Patriotismus und Protestantismus: Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813 9783161527159, 9783161527142

In Deutschland sind die nationalpolitischen Forderungen nach Einheit und Freiheit in hohem Maß durch christliche Überlie

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German Pages 321 [323] Year 2015

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
§ 1. Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘
1.1 Thematik und Forschungslage
a) Theologiepolitische und nationalismustheoretische Rahmenbedingungen
b) Die Verspätungserzählung und ihre Lücken
c) Begriffe der Untersuchung und untersuchte Begriffe
1.2 Autoren und Texte
§ 2. Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik
2.1 Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus
a) Helvetischer Nationalstolz als Prätext
b) Preußischer Wahlpatriotismus und monarchischer Messianismus
c) Die Macht des Sublimen und die Übermacht der Affekte
d) Emanzipierte Märtyrer in der institutionellen Dauerkrise
2.2 „Das liebe heil’ge Römsche Reich“ – von Mosers pfingstlicher Verfassungspatriotimus
a) Das Reich als Nation
b) Der „Staatsmärtyrer“ und seine Loyalitäten
c) Topik der Einheit
d) Pfingstliche Eintracht der Patrioten
e) Nationale Institutionalität und Ekklesiologie
2.3 „Teutsche Libertät“ und Christentum – Mösers nationalgeschichtliche Perspektive
a) Mösers satirische Offensive gegen den „Nationalgeist“
b) Analyse des Freiheitsdefizits
c) Soziologie des Christentums mit patriotischer Phantasie
d) Darstellung von Frömmigkeit
e) Protestantische Freiheitsgeschichte im retrospektiven Wunschbild
2.4 Verfrühte Nation – Klopstocks ‚Gelehrtenrepublik‘ als kulturpolitische Institution
a) Antizipierende Institutionalität
b) Die Gelehrten als nationale Subjekte
c) Fiktionalität der Nation
d) Zur Einrichtung einer Republik und ihrer Freiheiten
e) Polaritäten gelehrter Konvivenz
f) Politik der Affekte
2.5 Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität
a) Ein Abbt-Denkmal als Ästhetisierung des Patriotischen
b) Zur patriotischen Ergänzung fehlender Öffentlichkeit
c) ‚Nation building‘ und die Heiligkeit der Sprache
2.6 Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation
§ 3. Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator
3.1 Elemente der nationalen Luther-Topik
a) Luther als Aufklärer seiner Nation: Möser versus Voltaire
b) Luther als Lichtbringer der Nation: J. A. Cramer dichtet ein Denkmal
c) Konvergenzen und Divergenzen
3.2 Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘
a) Klopstocks Beruf zwischen poetischer und politischer Revolution
b) Die christlich erhobene Epik als bessere Theologie
c) Kultmetaphorik und Partizipation
d) Inklusionen und Exklusionen der Sakralität
e) Heiligung des Volkes als Pränation
f) Passionierte Erhebung
3.3 Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘
a) Einheit der Nationalkultur – Vielfalt der Zugänge
b) Das ‚Journal‘: Horizonte imaginativen Wissens
c) Neue Reformation, neue Nationen
d) Geschichtslehrer der Nation
e) Theologische Metarhetorik der Nationengeschichte
f) Die „Epopee Gottes“ und ihr Rhapsode
3.4 Luther werden, nicht Luther zitieren? Arndt als ‚propheta Germaniae‘
a) Luthers Bibeldeutsch in der konfessionalisierenden Imitation
b) Politische Theologie und homo militans
c) Luthers Deutsch in der nationalisierenden Imitation
d) Im Dilemma: Luthernachahmung und Lutherdeutung
3.5 Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘
a) Blasphemische Tugend und verweigerte Vergebung
b) Luther im geistlichen und politischen Gegensatz zu Kohlhaas
c) Luthers Entsockelung – Vergebung für Kohlhaas
3.6 Lutherkonstruktion in patriotischen Selbstentwürfen
§ 4. Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen
4.1 Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung
a) Klopstock: Hermanns charismatische Freiheit von der Sakralordnung
b) Möser: ‚Arminius‘ oder Die Tragödie der deutschen Freiheit
c) Kleist I: Sakrale Einheit, manipuliert
d) Kleist II: Vergebung, Rache und ‚Kollateralschäden‘ am Christentum
4.2 Lyrische Expansion der Affekte: Himmlisches und ‚Teutsches‘ Vaterland
a) 1813: Apokalyptische Affektenthemmung und eschatologische Geborgenheiten
b) Gleims ‚Grenadierlieder‘: Gott, König und Vaterland vor 1813
c) Klopstocks patriotische Lyrik und ihre Vaterländer
d) Expansivität der Nation – in speciem aeternitatis
4.3 Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus
a) Ethischer Dezisionismus
b) Erneuertes Herz und internationale Brüderlichkeit
c) Erfindung des national Selbstverständlichen
d) Fromme, freie deutsche Bürgersoldaten
4.4 ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation
a) Konfessionelle Topik im Niederschreiben des Zeitgeistes
b) Christentumsgeschichte und ‚nation building‘
c) Zur patriotischen Vereinnahmung der Soteriologie
d) Sakraler Feindbegriff und passionierte Zeitbeobachtung
4.5 Einheit und Freiheit durch Nationalisierung des Christentums?
§ 5. Protestantismus und Patriotismus
5.1 Konfessionelle Semantik, Literatur und ‚nation building‘
5.2 Politische Religion statt Säkularisierung und Sakralisierung?
5.3 Verdrängte Rhetorik und die Macht der Phantasie
5.4 Nation der Frommen und Zivilreligion
Literatur
Namenregister
Sachregister
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Patriotismus und Protestantismus: Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813
 9783161527159, 9783161527142

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel 172

Christian Senkel

Patriotismus und Protestantismus Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813

Mohr Siebeck

Christian Senkel, geboren 1965; 1997 Promotion; wissenschaftliche Mitarbeiterstellen in Würzburg, Marburg und Halle; Mitarbeit in verschiedenen Forschungsprojekten (SFB, Exzellenznetzwerk); 2010 Habilitation; Vertretungsprofessuren an der Universität Bielefeld und an der Kirchlichen Augustana-Hochschule in Neuendettelsau.

e-ISBN PDF 978-3-16-152715-9 ISBN 978-3-16-152714-2   ISSN  0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­nal­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungs­beständiges Werk­ druck­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Otters­weier gebunden.

„Joyful, all ye nations, rise, Join the triumph of the skies“ Charles Wesley/Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hark! the herald angels sing

„Ja! es ist nicht anders, auf einem Boden muß ich geboren sein! – Was Keller, was Holzstall – ich entscheide mich für den Boden! – Klima, Vaterland, Sitten, Gebräuche, wie unauslöschlich ist ihr Eindruck, ja, wie sind sie es nur, die des Weltbürgers innere und äußere Gestaltung bewirken! – Woher kommt in mein Inneres dieser Höhesinn, dieser unwiderstehliche Trieb zum Erhabenen? Woher diese wunderbar seltene Fertigkeit im Klettern, diese beneidenswerte Kunst der gewagtesten, genialsten Sprünge? – Ha! Es erfüllt eine süße Wehmut meine Brust! – Die Sehnsucht nach dem heimatlichen Boden regt sich mächtig! – Dir weihe ich diese Zähren, o schönes Vaterland, dir dies wehmütig jauchzende Miau! – Dich ehren diese Sprünge, diese Sätze, es ist Tugend darin und patriotischer Mut! – Du, o Boden, spendest mir in freigebiger Fülle manch Mäuslein, und nebenher kann man manche Wurst, manche Speckseite aus dem Schornstein erwischen, ja wohl manchen Sperling haschen und sogar hin und wieder ein Täublein erlauren. ‚Gewaltig ist die Liebe zu dir, o Vaterland!‘ – [.  .  .]“ E. T. A. Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern

Vorwort Die prekären Fragen, welche Zukunft der Nationalstaat habe oder nicht habe, haben dürfe oder nicht haben solle, werden in diesem Buch nicht beantwortet. Es hat keinerlei Verlautbarungscharakter. Jemand könnte leicht finden, der Gegenwartsbezug hätte klarer, der Zugriff normativer sein sollen. Ich wollte ein so heikles Thema wie die patriotische Diskursivität evangelischer Literaten aber nicht normativ bewältigen, um am Ende wissen zu lassen, was von vornherein feststand. Vielfalt im Detail gehört auch zu diesem Thema, und sie ist erstaunlich hoch. Denk- und Redefiguren aus dem Leben evangelischen Christentums zirkulieren in den patriotischen Experimenten. Irgendwann beginnen diese dann das evangelische Christentum zu steuern. Die semantischen Übertragungen verlaufen in mindestens zwei Richtungen, eigentlich aber als Knäuel. Das Entwirren dieses Knäuels verweist, wie ich hoffe, auf die Herkunft der Gegenwart. Die Theologische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat die Untersuchung im Sommer 2010 als Habilitationsleistung akzeptiert. Für die Übernahme des Erstgutachtens und die Begleitung ins Habilitationsverfahren danke ich ganz herzlich Prof. em. Dr. Ulrich Barth (Halle), für das Zweitgutachten und großzügige Freiräume zur Vorbereitung der Probevorträge ebenso herzlich Prof. Dr. Jörg Dierken (Halle), für das Außengutachten schließlich, zum dritten Mal sehr herzlich, Prof. Dr. Markus Buntfuß (Neuendettels­ au). Die Gutachten haben mich ermutigt, für den Druck auf gewisse terminologische Überbestimmtheiten zu verzichten. Während der Ausarbeitung und vor der Drucklegung hatten Prof. Dr. Ro­derich Barth (Berlin), Dr. Michael Fischer (Freiburg i. Br.), Prof. Dr. Daniel Cyranka (Halle) und Dipl. theol. Constantin Plaul (Halle) immer ein offenes Ohr für mich. Zur Themenfindung hat mich die Mitarbeit in Prof. Dr. Klaus Tanners Teilprojekt am SFB 537 Institutionalität und Geschichtlichkeit der TU Dresden angeregt und ermutigt. Danke für jenes und dieses. Das Erscheinen des Bandes in den Beiträgen zur Historischen Theologie freut mich sehr. Ich danke Prof. Dr. Albrecht Beutel (Münster) für die Befürwortung der Aufnahme und Dr. Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck sowie dem Herstellungsteam für die zuverlässige Verwandlung des Texts in ein Buch.

VIII

Vorwort

Meine Frau, Dr. phil. Christiane Hausmann, und unsere Töchter Antonia und Ilaria ziehen eine Dankbarkeit anderer Art auf sich: beileibe nicht nur wegen meiner ungestörten Aufenthalte im Arbeitszimmer, sondern für meine konzentrierten Aufenthalte außerhalb desselben. Christian Senkel

Halle an der Saale, 9.  7.  2014

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

§  1. Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘ . . . . . . . . . . 1 1 .1 Thematik und Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 a) Theologiepolitische und nationalismustheoretische Rahmen bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 b) Die Verspätungserzählung und ihre Lücken . . . . . . . . . . . . . 6 c) Begriffe der Untersuchung und untersuchte Begriffe . . . . . . . . 10 1.2 Autoren und Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

§  2 . Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik . . . . . . 18 2 .1 Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus . . . . . . . 20 a) Helvetischer Nationalstolz als Prätext . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b) Preußischer Wahlpatriotismus und monarchischer Messianismus . . 23 c) Die Macht des Sublimen und die Übermacht der Affekte . . . . . . 26 d) Emanzipierte Märtyrer in der institutionellen Dauerkrise . . . . . . 29 2.2 „Das liebe heil’ge Römsche Reich“ – von Mosers pfingstlicher Verfassungspatriotimus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Das Reich als Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Der „Staatsmärtyrer“ und seine Loyalitäten . . . . . . . . . . . . . 35 c) Topik der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 d) Pfingstliche Eintracht der Patrioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 e) Nationale Institutionalität und Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . 40 2.3 „Teutsche Libertät“ und Christentum – Mösers nationalgeschichtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Mösers satirische Offensive gegen den „Nationalgeist“ . . . . . . . 42 b) Analyse des Freiheitsdefizits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 c) Soziologie des Christentums mit patriotischer Phantasie . . . . . . 48 d) Darstellung von Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 e) Protestantische Freiheitsgeschichte im retrospektiven Wunschbild . 53 2.4 Verfrühte Nation – Klopstocks ‚Gelehrtenrepublik‘ als kulturpolitische Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Antizipierende Institutionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

X

Inhaltsverzeichnis

b) Die Gelehrten als nationale Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 c) Fiktionalität der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 d) Zur Einrichtung einer Republik und ihrer Freiheiten . . . . . . . . 61 e) Polaritäten gelehrter Konvivenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 f) Politik der Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5 Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität . . . . 68 a) Ein Abbt-Denkmal als Ästhetisierung des Patriotischen . . . . . . . 69 b) Zur patriotischen Ergänzung fehlender Öffentlichkeit . . . . . . . . 74 c) ‚Nation building‘ und die Heiligkeit der Sprache . . . . . . . . . . . 79 2.6 Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

§  3. Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator 89 3 .1 Elemente der nationalen Luther-Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Luther als Aufklärer seiner Nation: Möser versus Voltaire . . . . . 91 b) Luther als Lichtbringer der Nation: J. A. Cramer dichtet ein Denkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Konvergenzen und Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.2 Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘ . . . 100 a) Klopstocks Beruf zwischen poetischer und politischer Revolution . 100 b) Die christlich erhobene Epik als bessere Theologie . . . . . . . . . . 105 c) Kultmetaphorik und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) Inklusionen und Exklusionen der Sakralität . . . . . . . . . . . . . 109 e) Heiligung des Volkes als Pränation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 f) Passionierte Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.3 Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Einheit der Nationalkultur – Vielfalt der Zugänge . . . . . . . . . . 116 b) Das ‚Journal‘: Horizonte imaginativen Wissens . . . . . . . . . . . 119 c) Neue Reformation, neue Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 d) Geschichtslehrer der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 e) Theologische Metarhetorik der Nationengeschichte . . . . . . . . . 130 f) Die „Epopee Gottes“ und ihr Rhapsode . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.4 Luther werden, nicht Luther zitieren? Arndt als ‚propheta Germaniae‘ 137 a) Luthers Bibeldeutsch in der konfessionalisierenden Imitation . . . . 139 b) Politische Theologie und homo militans . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Luthers Deutsch in der nationalisierenden Imitation . . . . . . . . . 147 d) Im Dilemma: Luthernachahmung und Lutherdeutung . . . . . . . 150 3.5 Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Blasphemische Tugend und verweigerte Vergebung . . . . . . . . . 156 b) Luther im geistlichen und politischen Gegensatz zu Kohlhaas . . . 158

Inhaltsverzeichnis

XI

c) Luthers Entsockelung – Vergebung für Kohlhaas . . . . . . . . . . 163 3.6 Lutherkonstruktion in patriotischen Selbstentwürfen . . . . . . . . . . 168

§  4 . Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen . . . . . . . . . 173 4 .1 Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung . . . . 174 a) Klopstock: Hermanns charismatische Freiheit von der Sakralordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Möser: ‚Arminius‘ oder Die Tragödie der deutschen Freiheit . . . . 183 c) Kleist I: Sakrale Einheit, manipuliert . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 d) Kleist II: Vergebung, Rache und ‚Kollateralschäden‘ am Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4.2 Lyrische Expansion der Affekte: Himmlisches und ‚Teutsches‘ Vaterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) 1813: Apokalyptische Affektenthemmung und eschatologische Geborgenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Gleims ‚Grenadierlieder‘: Gott, König und Vaterland vor 1813 . . . 207 c) Klopstocks patriotische Lyrik und ihre Vaterländer . . . . . . . . . 212 d) Expansivität der Nation – in speciem aeternitatis . . . . . . . . . . . 218 4.3 Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus . . 221 a) Ethischer Dezisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Erneuertes Herz und internationale Brüderlichkeit . . . . . . . . . 226 c) Erfindung des national Selbstverständlichen . . . . . . . . . . . . . 228 d) Fromme, freie deutsche Bürgersoldaten . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.4 ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation . . . . . . 235 a) Konfessionelle Topik im Niederschreiben des Zeitgeistes . . . . . . 236 b) Christentumsgeschichte und ‚nation building‘ . . . . . . . . . . . . 242 c) Zur patriotischen Vereinnahmung der Soteriologie . . . . . . . . . 247 d) Sakraler Feindbegriff und passionierte Zeitbeobachtung . . . . . . 253 4.5 Einheit und Freiheit durch Nationalisierung des Christentums? . . . . 258

§  5. Protestantismus und Patriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 5 .1 Konfessionelle Semantik, Literatur und ‚nation building‘ . . . . . . . . 263 5.2 Politische Religion statt Säkularisierung und Sakralisierung? . . . . . . 266 5.3 Verdrängte Rhetorik und die Macht der Phantasie . . . . . . . . . . . . 271 5.4 Nation der Frommen und Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘ 1.1  Thematik und Forschungslage Ein „Gott, der Eisen wachsen“ lässt, stößt in Theologie und Kirche, in Staat und Gesellschaft heute auf großes Unbehagen. Die Vorstellung von einem Gott, der seine Macht im Kampf der Nationalkulturen sehen lässt, hat das Christentum jedoch lange begleitet und intensiv geprägt. Ob es damit ein Ende habe und haben könne, ist kaum abzusehen, solange sich Nationen auf einem Feld von prekären Zuschreibungen konstituieren, in die auch Elemente religiöser Diskursivität gemischt sind. Umso mehr bedarf die Reflexion auf Gegenwärtiges der Analyse von dessen Herkunft. Ernst Moritz Arndts eingangs zitiertes ‚Vaterlandslied‘1 von 1812 markiert ein solches Herkunftsmilieu. „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“, steht für die kriegsbedingte Integration der ungeeinten und unfreien deutschen Nation. Um der Integration willen sanktioniert Arndts Gott Feindmarkierungen 2 und lässt ins Innere der Nation den Geist von Einigkeit und Freiheit wehen. Dieser Geist bleibt im Blick auf politische und rechtliche Institutionen relativ unbestimmt,3 und sogar territorial legt er sich nicht fest.4 Im Gegenzug wird Gottes Parteilichkeit im Kampf der Nationen betont.5 Präzise sagt Arndt Gott eine Nähe zu protestantischen Deutschen nach, die ihr Schicksal in die Hand nehmen, um einig zu sein und frei zu werden. Einheit und Freiheit – ein deutsches Dilemma und ein deutscher Mythos? 6 Der Protestantismus ist auf dem Feld des nationalen Diskurses längst nicht mehr Hauptakteur von Zuschreibungen sondern wissenschaftlicher Gegen1   Arndts Werke [AW], Auswahl in zwölf Teilen, hg. von August Leffson und Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig u. a. [1912], hier AW 1, 100 f. 2   Vgl. zur nationalismustheoretischen Begriffsverwendung mit Bezug auf Carl Schmitt vor allem Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 3   AW 1, 101: „Und hebt die Herzen himmelan!/Und himmelan die Hände!/Und rufet alle Mann für Mann:/Die Knechtschaft hat ein Ende!“ 4   Vgl. 4.2.d. 5   Die Nationalisierung des Gottesgedankens im Sinn einer Sendungsidee ist um 1800 nicht neu, aber neu in ihrer lückenlosen Anwendung auf eine geschichtliche Situation. 6   Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, untersucht mit anderem Fokus. Der strukturelle Mythos von der fehlenden Einheit und der jämmerlichen Unfreiheit findet sich allerdings in den von ihm untersuchten politischen Mythen.

2

§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

stand.7 Dabei fällt eine Kontinutität unter den wissenschaftlichen Zuschreibungen ins Auge. In der Nationalismusforschung wird die Konstellation von Protestantismus und Patriotismus während der antinapoleonischen Kriege noch immer als Beginn einer neuen Epoche der deutschen Nationsbildung bewertet. Demnach werde aus dem sein genaues Objekt noch suchenden Patriotismus des 18. Jahrhunderts8 der seines Gegenstandes allzu gewisse Nationalismus, der schließlich im totalitären Exzess bedingungslos den ganzen Menschen fordere. Gegenüber diesem Erklärungsschema sind Differenzierungen angebracht. Vom Patriotismus zum Nationalismus vollziehen sich mehrere Übergänge mit starker Polyvalenz. Die Erschließung dieser diskursiven Vielfalt bedarf eines Zugriffs, der weder auf die nachträgliche Legitimation eines emanzipativen, gleichsam zu ‚rettenden‘ Patriotismus noch auf eine teleologische Katastrophengeschichtsschreibung zielt. Zu deuten bleiben die bald gleichlaufenden, bald asymmetrischen Loyalitäten zu Gott und dem Vaterland in den Quellentexten. Sie bilden eine prekäre Literatur mit hoher erinnerungspolitischer Flexibilität. Nicht in einer etwaigen Eindeutigkeit, sondern in dieser Uneindeutigkeit liegt die fatale Brauchbarkeit für spätere Rezeptionen. Die Relektüre jener Loyalitätskonstruktionen ist sowohl für ein besseres Verständnis der Nationsbildung und der sie vorbereitenden Ideenzirkulationen unabdingbar als auch für die Verständigung über Modernisierungsschübe im Christentum und durch das Christentum. a)  Theologiepolitische und nationalismustheoretische Rahmenbedingungen Nach den Maßstäben der im 20. Jahrhundert klassisch gewordenen evangelisch-theologischen Neuzeitdeutung stünden zwei Wege offen, mit dem Gottesgedanken und der konfessionellen Semantik im patriotischen Diskurs umzugehen.9 Entweder beurteilt man den „Gott, der Eisen wachsen ließ“, als bizarre   Unter nationalem Diskurs werden hier die Positionen des Patriotismus, der Versuch zu bestimmen, was eine Nation sei, aber auch die vermeinten wissenschaftlichen Distanznahmen vom Nationalen verstanden. Die Verwendung des Diskursbegriffs in dieser Untersuchung kann man gerade hinsichtlich des Patriotismus mit einer Feststellung Foucaults charakterisieren: „Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwingender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.“ Damit ist auch gesagt, dass es eine Befreiung davon geben kann. Vgl. Michel Foucault: Der Diskurs darf nicht gehalten werden für .  .  ., in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Schriften in Vier Bänden, Band  III 1976–1979, hg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange, Frankfurt/ Main 2003, 164 f., hier 164. 8   Zum 18. Jahrhundert nach wie vor einflussreich ist Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961. Kaiser arbeitet zur Untermauerung einer strukturellen pietistischen Prägung des Patriotismus mit einem allzu weiten Pietismusbegriff, der Lavater und Herder einschließt. So erscheint mitunter als pietistisch, was nur protestantisch-konfessionell ist. 9   Vgl. zum Folgenden Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich [zuerst 1947] 51985; Emanuel Hirsch: Ge7

1.1  Thematik und Forschungslage

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Folge eines Abfalls des neuzeitlichen Menschen vom wahren Glauben. Danach verbiete es der Glaube, göttlichen Beistand für die Sache der (eigenen) Nation zu reklamieren. Dies sei Anmaßung gegenüber der Freiheit der göttlichen Vorsehung und Widersetzlichkeit gegenüber der alleinigen Königsherrschaft Gottes. Gottes Gottheit werde damit beleidigt. Oder aber man stuft Arndts militantes Gottesbild als Symptom einer modernen, noch andauernden Umformungskrise des Christentums ein, die mit der Entdeckung des geschichtlichen Denkens zu einer Veränderung des theologischen Wahrheitsbewusstseins führe und deshalb die Selbstbezeugung Gottes in der nationalen Geschichte als moderne Plausibilisierung des christlichen Gottesgedankens verstehe. Beide Beschreibungen sind Bewertungen. „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“, wäre nach diesen Bewertungsperspektiven entweder der dogmatisch unzulässige Traditionsbruch eines häretisch modernisierten Christentums oder aber eine in der Moderne unvermeidliche politisch-ethische Selbstauslegung.10 Beide Positionen haben auf unterschiedlichen Ebenen Gründe für und gegen sich. Die Ablehnung der nationalprotestantischen Semantik hat deren totalitären Exzess kritisch im Blick und ordnet sie deshalb einer Verfallsgeschichte zu. Dieses berechtigte theologische Interesse wird allerdings durch eine Verminderung deskriptiver Unterscheidungsleistungen erkauft. Das Umformungsdenken sucht hingegen die nationalprotestantische Semantik als Teil einer unvermeidlichen Selbstmodernisierung des Christentums zu begreifen. Die deskriptive Leistung dieser Denkweise ist hoch, sie steht jedoch im Bunde mit dem totalitären Exzess des Nationalen. Für eine heutige theologische Untersuchung zu Protestantismus und Patriotismus ist es problematisch, die genannten Verfahrensweisen als alternativlose Alternative anzuerkennen. Der ausgiebige Gebrauch, der seit Ende des ‚Kalten Krieges‘ vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen gemacht wird und der neue völkerrechtliche und machtpolitische Problemkonstellationen erzeugt, indiziert die historische Unabgeschlossenheit und die theoretische Unabschließbarkeit der nationalen Thematik.11 Auch neuere wissenschaftliche Narrative zur nationalen Diskursivität werden von Ereignissen überholt. In diesem Diversifikationsprozess zirkulieren Sendungsvorstellungen von Nationen, die durch Sezession erschüttert sind, eine postkoloniale oder postkommunistische Neukonstitution erleben, oder die unter all diesen Brechungen leiden.12 Und auch der schichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh [zuerst 1949] 31964. 10   Vgl. als christentumssoziologische Anwendung des Häresiebegriffs nach wie vor Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1979, mit Bezug auf Schleiermacher 101 passim. 11  Pointiert Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, 63 passim. 12  Vgl. weiterführend, aber für meinen Untersuchungszeitraum weniger ergiebig Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in Europa.

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

sogenannte westliche Nationalstaat ist dem Druck verschiedenartiger transnationaler Kräfte ausgesetzt. Die nationalstaatlichen Umformungen der Gegenwart und ihre Folgen für die intra- wie internationale Politik gehen mit einer neuen, die Disziplinen übergreifenden Nationalismusdiskussion einher. In Deutschland hat der sogenannte Historikerstreit diese Diskussion teils mit geformt, teils überlagert. Oberflächlich der Einzigartigkeit der Judenvernichtung durch Nazideutschland geltend bildet dieser Streit insgeheim ein erinnerungspolitisches Resi­duum. Er indiziert eine die Entspannungspolitik der Gorbatschow-Ära begleitende, gleichsam postkoloniale Souveränitätsdebatte der deutschen Westzonen.13 Daher – keineswegs nur wegen der ‚historischen Verantwortung‘ – ist die Diskussion in Deutschland stärker als in anderen nationalen Verständigungskulturen gleichbedeutend mit Erinnerungspolitik. Die Zahl der Übersichtsdarstellungen14 und materialgeschichtlichen Untersuchungen zum Nationsverständnis15 nimmt jedenfalls zu; außerdem gibt es (wieder?) mediale Geschichtsinszenierungen monumentaler Art.16 Angesichts dieser narrativen Impulse in der Gegenwart er­geben sich neue Perspektiven auf die Entstehung der nationalen Diskursivität. So lässt sich beispielsweise die Auffassung von nationaler Befreiung um 1813 als ein kolonialer Protest deutscher Patrioten verstehen,17 die sich einer „Theologie der Befreiung“ verschreiben,18 dabei aber in eine Selbstbarbarisierung einwilligen.19 Als wissenschaftliche Neuerung wird seit den späten 1980er Jahren vor allem die konstruktivistische Theorie des ‚nation building‘ in die deutsche Nationalismusdebatte eingespeist. Konstruktivistische Erklärungsansätze haben die Nationalismusdiskussion mit der Überlegung erfrischt, der Nationalismus gehe Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main/New York 2004. 13   Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich [zuerst 1987] 61988. – Die postkoloniale Lesbarkeit dieses Streits erschlösse sich über eine Inblicknahme der Zeit des ‚Kalten Krieges‘ als Fortsetzung der Kolonisierung unter Einbeziehung Europas. Dafür müssten Kategorien der bisherigen Postkolonialismusforschung flexibilisiert werden. Vgl. Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 2010; vgl. als Anwendung §  4. Anm.  106 u. ö. 14   Z. B. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2 1995. 15   Vgl. zur Zusammenfassung Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, in: Ders.: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 3 2004, 102–132. 16   Vgl. die für das Zweite Deutsche Fernsehen produzierte, seit 2008 ausgestrahlte zwanzigteilige Reihe ‚Die Deutschen‘. 17   Vgl. z. B. §  4.1. 18   Gerhard Graf: Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993, 22. 19   Vgl. zum Problem immer wieder §  4.

1.1  Thematik und Forschungslage

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der institutionellen Nationsgründung voran: „Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt.“20 Diese These mag nicht ganz neu sein, sie scheint zum Beispiel mit wissenschaftstheoretischen Positionen Max Webers und Ernst Troeltschs durchaus vereinbar.21 Die These des ‚nation building‘ wurde aber einerseits sehr pointiert zu einem Zeitpunkt vorgetragen, als man in der deutschen Nationalismusforschung vielfach noch die Macht von Imaginationen und Repräsentationen programmatisch niedrig ansetzte oder aber mit Geschichtsschreibung Sinn stiftete. Andererseits ist der Erfolg konstruktivistischer Ansätze nicht nur einem Rezeptionszeitpunkt geschuldet. Das ‚nation building‘ stellt manchen Engführungen der (deutschen) Nationalismusdebatte eine kulturalistische Perspektive entgegen. Danach ist Nationalismus keinesfalls als bloßes Epiphänomen sozialer, ökonomischer oder auch politischer Veränderungen zu begreifen. Die nationale Diskursivität bildet vielmehr eine Art elementarer Initialsprache, die sachlich und zeitlich vor den politischen Tatsachen entsteht. Die Selbstthematisierung einer Nation geht nach diesem Denkmodell also erst sekundär in institutionelle Kontexte ein.22 Kritik an diesem Denkmodell ist vielfach möglich. So ist die Nachträglichkeit der Institutionalisierung eine offene Flanke. Sie spielt gleichsam Ideen gegen Institutionen aus, statt nach einer antizipativen Institutionalität zu fragen. Dies soll in der vorliegenden Untersuchung geschehen.23 Dennoch sind die Übertreibungen und Verkürzungen des Konstruktivismus sachdienlich. Sie erschließen der Nationalismusforschung neue Optionen. Während die mentalitätengeschichtliche Perspektive der ‚longue durée‘ ihre Deutungskultur zu Ungunsten scharf geschnittener affektgeschichtlicher Epochenreliefs etabliert, bietet die Sozialgeschichte ein solches Vielerlei von partiell plausiblen Funktionsbestimmungen an, dass sie die tatsächlichen Kommunikationsformen in ihrem Ausdruckssinn vernachlässigt. Demgegenüber wirken die Annahme der Priorität nationaler Kommunikation gegenüber politischen Nationsgründungen und die Beachtung der modernen Medialität von Nationalismen wie ein 20   Gellner: Nationalismus und Moderne, 87; vgl. weiter Karl W. Deutsch: Nationalism and Social Communication, Cambridge (Mass.) 21966. Deutsch war für die konstruktivistische Richtung impulsgebend mit der Einschätzung der Priorität eines engen Netzes von Kommunikationsmitteln und von Kommunikationsbereitschaft zum ‚nation building‘. 21   Dabei ist einerseits an Webers heuristische Kombinatorik von ‚Ideen‘ und ‚Interessen‘ zu denken, andererseits an Troeltschs Modell einer Antizipation kirchlicher Sozialformen durch Glaubensüberzeugungen. Die Fundorte dieser Theoreme sind einschlägig bekannt. 22   Gellner betont mehr den ökonomischen Boden der nationalistischen Entfaltungen, Anderson trotz neomarxistischen Bekenntnisses mehr ihre bildungsgeschichtlichen Zusammenhänge. Der klare Blick für ökonomische Tatsachen bei gleichzeitiger Anerkennung eines ökonomisch nichtfunktionalen Sinns von Kultur ist ihnen gemeinsam. Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main 21996. 23   Vgl. §  2.

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

Befreiungsschlag. Die kulturalistische und ökonomische Blickrichtung des ‚nation building‘ führt allerdings dazu, dass der frische Blick auf den nationalen Diskurs nicht die schwer ermittelbaren, aber dynamischen Beziehungen zwischen dem Christentum und der Nationsbildung einbegreift. In der Ergänzung dieses gravierenden Mangels besteht ein weiterer theologischer Beitrag zur Nationalismusdebatte. b)  Die Verspätungserzählung und ihre Lücken Vor der Bestimmung der theologischen Aufgabe in der patriotischen Diskursivität muss eine weitere Bedingung der wissenschaftlichen Bearbeitung des Nationsthemas geklärt werden. In der Nationalismusdebatte begegnet man nach wie vor einer Art transdisziplinärem Generalnarrativ zum Verhältnis von Protestantismus und Nationalismus in Deutschland: Man könnte es die Verspätungserzählung nennen. Der Protestantismus hat danach maßgeblichen Anteil an der nationalen Verspätungsgeschichte und am totalitären Exzess des Nationalismus.24 Während die modernisierende Kraft protestantischer Faktionen und Kirchen in der Neuzeit gering eingestuft wird, schreibt man dem Protestantismus insgesamt gleichwohl dekompensierende Wirkung in der Bildung und Interaktion moderner Institutionen (der Freiheit) zu. Das Narrativ beginnt mit der konfessionellen Lage im Alten Reich. Diese Lage habe dessen Zerfall aufgehalten und seine Ersetzung durch einen Westeuropa analogen Nationalstaat behindert.25 Im Zuge dieser Einschätzung wird der Reformation eine Hemmungsfunktion zugewiesen. Sie habe die mit den politischen Theorien der Renaissance möglichen Modernisierungsprozesse aufgehalten.26 Folgerichtig wird die Entwicklung des Naturrechtsdenkens als defensive Reaktion auf den Konfessionalismus aufgefasst – ohne die Wurzeln der neuen Rechtsschulen in Konfessionskulturen zu sehen. Konfessionalistisch vertrackte Loyalitätsbeziehungen haben demnach eine nationalpolitische Umformung des Alten Reichs verhindert. An zweiter Stelle der Verspätungserzählung folgt der Fehlschlag des emanzipativen Patriotismus (oder Frühnationalismus). Entgegen der erfolgreichen europäisch-atlantischen Doppelrevolution habe die deutsche Elite die Anfangs24   Der vielzitierte Hellmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 31962, hat die Konsequenzen des deutschen Protestantismus und vor allem des Luthertums für die deutsche Nationsbildung im Zeichen von Ambivalenz, nicht nur von Fatalität gedeutet. Vgl. Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, 146 ff. 25  Exemplarisch Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000. 26   Diese Sicht geht zurück auf Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Kritische Studienausgabe 6, hg. von Giorgio Colli und Maurizio Montinari, München 1988, 250. Vgl. §  3.1.

1.1  Thematik und Forschungslage

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hemmung einer politischen Befreiung und inneren Einigung der Nation verstärkt. Kosmopolitisch träumender Provinzialismus habe auf eine der Kirchenreform ähnliche, allmähliche Veränderung der bürgerlichen Verhältnisse gesetzt – und sich ähnlich verschätzt.27 Ohne eine Frankreich oder den USA vergleichbare Entmachtung staatskirchlicher Autorität habe der Analogiezauber von Reformation und bürgerlicher Reform die Pastoralmacht bestätigt. In Nutzung dieser Lage habe sich der mit dem Erhalt der Kleinstaaten sympathisierende, neokonfessionalistische Protestantismus als Hemmnis der Nationsbildung erwiesen, 28 während avantgardistischere Konzepte eine nationale Homogenisierung des Protestantismus vorbereiteten. Ein weiterer Ort, an dem die Verzögerungserzählung den Protestantismus dem emanzipativen Nationalstaat im Weg liegen sieht, ist das Zweite Reich. Der kaiserzeitliche Protestantismus sieht sich unterschiedslos dem Verdacht eines integralen Nationalismus ausgesetzt, der zur Befriedigung seines Appetits zu territorialen und rechtlichen Grenzüberschreitungen neigt.29 Revolutionäre oder doch emanzipatorische Gegenkonzepte zur nationalen Integration werden einem konfessionspolitischen Lobbyismus und der mit Wilhelm II. virulenten Ideologisierung des Kaisertums als protestantischer Institution gegenüber gestellt.30 Planmäßige Aggression gegen ‚Reichsfeinde‘ habe die soziale und kulturelle Unausgeglichenheit des Reichs kompensiert und durch Sakralisieren des Nationalen abgeschlossen. Der vierte Schritt führt über die kleindeutsche Nationalstaatsbildung zum totalitären Exzess des Nationalsozialismus, der den Nationalstaat selbst verschlingt. Das Narrativ zum Nationalismus endet hier in der Annahme, beim Telos jeder patriotisch-protestantischen Ligatur31 der Vergangenheit angekommen zu sein. Diese Annahme kann sich auf den Umstand stützen, dass die Tat27  Symptomatisch Karl Kupisch: Die Wandlungen des Nationalismus im liberalen Bürgertum, in: Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zilleßen, Gütersloh 1970, 111–134, hier 112–116. 28   So bei Hartmut Lehmann: Pietism and Nationalism. The Relationship between Protestant Revivalism and National Renewal in Nineteenth-Century Germany, in: Ders.: Religion und Religiosität in der Neuzeit, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen/Otto Ulbricht, Göttingen 1996, 233–247. Die Modernisierungskraft liegt beim Neupietismus. 29   Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte III 1849–1914, München 31996, 228–251.938–965.1067–1085; Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933), in: Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland, 135–171, hier 135–157. 30   Dabei sind die Konfessionsgesetze keineswegs nur gegen den Katholizismus gerichtet. – Vgl. das Generalnarrativ bei Hartmut Lehmann: The Germans as a Chosen People. Old Testament Themes in German Nationalism, in: Ders.: Religion und Religiosität, 248–259. 31   Vgl. zur Begriffsgenese Ralf Dahrendorf: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt/Main 1979. Dahrendorf hat die Theoriemetapher der ‚Ligatur‘ in Studien zur Kultur der Tiefenbindung innerhalb optionaler Gesellschaftsoberflächen verwendet. Ich ziehe die ‚Ligatur‘ der ‚Verschmelzung‘ vor, da sie mehr Unterscheidungen zulässt und überdies eine sozusagen häusliche Nähe zum Literarischen aufweist.

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

sachen der nationalprotestantischen Republikfeindschaft eine klare Sprache sprechen: Während der Weimarer Republik halten besonders protestantische Kreise an einer großdeutschen konservativen Revolution als Bedingung der Wiedererlangung nationalen Selbstgefühls fest.32 Koeffizient dieser revisionistischen Bestrebungen ist ein integrativ-exklusivistischer Nationalismus, dem auch in der Theologie Ausdruck gegeben wird.33 In Kirchenkreisen wurde die Machtübergabe an die Nationalsozialisten jedenfalls überwiegend als nationale Erneuerung begrüßt.34 Die nationalsozialistische Repression verschiebt dann jedoch in Kirche und Theologie die Maßstäbe politischer Ethik. Sie werden nach dem Ende des Dritten Reichs in der Bundesrepublik Teil einer freiheitlich-konstitutionellen Erneuerung und in der DDR Teil kirchlichen Handelns unter den Bedingungen der Diktatur. Der Verspätungserzählung der deutschen Nation soll hier nicht grundsätzlich widersprochen werden. Sie weist jedoch eine Reihe von Schwächen auf, die zu beachten sind: 35 So ist schon für die Zeit des Alten Reichs Nationalbewusstsein zu vermuten, das von konfessioneller Seite verstärkt wird.36 Sodann wird inzwischen die kriegsbedingte Gemengelage der napoleonischen Ära vermehrt als Erklärungsgrund für Verworrenheit und Dezisionismus in den zeitgenössischen Nationsentwürfen angeführt.37 Der kaiserzeitliche Protestantismus hat indes nicht nur Feindbegriffe bestimmt, sondern ist mit Integrationsarbeit auch den sozialen Verwerfungen im Reich begegnet.38 Und die überwältigend be32   Vgl. nach wie vor Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981; Klaus Tanner: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989. 33   Neben vielen anderen besonders einschlägig Wilhelm Stapel: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932. 34  Vgl. Nowak: Evangelische Kirche, 205 passim, sowie Ders.: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 243–268. 35   Kritisch äußert sich zum teleologischen Narrativ schon Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 61993, 300–313; vgl. neuer Dieter Langewiesche: ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum ersten Weltkrieg, München 2000, 9–30. 36  Vgl. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, 348 u. ö. 37   Vgl. ausführlich Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/Main/New York 2004; zur postnapoleonischen Politik der Kleinstaaten Michael Hundt: Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongreß, Mainz 1996. 38  Vgl. Klaus Tanner (Hg.): Gotteshilfe – Selbsthilfe – Staatshilfe – Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000; vgl. weiter Thorsten Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Münster 2005. Moos zeigt die Vielfalt im protestantischen Staatsverständnis auf.

1.1  Thematik und Forschungslage

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rechtigte Kritik am Übergang des nationalkonservativen Protestantismus zur konservativen Revolution darf nicht jene liberalen Protestanten übersehen, die für die Republik eingetreten sind.39 All diese Korrekturen verweisen auf weiteren Differenzierungsbedarf. Ein Neuanfang am Übergang zwischen erster und zweiter Phase des Narrativs zum deutschen Nationalismus ist vielversprechend, wie die Ideologiekritik am Nationalismus verdeutlichen kann. Ihr erscheint der Phasenwechsel als Substitution eines im besten Fall politikfähigen emanzipativen Patriotismus durch einen politikunfähigen integralen Nationalismus. Religion wird in diesen Beschreibungen auf die eine oder andere Art zum Index des Unerwünschten: „Es wird [.  .  .] immer die Beobachtung zu machen sein, dass gerade deshalb, weil das deutsche Nationalbewußtsein unpolitisch war, es sich im selben Maße idealisierte, ja zu einem religiösen Wertsystem heranwuchs. Von der Reformation bis zum deutschen Idealismus erwachte also nicht nur die Überzeugung, dass die Deutschen eine Nation und ein Volk seien, sondern es bildete sich auch der weltanschauliche Hintergrund aus, der diesen Nationgedanken zu einer pseudoreligiösen Größe werden ließ. Der Na­ tiongedanke wurde vergeistigt und metaphysiziert [sic]. Gerade diese Tatsache [.  .  .] ist der Grund dafür, daß der deutsche Nationalismus zu einem so schrecklichen Ende gelangte.“40

Diese um 1970 fällige Perspektive muss Differenzierungen weichen.41 Während eine Metaphysik der Staatsnation in der Tat zum ‚schrecklichen Ende‘ des deutschen Nationalismus beitrug, ist weder jeder Versuch, nationale Diskursivität, also auch patriotische Selbstthematisierungen zu verstehen, mit Metaphysik gleichbedeutend, noch ist die konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs ausschließlich auf Exklusivität angelegt. Gleichwohl greifen ideologiekritische Schematisierungen noch immer.42 Es erweist sich anscheinend als sicherer, einem vereindeutigenden Substitutionsmodell der Religion zu folgen, als neue Erklärungsmodelle für eine offensichtlich komplizierte Diskurslage zu entwer Vgl. zur kleinen Gruppe der in der DDP engagierten Theologen (Martin Rade, Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch, Rudolf Otto, Hermann Mulert, Otto Baumgarten) Tanner: Fromme Verstaatlichung. 40   Manfred Jacobs: Die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens von der Reformation bis zum deutschen Idealismus, in:. Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland, 51– 110, hier 51. 41   Vgl. zum Säkularisierungsparadigma differenzierend, aber dennoch konservativ Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997; vgl. weiter David Martin: On secularization. Towards a revised general theory, Aldershot 2005. Martin ordnet in Einzelstudien die Säkularisierungsbestände einer soziologischen Theorie der Moderne zu. Die Perspektivität des Säkularisierungsbegriffs wird herausgestellt und er bleibt in seinen Grenzen nützlich, ohne zum ‚Generaltheorem‘ aufzusteigen. 42   Michael Geyer/Hartmut Lehmann (Hg.): Religion und Nation [sic] Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004. Kritisch gegenüber Lehmanns These zur protestantisch-nationalistischen Einheitskultur Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, 68 passim. 39

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

fen.43 Im Gegenzug von einer Sakralisierung der Nation zu sprechen, war in diesem Zusammenhang zunächst ein gelungener Perspektivwechsel, konnte man nun doch in verschiedenen Kontexten von einer konkreteren Funktionsbestimmung von Religion für das Nationale ausgehen als bisher.44 Die damit verbundene Relativierung von ‚Säkularisaten‘ nach ihrem religiösen Herkunftsmilieu unterscheidet jedoch nicht genau genug zwischen dem konfessionellen Mutterboden eines Sakralitätsverständnisses und dem vermeinten Applikationsvorgang.45 Weder mit diesem noch mit jenem teleologischen Narrativ lassen sich die Quellen zufriedenstellend interpretieren. Dies ist nur möglich, wenn die patriotische Selbstthematisierung in ihrer konfessionellen Semantik interpretiert wird. Der Religionsbegriff ist ein für den Gang dieses Diskurses zu großer und unzeitgemäßer kategorialer Schuh. c)  Begriffe der Untersuchung und untersuchte Begriffe Es geht um die Teleologien – gegenüber den Narrativen einer Säkularisierung der Religion und einer Sakralisierung der Nation bieten die Quellen ein zu heterogenes Bild. Das gilt für die patriotischen Tastversuche um die Mitte des 18. Jahrhunderts, es gilt aber auch noch für die Formung nationaler Gesinnungen in der Napoleonischen Ära. Die patriotisch gesinnten und national argumentierenden Eliten vertreten dermaßen gegensätzliche Positionen, dass das Wort ‚Nationalismus‘ eine unsinnige Bündelung prätendiert. Für den Religionsbegriff gilt diese Beobachtung ebenfalls. Religiös waren alle Positionen und Akteure in irgendeiner Weise und ein nationales Konzept oder eine Vorstellung von der Nation hatten alle: der Osnabrücker Staatsmann und Analytiker realpolitischer deutscher Freiheiten Justus Möser, der kosmopolitische Kulturtheologe und Weimarer Kirchenfürst Johann Gottfried Herder, der Dichtertheologe und Republikaner Friedrich Gottlieb Klopstock, der gegenüber der preußischen Nation höchst ambivalente und als Protestant noch kaum wahrgenom-

43   Die Verwendung des Religionsbegriffs überrascht bei Autoren, die im Übrigen anders vorgehen als oben beschrieben, also mit differenzierenden Einzelanalysen einerseits und einem diskursiveren Verständnis der europäischen ‚Religiosität‘ andererseits. Vgl. Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/Main/New York 2001. 44  Vgl. symptomatisch Peter Berghoff: Säkularisierung und Resakralisierung politischer Kollektivität, in: Mathias Hildebrandt/Manfred Brocker (Hg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften, Wiesbaden 2001, 57–70. Die meisten Beiträge des Bandes gehen vom teleologischen Narrativ aus. 45  Vgl. Rainer Hering: Säkularisierung, Entkirchlichung, Dechristianisierung und Formen der Rechristianisierung bzw. Resakralisierung in Deutschland, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, 120– 164, hier 121.

1.1  Thematik und Forschungslage

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mene Heinrich von Kleist und der kriegsbedingt neokonfessionalistische und über Preußen hinaus national agitierende Ernst Moritz Arndt. Der Blick auf die protestantische Konfessionalität in der nationalen Diskursivität muss frei werden. Über die akademische Fachliteratur der Zeitgenossen ist dies kaum zu erreichen, mehr Erkenntnischancen verspricht eine christentumsund protestantismustheoretische Inblicknahme der rhetorisch-ästhetischen Publizistik.46 Daher kommt den Selbstthematisierungen protestantischer Konfessionalität entscheidender Stellenwert dafür zu, die konstruktivistische Primordialität national(istisch)er Sprache zu bewahrheiten, ohne in den Fehler zu verfallen, diese Sprache für insgesamt erfunden zu halten. Denn eben dies ist sie nicht, andernfalls hätte sie nicht einmal einen Patriotismus der Eliten hervorrufen können. Es ist davon auszugehen, dass zwischen der Sprache des Patriotismus und der protestantischen Ausdruckskultur eine ebenso koproduktive wie in verschiedene Richtungen weisende Zirkulation konfessioneller Semantik besteht, die sich den Allgemeinbegriffen Nation und Religion entzieht.47 Auf die Unterscheidung der untersuchten Begriffe (konfessionelle Semantik in der patriotischen Diskursivität) von den Begriffen der Untersuchung (Institutionalität, Rhetorik, Kulturalismus, Krieg/Feindmarkierung, Sakralität) ist auch deshalb zu achten, weil der Nationalismus ein Feld der Modernisierung besetzt, das stets cum ira et studio betrachtet wird. Für andere sattelzeitliche Transformationsdiskurse des Christentums gibt es eine fest etablierte, beruhigte Legitimität. Dieser Befund hat mehrere Gründe: Zum einen kann man auf ethische, ästhetische oder psychologische Transformationen der christlichen Überlieferung durch den Neuprotestantismus unbeschwert zurückgreifen, nicht aber auf das diskreditierte Verhältnis von Patriotismus und Protestantismus.48 Zum anderen ist der Textbefund von anderer Art. Es gibt zwar theoretische Thematisierungsversuche des Nationalen, doch die Ligaturen von Protestantismus und Patriotismus erscheinen insgesamt wenig planmäßig. Das liegt an den kriegsbedingten Schüben der patriotischen Diskursivität, also an äußeren Kontingenzen. Die Ereignisgeschichte hämmert hier mächtig am Silber der Ideen. Sodann ist der patriotische Diskurs praxisbe46   Eine solche Inblicknahme umgeht die von Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, 73, zurecht gerügte „Konfessionsblindheit“ der Erforschung des deutschen Nationalismus, indem sie das konfessionelle Element gegen ein angeblich ‚religiöses‘ kehrt. 47   Vgl. zur Begrifflichkeit Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt/Main 1993, 9–33. Die Einleitung ‚Die Zirkulation sozialer Energie‘ entfaltet die Überlegungen zum Verhältnis von literarischer Ausdrucksgestalt, Kontextfaktoren und kollektiver Ausdrucksenergie. Diese Untersuchung lehnt sich an Greenblatts Terminologie an, ohne ihre gegenüber Shakespeare mögliche Pointe für die patriotischen Literaten exakt übernehmen zu können. 48  Vgl. zur Religionsästhetik Markus Buntfuß: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004; zum Seelenbegriff Roderich Barth: Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, Habilitationsschrift Halle 2008.

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

stimmt. Verwendungszwecke haben oft die Priorität über Ausdrucksbedürfnisse. Darin unterscheidet sich das Nationsthema im 18. und frühen 19. Jahrhundert zum Beispiel von der in Entstehung begriffenen Autonomieästhetik oder vom idealistisch-frühromantischen Religionsverständnis. Patriotismus und Protestantismus sind auf schwierige, kontingente und zugleich pragmatische Weise, sicher jedoch rhetorisch-ästhetisch miteinander verknüpft.49 Das anfangs zitierte Lied Arndts kann den Interpretationsdruck verdeutlichen, der auf der vorliegenden Studie lastet. Das Lied gehört zu einer ästhetisch wenig anspruchsvollen Gebrauchsliteratur, für die eigene Interpretationsregeln gelten. Doch die Ambiguitäten der Literatursprache greifen auch hier. So heißt es vom „Gott, der Eisen wachsen ließ“, gleich im folgenden Vers, er „wollte keine Knechte“.50 Man kann diese Aussage im martialischen Literalsinn des Liedtexts als Aufruf zu militärischer Gewaltanwendung im Namen Gottes deuten. In diesem Fall würde hier Religion funktionalisiert und ‚verweltlicht‘. Man kann den Folgevers aber auch als Apostrophierung der Freiheit der Kinder Gottes und als Applikation dieser Freiheit zur Bewältigung einer Krise verstehen. Dafür spricht der sechste Vers der ersten Strophe, der den „Zorn der freien Rede“ als Gottesgabe versteht und dem Affekt einen freiheitlichen Sinn unterlegt. Der Kampf zielt dann nicht mehr nur auf die nationale Befreiung von einem auswärtigen Tyrannen und seinem Regime, er erscheint vielmehr als gottgewollter Kampf für die ebenso prekäre Freiheit innerhalb des Vaterlands. In diesem Fall lässt sich das Lied aber keinem Typ des Nationalismus zuordnen. Arndts Lied ist sowohl emanzipativ als auch integrativ lesbar.51 Wie am Beispiel erkennbar bedarf die Analyse der konfessionellen Semantik im Patriotismus einer Ergänzung durch diversifizierende Textinterpretation. Die Sichtung der protestantisch-patriotischen Literatur erfragt, welche Topoi innerhalb welcher Textart oder bei welchem Autor welche Effekte erzielen. Nur so ist der rhetorisch-ästhetischen Verknüpfung – den Ligaturen – von Patriotismus und Protestantismus Rechnung zu tragen. Soll dieses Vorgehen einen Namen tragen, wäre ‚genealogische Relektüre‘ passend.52  Ähnlich Jeismann: Vaterland der Feinde, 16.   AW 1, 100. 51   Mit ähnlichen Interpretationen Jeismann: Vaterland der Feinde, 12–16. – Vgl. als Vertreter der Typologie Theodor Schieder: Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Nationalismus, Königstein/Taunus 1978, 119–137. 52   Obgleich über Foucault inzwischen sehr viel geschrieben worden ist, verweise ich für die ‚genealogische Relektüre‘ auf ihn als sekundäre Literatur. Beim Meiden der historiographischen Teleologien ist mir insbesondere unentbehrlich geworden: Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. und aus dem Frz. und Ital. übertr. von Walter Seitter, Frankfurt/Main 1987, 69–90. Die Relektüre stammt freilich nicht von da, sie ist auf der Grenze von Poststrukturalismus (Roland Barthes) und kritischer Hermeneutik (Paul Ricoeur) entstanden. 49

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1.2  Autoren und Texte

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1.2  Autoren und Texte In der Nationalismusforschung aber auch in der Systematischen Theologie gibt es eine ideengeschichtliche Fixierung auf Kant und die nachkantische Periode. Die damit verbundene Epochalisierung durchtrennt den Überlieferungszusammenhang der Revolutionsära mit dem Aufklärungszeitalter. Mentalitäten- und Sozialgeschichte des Nationalen haben dagegen einen historisch weiteren Fokus. Durch diesen allzu weiten Fokus wird jedoch die Bedeutung individueller Autorenschaft für eine Diskurslage abgeschliffen. Im Allgemeinen können beide Richtungen kraft wechselseitigen Ignorierens gut nebeneinander bestehen.53 Für die Nationalismusforschung entsteht jedoch das doppelte Defizit einer Abkehr von den Intentionen der patriotischen Literaten und von der Ausdrucksgestalt ihrer Texte. Diese Lage ist weder produktions- noch rezeptionshermeneutisch zufriedenstellend. Die vorliegende Untersuchung sucht diese Defizite auszugleichen, indem sie patriotische Literaten verschiedener Diskursphasen aufeinander bezieht und im Zeichen einer Macht des Fiktionalen exemplarisch Texte interpretiert.54 Die Untersuchung der patriotisch-protestantischen Ligaturen zwischen 1749 und 1813 beginnt damit, die Zirkulation konfessioneller Semantik in der patriotischen Rhetorik überhaupt und als Strukturphänomen zu untersuchen. Was als Säkularisierung und Sakralisierung eine eindeutige Richtung zu nehmen scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als wechselseitig: Die konfessionelle Semantik ist weder nur Anleihe eines weltlichen, vom Christentum entfernten Diskurses noch kann man sie als abstrakte Sakralität beschreiben; sie bleibt vielmehr auch in der patriotischen Rhetorik in ihrer Konfessionalität verifizierbar. Der erste große Untersuchungsabschnitt gilt einer Bestandsaufnahme der konfessionellen Semantik bei wichtigen Autoren des patriotischen Diskurses. Einheit und Freiheit der Nation stellen sich dabei als allgemeine Bezugsgrößen der sei es appellativ sei es theoretisch gewendeten konfessionellen Semantik heraus.55 Als ein patriotisches Fanal hat Thomas Abbts ‚Vom Tode für das Vaterland‘ die Zeitgenossen in Fragen der patriotischen Loyalität gespalten. Abbts Votum war wegen seiner Bezugnahme auf die monarchische Staatsform ungewöhnlich, da der Patriotismus meist als eine republikanische Tugend verstanden wurde. Als noch ungewöhnlicher und provozierender muss seinerzeit die patriotische Bezugnahme auf einen etablierten deutschen Territorialstaat (Preußen) erscheinen, misst sie diesem doch eine repräsentative Funktion für die Gesamtnation bei. Umso sublimer gestaltet Abbt die Sprache der Affekte; er will mit einem   F. W. Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, 106–110.   Vgl. §  5.3. 55   Im Folgenden werden Fußnoten mit Literaturhinweisen, die in den großen Untersuchungsabschnitten ohnehin erfolgen, eingespart. 53

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

sachlich schwierigen und ethisch anspruchsvollen Anliegen überzeugen. Die zur rhetorischen Affektsteuerung unentbehrlichen biblisch-christlichen Topoi hintertreiben jedoch die Absetzbewegung des patriotischen Affekts von der christlichen Tradition. Die Emanzipation eines Patriotismus von konfessionellen Bindekräften bleibt deren politischer Symbolik verhaftet. Abbts Schrift bringt Bewegung in den patriotischen Diskurs. Die politischen und institutionellen Alternativen der Kritiker sind sehr verschieden voneinander, einhellig ist dagegen die Kritik an einem Patriotismuskonzept, das nur an der Todesbereitschaft für einen Monarchen Maß nimmt. So kommt es nach der auf den Siebenjährigen Weltkrieg56 folgenden Friedensperiode zu neuen literarischen Vorstößen den Patriotismus betreffend. Mit Friedrich Carl von Moser und Justus Möser beteiligen sich Autoren am patriotischen Diskurs, die schon längst vor Abbt Stellung bezogen hatten, sich durch sein Fanal jedoch herausgefordert sehen, gegen ihn, mit ihm und über ihn hinausgehend Stellung zum Patriotismus zu nehmen. Friedrich Gottlieb Klopstock nimmt Abbts programmatische Verselbständigung des patriotischen Affekts in seinen wissenschafts- und kulturpolitischen Entwürfen auf, knüpft jedoch kritisch auch an Mösers freiheitsgeschichtliche Wende im Nationsverständnis an: In ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ wird die patriotische Autonomisierung in eine republikanische Avantgarde der gebildeten Nation transformiert. Zugleich wird eine Institutionalität fingiert, die den fiktionsbildenden Text selbst zum Ausgangspunkt einer nationalen Sammlungsbewegung machen will. Was in Abbts faktischem Gebrauch von Rhetorik anklingt, wird bei Klopstock Programm: Die rhetorische Tradition soll den Patriotismus gegen andere Diskurse abgrenzen und ihn stabilisieren. Allerdings stattet Klopstock entgegen dieser Strategie seine Republik mit germanomaner Religiosität aus. Christentum und Theologie spielen in diesem Institutionenentwurf anders als in ‚Der Messias‘ oder in Klopstocks Oden eine untergeordnete Rolle. Aufgrund von Klopstocks differenziertem rhetorisch-patriotischem Gesamtkonzept darf ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ in der Bestandsaufnahme aber nicht fehlen. Einer von Johann Gottfried Herders frühen Beiträgen zum patriotischen Diskurs ist seine enthusiastische, bei näherem Hinsehen jedoch nur literarästhetisch dimensionierte Rezeption Abbts. In Herders Frühschriften wird der Patriotismus einerseits als vorläufiger Ersatz für eine fehlende Öffentlichkeit begrüßt, andererseits kritisch daraufhin betrachtet, inwieweit er die fehlende Öffentlichkeit ersetzen könne. Herder konzipiert schließlich seine frühe Sprach- und Literaturkritik als Antizipation patriotischer Geselligkeit. Erst 56  Diese Globalität ist den Zeitgenossen nicht entgangen. Vgl. später dazu Winston S.  Churchill: Aufzeichnungen zur europäischen Geschichte, Stuttgart/Hamburg 1964, 260–273.

1.2  Autoren und Texte

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später ordnet er den Patriotismus einer Geschichtsbetrachtung zu, die seine Affektivität auf Distanz hält und, Möser nicht unähnlich, auf eine theoretische Verständigung über die Nation einschwenkt. Mit der ersten Sichtung patriotisch-protestantischer Ligaturen erweist sich die Bedeutung der Rhetorik als kaum überschätzbar.57 In der anderen Zirkulationsbewegung, die sich auf die protestantische Tradition bezieht, um den Kulturbesitz der Nation zu kennzeichnen und das Konzept der Nation theoretisch zu bearbeiten, wird der Diskurs absichtsvoll konfessionalisiert. Es kommt zu einer Luther geltenden Erinnerungskultur, die den Reformator theologisch reduziert, um ihn als Integrationsfigur für die deutsche Nation zu gewinnen. Auch im Blick auf diese Reduktionen Luthers haben Einheit und Freiheit als Teilaspekte der nationalen Integrität große Bedeutung. In gewisser Weise stellt dieser Vorgang das Gegenstück zu Abbts forcierter Verselbständigung des patriotischen Affekts dar, indem der Patriotismus und das Nationsverständnis nun bewusst konfessionell rückgebunden werden. Das Spektrum der Erinnerungsmodelle ist allerdings weit. Es umfasst diverse Versuche, Luther als genialen Bibelübersetzer und Quasi-Erfinder der deutschen Kultursprache zu empfehlen, ihn also wirklich auch kulturell zu verstehen und es ihm, wie Klopstock, als Dichtertheologe nachzutun (nicht: ihn nachzuahmen). In Herders zivilisationstheologischer Geschichtsschau wird dieses Bild aufgenommen, variiert und um eine Funktionsbestimmung der Reformation für die Geschichte der europäischen Nationen ergänzt. Herder scheint einmal mehr die patriotischen Aufgeregtheiten in einer theoretischen Weitung zu beruhigen und zu objektivieren, ohne deshalb den eigenen reformatorischen Anspruch zu verlieren. Seine geschichtstheologische Theoretisierung der Nation bedeutet keinen Verzicht auf ein politisches Nationsverständnis. Herders theologische Metarhetorik der Geschichte versucht eine Rettung des Nationskonzepts vor affektiver und fiktionaler Überlastung. Ausgleichsversuchen zum Trotz strebt die patriotische Luthererinnerung in der Napoleonischen Ära weit auseinander: Arndt ahmt in seinen militärkatechetischen und journalistischen Schriften sowie in seiner Lieddichtung das Lutherdeutsch direkt nach, um einer Verschmelzung von biblisch-prophetischem Pathos und patriotischem Affekt den Weg zu bahnen. Kleist versperrt diesen Weg durch eine Dekonstruktion des kulturellen Lutherbildes, die den Reformator gegenüber dem Protagonisten der Erzählung, Michael Kohlhaas, und dessen moderner Gerechtigkeitsforderung ins Mittelalter zurückstellt, seiner nationalpolitischen Repräsentativität entkleidet, ihn aber am Ende der Erzählung als Instanz der Vergebung aufruft. Insgesamt kommt es in der patriotischen Luthererinnerung zu einem gegenüber Abbts Modell gegenläufigen Effekt. Während dessen Verselbständigung   Vgl. §  2.6 und §  5.3.

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§  1.  Protestantismus, Literatur und ‚nation building‘

des Patriotismus an der konfessionellen Semantik scheitert, erscheint Luthers Erhebung zum Inbegriff der erhofften nationalen Integrität nach 1800 bei Arndt widerspruchsvoll und bei Kleist nur durch Dekonstruktion möglich. Die Aufweichung der exklusiven Züge Luthers durch Kulturalisierung vermag dagegen nichts auszurichten. In den ersten beiden Untersuchungsabschnitten steht das gegenläufige Zirkulieren der patriotisch-protestantischen Diskursivität im Vordergrund. Die Ambivalenz der rhetorisch vermittelten christlichen Topik für den Patriotismus wird herausgearbeitet. Die Zirkulationen zwischen Patriotismus und Protestantismus erweisen sich in keinem Sinn als ideen- oder protestantismusgeschichtliche Einbahnstraße. Eher kann man den Vorgang als die Konfundierung eines neuartigen Diskurstyps aus zwei Herkunftsmilieus bezeichnen; die konfessionelle Semantik kommentiert und illuminiert gleichsam die Suche nach nationaler Einheit und Freiheit. Im Zuge dieser Vorgänge erscheint die Literatur als entscheidendes Medium. Sie ist aufgrund ihres Affektpotenzials auch für die kriegsbedingte Nationsbildung von besonderem Interesse. Deshalb erschließt der letzte große Untersuchungsabschnitt die Kriegstheologie in protestantisch-patriotischen Ligaturen. Anhand von Dramatik, Lyrik, Militärkatechetik und journalistischen Formen wird eine Vielfalt konfessioneller Topik im patriotischen Kontext entfaltet. Die Abteilung zur Dramatik beschränkt sich auf Hermannsdramen. Sie wollen am nationalen Mythos der Hermannsschlacht58 ein politisch-religiöses Exempel aufrichten, das teilweise mit dem Christentum konkurriert. In der Kriegslyrik rückt Abbts oberstes Kriterium für den Patriotismus, die Todesbereitschaft im Krieg, wieder in den Vordergrund. Aufschlussreich für die Zirkulation konfessioneller Semantik ist hier eine Retrospektive vom antinapoleonischen Umfeld ins 18. Jahrhundert zu Johann Wilhelm Gleim und, noch einmal, zu Klopstock. Die Militärkatechismen von Kleist und Arndt erlauben den direktesten Zugriff auf eine kirchliche, allerdings verfremdete und eine neue Form von Konfessionalität aufweisende Gattung. Mit Arndts ‚Geist der Zeit‘ beschließt ein journalistisches Textkonglomerat den Untersuchungsgang. Gerade diesem Text ist die Zirkulationsfrage noch einmal zu stellen: Welcher Diskurs ist der eigentlich legitimierende? Oder soll diese Frage gar nicht beantwortet werden? Dem der heutigen Theologie entglittenen protestantischen Literaten 59 kommt für die Einschränkung der teleologischen Narrative zum Nationalismus besondere

58   Ein solcher Mythos bestand bereits im 18. Jahrhundert. Vgl. Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen, Opladen 1995. 59   Vgl. dazu die Einleitung ‚Eine Amnesie mit Folgen‘ in Walter Erhart/Arne Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, Tübingen 2007, 1–14.

1.2  Autoren und Texte

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Aufmerksamkeit zu, seine Texte gelten wegen Art und Grad ihres Nationalismus als die heikelsten. Die Entscheidung, Kleist und Arndt in der zweiten Hälfte der vorliegenden Untersuchung viel Raum zu geben, ist nicht deren theoretischem Kredit in der Theologie geschuldet, sondern dem Umstand, dass ihrem patriotischen Diskurs theologisch überraschend dezidierte Positionen zu entnehmen sind, die der Vergessenheit entrissen werden sollten. Über Schleiermacher und Fichte ist mehr bekannt, weshalb sie in dieser Untersuchung fehlen. Eine um ihre eigene Genealogie bemühte moderne Systematische Theologie muss patriotische und nationale Diskursivität ebenso thematisieren wie die ethischen, ästhetischen und psychologischen Selbstverständigungsversuche des modernen Christentums. Systematische Nutzbarmachung und legitimierender Rekurs fallen bei diesen Versuchen leicht. Die konfessionelle Semantik in der nationalen Diskursivität macht dagegen eine Widerborstigkeit der Quellen – und ihnen gegenüber – deutlich, die keine legitimierende Aneignung gestattet. Solch ein wühlendes Interpretieren am Befremdlichen vermag eine protestantische Selbstgefährdung um 1800 aufzudecken, es zahlt indes auch einen Preis, den die spätmodernen Orthodoxien der Ideologiekritik nicht zu zahlen brauchen. Den Preis hat schon Eric Voegelin benannt, wenn er im Vorwort zu ‚Die Politischen Religionen‘ schreibt, man mache ihm seine Objektivität gegenüber einem Gegenstand, der deutliche Ablehnung erfordere, zum Vorwurf. 60 Die folgende Analyse beugt sich ähnlich dicht über ihren Diskursausschnitt. Sie entzieht sich einer mittlerweile wohlfeilen Nationalismuskritik, um wechselseitige Funktionen der protestantischen Konfessionskultur und des ‚nation building‘ erkennbar zu machen. Vorschnelles dogmatisches und ethisches Bescheidwissen würden den ethisch-politischen Sinn verstellen, der sich aus der Analyse des Verhältnisses von Patriotismus und Protestantismus gewinnen lässt. Dieser Sinn liegt in der informierten und reflektierten Gesprächsfähigkeit von Theologie und Kirche über das auch in Zukunft bearbeitungsbedürftige Thema Nation.

  Eric Voegelin: Die Politischen Religionen, hg. und mit einem Nachwort vers. von Peter J. Opitz, München 21996, 5. Auf diese Skizze komme ich in §  5.2 zurück. 60

§  2.  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik Lange Zeit war die Ansicht verbreitet, der deutsche Geist streife um 1800 die letzten Fesseln eines oberflächlichen Formalismus ab und erhebe sich aus einer schöpferischen Regellosigkeit ursprünglicher Einsichten zu normativer Größe. Erleben wurde gegen poetische Technik, Ideenkunst wurde gegen artifizielle Prozesse der Meinungsbildung ausgespielt. Gleich um welchen Kanon es sich handelte, ging man von einem Ausbruch an Authentizität aus, der bedeutende, schöne und zukunftsmächtige Formen hinterließ, die unüberholt geblieben sind.1 Dazu rechneten auch neue Konzepte von Wissen, Kunst und Religion – aber auch der Nation, sie allesamt aus einer Mannigfaltigkeit unausgeglichener Bestimmtheiten auf den Begriff gebracht. Die Faktizität dieses Kanons von schließkräftigen Begriffen und lebensweltlichen Formen wurde zur ungeprüften Voraussetzung der Erforschung seiner Elemente, die ihrerseits als bloße Vorgeschichte in Betracht kamen.2 Die umfassende Kulturbedeutsamkeit der ‚Sattelzeit‘ steht nach wie vor außer Frage, doch der aus ihr stammende Kanon wurde inzwischen in doppelter Hinsicht hinterfragt. Zum einen sind die vermeintlichen Wegbereiter und die angeblich zweitrangigen Autoren zu eigener Geltung gekommen. Zum anderen hat die Wiederentdeckung von Kontinuitäten das gängige Bild einer Ära purer Innovativität abgewandelt. In beiderlei Beziehung spielt der Umstand eine gewichtige Rolle, dass die Rhetorik als ein virulentes Element im öffentlichen 1   Vgl. prägend Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin, Gesammelte Schriften, Band  26, hg. von Gabriele Malsch, Göttingen 2005. 2   Vgl. mit symptomatischem Unwillen Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Text und Anm.  bearb. von Reinold Schmücker, Gesammelte Werke 7, hg. von Birgit Recki, Hamburg 2001, hier zur ‚Entstehung der ästhetischen Formenwelt‘ 69 f.: „So heftig zwischen Gottsched und den Schweizern um die Prinzipien der Dichtkunst gestritten wird, so entspricht doch der Ertrag des Streites in keiner Weise dem Eifer, mit dem er geführt wird. Es ist ein sonderbares Schauspiel, wie hier für die Erörterung rein technischer [sic] Einzelfragen [.  .  .] die Teilnahme des gesamten literarischen Lebens der Nation verlangt und vorausgesetzt wird.“; vgl. weiter Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2003, gibt dem Kanon der ‚Goethezeit‘ Recht. Aus der Zeit vor 1750 sei kaum etwas Gelungenes „ohne akademische Nachhilfe“ überliefert. Schlaffer betont im Ganzen deutlich die konfessionellen Kontexte. Davon abgesehen wird man heute fragen müssen, wie viel von Goethe und Schiller „ohne akademische Nachhilfe“ noch zur Kenntnis genommen würde.

§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

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Sprechen und Handeln des 18. Jahrhunderts wieder anerkannt wird.3 Sie ist konstitutiv für die aus der Wegbereiterrolle aufgestiegenen, zum Teil als erst­ rangig entpuppten Autoren.4 Trotz aller Veränderungen im Verständnis von Sprache und Literatur, von Religion und Gesellschaft wirkt die rhetorische Tradition auch öffentlich als lebendiger Bildungsfundus.5 Die rhetorische Strömung lenkt voneinander wegdriftende Diskurse immer wieder in dieselbe Richtung: die rhetorische Tradition verbindet in der Ausdifferenzierung, obgleich sie ihr auch unterliegt. 6 Diese Umstände kommen auch im Patriotismus zum Zug. Die Rhetorik erlaubt engagierten Literaten eine Arbeitsweise mit Kommunikationsformen, die politisch intervenierender Publizistik angemessen sind. An der rhetorischen Arbeitsweise wird auch deutlich, dass die Abwesenheit oder Ungreifbarkeit der Nation als Problem sehr deutlich vor Augen steht.7 In der Sicht der meisten Diskursteilnehmer fehlen Institutionen, an die eine Nationsbildung allererst sinnvoll anschließen könnte. Diese Mängelanalyse ruft Gegenstrategien auf den Plan, in denen es zu einer die nationalen Institutionen vorwegnehmenden diskursiven Institutionalität kommt. 8 Für Experimente im Zeichen dieser Institutionalität stellt die Topik mit biblischen, christentumsgeschichtlichen und grie3   Vgl. zur Erforschung von Rhetorik seitens der germanistischen Literaturwissenschaft: Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg u. a. 1968; Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, [zuerst 1966] Tübingen 31991; Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. 4   Vgl. zu den einzelnen Autoren im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung; den gravierenden Fall der Klopstockvergessenheit erörtern aus gegensätzlicher Perspektive Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart 2000, 4–11, und Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen 2001, 10–20; vgl. elementar zur Verdrängung durch Goethe Meredith Lee: Displacing authority. Goethe’s poetic reception of Klopstock, Heidelberg 1999. 5   In diesem Zusammenhang sind auch die humanistisch geprägten Schulen vieler wichtiger Autoren der ‚Sattelzeit‘ zu nennen, zum Beispiel Kloster Pforta bei Naumburg, St. Afra bei Meißen, Maulbronn. – Für Pforta ist ein Stundenplan belegt, der knapp zur Hälfte Unterricht in Altsprachen vorsieht. Vgl. auch §  3.2 (a). 6   Vgl. zu diesem Vorgang Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u. a. 1995. 7   Vgl. §  4. 8   Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM), in: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, 47–84; vgl. weiter Ders.: Institutionenwandel und Funktionsveränderungen des Symbolischen, in: Gerhard Göhler (Hg.): Sonderheft Leviathan 16. Institutionenwandel, Opladen 1997, 94–118. – Mit dem im SFB 537 ‚Institutionalität und Geschichtlichkeit‘ an der TU Dresden entwickelten Begriff der Institutionalität lässt sich das antizipatorische Element im ‚nation building‘ gut umreißen.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

chisch-römischen Prätexten das Material bereit. Die Zirkulation neuartiger Meinungen zu Patriotismus und nationalem Leben wird durch christliche Präund Subtexte in Gang gehalten und geformt. Anhand dieser Konstellation lässt sich die Begrenztheit von teleologischen Erklärungsmodellen aufzeigen, die den Patriotismus zum Religionsersatz oder eine sakralisierte Nation zum Politikersatz erklären. Die Verwurzelung in einer rhetorisch aufbereiteten christlichkonfessionellen Semantik ist vielmehr allen Autoren gemeinsam und sie nutzen diesen Kontext für institutionelle Ausgriffe auf eine Nationsbildung, die um Einheit und Freiheit der Nation kreist. Der Ertrag konfessioneller Topoi für diese patriotischen Kernkonzepte wird im Schlussabschnitt (5.) eigens reflektiert. Der rhetorische Zugriff auf christliche Topik zu patriotischen Zwecken steht im Mittelpunkt des folgenden Untersuchungsabschnitts. Art und Ausmaß des Rhetorischen sollen erfasst und patriotische Örter konfessioneller Semantik bestimmt werden. Den Anfang macht Thomas Abbts Schrift ‚Vom Tode für das Vaterland‘, die den Patriotismus aus der allgemeinen Moralistik löst und einem monarchischen Territorialstaat dienstbar machen will. Der Versuch zur Verselbständigung von patriotischem Pathos hat jedoch in der biblisch-christlichen Topik einen Gegenhalt. Abbt stehen gezügeltere, von politischer Erfahrung geprägte Denkweisen gegenüber. Friedrich Carl von Moser plausibilisiert seinen Reichspatriotismus aus christlichem Ethos und pietistischer Imagination; Justus Möser nimmt hingegen eine primär deskriptive Haltung ein, um die Bedingungen nationalen Lebens überhaupt bestimmen zu können. Friedrich Gottlieb Klopstock präsentiert mit ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ einen fiktionalen Ansatz. Er stellt ein rhetorisches Modell von Bildung und Wissenschaft vor, das die gebildete Nation zur Avantgarde der politischen Nation erheben soll. Johann Gottfried Herders allmähliche Trennung von der patriotischen Rhetorik mündet in eine Beschreibung der Individualität von Nationen mithilfe von Sprache, Religion und Geschichte. Der Sprung in eine Kulturhermeneutik des Nationalen hat allerdings politischere Absichten als sein Ruf will.

