeinschaftsrechts an die Lenz, EuZW 1999,311 (312); Nettesheim, EuZW 1995, 106 ff. Zur AMRK siehe Buergenthal, EuGRZ 1984, 169 ff. und Kokott, das interamerikanische System. 40 Artikel 21 Abs. 3 RomSt (Anwendbares Recht): Die Anwendung und Auslegung des Rechts nach diesem Artikel muss mit den international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein und darf keine benachteiligende Unterscheidung etwa auf Grund des Geschlechts im Sinne des Artikels 7 Absatz 3, des Alters, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status machen. 38
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11. Strukturanalyse
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Grundrechte des GG annahm; dieses Problem könnte sich leicht zur "Achillesferse" einer weiteren Internationalisierung entwickeln. 42 Ein weiteres Konfliktfeld dürfte die Einhaltung von Verfahrensgrundrechten sein. Die Regelmäßigkeit, mit der selbst europäische Strafgerichte vom EGMR wegen eines Verstoßes gegen die in Art. 6 EMRK niedergelegten Garantien gerügt werden43 , lässt vermuten, dass es einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof oder anderen internationalen Instanzen nicht nicht anders ergehen wird. Ebenso gespannt darf man sein, wann erstmals Verfahrensbeteiligte auf internationaler Ebene wegen einer ihrer Meinung nach übermäßigen Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK) versuchen werden, sich an den EGMR zu wenden. Werden die Gerichte derartige Klagen für zulässig erklären oder sich ähnlich wie das BVerfG (oben § 6 I 2) zurückziehen? Der Interessengegensatz ist immer der gleiche: Einerseits sollte die Übertragung von Hoheitsrechten nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes führen; dies spricht für eine umfassende Zuständigkeit der Menschenrechtsschutzsysteme auch für Hoheitsrechte, die die Mitgliedstaaten an Internationale Organisationen übertragen haben. Andererseits erschwert ein Prüfungsvorbehalt eine weitere Integration der Konventionsmitglieder. Aufgelöst werden können diese Kompetenzkonflikte nur durch eine eindeutige Koppelung - also eine Unterordnung - der internationalen Organisationen an ein Grundrechtsschutzsystem oder durch einen umfassenden Kompetenzrückzug aller Grundrechtsschutzsysteme, wie ihn die EKomMR im Fall "M & Co." angedeutet hat; dadurch würde dem internationalen Spruchkörper abschlie-
Siehe oben § 6 I 2. Cassese, GS Ryssdal, S. 213 ff., betont, dass das Jugoslawientribunal - trotz eines gleichwohl großen Einflusses - nicht an die EMRK gebunden ist. Die Frage ist nur, ob der EGMR dies ebenso sieht. Auch für das BVerfG ist dies Voraussetzung für eine weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf einen sonstigen zwischenstaatlichen Hoheitsträger: "Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muss, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, stattdessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt." (BVerfGE 73, 339 (376». Dies setzt in der Regel einen Individualrechtsschutz durch unabhängige Gerichte voraus. Wird ein derartiges Rechtsschutzniveau erreicht, gestattet Art. 24 Abs. 1 GG eine Rücknahme der Prüfungsbefugnis des BVerfG und einen ausschließlichen Grundrechtsschutz durch das zwischenstaatliche Gericht, siehe Rojahn, in: v. Münchl Kunig, Art. 24 Rn. 79. 43 Siehe nur die in letzter Zeit ergangenen Urteile des EGMR in NJW 1999, 1173 ff. - Waite u. Kennedy/Deutschland; NJW 1999,2353 ff. - Van Geysegheml Belgien; NJW 1999,2429 ff. - Garcia Ruiz/Spanien. 41
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1. Teil, § 7 Das Prinzip des "umgekehrten Kooperationsverhältnisses"
ßend die Kompetenz zur Grundrechtskontrolle der organisationseigenen Hoheitsakte übertragen (dazu unten § 11 VII). 4. Das "umgekehrte Kooperationsverhältnis" zur pragmatischen Entschärfung von Konfliktsituationen