2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus Der Patriotismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts hat einen kulturellen und einen politischen Kristallisationspunkt: die Schaffung einer deutschen Nationalliteratur und die Füllung eines im und am Alten Reich entstehenden Machtvakuums.9 Die Entstehung einer Nationalliteratur soll sich auch auf die politi9  Ökonomische Implikationen des Nationalen sind vor der industriellen Revolution in Deutschland allenfalls als Nebenschauplatz spürbar. Die Modernisierungsleistung des Patriotismus liegt primär im Politischen. Vgl. zur nachgängigen Nutzung der nationalen Ideologie in der Industrialisierung Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, 98 passim.163 passim; Ders.: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999, 49–57.

2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus

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sche Nationsbildung auswirken und insbesondere das Bürgertum daran beteiligen. Umgekehrt erhoffen sich die Literaten von einer Homogenisierung der deutschen Machtverhältnisse eine Verbesserung der publizistischen Lage. Als Katalysator für diesen patriotischen Aufbruch fungiert der Siebenjährige Krieg. In dieser Situation wurde Thomas Abbts 1761 erschienener, pamphletistischer Essay ‚Vom Tode für das Vaterland‘ zum Fanal.10 Abbt spitzt die Frage nach einem Patriotismus in Deutschland zugunsten des von Friedrich II. regierten Preußen zu.11 Vor allem aber vermischt der Text literarische und politische Innovation in Aufsehen erregender Weise: Der Bürger wird nicht als Untertan des Maschinenstaats, sondern als engagiertes Subjekt der Nation angesprochen.12 Das Aufsehen um seinen Entwurf hat Abbt die Bekanntschaft mit Lessing, Mendelssohn und Nicolai sowie die Mitarbeit an deren ‚Briefe die neueste Litteratur betreffend‘ eingetragen. a)  Helvetischer Nationalstolz als Prätext Unter den Prätexten von Abbts Schrift in der Nationalcharakterdebatte gibt es nachgerade einen Antityp: die erstmals 1758 publizierte, vielgelesene Abhandlung des Schweizers Johann Georg Zimmermann ‚Vom Nationalstolze‘, schon 1768 in vierter, überarbeiteter Auflage.13 Die Schrift steht in der Tradition der Moralistik, die bestimmte habitualisierte Einstellungen und Handlungsweisen auf ihre moralische Funktionalität hin überprüft. Sie ist nicht etwa nur ein Enkomion des Patriotismus. Zimmermanns Lob des republikanischen Patriotismus als einer politischen Tugend legitimiert sich vielmehr durch die unterscheidende Frage, welche „Vorzüge einer Nation [.  .  .] eingebildet“ und welche „wahrhaft“ seien.14 Dabei kommt der Autor gleichsam weisheitlich zu der Einsicht, eingebildete Vorzüge seien nicht nur unvorteilhaft, während wahrhafte Vorzüge durchaus schaden könnten.15 Insgesamt argumentiert Zimmermann als vor  Im Folgenden vereinfacht zitiert als ‚Vom Tode‘. – Zitiert nach Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland, in: Thomas Abbts [.  .  .] Vermischte Werke. Zweyter Theil [.  .  .], Frankfurt und Leipzig 1783. 11   Das verstand sich weder konzeptionell noch biographisch von selbst. Abbt war Württemberger, traf also eine bewußte Entscheidung für eine patriotische Loyalitätsbeziehung. Einem konservativen politischen Denker wie von Moser ist dergleichen völlig unverständlich. 12  Vgl. Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt: Patriot, Bürger und bürgerliches Bewusstsein, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, 221–253. Bödeker sieht in Abbts herausgehobener höfischer Stellung beim Grafen von Schaumburg-Lippe in Bückeburg keinen Widerspruch für das emanzipative Bewusstsein der Zeitgenossen. 13   Zitiert nach Johann Georg Zimmermann: Vom Nationalstolze. Vierte, um die Hälfte vermehrte, und durchaus verbesserte Auflage. Zürich, bey Orell, Geßner und Compagnie. 4 1768. 14   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 3. 15   Vgl. zur Kollektivpsychologie Zimmermann: Vom Nationalstolze, 171–208.329–394. 10

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

sichtiger Mediator des Nationalstolzes. Dieser Stolz muss nicht, kann aber eine unter vielen Optionen auf Glückseligkeit sein. Mit geringem vermögenspsychologischem Begriffsaufwand, aber griffiger Topik unterscheidet Zimmermann den „durch das grössere Bewußtsein ihres eigenen Werthes“ berechtigten Stolz einer Nation von der ‚superbia‘, dem „Hochmuth“, der „immer eine unrichtige und übertriebene Selbstschätzung anzeigt“.16 Zimmermanns Ermittlung umfaßt zahlreiche Lebenssphären, die dem Nationalstolz Material liefern können, wie das geschichtliche Alter einer Nation oder der Religionsstolz.17 Jedes Objekt des Nationalstolzes bleibt indes wegen dessen Vorurteilsstruktur ambivalent. Dieser Vorurteilsstruktur gewinnt Zimmermann allerdings eine Erkenntnis ab. Während „Unwissenheit“ in Verbindung mit Eigenliebe zur arroganten Abwertung dessen führe, das man nicht kenne, könne Eigenliebe zur Grundlage für einen Nationalstolz im Einklang mit der Tugend werden. Indem ein Volk seinem Bild von sich ähnlich werden wolle, treibe die Eigenliebe alles Gute aus diesem Volk hervor. So stelle sie einen Antrieb zur Verbesserung dar – „in den Händen der Politik [.  .  .] nützliche Thorheit[en]“.18 Zimmermanns Einsicht, Einbildung und Wirklichkeit seien unter dieser Voraussetzung „gleich“,19 relativiert die „Erkenntnis und Schätzung des Guten, das wir nach der Wahrheit besitzen“20 in einer geradezu konstruktivistischen Weise. Von hier aus versteht sich auch die Beschränkung des Patriotismus auf die republikanische Staatsform: Die Republik allein bietet Raum für die „politische Tugend“ des Patriotismus, 21 indem in ihr alles der Freiheit dient. Zwar räumt Zimmermann ein, es gebe deren Geist auch in Monarchien oder in einer gemischten Staatsform wie der englischen.22 Doch der republikanische Patriotis  Zimmermann: Vom Nationalstolze, 3 f.   Der Religionsstolz erscheint besonders gefährlich. Ihm gewinnt Zimmermann keine guten Seiten ab. Den Partikularismen der christlichen Konfessionen stellt er ein in allen Religionen geoffenbartes Wissen um die Notwendigkeit einer guten Lebensführung entgegen (Zimmermann: Vom Nationalstolze, 94). Die Abwege werden in einer konfessionskulturellen Skizze dargestellt: „Ein Reformirter, der seinen Glaubensgenossen in Frankreich predigt, wird gehenkt; ein Jesuit, der sich in Schweden blicken läßt, wird castriert.“ (Zimmermann: Vom Nationalstolze, 116) 18   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 172. 19   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 174. 20   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 209. 21   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 215. 22   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 270. Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, üs. und hg. von Ernst Forsthoff, Tübingen 21992, zur englischen Verfassung 214 passim. – Vgl. zum Zusammenhang von Mischverfassung und Machtteilung Alois Riklin: Die gewaltenteilige Mischverfassung Montesquieus im ideengeschichtlichen Zusammenhang, in: Paul-Ludwig Weihnacht (Hg.): Montesquieu – 250 Jahre ‚Geist der Gesetze‘. Beiträge aus Politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik, Baden-Baden 1999, 15–29; zustimmend und weiterführend Simone Zurbuchen: Republik oder Monarchie? Montesquieus Theorie der gewaltenteiligen Verfassung Englands, in: Oliver Hidalgo/ 16

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2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus

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mus korrespondiert den von Montesquieu übernommenen politischen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Sicherheit.23 Auf der Freiheit, als dem höchsten der drei Prinzipien, 24 soll alles beruhen, wodurch sich die Bürgerschaft materiell, kulturell und politisch reproduziert, und was allein Anlaß zum Patriotismus sein kann. Zimmermann geht davon aus, dass die gleiche Gültigkeit von eingebildeten und wirklichen Vorzügen nur zusammen mit einem Patriotismus bestehen kann, der sich in einem konstitutionellen Rahmen auf das von Bürgern Hervorgebrachte zurückbezieht. Nur dann ist die Einbildung kontrollierbar. In einem staatlichen Rahmen, der die Einbildung als Handlungsmotiv von bürgerlichen Lebensgütern und politischen Freiheiten isoliert, führt sie zu gesellschaftlicher Desintegration, weil ihr kein realer Besitz entspricht. Genau diese Urteilshaltung wird Abbt im Namen des preußischen Absolutismus enthusiastisch unterlaufen. b)  Preußischer Wahlpatriotismus und monarchischer Messianismus Abbt hat den Patriotismus gerade erst als großes Thema entdeckt, als er ‚Vom Tode für das Vaterland‘ verfasst. Als Professor an der Viadrina steht er 1760 unter dem räumlich und zeitlich nahen Eindruck der für Preußen verlorenen und verlustreichen Schlacht von Kunersdorf.25 Inmitten von Kriegsgeschehen und neuen Aufgaben wird sich Abbt einer Loyalität für den souverän weitersteuernden Landesherrn bewußt, die ihn zur Abfassung seines Beitrags zum patriotischen Diskurs veranlaßt. Abbt stellt mit unverhohlenem Bezug auf die preußische Monarchie fest, man könne auch „in gut eingerichteten Monarchien ein Vaterland“ verehren.26 Zimmermann hat sich davon insoweit beeindrucken lassen, als er Abbt „an der Stelle meiner eigenen Gedanken“ zitiert.27 Doch das Referat bleibt ein Fremdkörper. Es kann nichts anderes sein: Zimmermann entfaltet den Patriotismus im breiten Strom freien Lebens statt ihn auf den Tod fürs Vaterland zuzuspitzen. Karlfriedrich Herb (Hg.): Die Natur des Staates: Montesquieu zwischen Macht und Recht, Baden-Baden 2009, 79–97. Die deutsche Rezeption Montesquieus wird allerdings nur selten untersucht. 23  Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, elftes bis dreizehntes Buch; Vgl. weiter Dalmacio Negro Pavón: Montesquieu, Kritiker des Wohlfahrtsstaates avant la lettre, in: Weihnacht (Hg.): Montesquieu, 167–177. 24   Vgl. zu den anderen Punkten Zimmermann: Vom Nationalstolze, 284 passim.289 passim. Vgl. zur Rangordnung der Prinzipien Panajotis Kondylis: Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996, 86 passim; zu Montesquieu als Freiheitstheoretiker Karlfriedrich Herb: Im Netz der Gesetze. Montesquieu über Freiheit, in: Hidalgo/Herb (Hg.): Die Natur des Staates, 67–76, . 25  Vgl. Dennis E. Showalter: The Wars of Frederick the Great, London/New York 1996, 236–250. 26   Abbt: Vom Tode, 14 passim. 27   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 311.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Man versteht Abbts Emotionalisierung überhaupt nur als Extremposition richtig. Der (internationale) zeitgenössische Konsens korreliert einen an Lebensgütern orientierten Patriotismus mit Republikanismus und behauptet, an Montesquieu orientiert, eine strukturelle Nähe von Protestantismus und Republikanismus: „Das kommt daher, weil die Völker des Nordens immer einen Sinn für Unabhängigkeit und Freiheit haben und behalten werden, [.  .  .] und weil eine Religion ohne ein sichtbares Oberhaupt besser diesem Naturgegebenen Unabhängigkeitsgefühl entspricht als eine mit einem solchen.“28

Abbt sucht in einem Kraftakt die Gegenposition zu erschreiben. Allerdings zielt diese Position nicht etwa auf eine Ergänzung, sondern angesichts der Zeitläufte auf die Ersetzung eines im Leben bewährten Nationalgeistes. Die Todesbereitschaft der protestantischen Untertanen eines Monarchen wird zum Maß der Vaterlandsliebe erhoben, was pathetischen Ernst gegenüber Zimmermanns teilweise witzig-ironischem Causieren erzwingt. Abbt gibt seinem Text acht Kapitel. Die ersten beiden wehren Argumente gegen den Patriotismus ab und bestimmen die Offenheit ‚moderner‘ Monarchien für patriotische Loyalität. Die folgenden drei Kapitel widmen sich den günstigen inneren und äußeren Folgen der Vaterlandsliebe. Demnach stärkt diese eine „große und neue Denkungsart“29 in jeder Nation und „äußert sich“ vorteilhaft „in allen übrigen Handlungen“.30 Abbt befindet zur Nationalisierbarkeit der Massen, es gebe „gewisse Stempel, die jeder Seele können aufgedrückt werden, wenn sie nur nicht ganz von Kot ist. Sie braucht eben nicht die Polierung zu haben, dadurch der Abdruck glänzend wird.“31 Schließlich kann der Patriotismus die eigene Nation als Muster für andere aufstellen.32 Im sechsten Kapitel hält sich Abbt an aufklärerische Staatszielbestimmungen, um dann sein Konzept enthusiastisch zu entgrenzen. Abbt verfährt zur Verselbständigung des patriotischen Diskurses rhetorisch. Schon in der Vorrede beklagt er das Fehlen öffentlicher Plätze und Redner, die sich des Patriotismus annähmen. Dieses Urteil bezieht sich allerdings nicht auf ein Defizit an emanzipativer politischer Rhetorik. Vielmehr markiert Abbt mit der Frage, warum nicht Geistliche in die Bresche träten, da sie zensurbedingt   Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Zweiter Band, 165 f.   Abbt: Vom Tode, 42. 30   Abbt: Vom Tode, 58 passim. 31   Abbt: Vom Tode, 52. 32   Abbt: Vom Tode, 65 passim. – In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Rekurse auf Athen, Sparta und Rom hier nicht behandelt werden können. Sie finden sich z. B. auch in Gleims Kriegslyrik (§  4.2 (b)). Vgl. zum topikgeschichtlichen Hintergrund Barbara Bauer: Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer/Wolfgang G. Müller: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, Wolfenbütteler Forschungen 79, Wiesbaden 1998, 41–94, zu Abbt 71 passim. 28 29

2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus

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die „Erlaubnis haben, mit dem Volk zu reden“,33 die Leerstelle, an der sich sein Patriotismus etabliert: 34 Es geht primär um erhebende Gefühle, in denen überhaupt eine Nation greifbar werden kann, eher also um die Einigkeit als um Formen der Freiheit.35 Die politische Seite dieses Kunstgriffs besteht in einer Stärkung der bürgerlichen, aber auch staatlichen Autonomie. Die patriotischen Affekte sollen selbständig erzeugt werden, doch Abbt unterläuft dieses politische Postulat durch seine Rhetorik. Zunächst setzt er zwei zentrale, von ihm oft wiederholte Topoi zugunsten der Monarchie ein. Beide zielen auf die Greifbarkeit des Vaterlands, die recht deutlich vor Augen geführt werden soll. Zum einen lässt der Monarch das territorial fassbare, aber seiner moralischen Qualität nach unsichtbare Vaterland besonders deutlich in Erscheinung treten. Das unsichtbare Vaterland „sagt gleichsam zum Könige: Setze dich zu meiner Rechten! Es verwirft unsere Opfer, wenn wir sie nicht zugleich aus Ergebenheit für seinen Vielgeliebten bringen.“36 Abbts messianische Grammatik rückt das Vaterland an die Stelle des göttlichen Vaters und himmlischen Monarchen, der die Sohnschaft seines irdischen Ebenbilds deklariert. Man muss diese Wendung trotz bekannter Salbungsrituale christlich-europäischer Könige als Neuerung verstehen. Die Metapher holt ein entfallenes Ritual nach, da seit der ersten preußischen Krönung auf die Salbung verzichtet wird. Vor allem aber hält die Übertragung des christologischen Topos eine symbolische Lösung für das Problem der moralischen Greifbarkeit des Vaterlands bereit. Dem monarchisch regierten Vaterland fehlt zwar nicht jede Institutionalität, aber die Konstitutionalität. Daher muss es nun um so deutlicher in Erscheinung treten. Abbt wählt dafür die Stelle Gottes, der zu seinem Sohn, dem König, spricht. „Der Mann, auf den sich in Bedrängnis alles stützt, [.  .  .] „es ist mein König.“ Und dieser König hält messianisch „den Fall des Vaterlandes [.  .  .] zum Wunder aller Nationen“ auf.37 Der zweite zentrale Topos gilt der inneren Einheit oder Eintracht der Nation. Abbt führt ihn durch antike Reminiszenzen ein, indem er beispielsweise die über Alexanders Krankheit weinenden Mazedonen affirmativ vom leiseren Wesen in Republiken abhebt. Der affektiven Bindung an den Monarchen entspricht eine höhere Intensität des Patriotismus. Der königliche Ruhm „macht eine lich  Abbt: Vom Tode, 12 f.   Es scheint, als werde der für die Befreiungskriege typischen Verbindung von evangelischer Geistlichkeit und preußischem Patriotismus vorgegriffen. Vgl. zu den Funktionen der Geistlichkeit Gerhard Graf: Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993, 33–44 u. ö. 35  Vgl. Bödeker: Thomas Abbt, 238: „‚Politische Freiheit‘ ist weder Freiheit der Nation nach außen noch auch politische Mitbestimmung. Dominierend bleibt also bei Abbt und über ihn hinaus in der bürgerlichen Bewegung die Tendenz zum Bündnis mit den aufgeklärten Monarchen.“ 36   Abbt: Vom Tode, 26. 37   Abbt: Vom Tode, 125 f. 33

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

te Himmelsluft um die ganze Nation aus“.38 Von der Liebe zum König kann Abbt mit dem Hohelied sagen, sie sei „stärker als der Tod“.39 Und teleologisch gebrochen: „In der Monarchie ist das, was uns der größte Endzweck zu sein dünkt, das größte Mittel“.40 Auf die Erhaltung des Monarchen, die zugleich das Vaterland erhält und dadurch Mittel zu einem höheren Endzweck ist, wird auch der Topos vom kämpfend bewahrten Israel abgebildet. Abbt metaphorisiert die Unsichtbarkeit des Vaterlands mit der abstrakten Heiligkeit der Bundeslade: „Jene [die Lade] nicht zu verlassen, erforderte ihre Pflicht, und diesem [dem König] zu folgen, ermunterte sie ihre Liebe. Die erstere war das Gut, das sie nicht verlieren durften; der letztere ihr Vergnügen, das sie zu erhalten wünschten. Die Zurückkunft des Königs ohne die Bundeslade würde sie mit Schrecken erfüllt, die Errettung derselben mit dem Verluste des Königs würde sie fast untröstlich gemacht haben.“41

In dieser biblischen Übertragung kommen beide Argumente für den monarchischen Patriotismus, die Greifbarkeit eines Objekts und die hohe Intensität des Affekts der Eintracht, überein: Der ‚princeps‘ zieht den liebevoll-selbstvergessenen Blick der in diesem Blick geeinten Nation auf sich. So überbietet Abbts Modell Zimmermanns Schweizer Republiken an patriotischer Repräsentativität. c)  Die Macht des Sublimen und die Übermacht der Affekte Nach Topik und Stillage gehört der Prosatext ‚Vom Tode für das Vaterland‘ nach zeitgenössischem Verständnis zum genus sublime.42 Die Topoi sollen seltene und ernste Affekte hervorrufen. Dabei entfallen jegliche Gedanken an das Recht, sich einer solchen Affekt-Aggregation zu entziehen, wie sie etwa Montesquieu als Sicherheit des Bürgers vorm Staat thematisiert.43 An die Stelle von Gegengründen treten rhetorische Fragen: „Könnte denn das Vaterland nicht jeden zu seiner Verteidigung herbeirufen, wenn es gleich nicht jeden herbeirufet? Wenn es aber diese Rechte über uns gleich bei unsrer Geburt erhält: kann man die Regierung wohl tyrannisch nennen, die uns diese Rechte ankündigen läßt?“

  Abbt: Vom Tode, 56.   Abbt: Vom Tode, 89. 40   Abbt: Vom Tode, 64. 41   Abbt: Vom Tode, 32. 42   Herder erkennt SWS II, 274 passim, die Merkmale dieser Stillage Abbt zu. Vgl. weiter SWS II, 290 passim. 43  Vgl. Kondylis: Montesquieu, hier 88: „Für Montesquieu gibt es Freiheit in erster Linie da, wo Sicherheit und Sicherheitsgefühl gegenüber unberechenbaren und rechtlich ungerechtfertigten Eingriffen in den privaten Bereich, also in die physische Unversehrtheit und in das Eigentum der Person, uneingeschränkt zu haben sind.“ Vgl. auch Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, im sechsten Buch, zur Zivil- und Strafgesetzgebung. 38 39

2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus

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Auch die Ridikülisierung der guten Grundsätze des Patriotismus durch dessen Gegner erscheint schlechterdings verwerflich: „Das Possierliche erstickt alle ernsthaften Leidenschaften.“44 Abbt verselbständigt den Patriotismus zu einem Gefühl an sich und zum Gefühls-Wert. Die terminologische Brücke dorthin bildet der vermögenspsychologisch approbierte Phantasiebegriff, von Abbt mit der ästhetischen Kategorie des Erhabenen konnotiert.45 Diese Konstellation erlaubt, die für andere Autoren so wesentliche Frage nach der Würdigkeit des patriotischen Objekts zu verdrängen. Abbt hat jedoch mit einer Aporie zu kämpfen, die sich aus der Zuspitzung des Patriotismus auf den Tod ergibt. Ein patriotischer Bürger stellt sich materielle und moralische Resultate als „Glückseligkeit“ vor, in der sein Affekt zur Ruhe kommt. Er will seine Verdienste auch genießen. In seiner späteren Schrift ‚Vom Verdienste‘ trägt Abbt diesem Umstand voll Rechnung.46 Doch im Fall des Todes fürs Vaterland steht diese Neigung in Frage, da ja alles, was genossen werden könnte, in der Todesbereitschaft auf dem Spiel steht. Abbt räumt ein, man könne bezweifeln, dass sich jemand eines so hohen Guts wie des Vaterlands könne berauben wollen. Diese Frage stelle sich jedoch nur, wenn die Vaterlandsliebe wie bei Zimmermann mit der Eigenliebe zusammen bestehe. Eben das ist aber nicht möglich, wenn der Patriotismus zum selbständigen Gefühlswert gebildet werden kann, da in diesem Fall keine Nützlichkeitserwägungen (wie der Schutz von Mitbürgern) das patriotische Opfer verbürgen.47 So kommt eine Antizipation der Einbildungskraft zum Zuge, die denn auch wichtiger wird als die theoretische Frage nach Selbstliebe und Altruismus.48 Abbt geht vom Problem der Todesfurcht aus, die der Bereitschaft zum Tod für das Vaterland entgegensteht. Furcht setzt als elementarer Affekt alle Nerven in Bewegung, Liebe fürs Vaterland nimmt diese Bewegung auf und richtet sie „auf 44   Abbt: Vom Tode, 40: „Wie sollen wir denn von diesen Leuten reden, die [.  .  .] das Erhabene von der Höhe [.  .  .] herunter spotten; [.  .  .] und nur sich als den Mittelpunkt [.  .  .] merklich machen wollen?“ 45   Abbt: Vom Tode, 116, autorisiert sich mit Ciceros Rhetorik: „Nemo vir magnus sine aliquo afflatu divino unquam fuit“. 46   Vgl. die ersten Sätze des Vorberichts von Thomas Abbt: Vom Verdienste, Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai 1772: „Kriegerische Zeitläufte hatten den Verfasser bewogen, das höchste Verdienst, welches der gute Bürger, während solcher, erringen kann, den Tod fürs Vaterland, näher zu betrachten. Ruhigere Zeiten haben ihm Anlaß und Muth gegeben, auch die übrigen Arten des Verdienstes zu erwägen.“ Abbt nähert sich damit Zimmermann wieder an. 47   Vgl. zu diesem Motiv Zimmermann: Vom Nationalstolze, 116 u. ö. 48   In Auseinandersetzung mit Shaftesburys kritischer Betrachtung des frommen Enthusiasmus und seiner ‚melancholischen‘ Folgen für Gottesbegriff und Einbildungskraft entwickelt. Vgl. Antony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ***, in: Ders.: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays, hg. von Karl-Heinz Schwabe, Leipzig/Weimar 1990, 5–40. Vgl. bei Abbt vor allem das 8. Hauptstück zum Lächerlichen als Gefahr des Erhabenen. Kriterium der Phantasie ist die menschliche Würde, Abbt: Vom Tode, 120.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

eine andere Art“ ein. Diese Metamorphose im Affekthaushalt verdankt sich der Objektpräsenz im Liebesgefühl.49 Während sich die Todesfurcht auf den Entzug eines erhofften „Vergnügens“ oder auf die Erneuerung von „Mißvergnügen“ bezieht, überzeugt die Vaterlandsliebe davon, dass kein höheres Vergnügen möglich sei als der Dienst an ihm. Der Tod fürs Vaterland setzt nur ein Vergnügen hinzu. Die Plausibilität dieser Affektregulierung rührt von der stetigen Radikalisierung der Liebe zum Selbstopfer her.50 Selbstverständlich ist diese Auffassung nicht, sie wird jedoch auf verschiedene Weise plausibel gemacht. Abbt verweist etwa auf den emblematischen Pelikan, der sich christusanalog für seine Jungen die Brust aufreißt, für einen Tod, der „mit dem Blut, das aus unsern Adern quillt, das ächzende Vaterland tränkt, um es wieder aufleben zu lassen.“51 Hier kippt das christologische Emblem unversehens in einen Vampirismus des bluttrinkenden Vaterlands. Zur Verstetigung dieser politischen Opferreligion lässt Abbt der antizipatorischen Phantasie freien Lauf. Sie reißt das Gefühl mit: „[.  .  .] die Stürme mächtiger Leidenschaften“ müssen „den Grund der Seele erschüttern und eine hohe Begeisterung ihre verborgensten Winkel durchblitzen, wenn sie diese glänzende Erscheinung hervorbringen soll.“52 Diese Affektkonversion wird durch den in potentieller Selbstopferung voranschreitenden König möglich: „Sein Anblick ist beredter als Demosthene und erregt die Leidenschaften heftiger. Mit der Blutfahne in der Hand geht er vor seinem Heere dem Feinde entgegen. [.  .  .] jedes tödliche Blei, das neben ihm niederfällt, schlägt den Gedanken meiner eigenen Gefahr aus mir heraus. [.  .  .] Eine Furcht bekämpft jetzt die andere, die Furcht, ihn zu verlieren, und die Furcht, meinen Tod zu finden. Meine Eigenliebe weicht meiner Einbildungs49   Vgl dagegen Herders Dialoggedicht ‚Der Deutsche Nationalruhm‘ in ‚Briefe zu Beförderung der Humanität. Zehnte Sammlung‘ 1797, SWS XVIII, 208–216, hier 216, die in der Liebe des Patriotismus eine kontrafaktische Struktur erkennt, wie sie z. B. in einer Exilsituation oder entgegen den Untugenden der Mitbürger wirksam werden kann. Diese Struktur verzeichnet Bernd Fischer: Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten, Berlin 1995, 204. 50   Vgl. zur Erzeugung von Gewalt durch mimetische Anmutungen René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt 31999; hier 27: Die Funktion des Opfers, interne Gewalt zu befrieden, würde beim Selbstopfer des Bürgersoldaten dem Verzicht auf seine Emanzipation entsprechen; vgl. weiter Ders.: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München/Wien 2002, hier 35–49.98. – Zur Kritik: Burkhard Gladigow: Gewalt in Gründungsmythen, in: Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/Main/New York 2004, 23–38, hier 32–36. 51   Abbt: Vom Tode, 42. – Am Balkan kam es um 1730 zu öffentlichkeitswirksam kolportierten Vampirismus-Vorfällen. Vgl. schon vor der kulturwissenschaftlichen Vampirismus-Debatte Dieter Harmening, Der Anfang von Dracula. Zur Geschichte von Geschichten, Würzburg 1983. 52   Abbt: Vom Tode, 123. Abbt legt hier einen homerischen Topos vom aufgewühlten Meer zugrunde.

2.1  Abbts rhetorische Entfesselung eines Gefühlspatriotismus

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kraft. [.  .  .] das Gefühl [.  .  .] flammet meine übrigen Leidenschaften an und treibt mich in die dickesten Haufen der Feinde.“53

Abbt wirft dieses Phantasma nicht nur der Philautie, sondern auch der bloßen Selbsterhaltung entgegen. Die Macht der Phantasie beruht auf Antizipation, die am Monarchen Maß nimmt. Der König fungiert als physisches Vorbild der patriotischen Mimesis. Darüber wird er jedoch zur Metapher für das Vaterland, welche dieses greifbar und als Einheit intensiv erfahrbar macht.54 Die Mimesis gilt also dem König als dem ersten Diener seines Staats, ergreift aber einen Gefühlsinhalt jenseits der tätigen Identifikation mit dem Monarchen. Sie zielt nicht auf ein gesellschaftliches Handeln, sondern auf den „Zustand der Seele [.  .  .], worin sie sich über ihre gegenwärtigen und gewöhnlichen Verbindungen hinaussetzt, mit Phantasien beschäftigt, sich daraus eine neue Art von Schönheit verschafft“55 und sich in ihren Besitz setzt. Einen unversehrten Leib, in dem sie dergleichen zu phantasieren vermag, braucht die Seele allerdings. d)  Emanzipierte Märtyrer in der institutionellen Dauerkrise Die Lösung der Aporie, das höchste Opfer zu bringen und zugleich seine Annahme zu imaginieren, erfolgt durch einen Rückgriff aufs Christentum. Die Versicherung, „alles vereinigt sich [im Krieg], und stellt sich unter dem vormals so herrlichen Namen eines Bürgers dar [.  .  .]. Dann ist jeder Bürger ein Soldat, jeder Soldat ein Bürger“,56 weckt freiheitliche und adelskritische Assoziationen im Zeichen von Einigkeit.57 Abbt plausibilisiert sein Phantasma, das puren Al­ truismus durch den egalisierten Volkskörper rauschen lässt,58 jedoch mit der Antizipation der Seligkeit durch die christlichen Märtyrer.59 Dieser Zugriff relativiert die emanzipativen Erwartungen. Die Märtyrer setzen sich durch das Phantasieren ihres Verdienstes über „gegenwärtige[n] und gewöhnliche[n] Verbindungen“60 hinaus und machen das unsichtbare höchste Gut greifbar. Mit Bildern, die der Offenbarung nicht entnommen sein müssen, solange sie ihr nicht widersprechen, stellen sie sich die   Abbt: Vom Tode, 93.   Durch das Brennglas des ‚Vaterlandes‘ kann der König das stellvertretende Opfer der in die Krise geratenen Gemeinschaft bleiben und dennoch seinerseits stellvertreten werden. Vgl. Girard: Das Heilige, 394 passim. 55   Abbt: Vom Tode, 118 f. 56   Abbt: Vom Tode, 20. – Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. Studien 2, Köln 31983, 370. 57  Vgl. Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750–1850, Wiesbaden 1981, 31 passim. 58  Die „Stimme des Vaterlandes“ verwandelt wie eine umgekehrte „neue[n] Circe“ die Bürger in altruistische und höhere Wesen, als sie zuvor waren. Vgl. Abbt: Vom Tode, 60. 59   Abbt: Vom Verdienste, 216–242, handelt die patriotischen Verdienste „des Eroberers, des Soldaten und des Heiligen“ immerhin im selben Kapitel ab. 60   Abbt: Vom Tode, 118 f. 53

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Schönheit vor, auf die hin sie ihre Handlungen einrichten. 61 Die im Märtyrertod beschlossene Freiheit ist deshalb eine Freiheit durch „rechtmäßige Oberherren“62 über die Affekte. In der Übertragung auf den Patriotismus bedeutet solch eine Affektmobilisierung zugleich höchste Affektregulierung63 – etwas anderes als die Verdrängung der „Leidenschaften“. 64 Die Affektregulierung der Märtyrer wird gegen einen Patriotismus ausgespielt, der das Ziel des Patrioten im ruhigen Genuß der vaterländischen Güter und im tätigen Leben für die Institutionen des Vaterlands erblickt: „Das Andenken der Helden, die für ihr Vaterland lebten, ist einer wohlgearteten Seele nicht weniger werth, als das Andenken der Helden, die für ihr Vaterland starben.“65 Dieser Patriotismus knüpft an kulturelle und gesellschaftliche Lebensbedingungen und schließt von diesen auf die Würdigkeit des Gemeinwesens, zu dessen Wohl der Patriotismus seinen Einsatz wagt. Abbt ersetzt diesen Patriotismus durch ein hohes Ideal, aber auch durch ein reduziertes politisches Phantasma: Der absolutistische preußische Ständestaat bleibt unangetastet. Emanzipativ wird das Phantasma nur im Kriegsfall, der die Standesgrenzen im Zeichen des quasi-christologisch erniedrigten Monarchen verschwinden lässt. 66 Eine militärische Dauerkrise ist für eine solche Affektkultur dringend erforderlich. Dabei kommt die politische Nation in konzeptioneller und praktischer Hinsicht nicht einmal voran. Die emanzipativen Züge dieses Patriotismus verschwinden letztlich doch in der politischen Religion des Opfertodes. 67 Abbt begründet die Entgrenzung des Patriotismus auf einen eigenständigen Gefühlwert hin mit der nicht „gemein genug ausgebreiteten Wirkung“ christlichen Geistes, der zur Versehung vaterländischer Pflichten eigentlich ausreichen würde. Angesichts dieses Defizits muss sich der Staat „mit Erfindung neuer Mittel“ befassen. 68 Der Begriff der Erfindung verweist auf die Indienstnahme der Phantasie. Allein die „Mittel“ sind so neu nicht. Wird die Phantasie der Patrioten durch Topoi beflügelt, kommt es zu religiösen Auratisierungen. Von den Topoi der Greifbarkeit und Gemeinschaft sowie den enthusiastischen An  Abbt: Vom Tode, 122.   Abbt: Vom Tode, 80. 63   Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961, hier 1–14, stellt einen pietistisch geprägten Gefühlspatriotismus gegen einen aufklärerischen Verstandespariotismus, ja überhaupt erscheint der Pietismus als religiöses Gegenüber einer areligiösen Aufklärung. Diese Rechnung ist unter anderem ohne Abbt gemacht, der eine Rationalität der Affekte entfaltet. 64   Abbt: Vom Tode, 83. 65   Zimmermann: Vom Nationalstolze, 243. 66  Kritisch gegenüber Abbts hoher Erwartung an Friedrich II. Ingrid Mittenzwei: Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Köln 21980, 113 f.129. 67   Bödeker: Thomas Abbt, 236, spielt diese Dimension etwas herunter, um das emanzipative Potenzial des Texts hervorzuheben. Die Verkettung mit der rhetorischen Affektkultur bleibt jedoch bestehen. 68   Abbt: Vom Tode, 89. 61

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2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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tizipationen der Märtyrer vorbereitet, rückt das Vaterland an die Stelle des höchsten Guts. Insofern säkularisiert Abbts Patriotismus christliche Topoi und Phantasmen. Zugleich sakralisiert er das Objekt des Patriotismus. Zwar wird nicht das nationale Territorium zum heiligen Boden erklärt, wie später bei Kleist, 69 doch der König erscheint mit messianischer Aura im Zentrum eines Opferdiskurses, der durch Imitation an der politischen Macht partizipieren lässt.70 Der Gefühlspatriotismus wird zum Selbstzweck und zehrt von der konfessionellen Topik, wie er von der politischen Dauerkrise der Monarchie zehrt. Die Wiederholung der Opferung ist sicher.71 Diese Spannung lässt machtpolitische Manipulationen zu. Die Manipulierbarkeit verrät sich, wenn Abbt Kriegsversehrte auffordert, beim Besuch Friedrichs II. kindliche Liebe zu bezeugen. Diesem „feierlichen“ und „ rührenden Schauspiel[s]“ könne sich niemand entziehen.72 Der Text lässt das Invalidentum als Teil einer Inszenierung erscheinen, während den Kriegsversehrten die im Kartätschenfeuer weggerissenen Gliedmaßen tatsächlich fehlen. Die Macht der Phantasie sorgt für die Übereinstimmung von patriotischem Selbstgefühl und antizipiertem Verdienst, dann bringt sie die überlebenden Zeugen dieser Antizipation in einer absolutistischen Mitleids-Inszenierung zum Schweigen.73 Die Mehrzahl der Leser von Abbts fiktionalem Fronterlebnis hat wohl nicht im Heer des Preußenkönigs gedient. So entsteht der patriotische Märtyrer – deutlich vor 1813.74

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“75 – von Mosers pfingstlicher Verfassungspatriotimus Thomas Abbt hat in den Kreisen der Berliner Aufklärung prominente Fürsprecher gefunden, die seinen Text für beide Kristallisationspunkte des patrioti  Vgl. 4.1 (c).   Zu den von Girard analysierten Formen der Mimesis – dem mimetischen Dreieck und dem sozialisierenden Sündenbockopfer – tritt eine sozialisierende Mimesis der Opferung für den Anführer, in dessen Erhaltung die Erhaltung der Gemeinschaft gewähnt wird. Vgl. zum sakralen Königtum Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster u. a. 2003, 347 passim. 71   Girard: Satan, 106. 72   Abbt: Vom Tode, 48. 73  Vgl. Hamanns sarkastische Kritik am kriegführenden König in der von Friedrich Carl von Moser besorgten Supplik vom 11.  9. 1763. Hamann bezeichnet sich gegenüber dem König als ‚Invalide des Apolls‘, ZH III, XX.XXIII (Band  III der Briefe bietet am Anfang Nachträge, daher die römische Seitenzählung.) Zitiert nach: Walther Ziesemer/Arthur Henkel (Hg.): Johann Georg Hamann. Briefwechsel, 7 Bde., Wiesbaden u. a. 1955–1979. 74   Vgl. zum Märtyrertopos in der Kriegslyrik Harro Zimmer: Auf dem Altar des Vaterlands. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1971, 58–68. 75   Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster Teil, 2090. Zitiert nach 69

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

schen Diskurses als Zugewinn rezipiert haben. Er nahm als patriotisches Zeugnis in der Diskussion um eine Machtumverteilung im Reich Stellung und trug durch sublimen Prosastil zur Nationalliteratur bei. Auch durfte die Monarchie auf einem deutschen Territorium von nun an als ‚patriotismusfähig‘ gelten. Den integrativen Stärken dieses ‚nation building‘ korrespondierten aber auch Schwächen: Der dezisive Borussianismus und der Umstand, dass patriotische Bürger weniger am politischen Glücksgut der Freiheit als an einer das preußische Kriegsschicksal abbildenden affektiven Dauerkrise beteiligt werden. Diese Konstellation hat zusammen mit dem Opferdiskurs Kritik geweckt oder eine entpolitisierende Rezeption Abbts begünstigt.76 Friedrich Carl von Moser behauptet in allen Fragen des patriotischen Diskurses – der Staatsform, der Nationalpolitik, der Konfessionskultur und dem Affektumgang – eine Alternative zu Abbts Modell. Moser fußt auf der ‚Reichspublizistik‘,77 zielt jedoch ohne deren gelehrt-trockene Zurückhaltung auf einen patriotischen Geist für das Reichsganze.78 Für das Verständnis von Mosers protestantisch-patriotischer Ligatur ist dieses Geistkonzept ausschlaggebend. Schon die Titel von Mosers Schriften – ‚Mannichfaltigkeiten‘, ‚Beherzigungen‘ oder ‚Reliquien‘ – wollen mit anthologischer Vielfalt beim Leser Sinn für patriotische Fragen erzeugen, ohne ihn mit einem System der politischen Erkenntnis zu belasten. Die Leserschaft wird für den Reichspatriotismus angeworben. Im Blick auf das skeptischere Publikum formuliert der Anthologe ein christliches Berufsethos für ‚politici‘. Um Mosers politischen Geistbegriff zu verstehen, muss man zunächst seinen politischen Realismus würdigen. Die reichspatriotische Argumentation war zu ihrer Zeit weniger schwach, als sie nach dem fast lautlosen Verschwinden des Alten Reichs scheinen muss.79 Die Schwäche dieser Position ist rezeptionsgeschichtlich bedingt. Vor allem aber verkennt man den Sitz des ReichspatriotisGoe­thes Werke, Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Band  III, Dramatische Dichtungen, textkritisch durchges. und komm. von Erich Trunz, München 121982. Die Verse „Das liebe heil’ge Römsche Reich,/Wie hält’s nur noch zusammen?“ (2090 f.) werden von einem der Studenten in Auerbachs Keller angestimmt. Der Jurastudent Goethe kannte die Diskussion um Einheit und Freiheit des Reichs und nahm sie im ‚Götz von Berlichingen‘ auf. 76   Vgl. zu Herder §  2.5 (a). – Vgl. zum Problem der Konkretionsvermeidung im Patriotismus des 18. Jahrhunderts Rudolf Vierhaus: Patriotismus – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Ders. (Hg.): Wolfenbütteler Forschungen 8, München 1980, 9–29. Die Vermeidungsstrategien sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eben auch politisch konkreten Patriotismus gab. 77  Vgl. Notker Hammerstein: Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: Historische Zeitschrift 21 (1971), 316–338; Ders.: Das Römische am Heiligen Reich deutscher Nation in der Lehre der Reichspublicisten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 100 (1983), 119–144. 78  Vgl. Wiebke Otte: Arndt und ein Europa der Feinde? Europagedanke und Nationalismus in den Schriften Ernst Moritz Arndts, Marburg 2007, 78 ff. Otte wertet die Nationalgeistdebatte als erste Form des ‚nation building‘. 79   Vgl. vehement zur absolutistischen Zerstörung von konstitutionellen Freiheitselemen-

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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mus im politischen Leben, wenn man ihn als bloße Folge frommer Prägungen auffasst. Moser war lutherisch und pietistisch geprägt, doch lässt sich sein politisches Denken nicht auf ein einfaches Verdankungsverhältnis nach Art von ‚Säkularisaten‘ festlegen. Die konfessionelle Semantik zehrt selbst von ‚weltlichem‘ Sprachgebrauch. 80 a)  Das Reich als Nation Am Anfang steht für den Staatsrechtler Moser die Verfassungsfrage. Er hält diese zwischen Zimmermann und Abbt kontroverse Frage nach den Bedingungen nationaler Einheit in Freiheit für beantwortet. 81 Dem Reichsjuristen und erfahrenen ‚politicus‘ erscheint der Streit um die patriotische Würdigkeit von Staatsformen angesichts der deutschen Gegebenheiten als bloßes Gedankenspiel. Im Reich existiert keine Alternative zwischen Republik und Monarchie, weil der vielgliedrige politische Körper beide Staatsformen umfasst und doch in keiner aufgeht. 82 Die Reichsverfassung enthält monarchische und republikanische Elemente, die sich in einer ausgewogenen Exekutive und Legislative abbilden. 83 Die Freiheit des Einzelnen wird in der Einheit des Ganzen garantiert. In diesem gemischten System qualifiziert sich die übers Land verteilte, eine eigene ‚Mittelschicht‘ bildende Reichsritterschaft als Nation im eminenten Sinn, auch wenn gerade sie nicht im Repräsentativorgan vertreten ist, 84 während der Kaiser im Reichstag als oberster Ordnungsgarant fungiert. 85 Mit einer Anspielung auf Hamann charakterisiert Moser die Lage. Ohne Reichstag „würde Deutschland eine Landcharte vieler vom festen Land abgerissenen getrennten Inseln werden, deren Bewohnern Fähren und Brücken fehlten, die Communication unter sich zu unterhalten.“86 Moser sieht nicht, worin eine Nationsbildung außerhalb dieten Günter Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779, Fischer Weltgeschichte Band  25, hg. von Günter Barudio, Frankfurt/Main 1981. 80  Bis heute einflussreich Kaiser: Pietismus und Patriotismus. – Das hauptsächliche Strukturproblem der Theoriemetapher ‚Säkularisierung‘ ist und bleibt, dass sie die Zirkulationen zum Zeitpunkt der vermeintlichen Säkularisatbildungen missachtet. 81   Moser: Beherzigungen, Franckfurt am Mayn, Dritte und verbesserte Auflage 1763, 14 f. 82   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 19 ff.36 passim. 83   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 19 ff. – Vgl. auch Ders.: Beherzigungen, 167 f. 84  Vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin: »Das Heilige Römische Reich deutscher Nation«, in: Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, hg. von Otto Büsch/James J. Sheehan, Berlin 1985, 73–83. Moser entstammt dieser Schicht und betätigt sich beruflich auf eine für sie typische Weise. Sein ständisches Nationalbewußtsein wird deutlich, wenn er ironisch beklagt, es werde als todeswürdig geachtet, „wann ein Vasall, der gleichwohl noch kein Janitschar, sondern ein freigebohrner Deutscher Edelmann ist,“ bei einer landesherrlichen Aufforderung zur Missachtung seiner Loyalität gegen Kaiser und Reich „die mindeste verweigernde Mine machen wollte.“ (Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 42) 85   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 47. 86   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 64. – Vgl. Johann Georg Hamann: So­

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

ser Konstellation bestehen und wozu sie benötigt werden könnte; der Begriff „patriotisch“ ist für Moser daher nahezu synonym mit „unparteyisch“. 87 Infolge der verfassungspolitischen Verankerung der deutschen Nation scheint ein preußischer Patriotismus widersinnig. Kein deutscher Patriot legt sich partikularistisch fest, schon gar nicht auf die „Mißgeburt einer militairisch=patriotischen Regierungsform“, 88 die durch hegemoniale Kriege gegen andere Reichsstände aus dem Reichsverband ausschert. 89 Friedrich II. meint „daß, um Gesetze und Richter sich nichts bekümmern, die wahre Deutsche Freyheit seye“, deren Sinn es sei, Mächtige „noch mächtiger zu machen.“90 Die wirkliche Freiheit hänge hingegen von der konstitutionellen Reichseinheit und der Eintracht ihrer Organe ab. Die Freiheit noch des schwächsten Reichsstandes ist durch Wahl-, Stimm- und Beschwerderecht am Reichstag garantiert.91 Eine Territorialisierung und Multiplizierung von deutschem Patriotismus zerstört diese Ordnung: „Unsere Zeiten seynd so fruchtbar an Patrioten und Teutschland insbesondere ist mit so vielen Gattungen derselben heimgesucht, als vielerley Münzen wir haben. [.  .  .] es wäre wohl zu wünschen, daß wir auch einen Conventions=Fuß hätten, wie viel Patrioten auf die Marck fein zu rechnen seyen. Dann gewiß! es kann kein seltsameres Geschöpf erdacht werden als ein Teutscher Patriot [.  .  .]. In currentem Sinn ist ein Patriot derjenige so es gut mit sich selbst und seinem Herzen meynet, es mag seinem Nachbarn und dem ganzen übrigen Reich ergehen, wie es will.“92

Moser charakterisiert auch das erwünschte Pendant zu dieser Karikatur. Die Idealfigur des christlichen Politikers und das Konzept vom Nationalgeist bilden den individuellen und den allgemeinen Pol im Reichspatriotismus. Die individuelle berufsethische Ausprägung dieses Gedankens zeigt sich im Festhalten

kratische Denkwürdigkeiten, in: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, Band  2, hg. von Josef Nadler, Wuppertal 1999 [Nachdr. der Ausg. von 1950], hier 61. 87   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 27. 88   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 102. 89  Vgl. Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 8 f.16. – Vgl. auch Friedrich Carl von Moser: Was ist: gut Kayserlich, und: nicht gut Kayserlich? Franckfurt am Mayn: Zweyte verbesserte Auflage 1766. Hier führt Moser beflissen den Nachweis, dass das Haus Österreich immer wieder zur Verantwortung für das Reich zurückgekehrt sei. – Mosers Polemik gegen Friedrich II. ist insgesamt an Hamann geschult. Vgl. Friedrich Carl von Moser: Mannichfaltigkeiten, Zürich: Bey Orell, Gesner, Füssli und Compagnie 1796, Vorrede 4 f. 90   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 69. – Eine Wendung gegen den Begriff eines ‚Verfassungspatriotismus‘, die oberflächlich als Einwand gegen eine solche Interpretation Mosers ausgelegt werden könnte, zielt gegen die Loyalitätsverweigerung gegenüber dem Kaiser. Der Kaiser ist wiederum Verfassungsorgan. Vgl. Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 40. 91   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 9–12.36 passim.49.56 passim u.v.ö. 92   Moser: Beherzigungen, 243 f. – Vgl. §  4.1 (b) zur Figur des Sigest Mösers Arminiusdrama.

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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am Pflichtdenken93 gegenüber einem Tugendideal, wie es sich von der Moralistik aus im patriotischen Diskurs verbreitet hat.94 Patriotische Tugend ist Moser zu ungerichtet; da die Tugend letztlich immanent nach Glückseligkeit strebt, beeinträchtigt sie die patriotische Objektkonstanz, die ihrerseits von Gott gewährt wird.95 Außerdem ist der Tugendbegriff mit prominenten Versuchen liiert, das Christentum verächtlich zu machen. Tugend ohne Pflicht, Religion ohne Bekenntnis sind Gesellschaftslaster – „aeussere Ehrfurcht und Paradirung mit Religion und Tugend, ohne sich blos zu geben, welche Tugend und Religion man meyne; höchstens die Tugend von Sans=Soucy“.96 Zur Abgrenzung davon stellt Moser die Berufspflicht über die Tugend. Glücksstreben lenkt den christlichen Politiker nur ab. Glück, das ihm zufällt, darf sein berufliches Augenmaß schmücken. b)  Der „Staatsmärtyrer“ und seine Loyalitäten Mosers erfahrungsgesättigte Publizistik repetiert und steigert dieses Berufsethos. Der Reichspatriot sei „von wahrer Menschenliebe entzündet“ und stelle sich „ohne Ansehen einer Parthie oder Person und mit Verläugnung seines eigenen Nutzens und Schadens“97 in den Dienst der Sache. Mosers wahre Patrioten sind keine Fürstenknechte. Sie haben souveräne Persönlichkeiten und bilden eine reichsweite Elite, zu der „nur Männer [.  .  .] von edlem Herzen, unpartheyischer Denkungs=Art, bewährter Kenntnis der Geseze, leuchtender Menschen= Vaterlands, und Gerechtigkeits=Liebe“ gehören können.98 Der Christ im diplomatisch-politischen Beruf besteht im Rechtskonflikt mit der Landesherrschaft auf seinem Sachurteil und nimmt, an das himmlische Vaterland denkend, gegebenenfalls das Schicksal eines „Staatsmärtyrers“99 auf sich. Darin liege entschiedener Patriotismus,

  Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 19.43.103.   Moser verwendet den Tugendbegriff als untergeordneten ethischen Elementarbegriff. 95   Moser: Beherzigungen, 119.168 u. ö. 96   Moser: Beherzigungen, 77 f. sowie 120 f. zur „gemahlte[n] Tugend“ philosophischer Verächter des Christentums. 97   Moser: Beherzigungen, 248. 98   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 24 sowie ähnlich 27. 99   Vgl. zur konfessionellen Grundierung des Berufsgedankens Friedrich Carl Freiherr von Moser: Mannichfaltigkeiten, Erstes Bändchen, Zürich 1796, hier 319 ff. – Die zwei Teile des ersten Bandes behandeln ‚Regenten und Höfe‘, sodann ‚Ministers, Räthe und Diener‘. Der fragliche Bericht ‚Der unbiegsame Staats-Märtyrer; in dem Beyspiel des Freiherrn Henr.  v. Wiser [.  .  .] welcher wegen Beleidigung des Favorit-Ministers An.  1717. auf das Schloß zu Monjoye gefangen gesetzt worden und allda gestorben‘ umfasst 55 von ca. 180 Seiten des zweiten Teils. – Moser hat auch seinen Vater Johann Jacob Moser vor Augen, der als Minister mit dem despotischen Herzog von Württemberg in Konflikt geraten war und fünf Jahre als politischer Gefangener auf dem Hohentwiel einsaß. 93

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

„ob er zwar erkennet, daß sothane Freiheit das Mittel nicht seye, um ein schnelles Glück zu machen, in solchen Zeiten, wo die Redlichkeit, Verdienste und Fähigkeit wenig angesehen werden, ja daß sie auch manchmal schwere verfolgungen zuziehe [.  .  .], achtet er dessen nicht, sondern bittet Gott, daß er ihn bey der Wahrheit erhalte [.  .  .] und will lieber mit andern ehrlichen Leuten unten liegen, auch alles Gott, der Wahrheit und Gerechtigkeit zu liebe leyden, als etwa einem treulosen stolzen Haman oder Sejano verbunden seyn und heucheln“.100

Moser exemplifiziert das Zeugnis des Pflichteifers an Ministern und Räten, die sich um der guten Sache willen Verräter nennen lassen, aber den göttlichen „Herzenskündiger“ auf ihrer Seite haben.101 So werden Reichspatriotismus und eine christliche Grundhaltung vermittelt und das protestantische Berufsethos mithilfe des Märtyrerkonzepts transkonfessionell geöffnet.102 Die Pathosformel vom Martyrium überrascht bei Moser weniger als bei Abbt. Zum einen gibt Moser nicht vor, sein politisches Denken von christlichen Antrieben zu lösen. Zum anderen soll der hochgesinnte Staatsmann nur in Grenzsituationen die Selbstpreisgabe in Erwägung ziehen. Zwar ist auch der von Abbt vorausgesetzte Kriegszustand eine solche Grenzsituation, doch behält das zu den Waffen gerufene Individuum anders als Mosers Staatsmann in rechtlicher und ethischer Hinsicht nur geringe Entscheidungshoheit. Mosers Staatsmärtyrer bleibt aufgrund seiner sozialen Stellung Herr seiner Entscheidungen. Der Reichspatriot hält sich gegen Abbts enthusiastisch-aktivistisches Selbstopfer für König und Vaterland an eine ‚via passiva‘ der Duldung und nimmt gegebenenfalls schwere Einschränkungen in Kauf, um Zeugnis für die Heiligkeit des Römischen Reichs abzulegen. Moser musste Abbts Patriotismus als bedrängend-leichtfertige Vergröberung eines komplexen Affekthaushalts empfinden.103 c)  Topik der Einheit Moser kann keine messianisch-christologischen Topoi verwenden, da er nicht wie Abbt darauf zielt, Bürger für eine scheinbar endzeitlich bedrängte Monar100   Moser: Mannichfaltigkeiten, 239. – Haman als Höfling des Ahasver und Sejan als Prätorianergeneral des Tiberius gehören zum Topos des schlechten Ratgebers. 101   Moser: Mannichfaltigkeiten 319 ff.; vgl. auch Moser: Beherzigungen, 135. – Eigene Erfahrungen beim Landgrafen von Hessen liegen dem zugrunde. 102   Moser: Mannichfaltigkeiten, 189. 103   Abbt wurde bei Antritt seines Bückeburger Amts als Hof- und Regierungsrat von Nicolai und Mendelssohn vor allzu viel Vertraulichkeit mit dem Landesherrn gewarnt. Vgl. Nicolais und Mendelssohns Brief vom 23.  12. 1765 an Abbt, zitiert nach Thomas Abbts [.  .  .] vermischte Werke. Fünfter Theil welcher vermischte Aufsätze und Briefe enthält. Franckfurt und Leipzig. 1783; vgl. dazu Wilhelm Ludwig Federlin: Kirchliche Volksbildung und bürgerliche Gesellschaft. Studien zu Thomas Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann David Heilmann, Johann Gottfried Herder, Johann Georg Müller und Johannes von Müller, Frankfurt/Main u. a. 1993, 23–31, hier besonders 31.

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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chie zu mobilisieren. Er steht vor dem Problem, das Vaterland über die staatsrechtliche Expertise hinaus wahrnehmbar zu machen.104 Die Mühe um eine allen Gegebenheiten gemäße Formel für die deutsche Einheit zeigt sich schon am Anfang der Schrift ‚Von dem deutschen Nationalgeist‘ von 1765: „Wir sind Ein Volck von Einem Namen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, unter Einerley, unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesezen, zu einem gemeinschaftlichen großen Interesse der Freyheit verbunden“.

Das Glück ist jedoch kurz, denn „so, wie wir sind, sind wir [.  .  .] ein Räthsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereyen, [.  .  .] kraftlos durch unsere Trennungen, starck genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig uns zu retten, [.  .  .] ein in der Möglichkeit glückliches, in der Tat aber sehr bedauernswürdiges Volck.“105

Die Einheit ist de jure und sprachlich vorhanden, aber de facto weder hinreichend bewusst gemacht noch emotional verstanden. Die Fürsten versäumen, sich und ihre Nachfolger mit Kaiser und Reichstag vertraut zu machen; 106 durch Mißachtung mutiert die Verfassung zum „Räthsel“. Überdies besteht der militärisch-heroische Partikularismus meist in einer unpatriotischen Selbstschädigung.107 Moser vermag am buchstäblich verabsolutierten Partikularismus, wie von Friedrich II. betrieben und von Intellektuellen wie Abbt befürwortet, nichts patriotisch Gutes zu erkennen.108 Dagegen sei der größte patriotische Erfolg, ein zerrissenes Vaterland zu beruhigen.109 Gegen Abbt erweist sich das Nationalgeistkonzept als tragend, sofern damit der ‚objektive‘ Geist der Verfassung gemeint ist. Moser formuliert also enger als Montesquieu im ‚Esprit de Lois‘, was ihm Kritik einträgt, aber doch offener als die Nationalcharakterdebatte, in der ein einzelner Zug den Geist einer Nation erschließen soll. Moser setzt umgekehrt an wie Abbt, der davon ausgeht, angesichts ungenügend ausgebreiteter christlicher Sittlichkeit bedürfe der Staat einer alternativen Affirmation. Seine konservative Therapie sieht vor, die Nation in einem christlich grundierten Geist so zu reformieren, dass sie sich ihrer Verfassung wieder zuwendet. Auf diese Weise soll sich die Lücke zwischen Sein und Sollen im nationalen Geist schließen. Wo Abbt eine Leerstelle mit neu gestimmter Einbildungskraft füllt, erneuert Moser geistlich, um politische Konversio104  Vgl. zur nachhaltigen politischen Wirksamkeit dieses Reichsstandes Gestalten wie Reichsfreiherr von und zum Stein oder Fürst Metternich. 105   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 5. – Vgl. Zimmermann: Vom Nationalstolze, 42. 106   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 14 f. 107   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 15 ff. 108   Über die partikularistischen Patrioten äußert Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 48, „weder Enthusiasmus noch Befehl des Hofs“ könnten sie „rechtfertigen“. 109   Moser: Beherzigungen, 281 f.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

nen herzustellen. Herder hat Mosers Dekadenzpostulate als „fromme Misanthropie“ missbilligt.110 Die Geistmetaphorik dient in rhetorischer Hinsicht einem überraschend ähnlichen Zweck wie Abbts messianische Hoheitstitel für Friedrich II. Auch Moser sucht etwas Unsichtbares am Vaterland fühlbar zu machen. Doch er setzt nicht wie Abbt bei einer Visibilisierung durch den Monarchen an. Das ist ihm im Fall des Kaisers verwehrt.111 So beschränkt sich Moser auf die emotionale Intensivierung der inneren Einheit, der Eintracht. Nur auf diese Weise scheint sich die Kluft zwischen den über das Reich verstreuten wahren Patrioten und der Unanschaulichkeit des Reichs überbrücken zu lassen. d)  Pfingstliche Eintracht der Patrioten In ‚Von dem deutschen Nationalgeist‘ formuliert Moser zunächst ein negatives patriotisches Bekenntnis: „Wir kennen Uns selbst nicht mehr: / Wir sind Uns unter einander fremde geworden, / Unser Geist ist von Uns gewichen.“112 Die biblische Allusion benennt Entfremdung innerhalb der politisch verzweigten deutschen Nation als ihr Grundübel. Affirmativ wird der Geist der Einheit deshalb als Pneuma der Einigkeit beschrieben: Die patriotische Vereinigung von Politikern und Beamten tritt in postkonfessioneller Apostolizität zusammen, „ohne Ansehen der Religion und Verschiedenheit der Würde ihrer Herrn“,113 also nicht wie der Konvent eines Reichskreises oder wie eine Akademie. Im Zuge dieser politischen Rhetorik erzeugen pietistische Gedanken und Metaphern eine Aura, in der deutlich werden kann, wie sich der deutsche Nationalgeist als das Pneuma der patriotischen Einigkeit selbst organisiert: 114 „Das Deutsche Herz muß in einem freyen, sanfften, ungezwungenen Trieb dazu leiten; die Gelegenheiten dazu lassen sich nicht erzwingen, nicht einmal suchen, sondern nur finden und ergreifen“.115 Die Hallische Psychologie der Selbstbeobachtung auf Begnadungszeichen hin steht hier Modell für eine patriotische Haltung, die auf Gelegenheiten wartet, statt „erkünstelte Anstalten“ zu treffen.116   SWS I, 221.   Der Kaiser als Garant der äußeren Einheit kann nicht als Symbol der Eintracht dienen, da die Verhältnisse im Reich reformbedürftig sind. 112   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 7. 113   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 85. 114  Vgl. Thomas K. Kuhn: Das neuzeitliche Christentum und die Genese des Nationalismus als ‚Politischer Religion‘, in: Georg Pfleiderer/Ekkehard Stegemann (Hg.): Politische Religion. Geschichte und Gegenwart eines Problemfeldes, Zürich 2004, 131–157. Eine Verhältnisbestimmung zwischen dem frühen Patriotismus und dem Nationalismus um 1813 fehlt hier. 115   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 86. 116   Vgl. zu dieser Verhaltensfigur Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt, in: Geschichte des Pietismus 4. Glaubenswelt und Lebenswelten, hg. von Hartmut Lehmann in Verbindung mit Martin Brecht et. al., Göttingen 2004, 49–79, hier bes. zur Psychagogik 110 111

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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Auch Herrnhutische Herzenssprache stellt sich ein.117 Große patriotische Politik und militärischer Zwang sind jedenfalls keine Instrumente für das, was Moser als die innere Eintracht von der formalen Einheit der Nation unterscheidet. Der Vorwurf der Erkünstelung zielt auf Abbts Instrumentalisierung einer militärischen Dauerkrise, grundsätzlich aber auf alle Institutionalisierungsversuche zur Nationsbildung, die sich den geeigneten Zeitpunkt entgehen lassen oder ihn vorwegnehmen wollen. Moser hat ein weisheitliches Geschichtskonzept. Um der Greifbarkeit der Nation willen sind Institutionalität und die Zeitlichkeit des Geistes jedoch unverzichtbar. Moser verlässt sich dafür wie schon in der berufsethischen Charakterisierung des christlichen Staatsmanns auf das rhetorische Exemplum und beschreibt die seit 1761 um den Basler Juristen und Ratsschreiber Isaak Iselin118 versammelte ‚Helvetische Gesellschaft‘ als Muster einer zeitgeschichtlichen Manifestation patriotischer Einigkeit.119 Die Gesellschaft sei oft zusammen gewesen, bevor sie in Iselins Haus „der patriotische Geist mit einem so mächtigen Enthusiasmus durchwehete, der nachhero den Grund zu ihrem so wichtigen und erweiterten Bunde gelegt hat; die Häupter des Staats waren nicht die erste desselben, die Begeisterung geschahe durch einen Arzt, der ein schöner Geist und ein Patriot ist; sie bothen aber seinen Rathschlägen Ohren und Hertzen dar und Greise sturben frölich, da sich noch am Rande des Grabes die Hoffnung besserer Zeiten vor ihnen verklärte.“120

Die Schweizer Patrioten haben auf das Geistgeschehen gewartet wie die einstige und in ländlichen Dörfern noch überdauernde Bewegung der Inspirierten, die einer göttlichen Geistunmittelbarkeit zutrauten, was sie dem Kirchenwesen absprachen: Einigkeit im Namen Jesu.121 Nur ohne zu viel auf einmal zu wollen, konnten die Patrioten überhaupt zum politischen Erfolg kommen. Die abwar58–65; vgl. zum Warten-Können auf Gott Hans-Martin Kirn: Trauer und Melancholie bei Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internaionalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. von Udo Sträter et. al., Halle/Tübingen 2005, 571–583. 117  Vgl. Michele Cassese: Herkunft der Herzensreligion von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internaionalen Kongress für Pietismusforschung 2001, 187–199; vgl. weiterführend Hans-Jürgen Schrader: Die Sprache Canaan, in: Geschichte des Pietismus 4, 404–427, hier bes. 408.412. 118   Isaac Iselin: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, Zürich: Bey Bey Orell, Gesner, Füssli und Compagnie 1762. 119  Auch in der Schlusspassage dominiert die Orientierung an den Schweizern. Moser wähnt die Gemüter unbetroffen von der kantonalen Partikularität. Der Wunsch nach Ähnlichkeit wird zum Vater des reichspatriotischen Gedankens: Die Deutschen seien durch die kaiserliche Selbstbindung zu Schutz und Erhaltung der Gesetze und Freiheiten ihrerseits Eidgenossen: „wir alle leben unter dem Schutz des großen politisch=religiosen Friedens=Bundes, welcher in der Sprache der Gesetze selbst ‚das immerwährende Band zwischen Haupt und Gliedern, und dieser unter sich selbsten‘ genennet wird“ (Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 106 f.). 120   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 86 f. 121   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 105 passim.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

tend-sammelnde Haltung wird zusätzlich durch Metaphern aus dem pietistischen Chiliasmus, wie der „Hoffnung besserer Zeiten“ oder der eschatologischen Rede von einer „Patrioten=Stunde“ und einem institutionell und geschichtlich wirkenden „Tag des Heils“122 verstärkt. Die aus verschiedenen Spielarten des Pietismus wie Versatzstücke gemischten Topoi mahnen die patriotische Intentionalität zum Ablassen von einer Eile, die der Selbstorganisation von Eintracht vorgreift. So legt sich Moser die Antizipation der nationalen Einheit in ihrer politischen, konfessionellen und kulturellen Vielzüngigkeit mit dem Geist pfingstlicher Sammlung zurecht. Nach Herstellung der Eintracht kommt es zum Subjektwechsel: Das patriotische Pneuma übernimmt die Führung zur politischen Einheit der Nation. Mit dem Übergang von der inneren Eintracht zur äußeren Einheit manifestiert sich der patriotische Geist endgültig. Enthusiasmus in kleiner Runde genügt nicht. Während Abbt die absolute Spitze des Staates als Symbol vor Augen malt und sie als Parole todesbereiter Einigkeit ausgibt, steht Moser eine solche Verdichtung nicht zu Gebote, da es sich beim Reich hinsichtlich Staatsform, Repräsentation der Nation und ethischer Verbindlichkeit um ein äußerst komplexes Gebilde handelt. Dass sich die jeweiligen Perspektiven auf die Einheit ihrer Partikularität oft nicht einmal bewusst sind, ist der Komplexitätsvergessenheit deutscher Reichsstände und ihrer Staatsrechtler geschuldet. In einer solchen Lage müssen wahre Patrioten zwangsläufig „gottseelige, redliche, standhaft gedultige“ und „von aufrichtigem Willen“ zur Besserung des Vaterlands geprägte Personen sein.123 e)  Nationale Institutionalität und Ekklesiologie Für die Institutionalität der Nation argumentiert Moser handgreiflicher als in der Konstruktion von Eintracht. Neben der Sammlung wahrer Patrioten gilt es Verhältnisse zu schaffen, in denen wahre Patrioten entstehen können, wofür es landesfürstlicher Anstrengungen im Bildungswesen bedarf. Diese aufklärerische Normalforderung bildet keine grundsätzliche Differenz zu Abbt, dessen größeres abgeschlossenes Werk in Bückeburg eine Bildungsreform war.124 Die Unterschiede liegen in Bildungsinhalten und Durchführungsbestimmungen. Moser konzentriert sich auf die Jurisprudenz, d.i. auf deren soziale Verwerfungen in der Judikative, auf Praxismangel in der Ausbildung und die territorialpo  Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 86.   Moser: Beherzigungen, 247 f. – Hermann vom Busche: Friedrich Carl Freiherr von Moser. Aus seinen Schriften sein Geist an das neunzehnte Jahrhundert, Stuttgart 1846, betont diese Konvergenz, bedauert aber ihr Fehlen bei seinen Zeitgenossen. Er verweist auf die Verfassungspublizistik Mösers, Schlözers und Mosers und meint, die Feinde der Revolution könnten aus ihr lernen, „daß die Revolution selbst in Deutschland vor der [französischen] Revolution dagewesen ist.“ (Busche: Moser, VI) 124   Vgl. zu den Einzelheiten Federlin: Kirchliche Volksbildung, 43–54. 122 123

2.2  „Das liebe heil’ge Römsche Reich“

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litische Korruption der staatsrechtlichen Urteilsfindung.125 Für fatal hält der Verteidiger des nationalen Sinns der Reichsverfassung insbesondere den Verlust an Kenntnissen zur Libertät der Reichsgesetze, der zu Gleichgültigkeit bei ihrer Befolgung und Sorglosigkeit bei ihrer Erhaltung führe.126 Finanziert werden soll das Reformvorhaben durch reichstreue Stände.127 Dass es sich dabei um die von Moser kritisierten Patrikulargewalten handelt, scheint ihn nicht zu stören. Mosers pfingstlicher Verfassungspatriotismus überbrückt aber nicht nur Trennungen des staatlichen und rechtlichen Lebens. Vielmehr wird die Spaltung des Christentums in Religionsparteien als der zweite nationale Notstand neben dem Zustand der Judikative charakterisiert. Handlungsbedarf erwächst aus der Überzeugung, dass „keine Liebe und kein Haß [.  .  .] stärker [sei], als wobey die Religion zum Grund liegt, oder mit eingemischt wird“.128 Im Gegensatz zu dieser Diagnose ist Mosers Therapie nicht eindeutig. Einerseits setzt sie auf ein evangelisches Berufsethos und die lutherische Denkfigur einer Reform ‚von oben‘. Andererseits stellt sie dem „unruhigen Geist der Clerisey“,129 der Misstrauen zwischen den Bürgern nährt, das pietistisch angemusterte Bekenntnis zu einem diesen Ungeist befriedenden Gemeingeist entgegen. Letztendlich werden die Elemente zu einer Reformation ‚von oben‘, die durch reichspatriotischen Geist ‚von unten‘ vorbereitet und belebt wird, kombiniert. Eine gewisse Unschärfe in dieser nationsbildenden Kombinatorik kann aufgrund ihres Personalismus und ihres Appellcharakters bestehen bleiben.130 Die Manifestation der Nation bleibt aporetisch: Wenn Moser partikularismuskritisch fordert, die deutsche Nation im Reich müsse „wieder Ein Vaterland glauben, so wie wir Eine christliche Kirche glauben“,131 spielt er gegen sein politisches Interesse auf die protestantische Ekklesiologie an, die den Glauben an die Unsichtbarkeit der Kirche auf Dauer stellt. Der Glaube an nationale Einheit 125   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 21 passim. In der Forderung, zur „Billigkeit“ in der Urteilsfindung anzuhalten (Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 71), zeigen sich Spuren Luthers. Vgl. Martin Luther: Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, in: WA 19, 632.634.637. Moser war nicht nur wie Hamann Lutherleser, sondern auch Herausgeber einer Anthologie: Friedrich Carl von Moser: Doctor Luther’s Fürsten-Spiegel von Regenten, Räthen und Obrigkeiten, auch der Welt Art, Lohn und Dank, Franckfurt am Mayn: Bey Johann Gottlieb Garbe, 1783. 126   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 67. 127   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 89 f. 128   Ebd. – Vgl. auch die Klage über die uneindeutige kaiserliche Zensur gegenüber Publikationen, die gegen die ‚Pax Westphalica‘ gerichtet sind. 129   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 28. 130   Ein Mittel zur Aufklärung über konfessionelle Vorurteile ist die Bildungsreise. Reisend würden „der Ober= und Nieder=Sachse [.  .  .] wahrnehmen, daß unter den Catholischen Geistlichen noch verständige, gelehrte und billige Männer sind, [.  .  .] daß das Auto di Fé [sic] der geistlichen Höfe höchstens an den Schenck=Tischen gehalten werde und daß er ganze Provinzen durchreisen kann, worinn Catholische und Evangelische in Friede und Eintracht leben.“ (Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 94 passim) 131   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 75.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

greift wie die Hoffnung im Hebräerbrief auf etwas vor, das man noch nicht sieht, dessen man aber gewiss ist. Wie ein Niederschlag der Hoffnung nehmen sich jene patriotischen Vereinigungen aus, die der geglaubten Einheit die gefühlte Eintracht unterlegen. Dabei soll „ein ganz gesetzmäßiges und einträchtiges Deutschland auf dieser Welt sichtbar werden“.132 Die Freiheit im Inneren des Vaterlands erscheint dann gleichsam wie von selbst. Man muss nur die „Decke von Vorurtheilen“ wegziehen, die über den Deutschen hängt wie über dem Gesicht der Korinther.133 Auf den zweiten Blick erweist sich Mosers Sichtweise ähnlich von antizipatorischer Phantasie gesteuert wie Abbts Gefühlspatriotismus.

2.3  „Teutsche Libertät“ und Christentum – Mösers nationalgeschichtliche Perspektive Abbt und Moser treffen sich in der Unterordnung freiheitlicher Belange unter die Einheitlichkeit des patriotischen Objekts. Außerdem argumentieren beide mit rhetorisch wohlgezieltem Enthusiasmus, den sie durch Biblizismen sublim machen. Verglichen mit diesen Entwürfen politischer Religion vertritt Justus Möser eine skeptische Position.134 Für den im Stift Osnabrück politisch und administrativ erfolgreich tätigen und erfahrenen Möser135 wird die Freiheit zum Kriterium nationaler Einheit. Von diesem Kriterium aus wird auch das Verhältnis von Christentum und Nationsbildung bestimmt.136 a)  Mösers satirische Offensive gegen den „Nationalgeist“ In einer von Abbt für die ‚Allgemeine deutsche Bibliothek‘ erbetenen Rezension von Mosers ‚Nationalgeist‘-Schrift kommen zentrale Punkte von Mösers patriotischem Denken zur Geltung. Auf der Linie bürgerlicher Adelskritik wirft der Rezensent dem Verfasser eine Engführung des Nationsverständnisses   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 71.   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 107. 134   Möser hat ihr schon 1749 mit dem Jugend-Drama ‚Arminius‘ literarisch Ausdruck verliehen. Vgl. 4.1 (b). – Vgl. zu Möser insgesamt die hervorragende Monographie von Renate Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Tübingen 1991. 135   Möser hatte als Syndikus der Ritterschaft, als Deputierter der Stände von 1756 bis 1763 und als Landesdeputierter bei der britischen Krone politische Erfahrungen gesammelt. Vgl. zu Mösers Wirkungskreis ‚Circulation der Ideen‘. Justus Möser und die Aufklärung in Nordwestdeutschland, hg. von Winfried Siebers et. al., Osnabrück 1991. 136   Möser stand weder im Verdacht der Heterodoxie (Abbt) noch beflissener Frömmigkeit (Moser). Vgl. zu Kollisionen mit der Zensur die Vorrede von Mösers Tochter zur Ausgabe Justus Möser’s sämmtliche Werke, hg. von seiner Tochter Jenny W. J. von Voigts, geb. Möser, Berlin: Nicolai 1858. Diese Ausgabe wird im Folgenden als SW zitiert. 132 133

2.3  „Teutsche Libertät“ und Christentum

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auf die Akteure höfischer Politik vor.137 Fürstliche Herren und ihre Diener bildeten die dünne Trägerschicht von Mosers Nation,138 der seine Schrift besser „der Geist der deutschen Höfe betitelt“ hätte.139 Damit wird auch Mosers christlicher Staatsmärtyrer weggefegt: „am Hofe lebt nicht der Patriot, nicht der Mann, der zur Nation gehört, sondern der gedungene Gelehrte, der sich schmiegende Bediente, und der Chamäleon“.140 Ein christlich gesinnter Politiker, so die Pointe, ist bei Hof funktionslos. Die angeblichen Patrioten sind „Thürwärter der Nation“, aber keine Märtyrer eines nationalen Gemeinsinns.141 Die Kritik wird Mosers Pointen gegen unpatriotische Staatslenker und Hof­ intrigen nicht gerecht.142 Wichtiger ist jedoch die verfassungsrechtliche Argumentation, von der aus Möser das Spektrum seiner Anfragen auffächert.143 So stimmt er in der zweiten Rezension dem negativen Urteil eines anderen Moser-Rezensenten zum Reichsoberhaupt als nationalem Einheitsgaranten zu.144 Der Zitierte entwirft die Vision eines kaiserlichen Zentralismus in Deutschland, wonach der durch „Überreste von angewöhnter [.  .  .] Liebe“ verheimlichte Ärger an den „vielen Vätern des Vaterlandes“ unter einem Oberherrn und seiner Bürokratie öffentlich und „gar bald in [.  .  .] allgemeine Empörung“ verwandelt würde.145 Dieser Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass sich unter den Bedingungen eines reichsweiten Absolutismus die territorialabsolutistische Auspressung der Subjekte „[.  .  .] zur Ehre Gottes, zur Errettung ihrer sonst verdammten Seelen, zur Erhaltung einer Vorläuferin oder Begleiterin des Ehestandes, zur Erbauung der Wassermühlen auf den Gipfeln der Berge, zur Errichtung einer christfürstlichen Parforcejagd [oder] zur Anwerbung einer Armee Marionetten [.  .  .]“

137   Justus Möser: Zwei Recensionen aus der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Von dem deutschen Nationalgeiste, in: Ders.: Kleinere Schriften. Vermischtes: Aus Möser’s frühester Periode, in Zeitschriften Erschienenes. Fragmente. Historisches, über Klöster und Stifter, hg. von B. R. Abeken, Justus Möser’s sämmtliche Werke. Neu geordnet und aus dem nachlasse desselben gemehrt durch B. R. Abeken, Neunter Theil, Berlin 1843, 240–249, hier 242. 138   Die Spitze spielt an auf Friedrich Carl von Moser: Der Herr und der Diener: geschildert mit patriotischer Freyheit von 1759. 139   Möser: Zwei Recensionen, 243. 140   Dieses und das nächste Zitat Möser: Zwei Recensionen, 242. 141   Georg Büchners geflügeltes Wort von den Türhütern der Revolution mag von hier stammen. – Vgl. zur Schärfe von Mösers Adelskritik Jürgen Schlumbohm: Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß, Göttingen 1973, 34 passim. 142   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 92 f.100 passim. 143   Vgl. schon Erwin Sadowski: Justus Möser als Politiker, Königsberg 1921; vgl. vor allem Stauf: Justus Mösers Konzept, 81–93. 144  Hofrat Bühlau, Lindau 1766. 145   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung SW IX, 248.

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noch verstärken würde. Möser hält diese Prognose für trostlos und die verfassungsmäßige Erhaltung der äußeren nationalen Einheit für fruchtlos, wenn sie Freiheiten der Untertanen bedroht. Ohne diese Freiheiten kann es weder eine politische noch eine kulturelle Nation geben. „Regierungsformen“, so legt er nach, laufen „nicht eine Minute nach der Linie [.  .  .], welche ihnen der seufzende Gelehrte in seiner Studirstube anweiset.“ In Staatstheorie und Reichsrecht wird das Politische zur Herrschaftsform und damit zum Papiertiger abstrahiert. Daneben trifft Mösers Kritik ein Standesvorurteil Mosers. Dieser missachtet aufgrund einer klassenspezifischen und personalhistorischen Fixierung die Komplexität nationalen Lebens und damit das deutsche Gesamtinteresse.146 Daraus ergibt sich ein an ständischen Privilegien orientiertes Denken, das poli­ tische Freiheit als obrigkeitliches Zugeständnis erwartet. Angesichts dieses Strukturproblems ist die bloße Streichung der höfischen ‚Staatsintrige‘ aus dem Bild der Nation ungenügend. Die Frage nach der Nation muss überhaupt anders gestellt werden. Sie muss dem potentiellen Subjekt der Nation und dem Ausmaß seiner Freiheit gelten.147 Die Aussichten für eine freiheitliche Wendung des patriotischen Diskurses sind jedoch ungünstig: „In den Städten sind verfehlte und verderbte Copieen; in der Armee abgerichtete Maschinen; auf dem Lande unterdrückte Bauern.“148 Möser resigniert jedoch nicht zu einem Zivilisationspessimismus.149 Vielmehr benennen seine Fehlanzeigen zu potentiellen nationalen Subjekten den Schaden an der jeweiligen Lebensform: Die deutsche Stadtkultur kopiert bloß die französische, diese kopiert die Pariser Urbanität. Das Fehlen einer nationalen Kulturmetropole, die in die deutschen Territorien und ins Ausland wirkt, ist durch Reichsstädte und territoriale Residenzen nicht zu kompensieren.150 Mit dem deutschen Stadtleben ist kein Nationalstaat zu machen, es lässt das Originäre vermissen. Die Armeen scheinen Möser ebenfalls völlig untauglich zur nationalen Repräsentativität. Sie sind nur ausführende Maschinen für Kabinettsbeschlüsse. Dass sie überhaupt unter die nationsbildenden Lebensformen gezählt werden, liegt an Mösers Englandkenntnis: 151 Ihm stehen der rangübergreifende   SW IX, 246 f.   Die Skepsis gegenüber Moser trägt Möser aber keineswegs ganz ins Berliner Lager, wie Nicolais vereinnahmende Biographie suggeriert. Dort ist die Luft für eine Befreiung der Landeigentümer zu dünn und die Skepsis gegen die positive Religion zu groß. 148   SW IX, 241. 149   Vgl. zu diesem Punkt rousseaukritisch Justus Möser: An den Vicar in Savoyen abzugeben bei Herrn Johann Jakob Rousseau, von 1777. SW V, 230–251. 150   SW IV, 298 f. 151   Vgl. zu den Ambivalenzen in Mösers Englandbild Michael Maurer: Justus Möser in London (1763/1764). Stadien seiner produktiven Anverwandlung des Fremden, in: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, hg. von Conrad Wiedemann, Stuttgart 1988, 571–583; weiterführend ‚O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll‘. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, hg. von Michael Maurer, Frankfurt/Main 1992, hier die Einleitung 7–39. 146 147

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Zusammenhalt und das politische Bewusstsein in Cromwells Revolutionsarmee vor Augen.152 An der gedrückt lebenden Landbevölkerung zeigt sich endlich, wer die Nation bilden sollte: „Die Zeit, wo jeder Franke oder Sachse paterna rura (das ist sein allodial-freies, von keinem Lehns= oder Gutsherrn abhangendes Erbgut) bauete, und in eigener Person vertheidigte, wo er von seinem Hofe zur gemeinen Landesversammlung kam, und der Mensch, der keinen solchen Hof besaß, wenn er auch der reichste Krämer gewesen wäre, zur Klasse der armen und ungeehrten Leute gehörte, diese Zeit war im Stande, uns eine Nation zu zeigen. Allein die gegenwärtige ist es nicht“.153

Die Nation ist und bleibt vorerst unsichtbar. Die Subjekte für eine freie Nation erscheinen nur ex negativo. Die einst breite Schicht von freien bäuerlichen Landeigentümern versammelt diejenigen Züge auf sich, deren ein Bürgerstand zur Nationsbildung bedürfte, über die er aber nicht verfügt. Die einstigen Landeigentümer zeichnen sich hingegen nicht durch ökonomische Selbständigkeit, individuelle Rechtsfähigkeit und politische Handlungsfähigkeit aus, sondern sind vielfach leibeigen, rechtlich schutzabhängig und politisch einflussarm.154 Trotz freiheitlicher Züge in den deutschen Verfassungen ist die Nation empirisch weit von einem Zustand entfernt, der einem vertragstheoretischen Modell der Staatsnation die Blässe des Gedankens nähme. Um in der politischen Nationsbildung weiterzukommen, muss man deshalb die Faktoren des nationalen Lebens umfassend untersuchen. b)  Analyse des Freiheitsdefizits Durch diese theoretische Erkenntnishaltung ist Mösers Perspektive auf das Christentum vorgezeichnet. Dabei impliziert die Superiorität des Freiheitsproblems über die Einheitsfrage eine analytische Haltung gegenüber den Lebensverhältnissen, da man für das Reich oder auch einen Territorialstaat allenfalls nationale Einheit behaupten kann, nicht aber Freiheit. Das Christentum wird deshalb in seinen konfessionellen Erscheinungsformen auf Züge hin begutachtet, die der nationalen Freiheit entgegenstehen oder sie fördern. Die Konturen dieses bemerkenswert funktionalen Christentumsverständnisses155 zeigen sich 152   Die Struktur der englischen Parlamentsarmee wirkt noch in der französischen Revolutionsarmee nach, die sich ebenfalls als Repräsentationskontext des ganzes Volkes versteht – und Bonaparte wurde am 18. Brumaire als ,Cromwell‘ attackiert. – Patriotische Phantasien, IV. Theil, No.  LVI. ‚Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?‘, wie auch andere Texte, verraten jedenfalls äußerst präzise Kenntnisse. 153   Möser: Zwei Recensionen, 242. 154  Wenn Möser gelegentlich die Leibeigenschaft rechtfertigt, ist eine historische Relativierung innerhalb seiner Freiheitsgeschichte der Grund dafür. 155   Vgl. zur Entstehung einer funktionalen Selbstbeschreibung protestantischer Ekklesiologien nach wie vor Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion

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in dem Doppelwerk ‚Osnabrückische Geschichte‘ und ‚Patriotische Phantasien‘, das ab 1768 erscheint. Möser will mit diesem Großentwurf zur Nationalgeschichte die konzeptionellen Fragen des deutschen ‚nation building‘ beantworten. Auf den ersten Blick verwundert dieser Anspruch bei einer lokalgeschichtlichen Untersuchung, die durch ‚Patriotische Phantasien‘ in Gestalt anekdotischer und traktathafter Kleintexte begleitet wird. Historie scheint hier noch stark vom rhetorischen Modell der pluralischen Historien bestimmt. Mösers literarisierte Historiographie strebt allerdings weg von diesem Modell: Zum einen erschließt sie aus den Mängeln von Nationalcharakterdebatte, Reichspublizistik und Nationalgeistbegriff eine gesonderte Option auf Nationsbildung. Diese Option ist aber nicht einfach gegeben, sie ist noch zu erstreben. Die Suchrichtung steht durch den wesentlichen Mangel der anderen Optionen fest, der in einer Unterschätzung des Freiheitsmoments besteht. Zum anderen verortet Möser sein Doppelwerk im Zusammenhang einer Entrhetorisierung der Historiographie, die sowohl von der Historiographie als auch von der Ästhetik ausgeht. Die Historiographie trennt sich von der rhetorischen ‚Moral der Geschichte‘, wie sie die Exempla-Tradition geprägt hat. Sie stellt strukturgeschichtliche Ansätze gegen die gegenwartsbezogene Übertragung starker Affekte anhand von großartigen Heldenfiguren.156 Umgekehrt löst sich das historiographische Schreiben aus dem Rahmen der Rhetorik und der rhetorischen Ästhetik.157 Dennoch bleibt die Geschichtsschreibung ‚Schöne Wissenschaft‘, ihre ästhetisch rhetorischen Züge ermöglichen sogar die strukturgeschichtliche Umbildung; was vom innerrhetorischen Widerstreit der Dichtungsauffassungen zu sagen ist, gilt auch für die Historiographie. Möser opfert als Historiograph gleichsam der Muse Klio.158 Seine Texte sind Elemente einer Überzeugungsgeschichte. So können freiheitsgeschichtliche Perspektive und sachliche Umformung der Historiographie in einer literarisierten Problemgeschichte konvergieren. Ein fiktionaler Zug in der ‚Osnabrückischen Geschichte‘ ist notwendig, um die Abwesenheit eines handlungsfähigen nationalen Subjekts auszugleichen. Möser muss die Leerstelle bezeichnen, um deretwillen die Recherche überhaupt des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 1966; vgl. weiter Ders.: Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991. 156   Vgl. hierzu Stauf: Justus Mösers Konzept, 153 ff., ähnlich gegen die Personifikation des Staates 145. 157  Vgl. Jörn Rüsen: Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion, in: Reinhard Koselleck (Hg.): Theorie der Geschichte, München 1982, 14–37. 158  Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept, 147. – Vgl. zur gattungstheoretischen Diskussion der historiographischen Schreibweise sowie zu ihrer allmählichen Auflösung Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Darstellung, in: Reinhard Koselleck (Hg.): Theorie der Geschichte, München 1982, 147–192.

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stattfindet: So wird die ‚Teutsche Libertät‘ zur Protagonistin.159 Der die Nationalgeschichte periodisierende Bezug auf Freiheitskonzepte und Freiheitsgebrauch sichert die ‚Einheit der Handlung‘.160 Ohne diese fiktionale, dramaturgisch aufgefasste Einheit scheint es unmöglich, die Konflikte der zentralen und partikularen Gewalten in der deutschen Geschichte aufzuzeigen. Diese Konflikte verhindern die Konstitution einer politischen Nation nach westeuropä­ ischem Muster. So heißt es zur Lage der Nation im Spätmittelalter: „Die verbundenen Städte und ihre Pfahlbürger geben zwar der Nation Hoffnung zu einem neuen gemeinen Eigentum. Allein, die Hände der Kaiser sind zu schwach und schlüpfrich, und anstatt diese Bundesgenossen mit einer magna carta zu begnadigen und sich aus allen Bürgern und Städten ein Unterhaus zu erschaffen, [.  .  .] müssen sie gegen solche Verbindungen und alle Pfahlbürgerschaft ein Reichsgesetz übers andere machen.“161

Indem er ausgebliebene politische Weichenstellungen thematisiert, entzieht Möser der Nationalcharakterdebatte ihre fahrlässig ontisierende Grundlage.162 Der Konflikt bei der deutschen Nationsbildung beruht demnach nicht auf einer kollektiven charakterlichen Untauglichkeit zu freiheitlichen Einrichtungen, sondern auf dysfunktionalen Entscheidungskonstellationen, die zusammen „das prächtigste Schauspiel“ ergeben.163 Die Rede vom Nationalcharakter suggeriert eine physiognomische Unveränderlichkeit, die bei Nationen mit unabgeschlossener staatlicher Entwicklung ein unglückliches Bewusstsein erzeugt. Daher setzt Möser auf die relative Unfertigkeit der deutschen Nationalgeschichte, der er eine einheitliche ‚Handlung‘ unterstellt. Sie könnte vielleicht auch als ein Bildungsroman gelesen werden, der die Inkommensurabilität jeden individuellen Werdegangs thematisiert, ohne diesen charakterpsychologisch zu sistieren.164 Möser hat jedenfalls in ‚Über die deutsche Sprache und Literatur‘ von 1781, seiner Gegenschrift zu Friedrichs II. ‚De la litterature allemande‘, die Konvergenz von fehlenden nationalen Gesamtbegebenheiten, fehlender Weltgewandtheit der Autoren und fehlender Indivi159  Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept, 167. – Vgl. zu den abstrakten ‚Akteuren‘ in der Historiographie und zum Konflikt zwischen erklärenden und erzählenden Geschichtsmodellen nach wie vor Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Band  I : Zeit und historische Erzählung, München 1988, 263–338. 160   Vgl. zum literarästhetischen Zusammenhang Stauf: Justus Mösers Konzept, 143–157, hier bes. 145.149.153. 161   SW XII/2, 50 f. 162   Dies geschieht sarkastisch unter dem Hinweis, der Charakter der europäischen Nationen sei erschreckend ähnlich, sobald sie „propter majorem Dei gloriam“ oder auch nur „ad conservationem sui ipsius“ aufeinander losschlügen. Vgl. Möser: Zwei Recensionen, 244. 163   SW XII/2, 57. 164   Vgl. dazu Hilmar Kallweit: Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie. Zur Charaktersisierung der pragmatischen Geschichtsschreibung, in: Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel historischen Denkens, hg. von Horst Walter Blanke/Jörn Rüsen, Paderborn u. a. 155–157.

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dualität bei Romanfiguren der Gegenwartsliteratur noch einmal betont.165 Diese literarästhetische Mängelanalyse lässt die Nationsbildung als subjektive Selbstsuche transparent werden. In der politischen Konsequenz kann Möser bei aller von Montesquieu angelesenen Reserve auch Revolutionen als unausweichliche Ereignisse im Leben einer Nation bestimmen166 – ein Gedanke, der wenig später in der Treue der US-Verfassungsväter zu ihren Freiheiten, die sie zu Revolutionären werden ließ, eine gewichtige praktische Entsprechung findet.167 Das Christentum hat für diese Beschreibung der Nationsbildung drei Funktionen: Zum einen wird die christliche Konfessionskultur in die Strategie einbezogen, Nationalgeschichte als Geschichte von Freiheitskonflikten zu dramatisieren. Aus dieser Anlage entsteht ein Bedürfnis nach charakteristischen Figuren als Trägern einer nationalen ‚Handlung‘, die trotz Konflikten einheitlich ist. So finden sich Repräsentanten der christlichen Konfessionskultur in einem Rollenmodell, das besonders durch die ‚Patriotischen Phantasien‘ Substanz erhält. Anachronistisch könnte man sagen, Möser entwerfe eine Soziologie des Christentums im nationalgeschichtlichen Interesse. Zum anderen weist Möser gegen die Reduktionismen von Nationalcharakterdebatte und Reichspublizistik nach, wie komplex das nationale Leben sei. Das Bild nationalen Lebens wird deshalb durch soziale und psychologische Darstellungen zeitgenössischer Frömmigkeit angereichert. Manche dieser Frömmigkeitsformen beansprucht Möser für die Deutung des Sinns von Geschichte selbst, womit sie die Funktion theologischer Deutungsmuster erfüllen. Andere Frömmigkeitsformen erschöpfen sich darin, die Darstellung des nationalen Lebens in sozialer Hinsicht zu diversifizieren. Die dritte Funktionsbestimmung des Christentums ergibt sich aus der exemplarischen Darstellung der beiden anderen. c)  Soziologie des Christentums mit patriotischer Phantasie Mösers Soziologie des Christentums lässt sich am Problem des ‚Hollandgehens‘ exemplifizieren, das in der westfälischen Provinz patriotisches Gewicht hatte. Möser prüft zur Beantwortung der Frage, ob das Migrationsverhalten deut  SW III, 71 passim.   Vgl. z. B. die Miszelle von 1791 ‚Wann und wie mag eine Nation ihre Constitution verändern?‘, in: SW, V 177–180. Möser diskutiert hier die Verteilungsgerechtigkeit von Nationalgütern als Revolutionsmotiv. Vgl. zum Revolutionsbegriff Karl H. L. Welker: Warum Möser, Göttingen 2007, 23. 167   Möser veröffentlichte in der Berlinischen Monatsschrift seit 1787 ‚Briefe aus Virginien‘. Mösers Verknüpfung von politischer bürgerlicher Freiheit und Landeigentum ist möglicherweise in höherem Maß von den amerikanischen Verhältnissen geprägt als bisher von der Forschung angenommen. Nicht zu vernachlässigen ist dabei der persönliche Kontakt mit Benjamin Franklin durch Besuche in Bad Pyrmont. Vgl. Welker: Warum Möser, 13.17. 165

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scher Saisonarbeiter unpatriotisch sei, die ökonomischen Bedingungen ihres Handelns. Tugendhaft, witzelt Möser aristotelisch, sei das, was zu einem guten Zweck tauge.168 Das Hollandgehen tauge zur ökonomischen Fundierung politischer Freiheit, weshalb nichts dagegen spreche.169 Merkantiler Dirigismus sei falsch gegenüber Leuten, deren „Bewegungsgründe“ angesichts ihrer Risiken für „Gesundheit und Leben“ stark sein müssen. Daher steht eigentlich der Patriotismus des Gesetzgebers zur Disposition, der die Eigentum erstrebenden Untertanen unterstützen sollte.170 Im vierten Teil der ‚Phantasien‘ werden die zuvor analysierten Objekte als Erscheinungsformen des Patriotismus inszeniert: Ein junger Hollandgänger verdient sich Wohlstand und die Zuneigung seines Arbeitgebers. Er verspricht entgegenkommend den Winter über zu bleiben, statt wie die meisten Saisonarbeiter nach Hause zu gehen, doch wird er buchstäblich krank vor Heimweh. Als geklärt ist, dass nur die Heimreise seinen Zustand verbessern kann, verbessert dieser sich dermaßen, dass der junge Mann nun doch in Holland überwintert und noch wohlhabender wird. Schließlich kehrt er nach Westfalen zurück, um „dort mit seinen herrlichen Sachen zu glänzen“.171 Möser illustriert das Innenleben der potentiellen Nation. Er zeigt im Allgemeinen, was es heißt, für bescheidenen Wohlstand und etwas Freiräume Risiken zu übernehmen, und lässt am heimwehkranken Hollandgänger aus der vorindustriell breiten Unterschicht sein eigenes Patriotismusverständnis durchblicken. Der Hollandgänger beantwortet die Titelfrage der Anekdote: ‚Was ist die Liebe zum Vaterlande?‘ klar und deutlich: „Er sprach von nichts als seinen lieben Eltern und Freunden; die Heiden, worauf er geboren war, kamen ihm so reizend und der Nebel in Holland so stinkend vor“.172 Die emotionale Bindung dieses Patrioten gilt den Menschen und der Landschaft. Seine Krise zielt auf mehr Lebendigkeit, anders als Abbts affektive Dauerkrise. Doch auch Zimmermanns Orientierung am republikanischen Leben ist zu hoch für diesen elementar Verbundenen. Er ist der von Moser verachtete gemeine deutsche Mann, „welcher nur den Strich Erde, worauf er gebohren und erzogen ist, vor sein wahres und alleiniges Vaterland hält“.173 Man muss dieses potentielle nationale   Patriotische Phantasien. Erster Theil, in: SW I, 73–75, hier 73.   Mösers Summe ist, dass Hollandgehen der Wertsteigerung des heimischen Landeigentums dient und wegen der Spezialisierung von Tätigkeiten in vielen europäischen Regionen unabdingbar ist. Vgl. die sich über drei ‚Phantasien‘ erstreckenden Erwägungen SW I, 168– 195. 170   Vgl. SW II, 20–26 im zweiten Band der Patriotischen Phantasien: II. ‚Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich.‘ Nicht zufällig wurde Möser vom Frühliberalismus als Gewährsmann wiederentdeckt – Liberale und konservative Einstellungen sind bei Möser jedoch stark verflochten. 171   SW IV, 82. 172   SW IV, 81. 173   Moser: Von dem deutschen Nationalgeist, 12. 168 169

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Subjekt aber so nehmen, wie es ist. Ein Reichsjurist kann der Bauer nun einmal nicht sein. Als soziales Gegenmodell dient ein Pfarrer, der in Kenntnis dieser Erzählung die Eitelkeit eines Patriotismus hervorhebt, der mit anderwärts erworbenem Gut in der Heimat prahlen will. Dieser Kommentar wird auf den Patriotismus überhaupt bezogen, in den sich stets fremde Motive mischten: „keiner kehrt aus Liebe zum Lande oder zu seiner Verfassung zurück“. Möser verweist mithilfe des pastoralen Kommentars auf das Problem der patriotischen Philautie; mithin teilt er Abbts Problembewusstsein in der Frage der Bewährungssituationen für Patriotismus. Doch abstrahiert er dieses Problem nicht von den empirischen Subjekten. Weder der Hollandgänger noch der Pfarrer entwachsen im Patriotismus ihrem menschlichen Maß. Der Pfarrer vermag als Gebildeter den Patriotismus gut zu beschreiben; wie seine eigenen patriotischen „Verbindlichkeiten“174 beschaffen sind, bleibt offen. Entscheidend ist die Herausarbeitung sozialer Modelle des Patriotismus mit dem Pfarrer als oberstem Kommunikator seines Wirkungskreises und insofern als Schlüsselfigur für den patriotischen Diskurs. d)  Darstellung von Frömmigkeit Die Frömmigkeitstypologie setzt die Soziologie des Christentums fort, vollzieht jedoch auch einen qualitativen Sprung. Auf der Linie der Anekdote vom Hollandgänger urteilt Möser auch zum Sinn des Glaubens für die nationalen Subjekte. Er argumentiert in der Miszelle ‚Etwas zur Vertheidigung des sogenannten Aberglaubens unsrer Vorfahren‘ sogar gegenüber Aberglauben schonend, wenn dieser beispielsweise als Memorial einer Pflicht fungiert.175 Menschen, die sich über die Schlüssel Petri oder den Thron Gottes moralische Fabeln erzählen, sind weder unaufgeklärt noch unfromm, sondern haben ihre spezifische Differenzkultur.176 Möser erklärt mit diesen zensurbedingt vorsichtigen Andeutungen auch den christlichen Glauben zu einer sittlichen Funktion, hält sich aber fern von esoterisch-exoterischen Unterscheidungen zwischen Tugend- und positiver Religion. Die positive konfessionelle Religion wird funktional eingeschätzt, als bewährtes ‚Hausmittel‘ zum Umgang mit Kontingenz empfohlen, und dies ständeübergreifend und bildungsunabhängig: „Die Zärtlichen spinnen die Religion in einen empfindsamen Roman aus, und die stolzen Weisen können sich nicht entschließen, mit dem Pöbel einerlei Gott zu glauben. Aber im Grunde sind es Gottes verwöhnte Geschöpfe, die sich recht gerne bedeuten lassen, sobald sie seine Hülfe nöthig haben.“177

  SW IV, 82.   Kleinere, den Patriotischen Phantasien verwandte Stücke, in: SW V, 37. 176   SW V, 38 f.73 f. 177   SW V, 72. 174

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In zwei Richtungen erfolgt jedoch eine Durchbrechung dieses moralischen Funktionalismus. Zum einen üben die ‚Patriotischen Phantasien‘ auf satirische Weise prophetische Kritik an Zuständen, welche die Freiheit im Vaterland vermindern. Zum anderen zeigen sie fromme Haltungen auf, an denen sich ein Sinn von Geschichte manifestiert. Beide Formen der Stellungnahme gewährleisten den Sinn der konfliktorientierten Geschichtsdarstellung. Ein Beispiel für Religionssatire bietet der erste Teil von ‚Patriotische Phantasien‘ mit dem ‚Schreiben einer Dame an ihren Kapellan, über den Gebrauch ihrer Zeit‘ und der ‚Antwort des Hrn. Kommandeurs auf das Schreiben einer Dame, über den Gebrauch ihrer Zeit‘: 178 Eine Hofdame möchte ihren Müßiggang auf die von Gott abzufordernde Zeit anrechnen lassen. Als Entschuldigungsgründe gibt sie an, Arme durch Zuarbeit für ihren Müßiggang erhalten zu haben,179 oder, sich mangels urbaner Amüsements nicht nutzbringend beschäftigt haben zu können.180 Von Andachtsliteratur – Youngs ‚Night Thoughts‘ – bekommt die Dame Kopfschmerzen.181 In der offensichtlichen Persiflage auf religiös empfindsame, aber inkonsequente Damen korrespondiert der Dame ein ihr vertrauter hoher Offizier. Er fungiert als besserer Beichtiger, der ihren Brief abgefangen hat. Seine Entschuldigung: „Besondere Geheimnisse“ schreibe „man wohl eben an seinen Kapellan nicht.“182 Die „Gewissensfragen einer Dame“ könne der Weltmann zartfühlender beantworten. Das geistliche Anliegen einer besseren Zeitökonomie weckt seine Bedenken. Er fürchtet, eine gerade aufgrund ihrer Nutzlosigkeit charmante Hofdame zu verlieren.183 Die Dame soll demnach Schaustück für sozial gleichrangige Männer sein. Dafür braucht sie keine Seele wie eine Bedienstete – Arbeit im Schweiß des Angesichts lässt die Schminke verlaufen.184 Der Funktionslosigkeit wird die Funktion zugeschrieben, bei den im Amt hart gewordenen Männern mildere Affekte zu wecken.185 Die Dame soll Barmherzigkeit maßvoll kultivieren, jeden Tag eine gute Tat von der Art, die nur der weite Gesichtskreis einer Adligen erlaubt. Der Kommandeur räumt indes ein, mithilfe solcher Ratschläge die eigene mangelhafte Zeitnutzung zu verschleiern.186 Der Satire auf die narzisstische Adaptation pietistischer Zeitökonomie und das punktuelle Barmherzigkeitsethos des Adels kann ein Text mit sehr ernstem Inhalt an die Seite gestellt werden. Im Zweiten Band der ‚Patriotischen Phanta  SW I, 357–365. Stück XLVI. und XLVII. der Sammlung.   SW I, 360. 180   SW I, 358 f. 181   SW I, 361. 182   SW I, 362. 183   SW I, 362 f. 184   SW I, 364. 185   Möser entfaltet in ‚Patriotische Phantasien‘ breit ein Zwei-Rollen-Modell der Geschlechter gegen die höfische Welt und für bürgerliche Dezenz. 186   SW I, 365. 178

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sien‘ warnt Möser, ein „Patriot muß vorsichtig in seinen Klagen bei Landplagen sein“, und lässt eine Anekdote über ‚Die moralischen Vortheile der Landplagen‘ folgen.187 Im ersten Stück erscheinen Patriotismus und Frömmigkeit als zwei moralische Funktionen im öffentlichen Umgang mit Krisen. Christ und Patriot sind einer ähnlichen Gefahr ausgesetzt, „wenn der Christ, anstatt sein Vertrauen auf die göttliche Vorsorge bei solchen Gelegenheiten vor andern zu zeigen, sich den Schwachgläubigsten gleichstellt; wenn sogar der Patriot solche Klagen mit eben der Gelassenheit anhöret, womit der Hofmann die hysterischen Anfälle einer Prinzessin aufnimmt.“188

Die falsche Gelassenheit in der Gefährdung des Vaterlands wird mit Kleingläubigkeit gegenüber dem göttlichen Regiment parallelisiert. Christ und Patriot finden einander in der gemeinsamen Pflicht, die Gründe für Jammer und Not zu prüfen und ihnen aktiv zu begegnen.189 Zugleich beweist die Unterscheidung von Christ und Patriot Zurückhaltung gegenüber patriotischen Vereinnahmungen des Christentums wie bei Abbt und Moser. Die folgende Anekdote durchbricht diese Zurückhaltung. Ein Mann klagt dem Erzähler die erntebedingte Not seiner Familie, die mangels Winterkleidung der Frau nicht einmal am Weihnachtsgottesdienst teilnehmen kann. Verzweifelt umherlaufend stiehlt der Mann etwas aus einem Backofen. „Bei diesem gestohlenen Brode feierten wir unser Christfest.“190 Sein schlechtes Gewissen beunruhigt ihn jedoch und er bringt dem Bestohlenen, den er als hart und geizig kennt, zur Wiedergutmachung seine letzte Kuh. Nun greift die krisenbedingte Läuterung: Der Bestohlene erweist sich als tugendhaft, indem er auf die Wiedergutmachung verzichtet und den Armen sogar beschenkt. Der Arme schließt mit weiteren Beispielen für „heimliche Tugenden, die man nur zur Zeit der Noth erkennt! Die letzte Anmerkung des guten Mannes gefiel mir,“ kommentiert der Erzähler und fügt hinzu, er habe den Mann ebenfalls beschenkt.191 Im Kommentar überschreitet Möser die Grenzen der Heuristik. Er deutet anhand der erzählten Begebenheit den Sinn von Krisen. Für die Eröffnung von „Quellen der Tugend“ schulde man der Vorsehung Dank,192 die wenigstens eine solche Prüfung für jede Generation klug anordne. In glücklichen Zeiten wird „der Arme [.  .  .] unerkenntlich, weil ihm leicht geholfen wird [.  .  .]. Der Philosoph spielt mit der besten Welt, und der Staatsmann mit eitlen Entwürfen.“ Im Vakuum großer Entschlüsse und pointierter Empfindung entstehen überflüssige Leidenschaften. Wenn dagegen Not hereinbricht, wird alles gefordert; Gefahr erweitert die Grenzen der Pflichten, aber auch Seele und Kräfte der Gefährdeten.   Patriotische Phantasien. Zweiter Theil, in: SW II, Stück IV. und V.   SW II, 36. 189   SW II, 36 f. 190   SW II, 39. 191   SW II, 39 f. 192   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung SW II, 40 f. 187

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2.3  „Teutsche Libertät“ und Christentum

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Alles wird „wirksam und groß; der Redner wird mächtig, das Genie übertrifft seine eigne Hoffnungen. [.  .  .] der Mensch zeigt sich als ein der Gottheit würdiges Geschöpf“. Möser verhält sich mit dieser geschichtstheologischen Deutung von „Landplagen“ relativ orthodoxiekonform. Abbts friderizianische Theodizee des Krieges lehnt er ab, verwendet aber eine eigene Krisentopik. Demnach intensivieren Notlagen den menschlichen Selbst- und Weltumgang und lassen das Vaterland durch all jene greifbar werden, die sich gegen die Not vereinen. Der Patriotismus wird in solchen Augenblicken zur Stätte der Heiligung des göttlichen Ebenbilds, worunter bei Möser ganz anderes als die schneidige Attacke fällt. So weist er einen (mit Preußen) alliierten General mit überzeugendem Humor auf die bürgerlichen Folgen des Beziehens von Winterquartieren hin.193 Sozial niedrigschwellig verortet und ethisch an bürgerlicher Solidarisierung auch gegen Kriegsfolgen ausgerichtet wird dieser Patriotismus nicht zu permanenter Todesbereitschaft und Heroismus strapaziert. Es sind arme, unfreie Zivilisten, die sich in Krisen als Patrioten und Christen bewähren und miteinander solidarisieren. Das Freiheitskriterium gilt nach Möser auch in der Heuristik des nationalen Subjekts. Der pragmatische Staatsmann Möser zielt mit dem eigenen Patriotismus auf Schonung und Entfaltung der Bürger in seinem Verantwortungsbereich. Strukturell sorgt sich Möser um eine andere Freiheit als die krisenbedingte Antizipation bürgerlicher Verdienste oder als das pietätvolle Ausweichen vor der Legitimationskrise des Alten Reichs. e)  Protestantische Freiheitsgeschichte im retrospektiven Wunschbild Mit dieser die Analyse durchbrechenden Kriteriologie erscheint die dritte Funktion des Christentums bei der Verständigung über die Nationsbildung: Das Christentum begleitet und stützt als eine im Volk gegründete Religion der Freiheit die Suche nach dem nationalen Subjekt. „Ich glaube, daß wir nicht wohl thun, Religion bloß für Philosophen und nachdenkende Wesen zu bilden,“194 schreibt Möser gegen Rousseaus Alternative, sich entweder zum Menschen oder zum Bürger zu bilden und die jeweils passende Religion zu wählen.195 Möser misstraut dieser Alternative, die das Christentum abstrakt macht und die Freiheit als unerreichbares Ideal darstellt. So wie sich die Menschenrechte und das Ideal allgemeiner Menschenliebe nur in konkretem Ethos und in verfasster Freiheit erfüllen,196 kann die Funktion des Christentums für die Nationsbil193   Unterthänigste Vorstellung und Bitte mein, Joseph Partridgen, Generalentrepreneurs der Winterquartierslustbarkeiten bei der Hohen Alliirten Armee (1760), in: SW IX, 55–62. 194   SW V, 231. 195   SW V, 235. 196   Vgl. die von XLII. bis XLV. reichende Diskussion in ‚Kleinere, den Patriotischen Phan-

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

dung nur in verfassten Formen bestehen. Das – noch – abwesende nationale Subjekt bedarf deshalb des Kommunikationsvermögens positiver Religion.197 Sie allein macht dem Volk die Ambivalenz von Freiheitskonzepten verständlich und macht es mit ihr vertraut. Möser verteidigt die kirchliche Ordnung gegen gut gemeinte Auflösungsversuche. „Religion und Wissenschaften hoben immer mehr den Menschen über den Bürger, die Rechte der Menschheit siegten über alle bedungene oder beglichene Rechte. [.  .  .] Und die Menschenliebe ward mithilfe der christlichen Religion eine Tugend, gleich der Bürgerliebe, dergestalt, daß wenig fehlte, oder die Reichsgesetze selbst hätten die ehrlosen Leute aus christlicher Liebe ehrenhaft und zunftfähig erklärt.“198

Die sakrale, der monarchisch überwölbten Ständegesellschaft entstammende Dimension der bürgerlichen ‚Ehrlichkeit‘ soll um der verfaßten Freiheit willen gegenüber der kontrafaktischen Unterstellung von Menschenrechten erhalten bleiben.199 Die andernfalls erschlaffende Moral müsste sonst drakonische Strafen nach sich ziehen. Möser beansprucht deshalb für sein im politischen wie auch im konfessionellen Raum greifendes Verfassungskonzept die höhere Menschenfreundlichkeit. „[.  .  .] die Religion ist eine Politik, aber die Politik Gottes in seinem Reiche unter den Menschen.“200 Die deutsche Nation der Zukunft braucht ein krisensicheres Subjekt, das die nationale Konfliktgeschichte zu einem guten Ende führt und verhindert, dass aus dem deutschen Drama eine Tragödie wird. Indem die idealiter bestimmte Funktion des Christentums für die Nationsbildung an die konfessionelle Gestaltenvielfalt des Christentums gebunden bleibt, hat sie ihrerseits jedoch Teil an einer Konfliktgeschichte. Möser nimmt zwar Partei, indem er die Rolle von Luthers der „gemeinen Freiheit“ günstiger Lehre für die ‚Einheit‘ der nationalgeschichtlichen ‚Handlung‘ als grundlegend interpretiert.201 Dennoch steht tasien verwandte Stücke‘, in: SW V, 177–203. Möser ist konservativ, indem er die Freiheit an das Landeigentum bindet, verfolgt aber einen konkreten Freiheitsgebrauch, statt den Freiheitsbegriff nur als leere Losung zu verwenden. 197   SW V, als Offenbarung 239, als Schöpfung 241 f., und 244: „Wenigstens bilde ich mir ein, wenn in einem öffentlichen Katechismus mit großen Buchstaben die Kinderlehre stünde: Man kann in allen Religionen selig werden, dass dieses den nöthigen Enthusiasmus ungemein schwächen würde [.  .  .].“ Die Religion wäre um die Kraft zur Selbstverpflichtung der Individuen gebracht. – Anders Abbt im Brief vom 14.  8. 1765 an Moses Mendelssohn. Zitiert nach Thomas Abbts [.  .  .] vermischte Werke. Fünfter Theil welcher vermischte Aufsätze und Briefe enthält. Franckfurt und Leipzig. 1783, 173. 198   SW XII/2, 56. 199   Vgl. Haben die Verfasser des Reichsabschiedes von 1731 wohl gethan, daß sie viele Leute ehrlich gemacht haben, die es nicht waren? In: SW I, 367–371, sowie: Ueber die zu unsern Zeiten verminderte Schande der Huren und Hurkinder, in: SW III, 73–77. – Vgl. Paul Göttsching: ‚Bürgerliche Ehre‘ und ‚Recht der Menschheit‘ bei Justus Möser. Zur Problematik der Grund- und Freiheitsrechte im ‚aufgeklärten Ständetum‘, in: Osnabrücker Mitteilungen 84 (1978), 51–79, hier 73. 200   SW V, 236. 201   SW XII/2, 55.

2.3  „Teutsche Libertät“ und Christentum

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Luthers Reformation in einem dialektischen Verhältnis zur nationalen Freiheitsgeschichte, für deren Fortgang die konfessionelle Gegebenheitsweise des Christentums Ambivalenz erzeugt. Mit der konfessionellen Spaltung wurde die Territorialhoheit gefestigt, die Möser zwar nicht für zwingend antilibertär, aber auch nicht gerade für ein Vehikel zur Nationsbildung hält. Aus einem Gegenwartsinteresse fragt er also, bei wem die Option zur Gegensteuerung gelegen hätte, und nun erscheint die Reformation als verpasste Chance für die deutsche Libertät. Luthers Freiheitsdenken hätte „hundert Thomas Münzers erwecken, und dem Kaiser die vollkommenste Monarchie zuwenden können, wenn er die erste Bewegung recht genutzt, [.  .  .] die Bauern zu Landeigentümern gemacht und sich ihres wohlgemeinten Wahns [.  .  .] bedient hätte.“202

Möser spekuliert auf politische Gestaltungspotentiale, die vom reformatorischen Freiheitsdenken bereit gestellt worden, aber ungenutzt geblieben sind. Über eine kaiserliche Zentralisierung im Bündnis mit den aufbegehrenden Bauern hätten Freiheit und Einheit der Nation in versöhnter Weise erreicht werden können, dies jedoch nur unter der Bedingung, die im Zuge der Säkularisation enteigneten Bauern in einer Revolution ‚von oben‘ zu landeignenden Nationalsubjekten zu machen. Aufgrund dieser nicht nur soziologischen, sondern so­ zialethischen Dimension liegt Mösers Spekulation nicht im Widerspruch mit seiner Kritik an einem kaiserlichen Zentralismus, dem Avancen zu machen er Moser anlastet. Angesichts der fiktionalen ‚Einheit der Handlung‘ in der Freiheitsgeschichte ist die aus historisch-positivistischer Sicht ungehörige Frage nach dem, was hätte sein können, erlaubt. So kann die nationalgeschichtliche Bedeutung der Reformation in einem uneingelösten Freiheitsversprechen gesehen werden. Der Protestantismus ist die Konfession der Freiheit, wodurch er einer behutsamen Nationsbildung dient. Möser ist in der Tat ein „Bahnbrecher“203 der Nationalgeschichtsschreibung, doch lakonisch und ohne unguten Zug ins Monumentale. Seine Konfliktgeschichtsschreibung betritt Neuland, das in der Nation geschichtsphilosophischer Großentwürfe204 noch lange Neuland bleiben wird. Als Ligatur eines politischen Protestantismus steht sein Werk appellativen Entwürfen gegenüber, die mithilfe biblisch-christlicher Topik patriotische Affekte mobilisieren. Mösers Freiheitsgeschichte knüpft ihrerseits jedoch an die Konfessionskultur an, 205 indem sie sich auf Vorsehungsfrömmigkeit und evangelische Tugenden als Propädeutika zur Nationsbildung beruft.   SW XII/2, 54.   Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München und Berlin 1936,

202 203

289.

 Gegen Meinecke.   Vgl. zu den altgermanischen Rekursen Stauf: Justus Mösers Konzept, 201 passim.

204 205

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

2.4  Verfrühte Nation – Klopstocks ‚Gelehrtenrepublik‘ als kulturpolitische Institution Der nationale Diskurs um die Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmt das Verhältnis von Christentum und Nationsbildung alles andere als einhellig. Er ist eine die eigene Publizität gleichsam noch suchende Literatenangelegenheit. Abbt ist dafür charakteristisch. Der patriotische Literat braucht Friedrich II. als Textfigur, der König kommt beim Kriegführen hingegen ohne Patrioten aus – wie in seiner Beurteilung deutscher Literatur.206 Die relative äußerliche Befriedung Mitteleuropas zwischen 1763 und dem Ausbruch der Revolutionskriege erlaubt nach der publizistischen Hektik der 1760er Jahre eine ruhigere Entfaltung des ‚nation building‘. Im Jahr 1774 erscheinen mit Friedrich Gottlieb Klopstocks ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ und Johann Gottfried Herders ‚Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‘ ebenso neuartige wie für den nationalen Diskurs einschlägige Werke.207 Trotz ihrer formalen Unähnlichkeit fangen diese Texte eine neue Weise des ‚nation building‘ an: theoretisch interessierter als Abbt und Moser, ästhetisch eigenwilliger als Möser, politisch und geschichtlich weiter ausgreifend als alle. Auch dem Christentum werden andere Funktionen zugeschrieben als bisher. a)  Antizipierende Institutionalität Noch während des Siebenjährigen Krieges veranstaltet Klopstock Projekte zur Institutionalisierung der nationalen Selbstverständigung. Er plant ein kulturpolitisches Programm zur dauerhaften inneren Befriedung der Nation, zur Förderung ihrer Einheit und zur Etablierung freiheitlichen Wettbewerbs in Wissenschaft und Kultur. Diese Überlegungen setzen die Freistellung der Wissenschaften von Zensur, wirtschaftlichem Druck und anderen Abhängigkeitsverhältnissen voraus. So zielen sie auf eine antizipatorische Institutionalität zur politischen Institutionalisierung der Gesamtnation.208 Wissenschaft und Kunst sollen die Nation repräsentieren, aber auch beleben, wie Klopstocks Metaphorik zeigt: „Die Wissenschaften [sind] der linke Arm einer Nation“, ohne dessen

  Friedrich der Große: De la litterature allemande. Französisch-Deutsch. Mit der Möserschen Gegenschrift, Krit. Ausg. von Christoph Gutknecht/Peter Kerner, Hamburg 1969. 207   Vgl. zu diesem Werk Herders §  3.4 (d-f). 208  Vgl. Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen, zu den Schlüsselbegriffen der Analyse von Institutionalität 57–70. Rehberg bezeichnet diese Elemente auch als institutionelle Mechanismen. 206

2.4  Verfrühte Nation

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„vielfache Beyhülfe“ der rechte Arm, „alles andre nämlich, was nicht Wissenschaft ist, [.  .  .] weniger Stärke“ hätte.209 Klopstocks Vorschläge sind neu in ihrer Art.  Im Jahr 1768, dem Erscheinungsjahr von Mösers Doppelwerk, geht der erfolgsverwöhnte Dichter des ‚Messias‘ den Kaiser optimistisch um Unterstützung an: „Ihre Deutschen, die nicht aufflammen, aber glühn, werden [.  .  .] von dem Tage an, da Sie ihnen winken, keinen später, um den Vorzug in den Wissenschaften, mit den Franzosen u Engelländern, einen heissen, ausdaurenden Wettstreit haben, welchen Sieg endigen wird. Hierauf werden sie die Griechen, die bis jezt unüberwundnen, auf dem Kampfplaze antreffen.“210

Gegenüber der früheren Diskussionslage setzt nicht nur die entschieden kulturelle Ausrichtung des Projekts einen neuen Akzent, sondern auch die Abwandlung der Nationalcharakterdebatte. Im Brief an den Kaiser schreibt Klopstock den Deutschen mithilfe der Metapher des konstanten und wärmenden Glühens gegenüber dem abrupten, unzuverlässigen Aufflammen des französischen ‚bel esprit‘ eine höhere Eignung für Wissenschaft zu. Selbst die musterhaften Griechen könnten sie übertreffen.211 Anders als Möser, der die Ontologie in der Nationalcharakterdebatte prinzipiell zurückweist und historiographisch überwindet, rechnet Klopstock damit, dass eine Nationsbildung nur durch Herausforderung erfolgen kann. Sie bedarf des Gegensatzes, der allerdings nicht zu exklusiven Feindmarkierungen führen muss, sondern als geregelter Wettstreit ausgeübt werden kann. Klopstock übernimmt deshalb das Wettkampfmoment aus der Nationalcharakterdebatte, formt es jedoch für den produktiven Widerstreit der Wissenschaften um und metaphorisiert die ontologischen Charakterisierungen.212 Der ‚Wiener Plan‘ ist an der spätbarocken Auffassung von politischer Rhetorik am Wiener Hof gescheitert. Dort hielt man Klopstocks Brief sowie eine spätere Widmungsschrift für enkomiastisches Fürstenlob. Man antwortete mit einer kaiserlichen Gunstbezeigung an den berühmten Dichter und legte auf diese Weise reziprok Ehre ein.213 Unverdrossen konzipiert Klopstock in dem 1774 publizierten Text ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ eine kulturpolitische Fiktion, die wiederum auf freiheitlicher Grundlage die Vereinheitlichung nationaler Wissenschaft und Kultur bezweckt. Der Autor zettelt ein Subskriptionsprojekt 209  Fragment aus einem Geschichtsschreiber, zitiert nach Rose-Maria Hurlebusch/ Karl Ludwig Schneider: Die Gelehrten und die Großen. Klopstocks ‚Wiener Plan‘, in: Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert, Wolfenbütteler Forschungen 3, Bremen 1977, 67–83, hier 76. 210   An Kaiser Joseph II., 31.  12. 1768. Zitiert nach: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe Band  V, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin/ New York 1989–1992, 112. – Vgl. auch §  4.1 (a). 211   Vgl. weiter zur Metaphorik des Glühens Klopstock: Gelehrtenrepublik, 216–219. 212   Vgl. dazu Klopstock: Gelehrtenrepublik, 98 u. ö. 213   Kohl: Klopstock, 43 f.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

an, um den Text als ‚self fulfilling prophecy‘ zirkulieren und auf diese Weise die Nation wirklich werden zu lassen. In seiner fiktionalen Institution versammeln sich standesübergreifend all jene Deutschen, die den ‚glühenden‘ Wunsch haben, ihre intellektuellen und seelischen Kräfte zum allgemeinen Besten einzusetzen. Klopstocks Konzept ist ungreifbarer, aber auch weiträumiger als die Vorschläge zur Einrichtung einer Nationalakademie, 214 und es ist konkreter als jede Utopie, 215 fußt die Gelehrtenrepublik doch im Rahmen ihres rhetorisch-humanistischen Wissenschaftsideals auf Topik.216 Die Republik ist sogar im buchstäblichen Sinn topisch: Ihre Deliberationen werden mithilfe fiktiver Orte skizziert, die gesamte Kommunikation rhetorisch strukturiert. Klopstock steht trotz der Antiquiertheit mancher Vorstellungen 217 literarisch und kulturpolitisch auf Seiten der Modernisierer.218 b)  Die Gelehrten als nationale Subjekte Politisch zielt die ‚Gelehrtenrepublik‘ darauf, die Probleme einer Nationsbildung vorwegnehmend zu lösen, indem sie patriotische Affekte krisensicher mobilisiert und ihre Energie zugunsten einer das Ganze der Nation antizipierenden Institution stabilisiert. Klopstock argumentiert zwar gefühlsbezogen, mit der langwierigen Nationalisierung von Wissenschaft setzt sich sein Antizipationsmodell jedoch von Abbts sich selbst verzehrenden Krisen ab. Klopstock erkennt das Fehlen von Institutionalität als das politische Kernproblem einer deutschen Nationsbildung. Es fehlt ein öffentlicher Freiraum zur Erprobung von Ordnungsmustern und Handlungsformen, die sich bei einer konstitutionellen Gründung der Nation als politisch elementar erweisen könnten. Daher imaginiert die ‚Gelehrtenrepublik‘ das institutionelle Spielmaterial für eine Nationsbildung: eine Verfassung mit ihren institutionellen Mechanismen, Angaben zu Personal, Arbeitsweise und Arbeitsformen. Hinzu kommen Hinweise 214   Vgl. zum Spektrum der Vorschläge Gerhard Kanthak: Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektmacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademie-Bewegung des 17. Jahrhunderts, Berlin 1987. 215   Vgl. die Aufsatzsammlung von Wilhelm Vosskamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, drei Bände, Frankfurt/Main 1985. 216  Gegen Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung, in: Ders. (Hg.): Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1989, 259–361. Menninghaus spielt die poetologische Innovativität gegen das Rhetorische aus – eine historisch und philologisch zweifelhafte Entscheidung angesichts von Klopstocks rhetorisch geprägter Poetik. 217   Kevin Hilliard: Klopstocks Tempel des Ruhms, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen, hg. von Kevin Hilliard/Katrin Kohl mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 von Helmut Riege, Berlin/New York 1995, 221–239, hier 221 f. 218   Die landesfürstlichen Sympathien für das Projekt sind bemerkenswert, da sie auf eine standesübergreifende Einsicht in das Fehlen nationaler Institutionen schließen lassen.

2.4  Verfrühte Nation

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auf die Geschichte der Gelehrtenrepublik, die in einem fiktiven Bericht gipfeln, 219 in dessen Bewegtheit sich die unbeweglichen Teile der Republik spiegeln und die vorher abstrakten Funktionäre zu Personen werden. Die Tagungsgeschichte stellt die Bildung der gelehrten Nation als Prozess dar und bezieht zur Verlebendigung zeitgenössische Diskussionen und ihre Repräsentanten ein. Darunter sind vor allem zeitgenössische Wissenschaftler, aber auch die auf Klopstock eingeschworene Literatengruppe des Göttinger Hain. Durch diese sphärische Konkretion setzt Klopstocks Fiktion Mösers Kritik an der Geschichtslosigkeit des reichspatriotischen Nationsverständnisses um, das die intermediären Institutionen und die kulturellen Faktoren der Nationsbildung ignoriere.220 Zugleich meidet die ‚Gelehrtenrepublik‘ Übertragungen aus der christlichen Konfessionskultur in den öffentlichen Freiraum politischer Ordnungsmuster und Handlungsformen. Gerade der Dichter des ‚Messias‘ trennt scharf zwischen dem menschheitlichen Anliegen einer ‚heiligen Poesie‘ und dem Projekt der Nationsbildung.221 Sein Zugriff auf den patriotischen Diskurs und die nationale Thematik ist in konfessioneller Hinsicht zwangsläufig karg. c)  Fiktionalität der Nation Die ‚Gelehrtenrepublik‘ ist ein fiktionaler, autoreflexiver literarischer Text. Eine literarische Dimension hat sich zwar auch für andere Beiträge zum patriotischen Diskurs nachweisen lassen; gerade die Vermittlung biblisch-christlicher Topik an den patriotischen Diskurs hat literarisches Gepräge. Doch ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ unterscheidet sich von diesen Texten durch ihre beabsichtigte Fiktionalität, ihre Ortsbestimmung im patriotischen Diskurs erfolgt auf eine nationale Institutionalität hin. Diese objektive Dimension sollte man nicht durch Hinweis auf Klopstocks autorbezogenes Schreiben verkleinern, 222 da sich aus ihr ein Verhältnis von nationaler Einheit und Freiheit ergibt. Klopstocks Arbeitsweise beruht auf einer eigenständigen Weiterbildung der rhetorischen Tradition, die in politischer, pragmatischer und poetischer Absicht   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 91.   Vgl. in diesem Sinn Katrin Kohl: Kulturstiftung durch Sprache. Rede und Schrift in der Deutschen Gelehrtenrepublik, in: Hilliard/Kohl: Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Halle/Tübingen 2008, 145–171, hier 153: „Indem die Gelehrtenrepublik als alternative Staatsform präsent wird, erhält sie eine Bedeutung, die jener der politischen Sphäre ebenbürtig ist. Die Verlebendigung der Metapher ist somit nicht (philosophisch) als in sich abgerundete Fiktion oder als Wahnvorstellung des Autors zu sehen, sondern eher als rhetorische Strategie, den Gelehrten auf analogischem Wege ein Bewusstsein für ihre Identität und öffentliche Bedeutung zu vermitteln.“ 221   Vgl. weiter §  3.2. 222  Mit Kohl gegen K. Hurlebusch: Wegbereiter. Vgl. Kohl: Kulturstiftung durch Sprache, hier programmatisch 146–151, rezeptionsbezogen 163 f. 219

220

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

dereguliert wird, deren Regeln und Topoi aber nicht im Zeichen subjektiver Produktionsästhetik aufgegeben, sondern als Versatzstücke der poetischen Komposition verwendet werden.223 Diese subjektiv freiere Poesie ist aber auch keine absolute Poesie im Sinn einer programmatischen Höherstellung von Gelegenheitsdichtung und eines Überbietungsanspruchs gegenüber jeglichem Gattungsformular wie durch Goethe oder die Romantik. Klopstock schafft vielmehr in Anknüpfung sowohl an die biblisch-christliche wie die griechisch-römische Textwelt neue, auf einen gesellschaftlichen Zweck hin und einer erwünschten Wirkung her komponierte Gattungen. Der Kern dieses Verfahrens ist die Überzeugung, ein Dichter habe die Rühmung hoher Gegenstände zu vollziehen, während er selbst durch die Wirkung seiner Texte wieder erhoben werde224 – ein durchaus vom Gedanken der ‚revelatio sub contrario‘ geleitetes auktoriales Prinzip.225 Um den Ruhm „der Religion und des vatterlandes“226 als höchster Gegenstände sublimer Poesie umzusetzen, werden Texte mit Topoi des Ruhms ausgestattet, den sie publizistisch erst noch gewinnen müssen.227 Diese lyrische Objektkonstanz erfordert eine gewisse Genrehaftigkeit, während die dadurch scheinbar eingeschränkte Freiheit des Verfassers durch die Beteiligung an der Rezeption seiner eigenen Texte kompensiert wird. Dieses poetisch-rhetorische Verfahren erscheint autosuggestiv; doch immerhin brachte es seinen Erfinder für ein halbes Jahrhundert erfolgreich an die Spitze der Nationalliteratur.228 Die Sprachfigur der Rühmung begründet auch die Institutionalität in der ‚Gelehrtenrepublik‘. Die Gelehrtenrepublik soll den Ruhm der deutschen Nation mehren, indem sie diese als kulturbestimmt erweist und ihr qua Institutionalität eine politische Chance gibt. Die deutsche Kulturnation ist hier kein Ersatz für eine politische Nationsbildung, sondern deren Triebfeder. Die ‚Gelehrtenrepublik‘ inszeniert diesen Zusammenhang, indem sie, den klassischen Redegenera entsprechend, Gerichtsbarkeit, politische Deliberation und Festkultur als institutionelles Partizipationsverfahren darstellt.229 Auf diese Weise 223   Vgl. instruktiv Kevin Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstocks Thought, London 1987. 224  Vgl. Hilliard: Philosophy, letters, 94–98, zur Qualität eines Dichter-Rhetors. 225   Vgl. zum theologischen Fundament dieser Poetologie §  3.2. 226   Im Brief von Carl Friedrich Markgraf von Baden an Klopstock vom 3.  8. 1774. Zitiert nach: Friedrich Gottlieb Klopstock, Briefe 1773–1775, hg. von Annette Lüchow, Historisch-Kritische Ausgabe, Abteilung Briefe VI/1, Berlin/New York 1998, 174: „Ich freue mich Sie Persönlich kennen zu lernen, und den Dichter der Religion und des vatterlandes, in meinem Lande zu haben. Sie begehren einen uneingeschrenckten Aufenthalt, und werden denselben bey mir jederzeit haben. Die Freyheit ist das edelste Recht des Menschen, und von den Wissenschaften ganz unzertrennlich.“ 227   Hilliard: Tempel des Ruhms, lyrisch 223 f., in Marmor 228 passim, gelehrsam 235. 228  Vgl. zur ästhetisch-religiösen Doppelkrise für die Rezeption des Messias um 1800 Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006, 243 passim. 229   In diesem Sinn treibt die ‚Gelehrtenrepublik‘ eine Nationalisierung der Massen voran.

2.4  Verfrühte Nation

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konzipiert der Verfasser die Gelehrtenrepublik als eine Nation im Werden.230 Auch Klopstock arbeitet also, in großem Maßstab, an einem Greifbarmachen der Nation. Der Umgang mit patriotischen Gefühlen ist diesem Institutionalisierungsprozess zu- und untergeordnet. d)  Zur Einrichtung einer Republik und ihrer Freiheiten Zunächst muss die Republik gegründet werden. Auf den relativ wenigen Seiten zur ‚Einrichtung der Republik‘ werden die überaus komplexe Organisation von schönen und nützlichen Wissenschaften und Künsten sowie die Regeln ihrer Kommunikation zusammengefasst. Zur Betonung des nationalen Charakters erhalten alle Akteure und Verfahren altdeutsch klingende Namen.231 So gibt es „Zünfte“ des Wissens, die für diese verantwortlichen „Aldermänner“ und „Anwalde“ und das „Volk“, das aus mediokren Wissenschaftlern oder Wissenschaftsanwendern besteht und als Vertreter bei den Zünften über einen „Rathfrager“ verfügt. Die journalistische Zirkulation des Wissens wird durch „Ankündiger“ und „Ausrufer“ besorgt, die Diplomierung wird als Passageritus der „Freylassung“ begangen. Erst gegen Ende des ersten Teils wird explizit festgestellt, was strukturell längst deutlich ist: „Die Einrichtung der Republik ist aristokratisch“.232 Da es keine Ausnahmen von der Geltung der Gesetze gibt, 233 liegt darin jedoch kein Widerspruch – so wenig ein Reichspublizist den gemischten monarchisch-republikanischen Charakter der Reichsverfassung für problematisch hielt. Klopstocks Bildungsaristokratie ist ein patrizischer Verdienstadel, der die Gelehrtenrepublik durch genossenschaftliche Beratungsgremien regiert und verwaltet. Die Grenzen zwischen Volk und Zünften sind grundsätzlich durchlässig, 234 wenn auch die Aufnahme in eine Zunft strengem Wettbewerb unter dem Freiheitsgrundsatz unterliegt.235 Faktisch kann die Fluktuation zwischen den Teilkörperschaften der Gelehrtenrepublik, zwischen „Pöbel“ und „Volk“ oder „Volk“ und „Zünften“ zwar nur gering sein, da die Veränderungsprozeduren von vielen Bedingungen abhängen. Doch gerade in dieser Anordnung besteht eine Quelle des Ruhms: Die deutsche Gelehrtenrepublik beruht auf einer brei-

230   Die Verfahrenselemente entsprechen der Gliederung des Texts nur in etwa, da sich geschichtliche Konkretionen auch in den ersten beiden Abschnitten finden, also nicht auf den dritten Abschnitt beschränkt sind. 231  Vgl. die Aufführung sämtlicher sozialen Gestalten der Republik gleich am Anfang Klopstock: Gelehrtenrepublik, 5–13. 232   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 17. 233   Vgl. §  2.4 (f) zur Strafgesetzgebung. 234   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 5.8.39. 235   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 45 f. Dazu vielfach die Geschichtserzählungen vom letzten Landtag.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

ten Mittelschicht und einer daraus rekrutierten stabilen und eben deshalb international wettbewerbsfähigen Elite.236 Der Einsatz patriotischer Affekte kommt schon in den Strukturen der ‚Einrichtung‘ zum Tragen. Klopstock rechtfertigt die für seine Institution in Anspruch genommene Freiheit nicht strukturell, also etwa im Sinn einer Staatsformdebatte, sondern zieht die englische und die französische Gelehrtenrepu­ blik zur vergleichenden Bewertung heran. Demnach räumt die englische Variante dem noch unter dem „Volk“ stehenden, d. h. ungelehrten, „Pöbel“ Freiheiten ein, erhöht die Durchlässigkeit des Systems zu den oberen Schichten in demokratischem Sinn und hängt an einem propagandistischen Freiheitsideal.237 Die französische Gelehrtenrepublik neigt dagegen zu Oligarchie und Diktatur (Voltaire) und in allem zum Gegenteil der englischen. Die benachbarten Gelehrtenrepubliken orientieren deshalb den institutionellen und konstitutionellen Kurs der Deutschen als zu meidende Extreme: Wie ihre Gelehrtenrepublik muss auch eine einstige deutsche Staatsnation die entgegengesetzten Übel einer Ochlokratie und einer Oligarchie vermeiden. Nur auf diese Weise ist eine freiheitliche Einrichtung zu gewährleisten. Auch in der Beschreibung der innerrepublikanischen Kommunikation finden sich solche patriotischen Stellungnahmen. Sie erlauben sowohl ausführliche Argumentationen zu rhetorisieren als auch die Lebendigkeit des institutionellen Entwurfs zu steigern. So münden die Bestimmungen zur Zunftmitgliedschaft in einen geschichtlichen Kommentar: „Weil wir Deutschen von uns selbst so wenig wissen; so sind uns auch grossentheils unsre eignen Reichthümer, wenigstens ihrem ganzen Werthe nach, unbekant. Auch das gehört zu diesen Reichthümern, was wir roh hinwarfen, und was dann die Ausländer nahmen, ausbildeten, und sich zueigneten. Aber die Geschichte wird schon zu ihrer Zeit aufstehn und reden.“238

Der Geschichte kann jedoch nachgeholfen werden. Man soll Ausländer, also „Mitbürger anderer Gelehrtenrepubliken“, 239 vom überwältigenden Ausmaß deutscher Wissenschaftsleistungen überzeugen. Stets müssen den institutionellen Mechanismen der Republik patriotische Haltungen korrespondieren, um das nationale Eigentum zu identifizieren. Ohne solche nicht zu verrechtlichenden Haltungen wäre die Republik unfrei.

236  Gegenüber dieser raffinierten Institutionalitätsfiktion auf verfassungstheoretischer Grundlage erscheint Zimmermanns Annahme, Wissenschaft und Künste seien in einer Republik die selbstverständlichen Früchte patriotischen Engagements geradezu naiv. 237   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 17. 238   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 8 f. 239   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 6.

2.4  Verfrühte Nation

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e)  Polaritäten gelehrter Konvivenz Der für den innerrepublikanischen Verkehr konstitutive Gegensatz von Ausland und Inland ist der Gelehrtenrepublik nicht äußerlich. Er hat eine solide Grundlage in der Bestimmung des Wissens selbst und im Primat des nationalen Idioms als Sprache überhaupt und als wissenschaftliche Kommunikation.240 Auf die Erhaltung und Verbesserung der Wissenschaften und ihrer Sprache beziehen sich in unterschiedlicher Weise alle drei Textteile. Für die von ihm in der ‚Einrichtung‘ behauptete und in den ‚Gesezen‘ fiktional dokumentierte Verbindung zwischen dem Wettbewerb der Gelehrtenrepubliken und dem Prozess der Nationsbildung beruft sich Klopstock auf ein eigenwilliges Wissenschaftsmodell. Wie sich schon in den Projektarbeiten vor 1774 andeutet, verbindet dieses Modell ein rhetorisch-humanistisches Wunschbild mit den faktischen Differenzierungen der zeitgenössischen Wissenschaftskultur. Die besonderen Kennzeichen dieses Wissenschaftsmodells zeigen sich in drei konstitutiven Bestimmungen, die für die Regulierung der patriotischen Affekte und den Bau der Nation von grundlegender Bedeutung sind: Es gibt je zweierlei Zunftformen, Zunftwissen und Errungenschaften. Die Zünfte sind unterteilt in elf wirksame und vier ruhende, die einen erarbeiten Wissen, die anderen rezipieren vor allem. Durch den Gesamtaufbau vermag Klopstock einerseits das humanistische Trivium von Geschichte, Rhetorik und Poesie als darstellende ‚Schöne Wissenschaften‘ den traditionellen Fakultäten, hier als abhandelnde Fächer gefasst, im Wissenskosmos voranzustellen.241 Die Einteilung in ‚obere‘ und ‚untere‘ Fakultäten wird dadurch marginalisiert – die Theologie erscheint als Zunft der ‚Gottesgelehrten‘ neben den humanistischen ‚Zünften‘. Sie enthält mehr Entdecker als Erfinder, was auf ihre schwerpunktmäßig bibelwissenschaftliche Ausrichtung bei Klopstock zurückzuführen ist. Die Theologen entdecken wie Philologen oder Historiker. Dadurch haben sie allerdings auch Anteil an den ‚Schönen‘ Wissenschaften. Dieser Anteil wird durch die ästhetische Dimension der Homiletik verstärkt.242 Von diesen Verschiebungen abgesehen bilden die ruhenden Zünfte auf der anderen Seite tatsächliche Grade individueller Sachkundigkeit ab, sie bezeichnen eher subjektive Zustandsbeschreibungen als objektive Themengebiete.243 Es wäre nach dieser Einteilung möglich, dass jemand, der sehr viel Wissenswertes weiß, dennoch in der Republik nicht als Angehöriger einer wirksamen, sondern einer ruhenden Zunft politisch in Erscheinung tritt.

 Vgl. Klopstock: Gelehrtenrepublik, 128 f.   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 10. 242  Vgl. Klopstock: Gelehrtenrepublik, 10. 243   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 9: Abhandlungen werden überholt, Darstellungen bleiben, auch wenn veraltet. 240 241

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Gemäß dieser Einteilung sind die zweierlei Errungenschaften in der Gelehrtenrepublik nur in wirksamen Zünften möglich, da nur diese Wissen hervorbringen, während sich die ruhenden Zünfte rezeptiv verhalten. Die Errungenschaften bestehen nach Klopstocks Terminologie in Erfindungen oder Entdeckungen oder in beidem, wobei weder Zunft noch Individuum ganz festgelegt sind. Das Begriffspaar ist also nicht im Sinn einer Unterscheidung von Kulturund Naturwissenschaften bestimmten Zunftgruppen vorbehalten. Klopstock unterscheidet damit alles Wissen diskursiv.244 So sind zum Beispiel Geschichtsschreiber Erfinder, „wenn sie auf neue Art darstellen“, und Entdecker, „wenn sie das wirklich Geschehene herausbringen“.245 Möser wäre in diesem Sinn ein vollwertiger Geschichtsschreiber, da seine Freiheitsgeschichte der Deutschen beide Aspekte verbindet.246 In der Anwendung der Unterscheidung auf die Historiker findet sich ein Begriff, der das Zunftwissen kennzeichnet: der Darstellungsbegriff. Der komplementäre Begriff ist die „Abhandlung“, sie „ist gewöhnlich nur Theorie. [.  .  .] Darstellung hat Theorie. Sie beschäftigt, bey der Hervorbringung, die ganze Seele; Abhandlung nur das Urtheil.“247 In der Unterscheidung von Abhandlung und Darstellung als möglichen Wissensformen manifestiert sich Klopstocks Auseinandersetzung mit Christian Wolffs Seelenlehre, als deren Konsequenz die Metaphysik mit ihrer Beschäftigung des Verstandes die Spitze der Wissenschaften einnimmt. Klopstock stellt dieser Ordnung der Dinge ausgehend vom humanistischen Ideal einer gleichzeitigen Beschäftigung aller menschlichen Kräfte ein Differenzmodell entgegen. Seine Unterscheidung erlaubt, den Wert der abhandelnden Wissenschaften anzuerkennen, ohne deshalb diejenigen Wissensformen, die nicht nur das Urteilsvermögen betreffen, aus der Gelehrtenrepublik auszuschließen. Klopstock protestiert gegen den Methodenzwang, indem er eine irreduzible Pluralität der Kombinationen von „zünftiger“ Wissensform und inhaltlicher Errungenschaft ermittelt. Mithin hat auch das, was „das Herz“ angeht, Bürgerrecht in der Gelehrtenrepublik.248 Wie sehr die Unterscheidung abhandelnde und darstellende Zünfte Klopstocks Poetologie verpflichtet ist, zeigt sich am Verfahren zur Identifikation beider Wissensformen: „Die Beschaffenheit dessen, was auf beyden Seiten hervorgebracht wird, lernt man am besten kennen, wenn man auf die Wirkung des einen oder des andern Acht hat; und die Wirkung zeigt sich vorzüglich durch ihre Dauer. Ein abhandelndes Werk geht unter, sobald ein besseres über eben diesen Inhalt erscheint. Ein Werk der Darstellung, (wenn   Vgl. auch Klopstock: Gelehrtenrepublik, 32 f. und 80 f.   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 9, sowie vertiefend 67.80 f. 246   Die Zunft der Geschichtsschreiber gilt als klein und unterbesetzt. Sie wird eigens als bedeutsam für die Nationsbildung ermutigt. Vgl. Klopstock: Gelehrtenrepublik, 95 f. 247   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 9. 248   Klopstock, Gelehrtenrepublik, 22. 244 245

2.4  Verfrühte Nation

65

es sonst zu bleiben verdient,) bleibt auch nach Erscheinung eines bessern über eben den Inhalt.“249

Der Grund für die „Dauer“ eines Werks ist seine sprachliche Qualität. Der Darstellungsaspekt erlaubt Klopstock die enge Verknüpfung von wissenschaftlichen Sachfragen und nationalem Anliegen unter sprachlichem Gesichtspunkt. An dieser Schlüsselstelle erweist sich die hohe Bedeutung der Rhetorik für die Funktionsweise der Gelehrtenrepublik, denn der Darstellungsaspekt bindet alles Wissen und Können an die Kriteriologie des humanistischen Trivium zurück. Die „Dauer“ eines Werks ist ein geschichtliches Quantum und erschließt sich nur der historischen Darstellung. Die Gründe für diese Dauer ergeben sich dagegen aus der Qualität der „Schreibart“.250 Sie werden von der Poesie, worunter man sich zugleich die Poetik vorzustellen hat, erklärt und mithilfe der Rhetorik präsentiert.251 Der mithilfe von Poetik, Rhetorik und Geschichte durchzuführende Qualitätstest für alles darstellende Wissen potenziert also das in der Gelehrtenrepublik zirkulierende Darstellungsvermögen, erhöht die Persistenz der Republik und mehrt letztlich den Ruhm der Nation. Diese institutionelle Denkfigur wird dreißig Jahre später von der romantischen ‚Transzendentalpoesie‘ aufgenommen – doch nicht die Implikationen ihrer politischen Ordnung. f)  Politik der Affekte Es sind die institutionellen Vorübungen mit ihren von Klopstock erfundenen Mechanismen, durch die der Patriotismus in der Gelehrtenrepublik strukturell zur Darstellung kommt und die nationale Integration vornimmt: die ‚Geseze‘. Die in Klopstocks fiktiver Sammlung recht heterogenen, oft auch nur andeutungshaften Gesetze zielen auf die Auswahl und Förderung derjenigen Kulturgebiete, auf denen ein Rangstreit mit anderen Nationen aussichtsreich begonnen werden kann, und klären Personalfragen und Richtlinienkompetenzen. Als Regelungsinstrumente dafür finden hier Strafen und Belohungen ihren Ort. Insbesondere die Strafgesetzgebung gibt einen Begriff von der patriotischen Affektregulierung. Das Strafrecht dient der Sicherung jener Prinzipien und Verfahrensweisen, die den Ruhm des Vaterlands mehren, und umfasst ihnen entsprechend eine Vielfalt von Strafformen. Strafrituale nach Art der frühneuzeitlichen Rügepraktiken, 252 die den innerrepublikanischen Verkehr überdies   Klopstock, Gelehrtenrepublik, 9.   Klopstock, Gelehrtenrepublik, 22 f.26 f. – Vgl. zur Aufwertung der Schrift zu einer Handlungsform bei Klopstock Kohl: Kulturstiftung durch Sprache, 157 ff. Diese Position verbindet Klopstock mit Hamann gegen Herder. 251   Vgl. dazu auch die ‚Grundsäze‘ der Republik. Die Mitteilung des Wissenswürdigen und seine Auswahl stehen im Zeichen des humanistischen Triviums. 252   So büßen die aus einem höheren Stand in Nachahmung Verfallenden ihre Abweichung 249

250

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

germanisieren sollen, gehören ebenso dazu wie ein Katalog bürgerlicher Strafen bis hin zur Landesverweisung. Klopstock setzt damit ein Zeichen für den na­ tionalen Ernst seiner kulturpolitischen Kriteriologie. Formal kann man indirekte und direkte Regelungen, das patriotische Verhalten betreffend, unterscheiden. Doch für die Institutionalisierung des Patriotismus ist die Amplitude von Vergehen und Ahndungen interessanter. So beginnt Klopstock die Auflistung der Gesetze mit einem Abschnitt ‚Von unsrer Sprache‘, dessen fundamentale Bedeutung nach der Etablierung des humanistischen Triviums im Wissenssystem der Republik evident ist. Lateinisch zu schreiben führt, von notwendigen Ausnahmen abgesehen, zur Landesverweisung, ebenso das Schreiben „in einer neuen ausländischen Sprache“.253 Die Sanktionen sind zwar nicht bedingungslos, jeder Delinquent kann sich durch Schreiben oder Edieren von deutschen Texten auslösen. Doch die Schärfe der Verordnungen hebt die grundsätzliche Bedeutung des nationalen Idioms für die antizipato­ rische Institutionalisierung der Gelehrtenrepublik hervor. Das zeigt sich auch an geringfügigeren Vergehen wie der ‚Berauschung‘ an einer ausländischen Schrift.254 Die Ahndung von „Hochverrath“255 bringt mit der Härte des Gesetzes auch die Verbindung von gelehrtem Wettbewerb und Nationsbildung zum Ausdruck. Auf Hochverrat steht ewige Landesverweisung, die bei hochrangigen Republikmitgliedern öffentlich erfolgt. Die Einzelbestimmungen betreffen entweder die Verletzung politischer Prinzipien oder schädliche kulturelle Einschätzungen. An erster Stelle steht die despotische Verletzung des Freiheitsgrundsatzes: ‚Philosophenkönige‘ darf es um des Wettbewerbs in der Gelehrtenrepublik willen nicht geben, sie würden die Balance von Freiheit und Gleichheit in der Einrichtung der Republik zerstören. An zweiter Stelle, aber als erstes schädliches Kulturverhalten, folgt die Höherschätzung ausländischer Gelehrtenrepubliken, im weitesten Sinn also die Quelle aller Nachahmung, die sowohl tatsächliche deutsche Erfindungen und Entdeckungen verdeckt als auch den Trieb zu ihnen lähmt. Klopstock formuliert die Hochverratsgesetze als additive Liste. Nimmt man die beiden ersten Gesetze über den Hochverrat zusammen, lassen sich die übrigen Bestimmungen jedoch als Folgerungen aus ihnen und als ein System patriotischer Wettbewerbsregeln begreifen: Wer die Griechen für unübertrefflich erklärt, verhindert den zukünftigen Ruhm der deutschen Kulturnation, indem durch das Tragen von „vier ausländische[n]“ Folianten (Klopstock: Gelehrtenrepublik, 15). Umgekehrt werden die aus der „Knechtschaft“ der Nachahmung Befreiten vom kollektiven „Vaterland“ ausgelöst (Klopstock: Gelehrtenrepublik, 13 f.). 253   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 24. 254   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 44 f. – Voltaire gilt als besonders ‚hochprozentiges‘ Rauschmittel. 255   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 57–61.