Das Kooperationsverhältnis des BVerfG zum EuGH ist insoweit ein Sonderfall, als ein staatliches Gericht Urteile und Rechtsakte einer supranationalen Einheit überprüfen möchte und damit eine Hierarchie von unten nach oben begründet. In einer auf Rechtseinheit angelegten Hierarchierechtsordnung stößt dies auf die (oben § 6 11 2) geschilderten Widersprüche und ist als Aufgabenverteilungsprinzip zwischen nationalen und internationalen Gerichten ungeeignet und sicher kein "Exportschlager". Als Kern enthalten die Ansätze von BVerfG und EKomMR die Idee, zugunsten eines anderen Gerichts auf bestehende Rechtsprechungskompetenzen zu verzichten. 44 Der pragmatische Kompetenzrückzug ist nichts anderes als das schon mehrfach besprochene Prinzip der Sicherung von Mindeststandards, bei der sich eine Instanz zugunsten einer sachnäheren auf eine Reservekompetenz zurückzieht. Diesen Grundsatz gilt es sich zu merken und sich zu fragen, ob derartige freiwillige oder vertraglich geregelten Kompetenzrückzüge für eine sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen den zahlenmäßig zunehmenden internationalen Gerichten oder selbst zwischen nationalen und internationalen Gerichten nutzbar gemacht werden können, indem verschiedene Gerichte ihre Zuständigkeiten gegenseitig abgrenzen, um sie bei einer - der sachnächsten Stelle - ökonomisch zu konzentrieren ("umgekehrtes Kooperationsverhältnis"). Derartige Ansätze könnten darüber hinaus hilfreich sein, die Arbeitsbelastung eines internationalen Spruchkörpers zu steuern oder Instanzenzüge und damit zusammenhängend die Gesamtverfahrensdauer auf ein rechtsstaatlich noch vertretbares Maß zu begrenzen (unten § 11 VI, VII).
44 Ob dies als prozessualer oder materiellrechtlicher Verzicht zu konstruieren ist, sei dahingestellt (oben Fn. 21).
§ 8 Die Prinzipien der Gleichrangigkeit
und der Unterordnung I. Bestandsaufnahme
Das vorhergehende Kapitel hat ein erstes Beispiel für einen in Zukunft häufiger auftretenden Konfliktfall gegeben: Die Kollision verschiedener internationaler Rechtssysteme. Die Probleme ähneln in ihren Grundstrukturen den Kompetenzkonflikten zwischen nationalen und internationalen Rechtsordnungen und sollen deshalb nur kurz angedeutet werden. Allgemein wird man neben dem schon behandelten Konflikt eines internationalen Rechtssystems mit regionalen oder internationalen Menschenrechtsschutzsystemen (oben § 7) folgende zwei Fallgruppen bilden können:
1. Die konkurrierenden Auslegung völkerrechtlicher Verträge Jeder internationale Vertrag bildet ein in sich geschlossenes Rechtssystem. 1 Was aber passiert, wenn in einem Verfahren Normen einer fremden Rechtsordnung entscheidungserheblich sind und so Konflikte um die Anwendung und Auslegung ein und desselben völkerrechtlichen Vertrages entstehen? Wenn auch wegen der Gleichrangigkeit der meisten Rechtssysteme diese Frage erheblich an Schärfe verliert, da eine abweichende Auslegung durch das Rechtsprechungsorgan eines Systems für das andere Rechtssystem grundsätzlich nicht maßgeblich ist, vermag eine solche divergierende Interpretation völkerrechtlicher Verträge gleichwohl Störungen auslösen, weil einzelne Vertrags parteien Mitglieder beider Verträge sein können und dann voneinander abweichenden Rechtsanwendungsbefehlen ausgesetzt sind. 2 Einige Beispiele: Die meisten nationalen und internationalen Gerichte müssen bei ihrer Rechtsprechungstätigkeit ausdrücklich das allgemeine Völkerrecht als Prüfungsmaßstab beachten. Als Beispiele seien genannt: Der IGH über Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut (Sartorius 11 Nr. 2), der ISGH über Art. 293 SRÜ (Sartorius 11 Nr. 350) und der InStGH (Art. 21 RomSt).3 Die Streitbeilegungsorgane der WTO berücksichtigen ebenfalls mehr und mehr das allgemeine I
2 3
Seidl-HohenveldemlLoibl, Internationale Organisationen, Rn. 1350 a. Ruffert, AVR 38 (2000), 128 (160) und oben § 7 I. Texte im Anhang (Nr. 11), unten Seite 206.