2.4  Verfrühte Nation

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er eine kulturelle Despotie errichtet.256 Und ganze gelehrte Teilgesellschaften, die in fremder Sprache schreiben, verhalten sich gegenüber der Muttersprache genauso. Auch die Bevorzugung der Künste vor den Wissenschaften muss eine patriotische Verwerfung nach sich ziehen. Klopstock verquickt Künste und Wissenschaften durch sein humanistisches Trivium so eng, dass ‚Schöne Wissenschaften‘ und autoreflexive Kunstwerke nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, wenn die Gelehrtenrepublik nicht qualitativ an Substanz verlieren soll. Auch hier ist die Aufrichtung von Hierarchien misslich. Was Ruhm verdient, verdient ihn individuell. Die politischen Konturen des Kulturpatriotismus im Dienst einer institutionell antizipierten politischen Nation zeigen sich in Ergänzungen zum Freiheitsgrundsatz gegen die Despotie: Demnach begeht Hochverrat, wer deutsche Fürsten zur Geringschätzung der deutschen Wissenschaft und Kultur verführt oder wer unverdientes Fürstenlob äußert, denn beide Verhaltensweisen vermindern die Freiheit in der Gelehrtenrepublik und dadurch das nationale Kulturniveau. Da die Gelehrtenrepublik dieses Niveau erhalten und weiter heben soll, lassen auch scheinbar geringfügigere Vergehen wie die Verweigerung der Teilnahme an Rügepraktiken und die Unterlassung der Anzeige von Ausländern angemaßter deutscher Errungenschaften straffällig werden. Untragbar ist für ein durch libertäre Wettbewerbsprinzipien dynamisiertes Gemeinwesen außerdem, wer gegen beschlossenen Wettstreit zum Frieden rät. In Klopstocks Bestimmungen zum verräterischen Fehlverhalten zeichnet sich eine politische Institutionalität ab, die mit der Sprachkultur und in einem republikanischen Prinzipien verpflichteten Sozialumgang die Einheit und die Freiheit der Nation vorwegnehmen will.257 Zur Institutionalität der ‚Gelehrtenrepublik‘ findet sich am Anfang des Abschnitts ‚Von unserer Politik‘ eine besondere politische Pointe. Klopstock konstatiert lakonisch: „Wir haben gar keine.“258 Nur wenn man diesen Satz als kontextloses Motto liest, eignet er sich zur Grundlage einer Kritik an Klopstocks vermeintlich apolitisch-völkischem Denken.259 Dabei werden wenige Zeilen später Grundsätze der Politik für den nächsten Landtag angekündigt, und auch die ‚Geschichte des lezten Landtages‘ berichtet von politischen Ideen und Konflikten. Klopstock erlaubt sich einen Witz: Die ‚Gelehrtenrepublik‘ hat keine Politik, weil sie ganz und gar politisch ist, aber sie ist politisch, indem sie einer rhetorischen Poetik folgt, die auf soziable Darstellung und nicht auf individuel256  Vgl. Klopstock: Gelehrtenrepublik, 81: „Es ist keine Kleinigkeit, daß es die Deutschen sind, die, nach den Griechen, am meisten erfunden haben. Und ist es etwa eine, dazu beyzutragen, daß man einst, daß man nun bald sagen könne: Die Deutschen haben mehr, als die Griechen erfunden?“ 257   Gleiches gilt für die Belohnungen mit ihrem emblematisch-symbolischen Apparat. Vgl. Klopstock: Gelehrtenrepublik, 13 passim.51 passim. 258   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 23. 259   Vgl. zu diesem Deutungstyp kritisch Kohl: Klopstock, 108–112.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

len Ausdruck angelegt ist. In diese Richtung weist die im Abschnitt zuvor festgestellte Ähnlichkeit von Schreiben und Handeln: „Handeln und Schreiben ist weniger unterschieden, als man gewöhnlich glaubt. Wer handelt und wer schreibt, bringt Wirkungen hervor.“260 Seine Wirkungen entgleiten ins Unabsehbare und rufen Gegenwirkungen hervor. Wer schreibend handelt, gibt sich im öffentlichen Raum zu erkennen. Die Gestalt dieser Interaktion ist als solche politisch.261 Die ‚Gelehrtenrepublik‘ wurde nicht zur gelehrten Republik. Der weite und gewagte Spielraum, den Klopstock der institutionellen Imagination geschaffen hat, mag manche Zeitgenossen überfordert haben. Für das politische Umfeld kam der Text zu früh. Der große antizipatorische Schwung zur kulturpolitischen Vorwegnahme einer deutschen Republik ist ausgeblieben.262

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität Herder hat Klopstocks ‚Gelehrtenrepublik‘ trotz mancher Übereinstimmungen zurückgewiesen.263 „Unausstehlich dem Einen Einfall Umfang gegeben!“ schreibt er mit degoût im Mai 1774 an Hamann.264 Herder lehnt Klopstocks fiktionale Institution ab. Er misstraut ihrer Leistungskraft, da sie ein nationales Leben zu konstruieren versucht, das sich nach Herders Einschätzung nur von selbst ergeben kann. In diesem theoretischen Gegensatz relativiert Herder 1774 mit ‚Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‘ die Elemente des ‚nation building‘, er distanziert sich vom patriotischen Pathos der 1760er Jahre und löst die Fragen des ‚nation building‘ aus ihm heraus. Die geschichtliche Perspektive wird von der Nationalcharakterdebatte und der Lokalgeschichte zur Weltgeschichte hin verändert. Mithilfe theologischer Topik wei  Klopstock: Gelehrtenrepublik, 22.  Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa. Vom tätigen Leben, München 62007, 213–234.293–

260 261

317.

262  Vgl. mit zeitgenössischen Urteilen zur ausgebliebenen politischen Wirkung von Klopstocks Gelehrtenrepublik Johann Otto Thiess: Friedrich Gottlieb Klopstock. Wie Er seit einem halben Jahrhundert als Dichter auf die Nazion und als Schriftsteller auf die Literatur gewirkt hat, Altona: bei Johann Friedrich Hammerich 1805, hier 156–167. Thiess betont den Anstoß, den viele an der uneindeutigen Gattung genommen hätten, die zwischen ahistorischer Utopie und (teil)fiktionaler Historie schillerte. 263   Trotz übereinstimmender poetologischer Wendung gegen die Mimesisästhetik und gemeinsamem antiplatonischem Realismus in der Auffassung von Staat, Gesellschaft und Kultur. 264   ZH III, 94. – Hamann beurteilt die Gelehrtenrepublik mit poetologischem Witz. Er begrüßt Klopstocks Absicht, erläutert aber seinen Misserfolg – und wendet zum Schluss das Konzept der „Darstellung“, die „Theorie hat“, kritisch auf die Gelehrtenrepublik an, deren herausragende Darstellung auf keiner erkennbaren Theorie ruhe. Vgl. N IV, 409 passim.

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

69

tet sich der Schauplatz für die Sinnbestimmung nationalen Lebens. Alle antikisierenden Identitätsstiftungen, gleich ob gräkoman oder germanoman, werden durch eine pluralistische Beschreibung der verzweigten und gegenläufigen Leistungen antiker Kulturen und ihrer integrierenden Überwindung im Christentum ersetzt. Damit scheint der ‚eigentliche‘ Herder hervorzutreten, dessen individualisierende Beschreibung von Nationen, unter variierenden Wertvorzeichen, entweder als kosmopolitische Öffnung des Patriotismus265 oder aber als apolitische Vorromantik 266 eingestuft wurde.267 Diese Zuordnungen und Wertungen beruhen auf einer Homogenisierung der Frühschriften. Tatsächlich ist der Befund bei Herder unausgeglichen. Entweder verwandeln seine Texte die patriotische Stellungnahme in ein ästhetisches Ereignis und entwerten ihre moralische Bindekraft, oder aber sie lassen ein zu patriotischen Appellen quer liegendes theoretisches Interesse an der Bestimmung nationalen Lebens durchblicken. Liest man also die geschichtstheoretische Weitung der nationalen Thematik und die geschichtstheologische Deutung der Existenz nationaler Individualität als das Ende eines Lernprozesses, wird in den Frühschriften ein Abtasten unterschiedlicher patriotischer Positionen erkennbar.268 a)  Ein Abbt-Denkmal als Ästhetisierung des Patriotischen Herders patriotische Urteilsbildung lässt eine intensive Beschäftigung mit Thomas Abbt erkennen. In dem für kulturpatriotische und nationalliterarische 265   Emil Staiger: Stilwandel – Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich 1963, 123, ordnet Herder wie folgt ein: „[.  .  .] er hatte den Mut nicht, sein höheres Ich zu ergreifen. Denn dieses höhere Ich war ein Prophet im ältesten Stil; und Herder blieb ein Kritiker und Gelehrter, ein Schriftsteller nur und also ein Spätling.“ Staiger zielt ersichtlich verächtlich auf kosmopolitische ‚Zivilisationsliteratur‘. Herders Meisterschaft besteht darin, die rhetorische Tradition für die Wahrnehmung geschichtlicher Kräfte zu öffnen. Meinecke steht dem weniger abweisend gegenüber. Vgl. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, hg. und eingel. von Hans Herzfeld, München 1952, 33 passim. 266   Vgl. hierzu Beispiele aus totalitärer Zeit: Den Volksbegriff entpolitisiert im Zeichen ‚völkischer‘ Geschichte Benno von Wiese: Herder. Grundzüge seines Weltbildes, Leipzig 1939, besonders 22 passim; Hans Georg Gadamer: Volk und Geschichte im Denken Herders, Frankfurt/Main 1942. – Vgl. auch Herder-Kolloquium 1978. Referate und Diskussionsbeiträge, hg. von Walter Dietze et. al., Weimar 1980. In diesem DDR-Tagungsband dringt Herders Volksbegriff zu den ‚Werktätigen‘ vor, allerdings kommen auch Geschichtsverständnis und Theologie Herders zur Sprache. 267   Vgl. mit viel Sinn für Herders protoliberale Position Jost Schneider: Den Deutschen die Krone? Herder über den kulturellen Wettstreit der Nationen, in: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, 217–225; vgl. aufschlussreich Frederick M. Barnard: Herder on Nationality, Humanity and History, Montreal and Kingston u. a. 2003, 50: „[.  .  .] the concept of nationhood is at once cultural and political, and is so for Herder as much as for Rousseau. All it does allow for is a greater latitude in the interpretation of the ‚political‘.“ 268   Vgl. zu ‚Auch eine Philosophie der Geschichte‘ §  3.3 (d–f).

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Konzepte ertragreichen Jahr 1768 publiziert Herder eine Gedenkschrift, die als Teil dreier „Denkmaal[e] von Papier“269 für Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann David Heilmann geplant war.270 In ‚Ueber Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal, an seinem Grabe errichtet‘ wird Herders Umgang mit dem Patriotismus gut erkennbar. Herders vordergründige Absicht ist, Abbt mit der Darstellung dessen, „was Deutschland an ihm verloren“ hatte, 271 das Andenken der Nachwelt zu sichern. Der junge, bereits bewährte Literaturkritiker lässt sich die Chance nicht entgehen, im selben Zuge seine Auffassung von Nachahmung zu verdeutlichen, die er zeitgleich in den Fragmenten ‚Über die neuere Deutsche Litteratur‘ entfaltet.272 Herder sucht im „Nacheifern“, im Erreichen einer nichtautoritären Ähnlichkeit der eigenen Schreibweise mit dem Vorbild, die wahre Nachahmung aufzuzeigen, die, weit über den ‚Torso‘ hinaus, auch für das zeitgenössische Literaturschaffen angezeigt wäre.273 Diese Art der Nachahmung ist offen für freie Variation.274 Der ‚Torso‘ zielt demnach auf ein Eingedenken, das die Züge einer literarischen Existenz neuschöpferisch versammelt.275 Das Andenken koinzidiert mit dem Nachdenken, die erinnernde Darstellung der Schreibart ruft die Eigenart der Denkweise auf. Diese Gestaltung hat indes politischen Hintersinn: Die Fragmentform steht konkreten Phantasmen zur nationalen Einheit entgegen. Herder kommentiert mit der Form seine inhaltliche Aussage. Nationale Einheit ergibt sich aus der inneren Vielfalt der nationalen Sprachkultur – oder gar nicht. Abbts Schreibweise soll Teil eines Kanons werden, dessen freie Entfaltung allmählich die kulturelle Einheit der Nation herbeiführt.276 In der ‚Einleitung, Die von der Kunst redet, die Seele des andern abzubilden‘, kommt Herder auf das Problem der Erkenntnis von Individualität zu sprechen, sein hermeneutisches Thema schlechthin, 277 das auch die Bestimmbarkeit nationalen Lebens berührt. Zunächst fordert Herder mit der pathologischen Sicht  SWS II, 253.   Vgl. zur Editionsgeschichte Bernhard Suphans Einleitung zum 2. Band der SW. Zu Herders Motiven SWS II, 252. 271   SWS II, 252. 272   Vgl. z. B. SWS I, 378–384; SWS II, 76 ff.105–108, sowie §  2.5 (c). 273   SWS I, 383. 274   Schluss der Vorrede (o.S.). 275   Vgl. zur Physiognomik von Texten als Thema Lavaters und Herders Klaas Huizing: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, 48 passim.104 passim. 276   Vgl. zu Abbt als Autor neben Möser, Hamann und anderen in einem zukünftigen Kanon SWS I, 218–229. 277  Vgl. Thomas Zippert: Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks, Marburg 1994; vgl. weiter zu Herder als einem Anthropologen der Persönlichkeitsbildung Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 269

270

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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weise auf alles Individuelle eine „Psychologie“ der „Besonderheiten einzelner Subjekte“, um eine synthetische Erkenntnis über Individualität zu gewinnen.278 Eben solche Erkenntnis sei, wie die Wissenschaft der Physiognomik nolens volens zeige, schwierig, da nie ein Geist ganz zum anderen Geist spreche.279 Man muss die Züge eines Autors „desto mehr von außen“ studieren, 280 um seine Individualität zu erkennen. Indem der Biograph Herder jegliche Abschilderung durch das ‚pathologische‘ Studium der auktorialen Züge ersetzt, entmoralisiert er seinen Gegenstand. Er sei „nicht so sehr auf der Seite derer, die in die Schriften, als in einen Spiegel des Herzens und der Menschlichen Gesinnungen sehen wollen; ich bescheide mich, daß ich über einen Schriftsteller schreibe.“281 Der Unterscheidung einer sichtbaren von einer unsichtbar bleibenden Individualität korrespondiert die Unterscheidung der literarischen Qualität der Verfasserschaft von der moralischen Qualität seines Bios. Im Rahmen dieser Unterscheidungskultur kennzeichnet Herder souverän Abbts blinden Fleck: „Ich werde ihn [Abbt] freilich nicht unter die Helden setzen, die den Tod fürs Vaterland starben, weil er den Tod fürs Vaterland angepriesen: denn sicherlich würde ein Held, der vor der Schlacht vom Tode für das Vaterland schreibt, nicht wie Abbt geschrieben haben.“

Herders differenzierter Umgang mit dem Verhältnis des Genres zum Gegenstand seiner Beschreibung, erlaubt auch grundsätzliche Einsichten. So heißt es, ein großer Schriftsteller müsse „die Muttermale seiner Zeit an sich tragen“.282 Ein Schriftsteller trägt die Spuren seines Zeitalters notwendigerweise an sich, man kann ihn aber auch davon unterscheiden, ohne dass das Zeitbedingte zum bloßen Akzidens würde. Diese den Gegenstand entlastende Sichtweise entlastet auch den Verfasser. Nun kann sich Herder seinem eigentlichen Interesse zuwenden. Er bestimmt die Form von Abbts Patriotismus und streift dessen konkrete Position als zeitbedingte Hülle ab: Abbt wird literarisiert.283 Herder deutet die politischen Züge in Abbts publizistischer Physiognomie kurzerhand ins Allgemeine um, indem er Abbt kosmopolitisch als „Schriftsteller für die Menschheit“ und nationalpädagogisch als „Weltweisen des gemeinen Mannes“ darstellt.284 Diese Zuschreibungen kennzeichnen Abbts Prosastil und   SWS II, 257 f.  Vgl. Hamanns synästhetischen Imperativ, der mit einer medialen Mehrstelligkeit in aller Kommunikation rechnet: „Rede, daß ich Dich sehe!“ Johann Georg Hamann: Aesthetica.In.Nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose, in: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, Band  2, hg. von Josef Nadler, Wuppertal 1999 [Nachdr. der Ausg. von 1950], 198. 280   SWS II, 259. 281   Dieses und das nächste Zitat SWS II, 261. 282   SWS II, 265. 283   Vgl. z. B. SWS II, 264. 284   SWS II, 268. 278

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

dessen trotz erhabener Schreibweise potentiell weiten Adressatenkreis. Dieser gedrungene Stil komme auch mit dem überein, was Abbt für den deutschen Nationalcharakter hält, nämlich mit dem planen verständigen Gemeinsinn. Der Begriff des Volkes wird für diese soziale Bestimmung des Publikums ausdrücklich aufgewertet.285 Es ist erstaunlich, dass dies in der Verbindung von erhabenem Stil und Gemeinsinn geschieht, also auf eine besonders gute Verständlichkeit des Genies abzielt; der Rhetoriklehrer Quintilian verbürgt die Kombination jedenfalls.286 Herder lenkt Abbts posthumes Publikum von der preußischen Monarchie als Referenznation des Patriotismus ab und führt sie einem durch eine frei entfaltete Sprachkultur bestimmten Verständnis der Nation zu. Wieder geraten Abbts nationalpolitische Position und die gewünschte Wirkung seines Gefühlspatriotismus außer Sicht. Herder konstruiert unter dem Namen Abbts sein eigenes Ideal eines Volkserziehers.287 Die literarisierende Umdeutung spitzt sich in der Apologie von Abbts biblischer Topik zu. Gemäß der Trennung von literarischer und personaler Individualität erklärt Herder sein Desinteresse an Abbts Gründen für den Abbruch des Theologiestudiums, fragt aber umso nachdrücklicher, „ob dies Studium auch einen Einfluß gehabt hat in das, was wir von ihm haben“.288 Dieser „Einfluß“ wird unter anderem an ‚Vom Tode für das Vaterland‘ verifiziert. Herder begrüßt ausdrücklich die patriotische Rhetorisierung im Sinn einer Stil- und Sittenbildung.289 Abbts Spiel mit dem Gedanken, bei den Religionsdienern einen rhetorischen Ort für den Patriotismus zu haben, erscheint plausibel: „Ein schönes Beispiel für die Weltweisen, die in ihren Büchern mit dem Pöbel zu glauben scheinen: nur am Sonntage und in Predigten müsse an Gott gedacht werden!“290 Auch die Analogie von Martyrium und patriotischem Selbstopfer wird anerkannt. Auf derselben Linie verteidigt Herder Abbts „Biblischen Stil“,291 dem gegenüber Kritik aus zwei entgegengesetzten Quellen laut geworden ist: Eine radikale Aufklärung hält ihn für entbehrlich, eine orthodoxe Kirchlichkeit für anmaßend. Herder begegnet dieser Kritik mit rhetorischer Anthropologie.292 Wolle   SWS II, 271.289.   SWS II, 280 f. zum Genie. 287  Von Hamanns Kritik am ‚Salomon de Prusse‘ imprägniert, konnte Herder das Liebes-Opfer „an dem Grabe“ des Friedrichverehrers Abbt nur um den Preis einer Dissoziation erbringen; vgl. zu Hamanns Skepsis gegenüber Friedrich II. Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München 1988, 37.134–137; vgl. zu Herders doppelter Loyalität bereits Annie Bender: Thomas Abbt. Ein Beitrag zur Darstellung des erwachenden Lebensgefühls im 18. Jahrhundert, Bonn 1922, 62 f. 288   SWS II, 283. 289   SWS II, 283 passim. 290   SWS II, 284. 291   SWS II, 285. 292   Vgl. SWS I, 159–166: Herder nennt sein Vorgehen in ‚Fragmente‘ nicht rhetorisch, 285

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2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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man nicht „trennen, was Gott verbunden hat, das Herz eines Menschen und das Gedächtniß eines im Christenthum erzognen“, so müsse man biblische Exem­ pla – „Beispiele aus der Biblischen Geschichte“ – in ethischen Schriften zulassen. Die Erzeugung der Bereitschaft zu bestimmten Handlungsweisen kann nicht über den Verstand allein, sondern muss auch über den affektiven Kern der Person erfolgen. Die Frage nach der Zulässigkeit der Mittel zu dieser Affektsteuerung koinzidiert mit der rhetorischen ‚inventio‘: Exempla müssen zur Argumentation passen, zu den Adressaten und sie müssen wirkungsgerecht sein. Damit ist auch Abbts im Dienst der Übertragung messianischer Erwartungen an den König stehendes, kühnes Gleichnis auf die Bundeslade gerechtfertigt.293 Im Allgemeinen darf die gesamte Bibel als „reiche Quelle“ für Stilbildung dienen. Die „starken Bilder der Religion“ rühren die „Einbildungskraft“ für gewöhnlich am frühesten und nachhaltigsten. Überdies bieten sie das breiteste Spektrum menschlicher Züge und Affekte.294 Herder erkennt mithilfe dieser Anthropologisierung die lakonische Gedrängtheit und bilderreiche Affektivtiät von Abbts Stil an; in anderem Zusammenhang spricht er sogar, in wörtlicher Übertragung des rhetorischen Terminus der ‚copia‘ als ‚Hilfstruppen‘ und ‚Vorräte‘, von einer gelungenen Schlachtordnung des Stils.295 Dennoch reibt sich die Erhebung Abbts zum Original einer guten Verstandesprosa in gewisser Weise mit der Terminologie des Enthusiasmus, nach der er auch feurig und mit gedrängten, nicht immer logisch aufgelösten Bildern schreibt.296 Mithin bezeichnen ‚Herz‘ und ‚Gedächtnis‘ ein anthropologisches Gebiet, das über die Rezeptionsbedingungen von Verstandesprosa hinausreicht. Herder scheint Abbt in eine unausgegorene rhetorische Anthropologie hineinzutreiben und ihn gleichzeitig davon abhalten zu wollen, da es sich bei ihr um Herders gedankliches Eigentum handelt. Der letzte Punkt in der Apologie von Abbts Bibelstil betrifft dessen Gebrauch von „Ausdrücke[n] der Bibelübersetzung Luthers“. Herder legitimiert diesen Gebrauch als Rückkehr zur „verlebten Jugendstärke“ der entkräfteten doch seine Rekurse auf die sinnliche Seite der Sprache sind nicht nur zeichentheoretischem, sondern rhetorischem Verständnis geschuldet. So wenn die Idiotismen einer Sprache als Heiligtümer verteidigt werden mit der Begründung, die Sprache sei eben nicht rein geistig, sondern sinnlich und deshalb ‚Richtigkeit‘ nicht gleichzusetzen mit ‚Vollkommenheit‘. Eine ideengeschichtliche Herderlektüre neigt, analog zu Klopstock, dazu, diese Kontexte zu vernachlässigen, da sie immer schon weiß, dass Herders unsystematische Anregungen um 1800 systematisiert werden. Vgl. dagegen entschieden Markus Buntfuß: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004, 12 ff.; zur rhetorischen Anthropologie Kevin Hilliard: Rhetoric into anthropology. Herder’s revision of the theory of invention, in: Rhetorik und Anthropologie, hg. von Peter D. Krause, Tübingen 2004, 95–100. 293   SWS II, 286. Vgl. Abbt: Vom Tode, 32. 294   SWS II, 286. 295   SWS II, 280. 296   SWS II‚ 278 f.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Muttersprache.297 Über diese Sprache soll die Nation fehlende Kraft erhalten. Allerdings ist die Anverwandlung biblischer Sprachstärke die Folge eines Defizits. „Die heiligen Wälder Theuts“ sind mangels Urkunden nicht zugänglich.298 Man muss das kraftvolle Alte, das man hat, für „ein vom Himmel gefallenes Palladium halten“, obwohl es „Kirchengeräth ist.“ Die ältesten „Sprachschätze“ der deutschen Sprache erscheinen in Gestalt der heiligen Schrift gleichsam als ein nationales Palimpsest. Herder ersetzt den Mangel an Stoff für eine nationale Erinnerungskultur nicht phantasierend wie Abbt: „Wir können fast keinen Schritt tun, wo nicht ein braver Mann liegen sollte, der für sein Vaterland gestorben ist. Die Wälder erwecken ihr Andenken bei uns [.  .  .]“.299 Stattdessen schlägt er eine kulturelle Brücke in die Reformationszeit und zu Luther: Danach ist die Würdigkeit ausschlaggebend für die nationale Musterhaftigkeit einer Schreibart, nicht das zählbare Alter.300 In diesem Vertrauen auf die verähnlichende Kraft hochstehender Sprachkultur zeigt sich ein Grundzug von Herders späterem Verständnis des Nationalen, das die Kommunikation des Unverwechselbaren als paradoxalen Antrieb zum Ähnlichwerden der Nationen begreift. Der Autor des ‚Torso‘ zeigt eher den Wunsch nach einer patriotischen Position als den Besitz einer solchen. Indem er Abbts Schreibart zum zeitgenössischen Vorbild erhebt, demontiert er die konkreten Bindungen des Patriotismus. Dieses ästhetisierende Verfahren zielt auf die Erweiterung und Straffung eines nationalliterarischen Netzwerks, erweist sich aber als ambivalent gegenüber der patriotischen Rhetorik und ihrem politischen Sinn. Verfahrenstechnisch stellt der ‚Torso‘ indes die Kehrseite eines hohen Problembewusstseins für patriotische Fragen dar. b)  Zur patriotischen Ergänzung fehlender Öffentlichkeit Herders Problembewusstsein für die Bestimmung nationalen Lebens lässt seine Ästhetisierung Abbts weniger leichtfertig erscheinen. Ein solches Problembewusstsein ist jedoch auch bei einem Multitalent, wenn es erst gut zwanzigjährig ist, nicht wie aus einem Guss. An der frühen ‚Abhandlung‘, als die Herder 1765 eine Rede ‚zur Feier der Beziehung des neuen Gerichtshauses in Riga‘ publiziert, lässt sich eine für Herders Urteilsbildung relevante Bruchstelle zwischen Patriotismus und Theorie der Nation aufzeigen.301   SWS II, 287.   Dieses und das nächste Zitat SWS II, 287. 299   Abbt: Vom Tode, 66. 300   Jugendlichkeit ist im Fall des literarischen ‚nation building‘ keine Frage der Jahre. 301   Der Umstand, dass die Rede wohl nicht gehalten wurde, tut nichts zur Sache, da es hier um eine eher produktionshermeneutische Fragestellung geht. Gleiches gilt für die Erweiterung des Textes in ‚Briefe zu Beförderung der Humanität‘ SWS XVII, 284–319. 297

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2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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Herders Abhandlung ‚Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?‘ zerfällt in zwei Teile und ein kurzes Vorwort. Im ersten Teil wird die Frage ‚Haben wir noch ein Publikum?‘ verneint, im zweiten die Frage ‚Haben wir noch ein Vaterland?‘ bejaht. In der Behandlungsweise ihrer Leitfragen unterscheiden sich beide Teile beträchtlich voneinander. Der erste Teil vergleicht die Bedingungen des öffentlichen politischen Handelns in Antike und Gegenwart; der zweite Teil beschwört die Möglichkeit eines Patriotismus unter beliebigen äußeren Lebensumständen.302 Der Text beginnt differenzbewusst. Jeder Ursprung einer zivilisatorischen Einrichtung sei in seiner Simplizität faszinierend, aber mit dem gegenwärtigen Zivilisierungsstand nicht vergleichbar. Man müsse gerecht sein: „durch fallen lernen wir gehen“,303 kommentiert Herder etwas altklug die Geschichte der politischen Ordnung. Umso gerechter sei es, nur „die Blüthe“ desselben Gegenstands in verschiedenen Geschichtsperioden zu vergleichen. Wer nun dachte, der Text würde jene Blüten feiern, wird enttäuscht. Herder weist rhetorisch schwungvoll, aber mitleidlos nach, dass antikes und gegenwärtiges Publikum unvergleichbar sind. Zum einen fehle der Gegenwart zur Ähnlichkeit mit dem trotzigen ‚demos‘ der Griechen oder dem stolzen ‚populus‘ der Römer die Verfassung im doppelten Sinn: Die demokratisch-republikanische Verfassung fehlt, in der die Stimme des Volkes als quasi göttliche Stimme vernommen und in die politische Deliberation einbezogen wird.304 Dies war einst auch wegen der simpleren Beratungsgegenstände möglich,305 während die Alternativen im modernen Leben zu komplex sind. Nicht nur die Regierungsformen sind jedoch für eine zeitübergreifende Ähnlichkeit der Öffentlichkeiten inkompatibel, auch die faktische Verfassung des Volkes ist es. War dessen Name einst „ehrwürdig“, so bedeutet er in der Gegenwart wenig mehr als „Canaille“.306 Das Volk, es kann dem theologischen Leser Rousseaus, aber auch Mösers nicht entgangen sein,307 ist in einer für politische Partizipation ähnlich ungünstigen Lage wie der sogenannte Laie für geistliche Partizipation vor der Reformation. Die Ursache dafür ist, dass in der Antike das Funktionsspektrum des Bürgers breit und für alle (Freien) gleich zugänglich war, während er im Ständesystem und durch die Aufgabenvielfalt der modernen Zivilisation eingeschränkt wird. 302   Diese soziale Konvertibilität des Patriotismus bewegt, wie bisher gesehen, nicht nur Herder. Vgl. insgesamt den stark an politik- und sozialgeschichtlichen Konstellationen orientierten Tagungsband Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit. 303   Dieses und das nächste Zitat SWS I, 15. 304   Herder konstatiert ironisch gegenüber Zimmermann und Iselin, dass Schweizer Selbstporträts nach antikem Muster diesen Mangel nicht ersetzen können. 305   SWS, I, 17. 306   SWS I, 18. 307  Vgl. zu Herders an Mösers ‚Patriotische Phantasien‘ geschultem Publikumsverständnis Welker: Warum Möser, 19.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Was der Gegenwart für eine Öffentlichkeit mit antikem Nimbus außerdem fehlt, sind die Redner. Auch dieser Mangel ist strukturell. Es gibt keine dichten Orte, an denen Reden zu Erscheinungen politischer oder rechtlicher Macht werden können.308 Redner können keine Öffentlichkeit erzeugen, die es nur durch ihre Sprechhandlung gibt. Die Kanzeln können keine Ersatzorte sein, da die Kanzelrede weder den Schmuck der klassischen Redegattungen tragen darf noch wie diese ein funktional eingeschränktes Publikum hat noch auch bloß „auf 3 Viertelstunden rühren“ soll.309 Das „Treibhaus der Redner“, in dem von einer Rede Leben und Tod von Individuen, Krieg und Frieden für die Gemeinschaft hingen, existiert nicht mehr. Auch das moderne Publikum erscheint deshalb kaum fassbar. Zwischen der Annahme einer elitären Rezeption durch wenige und der abweisenden Anonymität der Masse schwankend fragt Herder, ob die relevanten Rezipienten nicht sogar eher im Privatraum zu finden seien als in der Öffentlichkeit. Der Begriff des Publikums wird so ad absurdum geführt.310 Liest man die ‚Abhandlung‘ nur bis zu dieser skeptischen Marke, erwartet man eine Implosion des modernen Patriotismus. Doch der Text spannt sich nun zuversichtlich bis zum lyrischen Finale. Um optimistisch sein zu können, absolviert sich Herder von einer Auseinandersetzung um den Zusammenhang von „Regierungsarten“ und Patriotismen, also von demjenigen Konflikt, der zuvor die vergleichende Analyse des Publikums geschärft hatte. Nach dieser Verzichtserklärung arbeitet sich der Verfasser erleichtert durch fünf einzelne, Montesquieus Beschreibungen der Gemeinwesen im ‚Esprit de Lois‘ experimentell erweiternde Indikatoren des Patriotismus – „Ehre“,311 „Nutzen[s]“,312 „Freiheit“,313 „Tapferkeit“314 und „Religion“.315 308   Vgl. zu den Mechanismen dieser institutionellen Macht einmal mehr Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen, 70–73. 309   Dieses und das nächste Zitat SWS I, 19. 310   Dieses und das nächste Zitat SWS I, 20 f. – Vgl. Barnard: Herder on Nationality, 3 f. 311   Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, 47 passim zur Ehre als Erziehungsprinzip in Monarchien (gegenüber der Tugend in Republiken). 312  Handel zwischen Nationen hat den Nutzen, zum Frieden geneigt zu machen. Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Zweiter Band, 3 passim. 313   Vgl. §  2.1. 314   Durch die Kombination von Ehre als oberstem Prinzip und Leidenschaft als ihm angemessener Haltung ist die Tapferkeit vor allem in Monarchien patriotisch relevant. Sie kann freilich auch Teil der Selbstverleugung des Bürgers einer Republik sein. Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, 40 ff., zum ersten Punkt, Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, 53 f., zum zweiten Punkt. 315   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung SWS I, 22. – Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Zweiter Band, 174 f. zur okkasionellen Verbesserung politischer Verfassungen durch Religionsgesetze. Vgl. weiterführend Oliver Hidalgo: Die Religion des Bürgers – Montesquieu und die Grenzen des Politischen, in: Hidalgo/Herb (Hg.): Natur des Staates, 137–157. Hidalgo zeigt, wie Montesquieus protoliberale Trennung von Religion und Politik auf die religiösen Bindekräfte angewiesen bleibt, ja das Christentum wird zum Kriterium für gute und schlechte Freiheitsauffassungen.

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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Die Verfassungsfrage spielt dann in allgemeiner Weise jedoch in die Frage der Vereinbarkeit von Religion und Patriotismus hinein. Herder versichert gegen eine Fülle von Zeugen, zu denen er unter anderem Montesquieu, einige konfessionalismuskritische Naturrechtslehrer und Moser zählt, dass „unsere Göttliche Religion“, also das positive Christentum mit seinen Offenbarungslehren, „die Grundveste der Thronen und Staaten, die Stüzze der Rathhäuser, der Palläste und der Hütten sey“. Das Christentum sei zwar alles andere als „fast blos Politisch“ wie die Religion(en) der Antike, und es ende nicht an den „Mauren einer Stadt“, doch führe es keineswegs zur Unterdrückung oder Anmaßung von Freiheiten.316 Herder lässt es für diese Meinung an Gründen fehlen, doch wird erkennbar, dass er den konfessionellen Bestand des Christentums mit dessen kosmopolitischem Charakter verbinden will. Das Christentum in seinen konfessionellen Erscheinungsformen meidet demnach die politischen Extreme von Unterwerfung und Rebellion. Im Zusammenhang mit dem zweiten Indikator von Patriotismus, der Tapferkeit, wird die Verfassungsfrage allerdings programmatisch vergleichgültigt. In Solidarisierung mit Abbts monarchistischem Patriotismus hebt Herder hervor, dass sich jeder Patriot im Krieg bewähren könne, vorausgesetzt er nimmt als freiwilliger Bürger Teil statt als Söldner. Herder unterstellt mit Abbt also eine emanzipative Kraft der Bereitschaft, „für das Vaterland [.  .  .] zu sterben“. Mit der Freiheit als Indikatorenebene des Patriotismus wechselt Herder dann den Ton. Statt im Anschluss an den vorigen Topos den patriotischen Tod für die Freiheit zu verklären, argumentiert Herder eher wie Zimmermann oder Möser. Danach sei durch die allgemeine Verzweigung der Lebensverhältnisse gegenüber der Antike eine „feinere und mäßigere Freiheit“ entstanden, „die Freiheit des Genießens, ein ehrlicher Mann und ein Christ seyn zu dörfen“. Für diese Libertät treten Herders Patrioten ein. Ein weiterer Indikator ist der Altruismus. Dem Vaterland selbstlos zu nützen, ist nach wie vor möglich. Herder schränkt allerdings ein, man wolle verstehen, statt sich blind aufzuopfern. Auch in diesem Punkt mildert er den Ton gegenüber Abbts Radikalisierung des Selbstopfers. Grundsätzlich wird jedoch am Opferbegriff festgehalten, um Theoretikern wie Helvetius, Mandeville, Hobbes und Macchiavelli eine misanthropische, prinzipielle Egozentrik ihrer Macht- und Staatstheorien vorrechnen zu können. Insgesamt erklärt Herder den Patriotismus aus dem Umstand, dass – es ihn gibt. Der Patriotismus, der, wie am Kontrast von Moser und Möser gesehen, auch anders beschrieben werden kann, ist schon im Vorwort der zweiteiligen Abhandlung zur ethischen Triebfeder nuanciert worden: Ein Patriot ist „ein Glied“ des Ganzen „nicht blos im Genuß, sondern auch im Gefühl, und in Thaten“.317 Die „Ehre“, wie die Tapferkeit ein Indikationsmedium der Aktivität,   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung SWS I, 23.   SWS I, 14.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

beweist sich von der rastlos tätigen Monarchin an 318 bis zum „Jüngling“, der, wie es im abschließenden Gedicht in deutlicher Christusanalogie heißt, „aus seiner Seite / sein bestes Herzens Blut“ darbringt.319 Mit einem Manöver in der fünften von acht Strophen verknüpft Herder das Gedicht geschickt mit dem Vorwort: Auch die Schulen und „Tempel“ sind Gaben des Vaterlands, aus denen man ihm etwas zurückgibt, im Fall der Kirchen sind es christianisierte Bürger. Diese Wendung lässt zunächst an eine Nationalisierung der Religion denken, doch als Hinweis auf das Vorwort scheint sie auf eine Politisierung der Konfessionskultur hinaus zu laufen: Im Vorwort war bezogen auf den Anlaß der ‚Abhandlung‘ von viererlei „Tempeln“ die Rede gewesen, die dem Vaterland eingeweiht werden könnten. Herder versteht darunter „die eigentlichen Tempel“, also Kirchen, Gerichtsgebäude, Schulen und Einrichtungen der Sozialfürsorge (für Arme und Verdienstvolle). Die geistliche Bezeichnung hält diese Lebensorte zusammen und verweist für jeden Ort auf „einen heiligen Schauer“ angesichts des göttlichen Sinns seiner Einrichtung.320 Durch Topoi hegt Herder seine Themen konfessionell ein, auch wenn die Verhältnisbestimmung zum Christentum nicht dominiert. Man könnte auch sagen, er legt sich im gegebenen Zusammenhang die lutherische Regimentenlehre zurecht.321 Vom Vorwort aus lässt sich aber auch die wichtigste Auffälligkeit des Texts erläutern: seine Unausgeglichenheit. Der analytische Duktus des ersten Teils schwächt die enkomiastischen Erwartungen ab, während die Lobrede die Analyse unterbricht. Dadurch entsteht ein komplementärer Gegensatz. Herder bezeichnet sich jedoch als Schulmann, dem der Anlass, die Einweihung eines Gerichtshauses, das Thema nahelege. Das ist nicht selbstverständlich; er hätte von Gerechtigkeit oder Freiheit sprechen können. Stattdessen problematisiert Herder den Vergleich zwischen antiker und moderner Öffentlichkeit, lobt aber den Patriotismus wie eine anthropologische Konstante des politischen Fühlens und Handelns. Das Gerichtshaus ist ihm ein politischer Ort, und in Herders Text treffen sich alle drei klassischen Redeörter und Redegenera.322 Es wäre zu einfach, dem stilbewussten jungen Literaten und rezeptionsbewussten Pädagogen deshalb einen Stilbruch zu unterstellen. Eher handelt es sich wohl um eine vorsätzliche Gattungsmischung: Eine Deliberationsrede zum Thema Publikum, gekreuzt mit einem Enkomion auf den Patriotismus, veranlasst durch die Einweihung eines Gerichtsgebäudes. 318   Herder achtet sorgfältig auf ‚geschlechtergerechte‘ Formulierungen, da er in Riga Untertan der Zarin ist. – Wären nicht Altruismus und Ehre, wäre sie tatsächlich nur Mandevilles „Machinenmäßige [sic] Bienenkönigin“ (SWS I, 25). 319   SWS I, 26. 320   SWS I, 13. 321   Dabei erscheinen Kirchen und Schulen als zwei „Tempel“, in denen jedoch derselbe „Schulmann“ für alle vier Kultursektoren Deutungsmacht beansprucht. 322   SWS I, 13.14.28.

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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Herder geht im Vorwort vom Stolz der Griechen und Römer aus, ‚Volk‘ zu heißen und als solches politisch zu partizipieren – sein Ausgangspunkt ist aber nicht der politische Sinn des antiken Patriotismus. Vielleicht darf man daraus schließen, der erste Teil der Abhandlung breite mit seinem negativen Ergebnis Herders Problembewusstsein aus, während der zweite Teil über das unerfreuliche Ergebnis hinwegtröste und politische Optionen abtaste. Dafür wählt Herder Überlegungen zur Öffentlichkeit, die den politischen Sinn in die patriotische Fragestellung zurückholen. Der sehr frühe Text würde demzufolge die überraschend politische Erkenntnis dokumentieren, dass zur Nationsbildung mehr fehle als Eintrachtsglaube und Freiheitsprivilegien. c)  ‚Nation building‘ und die Heiligkeit der Sprache Die letzte Positionsbildung Herders auf seinem Weg zur Emanzipation vom affektiven Patriotismus findet sich in den Fragmenten ‚Ueber die neuere Deutsche Litteratur‘.323 Die ‚Fragmente‘ entfalten ein intertextuelles Netzwerk, das die deutschen Literaten durch Sprachtheorie und Literaturgeschichtsschreibung zur Arbeit an einer Nationalliteratur anregen soll. Zu diesem Zweck werden Muster aus der orientalischen, griechischen und römischen Antike als Fakten schaffende Prätexte in der deutschen Literaturgeschichte untersucht und auf ihre Vorbildfähigkeit für eine deutsche Nationalliteratur hin geprüft. Herder imaginiert sich selbst in der ‚Vorrede‘ zur ersten Sammlung in einem Doppelbild: Er überdenkt als Marius „auf den Trümmern Carthagos [.  .  .] die Schicksale Roms und Phöniciens“ und stilisiert sich treuherzig „als ein ehrlicher alter Markgraf, der über sein Deutsches Vaterland denkt“.324 Die ‚Fragmente‘ haben mit Grenzen zu tun. Sie zeigen die Begrenztheit der deutschen Literatur auf und zielen auf eine Überschreitung von Nachahmung zu eigenen Mustern. So stehen die Fragmente am Scheideweg möglicher Schicksale der Nationalliteratur. Schon in Herders einleitender Selbstimagination zeigt sich, dass seine Texte Grenzgänge sind. In der Durchführung erweitern die Texte ihre literaturkritische Kanonisierungsabsicht um Fragen der Sprachgeschichte, der (Literatur-) Geschichte, der Wissensordnung und der Politik.325 Herder denkt im Geviert von Sprache als mündlicher Rede mit ihren sozialen Aspekten, von Literatur als Dichtung und Publizistik, von Geschichte als Inbegriff des Wissens und von Weltweisheit als Pragmatik von Wissenschaft und Publizistik. Diese Disposition findet sich nicht nur in Abstrakta, sondern auch in den herausgehobenen

323   Hier zitiert nach der zu Lebzeiten unveröffentlichten, dem für die vorliegende Untersuchung bedeutsamen Jahr 1768 näher stehenden zweiten Ausgabe. – Die ästhetische Theorie von ‚Kritische Wälder‘ ist für den patriotischen Diskurs vergleichsweise irrelevant. 324   SWS I, 133. 325   SWS I, 147 u.v.ö.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

sprachlichen Tätigkeiten wieder: Redner, Dichter, historischer Schriftsteller und Weltweiser. In dieser Anordnung fangen die Systemstellen von Sprache und Wissen einen nationsweiten Diskurs über Sachverhalte an, die die Nation als Ganze betreffen, ohne das Nationale direkt zu bestimmen.326 Schon in der aufreizenden Problematisierung seiner Aufgabe formuliert Herder den Zusammenhang zwischen Sprache, Literatur und ‚nation building‘: „Ein Volk, das ohne Poetische Sprache große Dichter, ohne eine biegsame Sprache gute Prosaisten, ohne eine genaue Sprache große Weise gehabt hätte, ist ein Unding.“327 Die Beschaffenheit einer Sprache, Literaten verschiedener Ordnung und Funktion und die Nation, aus der diese herausragen, sind also zu unterscheiden. Sie verhalten sich als Systemstellen so zueinander, dass das Volk den Entdeckungszusammenhang für die Beziehung zwischen Nationalsprache und Literatur bildet. So wird die Angewiesenheit einer Literatur auf Grammatik und Struktur der ihr vorgegebenen Sprache deutlich. Auf den zweiten Blick erweist sich das „Volk“, um dessen Sprache und Literatur es geht, jedoch eher als ein „ anthropologischer und religiöser Begriff wie etwa ‚Volk Gottes‘.“328 Es ist eine kulturanthropologische Kategorie, die eine schöpferische Instanz in der Menschheit benennt. Folglich wird sogleich ein dichtes Bündel von Aufgaben präsentiert, die anzugehen wären, um eine kritisch-praktische „Philosophie über die Deutsche Sprache“ zur Bildung des nationalen Sprachgebrauchs zu erarbeiten. Eine solche Sprachphilosophie müsste im doppelten Sinn instrumentell sein: Sie hätte den Literaten verschiedener Ordnung ihre sprachlichen Werkzeuge instand zu halten und zugleich die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Denken aufzuweisen, um die Sprache als das Medium des Gedankens zu beschreiben. Herder überschüttet den Leser mit einer Fülle von Fragen, deren Diskussion die drei Positionen der Anfangsthese in eine gemeinsame gedankliche Bewegung versetzen soll. Der Entwurf einer Lebensalteranalogie für die Sprach- und Literaturgeschichte umreißt einen ersten Ant-

326  Herder nimmt aber auch direkt Bezug wie in dieser kritische Analogie: „[.  .  .] unsre Kritici sind Richter; jedes Journal reimt sich mit Tribunal: hierinn ist die Deutsche Litteratur ihrem Vaterlande ähnlich; viele Fürsten und kein gebietender Oberherr!“ (SWS I, 249). 327   SWS I, 147. 328   Ulrich Gaier: Herders Volksbegriff und seine Rezeption, in: Tilman Borsche (Hg.): Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München 2006, 32–57, hier 34 f. Gaier bezieht sich vor allem auf den Volksliedbegriff, die Überlegung passt aber auch auf den Volksbegriff vor Bückeburg; vgl. zur hebräischen Analogie Barnard: Herder on Nationality, 20 passim. Barnard arbeitet fünf Aspekte heraus: Land als gemeinsames Eigentum, Sprache und „folklore memory“, Familiensinn und Verehrung der Patriarchen. Der fünfte Aspekt ist aufschlussreich als implizit politisch: „the law, as a covenant freely entered into“. Die freiwillige Beitrittsmöglichkeit ist neben genealogischen und kulturellen Verbindlichkeiten durchaus vorgesehen.

2.5  Herders Ambivalenz gegenüber der patriotischen Diskursivität

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wortversuch: 329 Sprach- und Literaturgeschichte werden durch ein Erzählmuster, das Anfang, Mitte und Ende eines Verlaufs akzentuiert, rhetorisch aufbereitet. Danach hat jedes Lebensalter seine Vorzüge und Nachteile, eine absolute Gleichzeitigkeit der Vorzüge ist nicht konstruierbar. Der Topos der Lebensalter ist daraufhin aus Herders Schriften nicht mehr wegzudenken, als Denkfigur erlaubt er eine Relativierung bei gleichzeitiger Kontinuierung.330 Auch aus umgekehrter Erklärungsrichtung begegnet die Nation in den ‚Fragmenten‘. Sie stellt dann keine erklärungsbedürftige Hintergrundannahme für das Spiel der Verweisungen zwischen Sprache und Literatur dar, sondern wird selbst zum Erklärungsgrund. In Herders literarästhetisch normativer Grammatik beispielsweise verdichtet sich der sprachliche Nationalcharakter höchst verbindlich: 331 „Idiotismen sind Patronymische Schönheiten, und gleichen jenen heiligen Oelbäumen, die rings um die Akademie bei Athen ihrer Schuzgöttin Minerve geweiht waren. [.  .  .] da die Lacedämonier einst alles verwüsteten: so ließ die Göttin es nicht zu, dass diese fremde Barbarn ihre Hände an diesen heiligen Hain legten. Eben so sind die Idiotismen Schönheiten, die uns kein Nachbar durch eine Uebersezzung entwenden kann, und die der Schuzgöttin der Sprache heilig sind.“332

Mit dem Topos von der sakralen Selbstabgrenzung des Minervaheiligtums motiviert Herder sein Argument, wonach im Unübersetzbaren einer Sprache ihr Charakter liegt. Das Unübersetzbare in einer anderen Sprache zu kennen, ist die unabdingbare Voraussetzung für die Bestimmung des Charakters der eigenen Sprache, wird man des Unübersetzbaren doch nur im versuchten Übersetzen gewahr.333 Die Individualität einer Sprache ermöglicht die Individualität einer Literatur. Man muss sich um die Idiotismen kümmern, sie suchen, pflegen, ausbauen und anwenden.334 Eine Kultur des Eigenen auf Kosten des Fremden entsteht dadurch gerade nicht, da der Idiotismus ja nur dank der Kenntnis des 329   SWS I, 151–159. Im Grunde wird alles aus dieser Analogie entfaltet, da Herder fragt, wo die deutsche Sprache augenblicklich steht und welche Folgerungen sich darauf ergeben. 330   Der Topos strukturiert noch das späte Versepos ‚Der Cid‘. 331   SWS I, 162–166 u.v.ö. Das Thema des Übersetzens wird in mehreren Fragmenten entfaltet. Charakteristisch ist die Suche nach einer Mitte zwischen den Extremen einem alles Fremde ablehnenden Originalismus und einem Übersetzen untauglicher Muster. Herder markiert ‚Schweizer‘ und ‚Gottschedianer‘ und reserviert für sich die Position des ausgeschlossenen Dritten. 332   SWS I, 162. 333   SWS I, 176: „Nachahmen können wir hiervon [.  .  .] nichts“, meint Herder, nach Prüfung der sprachlichen und poetischen Formen der ‚Alten‘, „aber doch gehört es dazu, um die Alten dieses Zeitalters Poetisch zu lesen.“ Übersetzen vergegenwärtigt das Unnachahmliche und erlaubt inventives Lesen. Vgl. zum Übersetzungsverständnis Luca Crescenzi: Anmerkungen zu Sprachkritik und Differenzbewusstsein in Herders frühen theologischen und geschichtsphilosophischen Schriften, in: Borsche (Hg.): Herder im Spiegel, 194–202. 334   Vgl. SWS I, 159–166, hier 166: „Derselbe Blick, der die Begriffe, wie die Farben im Sonnenstral theilt, nimmt auch die Lichtbrechung in den Nuancen der Sprache wahr.“ Verlust der Idiotismen ist Verlust der Vielfalt, mit der Vielfalt geht die Individualität von Sprache verlo-

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

Fremden erkannt werden kann. Die Sprachnation ist demnach nicht nur Grundlage der Kulturnation, vielmehr hat die Erkenntnis des national Besonderen selbst vermittelnden Charakter. Nur wer Unverwechselbares an Anderen schätzt, hat auch Selbsterkenntnis.335 Noch in anderer Hinsicht bezeichnet das Unübersetzbare an einer Sprache eine auch für das ‚nation building‘ bedeutsame Grenze. Wie schon erwähnt gebraucht Herder zur Bezeichnung der Grenzen zwischen Nationalidiomen einen sakralen Topos. Das Sakrale bezeichnet das Ziehen einer Grenze um des Heiligen willen, doch so, dass die Aktivität dabei der Gottheit selbst zugeschrieben wird. Herder nutzt diese Intentionalität des Heiligen zur Kennzeichnung einer Eigentätigkeit der Sprache, die von keinem Sprecher oder Literaten erzwungen werden kann. Sie wird als unverfügbarer ‚Genius‘ in den Diskurs eingeführt.336 Die sprachliche Eigentätigkeit erlaubt wiederum, Nationalliteratur und nationales Leben von der Denkfigur einer Selbstentfaltung sprachlicher Besonderheiten aus zu verstehen. Auf diesem hermeneutischen Weg sind Kontextabschlussargumente nicht möglich. Herder zielt auf einen offenen Bildungsprozess mit drei Positionen: Sprache, Literatur, Volk (als Weltweise eigener Art). Die Einheit der Nation ist nur als Aspekt an diesem Prozess möglich, da die Freiheit der Partizipanden eine immer wieder neu, aber nie restlos zu integrierende Pluralität der Zugänge zur Nation hervorbringt. Herder lehnt Klopstocks Fiktion einer sich poetologisch verwirklichenden Institution als Vorlauf zur Nationsgründung aus gutem Grund ab: Die Leistungskraft versandet ohne die Komparativität der sprachlich-literarischen Quellen, die Herder kanalisiert und umleitet. Wer die eigene Nation kulturpädagogisch und politisch bilden will, muss sich bei den Nachbarn und in der Ferne umsehen. Wer die nationale Eigenheit gewinnen will, muss sie an anderen erkannt haben. Herder öffnet auf seinem publizistischen Feld den patriotischen Diskurs ähnlich breit wie Mösers Freiheitsgeschichte. Die poetologische Elastizität der ‚Fragmente‘ ermöglicht Herder, seine Position im patriotischen Diskurs offen zu halten. Fast möchte man sagen, Herders Spezifikum neben der kühnen institutionellen Imagination eines Klopstock und den appellativen patriotischen Schriften anderer Autoren sei es, sich der Stellungnahme zu entziehen. Doch Herder überholt die patriotische Stellungnahme überhaupt, indem er die Pluralität der Patriotismen und der Vaterländer ren, und deren Verlust lässt mit dem Humor das Hauptreservoir einer Zivilität von Sprache austrocknen. 335   SWS I, 211.216 f. Herder will keine Autarkie der deutschen Sprache wie später Arndt, sondern eine sinnvolle Kommunikation zwischen den Kultursprachen, aus der alle ihren Nutzen ziehen. 336   SWS I, 148.150, im Zusammenhang mit den ebenfalls unverfügbaren Lebensaltern 151 passim.

2.6  Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation

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als Erkenntnismedium nutzt und sich auf diese Weise Einsichten zum ‚nation building‘ in Geschichte und Gegenwart verschafft. Wo das ‚nation building‘ anderer Autoren auf Grenzen stößt – auf rein territoriale Loyalität, Klasseninteresse oder ein schwaches Institutionalisierungsbedürfnis beim Publikum – begibt sich Herders literaturästhetischer Diskurs an die Grenzen, um gleichsam an ihnen entlangzugleiten. Die Einsicht in das Fehlen einer Nationalliteratur teilen alle patriotischen Nationsbildner, doch Herder zieht hermeneutische Konsequenzen daraus. Er hält die Sprache – als Allgemeines in der Kommunikation – und die Literatur – als ästhetisch Individuelles der Sprache – für so unverzichtbar in der Rede von der Nation, dass ihrer Erforschung selbst eine patriotische Dimension zuwächst. Aus diesem Grund fehlt der konfessorisch-appellative Zug. Ohne Jargon des ‚Eigentlichen‘ nimmt Herder am nationalen Diskurs teil.337 Wenn in ‚Auch eine Philosophie der Geschichte‘ die nationale Thematik bahnbrechend kulturalisiert und die Pluralität nationaler Leitkulturen elementar wird, so ist diese Wendung gut vorbereitet. Herders planmäßige Uneindeutigkeit zum Geschichtssubjekt bewegt die Herderforschung bis heute.338 Die Affirmation nationaler Vielfalt mithilfe einer Theologisierung des Geschichtssinns durch den ‚Philosophen‘ Herder muss wohl irritieren.

2.6  Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation Die konstruktivistische Annahme, nationalistische Ideologie existiere vor politischen Nationsbildungen, scheint auf die deutsche Situation vor 1800 zu passen. Überdies hat den patriotischen Phantasmen für lange Zeit keine politische Nationsbildung entsprochen. Bei weiterer Anwendung des Theorems ist festzustellen, wie der für lange Zeit frei flottierende Patriotismus in immer neue Metamorphosen gerät, bis er aus politischer ‚Unerlöstheit‘ die Farbe des Nationalhasses annimmt. Die militante Auflösung des Dilemmas von politischer und kultureller Deckungsungleichheit der Nation in der bismarckschen Nation hät-

337  Gegen Fischer: Das Eigene, 205–218, der, mit Bezug auf spätere Texte, eine Verwechslung von Wachsen und Machen der Kulturnation behauptet. Herder verwendet Wachstumsmetaphern kulturtheoretisch, ohne seine Metaphern zu ontisieren. Vgl. §  3.3. Vgl. weiterführend Ferdinand Fellmann: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg 1976. 338  Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Elemente von Herders Nationalkonzept, in: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, 27–34. Schmidt-Biggemann spricht von einem „Trilemma“, da die Natur sich als final nicht geordnet erweist, der Gottesbegriff historisiert ist und dennoch Finalität in die Geschichte kommen soll. Daher hat Herders Humanitätskonzept eine immanente Finalität.

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

te dann das prekäre Verhältnis von nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit für einen gewissen Zeitraum integriert. Diese konstruktivistische Annahme, für deutsche Verhältnisses ausgesponnen, hätte jedoch Webfehler. Mit der publizistischen Priorität des Nationalismus vor der politischen Praxis setzt sie die Ideologie selbst einfach voraus. Die globale Breite der konstruktivistischen Nationalismustheorie ist vielfach von dem politischen Anliegen getragen, die Gefährlichkeit ihres Gegenstands genealogisch zu verstehen, aber auch eine postkoloniale, emanzipative Dimension zu erkennen.339 Über dieser breiten Anlage verschwinden manchmal die ‚alteuropäischen‘ Traditionen, die den nationalen Diskurs – nicht nur in Deutschland – massiv mitgeformt haben und ihrerseits Rückkoppelungen erfahren haben. Schreibt man der Phantasie jedoch derart konstitutive Kraft im Politischen zu wie der Konstruktivismus, dann muss man die intertextuelle Verfasstheit patriotischer Imaginationen genauer beschreiben. Wenn sich das Eigenleben von nationalen Ideen und patriotischen Phantasmen wirklich nicht auf eine Funktion sozialer oder ökonomischer Vorgänge reduzieren lässt, muss den diskursiven Verflechtungen der politischen Phantasie erst recht konstitutive Bedeutung für eine nationale Ideologie zugeschrieben werden.340 So erscheint es zwingend, konstruktivistische Nationalismustheoreme von der Annahme einer patriotischen Zirkulation konfessioneller Semantik aus theologisch weiterzubilden. Die in diesem Kapitel untersuchten Texte und Verfasser haben ein Spektrum für solch eine Weiterbildung geboten. Die engagierten patriotischen Autoren von der turbulenten Mitte bis in die ruhigeren siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts verstehen unter Patriotismus oder Nation nicht dasselbe. Dagegen ist ihnen die politische Rhetorisierung ihrer Konfessionskultur gemeinsam. Abbt, Moser und in Teilen der junge Herder sind sich einig über Bedarf und Zulässigkeit der biblisch-christlichen Topik im Patriotismus. Abbt, von Herder posthum sekundiert, steht zwar als territorialer Patriot und friderizianischer Loyalist politisch gegen den Reichspatrioten und Partikularismuskritiker Moser. Doch beide durchsetzen die patriotische Rede mit biblischen und christentumsgeschichtlichen Örtern. So entstehen die christologische Majestät und Niedrigkeit Friedrichs II., ein emanzipatives Martyrium des freiwilligen (Bürger-)Soldaten und ein Staatsmartyrium des reichspatriotischen Hofbeamten, der pfingstliche Geist der patriotischen Einigkeit und die heiligen Schauer bei der Einweihung eines politischen Ortes. All diese gleichsam durch Kreuzung gezogenen Topoi zeichnen sich durch eine christliche Legitimierung des Patriotismus aus. Sie folgen keinem Säkularisierungsgefälle. Die rhetorische Freiheit   Anderson: Erfindung, 7–10. Anderson sieht die konfessionellen Kontexte am klars-

339

ten.

  Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, in: Ders.: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 32004, 102–132, hier 103. 340

2.6  Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation

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im Rekurs auf die christliche Tradition ist, wie Herders Apologie für Abbts Bibelstil zeigt, zwar kühn, aber stilistisch angemessen (‚aptum‘). Die patriotische Rhetorisierung des christlichen Sprachumgangs bleibt allerdings beschränkt. Von einer Nationalisierung der Religion zu sprechen,341 wäre übertrieben. Die patriotische Rhetorik bezieht sich nie auf das Ganze des Christentums, sondern wählt Örter für bestimmte Zwecke und bringt auf diese Weise konfessionelle Semantik zum Zug. Außerdem homogenisiert die Nationalisierungsthese kleinteilige semantische Zirkulationen zu einem geschichtlichen Prozess. Und die christlichen Sinnhorizonte bleiben bei aller patriotischen Funktionalisierung ambivalent: Abbt meint sie ganz entbehren zu können, ihre tatsächliche Verwendung spricht jedoch gegen diese Annahme. Mosers Reichspatriotismus bleibt trotz pietistisch vermittelter Versatzstücke, die in einer neuartigen Geselligkeit die Besten der Nation versammeln wollen, der Ökonomie des konfessionellen und politischen status quo verhaftet. Die Anerkennung des status quo enthält zwangsläufig der gefühlten Nation die politische Form vor. Und Mösers Sympathie für Abbts Schriften führt nie zu einer vergleichbar stark affektorientierten Auffassung patriotischer Loyalität. Mösers analytischer Blick auf die deutschen Lebensverhältnisse ermittelt vielmehr das Fehlen eines patriotischen Subjekts – ein entscheidendes Defizit für die Nationsbildung. Mit nationaler Freiheitsgeschichtsschreibung soll deshalb der theoretische Boden einer künftigen Nationsbildung bereitet werden.342 Das Christentum wird dabei meist funktional beschrieben. Affirmativ konfessionell schreibt Möser dagegen in den unaufgeregten Bahnen einer rationalen Orthodoxie, die in der Bereitschaft des ‚gemeinen Mannes‘, sich mit dem ‚Nächsten‘ zu solidarisieren, einen Boden zur Nationsbildung erkennt. Klopstock führt die Trennung von patriotischer und frommer Loyalität in Aufnahme rhetorisch-poetologischer, aber auch konfessionsspezifischer Ordnungsmuster am striktesten durch. Nicht zufällig scheitert gerade er. Er besteht einerseits rhetorisch konservativ auf einer Ordnung von Gattungen und Gegenständen zum Besten von Literatur, Wissenschaft, Religion und Vaterland. Andererseits treibt er in den sauber getrennten Gegenstandsbereichen seiner Publizistik den Avantgardismus auf die Spitze, indem er eine sich verselbständigende Institution nationaler Bedeutung poetologisch zu erzeugen (und das Christentum in der ‚heiligen Poesie‘ auf einen dichterischen Inbegriff zu bringen) 343 sucht. Klopstocks Bewusstsein für das politisch Mögliche mag geringer ausgeprägt gewesen sein als das der Praktiker Moser und Möser. Doch gerade in

  Vgl. §  1.   Vgl. zu seinem Arminiusdrama §  4.1 (b). 343   Vgl. §  3.2. 341

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

ihrer Art kennzeichnen Klopstocks Texte wichtige Lücken in der Nationsbildung. Man könnte vermuten, das Erklärungsmodell einer ‚Sakralisierung der Nation‘ habe gegenüber den patriotisch-protestantischen Ligaturen im 18. Jahrhundert bessere Aussichten. Tatsächlich scheint verschiedentlich die Erhebung der Nation in den Rang eines Heiligtums vollzogen. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich auch dieses Erklärungsmodell als zu vereindeutigend. Zu verschieden ist jeweils das, was unter Nation verstanden wird, zu verschieden die Zuordnung von Einheit und Freiheit der Deutschen. Gegenstand einer Sakralisierung wäre bald die Einheit, bald die Freiheit der Nation – zwei sehr unterschiedliche Ausgangspunkte, wie der Konflikt zwischen Moser und Möser zeigt. Abbts messianischer Friederizianismus endet mit den Grenzen eines Territoriums; sein theoretisches Interesse, die Patriotismusfähigkeit der Monarchie abstrakt aufzuzeigen, bricht sich an der konkreten Loyalität zu Preußen. Herders an Abbt geschulte ‚Abhandlung‘ vermag indes ohne einheitliches und freies Publikum gar nicht zu wirken. Mit der Vielfalt patriotischer Konzepte geht eine Funktionsverschiedenheit der christlichen Tradition einher. Der Rückgriff auf konfessionelle Semantik ist wichtig festzustellen, sagt aber als solcher nichts über die Verknüpfungen von Konfessionalität und politischer Imagination. Die teleologischen Narrative zur Konfessionalität im nationalen Diskurs lösen sich deshalb in Differenzierungen auf; übrig bleibt die Annahme einer Zirkulation konfessioneller Semantik in verschiedenen Modellen der Nationsbildung. Die Literaten entdecken dabei jedoch Nationalsprache, nationale Literatur und Kultur als Referenzgrößen für den nationalen Diskurs. Damit ist eine Stelle entdeckt, von der aus ein Weg zur Nationsbildung möglich scheint. Dieser Weg wird zunächst keineswegs als ein von Feindmarkierungen gesäumter deutscher Sonderweg bestimmt. Er indiziert vielmehr Individualität, über die andere, politisch in Richtung Einheit und Freiheit fortgeschrittenere Nationen bereits verfügen. Durch die Entdeckung der Kultur als eines komplexen Referenzmodells erweist sich die Nationalcharakterdebatte dann zunehmend als Aporie, die man verlässt oder umgestaltet. Mösers annalistische Freiheitsgeschichte und Herders frühe Tendenz zu einer universalen Kulturgeschichte liegen in dieser Hinsicht auf einer Linie. Angesichts dieses Sachstandes ist eine theoretische Neujustierung angebracht. Statt von einer Nationalisierung der Religion oder einer Sakralisierung der Nation hat man von einer Kulturalisierung des Patriotismus auszugehen, die den Rückgriff auf konfessionelle Semantik verändert.344 Die konfessionellen Mittel der patriotischen Rhetorik erscheinen nun innerhalb der Entdeckung nationaler Kultur. Das Politische verschwindet aber nicht; es gab im ‚nation buil  Vgl. weiter vertiefend §  4.5 und §  5.2.

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2.6  Zirkulationen konfessioneller Semantik – Einheit und Freiheit der Nation

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ding‘ um die Mitte des 18. Jahrhunderts bereits ein Problembewusstsein für alternative Bestimmungen des Nationalen.345 Möser hat die Kultur durch seine theoretische Wende im nationalen Diskurs entdeckt, aber auch durch die Bearbeitung des Freiheitsproblems, in dem er den Schlüssel zur Nationsbildung vermutet. Klopstock bearbeitet die nationale Frage mit dem kulturpolitischen Versuch, eine Institution zu etablieren, die über die freie Kommunikation von Wissen und Kunst Einheit herstellt. Herders Zähmung des Patriotismus versucht Ähnliches, hält sich aber wie Möser in theoretischen Bahnen und wertet die Pluralität deutscher Patriotismen als Kulturgewinn. Die kulturale Wende im Patriotismus führt zur Veränderung der Zugriffe aufs Christentum. Diese Veränderung muss sich auch der theologischen Weiterbildung der konstruktivistischen Nationalismustheorie mitteilen. Während man sagen kann, dass die patriotische Rhetorisierung biblisch-christlicher Tradition bei Abbt und Moser relativ klar auf die politische Einheit und Freiheit der Nation bezogen wird, pflegt Klopstock die Differenz von Religion und Vaterland als Sujets. Seine Gelehrtenrepublik thematisiert allerdings immanent die Fragen nationaler Einheit und Freiheit. Für Möser und Herder liegt der Fall schwieriger. Beide haben die deutsche Nationsbildung als äußerst komplexes Problem erfasst und vermögen sich deshalb auch zur christlichen Konfessionalität nur komplex zu verhalten. Möser beginnt daher eine ‚Soziologisierung‘ der Konfessionskultur im Zeichen nationaler Freiheitsgeschichte. Dadurch entsteht eine selten, aber auffallend positionell unterbrochene, analytische Distanz zum Christentum als Prä- und Kontext des Nationsverständnisses. Herder tritt hingegen als Theologe publizistisch leise, um den Vorwurf der Parteilichkeit abzuwehren, gibt im nationalen Diskurs – und ihm gegenüber – aber theologische Positionen zu erkennen. Im Patriotismus erweisen sich biblische Topik und Christentumsgeschichte als äußerst virulent. Patriotische Literaten schöpfen aus der Quelle, in die, wie Herder formuliert, „meine Einbildungskraft in zarter Kindheit getaucht wurde, aus der in das Gedächtniß meiner Leser Ströme geleitet wurden“.346 Da wird nicht säkularisiert oder sakralisiert, sondern plausibilisiert, also ein rhetorisches Verfahren angewandt. Noch die theoretisch-distanzierten Zugriffe aufs Thema partizipieren an diesem Verfahren. „Nur drei Gestalten aus der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – nämlich Klopstock, Justus Möser und Herder – kann man, jeden in seiner Art, als Vorläufer des deutschen Nationalismus ansprechen. Doch auch diese Gestalten wurzelten tief in der Aufklärung“.347 Es ist bezeichnend,  Vgl. Meinecke: Weltbürgertum, 9–26.   SWS II, 286. 347   Hans Kohn: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution, Heidelberg 1950, 560. 345

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§  2 .  Patriotische Institutionalität und konfessionelle Topik

dass der Autor dieses Urteils unter Nationalismus weniger eine Entfesselung von Affekten wie Abbt als vielmehr den hermeneutischen Versuch versteht, zu bestimmen, was eine Nation überhaupt sei. Deshalb nennt er Klopstock, Möser und Herder. Der Begriff Nationalismus selbst hat hier objektiven Charakter, auch dies ist eine Option seiner Verwendung gewesen. In diesem Sinn beschäftigen die genannten Autoren – neben anderen – auch das nächste Kapitel. Sie verknüpfen konfessionelle Sprachkultur und Beobachtungen am Nationalen. Die Identifikation von Luthersprache und Muttersprache ist der zentrale Punkt dieser die Epochengrenzen überschreitenden Kombinatorik.

§  3.  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator Der patriotische Diskurs des 18. Jahrhunderts ist Teil einer gesellschaftsweiten Suche nach Legitimationen für die Konservierung alter oder die Etablierung neuer Lebensformen. Die mit dieser Suche verbundenen Ablösungsprozesse sind labil und reversibel. Beispielsweise sind die Vorstellungen von Revolution und Palingenesie noch verwandt. Wenn ein Zeitkommentator wie Ernst Moritz Arndt von Revolutionen spricht, können irreversible Ereignisse gemeint sein, aber auch komplette Umkehrungen, die eine Wiederkehr von scheinbar Abgelebtem einschließen.1 Konfessioneller Kulturhorizont und christliches Selbstverständnis halten die Legitimationsstrategien patriotischer Autoren in den Bahnen gewisser Zirkulationen. Der Rekurs auf Luther und die Reformation begegnet beim ‚nation building‘ als konfessionelle Selbstvergewisserung. Im patriotischen Gedenken der ‚Sattelzeit‘ repräsentiert der Reformator sowohl nationales Einheits- als auch bürgerliches Freiheitsstreben. Seine Frontstellung gegen Rom und Kaiser erscheint als Aufbegehren gegen überlebte Autoritäten. Mit dem einst die deutsche Nation ausbeutenden päpstlichen Rom und dem von seinem Volk auch sprachlich entfremdeten Kaiser werden Probleme der äußeren und inneren Abhängigkeiten der Nation, ihre dezentrale Staatlichkeit und kulturelle Fremdheit konnotiert. Gegenüber dieser negativen Typisierung ist Luthers Bibelübersetzung ein affirmativer Fluchtpunkt. Sie gilt im protestantischen Milieu unerachtet der die Nation spaltenden Konfessionalisierung als Hauptfaktor einer Vereinheitlichung der Nationalkultur.2 Außerdem erlaubt die Auffassung Luthers als „Sprachereignis“3 Loyalität zum Reformator ohne supranaturale Zumutungen durch die altprotestantische Lehre. Sprachkulturelle Einheit und die Freiheit von Gewissen und Wissenschaft bilden den Kernbestand der nationalen Luther-Topik.

  Vgl. dazu §  4.4. (a).   Dabei geht es nicht um die numerische Verbreitung der deutschen Bibel, sondern um die erinnerbare Tat der Übersetzung. 3   Gerhard Ebeling: Luther, Tübingen 41981, 1–17. 1 2

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Vorgearbeitet ist dieser Topik durch die Rekurse des 17. Jahrhunderts, die Luther als ‚propheta‘ und Melanchthon als ‚praeceptor Germaniae‘ bezeichnen.4 Gemeinsame Bezugsgröße beider Umschreibungen ist die nationale Bedeutung der Reformatoren, die bei Luther auf der muttersprachlich gewendeten Durchsetzungsmacht seiner Theologie, bei Melanchthon auf der humanistischen Investition ins nationale Bildungswesen beruht.5 Melanchthons Titel verweist unter Hintanstellung des theologisch-kirchenpolitischen Ranges seines Inhabers auf dessen Gelehrsamkeit und seine langlebigen Lehrbücher. Luther wird dagegen zugeschrieben, das Evangelium in der Kraft der Muttersprache von kirchenpolitischen und theologischen Verstellungen befreit zu haben. 6 Die Sprachgesellschaften des Barockzeitalters haben Luther zum musterhaften Übersetzer stilisiert und, da viele Mitglieder zugleich Juristen waren, die Tätigkeit des Reformators als politische verstehen können. Luther kam daher schon in gewissem Maß als einigendes nationales Sprachgenie und Befreier Deutschlands auf das 18. Jahrhundert zu.7 Auf Luther lassen sich Desiderate der Institutionalisierung nationaler Einheit und Freiheit projizieren. In diesem Sinn greifen patriotische Schriften der Aufklärung die Luther-Topik auf. Sie interpretieren Luthers nationalen Rang allerdings in Variationen. Klopstock nimmt dann vom Berufsverständnis her Maß an Luthers Sprachgenie. Der Dichter beansprucht, die Nation an seiner Darstellung des Heiligen zu bilden. Herder verhält sich zu diesem Konzept so ambivalent wie gegenüber dem patriotischen Diskurs im Ganzen. Nach einem reformatorischen Selbstentwurf revidiert er die Fragen des ‚nation building‘ geschichtstheologisch. Nach 1800 kommt es zu extremen Anwendungen der nationalen Luther-Topik: Ernst Moritz Arndt ahmt zur publizistischen Mobilmachung um 1813 Luthers Deutsch nach und stilisiert sich in einem exzeptionellen Ausdrucksexperiment zum neuen ‚propheta Germaniae‘. Kleist zerschlägt hingegen die nationalintegrativen Luther-Topoi in der Novelle ‚Michael Kohlhaas‘ und stellt Luthers Nichtmodernität heraus. Im Übergang zum kriegsbedingten ‚nation building‘ erweist sich die Luther-Topik als überaus mehrdeutig.

4   Vgl. nach wie vor Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, hier S.  157 passim. 5   Das tief in Latinität getaucht bleibt. Vgl. Barner: Barockrhetorik, 275 passim.339 passim. 6   Vgl. zur Bibelrhetorik im Barockzeitalter Dyck: Ticht-Kunst, 151–173, hier 152: „Die sich formierende Dichtergilde, um eine Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit der deutschen Sprache bemüht, hebt als Kronzeugen für diese apologetischen Behauptungen Luther auf ihren Schild“; vgl. zu Begriffsgeschichte und Begriffspolitik Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache, Opladen 1994. 7   Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland, 54–91.

3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik

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3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik Patriotische Luther-Topik findet sich bereits in der Nationalcharakterdebatte. In der Abwehr von Angriffen auf den deutschen Charakter repräsentieren Luther und die Reformation in Prosa und Poesie das Beste der Nationalkultur. Im folgenden wird die Luther-Topik zweier Textbeispiele durchmustert. a)  Luther als Aufklärer seiner Nation: Möser versus Voltaire Justus Mösers schmaler Text ‚Lettre à Mr. de Voltaire contenant un Essai sur le caractère du Dr. Martin Luther et sa Réformation‘ stellt eine frühe nationale Anverwandlung Luthers dar. Die Schrift zirkulierte 1750 als offener Brief an den französischen Meisterdenker, wurde 1765, auf dem Höhepunkt der Nationalgeist-Debatte, auf Deutsch publiziert8 und mehrmals wieder aufgelegt. Auslöser für Mösers Invektive sind die von Voltaire im englischen Exil (1726–1729) verfassten ‚Lettres écrites de Londres sur les Anglais‘.9 Die ‚Lettres‘ haben zwei Ziele: Sie suchen die sensualistische Philosophie in Frankreich buchstäblich hoffähig zu machen und sie stellen die freiheitlichen Züge der englischen Öffentlichkeitskultur reportagenartig als Vorbild für Kontinentaleuropa dar. Vor allem dieser Zug hat ihre Wirkung in Frankreich und Deutschland beträchtlich erhöht. Zur freiheitlichen Grundierung der neuen Anglophilie gibt es keinen Dissens und auch der Sensualismus wird in der Literatenszene rezipiert.10 Uneinigkeit besteht in der Skizze der Nationalcharaktere. Während die Nachahmung antiker Vorbilder das unumstrittene Stilideal für alle europäischen Nationen bleibt, trifft Voltaire eine Zusatzunterscheidung im Sinn des Barbarenstereotyps. Er nimmt Partei für die Schreibweise der modernen philosophierenden Literaten Frankreichs und Englands und kontrastiert sie mit schlechten Beispielen aus der Neuzeit, wozu er Luther rechnet. Luthers Abwertung erfolgt mithilfe einer Epochalisierung, wie sie sich seit Nietzsches ‚Der Antichrist‘ auch in heutigen kulturwissenschaftlichen Debatten findet.11 Voltaire wertet im Zuge einer Spaltung der frühneuzeitlichen Er8   Hier zitiert nach der ältesten greifbaren Publikation: Sendschreiben an den Herrn von Voltaire über den Charakter D. Martin Luthers und Seine Reformation. aus [sic] dem Französischen übersetzt von Georg Wilhelm Bokelmann [.  .  .], Lübeck, verlegts Jonas Schmidt und Donatius. 1765. – In der Vorrede bezeichnet Bokelmann Mösers Text als „Verteidigung“, d. h. als rhetorische Textform. 9   Bekannt wurden sie unter den Titeln ‚Letters concerning the English nation‘ (1733) und ‚Lettres philosophiques‘ (1734). Für die deutsche Rezeption war die Basler Ausgabe von 1734 einschlägig. 10   Möser sieht schärfer als Voltaire, dass eine Nation zu ihrer politischen Repräsentation nicht notwendig eines souveränen Individuums bedarf. 11  Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Kritische Studienausgabe 6, hg. von Giorgio Colli und Maurizio Montinari, München 1988, 250, wonach die Deutschen „Europa um die letzte grosse Cultur-Ernte“ der Renaissance brachten, indem sie deren vornehme

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

neuerungsbewegungen die Reformation als zivilisatorischen Rückschritt gegenüber der Renaissance ab. Die Reformation habe keinerlei Verbesserungen gezeitigt, vielmehr hätten sich infolge von Luthers monastisch und scholastisch bedingter Engherzigkeit Sekten gebildet, die das politische Leben beeinträchtigen und die Gewissen verunsichern.12 In diesem Punkt sei Luther dem ‚Fanatiker‘ Mohammed auf fatale Weise ähnlich.13 Luthers politische Wirksamkeit erkläre sich durch eine temporäre Schwäche der Kirche, im Übrigen habe er geschrieben, was seine Landesherren wollten.14 Auch Luthers Bibelübersetzung sei ein sektiererischer Barbarismus. So findet sich das protestantische Lutherbild vielfach bedrängt: konfessionell, politisch, moralisch, kulturell. Das von Voltaire geschnürte polemische Paket ist gewichtig, eine literarische Replik von deutscher Seite auch mit Blick auf Friedrich II. von Preußen fällig.15 Als exklusivistische Feindmarkierung wäre Mösers Antwort jedoch missverstanden.16 Möser beabsichtigt nicht, seinen Gegner zu vernichten, sondern dessen Position zu relativieren, um ein Nationsverständnis zu erarbeiten, das entgegen der Identifizierung durch ein einzelnes Charaktermerkmal wie ‚bel esprit‘ eine Pluralität von Merkmalen zulässt.17 Dabei hilft eine komplexe, historische Kriteriologie, welche die gelebte innere Vielfalt der Nationalkultur würdigt und bestehende politische Freiheiten nicht über Freiheitsidealen vergisst.18 Das andere Ziel des ‚Sendschreibens‘ ist praktischer Natur. Der Text soll durch eigenen Schliff den hohen Rang der deutschen Sprachkultur beweisen und sie vom Barbarenstereotyp befreien.19 „Umwerthung der christlichen Werthe“ durch Luthers Reformation vereitelten; vgl. auch Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, 146– 172. Kittler beschreibt Nietzsches Kulturwissenschaft als eine Tätigkeit, die Weltanschauungen auf ihre rhetorische Grundlage zurückführt, politisch interveniert, wo diese Grundlage verstellt wird, und die sogenannten Geschichtsepochen umwertet. 12   Möser: Sendschreiben, 20 f.24 f.34.36 13   Möser: Sendschreiben, 6 f. 14   Möser: Sendschreiben, 19 passim. – Möser muss einerseits gegen den Vorwurf der rebellischen Spaltung Europas, andererseits gegen eine frühe Variante des Vorwurfs der Obrigkeitshörigkeit antreten. Beides argumentativ zu vereinbaren, ist nicht immer leicht. 15   Vgl. das geradezu kollektive Leiden deutscher Intellektuellen an Voltaire gegenüber der produktiven Rezeption Montesquieus. 16   Vgl. diese Lesart in der Übersicht ‚Mösers nationales Denken im Spiegel der Kritik‘ bei Stauf: Justus Mösers Konzept, 26 ff. 17  Vgl. Mösers hierauf fußende spätere Gedanken §  2.3. Ernst Walter Zeeden charakterisiert in seinen für die Luther-Rezeptionsforschung bahnbrechenden Studien die diskursbestimmte Prägung von Mösers Lutherverständnis zwar zutreffend, verfehlt jedoch die Funktion dieses Verständnisses für den nationalen Diskurs. Vgl. Ernst Walter Zeeden: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, I. Band: Darstellung, Freiburg im Br. 1950, besonders 306–309. 18   Durch die Schweizer Vermittler dieses Theorieprozesses hat die Diskussion bereits eine anglophile Wende genommen, die sich ästhetisierend und liberalisierend auswirkt. 19   Der Argumentationszug zu Luthers hochstehender häuslicher Kultur verfolgt eben-

3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik

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Auf der (kirchen)politischen Ebene muss Möser den provokativen Vergleich Luthers mit ‚Mahomet‘ und die Zuschreibung von sektenbildender Rechthaberei beantworten. Er stellt der Bezugnahme auf den, in aufklärerischer Sicht Politik und Religion fälschlich vermischenden Stifter des Islam die sorgsame Trennung von Bekenntnis und Politik durch Luther und die „friedfertigen Männer“20 der Reformation entgegen. Sekten habe es immer schon gegeben.21 Dank Luthers Bindung der Glaubensüberzeugung an die alleinige Autorität des individuellen Gewissens sei dagegen eine funktionale Staatlichkeit möglich geworden, die Sekten ohne sakrale Gewalt zu steuern vermag.22 Die für den Spielraum des Gewissens nötige Trennung von kirchlichen und politischen Instanzen wird mit Bezug auf Luthers ‚Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei‘ beglaubigt.23 Das Luthertum erscheint bei Möser in bester Darstellungsabsicht als Garant staatlicher Stabilität: „Zur Ehre seiner Lehre, ist kein protestantischer Staat, wo die physische oder moralische Einheit nicht die höchste Instanz ist“.24 Mösers konfessionspolitische Argumentation springt kühn in die ‚Querelles‘ hinüber, um den Epochenstreit umzuwenden: Ohne Luther gebe es keinen Voltaire, dessen Freiheitsgebrauch auf reformatorischen Grundsätzen fuße, Voltaire lebt demnach in einer Welt der Reformationsfolgen.25 Mit der Überwindung einer vernunftresistenten Kulturstufe des Christentums habe Luther das größte Hindernis für die Entfaltung neuzeitlicher Rationalität weggeräumt, wie Möser gleichsam protestantismustheoretisch argumentiert. „Es ist weit leichter, einen vernünftigen und aufgeklärten Geist von der Wahrheit zu überzeugen, als solche personierte [sic] Spitzfindigkeiten, solche halsstarrige Schulweisen, solchen abergläubischen Pöbel, solche Geistlichkeit, deren Eigennutz erfordert, dass die gegenseitigen Vorurtheile erhalten werden.“26 falls diesen Zweck. Luther ist für Möser ein spätbarocker ‚politicus‘, der im Tischgespräch jedem das Seine zumisst, nach Tisch Selbstkomponiertes aufführt und auch der intellektuellen „Reitzung“ durch seine Gattin zuspricht. Vgl. Sendschreiben, 13–17.34 ff.38 f. 20   Sendschreiben, 7. 21   Sendschreiben, 24 f. – Der Sektenbegriff ist ‚soziologisch‘, nicht dogmatisch gebraucht. 22   Sendschreiben, 24. 23   Sendschreiben, 20. – Möser nennt einen Text „von der Würde und dem Amt der Obrigkeit“. Was Möser vorlag, muss wegen der Fehlzitation letztlich offen bleiben. Luthers Grenzziehung für den Gehorsam spielt für Mösers apologetisches Interesse keine Rolle. 24  Ebd. 25   Insbesondere der Angriff auf die römisch-katholische Hierarchie wäre ohne Luthers Vorbereitung schwieriger: vgl. Sendschreiben, 19. – Vgl. zur Denkfigur einer ‚Welt der Folgen‘ des Protestantismus Trutz Rendtorff: Art. Christentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band  1, hg. von Otto Brunner et. al., Stuttgart 1972, 772–814, hier 772.782 f.; Ders.: Von der Kirchensoziologie zur Soziologie des Christentums, in: Ders.: Theorie des Christentums. Historisch-soziologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 116–139, hier 129.135 f. 26   Sendschreiben, 22.

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Damit wird die schwierige Ablösung vom Mittelalter einschließlich der Säkularisation als deutsche Initiative reklamiert.27 Mehr noch, die Aufklärung ist in der Kirche selbst auf Dauer gestellt: „Eine Kirche die einmal erleuchtet ist, bedarf keiner Fackeln mehr“.28 Kirche und Welt sind durch Luther aufgeklärt.29 Um des rhetorischen Schlagabtausches willen verkürzt Möser die intellektuelle Gestalt Luthers in theologischer Hinsicht. Alle in die Scholastik zurücklaufenden theologischen Fäden werden mit einem Schnitt durchtrennt,30 um das Barbarenstereotyp zu bestreiten. Deutsche Urbanität ersehnend hält Möser dem Diskursgegner Luthers eigene, auch im häuslichen Alltag praktizierte Urbanität entgegen.31 Allerdings wird Luthers Wirksamkeit nicht völlig enttheologisiert, vielmehr sichert ihre theologische Dimension ein alternatives Vernunftverständnis ab. Möser hebt konträr zu Voltaires Klugheitsideal auf die Weisheit des Reformators ab, zu dessen Wirkungskreis gerade auch das geringe Volk gehört habe, weshalb es „Luthern eben so viel Ehre mache, Alberne, Thoren und Unvernünftige bekehrt zu haben, als dem Orpheus, durch die angenehme Harmonie seiner Leier, Pluto und die Steine zu bewegen.“32 Die Hülle dieses Arguments besteht in dem Hinweis, Luther habe die ungeheure Aufgabe bestanden, seine eigenen Rezeptionsbedingungen gut einzuschätzen. Möser schließt aus Luthers Wirkung auf die Angemessenheit seines Stils, wozu manchmal auch die groben Mittel gehörten. Der Kern des Arguments weist dem evangelischen Rhetor eigene, seiner Sache und seinem Publikum gemäße Stillagen zu.33 Voltaire muss sich sagen lassen, dass er anders als Luther nicht für die ganze Nation leuchtet, sondern nur vor klugem Publikum glänzt. Möser rhetorisiert nun seine breit eingeführte kulturelle Argumentation weiter und kommt zur Persönlichkeit des Reformators. Das reformatorische Erfordernis eines Sprachgenies habe keinen mittleren, affektberuhigten Charakter zugelassen. Diese Behauptung wird mit dem Zitat eines Zitats belegt, das geschickt in die ‚Querelles‘ zurückführt: „‚Eine ausserordentliche Größe hat gewöhnlich nicht die Reinigkeit der Mittelmäßigen‘, sagt [.  .  .] der Abt Resnel [sic], in seinen Anmerkungen über die folgenden Worte des Pope: ‚Ich mag lieber einen erhabenen und hitzigen Schriftsteller leiden, der zwar man-

27   Möser argumentiert wie sonst auch ökonomisch: Luther sei durch die Säkularisierung von Mönchen und Nonnen ein Genie der Peuplierung gewesen. Sendschreiben, 10–13. 28   Sendschreiben, 21. 29   Sendschreiben, 11.18. 30   Luther kann nachgerade als Vertreter eines Akkomodationstheorems erscheinen (Sendschreiben, 18 f.). 31   Sendschreiben, 13 ff.34 f. 32   Sendschreiben, 22. Luther beherrsche auch den ‚sermo humilis‘, was ihn als Meister jeder Stillage auszeichne. 33   Vgl. Sendschreiben, 25.36 f.

3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik

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nichmal, aber edel sinkt, als die furchtsamen Reimschmiede, die in ihrer Regelmäßigkeit gezwungen sind, und wo, wenn uns zwar nichts mißfällt, auch nichts ergötzet.‘“34

Mit Argumenten aus der ‚Querelles‘ wird der Reformator nach dem Bild des idealen Nationalliteraten geschaffen, der die Kernigkeit der deutschen Sprache als Rhetor mit Augenmaß35 für die rechte Sache einsetzt.36 In diesem Bild ist die Abwehr eines Bewusstseins enthalten, „das wichtige deutsche Kulturleistungen nur über die französische Anerkennung wirksam werden läßt.“37 So erklärt sich Mösers ironischer Fußfall vor Voltaire: „Es fehlt ihm [Luther] nur noch Ihre Hochachtung, mein Herr, welche ich höher als den Beyfall der Päbste und Kaiser schätze“.38 In Mösers Luther-Topik spiegeln sich Bedürfnisse des patriotischen Diskurses wie im Brennglas. Die Diskussion um eine Nationalliteratur schlägt durch, aber auch ein differenziertes Bewusstsein für die Bedingungen des nationalen Lebens. Mösers Lutherbild enthält sich indes der nationalheroischen Tendenz39 – dafür ist das Gefecht mit Voltaire zu fein ziseliert. b)  Luther als Lichtbringer der Nation: J. A. Cramer dichtet ein Denkmal Die Frage der Heroisierung stellt sich eher für die erstmals 1770 publizierte Ode des evangelischen Theologen, Klopstockfreundes und dänischen Oberhofpredigers Johann Andreas Cramer. Die Ode gilt neben dem Hymnus als lyrische Gattung für hohe Sujets. Luther wird damit von der blassen Menge als ruhmwürdig abgehoben und als ‚großer Mann‘ besungen. Diese Steigerung zertrennt Demutsbande der Barockpoetik, die von einer Verbindung des den höchsten Gegenständen vorbehaltenen ‚genus sublime‘ abraten und beispielsweise für Kirchenlieder das ‚genus humile‘ empfehlen, einen mittleren Stil allenfalls erlauben.40 Cramers ‚Ode‘ bewegt sich dagegen im signifikant hohen Ton, wie er   Sendschreiben, 38.   Sendschreiben, 8. 36  Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae/Ausbildung des Redners, hg. und üs. von Helmut Rahn, Darmstadt 21988, hier Buch I, Vorrede 9 und vor allem XII, 1.1. 37   Stauf: Justus Mösers Konzept, 77. 38   Sendschreiben, 27 f. – Mösers spöttische Frage, ob Voltaire Luther gelesen habe, erhält durch eine Anspielung auf Jonathan Swifts ‚The Battle of the Books‘ von 1704 militanten Schwung (Sendschreiben, 9): Luthers Folianten wären in einem Bücherkrieg die Kürassiere, also die schwere, gepanzerte Reiterei. 39  Vgl. Stauff: Justus Mösers Konzept, 77 f. 40  Vgl. Klopstock: AW, 1010.1015.1018; vgl. dazu Katrin Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early ‚Hymns‘ of Friedrich Gottlieb Klopstock, New York 1990, 15–36.48–55. Vgl. als Lizenz eines mittleren Stils in Geistlichen Liedern [Johann Jacob Rambach:] Johann Jacob Rambachs [.  .  .] Geistliche Poesien [.  .  .], Halle, 1720. In Verlegung der Neuen Buchhandlung [.  .  .], 14: „Im übrigen ist durchgehends der Stilus also eingerichtet, wie es die Beschaffenheit der Sachen erfordert, und hat man mit Fleiß sich bemühet, 34 35

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

in Klopstocks Umfeld für Geistliches und Vaterländisches kultiviert wurde. Cramer besingt in dieser hohen Stillage aber nicht wie Klopstock den Erlöser,41 sondern dessen ‚propheta‘ Luther. Diese Wahl kann man deshalb als Heroisierung verstehen.42 Cramers Ode ist ästhetisch eher fragwürdig,43 aber aufgrund ihrer soliden patriotischen Rhetorik von Interesse. Der Text umfaßt 250 Verse, je Strophe in einen Kreuzreim (a b a b), einen Paarreim (c c) und einen umarmenden Reim (d e e d) unterteilt. Die Ode beginnt mit einer Skizze zum deutschen Nationalcharakter. Die Nation wird klopstockisierend44 als „Thuiskons Volk“ apostrophiert und zweimal mit dem Freiheitsbegriff umschrieben: „Du freyes Volk“, „Du Arm der Freyheit“.45 Als „Erschütterer der Weltbezwingerin“ erscheint die Nation durch die legendäre Hermannsschlacht. Cramer zeichnet die Deutschen durch Freiheit und Festigkeit aus, womit er in historischer Hinsicht Desiderate formuliert. Die Bezugnahme im Kreuzreim auf andere, vom ersten Rom unterworfene Nationen weist auf die transnationale Bedeutung von Luthers Befreiungstat voraus. Der auch für Möser wichtige Freiheitsbegriff übernimmt nun leitmotivische Funktion. Luther vollendet die seit Varus’ Ende anhängige Bestimmung von „Thuiskons Volk“, über römische Anmaßung zu triumphieren, indem er gegen das zweite, geistliche Rom zum Freiheitskämpfer avanciert:    Heil dem, der Gott will dienen, des verwundert Europa sich und glaubts kaum! Er ist da, Der Tag der Freyheit, den sich manch Iahrhundert Erseufzt haett, aber ihn nicht sah!“46

Dieser Kampf um Befreiung wird um seine geistliche Dimension nicht verkürzt, doch sind deren Umschreibungen äußerst karg: Luther „zerbrach des Aberglaudie güldne Mittelstraße zwischen einer niederträchtigen und hochtrabenden Schreibart zu beobachten.“ Klopstock hat sich mit Rambach auseinandergesetzt. 41   Vgl. z. B. Klopstocks berühmte Ode ‚Dem Erlöser‘, entstanden 1751. 42   Eine Prachtausgabe der Ode von 1770 bildet über der ersten Strophe einen Fels in der Brandung ab. Zitiert nach Luther, Eine Ode von Johann Andreas Cramer, hg. von Johann Martin Preisler, Kopenhagen 1770. 43   Die Kolonne der 25 Strophen hat Herder giftig mit einem – schon damals vergessenen – 34-strophigen Lutherlied Gottscheds verglichen. Vgl. SWS V, 407. 44   Mit gehäufter Apostrophe einerseits, aber auch verzögerter Nennung andererseits. Vgl. zum poetischen Verfahren Kevin Hilliard: Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern, in: (o. Hg.): Das Erhabene und die Dichtung – Klopstock und die Folgen, Schriftenreihe des Klopstock-Hauses Quedlinburg im Verlag Janos Stekovics 1, Halle 1997, 13–32 hier 17. Nach Hilliard gibt es im Gefolge Klopstocks für die christliche Seele, die Gott loben will und dabei versagt, zwei Auswege: „Entweder man bekehrt sich von der Beredsamkeit zu einem radikalen Christentum; oder aber man bekehrt die Beredsamkeit.“ Die bekehrte Rhetorik verstummt vor ihrem unnennbaren Gegenstand, dann nennt sie ihn doch, und evoziert ihn zuletzt als unerschöpflich. 45   Cramer: Luther, 3. 46   Cramer: Luther, 12.

3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik

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bens Ketten“,47 indem er „die Wechslertische“48 des Ablasshandels umstürzte und das Evangelium wieder auf die Predigt wahrer Buße gründete: „Feil ist nicht für Gold/Die Wonne der Vergebung“. Neben der kirchenrechtlichen und bußtheologischen Reforminitiative wird Luther eine universale Wahrheitsfunktion zugeschrieben,49 wodurch sein Wirken als Beginn der Aufklärung erscheint. Auch Möser hatte diese Reformationsdeutung gegen Voltaires pejorative Lesart ausgespielt.   „Nicht sorgsam, daß auch ihn sein Bannblitz tödte, Forscht er, sieht heller, sieht die Wahrheit ganz: So folgt der Daemmerung die Morgenroethe Und ihr des Tages voller Glanz.“50

In der lichtmetaphorischen Wahrheitsumschreibung51 folgt auf die Morgenröte von Luthers Wahrheitswillen das „himmlisch Licht“52 des Wortes Gottes, aber auch das Licht der Aufklärung. Luther ist „ein Polargestirn“ in der Finsternis des Aberglaubens,53 seine Tätigkeit rückt ihn durch die Kontrastierung mit der römischen Chaos-Finsternis ans Schöpferwort heran.54 Aufklärerische Schöpfungsfrömmigkeit trifft sich in Cramers Lutherbild mit der Lichtmetaphorik, um Luther wegen seiner freien Erforschung der Wahrheit zum Aufklärer ‚avant la lettre‘ zu erheben. Dem korrespondiert auch Preislers dem Text beigegebenes Lutherporträt, das den Reformator sehr frei nach Cranach adaptiert.55 Die Schlussstrophe stützt diese Deutung, indem sie Luther zum Zeugen gegen eine ‚schlechte‘ irreligiöse Aufklärung aufruft. Hier droht die Aufklärung als ein ideologisches Monstrum, an dessen Aufzucht jede große europäische Nation außer Deutschland Anteil hat: „Italien gebahrs, und Gallien/Hats aufgesaeugt, und ach! Britanien,/Es waren Britten, die ihm Waffen gaben!“56 Das Ende vom Lied stimmt für die Übertragbarkeit politischer Ideen anderer europäischer Nationen auf Deutschland zurückhaltend. Vielleicht kündigt sich darin die Auffassung vom apolitischen Tiefsinn der Deutschen an. Nichtsdestoweniger eröffnet die metaphorische Kombination von Wahrheit und Freiheit die   Cramer: Luther, 6.   Dieses und das nächste Zitat Cramer: Luther, 10. 49   Cramer: Luther, 8, 10, 11, 12. 50   Cramer: Luther, 10 f. 51   Vgl. nach wie vor Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale 10 (1957), 432–447. 52   Cramer: Luther, 11. 53   Cramer: Luther, 9. 54   Cramer: Luther, 6. – Cramer versteht sich darauf, die Lichtmetaphern auch pejorativ auszureizen: Roms Blitze (Cramer: Luther, 7.10.13) und Gluten (Cramer: Luther, 8) stehen für Bann und Ketzerverbrennung. Die Lichtmetaphorik charakterisiert hier einen Mangel, ein bloß im Nu erhelltes Dunkel. 55   Volkmar Joestel/Jutta Strehle: Luthers Bild und Lutherbilder. Ein Rundgang durch die Wirkungsgeschichte, Wittenberg 2003, hier 23–28. 56   Cramer: Luther, 17. 47

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Möglichkeit, Luther als Freiheitshelden eines inneren Sinns zu verehren, der mit dem Glauben die „freye Brust gestaehlt“ habe.57 Der politische Härtegrad des in der ‚Ode‘ besungenen Freiheitsgebrauchs lässt sich jedoch genauer benennen. Es gibt Anzeichen für eine präzise Verknüpfung von politischer Freiheit und Glaubensfreiheit. Legt man als Kriterium für den Freiheitsgebrauch die nationale Einheit an, wie sie sich aus Luthers Prophetenfunktion ergibt, erhält die Muttersprache patriotische Funktion:   „Nicht Zauberworte sind es, die wir hoeren; Mit unsrer Zunge spricht die Lehrerin Vom Himmel, und nun stroehmen ihre Lehren Von ihren Lippen in den Sinn. Germanien frolocke! denn sie spricht Die Sprache, welche dein ist, welche nicht Sich mit dem Raub undeutscher Zunge brüstet; Durch keine Barbarey entweiht, Reich durch sich selbst, und stets zum Streit Auch mit den Edelsten gerüstet.“58

Luther hat die Muttersprache aus der Partikularität entbunden und zur Matrix von Freiheit werden lassen: Objektiv spricht diese Sprache „vom Himmel“, indem sie die Angelegenheiten des Glaubens vermittelt. Subjektiv spricht sie „vom Himmel“, indem sie, den objektiven Glaubenssinn ins muttersprachliche Original übersetzend, den subjektiven Sinn der Adressaten öffnet. Der dadurch anfallende Wahrheits- und Freiheitszuwachs ist in seinen über den Glauben hinausgehenden Folgen ungeheuer. Nicht nur dank Luthers freiheitlichem theologischem Wahrheitswillen, sondern auch dank dessen Medium muss die Wahrheit der Religion nun nicht mehr auf Trümmern hausen, die auch politische Trümmer sind.59 Die Auszeichnung der deutschen Sprache als Medium von Freiheit läuft gleich mit ihrer Befreiung durch Luther zu diesem Zustand. Zunächst wird festgestellt, dass sie aufgrund ihrer Selbständigkeit, ihrer ursprünglichen Unschuld, ihres metaphorischen Reichtums an Begriffen und ihrer kürzebedingten Streitbarkeit immer schon ausgezeichnet war. 60 In der folgenden Strophe heißt es je  Cramer: Luther, 15, sowie 17: „einen freyern, edlern Mann,/Als Luther war, der edle Mann,/Hat keine Nation gezeugt.“ 58   Cramer: Luther, 11. 59   Cramer: Luther, 7. 60  Ein Topos bis hin zur Mobilmachung der Muttersprache gegen das Französische in Ernst Moritz Arndts ‚Ideen über die höchste historische Ansicht der Sprache‘, Rostock und Leipzig, bei K. C. Stiller 1805. Arndt hält scheinbar in Nachfolge Herders die alten Sprachen Griechisch und Latein und die neuen Sprachen Französisch und Deutsch nebeneinander, um einzig dem Deutschen schließlich den Status der Lebendigkeit zuzuerkennen. Niedlichkeit und Oberflächlichkeit schneiden demnach das Französische vom Weltgrund ab, mit dem die etymologische Unmittelbarkeit des Deutschen verkehrt. Bereits diese Streitschrift hat den Charakter einer Feindmarkierung. Vgl. z. B. Arndt: Ideen, 32.37. 57

3.1  Elemente der nationalen Luther-Topik

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doch, Luther habe „Auch aller ihrer Fesseln Zwang besiegt“, indem er „mit seiner Seele Geflügelten Gedanken“ geflogen sei. 61 Was gleichsam Urzustand der deutschen Sprache ist, musste erst als Einsicht zu Bewusstsein kommen. Dafür hat Luther gesorgt. Schon in der dritten Strophe gab es einen Anklang daran, als es vom zweiten deutschen Sieger über Rom hieß, er verstand „der Lieder Spiele“ und „sang Ins Herz der Deutschen göttliche Gefühle“. Luthers Kirchenlieddichtung ist Teil seiner sprachlich konnotierten Rettungstat, sie mehrt deren Ruhm: „Selbst Herrmanns Barden hätten ihm geschwiegen“. 62 Die Ode verehrt Luther in demjenigen Medium patriotisch, in dem er selbst Meister war. Der Zusammenhang dieser auf Freiheit abzielenden Topoi mit der nationalen Einheit besteht nicht in einem konservierbaren sprachlichen Zustand. Vielmehr verbreitet sich das Licht des Glaubens durch Luther so, dass „Germanien [.  .  .] immer heller“ wird. 63 Protestantismus, Sprachkultur und politische Freiheitsgeschichte sind in einen Prozess verwoben. Die Muttersprache als Medium der göttlichen und politischen Wahrheit lässt die Nation immer mehr eins werden, indem der Glaube sich aufklärt und die Sprache immer deutlicher spricht. Luthers muttersprachliche Originalität ist die Basis von beiderlei Freiheit in Deutschland. c)  Konvergenzen und Divergenzen Cramers Odendichtung propagiert, was Mösers Schriften wissenschaftlich gediegen erstreben: Nationale Freiheitsgeschichte vor christlich-kulturellem Horizont als Grundlage für eine bessere nationalpolitische Praxis. Zu diesem Zweck wird die allseits erhellende Wirkung von Luthers Reformation hervorgehoben. Die reformatorische Wahrheitssuche, so die Denkfigur, verschafft der Nation politischen Freiheitsgewinn und kulturelle Einheit. Für Möser wie für Cramer ist das Vaterland, wo Freiheit ist, und beide arrangieren ‚ihren‘ Luther so, dass er diese Formel decken kann: Luthers Genie verträgt keine Mittelwege, es sprengt die römischen Fesseln in der Politik und in der lateinischen Kultur. Die negativen Folgen der Konfessionalisierung für nationale Staatlichkeit und kulturelle Einheit in Deutschland werden dagegen nicht Luther angelastet. Als Nationalliterat und Reformer mit politischem Augenmaß verkörpert er vielmehr die Desiderate der eigenen Epoche. Die zeitliche

  Cramer: Luther, 12.   Gegenüber der Analogie von Luther und Hermann ist ein Spektrum zwischen äußerster Vorsicht (Möser) und willkommener Aneignung zu beobachten. Vgl. für letztere Arndts klopstockisierendes Gedicht ‚Hermanns Siegeslied‘ von 1787 in Arndts Werke, Auswahl in zwölf Teilen, hg. von August Leffson und Wilhelm Steffens, Erster Teil, Gedichte, hg. von Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig u. a. [1912], 11. 63   Cramer: Luther, 14. 61

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Verstetigung dieser Topoi zwischen Mösers und Cramers Text weist auf eine bemerkenswert konstante semantische Zirkulation im Patriotismus hin. Ebenso signifikant für die innere Pluralität im patriotischen Diskurs sind allerdings die Unterschiede: Cramer setzt auf Personenkult. Luther ist zwar als Reformator auch politischer Befreier, vor allem aber ist er der sprachgewaltige Mittler von Gottes Wahrheit in einer zivilisationsgeschichtlichen Epochè. Diese nationale Tatsache soll gefeiert werden. Möser tut sich an dieser Stelle schwerer. Zwar erkennt er die Kulturbedeutung Luthers an, verzichtet aber auf den Personenkult und die Beschwörung der sprachlichen Einheit. Wie gegen Moser äußert er Zweifel an der kulturellen Kohäsionskraft der deutschen Sprache in ihrer tatsächlichen Verfassung. Dass es ohne einheitliche Sprache keine nationale Einheit gebe, ist Möser bewusst. Nur setzt er nicht auf einen einheitlichen artifiziellen Sprachumgang hohen Stils wie der Klopstockkreis, sondern auf Idiom und Komik als die provinziellen Indizes einer problematischen Nichtidentität der Nation. 64 Gegenüber der reichsjuristischen (Moser) oder der sprachartistischen (Klopstockkreis) Beschwörung nationaler Einheit bleibt Möser ein Analytiker, der mit Witz die Antagonismen im Vaterland gegenüber Dritten (Voltaire) verteidigt. Diese Position prägt sich auch in der Luther-Topik aus, die als solche offensichtlich kein einheitliches Plausibilisierungsverfahren nahelegt.

3.2  Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘ Klopstocks Verhältnis zu Luther ist gleichermaßen einfach und komplex. Klopstock schreibt Luthers Bibeldeutsch höchste Bedeutung für die nationale Sprachkultur zu und bestimmt das Übersetzen der Bibel als nationsbildende Tat. Dabei wird Luther allerdings zum ‚Sprachereignis‘ vereinfacht. Komplex wird das Verhältnis, indem Klopstock als Dichter des Heiligen Frömmigkeit und Artifizialität zu vereinigen sucht und damit die zeitgenössischen Zuständigkeitsgrenzen von Literatur als einer ‚Schönen Wissenschaft‘ und Theologie überschreitet. Darüber wird er zum Rivalen Luthers. a)  Klopstocks Beruf zwischen poetischer und politischer Revolution Charakteristisch für Klopstocks Verhältnis zu Luther ist die Selbstdeutung mithilfe des Berufsgedankens, also im Horizont konfessioneller Semantik. Luthers Würdigung der Berufsarbeit als Dienst an Gott und am Nächsten hatte 64   Vgl. ‚Harlequin, oder Vertheidigung des Groteske=Komischen‘ von 1761 SW IX, 63 passim. Ähnlich in der humoristischen Vorgehensweise ist Hamann. Vgl. zu beiden Herder in seinem frühen Kanon. ‚Fragmente‘ SWS I, 226 ff.

3.2  Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘

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eine Aufwertung bedeutet und auch wenig angesehenen Tätigkeiten Anerkennung verschafft. Der Gedanke der gottgefälligen Berufsarbeit blieb jedoch mit dem Ständeideal verbunden. Zu einer eigentlich funktionalen Beschreibung aller möglichen Berufstätigkeiten, wie sie Luthers Berufsdenken im Kern enthält, kam es nicht. Auch war nicht an eine freie und individuelle Berufswahl gedacht. Vor allem die Literatenexistenz blieb eine Zusatzoption neben einem universitären oder magistralen Amt oder sie stand im Zeichen von höfischem Favoritentum. Das Gebäude der ständischen Lebensformen stand in Klopstocks Jugend weithin unangetastet. Vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, wenn der siebzehnjährige Klopstock 1745 in der Jahrgangsrede der Abgänger von Kloster Pforta den Plan, ein Nationalepos zu verfassen, als seinen Beruf bezeichnet. 65 Er verwendet das Berufskonzept sowohl formal für den Autorenberuf als auch im Sinn einer poetischen Berufung und stellt es in einen nationalen Rahmen. 66 Die ‚Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset F. G. Klopstockius‘, bekennt sich zur Literaturauffassung der Schweizer Bodmer und Breitinger, die auf die deutsche Diskussion zur Nationalliteratur mit der Ansicht wirken, eine erhabene, hohe Stillage bilde die größte poetische Herausforderung und Kunst, sofern sie nicht nur einzelne Vermögen des Menschen, sondern die Seele des ganzen Menschen in Bewegung versetze. 67 Als die höchsten Gegenstände dieser rhetorisch geprägten Poetik gelten Religion und Vaterland. 68 Die dichtungstheoretische Idee von der holistischen Bewegtheit des Menschen entspricht strukturell gleichermaßen dem Gedanken einer Erneuerung des ganzen Menschen durch Gott wie der Suche nach einem Vereinigungspunkt für die ganze Nation, deren Teile in eine konvergierende Bewegung zu bringen sind. Es gibt dann keine größere poetologische Herausforderung als die einer erhabenen Kommotion beider Sujets. Klopstock rezipiert von den Schweizern nicht nur Argumente für seine literarische Berufsarbeit, sondern eine erste literaturgeschichtliche Konsequenz für die Muster, an denen jede rhetorische Poetik sich orientiert. Es kommt zur 65   Zitiert nach Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er; und über ihn, Erster Theil. 1724=1747. Hamburg, gedr. bey G. F. Schniehes. 1780, Messias, Altona 1780, 125 f. durch den topischen Zusammenschluss von musischem Talent und göttlicher Destination; vgl. Hilliard: Philosophy, letters, 19–39; Helmut Pape: Klopstock. Die ‚Sprache des Herzens‘ neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750, Frankfurt/Main 1998, 61–71. 66   Vgl. gegen die anachronistische Auffassung Klopstocks als eines „freien Schriftstellers“ die bei Kohl: Klopstock, 38–42, genannte Literatur. 67  Vgl. Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, 139 ff. – Vgl. der für Klopstock wichtige Longinus: Vom Erhabenen [Περι υψους], Griechisch/Deutsch, üs. und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, zu den Zielen und Mitteln des Erhabenen X.XV. 68   Vgl. für die Akzeptanz dieser Sichtweise den Brief von Carl Friedrich Markgraf von Baden an Klopstock vom 3.  8. 1774. Klopstock, Briefe 1773–1775, 174.

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Neuordnung des Kanons: John Miltons Epos ‚Paradise Lost‘ wird als doppeltes Muster poetisierten Christentums und moderner Epik aufgestellt. 69 Milton hatte sein Epos vom Sündenfall der Engel und Menschen und vom wahren Heldentum der postlapsarischen Menschen in altenglischem Blankvers verfasst, um den Mustern romanischer Ritterepik entgegenzuarbeiten. Er löst die Poetik des Erhabenen von klassisch-antiken und mittelalterlichen Sujets in romanischer Formensprache ab und wendet sich einem biblisch-christlichen Sujet mit metrischen Alternativen zu. Klopstock kündigt es als seinen Beruf an, im Zeichen dieses nationalliterarischen Fortschritts weiter zu gehen. Exemplarische Folgen davon finden sich in dem wahrscheinlich 1752 entstandenen Gedicht ‚Die beiden Musen‘: 70 Die Musen stehen nicht mehr für Kunstformen, sondern für Nationalkulturen – „Thuiskone“ kämpft mit der britischen Muse um den Vorrang in der Epik.71 Das Berufsverständnis des jungen Klopstock ist durch eine Haltung gekennzeichnet, die im Vorbild zugleich den Rivalen erkennt und sich mit dessen Überbietung nationalen Rang erschreiben will.72 Der Stand des Vorbilds in der nationalen Literatur muss also bestimmt werden. Klopstock hebt dazu vor allem Luthers Beruf zur Bibelübersetzung hervor. Die „Dollmetschung der Bibel“ kennzeichnet die deutsche Sprachkultur in solchem Ausmaß,73 dass der späte Klopstock formuliert, was ihm „an der Bildung der Sprache“ gelungen sei, sei „Lutheri (Bibl) fonte cecidit/Parce detortum“.74 Diese poetische Quellenangabe drückt metaphorisch ein individuelles Verdankungsverhältnis aus. Das Gelingen floss vom ‚propheta Germaniae‘ herab zum ‚poeta‘. Die Auskunft, wenig davon sei abgeleitet, steht sowohl für verlustfreie Übernahme wie auch für muttersprachliche Authentizität. Muttersprache ist Luthersprache: Klopstock positioniert sich nicht auf einer Höhe mit der erhabenen Matrix. Insoweit scheint sein Verhältnis zu Luther demütig.

69   Cramer: Klopstock, 113 passim. – Cramer: Klopstock, 37, stattet die Miltonlektüre in Kloster Pforta mit dem Reiz des Verbotenen oder zumindest ungern Geduldeten aus. Vgl. zum Wettkampfmotiv Jacob: Heilige Poesie, 112 passim. 70  Zitiert nach Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden, Erster und Zweiter Band, hg. von Franz Muncker/Jaro Pawel, Stuttgart 1889, hier Muncker/Pawel, Klopstocks Oden I, 108 ff. 71   Das komparative Prinzip zeigt sich im Ausspruch der deutschen Muse, sie liebe die britische mit Bewunderung, „Doch nicht heißer, als die Unsterblichkeit,/Und jene Palmen!“ 72  Vgl. Kevin Hilliard: Klopstocks Tempel des Ruhms, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen, Berlin/New York 1995, 221–239. 73   Trotz der gegenüber Luthers Erbe säumigen Mäzene. Vgl. Klopstocks Arbeitstagebuch, hg. von Klaus Hurlebusch, Historisch-Kritische Ausgabe Addenda II, Berlin/New York 1977 26 f. 74   Brief an Carl August Böttiger vom 22.  7. 1797. Zitiert nach: Friedrich Gottlieb Klopstock, Briefe 1795–1798, hg. von Rainer Schmidt, Historisch-Kritische Ausgabe, Abteilung Briefe IX/1, Berlin/New York 1993, 148.

3.2  Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘

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Zunächst hat es nicht den Anschein, dass Luther in Klopstocks agonales Denken einbezogen wird, wenn er im Arbeitstagebuch auf 1756 als Muster für klares Unterscheiden zwischen Prosa und Poesie erwähnt wird.75 Doch in ‚Die deutsche Gelehrtenrepublik‘ heißt es am Anfang des zweiten Teils, Luther habe in nationalen Institutionen das Deutsche gegen Latein und neuere Fremdsprachen als Verkehrssprache durchsetzen wollen.76 Um die Autorität des Reformators als Vorkämpfer für die Muttersprache zu unterstreichen, erfindet Klopstock eine Luther-Devotionalie: Den Regeln zum Sprachgebrauch ist „Luthers Handschrift dabey [.  .  .] geklebt, und mit Seidenzeuge, wie die kleinen Malereyen über den Liedern der Minnesänger, bedekt“.77 Schließlich werden künftige Sprachhistoriker gemahnt: „Niemand, der weiß, was eine Sprache ist, erscheine ohne Ehrerbietung vor Luthern. Unter keinem Volke hat Ein Mann so viel an seiner Sprache gebildet.“78 Luther rahmt nun ‚Die Geseze‘ der Gelehrtenrepublik als guter Geist der deutschen Sprache ein, wird aber zugleich gegen andere Autoren ausgespielt, die an einem Nationalidiom „gebildet“ haben. Der ‚propheta Germaniae‘ muss im Wettkampf der Nationalkulturen gegen Dante, Cervantes und Calderon oder gegen Shakespeare und Milton bestehen. Überdies dient seine Sprachgestalt als intranationaler Wertmaßstab für Vokabular, Grammatik und Literatur. Der Kampf um ‚Ruhm‘ ist also auch gegen Luther möglich. Klopstocks selbstbezügliche Deutung von Luthers Beruf wird vom lyrischen Medium eindrucksvoll bestätigt. Die Ode ‚Die deutsche Bibel‘ von 1784 apostrophiert Luther als Bibelübersetzer mit der ironischen Bitte um Interzession:   „Heiliger Luther, bitte für die Armen, Denen Geistes Beruf nicht scholl, und die doch Nachdolmetschen, daß sie zur Selbsterkenntniß Endlich genesen!“79

Luther wird als Heiliger der Bibelübersetzer angerufen. Wie sehr dieser Übersetzungsakt der göttlichen Sendung bedurfte, wird an den ‚Nachdolmetschern‘ des 18. Jahrhunderts deutlich, denen „Geistes Beruf“ fehlt. 80 Der ‚poeta Germaniae‘ denkt dabei an schwierige Übersetzungsentscheidungen:   „Dunkel auf immer ihnen [den Nachdolmetschern] jener Gipfel. Den du muthig erstiegst, und dort des Vater=   Klopstocks Arbeitstagebuch, 51.   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 25, im Kapitel ‚Von unsrer Sprache‘. – Vgl. Kohl: Klopstock, 39: Klopstock „nutzte die Mittel, welche die Humanisten entwickelt hatten, um das Deutsche gegen das Lateinische durchzusetzen“. 77   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 25. 78   Klopstock: Gelehrtenrepublik, 89. 79   Muncker/Pawel, Klopstocks Oden II, 61 f. 80  Gemeint sein könnte die Wertheimische Bibel des Wolffianers Johann Lorenz Schmidt, deren erste Teile 1735 erschienen sind. 75 76

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Landes Sprache bildetest, zu der Engel Sprach’, und der Menschen.“81

Für die Schwierigkeit des Übersetzens erscheinen einzig Gebirgsmetaphern angemessen. Die Nation hat Luther für seine mosaische Einsamkeit als Überbringer der göttlichen Sprache und Bildner der Nationalsprache zu danken, da seine Übersetzung das Deutsche zur ‚Sprache der Engel‘ aufwertet. Deutsch zu sprechen heißt offenbar mit biblischen Ausdrücken zu sprechen. Die vierte Strophe amplifiziert den Luther-Topos durch die überzeitliche Kanonizität der Übersetzung: „diese Gestalt wird nie sich wandeln!“ Wird Luther in ‚Die deutsche Bibel‘ wegen seiner Wortgewalt, aber ohne Bezug zum kirchenpolitischen Sinn des Bibelübersetzens gefeiert, besinnt sich der Dichter sechs Jahre später auf die politische Dimension der Reformation. In dem Revolutionsgedicht ‚Sie, und nicht wir‘ von 1790 rühmt Klopstock „Galliens Freiheit“, um sogleich in eine erwartbare Klage auszubrechen: „Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit/Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher“. 82 Die Freiheit erscheint als höchstes Gut in Politik und Nationalgeschichte. Die Reformation bietet zwar kein Ersatzobjekt für die fehlende politische Freiheit, aber zumindest ein retardierendes Moment im Gang der patriotischen Trauer. Der Sieges-„Palme“ Frankreichs   „[.  .  .] gleichet die Palme, Welche du dir brachst, als du die Religion Reinigtest, sie, die entweiht Despoten hatten, von neuem Weihtest, Despoten voll Sucht Seelen zu fesseln! [.  .  .]“

Wie in Mösers geschickter Replik an Voltaire ist die Reformation als politische Religion der Freiheit gefasst. Das Objekt ihres Kampfs ist Despotie, sein Ziel Freiheit. Die Befreiung aus der Seelendespotie wird indes nicht als Analogie zur europäisch-atlantischen Doppelrevolution aufgerufen, sondern als ihre Voraussetzung. Möser erklärt Voltaires Vernunftverständnis zur Reformationsfolge, Klopstock gründet Frankreichs Freiheit auf die durch die Reformation entfesselten Seelen – anders als Cramer in erhabener ‚brevitas‘:   „Wenn durch dich, mein Vaterland, der beschornen Despoten Joch nicht zerbrach; so zerbrach das der gekrönten itzt nicht.“

Luthers und Klopstocks Beruf runden einander ab: Die Nation hatte ihren Propheten, nun beklagt ihr Dichter, wie sie politisch sich selbst versäumt.

  Dieses und das folgende Zitat Muncker/Pawel, Klopstocks Oden II, 61 f.   Dieses und die folgenden Zitate Muncker/Pawel, Klopstocks Oden II, 72 f.

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3.2  Bildung der Nation am Heiligen: Klopstock als ‚poeta Germaniae‘

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b)  Die christlich-erhabene Epik als bessere Theologie Klopstocks ‚Beruf‘ als Epiker führt zur Rivalität nicht nur im transnationalen Kulturvergleich, sondern auch innerhalb der eigenen konfessionellen Sprachkultur. Der ‚poeta Germaniae‘ stellt sich zwar nicht über den ‚propheta‘ Luther, doch konkurriert er mit dessen literarischer Sprachgestalt und vor allem mit den ‚praeceptores‘ der Theologie. Die Selbsterklärung seines Epos durch den „Plan der Offenbarung“83 impliziert Überschreitungen, die in der frühen Skandalphase der ‚Messias‘-Rezeption heftig diskutiert wurden. 84 Klopstocks Wendung ‚Plan der Offenbarung‘ steht für das christliche Heilsgeschehen als Sujet, aber auch für das Formkonzept des Nationalepos. Primäres Objekt der Abgrenzung ist die barocke Heldenepik mit ihrem Verständnis des Erhabenen. Noch im Publikationsjahr der ersten drei Gesänge des ‚Messias‘, 1748, erscheint ein Epos wie Christian Gottlob Stöckels ‚Das befreyte Schlesien‘, das die preußischen Angriffe von 1740 und 1742 heroisiert. 85 Könige und Kriege sind der Stoff dieser Epik, die auf romanische Muster reagierend die Taten deutscher Territorialfürsten empfindsam überhöht. Barthold Heinrich Brockes urteilt darüber schon 1724:   „Ich sollte Morden, Würgen, Brennen, Und hausen, wie kein Türcke thut, Bewundern, ja fast heilig nennen Die Hand, die rot von meinem Blut!“86

Der bürgerliche Schriftsteller und Hamburger Patriot sieht in einer epischen Kriegsdarstellung kein Sujet für die Gegenwart. Er bewertet sie sogar als Profanation: Notorische Gewaltdarstellung will er nicht „heilig nennen“. Die von Blut gerötete „Hand“ bedroht offenbar auch den Dichter. Sie steht für das Handeln der realen politischen Vorbilder heroischer Figuren. Klopstocks Schreibweise liegt auf der Linie dieser Skepsis: „Gegen das weltliche Sujet setzt er ein geistliches, gegen den Alexandriner den Hexameter, statt eines linear-chronikalischen Aufbaus, wie er in der zeitgeschichtlichen Epik herrscht, legt Klopstock Wert auf eine strenge, klassizistische Disposition, die das Studium der vornehmsten Muster verrät.“87

  ‚Von der heiligen Poesie‘ (1755), in: Klopstock: AW, 1005.  Vgl. dazu die Dokumentation durch Elisabeth Höpker-Herberg in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Messias, Band  3 : Text/Apparat, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Historisch-Kritische Ausgabe, Abteilung Werke IV/3, Berlin/New York 1996, 213– 216. 85   Dieter Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, in: Hilliard/Kohl: Grenze der Epochen, 97–116. 86   Helden-Gedicht, in: Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott, Hamburg 21724, 282–289, hier die 13. Strophe. 87   Martin: Klopstocks Messias, 101. 83

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Diese scheinbar abstrakten Vorkehrungen sollen dem Messiasgedicht das ‚nation building‘ ermöglichen: Zum einen macht das geistliche Sujet territorialpolitische oder dynastische Patriotismen entbehrlich. Die deutsche Nation findet zur Einheit jenseits partikularistischer und dynastischer Beschränkungen. Zum anderen schreibt Klopstock der Verbindung des geistlichen Sujets mit dem homerischen Hexameter die spracherzieherische Funktion zu, die Ausdrucksfülle der deutschen Sprache zu steigern88 und die höchsten Sujets mithilfe des primitiv-edlen Alten angemessen zu kommunizieren. 89 Vor allem aber setzt die Übernahme der homerischen Schichtungstechnik von erzählter Zeit und Erzählzeit die Modernität des geistlichen Sujets in Kraft.90 Denn als nichtlinear-achronikalisches Gebilde verweist der ‚Plan der Offenbarung‘ zwar auf ein zeitliches Geschehen, entgrenzt dieses aber auf eine überzeitliche Gegenwart – die Ewigkeit – hin. Die Darstellung solcher Zeitbezüge erfordert eine höhere Kunst als den chronikalischen Linearismus barocker Heldenepik. Klopstocks Poetologie konfundiert die Weigerung, einen Führer der politischen Welt als Nationalhelden auszugeben, und seine Absicht, das Heilige in einer überlegenen Form darzustellen. Dieser poetologische Zuschnitt kommt in der Anrufung des über die Erde wachenden Engels zum Zug:   „O so hör ihn, Eloa, wenn er, wie die himmlische Jugend, Kühn und erhaben, nicht modernde Trümmern der Vorwelt besinget, Sondern den Bürgern der göttlichen Erde dein Heiligthum aufthut.“91

Idealiter ist der Plan des ‚Messias‘ weder auf vorweltlich-Vergangenes noch auf das Fragment einer einzelnen Nationalkultur bezogen; gegenwartsbezogen und kosmopolitisch bietet er allen Erdenbürgern an, das Heilige anzuschauen – ein, wie Herder schreiben wird, Patriotismus „für seine Religion“.92 Realiter ist die

88  Vgl. Kohl: Klopstock, 60 passim.80 ff.; ausführlich Katrin Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origin of Free Verse. The Early ‚Hymns‘ of Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin/ New York 1990; vgl. weiter Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, München 1973; Leif Ludwig Albertsen: Poetische Form bei Klopstock, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Grenze, 68–79, hier 72 f., ermittelt, dass Klopstock zu den ‚Latitudinariern‘ des Hexameter gehört, die eine offene Skansion betreiben. Das erklärt Klopstocks Annahme, gut rezipierbar zu sein. 89   Klopstock hat Herder zufolge dem griechischen Vers mustergültig nachgeeifert, ohne ihn nachzuäffen. Vgl. SWS I, 204 passim. Vgl. in diesem Zusammenhang auch zu Winckelmann, SWS I, 218 f. Winckelmann wird mittels ‚partibus orationis‘ umschrieben: „einfältig im Vortrage: natürlich in der Ausführung, und erhaben in den Schilderungen“. 90   Für diese Technik ist allerdings auch an Miltons ‚Paradise Lost‘ zu denken, das mit ineinander verschränkten Handlungen und Erzählungen arbeitet, um die bekannte und knappe biblische Urgeschichte neu und voll Überraschungen zu erzählen. 91   Zitiert nach Friedrich Gottlieb Klopstock: Messias, Fassung der ersten drei Gesänge von 1748, Stuttgart 1986, hier I, 574 ff. Diese Ausgabe wird eigens genannt, im Übrigen die Historisch-kritische Ausgabe zitiert. 92   SWS I, 276.

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Sprache dieses Epos deutsch, seine komparative und kompetitive Bestimmung sind durchaus weltlichem Interesse geschuldet. Klopstocks ‚Plan der Offenbarung‘ geht es allerdings auch um ein eigenes Konzept des Christentums, das auf einer Ergänzung der Offenbarungswahrheit durch Plausibilisierung beruht. Diese poetische Ergänzung der Offenbarung hält der Verfasser für weithin kalkulierbar; sowohl in der Darstellung der epischen Handlung als auch in der erhofften Wirkung ist darauf hinzuarbeiten: „Der Zweck der Darstellung ist Täuschung. Zu dieser muß der Dichter den Zuhörer, sooft er kann, hinreißen, und nicht hinleiten.“93 Dieses Verständnis von Täuschung zielt nicht auf eine durchschaubare und letztlich zweitrangige Mimesis von Wahrheiten, die eben auch anders gesagt werden können. Die epische Handlung führt vielmehr das biblische Narrativ weiter. Sie ergänzt „Umstände“ zur genaueren Vorstellbarkeit des Prätexts. Vor allem aber werden „gewisse Wahrheiten“ entfaltet, die in ihrer Art eben „so viel Winke zu sein scheinen, weiter über diese Wahrheiten nachzudenken“.94 Die ‚Täuschung‘ hat die Funktion, Wahrheiten zu erschließen. Sie ist keine Lüge, sondern Fiktion, und bleibt „theologisch fundiert“.95 Damit ist die rhetorische Wirkungsabsicht schon berührt. Denn der ‚Messias‘ ist zwar Bibelepik, aber auch ein Epos der menschlichen Seele in ihren weitesten Verzweigungen und pathischen Abgründen. Die ergänzenden Teilhandlungen und seelischen Zustandsbeschreibungen im ‚Messias‘ wollen die Leserschaft durch Rührung der ganzen Seele zur Selbsterkenntnis führen. „Es durch die Religion zu tun, ist eine neue Höhe, die für uns, ohne Offenbarung, mit Wolken bedeckt war.“96 Affektiv zu bewegen, ist nach Klopstock auf der Stufe nachahmend-mythologischer Poesie gar nicht und in der Sprache von Katheder und Kanzel nicht mit derselben Intensität möglich.97 Im christlichen Epos sind Dichter und Leserschaft hingegen poetologisch zur Gemeinde vereint. Sie „lernen [.  .  .] einander am gewissesten kennen, ob sie Christen sind.“98 c)  Kultmetaphorik und Partizipation In konzeptioneller Hinsicht erweist sich die vom hohepriesterlichen Amt aus gestaltete Christologie als das wichtigste Theologumenon des ‚Messias‘.99 Im ‚Messias‘ erscheint Christus bevorzugt als „der ewige Hohepriester“, der sich   ‚Von der Darstellung‘ (1779), in: Klopstock: AW, 1033.   ‚Von der heiligen Poesie‘ (1755), in: Klopstock: AW, 1006. – Vgl. auch Jacob: Heilige Poesie, 147–150. 95   Jörn Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks Messias, Göttingen 1971, 229. 96   ‚Von der heiligen Poesie‘ (1755), in: Klopstock: AW, 1009. 97   ‚Gedanken über die Natur der Poesie‘ (1759), in: Klopstock: AW, 993. 98   ‚Von der heiligen Poesie‘ (1755), in: Klopstock: AW, 1009. 99  Die für diese Wahl ausschlaggebende Überlieferung dürfte kaum im theologischen Wolffianismus gründen. Doch auch pietistischer ‚Einfluss‘ ist nicht zwingend, wenn aber, 93

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selbst opfert.100 Die beiden anderen Optionen aus der Ämterlehre haben zwar ihre erzählerischen Orte und finden Verwendung in Redepassagen,101 doch die Opfer- und Kultmetaphorik steht im Mittelpunkt. Sie vermittelt ein soziales Modell, an dem sich die Nation bilden soll. Die ‚Messiade‘ zielt mithilfe der sakralen Semantik auf die Gegenwärtigkeit des Heilsmittlers, um durch dessen fiktionale Gegenwart die ganze Seele zu bewegen (‚movere‘). Diesem Ziel dient beispielsweise das Zurücktreten der sonst durchaus verwendeten dogmatischen Leitbegriffe der Soteriologie, Erlösung und Versöhnung, in affektiv aufgeladenen Passagen am Kreuzweg. So finden sich allein in einer etwas über 100 Verse umfassenden Sequenz des achten Gesangs fünf Formulierungen der Opfermetaphorik: „Jetzt war Jesus gekommen zur Höh des großen Altares.“102 Über diesem Altar Golgatha ruft Adams Seele erschüttert aus: „Das Opfer steht an dem Schatten des Todes!“103 Die lukanische Vergebungsbitte (Lk 23, 34) für die unter dem Kreuz Herandrängenden folgt der Feststellung: „der Gottmensch blutet.“104 Die priesterliche Mittlerschaft wird kosmologisch erweitert: „Die stehende Schöpfung/Schwieg, und zeigt’ in den Himmeln umher die Stunden des Opfers. [.  .  .] Rings umher in der ganzen Schöpfung flammten die Opfer,/Bilder des blutenden Opfers am Kreuz [.  .  .]“.105 Aus der affektiven Aufladung des Epos durch die Opfer- und Kultsprache sind drei besondere Funktionen hervorzuheben: Die Opfer- und Kultmetaphorik ermöglicht, Handeln als ein Erleiden darzustellen. Dieser Umstand ist sowohl theologisch als auch poetologisch bedeutsam. Poetologisch lässt sich Klopstock mit dem ‚Plan der Offenbarung‘ auf ein vergleichsweise handlungsarmes Sujet ein. Im Rahmen der an eine Epopöe gestellten Anforderungen, die Rezipienten durch erhabene Taten zu bewegen, erscheint das christliche Heilsgeschehen eher als schwacher Entwurf. Doch Klopstock ergreift diese vermeintliche Schwäche als Stärke, da ihm die „mora-

dann als poetologisch begründete Entlehnung anzunehmen. Klopstock kann die Opferund Kultsprache direkt aus dem Hebräerbrief kennen – die einfachste Annahme. 100   Klopstock: Messias, V, 456; X, 83. – Schon in der Fassung von 1748 konzentriert sich an Zentralstellen des ersten Gesangs die Opfer- und Kultsprache. Vgl. I, 4.98.126.336.421. 468.475.640. 101  Vgl. zum prophetischen Auftreten die Leidensweissagungen im dritten Gesang, das Nachdenken über die Auferstehung im vierten Gesang oder Adams durch den Auferstandenen vermitteltes Gesicht vom Jüngsten Gericht. Vgl. zum königlichen Auftreten den Adramelech verstummen machenden Blick im fünften Gesang, das Bekenntnis vor Kaiphas im sechsten Gesang oder die Andeutung der Königsherrschaft Christi durch die von Nikodemus überlieferte Dornenkrone im zwölften Gesang. 102   Klopstock: Messias, VIII, 173. 103   Klopstock: Messias, VIII, 215. 104   Klopstock: Messias, VIII, 281a. 105   Klopstock: Messias, VIII, 243 f.274 f.

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lische Schönheit“ als „Endzweck der höhern Poesie“ gilt,106 und er diesen Endzweck in der herkömmlichen Epik nicht finden kann. Inbegriff jener Schönheit ist die Leidentlichkeit Christi. Christi Duldungsbereitschaft muss wie eine wirksame und weitreichende Tat aufgefasst werden. Um diese Rezeption zu ermöglichen, betont Klopstock die seelischen Leiden Christi durch ergänzende Erfindungen. Eine dieser Erfindungen ist der – auch gegenüber Milton neue – gefallene Engel Adramelech, der es sich ausdrücklich zum Ziel setzt, Christi Seele zu töten und Satan nur den Leib zu überlassen. Adramelechs Anschläge unterstreichen Christi seelische Leiden, ohne dass die Zerstörungswut des Bösen dem Erlöser allerdings wirklich nahe käme.107 Eine weitere Verdeutlichung des seelischen Leidens erbringen die Unterredungen zwischen Gottvater und Messias, die gleichsam auf die Leidensbereitschaft hin gravitieren. Schon am szenenreichen Weg zum Ölberg heißt es mit alttestamentlicher Gehorsamsformel: „Hier bin ich, mein Vater,/Tödte du mich, nimm mein ewiges Opfer zu deiner Versöhnung.“108 Der in Johannes 17 formulierte, und im ‚Messias‘ mehr als einmal meditierte, Willenseinklang zwischen Gottvater und Christus wird hier überspitzt. Die poetologische Funktion der Übertreibung ist indes auch in diesem Fall, Handeln als Erleiden fassbar zu machen und die Rezipienten auf diese Weise zur Partizipation zu bringen. d)  Inklusionen und Exklusionen der Sakralität Die sakrale Sprache im ‚Messias‘ hat die weitere Funktion, die affektive Teilnahme am Heilsgeschehen mittels Inklusions- und Exklusionsverfahren zu verstetigen. Die Sakralität hat dabei einen ambivalenten Status; ihre Exklusionen gehen gegebenenfalls „über Altären auf Todten“.109 Den Umgangsweisen mit dem Sakralen ist jeweils soteriologischer Sinn zugeordnet. Zu den herausragenden Figuren dieses Typs gehört der partiell von Milton übernommene110 gefallene Engel Abdiel Abbadona.111 Dieser Dämon bezeugt das Elend des Aufbegehrens gegen den Mittler in doppeltem Sinn: Er begleitet

  ‚Von der heiligen Poesie‘ (1755), in: Klopstock: AW, 1001. Vgl. weiter ‚Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften‘ (1758), in: Klopstock: AW, 986. Vgl. weiterführend die Einleitung bei Jacob: Heilige Poesie, 1–54. 107   Vgl. Adramelechs Versuch Klopstock: Messias, V, 428 passim. 108   Klopstock: Messias, I, 125 f. nach der Fassung von 1748. 109   Klopstock: Messias, IV, 460. 110  In ‚Paradise Lost‘ leistet Abdiel Satan nach dem Fall Widerstand und kehrt zu den himmlischen Heerscharen zurück. Vgl. John Milton: Paradise Lost, Ed. by Christopher Ricks, London 1989, Book V, 803 passim. 111   Vgl. zum Verhältnis der Figuren Christian Senkel: Klopstock und Milton – epischer Agon in konfessionaler Perspektive, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Halle/Tübingen 2008, 7–20. 106

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die gegen die göttliche Versöhnung gerichteten Pläne der Hölle und wird daran zunehmend irre: Abbadona bekennt sich unwürdig, den Messias auch nur zu sehen.112 Während der Kreuzigung in einem Abyss verkrochen betrachtet er die Leiden Christi schließlich in Verstellung.113 Er wagt es kaum, sich dem Heiligen zu nähern, schließt sich also noch davon aus. Seine erkennbare Inklusion ins Heilsgeschehen beginnt mit der Anerkennung von Mitschuld an der Kreuzigung. Den Auferstehenden verlangt Abbadona zumindest zu sehen: „allein nur sehen, nur sehen!“114 Das Bewusstsein seiner Unwürdigkeit nimmt zu, bis er in Gott nur noch seinen Feind erkennt. Der Sieg der Gnade erfolgt auf dem Gipfel der Verzweiflung, wenn Abbadona den „Gottmensch Erbarmer“ mit dessen eigenen gegenüber dem göttlichen Vater geäußerten Worten „tödte mich“ um ewigen Tod bittet.115 Reue und Annahme des gefallenen Engels stehen im Zeichen eines weitherzigen soteriologischen Inklusivismus. So zeitigt die poetische Form frommen Gewinn für die Leserschaft.116 Ein extremer Fall des Umgangs mit dem Sakralen wird im vierten Gesang präsentiert. Als der Hohe Rat über Jesus berät, kommt es zu einem mehrere Redebeiträge umfassenden Eklat, dessen Höhepunkte sakrale Inklusionen und Exklusionen bilden. Beteiligt sind die biblischen Gestalten Kaiphas, Gamaliel, Nikodemus und Joseph von Arimathäa sowie der pharisäische Priester Philo,117 eine Erfindung Klopstocks. Ihrer aller Verhältnis zu Jesus wird durch ihr religiöses Expertentum strukturiert und kommentiert. Die kommentierenden Redehandlungen sind denkbar verschieden. Während Kaiphas nur auf die Sicherung des priesterlichen Establishments abzielt, nimmt Philo eine sakrale Feindmarkierung vor. Während der Sadduzäer Kaiphas das Heiligthum entweihe, wolle Jesus es zerstören.118 Philo betreibt die Ausgrenzung des in seiner Sicht das Heilige profanierenden Jesus so exzessiv, dass es zu einer Art perverser Reliquienbildung kommt:   „[.  .  .] Von dem Hügel, wo er erwürgt wird, Will ich Erde mit Blute bedeckt ins Heiligthum tragen; Oder noch rauchende Steine von Blut an dem hohen Altare Niederlegen [.  .  .].“119   Klopstock: Messias, V, 486–521.   Klopstock: Messias, IX, 430–648. 114   Klopstock: Messias, XIII, 511b. 115   Klopstock: Messias, XIX, 115. 116   Fast möchte man in alledem ein Spiel des Dichters mit den Exklusivpartikeln wahrnehmen. Ob der ‚Messias‘ wirklich auf eine volle Apokatastasis zielt oder großzügig bemessene Ausnahmen von einer endgültigen Verdammnis macht, kann hier auf sich beruhen. Entscheidend ist die Funktion der soteriologischen Inklusionen für die Leserschaft. 117   Klopstock: Messias, IV, 106.109. 118   Klopstock: Messias, IV, 135. Vgl. auch den Profanationsvorwurf mit Bezug auf die Austreibung der Händler und Wechsler in VI, 384 passim. 119   Klopstock: Messias, IV, 140b-143. 112 113

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Philo erscheint hier als Inbegriff des ‚vir malus dicendi peritus‘, des bösartig-verführenden Rhetors,120 dem nun die moralisch guten oder doch besseren Redner entgegnen. Gamaliel schlägt als Kompromiss vor, den auch segensreich wirkenden Jesus Gottes Gericht zu überlassen, um die Frage seiner Schuld oder Unschuld endgültig zu klären. Nikodemus aber bekennt sich vor der Versammlung zu Jesus als dem Messias: „[.  .  .] Gamaliel [.  .  .]! Der gottgesandte Messias/ Sey auch dein Messias und Deines Samens Messias.“121 Nikodemus stellt Philos Feindmarkierung durch sein Bekenntnis in Frage, ohne eine bloß komplementäre Abgrenzung vorzunehmen. Er warnt vielmehr davor, das Blut von Gottes unschuldigem „Heiligen“122 als ein pervertiertes Opfer zu vergießen, weist also auf eine mögliche Vernichtung des Heiligen in der sakralen Exklusion hin. Dass es im hohepriesterlichen Selbstopfer (Hebr. 9,32) anders kommt, kann Nikodemus nach dem Gesetz der Erzählung hier noch nicht formulieren. Entscheidend ist die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem deutschen Begriff der Heiligkeit und dem lateinischen der Sakralität. Philo grenzt Gamaliel und Nikodemus mit Flüchen aus der Kultgemeinschaft aus. Wenn er sich auf Israels Heiligtümer, an der Spitze den „Blutaltar, wo Gott das Lamm der Versöhnung gebracht wird,“123 beruft und wenig später regen Einsatz für die Sicherung jenes Altars in Aussicht stellt,124 hat Philo sich eindeutig positioniert. Sein Gegensatz zur passiv-teilnehmenden Haltung des Nikodemus, dessen Seele durch „für die Unschuld/Menschlich vergossene[r] Thränen“ bewegt wird,125 ist ausschließend. Philo lässt sich nicht nur nicht erweichen, sondern sagt sich für den Fall, „Daß der Empörer von Nazaret siegt“,126 vom Gott Israels los. Er verstellt sich durch rasenden Aktivismus jeden teilnehmenden Affekt. Nikodemus verabschiedet sich hingegen mit einer Rede aus dem Hohen Rat, die am Religionsbegriff eine Dimension ethischer Heiligkeit von der Dimension kultischer Abgrenzungsgewalt unterscheidet. „Religion“ als „der Tugend erhabenste Lehrerin“ steht „des Bluts und des Würgens/Priesterin“ gegenüber,127 die jene „entheiligt“.128 Wenn Nikodemus Philo segnet, statt ihm zu fluchen, bringt er, jede sakrale Exklusion vermeidend, mit der „Erhabenheit seiner Tugend und Unschuld“129 die Wirksamkeit der wahren Religion zur Darstellung. 120   Hilliard: Philosophy, letters, 102 passim. – Vgl. zur Gegenfigur Quintilian: Institutionis oratoriae, hier Buch I, Vorrede 9 und vor allem XII, 1.1 121   Klopstock: Messias, IV, 250 f. 122   Klopstock: Messias, IV, 265. 123   Klopstock: Messias, IV, 302. 124   Klopstock: Messias, IV, 324 ff. 125   Vgl. auch Klopstock: Messias, IV, 472: „Meine Seele bewegt sich in mir“. 126   Klopstock: Messias, IV, 363. 127   Klopstock: Messias, IV, 457 f. 128   Klopstock: Messias, IV, 467. 129   Klopstock: Messias, IV, 380.