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1. Teil, § 8 Die Prinzipien der Gleichrangigkeit
Völkerrecht bei ihrer Entscheidungsfindung. 4 Bundesdeutsche Gerichte müssen über Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorrangig beachten. Naturgemäß können dabei vor allem bei dem nicht kodifizierten internationalen Gewohnheitsrecht und den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" materielle Divergenzen auftreten. 5 Ist eine solche Rechtszersplitterung hinnehmbar oder muss hier nicht auch eine einheitliche Auslegung sichergestellt werden? Als weiteres Beispiel sei erwähnt, dass der Internationaler Seegerichtshof und der Internationale Gerichtshof (IGH) nach Art. 287 SRÜ bei seerechtlichen Streitigkeiten alternativ in Anspruch genommen werden können. Dies hat zur Folge, dass zwei Gerichte ein und denselben Vertrag (das SRÜ, vgl. Art. 288 SRÜ) unabhängig voneinander auslegen. 6 Das gleiche Problem tritt bezüglich der EMRK auf, da neben dem soeben (§ 7 I) beschriebenen Fall EuGH und EGMR unabhängig von einem konkreten Fall zu unterschiedliche Auslegungen der Konvention kommen können (materielle Divergenz).? Ein weiteres Beispiel: In Zukunft könnte der Fall auftreten, dass in einem Verfahren vor einem "Internet-Gerichtshof' als Vorfrage der EG-Vertrag angewendet werden müsste und der Gerichtshof diesen entgegen der ständigen EuGH-Rechtsprechung auslegte oder eine Entscheidung träfe, die der obsiegenden Partei ein Verhalten erlaubte, das gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften des EG-Vertrages verstieße. Alle diese Konkurrenzsituationen können lediglich durch gegenseitige Rücksichtnahme der unterschiedlichen Spruchkörper minimiert werden, es sei denn, ein Rechtssystem wird formal dem Streitbeilegungsmechanismus eines anderen Systems untergeordnet:
2. Hierarchische Strukturen zwischen internationalen Organisationen Konflikte zwischen Internationalen Organisationen können dadurch gelöst werden, dass eine internationale Organisation der anderen beitritt. Die daraus folgenden Konsequenzen sollen am Verhältnis zwischen der Welthandelsorganisation (WTO) und der EG dargestellt werden: Durch die Mitgliedschaft der EG in der WT0 8 (vgl. Art. XI: I WTOÜ) hat sich die Gemeinschaft einem multilateralen Vertrag untergeordnet, der beide OrganiWeber/Moos, EuZW 1999,229 (233) m.w.N. Art. 38 Abs. 1 lit bund c IGH-Statut, siehe dazu Graf Vitzthum. Völkerrecht, Kapitel I Rn. 132 ff. In dieser Fallgruppe ergibt sich eine gewisse Parallele zu dem Fall der materiellen Divergenz zwischen EuGH und EMRK bei der Auslegung der EMRK, siehe oben § 7 I 1 (am Ende). Bei der Auslegung multilateraler Verträge drohen die gleichen Gefahren. 6 Dazu Boyle. ICLQ 46 (997), 37 (40 ff.). 7 Begriffe von Stein. Grundrechtsschutz, 146 050 ff.). Die bisherigen Fälle benennt Philippi. ZEuS 2000, 97 007 ff.). 4
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I. Bestandsaufnahme
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sationen in ein hierarchisches Verhältnis zueinander bringt. 9 Dadurch entsteht eine Hierarchierechtsordnung (oben § 1 III) mit umfangreiche Verpflichtungen für Legislative, ludiaktive wie Exekutive der Mitglieder (Art. XVI:4 WTOÜ) und damit auch für die Gemeinschaftsorgane. 10 Aus völkerrechtli