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Klopstock gestaltet die Szene im Hohen Rat als Umgang mit Sakralität: 130 Philo zieht permanent mit kultischen Mitteln Grenzen, um den von ihm abgelehnten Heilsmittler zu profanieren. Nikodemus deutet das Heilige um und verortet es in der Seele. Nikodemus’ eigene Widerstandslosigkeit gegenüber Jesu Überschreitung sakraler Grenzen versinnbildlicht die Unmöglichkeit, der Gnade zu widerstehen. Anders Philo, der die sakralen Bezirke gewaltsam verteidigt und sich gerade dadurch vom Heil ausschließt. Philo heizt die mimetische Krise an, die zum Opfer führen muss, und bestimmt in extrem gewaltsamer Redeweise den Sündenbock.131 Sakraler Exklusivismus hemmt die seelenbewegende Wirkung des Heiligen. Klopstocks Nikodemus folgt dagegen einer nichtsakrifiziellen Deutung von Jesu Hingabe. e)  Heiligung des Volkes als Pränation Die beiden umrissenen Funktionen der Opfer- und Kultsprache im ‚Messias‘ verdeutlichen, wie Klopstock die ganze Seele der Leser zur Teilnahme am epischen Geschehen bewegen und die Leser untereinander verbinden will. Die dazu nötige Überbrückung des Unterschieds zwischen Mittler und Gläubigen leistet der Topos vom hohepriesterlichen Amt Christi. Die vom Dichter betonte Selbstopferung des Mittlers stellt affektive Nähe zu dessen Leiden her und macht den teilnehmungsvollen Lesern Christi individuelle Humanität bewusst. Und die Aufhebung sakraler Gewalt durch die vom Mittler gebrachte „Religion der Gottheit“132 demokratisiert die Ekklesia, die sich in den vielen Nebenhandlungen und Nebenfiguren des Epos konstituiert. So lernen Dichter und Leser aneinander, ob sie Christen sind. Die Leser können aber noch etwas lernen. Als eine radikale Anwendung der Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen wird Klopstocks Text selbst zum Mittler des Mittlers. Darin besteht die dritte Funktion der Kultsprache. Der Dichter kommt durch seine Identifikationsangebote ins Gespräch mit der Leserschaft und spricht das Verhältnis der „unsterbliche[n] Seele“133 zu Christus stellvertretend auf eine Art aus, die individuelle Zugänge öffnet.134 Die passiv-teilnehmende Haltung der Leserschaft und ihre Selbstzuordnung zum Spiel der Inklusionen und Exklusionen erwirken gerade keine „politische Kir130  Vgl. René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg i.Br. u. a. 1983, zur Nichtsakrifizialität des Todes Christi 212–222, zur faktischen Resakralisierung der Deutung und der Ausnahme des Hebräerbriefs 236–253. 131  Vgl. Girard: Ende der Gewalt, zum Mechanismus 35 passim, zu den Pharisäern 163 passim. 132   Klopstock: Messias, IV, 450. 133   Klopstock: Messias, I, 1. 134  Vgl. Schleiermachers Konzept der „Fundamentalanschauung“. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Rudolf Otto, Göttingen 61967, 56 passim.176 passim.199 passim.

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che“,135 sondern eine Versammlung, die ihre Freiheit zu mannigfaltiger Annäherung an Christus und ihre Gleichheit in den affektiven Bedingungen dieser Annäherung einübt,   „[.  .  .] Wo der feurige Christ die Herabkunft Gottes empfindet, Wenn ein brüderlich Volk, durch das Blut des Bundes geheiligt, Vor dem Versöhner der Menschen in Jubellieder sich ausgießt.“136

Das ‚nation building‘ vor dem Heiligen erfolgt durch die Analogie. Der ‚Plan der Offenbarung‘ wird zum Plan der Nationsbildung, indem die Einheit der Ekklesia sich enthusiastisch entäußert und hymnisch in eine Befreiungserfahrung hineinsteigert. Das brüderliche „Volk“ wird zur Nation. Klopstock erwartet die Übertragung frommer Affekte im ‚nation building‘ nicht als ‚Verweltlichung‘ oder Sakralisierung im Sinn einer Erübrigung von Ähnlichkeit, die im Vollzug der Übertragung ihren Zweck erreicht. Ein wesentliches Element der Übertragung ist die poetologische Gemeindebildung des ‚Messias‘, verhilft sie doch der Nationalsprache zu innerer Einheitlichkeit, die wiederum die politische Einheit kulturell bedingt. Der ‚Messias‘ ist so gesehen als Sprachschulung der Nation konzipiert, weshalb christliche und politische Gemeinde aber gerade nebeneinander bestehen müssen. Außerdem kommt die Darstellung einer Sammlung der Gemeinde aus passiv-teilnehmenden Individuen der deutschen Situation entgegen, die eine Sammlung von passiven Teilen der Nation erfordert. Auch die Überwindung von Partikularismus in einer Intention aufs Ganze hin funktioniert nur, wenn Ekklesia und Politie sich im poetologischen Medium treffen. Ein weiteres Element der Übertragung sind die Inklusions- und Exklusionsvorgänge. Während die großzügig bemessene Integration Ausgeschlossener in die Ekklesia ein Gleichheitsideal bezeichnet, kommt im Verzicht auf das sakrale Ausgrenzen ein libertäres Moment zum Vorschein. Das Ende sakraler Gewalt beinhaltet die Hoffnung auf ein Ende aller Gewalt, also auch aller militärisch fundierten Nationalisierung. Mithin ist die Nationsbildung nicht von der transnationalen Frage der besten Regierungsform abzulösen und auch nicht von der Frage einer Revolutionierung der politischen und kulturellen Verhältnisse.137 Klopstock würde nicht für jeden Nationalstaat eintreten. Die Nation soll sich als Gemeinschaft der Gleichen und Freien verstehen können wie die poetologische Gemeinde des ‚Messias‘. Insofern hat dieses poetologische Konzept etwas Politisches, das weit über die bloße Staatlichkeit erhebt. 135  Vgl. Friedrich Carl von Moser: Staats=Klugheit, Staats=Thorheit, Freiheit zu denken, Preß=Freiheit, Patriotisches Archiv III, Franckfurt und Leipzig [.  .  .] 1785, 564 f. 136   Klopstock: Messias, I, 657 ff. 137   Klopstock erhielt 1792 das Bürgerdiplom der Französischen Nationalversammlung und behielt es über die Zeit der ‚Terreur‘ hinaus, weshalb er seit dem Stimmungsumschwung der deutschen Intellektuellen gegenüber der Revolution angefeindet wurde.

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

f)  Passionierte Erhebung Die Frage nach der Legitimität seines ‚nation building‘ hat Klopstock umgetrieben. Er wollte epische Vorgänger und Nebenbuhler überbieten, aber nicht die Bibel, wie Hamann ihm indirekt vorwarf; 138 der ‚Plan der Offenbarung‘ setzte ja eine ‚norma normans‘ voraus. Die Verdrängung der Bibellektüre durch ‚Messias‘-Lektüre139 und eine mögliche Vermischung von religiösen und patriotischen Affekten beunruhigte den Dichter, der differenzbewusst zwischen den höchsten Gegenständen der Poesie trennen wollte. Klopstock löst die Legitimitätsfrage dadurch, dass er den lutherischen Rechtfertigungsglauben in seine auctoriale Selbstkonstitution einfügt. In dem Gedicht ‚An Freund und Feind‘ von 1781140 übersetzt Klopstock die Legitimitätsfrage in die Entdeckungssituation seines Epos zurück. Niedergeschlagen habe er das angemessene Sujet für ein Nationalepos gesucht,   „Flog, und schwebt umher unter des Vaterlands Denkmalen: Suchte den Helden, fand ihn nicht; bis ich zuletzt Müd hinsank; dann wie aus Schlummer geweckt, auf einmal Rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah!   Welches Anschaun war es! Denn ihn, den als Christ, ich liebte, Sah ich mit einem schnellen begeisterten Blick, Als Dichter, und empfand: Es liebe mit Innigkeit Auch der Dichter den Göttlichen!“

Der scheinbar wählende Dichter erfährt sich mit ‚vocatio‘ („geweckt“), ‚illuminatio‘ („Anschaun“), und ‚unio‘ („mit einem schnellen begeisterten Blick“) als erwählt: „Erstaunt über seine so späte Wahl“, wie er doppeldeutig bekennt. Das falsche Sujet auf falsche Weise suchend kommt er erst im Grenzgang zwischen Literatur und Religion zur Ruhe. Zunächst ist sogar alle mimetische Rivalität vergessen, wenn sich das lyrische Ich eine individuelle Reifungszeit zur ‚heiligen Poesie‘ auferlegt: „Strenges Gesetz grub ich mir ein in Erzt: Erst müsse das Herz/Herrscher der Bilder sein“ (‚conversio‘). Doch im Gnadenglauben erfährt sich der Dichter zugleich als poetisch begnadetes Individuum (‚renovatio‘). Er „hielt es nicht aus, übertrat [das selbstgegebene Gesetz], und begann!“ Eine 138   Hamann hat in ‚Aesthetica in nuce‘ die Geburt von Klopstocks Genie gefeiert, ihr aber einen bethlehemitischen Kindermord unterstellt. Die ironische Typologie zielt auf die agonale Dimension von Klopstocks Dichtung. Vgl. Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, II. Bd., Nachdr. der hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler [1950], Wuppertal 1999, 214. 139  Vgl. Richard Alewyn: Klopstocks Leser, in: Festschrift für Rainer Gruenter, hg. von Bernhard Fabian, Heidelberg 1978, 100–121, hier 121, spricht von einer „Laienbewegung [.  .  .], die nicht zufällig an diejenige gemahnt, die der Held seines Epos auslöste.“ Vgl. zur anfänglichen Rezeption und Rückkopplung die Dokumentation bei Höpker-Herberg: Messias, HKA IV/3, 194–200. 140   Der sogenannten Altonaer Ausgabe von 1780/1781 beigefügt. Vgl. auch die Gedichtzitate auf der folgenden Seite.

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘

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Bewegheit der Seele schlägt durch, die den Christen vom Gesetz befreit und den Dichter inspiriert oder: seine Einbildungskraft in Bewegung setzt.141 Für die als Revolution der poetischen Sprache erfahrene ‚Messias‘-Dichtung instrumentalisiert sich der Verfasser selbst:   „Die Erhebung der Sprache, Ihr gewählterer Schall, Bewegterer, edlerer Gang, Darstellung, die innerste Kraft der Dichtkunst;   Und sie, und sie, die Religion, Heilig sie, und erhaben, Furchtbar, und lieblich, und groß, und hehr, Von Gott gesandt, Haben mein Mal errichtet. [.  .  .]“

Der ‚Messias‘ entsteht aus einer Gegenbewegung von Sprache und Religion. Die heilige Sprache ‚erhebt‘ doppelsinnig: Die poetische Rühmung verweist auf das Heilige, die Religion kommt dem poetischen Prozess „Von Gott gesandt“ entgegen. Durch die Überschneidung wird das Heilige sprachlich darstellbar und zugleich durch den christlichen Dichter-Rhetor subjektiv anverwandelt. Das fromme Denkmal des Vaterlands, so der Gedanke, baut sich selbst durch den doppelt begnadeten Dichter, der die Gemeinde poetologisch beteiligt.142 Für Klopstock wäre ein ‚nation building‘ am ‚Messias‘ das gerechtfertigte Projekt lutherischer Sprachkultur.

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ Herder bezeugt in der ‚Adrastea‘ aus Anlass von Klopstocks Tod 1803: „Was er wirken sollte, hat er gewirkt und wird es wirken; nächst Luthers Bibelübersetzung bleibt er Euch das erste klassische Buch Eurer Sprache“.143 Klopstocks Selbstdeutung wäre demnach gerechtfertigt. Er hätte als ‚poeta Germaniae‘ seinen ‚ersten Beruf‘ erfüllt und die Muttersprache mit der Poesie des Heiligen verjüngt. Kritischer ist der frühe Herder, seine Bezugnahmen auf nationale ‚Sprachereignisse‘ werden hier vorgestellt. Für Herders Luther-Topik sind dagegen das ‚Journal meiner Reise im Jahr 1769‘144 und ‚Auch eine Philosophie der  Vgl. Jacob: Heilige Poesie, 50: „Die Einbildungskraft ist die aufgeklärte Version der Inspiration [.  .  .]“. 142   Vgl. zur Denkfigur bei Dante, Milton und Kleist Christian Senkel: Gott und die Muse. Setzkasten für eine Poetik der Begnadung, in: Christian Bendrath u. a. (Hg.): Kleine Transzendenzen, Festschrift für Hermann Timm, Münster 2003, 246–273. 143   Adrastea. Fünfter Band  1803, Erstes Stück, SWS XXIV, 220–222, hier 221. 144   Bisher wurde meist nach dem Indikationswert für Herders Bückeburger Schriften 141

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Geschichte‘ von Belang.145 In diesen Schriften erscheinen Positionen zum ‚nation building‘. a)  Einheit der Nationalkultur – Vielfalt der Zugänge Herders frühes Lutherverständnis liegt in seiner Sprachbezogenheit auf der Linie der ‚Adrastea‘. Luther wird als Vorkämpfer für die Muttersprache gesehen: „Er ists, der die Deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgewecket und losgebunden; er ists, der die Scholastische Wortkrämerei, wie jene Wechslertische, verschüttet: er hat durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben.“146

Die zentralen menschlichen Vermögen mussten aus der Verstrickung in „Lateinische Religion, Scholastische Gelehrsamkeit und Römische Sprache“ befreit werden. Herder zieht die Konsequenzen für die Gegenwart in Gestalt von üppigen Theoriemetaphern: Latinität ist die falsche Haut für den philosophischen Gedankenkörper und sie ist der falsche Körper für die poetische Seele der Muttersprache.147 Luthers reformatorisches Handeln wird aber auch grammatikalisch exakt auf die Muttersprache bezogen, wie die Erörterung unverwechselbarer Merkmale der deutschen Literatursprache zeigt: Er wird mit den Meistersingern, Opitz und Logau, und vor allem Klopstock zu den Genies der semantischen Idiotismen gerechnet.148 Idiotismen sind nach Herder zur Sicherung sowohl vor zu vielen Fremdworten als auch vor steriler Eindeutigkeit unentbehrlich.149 Luther wird in den ‚Fragmenten‘ insgesamt als national verbindendes ‚Sprach­ ereignis‘ rezipiert, seine kirchliche Befreierfunktion ist nur darauf bezogen. Luther und Klopstock erscheinen gemeinsam als Bedeutungsträger der nationalen Sprach- und Literaturgeschichte. gefragt. Dabei wird man immer fündig, was wiederum dem Phänomen der Reiseliteratur geschuldet ist, die den „Traum von der totalen Verfügbarkeit der Erfahrungen und Erlebnisse eines ganzen Lebens“ perpetuiert. Vgl. Alfred Opitz: Reiseschreiber. Variationen einer literarischen Figur der Moderne vom 18. – 20. Jahrhundert, Trier 1997, hier 182. 145   Vgl. mit Bezug auf ‚Auch eine Philosophie der Geschichte‘ Harro Müller-Michaels: Herder – Denkbilder der Kulturen. Herders poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 65–76, hier 69: „In diese gedankliche Konstruktion konnte er alles hineindenken, was ihm in den voraufgegangenen Schriften wichtig geworden war: Wissen um die Individualität der Völker [.  .  .].“ 146   Dieses und das folgende Zitat SWS I, 372. 147   SWS I, 394–406, hier besonders 394 ff. Herder verwendet überall solche Theoriemetaphern. – Vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert, Würzburg 2001; vgl. zur Kritik an Albus mit Hinweisen auf Herders rhetorische Kontexte Sabine Groß: Vom ‚Körper der Seele‘ zum ‚Damm der Affekte‘. Zu Johann Gottfried Herders Metaphorik, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, hg. von Sabine Groß/Gerhard Sauder, Heidelberg 2007, 369–383. 148   SWS I, 165. 149   Vgl. §  2.5 (c).

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘

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In diesem Zusammenhang ist ein Vorbehalt Herders gegen den ‚Messias‘ von Interesse, der Skepsis gegenüber der Funktionalität des Epos für das ‚nation building‘ und damit auch gegenüber Klopstocks Luther-Konkurrenz deutlich macht. Herder beklagt, die von Klopstock angesichts Christi investierten Gefühle seien nicht immer nachvollziehbar. Klopstock habe „sich gewisse Gegenstände der Religion, insonderheit bei den Martern des Erlösers einige Nuancen so eingedrückt, dass, wenn er auf sie geräth, er sich verweilt, und in Empfindungen ausbricht, die er bei dem Leser nicht gnug vorbereitet hat: und bei denen also mancher nichts empfindet.“

Das rezeptionsästhetische Defizit wird ästhesiologisch erläutert: „Wenn unsre ganze Einbildungskraft in Arbeit ist: so kann sich aus dem ganzen rührenden Gemälde ein Zug [.  .  .] am tieffsten eindrucken, der nachher jedes Mal das ganze Gemälde zurückbringt, und also auch durch die Einbildungskraft die ganze Empfindung wieder aufregt – aber dies lezte geschieht [.  .  .] nicht durch den einzelnen Zug, sondern durch das treue Ganze, das man ihm also vormalen muß.“150

Die sublim-lakonische Schreibart betont demnach manche Einzelzüge am Gegenstand zu sehr, um dem Leser eine Wahl aus den Zügen des poetisch-religiösen Zentralgeschehens zu lassen. Der Leser wird bedrängt. In ähnliche Richtung zielt ein von Herder fingierter Dialog zum ‚Messias‘ zwischen einem Rabbi und einem gebildeten Christen. Dem Rabbi ist Christi „Leiden vor Gott [.  .  .] nicht sinnlich begreiflich gnug; und dies ist doch der Mittelpunkt seines Gedichts“.151 Neben der Überbetonung einzelner Züge erregt die durch Allusivität bewirkte Unanschaulichkeit Anstoß; dem Christen ist der Erlöser durch Betonung seiner Funktion nicht individuell genug, dem Rabbi fehlt Kolorit. Der christliche Gesprächspartner wendet seine Kritik in die poetische Theorie, wenn er behauptet, „daß K. oft das Erhabene und Moralische auf Kosten des Episch rührenden treibt“.152 Der ästhetische Wert des ‚Messias‘ leidet demnach unter dem Leiden seiner Hauptfigur. Damit ist die Verknüpfung des Sublimen mit der moralischen Schönheit infrage gestellt, die das poetologische Axiom von Klopstocks rhetorischer Dichtung des Heiligen bildet.

  SWS I, 268 f.   SWS I, 283. – Vgl. dazu Kevin Hilliard: Klopstock und das Alte Testament, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Halle/Tübingen 2008, 41–60, hier 43.46 ff. Hilliard erkennt als konfessionellen Hintergrund der ästhetischen Kontroverse um die Nachahmung orientalischer Poesie den Konflikt zwischen alttestamentlich sprechenden Sekten und Kritikern, die den protestantischen Staatskirchen nahe stehen. 152   SWS I, 283. Vgl. dazu Ingrid Wendorff: Herders Klopstockrezeption im Lichte seiner frühen Kunsttheorie, Hamburg 1990, 160 passim. Wendorff weist zu Recht darauf hin, dass Herder nicht weniger als Klopstock mit rhetorischen Kategorien arbeitet, diese aber zur schärferen Trennung zwischen Religion und Poesie benutzt. 150 151

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

Klopstocks rhetorischer Wahrheitszugang wird im Dialog zwischen Christ und Rabbi zerredet. Herders vielleicht nur spielerische Beobachtungen153 entziehen dennoch der Wirkungsabsicht des ‚Messias‘ im Ganzen die Grundlage. Das Epos muss in der ihm poetologisch eingestifteten Weise wirken oder es funktioniert nicht als nationsbildender Supertext. Herder macht Gründe gegen die Verbindlichkeit von Klopstocks Verfahren für die Affektkonstitution der Rezipienten geltend. Wird diese Affektkonstitution durch mangelnde Identifikationsmöglichkeiten mit der epischen Darstellung des Heiligen verwirrt oder aber durch die zu erkennbar moralische Abzweckung des Verfahrens abgelenkt, so fehlt den Rezipienten der ‚common sense‘. Funktionieren die Rezipienten jedoch nicht in der erwünschten Weise, kommt es nicht zur Vereinigung der Sprachnation durch das Epos. Herder versteht diese Kritik angesichts der 1767 noch unvollendeten Messiasdichtung als guten Rat.154 Ein weiteres Problem für Klopstock liegt in einem dem Dichter entzogenen Umstand. Herder rechnet mit der Unersetzbarkeit des Zusammenwirkens vieler Autoren, Genres und Schreibarten zur Nationalliteratur durch ein einzelnes Muster, zumal das in der politischen Zivilisation der Neuzeit verlorene Publikum neu erzeugt werden muss.155 Dafür bedürfte die Nation einer anderen publizistischen Gestalt, eines deutschen Dr. Johnson,156 der durch Sammlung, Auslegung und Intertextualisierung einen Kanon aktualisiert.157 Ohne solche Mediation leisten literarische Werke keinen Beitrag zum ‚nation building‘. Der Fragmentist Herder glaubt nicht an eine kulturelle Einheit der Nation ohne die Basis einer vermittelten Vielfalt von Zugängen. Luthers Bibeldeutsch wirkt längst als Sauerteig in dieser Mannigfaltigkeit des Nationalidioms, seine Angemessenheit an christliche und literarische Maßstäbe steht außer Frage.158 Klopstock müsse man dagegen nur „als Dichter“ glauben, „Ungläubige an Klopstocks Jesus Christus“ gebe es durchaus.159 Angesichts dieser Relativierung der Poetik des ‚aptum‘ erscheinen Klopstocks Luther-Konkurrenz und die Nationsbildung am Heiligen vermessen.

 Vgl. Wendorff: Herders Klopstockrezeption, 161.   SWS I, 284. Hilliard: Klopstock und das Alte Testament, 46: „Herders Diskussion spiegelt mehr die Unbestimmtheit der Beurteilungskriterien wider, die auf die moderne Bibeldichtung anzuwenden sind, als dass sie klare Verhältnisse schüfe.“ 155   Vgl. 2.5 (b). 156   Dr. Samuel Johnson (1709–1784), Grammatiker und Kritiker: bis 1769 englisches Wörterbuch (1755), Shakespeare-Ausgabe (1765) sowie Literaturkritiken. – Herder dürfte bei dem Vergleich an sich selbst denken. Vgl. seine Kanonbildung SWS I, 218–229. 157   Vgl. zu SWS I, 217 f. Hamanns ‚Aesthetica‘: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, II. Bd., Nachdr. der hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler [1950], Wuppertal 1999, 198 f. 158   SWS V, 350. In einer Rezension zu Klopstocks ‚Oden‘ von 1771. 159   SWS V, 352. 153

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3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘

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Herder hat seine Klopstockkritik für das Monumentalbild zum 18. Jahrhundert abgeschliffen. Sein späteres Lutherverständnis ist jedoch differenziert: „Luther war ein patriotischer großer Mann. Als Lehrer der deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt; auch Völker, die seine Religionsgrundsätze nicht annehmen, genießen seiner Reformation Früchte. Er griff den geistigen Despotismus, der alles freie und gesunde Denken aufhebt oder untergräbt, als ein wahrer Herkules an, und gab den ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen, den Gebrauch der Vernunft wieder. Die Macht seiner Sprache und seines biederen Geistes vereinte sich mit Wissenschaften [.  .  .] so bildete sich zuerst ein populares literarisches Publikum in Deutschland und in den angrenzenden Ländern“.160

In diesem Urteil aus ‚Briefe zu Beförderung der Humanität‘ von 1793 ist die Deutung Luthers als ‚Sprachereignis‘ breit kontextualisiert. Der Reformator erscheint als Index einer ‚Welt der Folgen‘ seines Handelns, die über die Grenzen der protestantischen Konfessionskultur und der Nation hinauswirken.161 Vor allem formuliert Herder fast beiläufig, Luther sei der „Lehrer der deutschen Nation“ gewesen und habe ein nationales Publikum homogenisiert. Eigentlich erstaunlich ist an diesem Passus Luthers Erscheinen in Melanchthons metonymischem Ornat: als ‚praeceptor Germaniae‘. In dieser Variante der Luther-Topik gipfelt jene bildungstheoretische Neufassung der Nationsthematik, die im ‚Journal meiner Reise von 1769‘162 und in der geschichtstheologischen Integration des Patriotismus Gestalt gewinnt. b)  Das ‚Journal‘: Horizonte imaginativen Wissens Herders ‚Journal‘ ist die Hybridbildung aus einem aufklärerischen Reisebericht und einem autobiographischen Memorial.163 Die im 18. Jahrhundert für die Wissensformung wichtige Reiseliteratur ist gattungstheoretisch schwer festzulegen,164 doch das ‚Journal‘ hebt sich von anderen Reisebeschreibungen noch 160   ‚Briefe zu Beförderung der Humanität. Zweite Sammlung‘ (1793), in: SWS XVII, 87. – Der einschlägige Abschnitt wurde von Herder 1792 gesondert publiziert. Vgl. ‚Luther, ein Lehrer der deutschen Nation‘, Halle 1792, Neuausg. 1883. 161   Herder trifft sich mit Klopstocks lyrischem Engagement für eine politische Auffassung der Reformation als Revolutionsvoraussetzung. 162   Im Folgenden vereinfacht zitiert als ‚Journal‘. 163   Vgl. zum Hybridbegriff knapp Jutta Ernst: Art. Hybride Genre, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart/Weimar 1998, 220. – Opitz: Reiseschreiber, 83 f., nennt Herders ‚Journal‘ die enthusiastische Befreiung aus einer traurigen Einkapselung und einen „Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Reiseliteratur“; Andreas Bürgi: Weltvermesser. Die Wandlungen des Reiseberichts in der Spätaufklärung, Bonn 1989, 42, spricht vom Scheitern einer von vornherein auf zitathaftes Nachempfinden angelegten Unternehmung, die an äußeren Beobachtungen so gut wie nicht interessiert war. 164   Vgl. zum Diskurscharakter der Reiseliteratur Carola Hilmes: Aufbruchstimmung:

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

dadurch ab, dass es überhaupt kaum empirische Beschreibungen fremder Orte enthält. Anders als der Reisebericht der Aufklärung entzieht es sich dem Beobachten.165 Herder beschreibt die nautischen Umstände einer Seereise in ihrer Bildsamkeit für den Reisenden, doch so, dass dieser Reisende in seiner Erwartung, eine antike Seefahrt im Mittelmeerraum gleichsam zitathaft zu erleben, enttäuscht wird und vor allem das Entferntsein von den Phänomenen erfährt, die er aus transitorischer Näherung zu beschreiben wünschte.166 Allerdings geht aus dem wellenartigen Wechsel von Beobachtungen und Einfällen das Konzept zu einer Bildungsreform hervor, weshalb man Herders Enttäuschung nicht zu wörtlich nehmen darf,167 sein wiederkehrendes Erstaunen aber auch nicht epistemologisch, sondern eher rhetorisch werten muss.168 Mit dem Übergang der als Spiel der Gedanken und Wahrnehmungen inszenierten Seefahrt zur reformerischen Imagination einer patriotischen Institution wird der Fluchtcharakter von Herders Reise beendet; auch die megalomanen Entwürfe zu Wissensordnungen ersterben. Schließlich tauchen Skizzen auf, die, ohne etwa die Reiseroute abzubilden, Mutmaßungen zu Nationalkulturen als Bildungsertrag von Herders Passage ausgeben. Der Rekurs auf Luther ist nur knapp, erfolgt aber an einschlägiger Stelle. Die Hybridbildung des ‚Journal‘ beginnt mit der Reformationserinnerung, von der aus sich im Text zurück- und vorausblickend Aufschlüsse zu Herders Auffassung vom ‚nation building‘ ergeben. Zunächst resümiert Herder die Nichterkennbarkeit der „Länder und Welttheile“, an denen das Schiff „vorbeifliegt“, und stellt die Nutzlosigkeit der „Reisebeschreiber“ heraus, die dem Passagier „entfernte Küsten“ nur fiktional näher bringen.169 Unvermittelt kommt er auf die verlassene Wahlheimat Riga zurück, deren eben noch beklagte Enge nun als heimliches Ziel der Fahrt erscheint: „Liefland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwißenheit, und eines angemaaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei, wie viel wäre in dir zu thun? Zu Reisen in die nahe und die ferne Fremde. Die Erforschung der Welt – Expeditionen und Erfahrungen, in: Forschung Frankfurt. Das Wissenschaftsmagazin, 26. Jgg. 3/2008, 12–17. 165   Vgl. grundsätzlich Hans Ulrich Reck: Entgrenzung und Vermischung. Hybridkultur als Kunst der Philosophie, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur. Medien – Netze – Künste, Köln 1997, 91–115, hier 109 ff. zur Hybridkultur als Überwindung der Kontrollinstanz ‚Beobachtung‘. Herder lässt sein Beobachten in der Intermedialiät und Synästhesie der Seefahrt untergehen, um neue Einsichten zu gewinnen. 166  Vgl. Andreas Bürgi: Weltvermesser. Die Wandlungen des Reiseberichts in der Spätaufklärung, Bonn 1989, 17.21.79 ff. 167  Gegen Bürgi: Weltvermesser. 168  Gegen Opitz: Reiseschreiber. Vgl. zur rhetorischen Dimension im ‚Journal‘ Gabriele Dürbeck: Staunen, Einbildung, ‚Sympathisieren‘. Der historische Betrachter und die vergangene Fremde in Herders früher Geschichtsphilosophie, in: Herder-Jahrbuch 2000, Stuttgart/ Weimar 2000, 79–90. 169   Dieses und das nächste Zitat SWS IV, 362.

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ 121

thun, um die Barbarei zu zerstören, die Unwißenheit auszurotten, die Cultur und Freiheit auszubreiten, ein zweiter Zwinglius, Calvin und Luther, dieser Provinz zu werden. Kann ichs werden?“

Herder imaginiert sich als Reformer. Einige pejorative Umschreibungen plausibilisieren seinen Abschied von Livland, vor allem aber dessen Reformbedürftigkeit. Das aufklärerische Kernprogramm der Ausbreitung von Kultur und Freiheit bei Abschaffung ihres Gegenteils – Barbarei und Sklaverei170 – wird durch die Apostrophe der Reformatoren substanziell.171 Da Herder keine Kirchenreform prätendiert, stellt sich allerdings die Frage, warum er die drei genannten Reformatoren aufruft. Vermutlich ist es der unlösbare Bezug auf bedeutende Stadtkulturen,172 der Zwingli und Calvin zu Luther gesellt. Auch der zeitgenössische Schweizer Beitrag zum Diskurs von Patriotismus, Regierungsformen und Literatur könnte die Auswahl begünstigen. In jedem Fall steht die reformierte Konfession aber für Konsequenz in der Institutionalisierung von Reformprogrammen. In dieser Nachbarschaft erscheint Luther überzeugend als „Mitreformator[s] des ganzen aufgeklärten Europa“.173 Seltsam mutet dagegen Herders Verzicht auf Melanchthon an. Der ‚praeceptor Germaniae‘ hätte einen Patron für die Bildungsreform abgegeben, doch seine humanistische Latinität schließt ihn wohl aus. Bezogen auf die spätere Topisierung Luthers als Lehrer der Nation führt die Leerstelle im Reformationsrekurs zur Frage, wie dieser Rekurs mit der Nationsthematik verknüpft wird. Im Textteil vor dem Reformationsrekurs erscheint die Nation in dreifacher Brechung: als individuelle Wahlheimat, als Funktionsträger für eine Universalgeschichte der Bildung und, konträr, als epistemisch unsicheres Objekt. Gemeinsam ist all diesen Erscheinungsformen des Nationalen der prekäre Status. Herder versteht die Nation als ‚patria‘ zunächst selbstbezüglich von den Kontingenzen des Lebenslaufs her.174 Sich selbst als „Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei“175 kritisierend stellt Herder sein Defizit an patriotischen Verdiensten 170   Zu denken ist reell an die Leibeigenschaft, metaphorisch an die Sklaverei der Nachahmung anderer Kulturen. 171   Herders anscheinend nach innen gewendete Flucht und seine Euphorie finden konkrete Orte auf, die gleichsam diskursiv bereist werden. Diesen Umstand thematisiert weder Bürgi noch Opitz. Vgl. dagegen zum Journal als „Matrix imaginärer Ich-Entwürfe“ Christian Moser: Der ‚Traum der schreibenden Person von ihr selbst‘. Autobiographie und Subjektkonzeption bei Johann Gottfried Herder, in: Herder-Jahrbuch 1996, hg. von Wilfried Malsch et. al., Stuttgart 1997, 37–56, hier 39. 172   Für Genf ist auch an Rousseau zu denken. 173   Vgl. oben; SWS XVII, 87. – Rainer Wisbert: Das Bildungsdenken des jungen Herder. Interpretation der Schrift ‚Journal meiner Reise im Jahr 1769‘, Frankfurt/Main 1987, hier 150–156, diskutiert trotz entscheidender Hinweise zu Herders ‚reformatorischem‘ Selbstverständnis die Frage der topischen Variation nicht. 174   Es ist „vom Wurf von Zufällen“ die Rede. Vgl. SWS IV, 345. 175   SWS IV, 347.

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

für die Wahlheimat Riga fest,176 in die er aus Preußen willig übersiedelt war.177 Schließlich wird Gott als Herzenskenner um eine Beruhigung von Herders seelischer Unruhe gebeten; die richtige ‚patria‘ zu vermitteln, wäre eine willkommene Zugabe.178 Die anschließenden nautischen Beobachtungen und Einfälle zur Bildung bringen die anderen Brechungen des Nationalen zum Zug. Während die Seereise kaum Einblick in empirische Nationen gewährt, tun es die Lebensbedingungen auf dem Schiff: „[.  .  .] was gibt ein Schiff, daß [sic] zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! [.  .  .] Auf der Erde ist man [.  .  .] in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen.“

Neben Ideen zu einer meeresbiologischen Naturgeschichte und einem alternativen, lebendigen Anschauungsunterricht eröffnen Gespräche mit der Schiffsbesatzung Perspektiven, die weit über den kleinen „Despotismus“179 der nautischen Lebenswelt hinausreichen. Darunter ist auch eine Erkenntnisfunktion des Nationalen, die Herder in mehreren gedanklichen Schritten aus der autonomen Mythologie der Seeleute entfaltet. Beobachtungen an der abergläubischen Zeichendeutung der Seefahrer führen zu einer funktionalen Bestimmung von Religion als naturbezogenem Kontingenzumgang. Dazu gesellt sich ein sekundärer, kulturbestimmter Kontingenzumgang, wenn beispielsweise „ein Vertriebner seines Vaterlandes [.  .  .] ein fremdes Land suchte“180 und sich die zufälligen Begleitumstände seiner Reise mythisch zu Recht legte.181 Auch ein Blick in die Antike bestätigt den Hang der nautischen Religion zum Grotesken, Wunderbaren und Poetischen,182 das jedoch nicht als Wahrheitshemmnis, sondern als eine durch spezifische Lebensumstände geprägte Form von Wahrscheinlichkeit zu verstehen ist. Die Annahme solcher   SWS IV, 346 f.   Vgl. SWS IV, 363, von der „Sklaverei“ seines „Geburtslandes“. 178   Dieses und das nächste Zitat SWS IV, 348. – Vgl. zur Synoptik von Wahrnehmungsformen und Lekturalmetaphorik in Herders Seereise Hermann Timm: Geerdete Vernunft. Johann Gottfried Herder als Vordenker der Lebenswelttheologie, in: Ders.: Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996, 94–113. 179  SWS IV, 355. – Schiffsgleichnisse zur Herrschaftslegitimation und zum politischen Kampf gab es längst vor Platons ‚Politeia‘. Vgl. Friedrich Maier: ‚Das Staatsschiff‘ auf der Fahrt von Griechenland über Rom nach Europa. Zu einer Metapher als Bildungsgegenstand in Text und Bild [Antrittsvorlesung HU], Berlin 1994. 180   SWS IV, 357. 181   Ähnlichkeiten zwischen Vico und Herder in der Erklärung der Mythenentstehung sind immer wieder festgestellt worden. Vgl. nach wie vor Isaiah Berlin: Three critics of the Enlightenment. Vico, Hamann, Herder, ed. by Henry Hardy, Princeton/NJ u. a.] 2000, hier 65 f.69 f.73 passim.97.114.171; vgl. weiter Ernesto Grassi: Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte abendländischen Denkens, Frankfurt/Main 1992, 176 passim.239 passim. 182   SWS IV, 358 ff. 176

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Formen poetischer Wahrscheinlichkeit ermöglicht eine schonende, wenig reduktionistische Erklärung mythologischer Vielfalt und fördert damit ein auf die Einbildungskraft bezogenes (nichtmetaphysisches) Wahrheitsverständnis.183 Herders Extrapolationen aus dem Seemannsglauben enden in der Forderung einer beim Individuum ansetzenden, auf der Geschichte der Einbildungskraft fußenden deskriptiven Ethik der „Classen und Völker“.184 Die Semantik des Nationalen ist in diesen Überlegungen stets vorhanden, aber funktional uneindeutig. Das Nationale wechselt seinen Status von der berechenbaren Gegebenheit in der Religionsbeschreibung zur rätselhaften Variable der Einbildungskraft. Nationen sind in der universalen Zivilisationsgeschichte elementar,185 ihre Identifizierbarkeit verflüssigt sich jedoch durch den deskriptiven Zugang über Individuen. Herders Zuschreibungen scheinen mit der Dünung zu schwanken, die der erste Textteil im Wechsel von nautischer Beobachtung und Theorieeinfall nachahmt – ein Produkt topischer Darstellung.186 c)  Neue Reformation, neue Nationen Im Reformationsrekurs verändert sich die Schreibweise. Frühere Zweifel werden geklärt: „Wenn werde ich so weit seyn, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube“?187 Offensichtlich ist der Verfasser ‚so weit‘, wenn er sich entschließt, „die Colonie einer verbeßerten Evangelischen Religion zu machen: nicht schriftlich, nicht durch Federkriege, sondern lebendig, durch Bildung.“188 Herders Reformationsrekurs hat geistlichen Sinn und institutionelles Gewicht, wodurch sich auch das Nationsverständnis verstetigt.   SWS IV, 360 f.   SWS IV, 361 f. – Eben doch analog zu Vico. Gegen Ferdinand Fellmann: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg i.Br./München 1976, 72. Die Einschätzung, Herders Konzept vom Volk sei „national eingefärbt“, und gehöre in die Tradition der „romantischen historischen Schule“, unterstellt, was zu beweisen wäre. Überdies ist der Nationsbegriff deutungsoffen. Vgl. zu Herders spätem Volksbegriff feinsinnig Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005, hier besonders 75–99, und Hans Adler: Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee, in: Otto: Nationen und Kulturen, 271–284. 185   SWS IV, 353. 186   Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/Main 41993, 44: „Die Weite des Meeres erinnert ihn an die tabula rasa als Bedingung der Authentizität und Autonomie der Gedanken [.  .  .]. Auf der Rückfahrt im Januar 1770 geriet Herders Schiff zwischen Antwerpen und Amsterdam auf Grund. Das Meer als Ort der Selbstentdeckung [.  .  .] hat sich als Fremdgewalt ausgewiesen.“ 187   SWS IV, 349. 188   SWS IV, 364. 183

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Der geistliche Sinn des Reformprojekts erschließt sich über Herders seelsorgerliche Selbstbeschreibung.189 Die umfassende Seelsorge schließt indes die kulturdeskriptiv und religionsfunktional erfassbaren „sinnlichen Werkzeuge und Gewichte und Hoffnung[en] und Vergnügen, und Charaktere und Pflichten“ ein,190 womit sie sich um eine anspruchsvolle europäische Seelen- und Sittengeschichte vor konfessionskulturellem Hintergrund erweitert. Doch dabei bleibt es nicht. Herders imaginatives „Buch zur Menschlichen und Christlichen Bildung“191 schwillt an. Konnte man die Ausweitung der Seelenmaterie noch als eudämonistische Induktionsarbeit deuten, geht es nun um eine Bildung an zivilisatorischen Tatsachen „aus dem lebendigen Vorstellen der Bilder aller Zeiten und Sitten und Völker“.192 Das Maximum der Bildung für die evangelische Seele wird mit der klimaktischen Inklusion der Nationen in die Bildungsarbeit bezeichnet. Zu schreiben wäre, mit einer Anspielung auf Wielands 1766 erschienenen Bildungsroman, „die Geschichte eines Agathon in jeder Nation“.193 Im Blick auf das Nationsverständnis ist nun nicht nur die Anerkennung der Nation als Theorieobjekt von Bedeutung, sondern auch die Ablehnung einer rein literarischen Façon der Reform. Mithin soll die verbesserte evangelische Religion als politisch-konkrete „Colonie“ erscheinen. Herders Wortwahl ist delikat: Die Nation als Referenzgröße würde das Vorhaben überfordern, doch eine rein idealisch-literalistische Option wäre zu schwach. „Colonie“ lässt außerdem an die Neue Welt denken; dass sie im Baltikum läge, ist zweitrangig. Herders nautischer Imagination kann eine neue Welt überall aufgehen, auch dort, wo er herkam. Der Ausdruck „Colonie“ greift aber auch das praktische Institutionalitätsproblem des ‚nation building‘ auf, wie es Klopstock an der antizipatorischen Institutionalisierung einer Gelehrtenrepublik darstellen wird. Im Unterschied zu Herders früherem Tasten zum Patriotismus steht nun fest, dass sich patriotische Reformen nur anhand einer verstetigenden Institution durchführen lassen.194

189   Vgl. schon SWS I, 392: „O eine Schrift, die das ist, was eine Erbauungs= eine Bildungsschrift für den größten, nutzbarsten und ehrwürdigsten Theil der Menschen, das Volk, seyn soll“, und daraufhin der Einfall zu einem Lehrgedicht von der Seele SWS I, 472 passim. 190   SWS IV, 364. 191   SWS IV, 368. 192   Dieses und das nächste Zitat SWS IV, 365. – Vgl. ähnlich SWS IV, 366: „ein Bild von allen Gesichten und Nationen und merkwürdigen Charakteren und Erfahrungen“. 193   SWS IV, 472 passim. 194   SWS IV, 371–401. Vgl. zur Funktion christlicher Institutionen für das Gemeinwesen Eilert Herms: Bildung des Gemeinwesens aus dem Christentum. Beobachtungen zum Grundmotiv von Herders literarischem Schaffen, in: Martin Kessler/Volker Leppin (Hg.): Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin/New York 2005, 309– 325; vgl. zur pädagogischen Insitutionalisierung des Geschichtsdenkens Rainer Wisbert: Geschichte und Schule bei Johann Gottfried Herder, in: Kessler/Leppin (Hg.): Johann Gottfried Herder, 353–367.

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ 125

Die Institution einer Bildungsreform kann nur eine Schule sein. Herders imaginierte Schule kombiniert Gedanken aus dem übrigen Text. Sie setzt auf Anschauungsunterricht, wie Herder ihn aus der Korrespondenz seiner nautischen Beobachtungen und epistemologischen Einfälle erdacht hat.195 In diesem Punkt trifft sich der Schulentwurf mit dem Monitum vieler Zeitgenossen, im alt­ sprachlich-grammatikalisch geprägten Unterricht kämen die Realien zu kurz, wodurch das Bildungsbedürfnis vieler Teile des dritten Standes verfehlt werde.196 In Herders elitebezogenem Schulentwurf fehlen die Altsprachen nicht, doch sind sie einem neuartigen Curriculum zugeordnet, das Wahlmöglichkeiten enthält und den Unterrichtsfortschritt zwischen den Klassen durch Verzicht auf mechanische Wiederholung verkürzt. Das Curriculum setzt auf einen alternativen Sprachunterricht mit Neusprachen, jeweiliger Nationalliteratur und Landeskunde. Mündliche Verständigung zieht mit dem Grammatiklernen gleich. Der mittelbare Sinn dieser Einrichtung für die Nationsbildung liegt auf der Hand: Anschauungsdimension, Lebendigkeit und Gegenwartsbezug ohne Vernachlässigung der antiken und historischen Quellen sollen berufstaugliche Bürger hervorbringen, die imstande sind, sich im internationalen Verkehr zurechtzufinden. Die Abgänger dieser Schule würden wohl keinen ‚Messias‘ dichten, aber aufgrund von Sprach- und Länderkenntnissen nach komparativen Aspekten zum ‚nation building‘ beitragen und politisches Bewusstsein für ihren Stand und ihre ‚nationelle‘ Eigenart ausbilden. Die bildungstheoretische Maximalisierung des Nationsbegriffs wird später mit Skizzen zu ausgewählten europäischen Nationen fortgesetzt.197 Diese Skizzen interessieren hier nur als Konsequenz aus Herders reformatorischem Selbst­ entwurf sowie als Mittelglieder zwischen den Nationalcharakter- und Nationalgeistdebatten und Herders Geschichtsschrift von 1774. Zwei Aspekte am Nationsverständnis dieser Skizzen sind bedenkenswert. Zum einen erfolgt eine im Rahmen der geplanten Reform Livlands unerlässliche Einschätzung Russlands. Herder erwartet die Entstehung einer neuen Nation aus dem „Geist der dortigen Völker“, den er aber nicht als Nationalcharakter versteht. Dieser Geist ist vielmehr ein Konglomerat von politischen, religiösen und kulturellen Zügen, aus dem eine Nation hervorzutreten bestimmt ist.198 Ihre spontane Bildung wird die kulturell überformungsbereiten Nachbarn mit   Vgl. SWS IV, 360.   Diese Position war gleichsam Allgemeingut zwischen Abbt, Möser, Herder und anderen Bildungsreformern. Zur massiven Kritik an Lateinschulen und für den Aufbau von Realschulen SWS I, 378 passim, in der dritten Sammlung der ‚Fragmente‘. 197   SWS IV, 401–433. 198   Vgl. zu Volk und Nation als Relationsbegriffen Birgit Nübel: Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ bei Rousseau und Herder, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 97–109, hier 101; weiterführend zu Russland zwei slawistischen Beiträge in Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 319–332. 195

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unberechenbarer Neuheit überraschen.199 Der andere Aspekt betrifft die Grenzen der Nachahmung im ‚nation building‘. So kritisiert Herder im Blick auf Frankreichs europäische Kulturbedeutung, dass Nachahmung meist etwas anderes erzeuge als Ähnlichkeit mit dem Muster.200 Auch die Rekombination von antiken Regierungsformen und Konstitutionen mit den vorfindlichen Staaten und Nationalkulturen der Neuzeit erscheint als ein ergebnisoffener Prozess, an dessen Ende gewiss keine Restitution griechischer Stadtrepubliken stehen werde.201 Sogar der überlieferte Text des ‚Journal‘ bricht hier ab. Herders Beobachtungen zur Unerwartbarkeit und Individualität von Nationsbildungen nehmen die erreichte Erkenntnissicherheit scheinbar zurück, nur um sie entschlossen in den Prozess der Nationsbildung hinein zu verlegen. Mit diesem Prozess gilt es durch permanentes Abgleichen von Erwartung und Neuheit, von Typik und Individualität theoretisch Schritt zu halten, weshalb Herders Reformplan für Livland schließlich durch einen Universalismus der Nationengeschichte überwölbt wird. Die Nation wird zur Referenzgröße zwischen individueller und universaler Bildung, zwischen Individuum und Menschheit. Luther ist im ‚Journal‘ einer der Namenspatrone und die ‚Evangelische Religion‘ das Medium dieses Bildungsprozesses.202 In Herders Geschichtsschrift verändern sich diese Koordinaten noch einmal. d)  Geschichtslehrer der Nation Herder besetzt die in seinem Reformationsrekurs vakante Stelle Melanchthons nicht offensichtlich durch sich selbst als den neuen ‚praeceptor Germaniae‘. Das theoretische Betätigungsfeld für diese Funktion ist noch unklar, außerdem wird das Reformprogramm des ‚Journal‘ aus pragmatischen Gründen regional beschränkt. In der Bückeburger Geschichtsschrift 203 von 1774 erfolgt im Gegen-

  SWS IV, 402 f.  Vgl. weiterführend Gonthier-Louis Fink: Herders ambivalentes Verhältnis zu Frankreich im Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, hg. von Sabine Groß/Gerhard Sauder, Heidelberg 2007, 145–172. 201   SWS IV, 415 f. 202   Reinhard Junghans: Die Lutherrezeption Johann Gottfried Herders. Eine Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung seiner theologischen Schriften und mit rezeptionstheoretischen Überlegungen, in: Lutherjahrbuch 59 (1992), 160–191, hier 163, weist zu Recht auf die Verteilung von Herders Lutherrekursen hin. Danach blieb Luther in Schriften zu Sprache und Welt „ so gut wie unerwähnt“, während die im engeren Sinn theologischen oder auch amtlichen Schriften viele Lutherrekurse enthalten. Umso mehr kommt es jedoch darauf an, die Funktionen der Luthertopik bei seltener Erwähnung und in den oberflächlich weniger ‚theologischen‘ Schriften festzustellen. 203   Im Folgenden zitiert als ‚Auch eine Philosophie‘ oder als „Geschichtsschrift“. 199

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3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ 127

zug sowohl eine Reuniversalisierung der Bildungsabsicht als auch die Klärung der Aufgabe eines ‚praeceptor‘.204 Der Titel ‚Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‘ signalisiert eine bloß vermeintliche Beiläufigkeit. Der ‚Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts‘ bietet eine kritische Hermeneutik der Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie, weshalb er nicht als Beitrag neben anderen, sondern als Beitrag höherer Ordnung zu lesen ist.205 Der Herder des ‚Journal‘ hat Begriffe und Anliegen geordnet: Die geplante Bildungsreform wird in Zivilisationsgeschichtsschreibung transformiert, für die das Verstehen nationaler Kulturen konstitutive Bedeutung hat. Das heißt aber auch, Herder kehrt von der ‚gedachten Ordnung‘ einer Lerngemeinschaft zur relativen Selbstgenügsamkeit eines Wissensentwurfs zurück, auch wenn sich an diesem die patriotische Selbstverständigung bilden soll. Die Geschichtsschrift hat diatribischen Charakter, sie erörtert Fragen der Geschichtsdarstellung im Rahmen eines zivilisationsgeschichtlichen Entwurfs. Zunächst wird in einem Schema der antiken Geschichte verschiedenen Nationalkulturen ihr für die „Bildung der Menschheit“ unvertauschbarer Sinn zugeschrieben.206 Für diese Konstellation gebraucht Herder die Lebensalteranalogie als Leitmetapher: Wie jedes Lebensalter seine spezifische Funktion für das Lebensganze hat, so hat es seinen unvertauschbaren Sinn in sich selbst, der zu keinem anderen Zeitpunkt hätte entfaltet werden können. Auf die Geschichte übertragen stellt diese Analogie die Unvertauschbarkeit der Perioden sicher, indem sie das Qualifizieren ‚Goldener Zeitalter‘207 in einzelnen Nationalkulturen ermöglicht. An der Schnittstelle zwischen Antike und Mittelalter stellt Herder das Charakterisieren als historiographisches Verfahren in Frage und verabschiedet die Nationalcharakterdebatte als ungeeignetes Mittel zum Geschichtsverstehen wie auch zur nationalen Selbstverständigung: 208 „Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfaßung und Geschichte müssen entscheiden.“209 Die Bestimmungen der Nationalcharakterdebatte laufen subjektiv stets auf einen öden, weil durch das bestechliche Richterurteil ihres Autors schon für dessen Nation ent  In Bückeburg kehrt Herder zum ‚Tintenfaß‘ zurück. Mit der Reformimagination des ‚Journal‘ kann Abbts Nachfolger beim Grafen zu Schaumburg-Lippe, der sein marodes Erbe saniert, nicht reüssieren. Der aufgeklärte Kleinabsolutist erwartet die Fortsetzung der von Abbt begonnenen, pragmatischen Schulreform. In schwelendem Konflikt mit seinem Dienstherrn nutzt Herder, nun doch nicht mehr so reformeifrig, alle Zeit zum Schreiben. 205  Vgl. Ralf Simon: Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 77–95. 206   SWS V, 477–501. 207   Z. B. SWS V, 481.494. 208   SWS V, 501–513, bildet mit dem Schema zum Altertum den ersten Abschnitt. 209   SWS V, 503. 204

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schiedenen Wettkampf hinaus.210 Objektiv „wird alle Vergleichung mißlich“, weil jedes Volk einmal eine kulturelle Höhe mit einer Funktion für das eschatologische Tableau der Nationen haben wird.211 Die implizite Komparativität zeitgenössischer Geschichtskonstruktionen erscheint daher immer als Verfälschung – wie auch der vergleichssüchtige Nationalstolz, den Herder in späteren Werken kritisiert. So kommentiert Herder seine ‚Rettung‘ Phöniziens vor den Angriffen der Gräkomanie: „[.  .  .] ich mag gar nicht vergleichen“.212 Irdische Vollkommenheit ist, sofern erreichbar, immer transitorisch.213 Die weitere Geschichtserzählung bewährt den am Altertum entfalteten hermeneutischen Ansatz am Mittelalter. Das Mittelalter wird als notwendige Supplementierung einer vakanten Ordnung bestimmt und damit als eine weder abzuwertende noch überzubewertende Geschichtsperiode gerechtfertigt. Herder entideologisiert es mit Blick auf den zeitgenössischen Fortschrittsoptimismus einerseits und auf eine sentimentale Reichsverherrlichung andererseits. Das Ziel dieses Verfahrens ist jedoch keine Begriffspolitik, sondern ein genaueres Verständnis des Mittelalters. In diesem Zusammenhang erhält nun das Christentum seine Systemstelle.214 Um nicht wegen der Aufwertung des Mittelalters die Bedeutsamkeit von Renaissance und Reformation herunterspielen zu müssen, führt Herder beider Geschichtssinn als Zivilisationsbeitrag der neueren Zeiten zusammen.215 Die Innovativität der Neuzeit wird kritisch auf eine mechanistische Supplementierung vormaliger humaner Bildungen reduziert, das Neue der Neuzeit besteht jedoch in einem unvordenklichen Potential, sich bisherige Bildungsformen sowohl zur nationalen Selbstverständigung als auch zur „Bildung der Menschheit“ im und am Individuum anzuverwandeln. Würde die Geschichtsschrift damit enden, könnte man sie als einen auf Ranke vorausweisenden Protohistorismus oder aber als eine gegenwartsbezogene Simultanisierung einstiger Sinnevidenzen in physiognomischer Tradition lesen. Beide Interpretationen sind vertreten worden, beide haben, auch im Blick auf den Bildungsaspekt, Gründe für sich. Die protohistoristische Deutung versteht den Text als Meisterrelativierung der Aufklärungsgeschichtsschreibung   SWS V, 536.   SWS V, 509. Herders Gebrauch der Begriffs ‚Volk‘ und ‚Nation‘ wird weithin als Synonym angesehen. Vgl. Rudolf Große: Zur Verwendung des Wortes ‚Volk‘ bei Herder, in: Dietze (Hg.): Herder-Kolloquium, 304–314, hier 308: Große stellt als Nuance fest, dass Herder den Nationsbegriff manchmal verwendet, um Dynamik und Bewusstheit eines geschichtlichen Vorgangs hervorzuheben. Anders und präziser Adler: Weltliteratur, hier 272. Adler betont den soziologischen Begriffsunterschied und sieht Herder „in heikler Position zwischen Baum (Volk) und Borke (Intellektuelle) eingekeilt“. 212   SWS V, 494. 213  Vgl. instruktiv zu Herders Vollkommenheitsverständnis Müller-Michaels: Denkbilder, 69 f. 214   Vgl. §  3.3 (e). 215  Die Beschreibung SWS V, 530–554 bildet mit der des Mittelalters den zweiten Abschnitt. 210 211

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mit der innovativen Entdeckung der Eigendynamik von Individualität. Herder hätte danach schon ein Bewusstsein von der Konstruktivität der Historiographie gehabt.216 Die physiognomische Variante liest von Hamann her: „Der hieroglyphische Adam ist die Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade [.  .  .]“.217 Danach enthält die biblische Urgeschichte, von Herder in ‚Älteste Urkunde des Menschengeschlechts‘ bildungstheoretisch ausgelegt, 218 ein sinnbildlich verdichtetes Wissen über den Geschichtsverlauf, das es zur Ermittlung von Geschichtssinn anzuwenden gilt.219 Die Geschichtsschrift wäre dann nur ein Anwendungsfall von Herders Auslegung der biblischen Urgeschichte, von der aus man wahlweise ‚Auch eine Philosophie‘ als Ästhetisierung der Geschichte oder gegenteilig als Retheologisierung der Geschichte zu deuten hätte.220 Beide Lesarten ordnen jedoch signifikante Züge des Texts ihrem Erkenntnis­ interesse unter. Während die protohistoristische Variante den von Herder divinierten Einheitssinn in der Geschichte zur Funktion für die relativistischen Einsichten formalisiert, vermindert die physiognomische Lesart den Schrecken der Undurchdringlichkeit geschichtlicher Ereignisse, den Herder gegen den leichtfertigen Verzicht auf eine historiographische Differenzkultur aufruft. Dies gilt auch und gerade von den „Reformatoren aller Zeiten“.221 Vor allem aber übersehen beide Lesarten die hermeneutische Herausforderung, derer sich die Geschichtsschrift annimmt: Es gibt keine Vermittlung eines Konzepts vom Einheitssinn in der Geschichte mit der dichten Mannigfaltigkeit ihrer Sinnevidenzen, auf die Herder zurückgreifen könnte, um das Verschwinden von Erscheinungen und die ihm entgegenwirkenden Verstetigungen zu thematisieren.222 Er muss diese Vermittlung gegen die zeitgenössischen Aufstiegs- und 216   Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München und Berlin 1936, hat dieses Herderbild geprägt. Vgl. sehr kritisch Claus Träger: Die Herder-Legende des deutschen Historismus, Frankfurt/Main 1979; zur Übersicht Matthias Dümpelmann: ‚Keiner Vollkommenheit fähig‘. Herder und die Verzeitlichung nationaler Identität, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 207–216, hier 209 ff. 217   Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, II. Bd., Nachdr. der hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler [1950], Wuppertal 1999, 200. 218   Vgl. SWS VI, 212–223.258–268.288–303. 219   Vgl. zur synoptischen Interpretation von Herders Bückeburger Exegese und Historiographie Peter Pfaff: Hieroglyphische Historie. Zu Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Euphorion 77 (1983), Heidelberg 1984, 407–418; Klaas Huizing: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992, 116–122.158–171. 220   Vgl. gegen die Ästhetisierung von Herders Exegese Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999, 5 passim; vgl. zur Synthetisierbarkeit von ästhetischer und theologischer Sicht Buntfuß: Erscheinungsform, 57 passim. 221   SWS V, 581. 222  Vgl. Pfaff: Hieroglyphische Historie, 407–410; Claudia Leuser: Theologie und An-

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Verfallsschemata der Historiographie selbst leisten und legitimieren. Die über den Text gestreute, im dritten Abschnitt gesammelte Apostrophe der göttlichen Vorsehung und Schöpfung dient dafür als Legitimationsbasis. In der sachlichen Vermittlungsarbeit stellen die Nationalkulturen als Träger von Sinnevidenz das wichtigste Objekt dar. Deshalb ist die Rede von Nationen in der Geschichtsschrift weder als rein historiographische Funktion noch als rein physiognomisch-ästhetische Erscheinung zu beurteilen. Die Nationen sind von Providenz und Schöpfung her verstanden, die theologischen Bestimmungen sind aber auch an den Zweck des Texts, die „Bildung der Menschheit“, zurückgebunden. Diese Wechselseitigkeit ist entscheidend für die Inanspruchnahme des Reformatorischen in der Geschichtsschrift: Sie macht Herder qua Geschichtstheologie der Nationen zum ‚praeceptor Germaniae‘. e)  Theologische Metarhetorik der Nationengeschichte Die Intepretation der Geschichtsschrift von Schöpfung und Providenz her stößt auf gewisse Uneindeutigkeiten in der Hierarchisierung der Bildungsbedingungen von nationalen Kulturen.223 Wenn Herder jedoch gelegentlich solche Bedingungen als gleichrangige kulturgeschichtliche Erklärungsmöglichkeiten zur Disposition stellt, hat dies seinen Grund in der weitgespannten Absicht, einen Sprachumgang zu schaffen, der konfessionelle Semantik in die Historiographie einbezieht, ohne die Ansprüche einer aufgeklärten Profangeschichtsschreibung zu vernachlässigen.224 Diese Aufgabe ist nur als ‚work in progress‘ zu fassen. Man erkennt die doppelte Aufgabe dieses historiographischen Ansatzes sogleich aus Herders Beschreibung der Antike. Der Boden für die Einführung des Gottesgedankens in die Geschichtsdarstellung wird durch deren Einsatz bei den orientalischen Patriarchen bereitet, wie man sie aus der hebräischen Bibel kennt. Die Patriarchen stehen für eine dem Geist von Herders Zeitgenossen verschlossene Weise225 der lakonischen, aber gründlichen Menschenbildung durch Kernsätze und eigenes Beispiel. Mit dieser zugleich eine Geschichtsperiode der Menschheit ausmachenden Bildungsstufe ist der Glaube an einen gebietenden Gott untrennbar verbunden. Aus dem unmittelbaren Gotteszugang des Patriarchen erklärt Herder die Quelle von dessen Bildungskraft. Die Typisierung der Patriarchenzeit erfolgt deshalb als „erwählter Garten Gottes“226 mit deutlicher thropologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts bei Johann Gottfried Herder, Frankfurt/Main 1996, 144–154. 223   SWS V, 506: „Gott, Klima, Zeit und Stuffe des Weltalters“. 224  So Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001, 122; bündig Pfaff: Hieroglyphische Historie, 417: „Herders theologische Neutralität war exoterischer Schein.“ 225   SWS V, 482 f. 226   SWS V, 480. Vgl. zur Genesisauslegung ‚Älteste Urkunde des Menschengeschlechts‘ Gerhard vom Hofe: Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur

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Anspielung auf den vermittlungsfreien Gottesumgang der biblischen Paradies­ erzählung. Die Erzählung aus dem Geist der Schöpfungsgeschichte enthält insofern auch einen historiographisch nutzbaren Sündenfall, als Herder auf die Patriarchenwelt eine Entzweiung folgen lässt.227 Mit dieser hamartiologisch bedingten Unterscheidungskultur beginnt eine zivilisationsgeschichtliche Gesamtbilanz, da alle maßgebenden Kulturen unersetzlich, aber nicht von Dauer sind. Herder chiffriert die postpatriarchische Entzweiung mit dem Erscheinen von Ägypten und Phönizien. Ägyptische Erd- und phönizische Meeresbezogenheit setzen sich als Lebensformen von der idyllischen Patriarchenoase ab, überhaupt entstehen nun aus umweltbedingten Unterschieden nationale Kulturen. Insbesondere Ägypten steht für Nationalisierung, die durch Landverteilung, Rechtskasuistik, Urbanisierung und Abschottung gegen Fremde gekennzeichnet ist. Herder bringt darin zwar Kritik am Patriotismus unter, verteidigt die ägyptische Kulturform jedoch auch gegen Positionen, die ihr im Rückblick abverlangen, was sie zu geben nach Zeit, Umständen und Art nicht in der Lage war. Auch der phönizische Gegenpol wird durch ein spezielles Verhältnis zum Nationalen gekennzeichnet. Das Seefahrervolk steht mit seiner Ausbreitung durch aristokratische Stadtrepubliken für Internationalisierung: „[.  .  .] ob der Phönicier gleich nicht aus Menschenliebe Nationen besuchte, es ward eine Art von Völkerliebe, Völkerbekanntschaft, Völkerrecht sichtbar [.  .  .]“.228 Indem Herder nationale Eigenart überhaupt erst nach der Anfangsposition der Zivilisationsgeschichte entspringen lässt, qualifiziert er sie als sekundär. Mit der Zuschreibung von Patriotismus an Ägypten und von Kosmopolitismus an Phönizien werden die universalgeschichtlichen Folgegestalten zu Repräsentanten möglicher Formen des nationalen Selbstumgangs, als solche sind sie primär durch Abschließung und Öffnung gekennzeichnet. Auch die griechische und die römische Antike stehen für eine solche Form. Die Griechen rekombinieren mit einem Genie der Anverwandlung die Kulturen, von denen sie sich unterscheiden, indem sie den ägyptischen Patriotismus republikanisieren und den offenen phönizischen Weltumgang artifizialisieren. Nach dem ‚hieroglyphischen‘ Sinn der Geschichtsschrift nehmen die Griechen deshalb eine neue Mittelposition ein: Sie vereinigen das nach der Patriarchenzeit Entzweite glücklich wieder.

Grundlegung einer theologischen Ästhetik, in: Ders. et. al. (Hg.): Was aber (bleibet) stiften die Dichter, München 1986, 65–87. 227   Bultmann: Urgeschichte, weist auf diesen Umstand nicht hin. Dem Urteil, Herder schreibe von der Genesisauslegung „ausgehend [.  .  .] nichts, was sich unter einen Titel ‚loci theologici‘ ordnen ließe“, entgehen die Topoi der Geschichtsschrift, die dann zwangsläufig als „Geschichtsphilosophie“ aufgefasst wird. Vgl. Bultmann: Urgeschichte, 13. 228   SWS V, 493.

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Die römische Form der Weltaneignung durch Eroberung hat weniger als solche, sondern aufgrund der mit ihr einhergehenden institutionellen Verstetigung zur politischen Nation zivilisationsgeschichtliche Bedeutung. Roms Patriotismus entspricht auf einer höheren Systemstelle des Geschichtsmodells dem ägyptischen.229 Insbesondere in Bezug auf Roms Fall erhält das Nationale zum ersten Mal die Funktion einer zwischen der Zivilisationsgeschichte und den Individuen vermittelnden und darin unersetzbaren Referenzgröße: Die römische Nation ist nach Innen politisch differenziert, sie gibt dieses Gepräge an die eroberten Völker weiter.230 Als die „Patriarchen des Nordens“ sich das geschwächte Rom aneignen, werden sie von der besiegten Kultur zweifach überwunden: Sie greifen deren Selbstverständnis als politische Nation auf und verbinden dieses Selbstverständnis mit der christlichen Religion der universalen Liebe, die in vermittelter Form nicht nur zwischen Individuen oder kleinen Gruppen, sondern eben auch zwischen den erobernden Völkern stattfinden soll. „Zwischen den nackten Bergen Judäas!“231 hat sich das Christentum vom Judentum gelöst und wird nun als religiöse Organisationsform und Symbolsprache selbst zum Instrument der Vorsehung.232 Mit der geschickten Erhebung des Christentums vom Subjekt einer Providenzverkündigung zum Objekt der Providenz etabliert Herder das Christentum als treibende Kraft einer nichtevolutiven Dissemination: Durch Roms kulturelles Erbe fördert es die Bildung von Nationen durchs Mittelalter hin und bewahrt sie zugleich vor Depravation. Das ist möglich, weil der Geist der christlichen Liebesreligion nicht „enge national“ ist, sondern als vielfach inkulturierbarer „menschenliebender Deismus“ in die partikularen Einheiten der Feudalordnung eindringen und das Leben im Kleinen veredeln kann.233 Doch stellt das Christentum durch die Institution des Papsttum und durch Hinweis auf die stets größeren Absichten Gottes die Bildung neuer Nationen auf den Trümmern Roms auch unter ethische Maßstäbe. Christliche Völker stehen unter dem Anspruch, „Brüdernationen“ zu sein.234 Schon mit dem Gang bis zum Mittelalter überholt die Geschichtsschrift andere Geschichtskonstruktionen: Mithilfe der Deutung des Christentums als 229   Vgl. „Politische Regeln der Sicherheit“ SWS V, 488, verbunden mit ägyptischem „Vaterlandsgefühl“ SWS V, 494, werden durch Rom einerseits verzweigt und verstetigt, andererseits imperialisiert, SWS V, 501. Vgl. auch den Begriff der römischen „Weltverfaßung“ SWS V, 513, und weiter SWS V, 556, die knappe metonymische Kennzeichnung des römischen Kulturerbes als „Römerpatriotism“. 230  Vgl. Wilfried Malsch: Nationen und kulturelle Vielfalt in Herders Geschichtsphilosophie, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 121–129, hier 121.126 f. 231   SWS V, 517. 232   SWS V, 522. 233   SWS V, 520 u. ö. 234   3 SWS V, 529. Vgl. auch SWS V, 519.

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ 133

Instrument und Kriterium jedes ‚nation building‘ weitet sich der Schauplatz für die Sinnbestimmung nationalen Lebens von Mösers Lokalgeschichte zur Weltgeschichte. Daneben wird die Nationalcharakterdebatte als ahistorisches Vehikel patriotischer Selbstinzenierung abgesetzt. Vor allem aber rückt Herder von den Extremen einer optimistischen Fortschrittsgeschichte und einer pessimistischen Verfallsgeschichte ab. Er stützt seinen Widerspruch gegen aufklärerische Fortschrittsmodelle, sofern diese eine meist national geprägte Gegenwart als nie zuvor erreichte Kulturhöhe feiern, und gegen die Gegenpositionen, die in der Geschichte nur bittere Beispiele für eine Moralistik oder, wie bei Rousseau, für eine moralische Praxis, finden, auf das Konzept nationaler Kulturen mit uni­ versalgeschichtlichen Sinnevidenzen sowie auf die politisch-religiöse Sondertradition einer christlichen Beerbung der Antike nach dem Untergang Roms. f)  Die „Epopee Gottes“ und ihr Rhapsode Herders pluralistische Beschreibung der verzweigt-gegenläufigen Leistungen antiker Kulturen und ihrer integrierenden Überwindung im Christentum mündet folgerichtig nicht in eine Geschichte einzelner nachchristlicher Nationen, sondern in eine Bestimmung des nationalen Elements innerhalb der christlichen Zivilisationsgeschichte. Der an der Antike legitimierte Pluralismus nationaler Kulturen bedarf keiner Bestimmung einzelner nationaler Identitäten. Er bedarf nurmehr einer theologischen Neuzeitdeutung, um beim Anschauungsunterricht der Menschheit durch den „Gang Gottes über die Nationen!“235 zu enden. Die optimistische Verbindung eines Bildungsmodells und einer theologischen Neuzeitdeutung ist während der Lektüre der Geschichtsschrift nicht unbedingt zu erwarten.236 So steht auch Luthers Erwähnung unter dem Vorzeichen einer Relativierung. Herder bezweifelt das Gewicht des planenden Verstandes in der „allgemeinen Weltveränderung“.237 Bewusst stellt er diese als kontingente Reihe dar. Im Großen wirke der menschliche Verstand an ihr nur in Entsprechung zu vorgängigen Herausforderungen durch Lebensumstände, meist ohne Wissen um die sich daraus ergebenden Handlungsfolgen. Im Kleinen ändern dagegen mechanische Variationen von Bekanntem den Lauf der Dinge, auch sie als Anfang von unübersehbaren Folgen. In dieser aufklärungskritischen Relativierung kommt Luther zum Zuge. Er fungiert als das rhetorische Exemplum für den Analogieschluss, es verhalte sich

  SWS V, 565.   Deshalb wird sie auch oft überlesen. Vgl. dagegen Gerhard vom Hofe: Die Geschichte als ‚Epopee Gottes‘. Zu Herders ästhetischer Geschichtstheorie, in: Brigitte Poschmann (Hg.): Bückeburger Gespräche 1983, Rinteln 1984, 56–81. 237   SWS V, 530. 235

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bei den „Welterleuchtungen“238 wie bei den zivilisationsunmittelbaren Erfindungen, auch jene würden nämlich im Unscheinbaren anfangen: Was jede Reformation anfing, waren Kleinigkeiten; die nie so gleich den großen ungeheuren Plan hatten, den sie nachher gewannen; so oft es gegentheils vorher der große, würklich überlegte, Menschliche Plan gewesen war: so oft mißlang er.“

Von Luther, dem nachherigen Index einer Welt von Reformationsfolgen, geht unausdenkbar und in ihrem Verlauf mehr erlitten als gewollt eine Reformation aus, die „solche Luthers“ zu anderer Zeit eben nicht zustande bringen konnten.239 Herders Erklärungsmodell vermindert nicht nur die Interventionskraft des Verstandes, sondern scheint entgegen seiner vorherrschenden Absicht die Bedeutung des Individuums für den Geschichtsverlauf überhaupt herunterzusetzen. So scheint es – doch nach der strategischen Verminderung erfolgt eine weitreichende Aufwertung: „Was Luther sagte, hatte man lange gewusst; aber jetzt sagte es Luther!“240 Die Relativierung des Verstandesgebrauchs mindert nicht den geschichtlich durchsetzungsmächtigen Gebrauch der Einbildungskraft. Sie verortet das Individuum in der Geschichte, und sie verortet es als Agentin der Affekte am Darstellungspunkt von Kraftwirkungen.241 Der Verstand wird in diesem Modell nachgeordnet. Auch ein revolutionärer Verlauf von Reformationen erscheint aus dieser Konstellation heraus unvermeidlich und wird gerechtfertigt; die Begriffe Reformation und Revolution verschatten einander: „Warum ist nicht, ruft der sanfte Philosoph, jede solcher Reformationen! ohne Revolution geschehen?“ 242 Dies vereiteln jedoch die Affekte. Herder gewinnt durch seine topisch inventarisierte vermögenspsychologische Argumentation den Erkenntnisboden zu einer Rehabilitierung des Individuums und einer durch dieses ausgelösten ‚revolutionären Reformation‘. Das Individuum erhält diesen Rang als Eruptionsort schöpferischer Kräfte in der Geschichte. Es bündelt „Kräfte[n] und Neigungen zu einem gewißen Zwecke“, 243 der zur geschichtlichen Sinnevidenz einer Nationalkultur beiträgt. So wird signifikante Individu-

  SWS V, 531. So auch die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung.  Mit Bezug auf solche geschichtshermeneutischen Überlegungen Herders sollte die „national-patriotische[n]“ und „kulturgeschichtliche[n]“ Phase der Lutherrekurse aus der Weimarer in die Bückeburger Zeit vordatiert werden. Vgl. zur Phasenunterteilung Michael Embach: Das Lutherbild Johann Gottfried Herders, Frankfurt/Main u. a. 1987, 257 passim. 240   SWS V, 532. 241   Vgl. die auch hier gültige Unterscheidung zwischen unwandelbarer individueller Erkenntnisstruktur und zugelebter Individuation, wie sie Nicole Welter: Glückseligkeit und Humanität. Die Grundideen der Herderschen Bildungsphilosophie, in: Groß/Sauder (Hg.): Der frühe und der späte Herder, 65–74, hier 67 f., mit Bezug auf Buntfuß: Erscheinungsform, 22, entwickelt. 242   Vgl. SWS V, 532. Vgl. Irmscher: Herder, 115 passim. 243   SWS V, 506. Vgl. abschwächend zur Funktion der Individuen Irmscher: Herder, 118 f. 238 239

3.3  Theologische Metahistorie der Nationen: Herder als ‚praeceptor Germaniae‘ 135

alität zugleich zum Topos im Bildungsprozess der Menschheit und der Leserschaft. Gilt für die kulturellen Einzelerscheinungen, dass sie nach der „Analogie in der Natur,“ dem „redende[n] Vorbild Gottes in allen Werken“ verständlicher werden, 244 so erhellt die Übertragung der Leistungen schöpferischer Individualität auf die größeren Einheiten der Geschichte durch die Annahme eines providentiellen Geschichtssinns. Herder ruft zur Vermittlung der humanen schöpferischen Individualität mit dem universalen Geschichtssinn die Vorsehung nicht nur emphatisch an,245 sondern arbeitet unausdrücklich mit Lehrörtern, die er freilich seinem Zweck anpasst. So erweist sich die ‚conservatio‘ der Schöpfung im analogischen „Gang Gottes in der Natur“, während der ‚concursus‘ in Herders Programm insbesondere die affektiven schöpferischen Interventionen von Individuen versammelt und gegebenenfalls in eine nationalkulturelle Erscheinungsform bündelt. Die solchermaßen individualisierten Nationen können gegenüber den ‚blinden‘ Kräften des Geschichtslaufs zwar ähnlich diminutiv beschrieben werden wie die humanen Individuen, 246 doch wie diese haben sie eine synthetische Funktion für die Herstellung von Geschichtssinn. Sie bilden ein „Großes Geschöpf Gottes! Werk dreier Welttheile, und fast sechs Jahrtausende!“247 Der im Regiment sitzende Gott lässt sich auch an den vielgestaltigen Höhenlinien nationaler Kulturen kennen.248 Herder sucht zwischen den autonom erscheinenden Gesetzmäßigkeiten des Weltgeschehens mit ihren individuellen Bildungen und dem Gedanken der göttlichen Vorsehung schonend zu vermitteln. Die zu vermeidenden Extreme sind zwischen einer rationalistischen Bezugnahme auf den Allmachtsgott und einer traditionellen Sichtweise des in bestimmten Ereignissen divinierbaren ‚Fingers Gottes‘ ausgespannt. So formuliert Abbt: „Ich folge den Gesetzen der Vollkommenheit, die das Ganze, wenn es nötig ist, durch den Verlust eines Teils erhalten. So geht der Allmächtige auf dem Sturmwinde einher, reinigt die Luft von verderblichen Dünsten und erhält die Einwohner einer ganzen Pro  SWS V, 512.   Vgl. zur hermeneutischen Funktion des Vorsehungstopos Michael Möller: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottfried Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung, hg. von Ulrich Kühn, Frankfurt/Main u. a. 1998, 78–84; zur Funktion der theologischen Metatheorie Simon: Historismus und Metaerzählung, hier 86 f. Simon verbindet die protohistoristische mit der hieroglyphischen Lesart und kommt zu dem Schluss, die Funktion der theologischen Metasprache sei, Herders Geschichtserzählung „in das Tun der Kulturkritik“ zurückzuführen. Barnard: Herder on Nationality, 107–116, liest von historiographisch-epistemologischen Fragen her und bleibt skeptisch gegenüber einer metatheoretischen Absicht Herders mit dem Vorsehungstopos. 246   Z. B. SWS V, 539. 247   SWS V, 554. Vgl. auch SWS V, 523. 248   Vgl. dazu Moser, der die Providenz auf die Erhaltung der Reichsverfassung bezieht. Gott züchtigt partikularistische Territorialstaaten, verwendet sie aber auch als Instrument des allgemeinen Besten. Vgl. Moser: Vom Nationalgeist, 76.102 f. 244 245

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

vinz, wenn auch gleich die einsame Hütte auf dem freien Felde darüber einstürzen und ihren armen Bewohner unter ihren Trümmern begraben sollte.“249

Der Topos von der göttlichen Bewahrung wird hier völlig verkehrt. In der biblischen Topik wäre gerade die Hütte auf dem Feld der Gegenstand göttlicher Fürsorge. Überdies meidet Herder aber auch das traditionelle, bei Orthodoxen und Pietisten verbreitete Verständnis, wie Moser es teilt: „[.  .  .] ist es noch zu verwundern, daß bey der selbst von den Heyden verabscheuten Denckungs=Art jener Gottes=Verächter [.  .  .] die allweiseste Regierung Gottes in ihren Wohlthaten sowohl, als Gerichten mißkennet, ja frecher Weise behauptet wird: Daß der Allerhöchste und Liebreichste Vater und Erhalter seiner Geschöpfe sich um einzele [sic] Menschen nicht bekümmere, sondern solche in dem Strudel des Natur=Laufs bald erhoben bald verschlungen werden.“250

In Herders Konzept eines göttlichen Geschichtsplans wird sowohl bewahrt als auch ‚verschlungen‘, wie der ‚Gang Gottes über die Nationen‘ zeigt. Herders geschichtstheologisches ‚nation building‘ hat politischen Doppelsinn: Es relativiert zum einen jede Art aktuellen Patriotismus angesichts einer Geschichte von Patriotismen, die alle ihr begrenztes Recht hatten, da sie sich auf die „Offenbarung Gottes“ bezogen.251 Das kann man von jedem aktuellen Patriotismus nicht einmal behaupten, wenn er sich vielleicht nur auf einen illusionären Nationalcharakter bezieht. Herder zieht mit seiner providentiellen Geschichtsschau aber auch dem Gefühlspatriotismus eine Grenze, da das die Einbildungskraft begleitende Gefühl für die Pluralität nationaler Kulturen überschwänglicher ist als die einmalige Fixierung. Mit dieser Position distanziert sich Herder unausgesprochen von Abbt, aber auch von seiner Ästhetisierung Abbts und damit von seinen früheren patriotischen Positionen. Die andere politische Sinndimension von Herders Hermeneutik des Nationalen besteht in der Ablösung der Nationsthematik von der patriotischen Emphase. Die Loyalität des Individuums soll auf den Bildungsprozess als ganzen, nicht aber auf eine einzelne Stelle darin übertragen werden. Nationen sind zwar irreduzible, aber nicht oberste Einheiten im Gang der Geschichte. Die oberste Einheit im Gang der Geschichte ist göttliche Stiftung, kein Objekt sicherer Wissenschaft, 252 doch „ein größerer Plan Gottes im Ganzen [.  .  .], den eben ein einzelnes Geschöpf nicht übersiehet.“253 Die Bildung durch das ‚nation building‘ hält sich an das relativ Feste in diesem Plan, auch wenn „Jahrhunderte nur Sylben, Nationen nur Buchstaben“254 im ‚Buch der Geschichte‘ sind.255   Abbt: Vom Tode, 124.   Moser: Beherzigungen, 82 f. 251   SWS V, 565. 252   SWS V, 554. 253   SWS V, 558. 254   SWS V, 584. 255  Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 21989, 178. 249

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3.4  Luther werden, nicht Luther zitieren? Arndt als ‚propheta Germaniae‘

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Die Lektüre dieses ‚Buchs‘ oder: das Reskript der „Epopee Gottes“256 durch Herder zielt auf die Bildung anderer Individuen nach dem Maß der Dissemination von Sinn in der Universalgeschichte. In der Gegenbewegung soll durch die Differenzen zwischen nationalen Kulturen Menschheit gebildet werden, gebildet wie immer im Doppelsinn, als überintentionaler Vorgang und als individuelle Anverwandlung.257 Die Stellvertretungsfunktion des Individuums im universalen Bildungsprozess der Menschheit erscheint umso gewaltiger, als das ‚nation building‘ zu diesem Prozess gehört. Luther repräsentiert als rhetorisches Exemplum die Bedeutung des leidenschaftlich-schöpferischen Individuums überhaupt, aber auch für den Ort der Nation in der Menschheitsbildung. Luthers Nation wird nicht vergleichbar eindeutig bestimmt. Dieser Mangel ist allerdings eine Stärke, sofern es für ein ausgewogenes nationales Selbstverhältnis auf die innere Freiheit ankommt, die eigene Kultur relativieren zu können und den politischen Sinn der Nationsbildung aus der Gemeinschaftlichkeit aller Völker zu empfangen. Bestimmtheit und Bestimmung der eigenen Nation müssen unter diesen Umständen offen bleiben. Der fromme Wunsch, die Geschichte als „Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmern einzelner Szenen,“258 sehen zu können, enthält auch die an sein „populares literarisches Publikum“259 gerichtete Warnung des zivilisationstheoretisch geläuterten Praeceptors der Geschichte vor exklusivistischem Patriotismus.

3.4  Luther werden, nicht Luther zitieren? Arndt als ‚propheta Germaniae‘ Die Konstruktionen kultureller deutscher Überlegenheit um 1800 erscheinen angesichts der politischen Lage sei es Preußens, sei es im Reich kompensatorischer als mancher frühere Patriotismus. Ernst Moritz Arndt hat in einzelnen Texten nationale Schwächen durch allzu starke Worte kompensiert, doch er behandelt die Nationsbildung im ganzen sehr bewusst und nach all ihren Facetten als Forderung des Tages.260 Bei aller angebrachten Skepsis gegen Arndt darf man   SWS V, 559.  Vgl. Irmscher: Herder, 112, zum Doppelsinn der Wendung „zur Bildung der Menschheit“ als Bildungsprozess am Leser und als überintentional-historische Kristallisation. 258   SWS V, 513. Vgl. dazu Walter Benjamins „Engel der Geschichte“: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft [.  .  .].“ Benjamins Umschreibung des Fortschrittsgedankens könnte an Herder geschult sein. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften I, Teilband 2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 31990, 691–701, hier 697 f. 259   SWS XVII, 87. 260   Vgl. instruktiv zu Arndt im Kontext und zur kulturtheoretischen Untermauerung seiner politischen Ziele Otte: Arndt und ein Europa der Feinde?. 256 257

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diese Dimension seines Werks nicht vernachlässigen, wirkt der aufgrund seines journalistischen Hangs vielgelesene Arndt doch auch im Sinn einer politischen Nationalisierung der Massen.261 Seine Luthernachahmung ist Teil dieser publizistischen Selbstverortung im ‚nation building‘.262 Die hier verfolgte These lautet, Arndt imaginiere sich als ‚propheta Germaniae‘, um unter der Hand modernes ‚nation building‘ zu betreiben. Der normative Bezug auf Luthers Bibeldeutsch verbindet Arndt mit Klopstock, das er anders als dieser unvermittelt nachahmt. Von Herders zeitweiliger Selbstimagination als Reformator trennt Arndt die institutionelle Konkretion, während er sich ausdrücklich auf Herders Geschichtssicht bezieht, wonach sich göttliche Offenbarung auch in der Geschichte der Kulturen vollziehe. Arndts Lutherstudium erfolgt seit 1809 im Zuge des handschriftlichen Abschlusses des zweiten Bandes von ‚Geist der Zeit‘ und im Kontakt zu den Berliner Patrioten.263 Schleiermachers patriotische Predigt und Kleists Militärka­ techismus geben dem ehemaligen Theologen Arndt Impulse für lyrische Nachahmungen des Bibeldeutsch, die konfessionelle Semantik zeitgeschichtlich zuspitzen.264 Die Frage nach dem strategischen Sinn dieser Mimesis steht von vornherein im Raum; eine naiv-fromme Identifikation ist angesichts von Arndts theoretischen Überlegungen zur Priorität der Sprachnation vor der territorialen Nation, 265 aber auch angesichts des engen Zeitrahmens seiner Mimesis zwischen den Krisen Österreichs und Preußens (1805 und 1807) und dem siegreich beendeten Befreiungskrieg auszuschließen.266

261  Vgl. die für die Rezeptionsgeschichte des Nationalismus nach wie vor bedeutsame Studie von George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/Main 1993. 262   Vgl. zum Diskurs über die Nationalsprachen Jürgen Schiewe: Ernst Moritz Arndt und die deutsche Sprache, in: Walter Erhart/Arne Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, Tübingen 2007, 113–120. 263   Vgl. vorzüglich Gerhard Graf: Zur Nachahmung des Lutherdeutsch bei Ernst Moritz Arndt, in: Herbergen der Christenheit 1981/1982, Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte, in Verbindung mit H. von Hintzenstern et al. hg. von K. Blaschke, Berlin 1982, 119–131. 264   Vgl. zur Werkbiographie nach wie vor Günther Ott: Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten, Bonn 1966, hier 171–175. – Arndt stellt sich in konfessioneller Hinsicht als ‚matrilinear‘ geprägt dar, die Sprache seiner Mutter habe von Bibel und Gesangbuch gezehrt. Vgl. Erinnerungen 1769–1815, hg. von Rolf Weber, Berlin 1985, 47. 265   Vgl. zum Wechsel dieser Prioritäten Otte: Arndt und ein Europa der Feinde?, 114–125. 266  Anders Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Person und Sprache bei Martin Luther und Ernst Moritz Arndt, in: Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft 28 (1956), 17–27, hier 18. Kantzenbach geht von einer ‚Wesensverwandtschaft‘ aus. Eine solche Unterstellung ist Produkt der Rezeptionsgeschichte, die Arndt erreichen wollte. Vgl. Graf: Nachahmung, 125 ff., wonach Arndt selbst das Lutherbild im 19. Jahrhundert verändert habe.

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Um den französischen Russlandfeldzug folgt eine eskalierende Reihe von Texten, die in rhetorisch kalkulierter Weise Lutherdeutsch einsetzen. In diesen Texten ist gegenüber anderen Konzepten, die Luther ebenfalls als national einigendes ‚Sprachereignis‘ affirmieren, der Nachahmungsgrad des Bibeldeutsch auffällig hoch. Ein Novum stellt hier die Imitation von Luthers eigener Sprache dar. Im Folgenden geht es darum, das literarische Phänomen der Luthermimesis mit Arndts prophetischem Selbstentwurf abzugleichen und die Gründe für diese mimetische Anstrengung zu verstehen. a)  Luthers Bibeldeutsch in der konfessionalisierenden Imitation Die folgende Durchsicht beginnt mit einem Text, der Luthers Bibelsprache nachahmt.267 Der ‚Katechismus für den teutschen Kriegs= und Wehrmann, worin gelehret wird, wie ein christlicher Wehrmann sein und mit Gott in den Streit gehen soll‘ (anonym) von 1813268 unternimmt eine christliche Unterweisung derer, die zum nationalen Befreiungskampf aufgerufen werden. Er ist im strengen Sinn gerade kein ‚Soldaten‘-Katechismus, da er das kommerzielle Söldnerwesen des 17. und 18. Jahrhunderts scharf kritisiert. Ihm steht als neuer Militärtypus der sich zum nationalen Befreiungskampf verpflichtende Bürger gegenüber. Zugleich wird diesem neuen Typus ein frommer Horizont für die Erfüllung seiner Bürgerpflicht geboten.269 Einige Auffälligkeiten des Textes werden durch einen Vergleich mit dem 1812 entworfenen, passagenweise übernommenen ‚Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten‘270 deutlicher. Theologisch signifikant ist schon der Paratext: Nur der ‚Katechismus Wehrmann‘ hat ein biblisches Motto – ein Prophetenzitat aus Joel 2, 21: „Fürchte dich nicht, liebes Land, sondern sei fröhlich und getrost, denn der Herr kann auch große Dinge tun.“ Dem Text wird eine biblisch-prophetische Semantik zugewiesen, deren konsolatorischer Anredecharakter auf eine nationale Selbstbesinnung ‚coram Deo‘ zielt. Diese Redefigur impliziert nicht notwendig Militarismus, der weitere Text bezeugt allerdings im Wissen um die volle französische Niederlage in Rußland göttliches Geschichtshandeln und stellt dieses auch für die Zukunft in Aussicht. Damit steht Arndts prophetischer Selbstentwurf auf dem Plan. 267  Die Luthermimesis der unveröffentlicht gebliebenen ‚Fantasien für ein künftiges Teutschland‘ wird hier wegen teilweiser Überschneidung mit ‚Geist der Zeit‘ ausgespart. Die zweifache Bezugnahme auf Militärkatechismen führt hingegen wegen der je verschiedenen Perspektive zu sachdienlichen Redundanzen. 268   Im Folgenden zitiert als ‚Katechismus Wehrmann‘. Zit. n. Arndts Werke, Auswahl in zwölf Teilen, hg. von August Leffson und Wilhelm Steffens, Zehnter Teil, Kleine Schriften I, hg. von Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig u. a. [1912]. 269  Insofern nimmt Arndt Abbts Gefühlspatriotismus ohne die preußische Beschränkung auf. 270   Im Folgenden zitiert als ‚Kurzer Katechismus‘.

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Der weitere Vergleich der Paratexte fördert das gleiche Ergebnis zutage. Die knappe ‚Einleitung‘ in ‚Kurzer Katechismus‘ bezieht sich allgemein auf Gottes Providenz im Weltlauf und spricht ebenso allgemein vom eschatologischen Ausgleich für Tugend und Laster. Der Schluss mündet in eine Segensbitte um publizistische Wirksamkeit.271 Die beträchtlich längere ‚Vorrede‘ zum ‚Katechismus Wehrmann‘ bezieht ihren gegenüber ‚Kurzer Katechismus‘ gesteigerten Anspruch auf Zeitdeutung vom Motto her, dessen Heilsverheißung sie mit der Befreiung von napoleonischer Herrschaft und einem Bild der künftigen nationalen Lebendigkeit konkretisiert: „Und ist Gottes Wille, dass alle Lande und Völker Teutschlands aufstehen, des gerechten Zorns gedenken und auf die Franzosen und ihren Tyrannen schlagen und Ehre und Freiheit wiedergewinnen, welche sie von ihren Vätern geerbt [.  .  .]“.272

Arndt behauptet die Kenntnis des Willens Gottes für die deutsche Nation und autorisiert sich durch nachempfundenes Lutherdeutsch: mit der Vorziehung des Hilfsverbs, einem Polysyndeton und der Semantik des Zorns. Diese Stilisierung darf nicht über die deutliche Auszeichnung des Freiheitsbegriffs hinwegtäuschen, der als Zweck nationaler Einheit erscheint. Ob dieser Freiheitsbegriff seinerseits lutherisch verstanden ist, erfährt man nicht. Das Bild der nationalen Zukunft ist einem biblischen Geschichtsschema abgewonnen. Arndt konstruiert die göttliche Willensbildung und die deutsche Nationsbildung im Geist des Deuteronomiums.273 Er spricht mit den traditionell als prophetisch geltenden Abschiedsworten Mose von der fernen und nächsten deutschen Vergangenheit, vom nationalen Gewicht des geschichtlichen Augenblicks und von einer integrierten Nation. Das Schema betont die ferne, großartige Vergangenheit, indem es Christi Geburt und den germanischen Befreiungskampf gegen Rom parallelisiert. Beide Ereignisse unterstehen dem Leitbegriff der Befreiung. Die Gleichzeitigkeit bewährt sich nach Arndt in der erfolgreichen Christianisierung und Imperialisierung der Germanen. Erst in der jüngeren Vergangenheit zerfällt die Nation mit sich selbst, wird durch französischen Druck uneinig und unfrei, sodass sie Bonapartes Zugriff erliegen kann. Das „alte[s], heilige[s] Reich“ verschwindet und „die letzten freien Völker Teutschlands“ werden im Rheinbund zu napoleonischen Funktionären: „und hat Teutschland in acht Jahren ärgere Greueltaten gesehen als vorher nicht in Jahrhunderten“.274 Das biblische Formular für Israels Abfall von Gott durch   AW 10, 116.   AW 10, 136. – Vgl. dazu das dritte Kapitel ‚Was müssen die Deutschen jetzt tun?‘ des dritten Teils von ‚Geist der Zeit‘ AW 8,178: „Gott hat Freiheit gewollt und geboten, Tyrannei und Sklaverei ist nicht von Gott [.  .  .].“ 273  Vgl. Graf: Nachahmung, 123, zur Unterscheidung zwischen deuteronomischen und prophetischen Sprachformen. 274   AW 10, 134 f. 271

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(kultische) ‚Greuel‘ wird mit Deutschlands institutionellem und ethischem Niedergang gefüllt. In der Deuteronomisierung der Nationalgeschichte führt Arndt an, die Deutschen seien „im Lande ihrer Väter“ geblieben und das französische Nachbarvolk habe „vor unsern Vätern“ gezittert. Das deuteronomische Erinnerungsschema erlaubt die vorchristlichen germanischen „Väter“ in den biblischen Bezugsrahmen einzufügen und den Vorfahren eine defensiv-konservative Haltung zu vindizieren. Außerdem verschleiert die etwas vage Rede von den „Vätern“ einen Widerspruch: Reformation und Konfessionalisierung werden aus dem Geschichtsschema eximiert, um den Anteil der deutschen Eigenverantwortung am Zerfall der Nation zu verringern.275 Nur so ist der deutsche Partikularismus als Hindernis des ‚nation building‘ mithilfe von Luthers prophetischem Bibeldeutsch kritisierbar. Die Deuteronomisierung der Deutschen in der ‚Vorrede‘ endet mit einem gewaltigen Schlusstopos. Mit dem an den Stamm Josef gerichteten Mosesegen Dt 33, 13–16a spricht Arndt dem Adressaten seines Katechismus zu: „Dein Land liegt im Segen des Herrn“. Auch wenn der Name Josef nicht fällt, drückt die gewählte Bibelstelle eine außergewöhnliche Auszeichnung aus. Mit Dt 6, 6–9 geht es hingegen nicht um die Physiologie des Landes, sondern um Konstitutionsbedingungen der Nation. Der deutschen Nation wird mit den Worten, die unmittelbar auf das ‚Schma Israel‘ folgen, eine Erinnerungspolitik implementiert, die aus dem gegenwärtigen Schaden heraushilft und eine künftige Schwächung der Nation vermeidet: Die „heute“ gebotenen Worte sollen „zu Herzen“ genommen, also verinnerlicht werden und künftigen Generationen zur institutionellen Verstetigung der Nation dienen. Die Verknüpfung von gegenwärtiger Lage und Zukunftshoffnung hat im militärkatechetischen Kontext den zusätzlichen Sinn, die Zeit der Nation antizipatorisch zu dehnen, um der potentiell verkürzten Lebenszeit der Adressaten Sinn zu geben. Die Zitation der deuteronomischen Erinnerungskultur ist für Arndt aber nur eine von zwei Bezugsgrößen. Die andere Größe ist nicht ausdrücklich applizierbar, da es sich im heilsgeschichtlichen Konzept um die Landnahme handelt, bei der deutschen Nation dagegen um die Wiedererlangung von Einigkeit und Freiheit. Deshalb wird mit Reminiszenzen an Dt 6, 10 ein neuer Text hergestellt, der als Finalbezug der Erinnerungskultur angibt, „daß du und deine Kinder lange leben in dem Lande, das der Herr deinen Vätern geschworen hat, ihnen zu erhalten, solange die Tage vom Himmel auf Erden währen.“ Arndts prophetischer Selbstentwurf schlägt durch das autorisierende Lutherdeutsch und macht aus dem komplexen deuteronomischen Bedingungsgeflecht nationaler Existenz 275   Vgl. anders ‚Geist der Zeit‘ AW 7, 73 u. ö. Zitiert nach Arndts Werke, Auswahl in zwölf Teilen, hg. von August Leffson und Wilhelm Steffens, Sechster bis Neunter Teil, Geist der Zeit I-IV, hg. von Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig u. a. [1912].

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eine Erhaltungszusage. Die Mimesis des ‚Katechismus Wehrmann‘ zielt auf die Eröffnung eines Diskurses zur inneren Einheit und Freiheit, der das äußerliche ‚nation building‘ ergänzt. Schon deshalb ist der Vermutung zu widersprechen, Arndts Mimesis diene hauptsächlich einer entpolitisierenden Retusche emanzipatorischer Konzepte von 1812.276 Die zeitgeschichtlichen Veränderungen stützen zwar die Annahme, die Behauptung einer Schuld der Territorialfürsten an der nationalen Schwachheit habe so nicht stehen bleiben können, war doch der Aufruf zur Gehorsamsverweigerung gegen napoleonisch gesinnte Fürsten 1813 überholt und für Preußen nicht mehr gültig. Doch die Tilgung eines einzigen politisch unliebsam gewordenen Arguments würde nicht eine so aufwändige, literarisch anspruchsvolle Überarbeitung erforderlich machen. Tatsächlich verschwinden Arndts Anklagen im ‚Katechismus Wehrmann‘ nicht, sie werden stilistisch modifiziert. Der Katechismus von 1813 ist daher als ein Neuansatz zu deuten, der Arndts nationale Prophetie intensiviert. Es geht darum, ein Volk mit einer Sprache unter einem Gott zu versammeln 277 – es geht also um ein Programm konfessioneller ‚reeducation‘ der eigenen Landsleute. b)  Politische Theologie und homo militans Die Verdopplung der Rede von nationaler Einheit und Freiheit unter Aspekten der Externalität und Internalität bildet den Anknüpfungspunkt für das Christentum. In welch hohem Maß Arndt die Innenseite der Nation gestalten will, zeigt schon ein Vergleich des Aufbaus beider Katechismen. In ‚Kurzer Katechismus‘ umfasst die Verständigung über die Funktionen eines nationalen Soldaten die ersten sieben Kapitel, im ‚Katechismus Wehrmann‘ schmilzt diese Diskussion, sofern ausdrücklich geführt, auf das 11. Kapitel ein. Im Text von 1812 umfasst der Tugendkatalog für den neuen deutschen Soldaten sechs Kapitel. Der Text von 1813 sprengt diesen Rahmen mit einer theologischen Anthropologie des Krieges, die in zeitgeschichtliche und geschichtstheologische Bezugnahmen übergeht; außerdem wird die biblische und theologische Dimension im Tugendkatalog 1813 trotz wörtlicher Übernahme einzelner Textpassagen deutlicher ausgeführt. Mit diesen Veränderungen forciert der ‚Katechismus Wehrmann‘ eine christliche Deutung des Befreiungskrieges und bereitet einen affektiven Binnenraum für die Nation. Für den Lutherrekurs ist die Sprengung des Rahmens von 1812 durch eine theologische Anthropologie des Krieges besonders interessant.278 Diese theologische Denkfigur beginnt im ersten Kapitel, ‚Von dem Bösen und vom Übel‘,  Anders Graf: Nachahmung, 124.   Vgl. negativ zu genau diesen drei Kriterien AW 10, 144. 278   Ott: Arndt, 216 ff., schließt äußerst rasch mit den Militärkatechismen ab und übersieht deshalb die theologischere Sprache des ‚Katechismus Wehrmann‘. 276

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mit dem Abweis der Theodizeefrage, der mit der Vollmachtsformel „Ich aber sage euch also“ der sündhafte Verlust der Gottebenbildlichkeit und das selbst verschuldete Unvermögen der „geschaffenen Dinge“ zur Vollkommenheit entgegenstellt werden.279 Das nächste Kapitel handelt ‚Von Zwietracht und Krieg‘, die aus der Unvollkommenheit folgen, denen jedoch „die Sehnsucht nach Frieden“ als ein verbliebenes „Zeichen“ des „himmlischen Ebenbildes“ entgegenwirkt.280 Das ‚Begehren‘ von Krieg und Frieden verteilt Arndt eschatologisch auf die Welt und den Einzelnen, sofern dieser keinen Krieg will. Zu diesem Geschehen gehören aber in folgerichtiger Anwendung von Sündenverständnis und Eschatologisierung auch Einzelne, die durchaus „nach unschuldigem Blute“ dürsten. So werden auch die Friedliebenden ins Kriegsgeschehen hineingezogen, ein augustinisches Modell. Dieses Gesamtbild wird ersichtlich aus „Geschichte und Offenbarung“ Gottes, aber auch aus „Erfahrung des Lebens“. Nach seinem spannungsvollen Anfang kommt der Text auf den Anfang der Dinge zurück. Der geschickte Einsatz von Schöpfungstheologie an dieser Textstelle erlaubt Arndt einerseits eine biblische Anthropologie der Kreatürlichkeit als Trost in den Entzweiungen des Weltgeschehens zu formulieren: „Und zuletzt schuf er den Menschen, sein Gleichnis, und blies ihm seinen Atem ein, dass er Göttliches begehrete.“281 Wenn danach an den Abfall von Gott, die Erlösung „durch Jesum Christum“ und das ‚dominium terrae‘ erinnert wird, scheint der Text die Ambivalenz der Lehre vom Menschen christologisch aufzufangen. Andererseits ergänzt Arndt diese Theologumena durch eine Betonung der menschlichen „Herrlichkeit“ – die auch im Titel des Kapitels benannt wird. Zunächst ist die Ergänzung kaum merklich. Dem Menschen, heißt es, „ward das Antlitz zu den Sternen gerichtet und die Sinne, dass sie nach himmlischen Dingen sich sehneten.“ Diese als Reprise der ‚Imago‘-Lehre gedachte Formulierung entfernt sich beträchtlich von Luthers Anthropologie, indem sie das überschwänglich-Geistige menschlicher Existenz zum Zeichen der Gottebenbildlichkeit nimmt und von der menschlichen Lebenswelt abhebt, für deren geschöpfliche Pflege und Bearbeitung dem Menschen nach Luthers ‚Kleinem Katechismus‘ doch „Vernunft und alle Sinne gegeben“ sind.282 Der nächste Satz bringt die Erklärung. „Und darum sollen seine Gedanken stolz sein und sein Herz freudig, dass er das Niedrige verschmähe.“283 Gewiss kann auch Luther auf Christi Zuwendung ‚pochen‘, um einer falschen Demut den Weg ins Herz der Christen  AW 10, 137 f.   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 10, 138. – Den völligen Verlust der Gottebenbildlichkeit anzunehmen, liegt auch anderen Zeitgenossen fern. Arndt stilisiert sich dennoch freimütig als treuen Anhänger lutherischer Orthodoxie. 281   Dieses und das folgende Zitat AW 10, 139. 282  Vgl. Luthers Auslegung des Ersten Artikels des Apostolicum im Kleinen Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 101986, 510. 283   Dieses und das nächste Zitat AW 10, 139. 279

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menschen zu versperren. Doch Arndts ‚Imago‘ nimmt an selbständiger Regsamkeit zu, eine Folge der kreatürlichen Vornehmheit des Menschen. Die nächsten Wendungen bestimmen die Kontrastfigur zur Herrlichkeit des Menschen näher: „Und gefällt der Mann Gott nimmer, der im Staube kriecht oder aus geiziger Furcht redet, was sein Herz nicht denket. Sondern ein edler Zorn ist dem Herrn lieb und ein mutiger Stolz, der sich nicht beugen lässt. Denn der Herr will, daß, den er zum Herrn machte, herrlich sei, und die dienen sollen, das ist ein anderes Geschlecht.“

Mit dieser Deutung der ‚Imago‘ wird eine Rechtfertigung des gerechten Kriegs motiviert. Krieg ist prinzipiell unerwünscht, daran ließ der Autor zuvor zwar keinen Zweifel. Doch wird das Bild Gottes gekränkt, soll es nicht wie die Schlange der Verführung „im Staube“ kriechen, sondern sich buchstäblich behaupten, indem es die Sehnsucht nach einer geistig-geistlichen Welt als Zeichen der Gottähnlichkeit bewahrt und, sofern von einem Despoten im Weltmaßstab herausgefordert, die ethische Konsequenz aus dem legitimen Zorn zieht. Dem durch ungerechten Krieg gekränkten Christen ist demnach Gegenwehr nicht nur erlaubt, sie ist ihm geboten: „wer Tyrannen bekämpft, ist ein heiliger Mann, und wer Übermut steuert, tut Gottes Dienst.“284 Bis in die Syntax hinein wird diese Luthermimesis doppeldeutig: Das Berufsethos des patriotischen Soldaten ist im Ausmaß eines Halbsatzes lutherisch, sofern mit dem ‚Steuern‘ von Übermut mögliche Kriegsgründe aus Luthers Auffassung vom gerechten Notkrieg anklingen.285 Halb jedoch formuliert Arndt ein neues Ethos. Luther hat keine allgemeinen Aufrufe zum Widerstand gegen Tyrannen gebilligt 286 noch konnte er von einem nationalen Heer ausgehen, 287 ein sachlich selbstverständlicher, aber für die ideologische Funktion der Mimesis wichtiger Unterschied. Die Begründung des gerechten Kriegs mit einer eigenwilligen ‚Imago‘-Variation dient konkreten, prophetisch stilisierten Anweisungen. Mit Biblizismen wird eine Völkerwallfahrt zur Bekämpfung Bonapartes konstruiert: „Und ich rufe es aus mit starker Stimme, mit Worten des Grimms, die Feuerflammen sind; ich rufe es aus zu den Völkern über dem Meer und zu denen, die in fernen Landen wohnen: Auf, ihr Völker! Diesen erschlaget, denn er ist verfluchet von mir, diesen vertilget, denn er ist ein Vertilger der Freiheit und des Rechts.“288

  AW 10, 141.   Vgl. ‚Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können‘, in: WA 19, 628, zur obrigkeitlichen Straffunktion, sowie WA 19, 648, zum Krieg unter Gleichen, der zur Notwehr führen kann. – Luther zielt hier wie im Blick auf die Tyrannenthematik freilich auf die Verhältnisse innerhalb des Reichs. 286   WA 19, 633 passim. 287   Genau deshalb kommt Arndts Luthermimesis für die Lutherrezeption inventive Bedeutung zu. 288   AW 10, 143. 284 285

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Auch Eschatologisierung und apokalyptische Feindmarkierung gründen auf der ‚Imago‘-Topik. Der als gerechtes göttliches Gericht über Bonaparte wie auch die verzagten Deutschen hereingebrochene Krieg soll einer Erlösung aus politischer Unfreiheit und Uneinigkeit als läuternde Krise vorhergehen. Der kämpfende Mensch macht demnach Befreiungs- und Solidarisierungserfahrungen, denen eine politische Konstitution der Nation folgen kann.289 In dieser Hoffnung sucht der Text jedenfalls gewiss zu machen. Die theologische Anthropologie des kämpfenden Menschen und prophetisch stilisierte Äußerungen wie der Völkeraufruf scheinen den ‚Katechismus Wehrmann‘ nicht als Instrument des konkreten ‚nation building‘ zu empfehlen. Man darf von diesem Text jedoch keine ausdrücklichen Anleitungen zur Konstruktion der äußeren Nation erwarten. Arndt geht es um eine vom Christentum her verstandene innere Einheit und Freiheit der Nation. Der ‚Katechismus Wehrmann‘ bereitet dieses affektive ‚nation building‘ auf, indem er den christlichen Kriegsmann als künftigen deutschen Bürger imaginiert. Die Katechese soll also nicht nur einer neuen Militärform dienen, sondern auch der künftigen Rückbesinnung der Beteiligten auf ihr Handeln, wäre dies nur erst einmal erfolgreich. Der Bürger soll Soldat und dann mit Gottes Hilfe wieder Bürger werden. Gerade dieser Rückweg in die Bürgerlichkeit sollte sich künftig aber als problematisch erweisen.290 Wie nahe das Modell strukturell der vorimperialen Revolutionsarmee Frankreichs steht, 291 vermag Arndt durch die Luthernachahmung zu verschleiern; insofern hat sie tatsächlich retuschierende Funktion.292 Der Katechismus von 1812 skizziert im fünften Kapitel ‚Von der wahren Soldatenehre‘ einen politisch-ethischen Kodex, demzufolge der Soldat primär als „Bürger seines Vaterlandes“ die nationale Freiheit fördern und gegebenenfalls verteidigen soll. Ohne die politische Zukunft der Nation zu kennen, weiß dieser Bürgersoldat doch: „es war ein teutscher Mensch, ehe er von teutschen Königen und Fürsten wusste; es war ein teutsches Land, ehe Könige und Fürsten waren“.293 Der neue Soldat konstituiert sich politisch, indem er im Zweifelsfall Könige und Fürsten blamiert, die sich als Hörige Napoleons erweisen. Der ‚Katechismus Wehrmann‘ bestätigt diese Position, wenn er im elften Kapitel ‚Von Soldatenehre‘ das Konzept des Söldners als Erfindung in einem ewigen Kampf von Tyrannen gegen „Freiheit und Ge289   Vgl. zur Analogie mit Johann Gottlieb Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘ Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen, Opladen 1995, hier 121–124. 290   Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, 42 passim. Frevert weist auf Arndts Pläne zu einem permanenten paramilitärischen Körpertraining und seinen Implikationen für Geschlechterentwürfe hin. 291   Arndt reflektiert die neue „Art des Krieges“ in ‚Geist der Zeit‘ AW 7, 67 u. ö. – Vgl. zur konzeptionellen Ähnlichkeit Frevert: Kasernierte Nation, 18. 292  Vgl. Graf: Nachahmung, 124. 293   AW 10, 119.

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rechtigkeit“ bloßstellt und andererseits die Berufsehre des Soldatenstandes mit der Bemerkung untergräbt, es gebe „nur eine Ehre und eine Tugend für alle Menschen auf Erden“.294 Die universale Geltung des von Arndt aufgerufenen Bürgersinns wird gegenüber dem Entwurf von 1812 aber durch die gebotsethische Konkretisierung mittels Bibeldeutsch noch betont: „Ein wackerer Soldat soll immer Gott vor Augen haben und Gottes Gebote tief ins Herz geschrieben tragen, dass auch keine Gewalt ihn zwingen könne, wider Gottes Gebote zu tun.“295 Der neue Soldat soll Gott mehr gehorchen als Menschen und gebotswidrige Befehle verweigern. Das schon 1812 mit Bezug auf Apg 5,29 legitimierte politische Ethos eines Bürgersoldaten wird nun eschatologisch zugespitzt: Wer in elementarer Krisenzeit „gegen sein Vaterland streitet“, er „sei [.  .  .] Fürst oder Knecht“, fällt dem göttlichen Verwerfungsurteil anheim. Der ‚Katechismus Wehrmann‘ radikalisiert das Ethos des obrigkeitskritischen Bürgersoldaten durch Christianisierung.296 Arndts im Zuge des affektiven ‚nation building‘ entworfene ‚Imago‘-Anthropologie will gegen das im deutschen Selbstverhältnis bedrückend lebendige Barbarenstereotyp abhärten. Der deutsche Soldat soll sich gegen den Vorwurf der Unzivilisiertheit durch Tugenden bewähren, um sich seines Landes würdig zu erweisen, das Gott „geheiligt [hat] zum Sitze der Freiheit“.297 Diese Freiheit der Nation ist selbst der Inbegriff der vom deutschen Soldaten bewiesenen Tugenden, sie kann überhaupt nur nach deren Maß bestehen. In Unkenntnis dieses erhofften Maßes verzichtet Arndts Prophetie auf institutionelle Außenansichten der deutschen Freiheit – ohne Tugenden wären sie ohnehin eine leere Hülle. Anders steht es um die Einheit, die als „Eintracht“ und Einigkeit im Kampf fühlbar vorweggenommen werden kann. Wenn das Vertrauen auf Gott einmal wirkt, äußert es sich nicht nur als persönliche Kampfbereitschaft, sondern als „Geist des Friedens und der Liebe“, in denen „alle deine deutschen Brüder“ in Trauer um die bisherige Partikularisierung versammelt werden.298 Die Trauerarbeit wird dann nach außen gewendet, um den Feind „mit der Schärfe des Schwerts“ zu „vertilgen“. Frankreich wird um der inneren deutschen Einigkeit willen als Amalek markiert – wenn auch nur, „soweit eure Grenzen stehen“, also (noch) nicht in expansiver Weise. In beiden Fällen steht der affektive Binnenraum der Nation im Vordergrund. Die Einheit wird als militante Einigkeit antizipiert, die Freiheit als Inbegriff von Tugenden erhofft. So oder so wird diese Nation, wie immer sie werden mag,

  So ‚Kurzer Katechismus‘ schon im 1. Kapitel. AW 10, 116.   Dieses und das nächste Zitat AW 10, 150. 296  Vgl. Dörner: Politischer Mythos, 117 ff., zur Verfassungsdebatte unter den Heeresreformern Clausewitz und Gneisenau. 297   AW 10, 144. 298   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 10, 147. 294 295

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von innen her gebildet; sie wird mit dem Ethos kreatürlicher ‚Herrlichkeit‘ gebildet oder gar nicht. c)  Luthers Deutsch in der nationalisierenden Imitation Der nächste Schritt in der Durchsicht mimetischer Verpuppungen führt zu einem sprachlich drastischeren Stadium. Arndt ahmt nicht nur Luthers Bibeldeutsch nach, sondern auch Luthers eigenes Deutsch. Das ‚Lied an die deutsche Legion‘ von 1813 stellt solch einen Fall dar.299 Es ist eine Kontrafaktur zu ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘. Kontrafakturen sind in der politisch-militärischen Gebrauchsliteratur der antinapoleonischen Kriege keine Seltenheit.300 Arndt gebraucht dafür gern, wenn auch nicht ausschließlich christlich-kirchliche Prätexte.301 Die Kontrafaktur überträgt vertraute Semantik und die mit ihr verbundenen Affekte in einen neuen Kontext. Bei Liedtexten oder Kirchenliedern ist solch ein Übertragungsversuch besonders vielversprechend, da die zugehörige Melodie in ihrer Vertrautheit für Affektkonstanz oder -steigerung einsteht. In dieser Funktion steht das ‚Lied an die deutsche Legion‘ auch publikationsgeschichtlich, ist es doch nach einem ersten Einblattdruck mit vier anderen Liedern publiziert worden, die dem Gedächtnis und den Aufgaben von exemplarischen Patrioten gewidmet sind.302 Die Luther-Kontrafaktur scheint eine geistliche Überschrift dazu. Das ‚Lied an die deutsche Legion‘ folgt den drei ersten Lutherstrophen, fügt drei Strophen ein und endet mit der Aufnahme der vierten Lutherstrophe. Anders als in dem zeitgleich entstandenen ‚Katechismus Wehrmann‘ entfällt aber die intentionale Sprachverschmelzung zugunsten einer intentional gegensinnigen Aneignung des Originals. Wie diese Verschiebung funktioniert, zeigt bereits der Anfang: „Eine [sic] feste Burg ist unser Gott!/Auf, Brüder, zu den Waffen!“ Mit der Zitation des Incipitverses öffnet sich der weite Resonanzraum der Vertrautheit, aber auch des Vertrauens, um das es in Luthers Adaption von Psalm 46 geht. Der zweite Vers variiert die Zuschreibungen an Gott jedoch 299   Zitiert nach Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991, 154 f. Alle Zitate aus dem Arndttext beziehen sich auf diese beiden Seiten bei Weber. 300   Weber: Lyrik, 119 passim mit Beleg zu einer Rezension von Arndts Liedern, die auf deren Singbarkeit eingeht und das Verschwimmen von Geistlichem und Weltlichem bezeugt. 301   Beispielsweise ahmt das Lied ‚Die Leipziger Schlacht. 1813‘ mit dem Incipitvers „Wo kommst du her in dem roten Kleid [.  .  .]?“ Herders Übersetzung einer alten schottischen Ballade ‚Edward‘ nach. Vgl. SWS XXV, 19 ff. So das Nibelungenlied „Es ist in alten Mären“ in ‚Das Lied vom heiligen deutschen Lande. 1813‘ mit der Incipit-Zeile „Es klang von hohen Ehren“. 302  In den vier Liedern feiert Arndt den hingerichteten Major von Schill und den Freiherrn Dörnberg als deutsche Partisanen, er gedenkt des Grafen Chasot als des Anführers der Deutschen Legion in Russland und appelliert an den Heeresreformer Gneisenau, Chasots Nachfolge anzutreten. Vgl. AW 1, 104–112.

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buchstäblich zum Alarmruf. Nicht der für die vertrauensvollen Gläubigen streitende Gott, sondern die Menschen sind aktiv. Freilich wäre die Motivationsfunktion eines Kriegsliedes anders gefährdet. Doch bleibt daran zu erinnern, dass Luther Mut zum Gottvertrauen in einer Kriegsdrohung machen will.303 Arndt nimmt also in einer vergleichbaren Situation eine andere Haltung ein. Arndts gegensinnige Übertragung erfasst zwei weitere, für Luthers Lied zentrale Aussagen. Zum einen wird im Original die Passivität der Gläubigen christologisch begründet, da für sie „der rechte Mann“ kämpft: Christus, der mit dem Vater im Regiment sitzend auch die Kriege der Menschen nach seinem Willen steuert. Zum anderen deckt Luther den wahren Feind hinter der irdischen Krise auf: „Der Fürst dieser Welt“, der die Gläubigen prüft, letztlich jedoch der göttlichen Lenkung obliegt. Arndt verändert beide Theologumena im Sinn seines Alarmrufs, der nur mit menschlicher Aktivität angemessen beantwortet werden kann. Der christologische Bezug wird dermaßen getilgt, dass von Luthers metaphorisch kühnem Zusammenschluss Christi mit dem „Herr[n] Zebaoth“ nur das alttestamentliche Gottesprädikat übrigbleibt. Obgleich Luther Christus mit alttestamentlichen Mitteln kämpferisch darstellt, sieht Arndt wohl die Gefahr einer Gegenwirkung zu seinem Handlungsaufruf, wenn er die Kampfbereitschaft durch vertrauensvolles Abwarten substituiert. Der dämonologische Bezug wird dagegen nicht nur übernommen, sondern ausgebaut: Der „alt böse“, bei Arndt „arge[n] Feind“ ist Napoleon. Arndt verwendet vielfach Teufelsvorstellungen zur Feindmarkierung,304 allerdings ist die Diabolisierung hier auf den „Despoten“ Bonaparte als den „Herr[n] der Welt“ zugespitzt. Der Teufel haust leibhaftig in der zeitgenössischen Lebenswelt und muss mit Waffengewalt exorziert werden. Erst dann vermag die deutsche Nation wahrhaft zu existieren, wie mit Seitenblicken auf die siegreichen Russen versichert wird. Da „Gott [.  .  .] den Feind geschlagen“ hat und seine Aktivität damit theologisch unangetastet bleibt, man kann sich Gottes auch aktiv vergewissern. Diese Selbstsorge betrifft die innere Einheit: „Zertheilter Deutschen schlichter Sinn/ War sorglos, sich zu schützen“. Die Partikularisierung der Nation wird unzweideutig als Folge von bösartig ausgenutzter Sorglosigkeit dargestellt. Arndt thematisiert die fehlende äußere Einheit Deutschlands anderwärts mit schneidender Kritik an den deutschen Partikulargewalten. Der Verzicht auf diese Kritik 303   Auch wenn Luther kriegsbezogen andere Positionen ausbilden konnte, bleibt die geduldige Einstellung der Christen in ‚Ein feste Burg‘ ausschlaggebend. 304  Vgl. Graf: Nachahmung, 80–88; vgl. weiter Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945, Darmstadt 2007, hier 75.92.94. Beßlich zeigt allerdings, dass die Verteufelung nur einen kleinen Ausschnitt der deutschen Napoleonrezeption ausmacht und überdies die Reaktion auf eine vormalige Verehrung, wenn nicht gar Verherrlichung darstellt. Die ersten Jahrzehnte der Napoleon-Mythenbildung teilen sich gleichsam in die Verehrung des Generals Bonaparte und den Hass auf Kaiser Napoleon I.

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mag der Rücksicht auf neue bündnispolitische Gegebenheiten geschuldet sein,305 könnte aber auch aus der Textfunktion folgen, die eine eindeutige Botschaft mit Appellqualität erfordert. Allerdings wird der Kampf nicht allein als Erhaltung äußerer Souveränität legitimiert. Auch die Sicherung von Rechtlichkeit und Ethos ist Thema: „Für Recht und Pflicht/Kämpft, kämpft vereint“. Der Krieg gegen Napoleon veranlasst nicht nur den Kampf um äußere, sondern auch um innere Einheit, die in der Einigkeit der Kämpfer aufscheint. Arndt verbindet das Thema Einigkeit auch mit der bedrohten individuellen Freiheit: „Wollt immerdar mit Weib und Kind/Ihr Hohn und Fesseln tragen?/Auf, Männer! Kämpfet hochgesinnt“. Luthers Bezugnahme auf den ‚status oeconomicus‘ bleibt gegensinnig erhalten: Nicht der krisenbedingte Verzicht auf die familiäre Realisierung des Christenberufs erscheint angezeigt, sondern die entschlossene Verteidigung dieses durch Krieg und feindliche Ideologie bedrohten Standes.306 Im Gegensatz zur Einsparung der Christologie formt Arndt die von Luther zuletzt hervorgehobene Gegenwart des Heiligen Geistes und seiner Gaben eigensinnig um. Zunächst wird Luthers Berufung auf das Wort des Evangeliums brachial nationalisiert: Aus „Das Wort sie sollen lassen stahn“ wird „Sie sollen Deutschland lassen stehn“. Daraufhin werden die Geistesgaben aus dem Original in eine Serie von Siegen über Napoleon hineingedeutet. Luthers Ethos des vertrauensvollen Wartens wird gegen eine Aktivität voll Selbstvertrauen eingetauscht, das wegen der eschatologischen Deutung des Kriegs gegen Napoleon nicht anmaßend scheinen soll. In diesem Sinn verzichtet Arndt anders als spätere Kontrafaktoren auch auf eine doppeldeutige Einstimmung in den letzten Vers: „Das Reich muß uns doch bleiben“, den eine nationalprotestantische Variantenbildung gern für das Zweite Reich reklamiert hat.307 Es gibt zwar 1812/1813 keine solche politische Größe, doch wäre ein Verweis auf ein Reich, das ‚uns werden‘ müsse, sprachlich und politisch sagbar gewesen. Arndt schließt aber mit „Der Freiheit Deutscher Männer“ als letztem und wohl auch oberstem Kriegsziel.308 Mit der territorialen und dann unbestimmten Weitung verbindet der Text eine Hoffnung, die über die Befreiung vorhandener politischer Gebilde deutscher Nationalität hinaus zielt. Im Unterschied zur greifbar nahen äußeren Freiheit der Nation wäre deren innere Freiheit eine Gabe der Zukunft, auf die sich die deutsche Selbstsorge gegen Bonaparte eschatologisch bezieht. Die künftige Gabe der Freiheit ist anders als die im Kampf schon antizipierte Einheit  Vgl. Graf: Nachahmung, 121 ff.   Dabei wurde nicht nur auf französische ‚Sittenlosigkeit‘ im Allgemeinen abgehoben, sondern es ging um eine Abwehr als bedrohlich empfundener fremder Lebensformen. 307   Vgl. Das Reich muß uns doch bleiben! Religiöse Gedichte aus dem Weltkriege, ausgew. von Reinhold Braun, Potsdam 1917. 308   Vgl. zu den deutschen Männern und zu den gender-Stereotypen Frevert: Kasernierte Nation, 39–62; Rene Schilling: Kriegshelden. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn u. a. 2002. 305

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nicht erzwingbar, man kann nur auf den trauen, der sie verleiht, und sich ihrer würdig erweisen. „Gott hob die gute Sache“ heißt auch, die Nation soll der ethisch richtigen Sache mit einer internationalen Solidarisierung beitreten. Trotz fragwürdiger Veränderungen gegenüber dem Lutherlied ist einzuräumen, dass Arndt zwischen der Bereitschaft zum nationalen Befreiungskampf und der Unverfügbarkeit eines Triumphs nationaler Freiheit unterscheidet. Bedenken gegenüber dem parteiisch in die Geschichte intervenierenden Gott müssen diesen Unterscheidungsversuch respektieren. Er steht für Arndts Selbstentwurf als Prophet einer uneinigen und unfreien Nation. Die Mimesis kommt insofern einer rhetorischen Strategie gleich, an die der Stratege selbst glaubt.309 d)  Im Dilemma: Luthernachahmung und Lutherdeutung Es liegt vor dem Hintergrund der ‚Kriminalgeschichte‘ des Nationalismus nahe, Arndts Luthermimesis als dreist-gegensinnige Aneignung oder als übergriffige Typisierung biblischer Prophetie zu kritisieren. Doch für ein besseres Verständnis der Zirkulationen zwischen Konfessionskultur und ‚nation building‘ wäre damit wenig gewonnen, da Arndt an anderer Stelle auf Luther als nationale Integrationsgestalt verzichtet. Ob diese überraschende Beobachtung auch den prophetischen Selbstentwurf betrifft, ist zu prüfen. Im 10. Kapitel ‚Von der Liebe und Verträglichkeit‘ des ‚Katechismus Wehrmann‘ argumentiert der Katechet mithilfe eines durch Zitate aus 1. Kor 13 unterlegten Liebesverständnisses für die innere Einheit der Nation. Liebe könne allen deutschen Partikularismus beenden und eine die deutschen Völker umfassende Einigkeit herstellen.310 Diesem frommen Wunsch ist jedoch die konfessionelle Christlichkeit im Weg. Arndt fürchtet, die politischen Interessenten der innerdeutschen Partikularität im In- und Ausland würden die Konfessionskirchen zur Vertiefung der Spaltung nutzen: „Und sie werden rufen: Hie Papst! Hie Luther! Hie Kalvin! [.  .  .] horcht auf, was die wollen, die euch zum Kriege versammeln.“311 Der im Paratext des ‚Katechismus Wehrmann‘ noch verschlei-

 Nach Graf: Nachahmung, 120, besteht „die Eigentümlichkeit des Befundes“ darin, dass eine sichere Unterscheidung zwischen intuitiver Anlehnung und propagandistischem Kalkül kaum möglich sei. Graf betont vorsichtig das strategische Moment von Arndts Mimesis. 310   AW 10, 148. Vgl. im dritten Band von ‚Geist der Zeit‘, AW 8, 173. 311   AW 10, 149. – Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992, 129.134 f., zitiert Arndt als Beispiel für die Blindheit gegenüber dem nationalpolitischen Problem der konfessionellen Spaltung Deutschlands. Tatsächlich kann ein Satz wie „Ganz Deutschland ist das Land des Protestantismus“ (loc. cit.) diesen Eindruck wecken. Doch der Satz ist in christentumsgeschichtlicher Perspektive zu verstehen. Er zielt auf die Welt der Reformationsfolgen. 309

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erte Konfessionsgegensatz kommt über der Frage nach der inneren Einheit der Nation zum Vorschein, Luthers Name steht nun für nationale Uneinigkeit.312 Das dritte Kapitel ‚Was müssen die Deutschen jetzt tun?‘ des dritten Bandes von ‚Geist der Zeit‘ geht darüber noch hinaus. Arndt beschreibt die Konfessionalität nicht mehr nur als politisch dysfunktional, sondern erklärt sie angesichts der neuen patriotischen Religiosität in prophetischem Sprachgestus für sachlich obsolet: „Wahrlich, ich sage euch und verkündige euch, der alte Papst und der alte Luther sind lange tot und stehen in der früheren Gestalt nimmer wieder auf; mit einem neuen und lebendigeren Geist, mit einem höheren Atem des Lebens muß die Welt und das Christentum wandeln; einer neuen Kirche und eines neuen Heils warten wir; die christliche Kirche wird wieder eins werden, aber nicht durch Priesterstreite und Degenklingen und Kabinettsbefehle, sondern durch die stille und mächtige Gewalt der Zeiten und durch den Geist, welchen Gott vom Himmel sendet.“313

Für die Luthernachahmung stellt sich die Frage, wie der entsockelte Luther eigentlich eine autoritative Nachahmung soll stützen können. Bei einem so genau kalkulierenden Autor wie Arndt ist ein vom patriotischen Überschwang verursachtes sprachliches Versehen unwahrscheinlich. Die Erklärung für die Relativierung Luthers ist daher im aggressiven Zug der Mimesis zu suchen. Der Gegenstand der Nachahmung wird, um mit Arndts Wortwahl zu reden, in deren Vollzug ‚vertilgt‘. Die Aggression gegenüber dem Objekt der Nachahmung rührt möglicherweise von einem Sachproblem her,314 das Arndt schon in seiner Neuzeitdeutung vorgefunden hat. Ihm ist in der Arbeit an den ersten beiden Bänden von ‚Geist der Zeit‘ eine Reibung im Rückgriff auf Luther aufgegangen, hinreichend bewusst, um den Schleier vor dem Gegensinn und Eigensinn der Luthernachahmung gelegentlich zu heben. Der im Herbst 1805 geschriebene erste Band von ‚Geist der Zeit‘ und der im Sommer 1812 stark überarbeitete zweite Band enthalten gegenläufige Monumentalisierungen Luthers. Im ersten Band steht Luther als Schriftsteller exemplarisch für die Repräsentierbarkeit des Zeitgeistes. In Arndts Neuzeitdeutung haben Renaissance und Reformation eine politisch-emanzipative Vorbildfunktion und eine kulturell-integrative Urbildfunktion. Das Zeitalter war demnach noch nicht völlig einseitig dem Geist ergeben wie die Moderne und hatte noch Kraft zur allseitigen Bildung, republikanischer Bürgersinn belebte kleinere politische Einheiten. Nach dieser Ära wird das Le  Vgl. AW 7, 85: Nur „hoch über dem Papst und Luther“ können die Deutschen sich zu einem Glauben vereinigen. 313   AW 8, 172. Vgl. dazu 4.4 (c). – In der Ich-Rede des ‚Katechismus Wehrmann‘ klang es autoritativer, aber sachlich weniger umstürzend. Vgl. AW 10, 149: „Ihr aber sollet [.  .  .] bedenken, dass ich der ewige Gott bin, und dass mir alle gefallen, die reines Herzens sind und mit einfältigen Sinnen sich zu mir wenden.“ 314   Psychologisch-biographische Fragen müssen hier unberücksichtigt bleiben. 312

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ben feiner, geistiger, seine Kräfte nehmen mit der Geschwindigkeit ab, mit der sie sich aus der neueren Zeit in die Moderne hinein erstrecken,315 und das politische Leben wird maschinenhaft, wie Arndt in Anknüpfung an Herder urteilt.316 Die Gegenwart hat autoritative Rückgriffe auf jene Epoche nötig, in der die Vergeistigung begann, aber noch ihr Maß hatte. Arndt postuliert deshalb für führende Individuen aus Renaissance und Reformation klassikerhafte Erneuerungsqualität.317 Ein Lutherrekurs ist mit dieser Neuzeitdeutung gut begründbar; die Nachahmung des Lutherdeutsch zielt auf Erneuerung der durch Frankreichs zivilisatorische Hegemonie bedrohten Nationalsprache.318 Die Zuschreibung der kanonischen Erneuerungsqualität an frühneuzeitliche Muster ist jedoch durch ein Gesetz der Zeitlichkeit begrenzt. Die herausragenden Individuen schaffen gerade nicht alles aus sich selbst, worin ihre wahre „Majestät“ liegt. „Nein, nicht sie machten die Zeit, sondern die allmächtige Zeit machte sie, aber die Mächtigsten rief sie auf, ihre Arbeit zu vollenden.“319 Die Würde der individuellen Muster besteht in einem genialen Opportunismus, der sich dem Zeitlauf anbequemt, ohne in ihm aufzugehen. In dieser Konstellation liegt allerdings eine ‚petitio principii‘, da erklärt werden müsste, was geschichtliche Zeit sei, wenn sie denn die in ihrem Bedingungsgeflecht tätigen Subjekte bestimmt. Die fällige Erklärung zur Subjektivität der Zeit wird jedoch durch das Gottesprädikat der Allmacht ersetzt. Im Lutherrekurs wird das Verhältnis von geschichtlichem Subjekt und Zeit deutlicher: „Es ging Luthern mit seinen Zeitgenossen nur wie allen Männern, die in Weltrevolutionen groß sind. Er war der gewaltigste Mensch des Jahrhunderts und half zu seiner Geburt; was er zu schaffen schien, war schon früher da. Aber erst durch ihn ward es recht lebendig, und die Augen der Leute konnten es sehen.“

Für die nationale Luther-Topik ist diese Passage bedeutend, weil sie die maximale Repräsentationsfähigkeit eines geschichtlichen Individuums durchspielt. Nicht Luther hat demnach die Reformation gemacht, sondern die zu einer Reformation vorhandenen Elemente haben Luther zum Reformator gemacht. Aus der Reformationsforschung ist diese Sicht stichwortartig als ‚Pulverfasstheorie‘

315  Vgl. Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 31995, 300–348, zur Beschleunigungserfahrung als Epochenkennzeichen 321–339. 316   SWS V, 534 passim.545 passim.550. Alles die Folgen des europäischen Zivilisationsprozesses für den ‚Rest der Welt‘ bedenkend. Vgl. Martin Bollacher: Nationale Barbarei oder Weltbürgertum? Herders Sicht des ‚siècles de lumières‘ in den frühen Schriften, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 131–138. 317   Vgl. AW 6, 34 f.: Renaissance und Reformation lässt er durch zweifache Erforschung des Himmels konvergieren. 318   Vgl. in §  3.1 (b) Arndt: Ideen über die höchste historische Ansicht der Sprache. 319   Dieses und das nächste Zitat AW 6, 46.

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bekannt.320 Die Gesamtheit der revolutionären Bedingungen, die Luthers Wirkungszeit als Epoche konstituieren, übersteigt die Tätigkeit des Einzelnen. Dieser Einzelne kann jedoch als Manifestation des Geistes seiner Zeit gelten, indem er dessen Maieut war und zugleich sein Resultat, als Medium für die Zeitgenossen. Diese Sicht ist mit dem Topos vom ‚propheta Germaniae‘ stützbar: Der Auftrag eines Propheten kann sich auf eine geschichtliche Veränderung beziehen, während der Prophet selbst nicht deren Medium sein muss.321 Im vierten und letzten Kapitel des zweiten Bandes von ‚Geist der Zeit‘, dem testamentarisch formulierten ‚Letztes Wort an die Deutschen‘, kommt die Reibung im Lutherrekurs zum Vorschein. Luther steht nun allein, seine nationale Funktion hat er als ein monumentales Individuum. Luthers inkommensurabelepochenübergreifendes Genie wird so zur Quelle von Unverständlichkeit. Auch diese Variante ist aus Lutherforschung und Reformationstheorie bekannt, wenn Luther als Unverstandener erscheint und deshalb nicht Instrument eines sich in ihm aussprechenden Zeitgeistes sein kann: 322 „Luther war ein außerordentlicher Mensch, der seine Zeit nicht nur mit Riesenschultern trug und erschütterte, sondern auf Jahrtausende [sic] über sie hinaus sah. Die Wirkung seiner Revolution liegt in drei Jahrhunderten ausgebreitet vor uns; aber sein Sinn, von wie wenigen ist er begriffen worden! Er fasste den Geist des Christentums gleichsam bei seiner leuchtenden Flammenspitze, indem er ausrief: Alles im Sinn und nichts in der Tat. Er führte dies mit der größten Beständigkeit der Grundsätze durch. [.  .  .] Er öffnete zuerst das weite Land der Vernunft, wo allein der Geist sich frei bewegen kann, ohne vom Irdischen erreicht und angezogen zu werden; wo allein der Geist entscheidet und richtet und alles andere untersinkt.“323

Der Gegensatz zum ersten Band ist offensichtlich. Luthers Kolossalität wird hier wie dort betont, doch nun steht der Reformator nicht mehr auf dem Boden der Zeitgenossenschaft, sondern ist von der Zukunft aus definiert. Arndt gebraucht sogar das im Zuge der ideologischen Bekämpfung Frankreichs von ihm immer heftiger abgelehnte Revolutionskonzept, um die Irreversibilität von Luthers Erneuerung des Christentums auszudrücken.324 Nur ist die Qualität dieser Erneuerung eben kaum je erfasst, geschweige denn institutionell umgesetzt worden. Das Christentum wäre weiter zu revolutionieren.325 Arndt handelt sich mit dieser Lutherdeutung ein gravierendes Dilemma für seinen prophetischen Selbstentwurf ein. Wenn das Christentum ausschließlich 320   Bernd Moeller: Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Berndt Hamm et. al.: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 9–29, hier 13. 321   Der Bezug zu Herders Bückeburger Luther- und Reformationsverständnis ist augenfällig. Vgl. §  3.3 (d-f). 322   Vgl. zum Zeitgeist in ‚Geist der Zeit‘ §  4.4. (a). 323   AW 7, 132. 324   Vgl. AW 7, 137. 325   Vgl. ausführlich §  4.4.

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in einer Einstellung, nicht aber im Handeln seinen lebendigen Ort haben soll, entfällt mit dem Handlungsparadigma die Option auf ein Zirkulieren christlicher Liebesethik im affektiven Binnenraum der Nation. In diesem Fall fehlt der Nation die innere Einigkeit zur äußeren Einheit. Ohne entschiedenes Handeln kommt es aber auch nicht zur Befreiung der Nation von äußerer Besatzung und innerer Unselbständigkeit. Ist eine Einlösung von Luthers reformatorischer Entdeckung indes erst von einer fernen Zukunft zu hoffen, wird jede nationale Prophetie in Nachahmung Luthers unscharf, ja sie muss sich eigentlich gerade solch detaillierter Gegenwartskommentare enthalten, wie Arndt sie gibt. Für das differenzierte Geschäft der Nationsbildung taugt Luther dann nicht als Integrationsfigur, da er selbst von der allzu reinen Geistigkeit der Neuzeit affiziert ist, die Arndt im ersten Band von ‚Geist der Zeit‘ kritisiert. Angesichts dieses Dilemmas ist es nicht verwunderlich, wenn Arndt in ‚Geist der Zeit‘ den Anspruch auf Prophetie einmal zurückweist und ihn ein anderes Mal drastisch erhebt. Vorsichtig klingt es im ersten Teil: „Ich bin kein Prophet, und wer wollte es in dieser Zeit sein?“326 Dann aber formuliert ‚Letztes Wort an die Deutschen‘: „So hört mich denn! [.  .  .] ich will euch prophezeien, was geschehen wird, und was geschehen muß.“327 Arndt hofft nunmehr, die abwesende „Prophetenstimme“ Luthers, werde sich in seinem Schreiben rematerialisieren.328 Der Widerspruch im Lutherrekurs tritt bereits kurz vor dem Gipfel der Mimesis zutage. Diese soll als Konsequenz aus Arndts Neuzeitdeutung Spannungen zwischen gegensätzlichen Auffassungen von Luther und der Reformation ausgleichen. Da Arndts Luthernachahmung zusammenpresst, was nicht zusammenwachsen kann, bleibt sie anders als Klopstocks oder Herders Variation auf die nationale Luthertopik Episode. Während Arndt fest an seine Nachahmungstaktik glaubt, erkennt Heinrich von Kleist, dass Luther für die Nation nur vermeintlich verfügbar ist.

3.5  Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘ Kleists patriotische Interventionen scheinen wenn auch nicht ohne Gottesgedanken,329 so doch weithin ohne Lutherrekurs auszukommen. Die Novelle ‚Michael Kohlhaas (Aus einer alten Chronik)‘ bildet eine Ausnahme, indem Luther 326   Im neunten Kapitel ‚Der jetzige Krieg‘ 1805, AW 6, 195. – Vgl. AW 7, 11, wonach die Zeit mit Jena-Auerstedt 1806 und dem Frieden von Tilsit 1807 alle Prophetie überholt hat. 327   AW 7, 117. 328   AW 7, 28. 329   Vgl. im 1811 fertig gestellte Schauspiel ‚Prinz Friedrich von Homburg‘ der ca. 50malige Ausruf „Gott – –“ in Krisensituationen. Zweibändige Ausgabe in Einem Band  I, 629–709.

3.5  Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘

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als Figur einer Erzählung auftritt, die auch auf die Nationsthematik Bezug nimmt, doch so, dass die nationalintegrative Luther-Topik untergraben wird. Diese Dekonstruktion erfolgt durch den Kunstgriff, Luther von seinem theologischen Amt aus darzustellen und dadurch die Zuschreibungen des patriotischen Diskurses zu steuern. In dieser Entzauberung fallen Luthers exemplarische Funktionen als Befreier von Kirche, Staat und Vernunft und als einigendes ‚Sprachereignis‘ dahin.330 Kleists Distanzierung von der nationalen Luther-Topik ist vor dem Hintergrund eines Sprachverständnisses zu sehen, das auf der krisenhaften Einsicht in die Mehrdeutigkeit sprachlicher Zeichen beruht. Die Germanistik der letzten Jahrzehnte hat diese Einsicht im Zeichen von Kleists Modernität mit diskursanalytischen, semiotischen und poststrukturalistischen Mitteln beschrieben,331 die dabei erzielten Ergebnisse aber auch immer wieder an historische und politische Fragestellungen zurückgebunden.332 Man kann weder noch muss man diese Dimensionen der Kleistforschung gegeneinander ausspielen. Wie so viele Texte Kleists entfaltet auch die zwischen 1805 und 1810 geschriebene Erzählung ‚Michael Kohlhaas‘333 die Mehrdeutigkeit der Sprache anhand von ethischen und rechtlichen Fragen; sie unterstreicht Verständigungskonflikte eher als sie zu lösen.334 In diesem Bezugsrahmen stehen auch der Lutherrekurs und das Nationsthema. 330  Die Durchleuchtung der komplizierten historischen Konstellation bestätigt Kleists Dekonstruktion in gewisser Weise, hat doch Luther seine Aufgabe gegenüber Kolhase in einer ‚cura conscientiae‘ und nichts anderem gesehen. Vgl. dazu Albrecht Beutel: Luther und Kolhase. Eine Fallstudie zur cura conscientiae des Reformators; in: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, S.  1–20. 331   Ich kann hier die Dimensionen dieses Sprach- und Schriftverständnisses auch nicht in Ansätzen darstellen. Vgl. aus einer immensen Fülle allein der lesenswerten Literatur zu Kleist Anthony Stephens: Kleist – Sprache und Gewalt, Freiburg i.Br. 1999; Gabriele Kapp: ‚Des Gedankens Senkblei‘. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799– 1806, Stuttgart 2000; Wolfram Goddeck: Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache. Zu Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmälige Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, in: Kleist lesen, hg. von Marianne Schuller/Nikolaus Müller-Schöll, Bielefeld 2003, 101–116; Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists – ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, Göttingen 2003. 332   So der Aufsatzband von Dirk Grathoff: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists, Heilbronn 2008; so Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003. 333   Zitiert nach Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Zweibändige Ausgabe in Einem Band, hg. von Helmut Sembdner, München 2001. Vgl. im Ganzen Bernd Hamacher: Schrift, Recht und Moral. Kontroversen um Kleists Erzählen anhand der neueren Forschung zu ‚Michael Kohlhaas‘, in: Anton Philipp Knittel/Inka Kording (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2003, 254–278. 334  Vgl. zusammenfassend Klaus-Michael Bogdal: Heinrich von Kleist: ‚Michael Kohlhaas‘, München 1991, 35–43.87 passim; Theodore Ziolkowski: Kleists Werk im Lichte der zeitgenössischen Rechtskontroverse, in: Kleist-Jahrbuch 1987, 28–51, stellt eine Ent-

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

a)  Blasphemische Tugend und verweigerte Vergebung Kleists Interesse an Luther ist zunächst durch den Prätext gegeben.335 Die zur allgemeinen Rebellion ausartende Selbstjustiz eines Kaufmanns Hans Kohlhase hat im Kursachsen der Lutherzeit stattgefunden. Prominentes Kolorit allein hat Kleist aber nicht zu einer relativ ausführlichen Lutherdarstellung bewogen, schon die vage Bestimmung von Ort und Zeit der Erzählhandlung verweist auf Kleists poetologische Gründe. Zunächst weist der Text lediglich durch politisch-juristische Charakteristika 336 oder Vorgänge des Alltagslebens auf die erzählte Zeit hin. Der Erzähler achtet gegenüber dem Prätext bis kurz vor der Selbstjustiz der Titelfigur sorgsam auf zeitliche Uneindeutigkeit, die auch die Rechtsprobleme der erzählten Zeit und der Zeit der Erzählung ineinander verschwimmen lässt. Erst mit der Erwähnung und dem Auftreten Luthers entfaltet die Erzählung ihre volle Geschichtlichkeit. Schon dieser Umstand ist signifikant für Kleists Lutherfigur. Kleist nutzt den Lutherrekurs zweifach: Er dient der Kontrastierung aktueller Fragestellungen mit historischen Konstellationen von Politik, Recht und menschlicher Fehlbarkeit. Doch die Lutherfigur verstärkt auch die Wirkung anderer Erzählfiguren, indem sie die Erzählung an Wendepunkten retardieren lässt. Beide poetologischen Dimensionen des Lutherrekurses lassen sich am besten von diesen Wendepunkten aus nachvollziehen. Die erste Retardation entsteht in der Sterbeszene von Kohlhaas’ Frau Lisbeth, deren Tod die Wende zur Selbstjustiz bezeichnet. Zur erzählerischen Intensivierung bezieht Kleist die konfessionelle Bindung der Eheleute ein. Erstmals erwähnt wirft Luther seinen Schatten in Gestalt des Bekenntnisses voraus und erscheint damit in kirchlich-konfessioneller Perspektive: „[.  .  .] da ein Geistlicher lutherischer Religion (zu welchem eben damals aufkeimenden Glauben sie sich, nach dem Beispiel ihres Mannes, bekannt hatte) neben ihrem Bette stand, und ihr mit lauter und empfindlich-feierlicher Stimme, ein Kapitel aus der Bibel vorlas: so sah sie ihn plötzlich, mit einem finstern Ausdruck, an, nahm ihm, als ob ihr daraus nichts vorzulesen wäre, die Bibel aus der Hand, blätterte und blätterte, und schien etwas darin zu suchen; und zeigte dem Kohlhaas, der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: ‚Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen.‘ – Sie drückte ihm dabei mit einem überaus seelenvollen Blick die Hand, und starb. – Kohlhaas dachte: ‚so möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe!‘ küsste sie, indem ihm häufig Tränen aus den Augen flossen, drückte ihr die Augen zu und verließ das Gemach.“337 wicklung Kleists vom Naturrechtsdenken zu einer positiven Rechtsauffassung fest. Vor allem betont er Kleists teils lückenhafte, teils sprunghaft erweiterte Rechtskenntnisse. 335  Vgl. Bogdal: Kohlhaas, 76 passim; weiterführend Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000. 336   Zum Beispiel: Kurfürst, Landeshauptmann oder landesherrliches Privilegium. 337   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 30.

3.5  Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘

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In der Sterbeszene verdichten sich der anfängliche und ein neuer Konflikt der Erzählung. Kohlhaas rechnet den von kurfürstlichen Schergen fahrlässig verursachten Tod seiner Frau moralisch und wohl auch ‚coram Deo‘ dem Junker Wenzel von Tronka zu.338 Dieser hatte dem durchreisenden Pferdehändler Zoll abpressen wollen und daraufhin zwei wertvolle Pferde als Pfand für einen Passierschein erhalten, den Kohlhaas für den Rückweg besorgen und einlösen wollte. Zurückkehrend erkennt Kohlhaas in der Misshandlung seiner Pferde und vor allem seines Knechts einen ihn kränkenden und darüber hinaus jede Rechtssicherheit gefährdenden Vertrauens- und Rechtsbruch.339 Nach vergeblichen Versuchen, durch persönlichen Appell und auf dem Rechtsweg Recht zu erhalten, bereitet Kohlhaas die Selbstjustiz vor, wird aber von seiner Frau aufgehalten. Mutig bietet sie an, sich mit einer Supplik Zugang beim Kurfürsten zu verschaffen. Bei der Ausführung des Vorhabens wird sie grob zurückgedrängt und verletzt. So verschärft Lisbeths Tod das „Geschäft der Rache“,340 gibt durch die Retardation aber auch Gelegenheit, die geistliche Dimension der Erzählung zu verstärken: Zum einen bereitet die Konstellation aus der religiös selbstbestimmten und liebevoll-ergebenen Frau, dem verzweifelt-blasphemischen Kohlhaas und dem schwachen Geistlichen den Konflikt zwischen Kohlhaas und Luther vor. Zum anderen besiegelt Kohlhaas an Lisbeths Sterbebett seinen Rachebeschluss mit einer Blasphemie. Dieser Umstand ist wichtig für den konfessionellen Subtext der Erzählung. Die Blasphemie liegt nicht darin, dass der entsetzte Mann mehr Rachegefühle hegt als zuvor. Blasphemisch ist vielmehr, auf welche Weise Kohlhaas Rechtschaffenheit und Gerechtigkeitssinn durch Übertreibung in ein Laster verkehrt. Mit der sarkastischen Selbstverfluchung: „so möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe!“ setzt Kohlhaas sich selbst an die Stelle des allein rächenden Gottes. Seine anfänglich vom Erzähler gerühmte Gottesfurcht,341 deren Ernsthaftigkeit durch die Mitteilung der dezidierten Zugehörigkeit zu den Evangelischen betont wurde, ist dahin. Auch die Mahnung seiner sterbenden Frau, sich mit seinen Feinden und mit Gott zu versöhnen, verfängt nicht. Kohl338   Vgl. zur Rechtsdebatte um Vertragssicherheit und Widerstandsrecht als Hintergrund der Erzählung Monika Frommel: Die Paradoxie vertraglicher Sicherung bürgerlicher Rechte. Kampf ums Recht und sinnlose Aktion, in: Kleist-Jahrbuch 1988/1989, 357–374. – Kohlhaas’ eigentlicher Verlust ist der seiner Frau, wie gerade in der Lutherszene deutlich wird. Dieser Umstand wird von den Erörterungen der Rechtsfragen meist übersehen, da es sich eben nicht um eine der von der Erzählung thematisierten Rechtsfragen und vor allem um mehr als eine bloße Rechtsfrage handelt. 339  In puncto Rechtssicherheit als Thema des juristischen Narrativs scheinen mir die rechtsgeschichtlichen Erörterungen in der Kleistforschung einig. Vgl. Joachim Rückert: ‚.  .  . der Welt in der Pflicht verfallen .  .  .‘. Kleists ‚Kohlhaas‘ als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme, in: Kleist-Jahrbuch 1988/1989, 375–403, hier 377: Die eigentlichen Schwierigkeiten [.  .  .] beginnen mit dem Versagen der sächsischen Justiz.“ 340   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 31. 341   Dieses und das nächste Zitat Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 9.

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haas versagt beim Antreten des geistlichen Erbes, das seine Frau ihm hinterlässt und das ihm zur einstigen Rechtschaffenheit und Gottesfurcht hat verhelfen sollen. Lisbeth setzt sich um dieses Ziels willen sogar über den Tröstungsversuch des lutherischen Geistlichen hinweg, den sie mit der starken Geste selbständigen Blätterns in der Bibel verscheucht. Kohlhaas’ Frau stirbt im Zeichen der hohepriesterlichen Freiheit aller Christenmenschen, während ihr Mann gegen alle geistliche und weltliche Ordnung rebelliert. Da Kohlhaas, noch an der Bahre seiner Frau, durch eine „landesherrliche Resolution“ provoziert wird, die ihm die Entschädigung versagt und für den Fall weiteren Querulierens mit Gefängnis bedroht, kann sich Lisbeths geistliches Versöhnungsangebot nicht entfalten. Viel später erweist sich die Macht der Liebe als siegreich, doch zwischen Lisbeths Tod und diesem Moment schweift Kohlhaas’ ‚Tugend‘ aus. Die nun vollzogene Rache trifft nicht den entkommenden Junker, sondern Stellvertreter. Sie reicht von der buchstäblich ‚säkularsierenden‘, gewaltsamen Durchsuchung der Schlosskapelle bis zum Mord an Frau und Kindern des Verwalters von Schloss Tronka. Die Blasphemie wird also auf entsetzliche Weise fortgesetzt. Der zornige Kohlhaas missachtet das ethisch wie kultisch Heilige, indem er das Massakrieren Schutzbefohlener zulässt und den Kirchenraum profaniert.342 Die Rache des Gekränkten bewirkt größeres und erheblicheres Unrecht als die Rechtsbeugung des Junkers.343 Kohlhaas’ Suche nach dem Gegner lässt die Situation vollends eskalieren, wächst seine Truppe doch zu einem kleinen Heerhaufen an, der Städte und Landschaft Sachsens und angrenzender Gebiete bedroht. Damit sind bedeutende Partikulargewalten des Alten Reichs in den Konflikt gezogen. An dieser Stelle kommt es durch die Begegnung mit Luther zur zweiten Retardation. Da die Szene zugleich die nationale Luther-Topik dekonstruiert, ist die erzählerische Bearbeitung des Nationsverständnisses von ihr aus nachzuvollziehen. b)  Luther im geistlichen und politischen Gegensatz zu Kohlhaas Nach der Einäscherung großer Teile Wittenbergs und dem zufällig verregneten Brand Leipzigs schaltet sich Luther ins Geschehen ein.344 Der Erzähler betont die ordnungspolitische Dimension dieses Eingriffs, kennzeichnet ihn aber auch als Versuch, „durch die Kraft beschwichtigender Worte“345 Kohlhaas’ innere Ordnung wiederherzustellen. Luther wird durch besondere sprachliche Kom342  Eine anschließende Begegnung mit der Tante des Junkers, die als Äbtissin ein Damenstift leitet, eskaliert nur um Haaresbreite nicht. 343   Seine misshandelten Pferde jagt er samt ihrem Bewacher höhnisch davon. Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 35. 344   Vgl. zur Lutherbegegnung als „Angelpunkt der Novelle“ Malte Dießelhorst: Hans Kohlhase/Michael Kohlhaas, in: Kleist-Jahrbuch 1988/1989, 334–356, hier 352. 345   Dieses und alle folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 42.

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petenz charakterisiert, mit der er, „auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“, die mehrdeutige Situation vereindeutigen könnte. Die Luther zugeschriebene Besänftigungskompetenz korrespondiert Lisbeths Versuch, die drohende Selbstjustiz durch Appell an Kohlhaas’ Rechtschaffenheit und Gottesfurcht abzuwenden. Der von Luther in Beantwortung mehrerer Selbstmitteilungen des Rebellen plakatierte Aufruf führt allerdings eine harte Sprache. In Aufnahme der durch die Selbstjustiz bereits eskalierten Mehrdeutigkeit spricht der ‚propheta Germaniae‘ von einem verfehlten Anspruch auf das „Schwert der Gerechtigkeit“.346 Der Erzähler kommt dem Denken des Reformators auffallend nah. Kohlhaas sei selbst von Leidenschaft verblendet, verführe andere zur Sünde und streite bei alledem „um ein nichtiges Gut“. Damit sind genug Gründe benannt, um die Selbstjustiz zu disqualifizieren,347 die aufgrund des Kompromissangebots durch den Gekränkten nach feudalem Recht anfänglich verzeihlich war. Vom historischen Luther geltend gemachte Kriterien für eine gerechte Fehde treffen auf Kohlhaas’ Fall nicht zu.348 Der Rebell aus übertriebener Gerechtigkeitsliebe hat weder sich selbst einer hinreichend affektdistanzierten Selbstprüfung ‚coram Deo‘ unterzogen noch hat er – zunächst – eine dem Umfang nach unzumutbare Schädigung von Gütern erfahren.349 Überdies benennt der historische Luther die Kränkung Schutzbefohlener als legitimen Fehdegrund, während der einzelne Christ für sich auf Vergeltung verzichten soll.350 Gerade diesen Schluss aus der ‚lutherischen Religion‘ zieht Kohlhaas nicht, wenn er auch verschiedentlich Ausschreitungen seiner Truppe un-

346  Vgl. zur zeitgenössischen Rechtslage Ziolkowski: Rechtskontroverse, 45 f., der die Stimmigkeit von Kohlhaas’ Anspruch nach dem Allgemeinen Landrecht hervorhebt, sowie ausführlich Schmidt: Dramen und Erzählungen, 215–234. Nimmt man an, Kleist habe konsequent Naturrechtsvorstellungen wie Lockes Recht auf Eigentum erzählerisch einklagen wollen, so wird Luther zur anachronistischen Figur, der man nur als solcher narrativen Sinn zubilligen könnte. Dafür ist die zentripetale Kraft der Szene aber zu stark. 347   Vgl. ‚Von weltlicher Obrigkeit‘, in: WA 11, 276 f.; vgl. weiter ‚Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können‘, in: WA 19, 632 passim: Luthers Einspruch bezieht sich nicht auf Kohlhaas’ Streit mit dem Junker, sondern auf die bereits ausgeweitete Rebellion mit ihren Implikationen für den Landfrieden. Das Handeln des Junkers bezeichnet der historische Lutherbrief als „infamia“. Vgl. Bogdal: Kohlhaas, 83; vgl. zur erlaubten Fehde Rückert: ‚.  .  . der Welt in der Pflicht verfallen .  .  .‘, 379 passim. 348   Die Auskunft, Luther disqualifiziere sich als Interessent der Obrigkeit, so Schmidt: Dramen und Erzählungen, 234 passim, trifft weder rechtlich noch ethisch zu. 349   In ‚Von weltlicher Obrigkeit‘ (WA 11, 278 ff.) führt Luther für den Umgang der Für­ sten untereinander aus, dass es auch unter ihnen keinen unzumutbaren Schaden geben dürfte, der zum Kriegsgrund würde, wenn sie nur gemäß christlichem Liebesethos verführen. 350   So im Originalbrief Luthers, vgl. im Dokumentarteil Bogdal: Kohlhaas, 83 f. Vgl. weiter ‚Von weltlicher Obrigkeit‘ (WA 11, 254 f.); auch ein Fürst soll eigenen Schaden übersehen, WA 11, 276.

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terbindet.351 Kleists Luther kommt der Argumentation des historischen Luther so nahe, als habe der Verfasser sie gekannt.352 Die harte Sprache von Luthers Mitteilung, „unterzeichnet von dem teuersten und verehrungswürdigsten Namen, den er kannte“,353 verunsichert Kohlhaas so sehr, dass er sich heimlich nach Wittenberg begibt. Luthers Urteil steht für ihn in der Welt am höchsten, Luthers Name unter der schriftlichen Verurteilung von Kohlhaas’ Selbstjustiz kommt einem Urteil Gottes nahe. Wie nicht anders zu erwarten, erfolgt im nächtlichen Wittenberg jedoch ein Kampf der Deutungskulturen. Luther tritt dabei dem Rebellen anders als im Prätext ohne Melanchthon, den älteren Cruciger oder andere entgegen.354 So bricht sich Wille an Wille und Urteil an Urteil. Infolge seiner Verehrung Luthers beruhigt Kohlhaas den bei seinem Eindringen Erschrockenen, droht indes für den Fall der Weigerung, ihn anzuhören, damit, sich Gewalt anzutun. Zum Gespräch einlenkend macht Luther Kohlhaas eine Reihe von Vorwürfen, die insgesamt auf eine ethische und rechtliche Vereindeutigung der Situation hinauslaufen. Kohlhaas habe seine Rache übertrieben, weil vom Junker auf andere übertragen. Er halte sich, da ein völliges Verlassen bestehender Ordnungen unmöglich sei, zu Unrecht für aus Staat und Menschheit verstoßen. Betont weist Luther die Meinung zurück, dem vermeintlich in einen Urzustand Verstoßenen sei „die Keule“ zu seinem Selbstschutz ausgehändigt.355 Überdies entbehre Kohlhaas’ Urteil, der Schutz der Gesetze sei ihm versagt, angesichts des Ereignisverlaufs der Basis, habe doch der Landesherr als oberste Rechtsinstanz die Klage nicht zur Kenntnis bekommen und daher vor Gott ein reines Gewissen. An dieser einzigen Stelle setzt Luther Kohlhaas’ Selbstjustiz mit einem direkten Gottesbezug ins Unrecht. Selbst wenn schlechte Ratgeber den Fürsten an der Ausübung von Gerechtigkeit hindern, stellt sich die Frage, „wer anders als   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 43 f.   Kleist hat sich jedenfalls an die ihm mutmaßlich vorliegende Briefüberlieferung gehalten. Vgl. dazu schon C. A. H. Burckhardt: Der historische Hans Kohlhase und Heinrich von Kleist’s Michael Kohlhaas, Leipzig 1864, hier 30 f.; vgl. weiter Dießelhorst: Kohlhase/ Kohlhaas, 355, bezeichnet Luthers Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, um des Erlösers willen zu verzeihen, als den „eigentlich wichtige[n] Einwand Luthers“. Vgl. Kleist: Kohlhaas, 47. 353   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 44. 354   Vgl. die ‚Nachricht von Hans Kohlhasen‘ durch Christian Schöttgen und Georg Christoph Kreysig von 1731 bei Bogdal: Kohlhaas, 76–82. 355   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 44. – Vgl. zur Notwehrfrage Schmidt: Dramen und Erzählungen, hier 222–231, Kleists Verständnis des Urzustands sei von Locke geprägt; die Eigentumsproblematik macht diese rechtsgeschichtliche Deutung überzeugend. Schmidt hält die ungeheure Prozessverschleppung für den eigentlichen Skandal der Erzählung und Kleists Reformanliegen für den Anlass, einen revolutionären Gewalteklat gleichsam zur Warnung zu erzählen. Das wäre ein geradezu didaktisches Konzept. Vgl. zur ‚Unlesbarkeit der Zeichen‘ in vielen semiotischen Kohlhaas-Lektüren ironisch Hamacher: Schrift, Recht und Moral, 267: Unlesbarkeit sei historiographisch auf die Probe zu stellen. 351

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Gott“ ihn „wegen der Wahl solcher Diener zur Rechenschaft ziehen“ dürfe.356 Die rhetorisch gemeinte Frage erweist sich im Weiteren allerdings als Sachfrage, versuchen doch die mit von Tronka verwandten oder als Standesgenossen loyalen Ratgeber des Kurfürsten immer wieder auf unlautere Weise, die anhängige Rechtssache niederzuschlagen; 357 ihre Staatsklugheit lässt Luther geradezu naiv erscheinen. Die für Kleist aktuelle Frage nach einem Widerstandsrecht der Bürger gegen bürokratisiertes Unrecht wird durch Kohlhaas’ revolutionäre Handlungsweise verkörpert, die seinerzeit jedoch ebenso unverständlich wie aussichtslos bleibt. Luther sucht die prekäre Situation zu vereindeutigen, indem er sich als Mittler zum Kurfürsten anbietet. Dafür kommen zwei Gründen in Betracht. Der Reformator stellt mit einer Bezugnahme auf „die öffentliche Stimme“ fest, Kohlhaas’ Schadenersatzforderung sei prinzipiell gerecht.358 Doch zuvor wird ein rein politisches Motiv genannt und, in einer für Kleist typischen Weise,359 von einer Geste Luthers begleitet, die für die Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik ausschlaggebend ist. Der Reformator ist verärgert über „die trotzige Stellung, die dieser seltsame Mensch im Staat einnahm“, weshalb er „mit einem verdrießlichen Gesicht“, Papiere auf seinen Schreibtisch wirft und – schweigt.360 Geste und Schweigen sagen mehr als Worte. Sie bringen die Mehrdeutigkeit von Luthers Vereindeutigungsstreben zum Ausdruck, sein Amtsverständnis einerseits und sein Taktieren andererseits. Das historische Datum von Luthers ‚Plakat‘ an Kohlhaas, eigentlich ein Brief, ist der 8.  12. 1534. Nichts konnte der historische Luther angesichts der politischen Etablierung des evangelischen Bekenntnisses weniger brauchen, als die erneute Verbindung seines Namens mit einer Rebellion. Diesem Politikum trägt Kleist mit Luthers fiktionaler Verdrießlichkeit Rechnung: Der vom geistlichen und universitären Amt aus aufgefasste Luther hat einen politischen Splitter im Auge; umgekehrt wird der politisch argumentierende Rebell Kohlhaas immer mehr durch die ‚lutherische Religion‘ konturiert.   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 46.   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 49 passim.56 passim.65 passim. 358   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 47. – Dahinter könnte Luthers Empfehlung der ‚Billigkeit‘ von Entscheidungen in der Grauzone zwischen Recht und Ethos stehen. Vgl. ‚Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können‘, in: WA 19, 632.634.637. Die Äußerung wird gern von Interpretationen überlesen, die Luther als reine Kontrastfigur innerhalb von Kleists avantgardistisch modernem Text verstehen. 359   So auch die dunkle Röte in Kohlhaas’ Gesicht bei der Lektüre von Luthers Plakat. Vgl. zur revolutionären Konsequenz einer Geste Dirk Grathoff: Heinrich von Kleist und Napoleon Bonaparte, der Furor Teutonicus und die ferne Revolution, in: Gerhard Neumann (Hg.): Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, 31–59, hier 32 passim; vgl. zum ‚nonverbalen Zeichensystem‘ bei Kleist das letzte Kapitel bei Heimböckel: Unaussprechlichkeit, 257–320. 360   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 46. 356 357

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Es ist wenig erstaunlich, dass dem politischen Hintersinn der Begegnung beider Gestalten durch einen geistlichen Antagonismus vorgearbeitet ist. Kleist unterlässt nichts, um Kohlhaas’ Selbstjustiz mit einem apokalyptischen Subtext zu unterlegen, der Luthers Verdrießlichkeit befördern muss, tritt Kohlhaas an der Spitze seines Heerhaufens doch unter den Anzeichen göttlicher Ermächtigung in Erscheinung. In mehreren Selbstmitteilungen lässt er zwischen den ersten beiden erzählerischen Wendepunkten – Lisbeths Tod und der Begegnung mit Luther – „‚seine Sache gegen den Junker von Tronka, als dem allgemeinen Feind aller Christen‘,“361 zur Sache aller Christenmenschen erklären. Im Zuge dieser radikalen – und sakralen – Feindmarkierung nimmt er sich selbst von den Ordnungen der Welt als „‚einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn‘“ aus. Mit beiden Selbstimaginationen vollzieht Kohlhaas den revolutionären Schritt zu einer rücksichtslosen Selbstsorge, der Luther umso mehr gegen ihn aufbringt, als diese Selbstsorge das Christentum auf eigene Weise in Anspruch nimmt. Der rechtlos gemachte und seines moralischen Selbstwerts beraubte Bürger darf sich demnach auflehnen bis hin zur konsequenten Gestaltung einer neuen rechtlichen und ethischen Ordnung.362 Insbesondere das aristokratische Unterlaufen der Rechtsprechung und die Niederhaltung eines Ethos freiheitlicher Selbstsorge kennzeichnen die alte Ordnung, deren Umstürzen allerdings eine eindeutige Positionsbildung und unaufhaltsame Feindmarkierungen erzwingt.363 Als Statthalterschaft des Erzengels Michael und als „provisorische[n] Weltregierung“ apokalyptisch chiffriert364 lässt diese Eigengesetzlichkeit nur eine Entscheidung für oder gegen die Revolution zu. Pikanterweise ist der Engel Michael als Völkerengel für die Deutschen zuständig – die Idee einer auf Deutschland ruhenden Weltregierung ist für Kleist nicht abwegig.365 Kohlhaas wird wie die ‚fasces‘ dem römischen Diktator „ein großes Cherubsschwert [.  .  .] vorangetragen,“ dem „zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln“ folgen.366 Mit Müntzers Selbstumschreibung als „Schwert Gedeonis [Gideons]“367 klingt hier der Vollmachtsanspruch des geistlichen Bauernführers an und begleitet den alternativen ‚Imperator‘ Kohlhaas in seine national ausweitbare Revolution.   Dieses und das folgende Zitat Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 36, ähnlich 34.   Vgl. zur Revolution als Folge des unreformierbaren Rechtswesens Schmidt: Dramen und Erzählungen, 230 passim; zum Problem des ambivalenten Status des Subjekts politischer Revolution Grathoff: Vgl. Ferne Revolution, 41.45.51. 363   Vgl. die Übergänge von Kohlhaas’ Rechtsfanatismus zum Terrorismus bedenkend David Ratmoko: Das Vorbild im Nachbild des Terrors. Eine Untersuchung des gespenstischen Nachlebens von ‚Michael Kohlhaas‘, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 218–231, hier 226 f. 364   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 43. 365   ‚Was gilt es in diesem Kriege?‘, in: Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 377 ff. 366   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 43 f. 367  Zitiert nach Thomas Müntzer: Schriften und Briefe, hg. von Gerhard Wehr, Frankfurt/Main 1973, 464.469 f. 361

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Angesichts solcher politischen Apokalyptik erstaunt der Verlauf der persönlichen Begegnung mit Luther, die von vornherein beiderseitige Kompromissbereitschaft erkennen lässt: Luther verhandelt mit seinem Gegenüber, obgleich ihn dessen Ähnlichkeit mit Aufrührern wie Müntzer ärgern muss, und Kohlhaas fängt nach dem Anfang seiner Vergeltung überhaupt wieder an zu verhandeln. Er fordert die Vermittlung von freiem Geleit nach Dresden, um die zur Rechtsfindung und zur Überführung des Junkers nötige Freiheit zu erhalten, und dieses Freiheitsansinnen unterstützt Luther aufrichtig und zunächst erfolgreich, wie man erfährt.368 Doch als der aufgewühlte, um seine Frau trauernde Kohlhaas um die Kommunion bittet, verweigert Luther dem Unbußfertigen das Abendmahl und drängt auch in geistlicher Hinsicht auf Vereindeutigung: Er fordert vor der Austeilung des Sakraments eine Beichte, um dem Rebellen seinen Platz in der Ordnung der Dinge deutlich zu machen, der gewiss nicht mit dem Rang des Erzengels Michael koinzidiert. Der Reformator kommt dem Rebellen nur in weltlicher, nicht aber in geistlicher Hinsicht entgegen. In dieser Entscheidung liegt politischer Nebensinn. Luther zeigt Kohlhaas, dass er zwar den Ausnahmezustand erklären kann, ihn aber nicht zu beenden vermag.369 Experimente mit politischer Apokalyptik sind unabsehbar. Will man Kohlhaas’ Rebellion für eine narrative Form der revolutionären Konstitution des modernen politischen Subjekts halten, bleibt die Individualität des Revolutionärs doch zwielichtig und kommentierungsbedürftig. Kohlhaas’ geistlich unversöhnter Abschied ist die auffallend konfessionelle Metapher dafür, eine Metaphernwahl, die dem Dichter zuzuschreiben ist. Denn historisch kam es, zumindest nach Kleists Quelle, für Hans Kohlhase zum Sakramentsempfang.370 c)  Luthers Entsockelung – Vergebung für Kohlhaas Kleists Lutherfigur unterscheidet sich von den Deutungs- und Umformungsversuchen Klopstocks, Herders oder Arndts grundlegend darin, dass sie die bereits etablierte nationale Luther-Topik nicht affirmiert. Es ist sogar sinnvoll, von einer Dekonstruktion zu sprechen, da Luther in ‚Kohlhaas‘ alles einbüßt, was ihn als Imaginations- und Integrationsfigur des ‚nation building‘ empfahl. Der Reformator erscheint bei Kleist gleichsam im Hausrock, als würde das nächtliche Gespräch in Wittenberg ihn aus der taghellen Plakatierung als topischen Gebrauchsartikel herauslösen und der Nachwelt entgegen deren Rezeptionsfuror als Individuum zurückerstatten. In diese Richtung weisen auch   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 49.53.  Vgl. mit aktuellen Bezügen zum Souveränitätskonzept Ratmoko: Das Vorbild im Nachbild des Terrors. 218–231, hier 226 f. 370   Bogdal: Kohlhaas, 79. 368 369

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Luthers offenbare Affektivität und sein geistliches Betroffensein durch den apokalyptischen Diskurs des Rebellen. Mit der affektbedingten Individualisierung und der Rückführung auf das theologische Amt verliert die Lutherfigur doppelt an Repräsentativität. Sie erscheint historisch enger und zugleich lebendiger. Der an Luthers Haltung erkennbare politische Hintersinn steht dem nicht entgegen, er bestätigt vielmehr, dass dem Reformator eine offene Thematisierung politischer Absichten aufgrund seines Amtsverständnisses versagt ist. Kleist beschränkt Luthers Aktionsradius bei aller geistlichen Autoritätszuschreibung auffallend auf Wittenberg und Kursachsen. Ein ‚propheta Germaniae‘ und Freiheitsheld ist er nicht. Der Reformator hat zwar den Ruf muttersprachlicher Sonderkompetenz, doch entwächst die ‚Luthersprache‘ in ‚Kohlhaas‘ nicht zur Überlebensgröße. Indem Kleist die Lutherfigur mit einer nicht eben überragenden Sprachkompetenz ausstattet, ironisiert er die Monumentalisierung des Reformators zum ‚Sprachereignis‘. Luther spricht lakonisch, aber im Sinn des ‚genus humile‘,371 und mit rabiater Eindeutigkeit. Er sieht es als seine Aufgabe an, den Rebellen zur Vernunft zu bringen, seine Affekte zu steuern und den für ganz Kursachen prekären Ausnahmezustand zu beenden. Dieser Hang zur Vereindeutigung erstreckt sich auch auf die geistlichen Mitteilungen. Luther als ‚Sprachereignis‘ würde mit Mehrdeutigkeit anders umgehen können; er würde das Mehrdeutige von Affekten, Anliegen und Situation bestehen lassen und es für verschiedene Handlungsoptionen produktiv machen. Kleists Luther presst Kohlhaas zu eindeutigen Stellungnahmen und Absichtserklärungen, die dieser aufgrund seiner Autoritätszuschreibung sogar abgibt. Dabei entgleist Luther durch das gestische Andeuten seiner politischen Motivation ungewollt in Mehrdeutigkeit. Doch auch Kohlhaas versteht sich schlecht auf Mehrdeutigkeit, sei sie von ihm vorgefunden oder von ihm erzeugt, wie die apokalyptische Poetisierung von Rache und Rebellion. Letztlich lassen sich die Konflikte der Erzählung weder durch einen Rekurs auf Luther als ‚Sprachereignis‘ noch durch einen fiktionalen Helden der Vereindeutigungsverweigerung lösen. Kleist führt die Konflikte mithilfe der ihm eigenen poetischen Souveränität in die Katastrophe. Am wenigsten erscheint Kleists Luther als „Lehrer der deutschen Nation“ oder gar als „Mitreformator des ganzen aufgeklärten Europa“, wie Herder sich ausdrückt. Der Wittenberger Reformator erfreut sich in der Novelle großen Ansehens als Gutachter in politisch-ethischen Streitfällen; man kann in ihm sogar, Kohlhaas’ Autoritätszuschreibung eingedenk, die höchste geistliche Autorität der Evangelischen erkennen, doch der Zug von Herders ‚praeceptor‘ ins Internationale oder auch eine in die Erzählung absichtsvoll hineingedichtete Wirkungsgeschichte fehlen völlig. Sie fehlen aber nicht zufällig. Bleiben Spuren des ‚propheta‘ und des ‚Sprachereignisses‘ im dekonstruktiven Zugriff gerade   Vgl. anders Klopstocks erhaben verstandener Lakonismus.

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3.5  Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘

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noch erkennbar, kann Kleist Luther als Lehrergestalt schlechterdings nicht brauchen. Zu viele Handlungselemente würden durch Luther als kulturbringenden Befreier des Vernunftgebrauchs entfallen: Im Spiel der Affekte könnten gewaltsame Vereindeutigungen und versehentliche Mehrdeutigkeiten nicht durch einen affektregulierten ‚praeceptor‘ bezeichnet werden. Sodann würde der geistliche Antagonismus zwischen Kohlhaas’ gottunmittelbarer Rebellion und Luthers heftiger Abneigung gegen politische Apokalyptik nicht funktionieren. Im Verzicht auf Luther als ‚praeceptor Germaniae‘ steckt freilich auch ein Werturteil über eine gewisse Beschränktheit des Reformators. Die Triftigkeit von Kleists Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik ist historisch nicht von der Hand zu weisen, wenn man an die längst erfolgte Relativierung der Bedeutung Luthers für das reformatorische Gesamtgeschehen oder an die neuere rezeptionsgeschichtliche Lutherforschung denkt.372 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert die historische Sachhaltigkeit der Erzählung jedoch immer nur als Korrektiv der wichtigeren systematischen Funktion des dekonstruierten Luther für das ‚nation building‘. Kleist überprüft und verwirft die nationale Luther-Topik mithilfe seiner Reduktion der Lutherfigur auf das Amt und den engen Wirkungskreis, doch im Zuge dieses Verfahrens geht am dritten erzählerischen Wendepunkt eine Pointe auf. Nachdem sich die öffentliche Stimmung in Kursachsen zunächst bis zum Lynchversuch gegen den Junker von Tronka kehrt und für Kohlhaas ausschlägt, wendet sie sich anlässlich eines zufälligen, von Kohlhaas unverschuldeten Aufruhrs gegen den Rebellen.373 Das Substrat einer potentiellen Nation, die Volksmasse, erscheint an diesem erzählerischen Wendepunkt wankelmütig und unzuverlässig, die Masse erträgt weder den feudalen Druck noch die revolutionäre Befreiung. Manche Teile des Volks sind affektiv auf Kohlhaas’ Seite, halten aber still, während ein Haufen zusammengelaufener Söldner und Abenteurer in seinem Namen, aber gegen seinen Willen das Land unsicher macht. So gerät Kohlhaas, inzwischen dank Luthers gutachterlicher Vermittlung mit der bürgerlichen Schlichtung seines Streitfalls befasst, angesichts der empörten Massenaffekte in eine Lage, in der ihn eine staatskluge Intrige seiner Gegner in Haft befördert. Luthers Vermittlungsversuch wird von den Hofintriganten als von einer falschen, veralteten Rechtsvorstellung irregeleitet abgetan. Kleist unterstellt damit der Reformationszeit eine frühabsolutistische Tendenz zu höfischer Machtkonzentration mit einem Abtun von Ständerechten, in das er die politische Unfrei-

372   Vgl. schon Ernst Troeltschs Kritik an der junglutherischen Aktualisierung eines seinen Zeitgenossen ‚unbekannten‘ Luther; vgl. weiter den Diskussionsband Hamm et. al.: Reformationstheorien; vgl. zur Rezeption Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hg.): Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002. 373   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 58–65.

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

heit des Dritten Standes hineinlegt. In der Erzählhandlung unterscheidet man nun zwischen Kohlhaas’ Rechtssache gegen von Tronka und seinem Aufruhr, als ließen sich diese Momente derselben moralischen Handlungsenergie unschwer voneinander trennen und damit vereindeutigen.374 Aus der Geschichte verabschiedet ist Luther mit dieser rechtlichen Vereindeutigung nicht. Als Kohlhaas schließlich zum Tode verurteilt auf die Exekution wartet, lässt der Reformator dem Verurteilten durch einen abgesandten Geistlichen das einst verweigerte Abendmahl reichen.375 Ohne selbst in Erscheinung zu treten, spricht Luther mit einer Geste. Diesmal kommt er jedoch auf den Unversöhnten zu und bietet ihm eine Form an, die Mehrdeutigkeit seiner Lage zu ertragen. Kohlhaas hatte für dieses Entgegenkommen zwar durch die Auflösung seiner Truppe und seinen Gang nach Dresden die Bedingungen geschaffen, doch affektiv ist es bedeutsam für ihn, das Abendmahl als Geste Luthers zu empfangen. Der Sakramentsempfang kräftigt aber nicht nur Kohlhaas’ Gewissen, sondern bewirkt eine diskursive Veränderung in der Erzählung. Die Gewährung des Abendmahls als Zeichen göttlicher Gnade durchbricht den Rechtsdiskurs.376 Wie auch in ‚Prinz Friedrich von Homburg‘ wird durch eine moderne Rechtsdiskussion hindurch juristisch ‚unmögliche‘ Gnade für einen Rebellen gesucht. Das Zeichen der Begnadigung in ‚Prinz Friedrich von Homburg‘ und die sakramentale Realpräsenz der Gnade in ‚Kohlhaas‘ stärken eine konfessionelle Lesart mancher Figuren Kleists. Die Zeichensprache der Konfessionskultur steht demnach keineswegs für eine überlebte Ordnung, sondern für ein Transzendieren von Katastrophen, die aus rechtlicher, ethischer

374   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 52: Ein Verwandter des Junkers von Tronka unterscheidet Kohlhaas’ Rechtssache, für die er freies Geleit erhalten habe, von einer Amnestie für dessen Selbstjustiz, „zwei Rechtsbegriffe, die der Doktor Luther [.  .  .] zu verwechseln scheine.“ 375   Dießelhorst: Kohlhase/Kohlhaas, übersieht diese letzte Wendung, obwohl er die hohe Bedeutung der Lutherbegegnung für die Erzählung richtig einschätzt. Beutel: Luther und Kolhase, hält eine historische Spendung des Abendmahls nach den eskalierten Revolten für unwahrscheinlich, da Luther den Ausschluss vom Abendmahl als Mittel der Kirchenzucht gebraucht habe, schließt aber einen früheren Sakramentsempfang als Teil der ‚cura conscientiae‘ nicht grundsätzlich aus. 376   Vgl. anders Frommel: Paradoxie, 368: „Kants Maxime lautet: Man dürfe das Recht nicht um des bloßen Wohlseins willen verletzen. Dem setzt Kleist [.  .  .] die Maxime entgegen, man dürfe die Wirklichkeit des Unrechts nicht um des bloßen Wohlseins im Sinne des geringsten Übels willen akzeptieren. Die Forderung, sich auch in das Unrecht zu fügen, wenn dies unter pragmatischen Gesichtspunkten gesehen klüger erscheint, ist eine in der Logik von Garve liegende Argumentation. Sie wird in Kleists Novelle von Luther vertreten [.  .  .]“. Das kann nur bei völligem Überlesen der theologischen Argumentation behauptet werden. Kleists Luther begründet den Verzicht auf die Vergeltung nicht juristisch oder moralisch, sondern theologisch.

3.5  Dekonstruktion der nationalen Luther-Topik: Kleists ‚Michael Kohlhaas‘

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und politischer Mehrdeutigkeit hervorgehen.377 So verändert sich auch der politische Subtext. Luthers sakramentaler Gruß an den Rebellen macht in der Erzählung nebenher Politik: Zum einen lässt das letzte Abendmahl für Kohlhaas diesen gleichsam in den Himmel wachsen. Dem anfangs individuell motivierten, dann durch eine Fehde für Rechtssicherheit politisch gewordenen Gewalttäter wird am Ende durch die geistliche protestantische Autorität verziehen. Weder Einheit noch Freiheit der Nation sind damit gesichert oder konkretisiert, doch ist die nationale Zukunft mit dem Segen Luthers für einen revolutionären Verlauf grundsätzlich geöffnet. Es gibt zum anderen eine Andeutung der nationalen Zukunft, die angesichts des erkennbaren Aufstiegs Brandenburg-Preußens zur fünften Macht Europas und seiner durch Kleist vindizierten Funktion für die ganze Nation von der Leserschaft mühelos verstanden wird. Damit soll nicht behauptet sein, die ‚translatio‘ einer nationalen Avantgarde an Brandenburg sei Kleists narratives Hauptgeschäft.378 Sie ist jedoch ein Fluchtpunkt für die Ent-Funktionalisierung einer nationalen Integrationsfunktion Luthers. Ein erster Hinweis auf diese Lesart liegt in der Entscheidung des brandenburgischen Kurfürsten, sich Kohlhaas’ Fall anzunehmen. Ein wichtigerer Hinweis ist mit einer in den späteren Erzählpassagen auftretenden weiblichen Figur verknüpft. Eine Zigeunerin, erkennbar als bizarre Wiedergängerin von Kohlhaas’ Frau Lisbeth,379 besiegelt mit einer Unheilsprophezeiung an den sächsischen Kurfürsten den Übergang potentieller nationalpolitischer Macht von Sachsen an Brandenburg. Sie besiegelt diesen Wechsel insofern buchstäblich, als Kohlhaas eine Kapsel mit der für die Leserschaft unlesbar bleibenden, uneröffneten Prophezeiung erhält. Eine letzte sprechende Geste lässt den Revolutionär aus enttäuschtem Gerechtigkeitssinn noch am Richtblock triumphieren: Der sächsische Kurfürst erbleicht, als Kohlhaas eine schriftliche Prophezeiung, die kurfürstliche Linie betreffend, verschlingt,380 und wird die Zukunft seiner Dynastie nie erfahren.381 So verbinden sich Luthers geistlicher Zuspruch und Lisbeths Macht der Liebe zeichenhaft und verschaffen dem Protagonisten affektive Genugtuung. Die Konflikte, deren Anfang er erlitten, deren Eskalation er herbeigeführt und die 377  Ähnlich Kleists Liebesverständnis, das für Widerstand gegenüber den Ambivalenzen der Revolution einsteht. Vgl. Grathoff: Ferne Revolution, 44 f.48 passim. 378  Vgl. Grathoff: Kleist, 67, weist auf die Begründung dieser Lesart durch Franz Mehring hin; vgl. aber Kleist: Katechismus der Deutschen, abgefasst nach dem Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte, Zweibändige Ausgabe in einem Band, 357, zum unpatriotischen König von Sachsen und der Insurrektionspflicht seiner ‚Subjekte‘. 379   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 96 f. 380   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 99.103. 381   Vgl. zur Verschlingung des Texts und zum Verstummen der Zukunft für Kohlhaas’ Gegner Allemann: Dramaturgisches Modell, 43–50.

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

er schließlich wieder erlitten hatte, umgeben ihn zwar weiterhin. Über der Mehrdeutigkeit des politischen, moralischen und rechtlichen Systems, das Kohlhaas mit einer universalen Revolte infrage stellt, weil es ihn infrage gestellt hat, steht jedoch das Zeichen einer besseren Zukunft. Luther aber erscheint in der Dekonstruktion der nationalen Topik unerwartet und klandestin als Zeichen des Übergangs zu einer nationalen Besserung. Diese Besserung liegt allerdings nicht in der Macht von Kleists Erzählen, sie kann ihrerseits nur in deren Zeichen stehen.

3.6  Lutherkonstruktion in patriotischen Selbstentwürfen Die Lutherrekurse zwischen 1750 und 1813 bilden ein weites Spektrum von patriotischen Positionen. Politische und konfessionelle Bezugnahmen kreuzen einander zwischen einer kulturalistischen Entpolitisierung Luthers und einer Aneignung im Zeichen von Revolution. Kein Rekurs beruht auf einer konsistenten, verstetigten und dem Autor selbst transparenten Sicht Luthers und der Reformation. Andernfalls wäre ein Lutherrekurs auch nicht als Element oder Dispositiv im ‚nation building‘ verständlich. Doch auch so stiften die Rekurse – einmal abgesehen von der gemischtkonfessionellen Lage im Alten Reich – kein selbstverständliches Andenken. Luthers Reformation bleibt als rhetorischer Sammlungsort für nationale Freiheit und Einheit prekär. Die Lutherkonstruktionen bilden Ligaturen mit den patriotischen Selbstentwürfen, ja sie haben Systemstellen in publizistischen Strategien und werden zu selbständigen Faktoren neben den patriotischen Absichten. Luther erscheint als Projektionsfigur auch für den individuellen publizistischen Erfolg unwiderstehlich. In diese Dispositionen wird der Patriotismus hineingezogen. Deutlicher als die konfessionelle Semantik in der vorwegnehmenden Institutionalität (§  2.) dient die Luther-Topik der auctorialen Selbstreflexion. Die publizistische Lage entspricht der unklaren Lage der Nation, genauer: der politisch kaum mehr oder noch nicht vorhandenen Nation. Am Schnittfeld von publizistischer Selbstimagination und imaginierter Nation gerät das Christentum in eine eigentümlich mehrdeutige Lage, da sich die patriotischen Literaten mit dem Lutherrekurs einerseits ausdrücklich im konfessionellen Kontext verorten, damit aber andererseits ein auf den zweiten Blick höchst flexibles, geradezu schillerndes Phantasma schaffen. Nationsentwürfe mit Luther als muttersprachlichem Einigungsereignis und als Index eines reformationsbedingten Freiheitsethos brechen sich an den Funktionen des Lutherrekurses für eine individuelle Autorenschaft. Zur Verallgemeinerung dieser individuellen Vorgänge kann man das Theorem einer Nationalisierung der Religion zum Gedanken einer Nationalisierung der Konfession abschwächen. Damit wird der Konfessionalität des patrioti-

3.6  Lutherkonstruktion in patriotischen Selbstentwürfen

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schen Lutherrekurses Rechnung getragen, die ein härteres Kriterium für die Nationsbildung bietet als die vielstellige semantische Zirkulation christlicher Überlieferungselemente in der Nationalcharakterdebatte. Mithin steht der Wittenberger Reformator nicht für eine christliche Fundierung des Patriotismus im Allgemeinen, sondern für ein besonderes Verhältnis von Protestantismus und Nationsbildung. Andererseits stellt der Gedanke einer nationalen Ausweitung konfessioneller Semantik gegenüber dem Säkularisierungsmodell ein Theorem dar, das nur sektorielle Geltung beansprucht. Es kann und will nicht sämtliche Übergänge zwischen Protestantismus und Patriotismus erklären. Was für den Lutherrekurs ermittelt wird, gilt nicht für schlechterdings jede patriotische und politische Semantik. Immerhin führt die Luther-Topik zur nationalen Ausweitung der Konfessionskultur. Die publizistischen Selbstentwürfe lassen entgegen eingefleischten Erwartungen an die seit 1750 entstehende ‚Kulturnation‘ Spielräume für politische Konstruktivität. So wird patriotische Diskursivität als Reformationsfolge schon in Mösers Apologetik thematisiert. Herder wandelt diese Reflexion in seiner Metahistorie ab und verbreitert die Untersuchungsbasis. Klopstocks und Cramers revolutionäre Bestimmungen der Reformation erweisen sich zusammen mit Kleists dekonstruktiver Thematisierung der prophetischen Funktion Luthers als politisch sehr entschieden. Ein Fragen nach politischer Freiheit findet sogar in Arndts zwiespältiger Luthermimesis statt. Militärischer Egalitarismus und ekklesiomorphe Befreiungspolitik brechen sich indes an der Verinnerlichungstendenz von Arndts Nationsverständnis. Insgesamt kann man feststellen, dass der Lutherrekurs kein reines Kulturmonument konstruiert. Der politische Sinn für Bürgerfreiheiten im nationalen Leben geht nur selten und bei keinem Autor gänzlich verloren. Punktuell erscheint Luther als Gewährsmann nationaler Einheit auf Kosten von Freiheit: Mösers kleine Apologie von Luthers einheitsstiftender Ordnungspolitik will lediglich Voltaires Vorwurf der Zwietrachtstiftung entkräften; und Kleists Luther lässt Kohlhaas das Abendmahl reichen, damit ein Gnadenzeichen über dessen unmenschlich gewendeter Freiheitsrevolte aufgeht. Kleist macht über dem Trümmerfeld des politischen Partikularismus und seiner Rechtswillkür eine mögliche gesamtdeutsche Zivilität sichtbar. Die tiefste Fundierung Luthers im nationalen Diskurs erfolgt durch die Sprachthematik. In der nationalen Selbstthematisierung der Intellektuellen und ihren sprach- und bildungsreformerischen Gedanken spiegelt sich ein sehr re­ ales Sprach- und Literaturdefizit. Die nationalliterarischen Bestrebungen seit etwa 1750 haben unmittelbar politischen Sinn. Der Rekurs auf Luther als ‚Sprachereignis‘ repräsentiert die von einer Nationalliteratur erhoffte Einheitsstiftung. An der Selbstverpflichtung patriotischer Literaten auf die Luthersprache ist resümierend die Vielfalt der rekursiven Verfahren hervorzuheben. Dies kann

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

durch eine exemplarische Kontrastierung von Klopstock und Arndt geschehen. Klopstocks Rivalität mit Luther als Sprachmuster verbindet ihn formell mit Arndts assimilatorischer Aggression. Dennoch weichen die Ziele der jeweiligen Bezugnahme auf die Luthersprache und ihre Artifizialität deutlich voneinander ab. Klopstock bestätigt Luther als nationsbildendes Muster, um mittels ‚heiliger Poesie‘ eine der Lutherbibel vergleichbare Homogenisierung der Nationalsprache zu erreichen. Arndt nutzt dagegen Luthers Geltung als Muster, um mittels direkter Imitate konkrete nationalpolitische Zwecke zu verfolgen. Der ‚Messias‘ bildet die innere Vielfalt und die Befreiungserfahrungen der im Entstehen begriffenen Ekklesia ab. Beide werden der poetologischen Gemeinde in zweiter Linie zur Nationsbildung vindiziert. Dabei erscheint ein kultisch bestimmter Exklusivismus als Gegensatz sowohl zur wahren Religion als auch zur literarischen Belebung der Nation. Demgegenüber appellieren Arndts Lutherimitate an eine in der Nation vermutete Brüderlichkeit, um für den nationalen Befreiungskampf affektive Residuen freizusetzen, die, man weiß nicht wie, in eine politische Nationsbildung weitergleiten sollen.382 Während Luther als Bezugsfigur von Klopstocks ‚heiliger Poesie‘ außerhalb der poetischen Semantik bleibt, ist er in Arndts Mimesis aufdringlich präsent. Obgleich man beide Lutherrekurse klar unterscheiden kann, bleiben sie aufeinander bezogen. Der erhoffte Effekt aus dem jeweiligen publizistischen Selbstentwurf auf die Nationsbildung verbindet die grobe Appellstruktur von Arndts ‚Eine feste Burg‘ mit der diskreten Affektkultivierung des ‚Messias‘. Beide Texte lassen, wie Herder von Klopstock sagt, einen ‚Patriotismus für die Religion‘ zirkulieren.383 Diese Zirkulation verstrickt Selbstentwurf und Nationsentwurf unauflösbar miteinander. Die Bestimmung der Funktion von Luther-Topik für das ‚nation building‘ muss daher, wie geschehen, aus der doppelten Perspektive von Selbstimagination und nationaler Imagination vorgenommen werden. Herders Position hebt sich am deutlichsten von den übrigen Lutherkonstruktionen ab. Die in eine theologische Metahistorie des Nationalen übergehende reformatorische Selbstimagination trägt die Ambivalenz dieses Autors gegenüber dem Patriotismus aus. Für diese Deutung sprechen die beim – noch – früheren Herder erweisliche Ambivalenz, aber auch Luthers Umgestaltung zum ‚praeceptor Germaniae‘ in Herders Weimarer Zeit. Herder gehört also nicht schlechtweg unter die Mutationen der Geschichtstheologie und ihrer imaginativ über Leichen gehenden Sinnstiftung. Allerdings vollzieht auch Herder eine nationale Ausweitung des Protestantischen, indem er das nationale Dispositiv mit einer Metarhetorik der Schöpfung 382   In anderen Texten wird Arndt sehr viel konkreter, wie seine Schriften zur Abschaffung der Leibeigenschaft bzw. zum Bauernstand zeigen. 383   SWS I, 276.

3.6  Lutherkonstruktion in patriotischen Selbstentwürfen

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und Providenz zu zähmen sucht. Die Kombination ist nur auf protestantischem Boden möglich. Luther erscheint zwar nicht vordergründig im Zuge einer Vereinheitlichung intranationaler Kulturvielfalt oder einer Repräsentation von Freiheitsoptionen. Doch bezeugt die Auffassung Luthers als eines Affektverstärkers von Zeitgeist auf den zweiten Blick die Bedeutung des Reformators für den Fortgang der nationalen Kultur. Luther erscheint als Exempel für die schöpferische Bildsamkeit und Gestaltungsmacht des Individuums im Gefüge der kulturellen Offenbarungshöhen des menschlichen Gesamtlebens. ‚Auch eine Philosophie der Geschichte‘ ist daher keine Episode im Durchgang zu einer immer reiferen Geschichtssicht. Vielmehr muss dieser Text als Ligatur einer protestantischen ‚historia sacra‘ mit aufgeklärter Universalgeschichtsschreibung gelesen werden. Die nationalen Kulturen sind in dieser Ausgabe vom ‚Buch der Geschichte‘ gleichsam die rubrizierten Initiale: Der Nationsbegriff erfreut sich konstitutiver Offenheit und Ergänzungsbedürftigkeit. Die Lutherkonstruktionen patriotischer Literaten wurzeln tiefer als nur in konfessionellen Reminiszenzen – sie wurzeln in konfessioneller Lebendigkeit. Selbst Kleists Distanzierung von Luther als einer nationalen Integrationsfigur bleibt der Konfessionskultur verpflichtet. Die sakramentale Kommunikation zur affektiven Genugtuung des am ‚fiat iustitia‘ ungerecht gewordenen Revolutionärs verweist inmitten moderner Mehrdeutigkeit auf elementare humane Bedürftigkeit. Die auf ihr geistliches Amtshandeln reduzierte Lutherfigur bedeckt diese Blöße am Ende von Kleists Erzählung wohltätig. Im Haften an der Lutherfigur und der Funktion des Protestantismus für die neuzeitliche Freiheitsgeschichte sind sich alle Selbstentwürfe patriotischer Literaten einig. Diese Einigkeit bedeutet allerdings nicht, dass die patriotischen Lutherrekurse eine einheitliche Normativität für patriotisches Handeln hervorbringen. Vielmehr imaginieren sie eine Norm und stellen dann Abweichungen her. Das ‚nation building‘ zehrt das symbolische Kapital der Luthertopik auch auf. Die Spätfolgen zeigen sich bei Arndt. In dem Gedicht ‚Zu Martin Luthers 300jähriger Todesfeier. Frühlingsmond 1846. An die Protestanten‘ zerfällt das Bild vom geistlichen Freiheitskämpfer und sprachlichen Einheitsstifter in die Scherben eines großdeutsch politisierenden Konfessionalismus. Nachdem Arndt im Gedicht schlaffe Zeitgenossen vor der Beschwörung von Luthers starkem Geist gewarnt hat, meldet sich dieser als „Prophetenstimme“ selbst zu Wort, um die Epigonen zu fragen, ob sie das von ihm erworbene „Erb’ und Recht des tapfern Wortes,/[.  .  .] des goldnen Freiheitshortes“ auch gut bewacht hätten. Doch nun werden weder die politische Bedeutung der mit Luther konnotierten Freiheit noch die Kulturbedeutung seines Sprachumgangs ebenbürtig entfaltet. Stattdessen fordert antikatholische Polemik, „die rechten Lanzen/Für Gott und Recht und Vaterland“ zu brechen, während Antirationalismus „Menschenwitz und Satanslist“ gegen das wahre lutherische, im Gedicht unbestimmt

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§  3 .  Muttersprache, Luthersprache: Die Nation und der Reformator

bleibende Christentum eintauschen will. Arndts Luthergedicht wirkt wie ein patriotisch gewendeter protestantischer ‚Syllabus‘. Wenn in Arndts Text der Reformator schließlich in die Gruft zurücksinkt, ist es, als würde die imaginative Kraft des patriotischen Lutherrekurses endgültig vermodern.

§  4.  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen An den Lutherkonstruktionen hat sich auch gezeigt, wie wandelbar und provisorisch patriotische Imaginationen zwischen 1750 und 1813 sind. Von einer säkularistischen Nationalisierung der Religion kann nicht die Rede sein, schon gar nicht im Sinn einer Entchristlichung. Dafür sind der konfessionelle Einschlag in Nationsentwürfen zu stark und die Vorstellungen von nationaler Einheit und Freiheit zu uneindeutig.1 Diese Einschränkungen dürfen jedoch nicht zu einem apolitischen Verständnis des Patriotismus im 18. Jahrhundert führen. So haben Klopstocks poetologische Verfahren zur Herstellung nationaler Integrität immer auch politische Implikationen, während Herders theologische Metarhetorik die Vielfalt politischer Formen in der Bildungsgeschichte nationaler Kulturen aufzeigt. Beide Modelle sind gegenüber einer Deckungsgleichheit von politischer und kultureller Nation offen gedacht. Beide Autoren nutzen ihre konfessionsspezifische Imagination schonend für nationalpolitische Wahrnehmung und Konstruktivität, der Exklusivismus eines strengen ‚Feindbegriffs‘ fehlt.2 Stattdessen üben sie Lernbereitschaft in einem interkulturellen Wettkampf ein, der Regeln hat oder erhalten soll. Das Prinzip der Feindmarkierung kann für die Nationsbildung aber auch hohe Bedeutung haben, wie seit den 1990er Jahren verstärkt herausgearbeitet worden ist.3 Im Zuge dessen ergibt sich für typisierende Denkweisen eine Frühdatierung von expansiven, exklusiven und integralen Elementen des Nationalismus.4 So treten in Zeiten militärischer Konflikte Nationsentwürfe häufiger und 1  Vgl. Gellner: Nationalismus und Moderne, 8–17; Ders.: Nationalismus: Kultur und Macht, 19–31; Anderson: Erfindung, 72–86. 2   Von Feindmarkierung ist hier als Resonanz zu nationalismustheoretischen Erklärungsmodellen die Rede, die mit Carl Schmitts Terminologie arbeiten. 3  Vgl. Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Berlin 1989, 28; Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum; Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992; Fischer: Das ‚Eigene‘; Gellner: Nationalismus und Moderne, 147–167, kritisiert die nationalistische Kulturontologie unter dem Titel: Haben Nationen einen Nabel?; vgl. auch Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt/Main/New York 2004, allerdings konzentriert auf die Zeit seit dem späteren 19. Jahrhundert. 4   Vgl. zur Heuristik Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt/Main 51997, 29–58.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

deutlicher zutage als in Zeiten äußeren (vertraglichen) Friedens.5 Dieser Umstand weckt indes Zweifel an der Friedlichkeit der Friedenszeiten. Setzen sie doch nur den Krieg mit anderen Mitteln fort? 6 Bemerkenswert ist jedenfalls, wie flink die Intensivierung radikaler Exklusivismen während Kriegszeiten vonstattengeht. Dies belegen die kriegsbedingte Verstetigung von Antisemitismus7 oder die wechselseitige Verstärkung der Feindbilder von Deutschen und Franzosen. 8 Selbst in den Auseinandersetzungen um die richtige Art Patriotismus um 1750 ist die Bedeutung insbesondere des Siebenjährigen Krieges offensichtlich. Später setzen weite Teile der deutschen Intelligenz auf politische Vereindeutigungszwänge und angebliche Freiheitschancen militanter Ausnahmezustände, während ein schwieriger Literat (und Bürger) wie Kleist seine Haltung zum Revolutionskrieg mehrdeutig codiert. Im abschließenden Untersuchungsgang wird die konfessionelle Semantik in der kriegsbedingten Nationsbildung untersucht – explizit, denn implizit ist dies ja schon verschiedentlich Thema gewesen. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass eine Sakralität der In- und Exklusionen im militanten ‚nation building‘ von konfessioneller Semantik gesteuert wird. Sakralisierungen zeigen sich nur in Gestalt konfessioneller Deutungsmuster und Darstellungsformen. Die geschichts- und kulturwissenschaftliche Rede von Religion und Nation ist christentumstheoretisch zu korrigieren. Die Textauswahl erfolgt primär nach Genre, sekundär autorenbezogen – wegen der immensen Stoffmasse folgt sie außerdem den Linien der bisherigen Erörterung. Interpretiert werden die sakralen Dimensionen von Hermannsdramen, die Affektkultur in patriotischer Lyrik und Kriegslyrik, Militärkatechismen und, als Muster für eine gleichzeitige Nationalisierung des Christentums und Konfessionalisierung der Nation, Arndts ‚Geist der Zeit‘. Am Ende zeigt sich einmal mehr, dass die patriotische Zirkulation konfessioneller Semantik in teleologischen Metaerzählungen nicht zu fassen ist.

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung Gerade weil die Hermannsüberlieferung auf den ersten Blick kaum Christliches erwarten lässt, ist sie für die Erörterung der patriotischen Zirkulation konfessi  Dörner: Politischer Mythos, 111 ff., weist auf die Bedeutung der Geschwindigkeit nationsbildender Faktoren hin. Krieg überflügelt Reformen auch im Medium der Phantasie. 6  Vgl. Michel Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht. Vorlesung vom 7. Januar 1976 [Collège de France], in: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 55–74, hier 71 ff. 7  Vgl. Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, hier 47 passim.181 passim. 8  Vgl. Jeismann: Vaterland der Feinde, 374 passim. 5

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung

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oneller Semantik interessant. Die literarischen Experimente mit dem Cherusker scheinen einen dezidiert vor- oder nebenchristlichen Patriotismus bilden zu wollen. In den Texten finden sich jedoch sakrale Ordnungskonzepte für die kriegsbedingte Nationsbildung, die konfessionelle Vorstellungen von Göttlichkeit und Heiligkeit erkennen lassen. Daher besteht die Nagelprobe für die Interpretation dieser Quellen darin, ihre tatsächliche Distanz zu konfessionellen Subtexten des Patriotismus zu prüfen. Die Aktualität der Hermannsüberlieferung für das 18. Jahrhundert beruht auf der Suche nach neuen Quellen nationaler Selbstvergewisserung.9 Ein Grund für diese Suche sind Zweifel an der Eignung christlicher Narrative für die deutsche Nationsbildung. Die beginnende historische Bibelkritik verstärkt diese Zweifel. Das ‚Orientalische‘ an der biblischen Überlieferung ist im deutschen anders als im angloamerikanischen Protestantismus nicht in einer Politischen Theologie der ‚Chosen People‘ absorbiert, weshalb es weniger Immunität gegenüber historischer Kritik und Entfremdungsgefühlen besitzt.10 Jedenfalls konnte die Hermannsfigur als das Versprechen eines Neuanfangs nationaler Imagination aufgefasst werden – nicht zuletzt waren die germanischen Wälder auch durch Montesquieus These zur Herkunft der englischen politischen Prinzipien theoretisch geadelt worden.11 An den Schnittstellen von Nationalcharakterdebatte und Literaturdiskussion wird man etwa zu der Zeit, als James MacPherson unter dem Titel ‚Fragments of Ancient Poetry‘ seine fingierte Ausgabe der Lieder und Sagen des irokeltischen Sängers Ossian vorlegt,12 auf die altgermanische Tradition aufmerksam.13 Gegenüber dem biblisch-christlichen und griechisch-römischen Fundus für den Patriotismus bietet sie den Reiz nationaler Besonderheit und stellt eine unverbrauchte Projektionsfläche dar. Sie wird gleichsam zur dritten politischen Topik. Außerdem passt der wilde Chic germano-keltischer Phantastik zur ästhetischen Ablösung von den frankophilen Gottschedianern.14 Während die Begeis  Vgl. zu historischem Hintergrund und Rezeption Tillmann Bendikowski: Der Tag, an dem Deutschland entstand. Die Geschichte der Varusschlacht, München 2008. 10   Die Klassik sucht Ersatz in der griechischen Phantasiereligion, die Romantik im kosmopolitisch imaginierten christlichen Mittelalter, beide im Modus des beklagten Verlusts. 11   Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, 228: „Dieses System ist in den Wäldern erfunden worden.“ 12   [Erstausgabe] Edinburgh 1760. 13   Vgl. zur Rezeption durch Klopstock und den Göttinger Hain sowie zur Mischung von Keltischem mit Germanischem den Textband von Annette Lüchow: Klopstock und der Göttinger Hain, Hamburg 1995; Dies.: ‚Die heilige Kohorte‘. Klopstock und der Göttinger Hainbund, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Grenze der Epochen, 152–220 [Quellenanhang ab 193]. 14   Dabei geht es nicht um einen Gegensatz zur rhetorischen Dichtungsauffassung, sondern um verschiedene rhetorische Poetiken. Der Streit kristallisiert sich an Klopstocks Dichtung und Poetik. Vgl. das Nachwort von Hans-Joachim Kertscher/Günter Schenk (Hg.): Georg Friedrich Meier. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in drei Teilen, Teil  2 : Der ‚kleine Dichterkrieg‘ zwischen Halle und Leipzig, Halle 2000, 173–212. 9

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

terung für keltische Barden bald sinkt15 bald wiederauflebt,16 hat die Hermannstopik in der deutschen patriotischen Gebrauchskunst hohe Kontinuität.17 Aus der Warte des patriotischen Diskurses erfüllt der Cherusker entscheidende Kriterien für eine nationale Integrationsfigur: Er kombiniert Einheit und Freiheit durch erfolgreiche Militanz. Außerdem erleichtert die frühzeitliche Verortung Projektionen. Möser formuliert poetologisch einsichtsvoll, man nehme an einem frühzeitlichen Helden „die Rauhigkeiten“ der individuellen Oberfläche nicht so wahr wie bei Figuren der gut dokumentierten Geschichte.18 Eine vom Altertum verschattete Heldenfigur verstetigt demnach die gedachte Ordnung der Nation am besten, und sie leistet dies insbesondere im Drama. Hermann dient auch in der Lyrik, in Journalen und geschichtlichen Schriften als Projektionsfläche für das ‚nation building‘, das Drama als Form verfügt jedoch über komplexe Entfaltungsmöglichkeiten insbesondere im Blick auf Konflikte um die Nationsbildung. Gegenüber der Erwartung, mit der Lösung des Handlungsknotens ein Erlebnis universaler Humanität zu erwirken,19 sind viele Hermannsdramen geradezu politisch interessengeleitet. Schwächer formuliert: Sie folgen einem rhetorischen Dichtungstyp, der Affekte politisch-ethischen Zwecken zuordnet und konkrete Handlungsimpulse erzeugen will. Aus der großen Zahl (musik)dramatischer Bearbeitungen der Hermannsüberlieferung werden im Folgenden Justus Mösers ‚Arminius‘ (gedr. 1749), Klopstocks erstes von drei Hermannsdramen, ‚Hermanns Schlacht‘ (gedr. 1769),20 und Heinrich von Kleists ‚Die Hermannsschlacht‘ (entst. 1808) herausgegriffen. Klopstock gestaltet das Kriegsgeschehen in archaisierender Sprache als sakrale Gründung nationaler Einheit. Während sein ‚Bardiet‘ ein nationsbil Vgl. Weber: Lyrik, 131 f.137.   Letzteres vor allem in der Englischen Romantik, vgl. aber auch bei Kleist die Widmung zu Prinz Friedrich von Homburg, Zweibändige Ausgabe in Einem Band, 629. – Anderson verweist für England auf das Phänomen Tolkien. Vgl. Anderson: Erfindung, 218. 17  Vgl. Dörner: Politischer Mythos, hier 128–136; vgl. mit Interpretationen zu Tacitus, Schlegel, Klopstock, Kleist und Grabbe Gesa von Essen: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998. 18   Möser in der Vorrede zum eigenen Drama SW IX, 202 f. – Vgl. Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden, in: Aufklärung 4 (1989), 75–103. 19   Vgl. klassisch Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen [1792], in: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, hg. von Klaus Hammer, Geschichte des deutschen Theaters, Dokumente, Berlin 1968, 445–456. Die moralische Zweckmäßigkeit durch die in Schmerz und Vergnügen geteilte Rührung zu erkennen, macht die ‚Lösung‘ aus. Vgl. zur Komplementarität Goethes und Schillers im Universalismus der dramatischen Konfliktlösung Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München 2008, hier 35–52; weiter zur Übersicht Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 21999, 143–164. 20   Vgl. weiter Hermann und die Fürsten (1784) und Hermanns Tod (1787). – Klopstocks Interesse am Stoff wird hier nur am frühesten der Bardiete verdeutlicht, da es den Konflikt zwischen sakraler Organisation und charismatischer Freiheit bearbeitet. 15 16

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dendes Theaterritual gestaltet, konzipiert Möser ein Trauerspiel, dessen Katastrophe durch Konflikte zwischen Personen entsteht, die mit soteriologischen Zuschreibungen das Beste für die Nation zu tun glauben. ‚Arminius‘ erscheint neben Klopstocks Bardiet wie ein anspruchsvoller Kommentar zu nationalpolitischen Problemen. Kleists Hermann ‚löst‘ die Konflikte um nationale Integrität mit sakralen Manipulationen, die zur Selbstbarbarisierung führen. Konturlos bleibt die politische Freiheit in der geeinten Nation bei allen. a)  Klopstock: Hermanns charismatische Freiheit von der Sakralordnung Urteilt man nicht von der grausamen Handlung, sondern von der Literatursprache aus, stellt Klopstocks ‚Bardiet‘ von 1769 aus heutiger Sicht die befremdlichste Bearbeitung der Hermannstopik dar. Sie sondert sich vom Konfliktpotential ihrer antiken und neuen Prätexte ab, um in archaisierenden Worten und Gesängen die sakrale Integration der kämpfenden Nation darzustellen.21 Man muss jedoch die Poetik des ‚Bardiets‘ ernst nehmen. Seit dem Erstdruck erleichtern Anmerkungen das Textverständnis. Klopstock verweist darin auf den bei Tacitus und anderen Autoren auftauchenden keltischen Begriff ‚barditus‘, der „mit der Geschichte verbundne Poesie“ meine.22 Die Verwandtschaft von Kelten und Germanen (zu) einfach voraussetzend, erklärt Klopstock den ‚barditus‘ aus lateinischen Quellen zur Form deutscher Nationaldichtung schlechthin. Er stellt fest, „daß der Bardiet die Charaktere und die vornehmsten Theile des Plans aus der Geschichte unsrer Vorfahren nimmt, daß seine seltneren Erdichtungen sich sehr genau auf die Sitten der gewählten Zeit beziehn, und daß er nie ganz ohne Gesang ist.“ Der Kaiser in Wien, 23 dem der Text gewidmet ist, soll wissen, dass die Integration der Nation guter ‚Barden‘ und archaischen Wortschatzes bedarf. Aus dem poetologischen Entschluss zum Bardiet ergeben sich Folgen für die Bearbeitung. Das Augenmerk auf die „Sitten der gewählten Zeit“ erschwert politisch anspielungsreiche Aktualisierungen des Stoffes, doch geben die ge21   Vgl. in diesem Sinn, aber auch mit allzu schlichter Begeisterung Karl Heinz Kröplin: Klopstocks Hermannsdramen in theatergeschichtlicher und dramaturgischer Beleuchtung, Güstrow 1934; Mark Emanuel Amstätter: Die Poetik des Todes in Klopstocks Hermann-Dramen, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Wort und Schrift, 173–185. Amstätter deutet die Trilogie apolitisch: „Es stellt sich nicht die Frage des ‚warum?‘, es gibt auch keine eigentliche dramatische Entwicklung“. Es geht um den Tod des Nationalheros. „In den Bardengesängen materialisiert sich der Tod. Ihre Wortbewegung ist die Verkörperung des Todes.“ (Amstätter, Poetik des Todes, 183) Während diese Deutung zu Recht eine musikalische Dimension der Trilogie herausstellt, kassiert sie zu Unrecht alle im engeren Sinn inhaltlichen Dimensionen von Stoff, Thema und literaturgeschichtlicher Situation. 22   Zitiert nach Friedrich Gottlieb Klopstock: Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne, Hamburg und Bremen: Bey Johann Henrich Cramer 1769. Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Klopstock: Hermanns Schlacht, 138. 23   Vgl. §  2.4 (a).

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sungenen Elemente ein positives Merkmal für die Gestaltung an. Der Gesang von Barden und Chören, angeführt vom Oberdruiden Brenno und dem Oberbarden Werdomar, gehört zur Handlung, wie er zur Praxis germanischer Kriegführung gehört. Dazu trägt auch der in allen 14 Szenen unveränderte Ort der Handlung bei,24 ein Hügel mit Wodansaltar, von dem aus die Eingriffe der Barden erfolgen, an dem sich die Helden treffen, an dem der alte Siegmar und der junge Sohn Werdomars ihren Wunden erliegen. Dieser Altar scheint auf jene metonymischen Altäre des Vaterlandes zu verweisen, auf denen 1813 der tote Körner als patriotischer Märtyrer liegt.25 An diesem Ort versammelt sich patriotische Semantik; es ist vom „Tod der Freyheit“ – lies: für die Freiheit – die Rede, von der Einheit im Kampf und der Opferung gefangener Feinde. Sogar politische Deliberation findet hier statt. Der Wodansaltar verstetigt die sakrale Ordnung der Nation. So nimmt das ‚nation building‘ sakralen Charakter an. In der ganzen Anlage des Bardiet besteht eine erste Pointe zum ‚nation building‘. Die zweite Pointe zum ‚nation building‘ liegt in der Interaktion von sakralem Gesang und Kampfhandlung. Die hohe Bedeutung der ästhetischen und religiösen Virtuosen für die militante Nationsbildung wird durch ihren Anteil an der Handlung und ihre interpersonalen Beziehungen plausibel. Die Barden greifen mit Liedern in die unentschiedene Schlacht ein, lenken, warnen und ermuntern die eigenen Leute.26 Die Beziehungen der Barden zu den Anführern sind eng. Hermanns tödlich verwundeter Vater Siegmar bittet um ein Lied vom Vaterland, doch sollen sich die Barden beim Singen ins Tal zu den Kämpfenden wenden.27 Auch umgekehrt erfolgt die Würdigung:   „Dir singen nach die Barden an Wodans und an Hertha’s Altar, Entgegen dir die Barden Walhalla’s! Ohne deinen Namen wäre den Barden hier, Ohn’ ihn den Barden dort die dankende Saite stumm!“28

Im Diesseits und im Jenseits sind die Barden von den Taten der Helden abhängig, die Helden, so der Subtext, freilich auch von den Barden. Siegmar spricht diese gedeihliche wechselseitige Abhängigkeit sterbend aus: „Ich liebte mein Vaterland! .  .  . ich liebt’ euch auch, und ihr mich!“, worauf ein Barde Siegmar

24   Das widerspricht dem klassischen Prinzip der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. – Vgl. zur Darstellung der natürlichen Umgebung als dem Freiheitskampf korrespondierend von Essen: Hermannssschlachten, 127–134, besonders 129 ff. 25   Vgl. §  4.2 (a). 26   Klopstock: Hermanns Schlacht, 37. – Vgl. zum poetologischen Gegensatz dieser rhetorischen Affektkultur gegenüber Schlegels Hermannsdrama von Essen: Hermannsschlachten, 122 ff. 27   Klopstock: Hermanns Schlacht, 72 passim. 28   Klopstock: Hermanns Schlacht, 75.

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zuruft, sein Name sei ein „Harfentonsname“.29 Barden und Helden verstärken einander die jeweils angemessene Tugend. Werdomar erinnert an diese enge Beziehung in der prekären Kampfsituation: „Barden! Ihr müßt keins der Völker Deutschlands vergessen! Meine Cherusker sinds zwar; die sich vor allen, und in großen Schaaren, dem Tode fürs Vaterland hingestellt haben! Aber auch aus einigen andern Völkern sind nicht kleine Haufen da, diesen edlen Tod zu sterben!“30

Die Barden sichern die Einheit der in Teilvölker zerfallenden und noch im Sieg durch spaltenden Ehrgeiz bedrohten Nation.31 Später wird die affektsteuernde Kraft des Bardengesangs von heimkehrenden Kriegern bestätigt.32 Wie Hermann feststellt, war der Anteil der Barden am Sieg so hoch wie noch nie.33 Auch in der Fassung des Gedichts ‚Unsre Sprache‘ von 1767 wird die gleichzeitige Rettung von Sprache und Nation unterstellt. Die Varusschlacht erscheint als ‚prima causa‘ für die politische und kulturelle Nationsbildung: „Die dich damals mit erhielten, Sprache, da im Forst/Der Weser die Erobererkette versank,/ [.  .  .] sie umhüllt die Vergessenheit mit Nacht.“34 Dieses Vergessen gleicht der Bardiet aus.35 Die sakrale Ordnung in ‚Hermanns Schlacht‘ verweist vor allem auf die Einheit der Nation, doch wird die etwas statutarische Handlung durch Gefährdungen der Einheit unterbrochen. Hermann beendet diese Konfliktsituationen durch charismatisches Außerkraftsetzen der sakralen Ordnung. Offenbar steht der sakralen Einheit der Nation ein charismatisches Freiheitsverständnis entgegen.36 Der erste Konflikt ist leicht beizulegen. Hermanns Schwager Siegmund hat als Priester zwischen den sakralen Ordnungen Roms und Germaniens geschwankt. Er betritt die Szene reuig und bereit zur Sühne durch Einsatz seines Lebens. Nach seiner vormaligen Selbstexklusion aus der Nation will er nun einer vergeltenden Exklusion durch die sakralen Repräsentanten zuvorkommen und sich in die Schlacht stürzen. Verzögert durch Brenno erhält Siegmund die Gelegenheit zu solcher Sühne. Erst gegen Ende tritt er wieder auf, als ein Racheschwur der Germanen gegen künftige römische Eindringlinge verbunden mit   Klopstock: Hermanns Schlacht, 80. Vgl. Arndt zum „Weltname[n]“ Hermann AW 7,

29

93 f.

  Klopstock: Hermanns Schlacht, 59.   Vgl. zum Neid der Fürsten untereinander Klopstock: Hermanns Schlacht, 110, zum Streit um die Adler der besiegten Legionen 126 passim. 32   Klopstock: Hermanns Schlacht, 93. 33   Klopstock: Hermanns Schlacht, 90. 34   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 199 ff., hier 201. 35   Vgl. ähnlich von Essen: Hermannsschlachten, 137 passim. 36   Es gibt zwar keine dramatische Entwicklung, aber doch eine produktive Spannung. Amstätter: Poetik des Todes, entschlüpfen die sakralen Akte im Text trotz Kenntnisnahme mystischer Literatur. 30 31

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einer Ehrung von Werdomars sterbendem Sohn erfolgt. Auch Siegmund will den Knaben küssen, verwehrt es sich jedoch: „Nein, nein, ich bin unter den Römern gewesen!“ Hermann erkennt mit einem Schwur die Sühnung an: „Bey dem Blute, das ich an deiner deutschen Lanze gesehn habe, küß ihn!“37 Das Blut der Feinde sühnt Siegmunds einstige Profanation, er kehrt als wiedergewonnener Freund in die Nation zurück. Angesichts von Hermanns älterem, auf römischer Seite kämpfendem Bruder Flavius ist der Konflikt gravierender. Der gefangene, zunächst unerkannte Flavius behauptet Deutscher zu sein. Brenno belehrt ihn, ein Deutscher, der gegen Deutsche kämpfe, habe sich vom Vaterland – und seiner Familie – ausgeschlossen. Im äußerst verächtlich geführten Streit zeigt sich, dass die Feindschaft zwischen Germanen und Römern überhaupt sakral definiert wird. So versetzt Werdomar, die germanischen Anführer würden Flavius kaum Aufmerksamkeit schenken, während die Welt „das Todesurtheil über drey Legionen [.  .  .] um jeden Altar des Kapitols widerhallen“ höre.38 Die Varusschlacht wirkt sich demnach auf Roms sakrale Ordnung aus, und diese Ordnung betrifft die Welt. Daneben erscheint Flavius bedeutungslos. Nachdem der eifrige Brenno ihm bereits die Lose zur Opferung präpariert hat, rettet Hermann sein Leben. Er will gegen den Widerstand der sakralen Repräsentanten mit seinem Bruder einen reuigen Verräter zurückgewinnen. Der abtrünnige Flavius erkennt die Versöhnungsbereitschaft zögernd an.39 Hermann durchbricht indes nicht nur die sakrale Ordnung, sondern hat auch Erfolg und kann aufgrund seines eigenen Exempels von den „sanften Banden“ des Vaterlands sprechen. Der dritte Konflikt wegen der sakralen Ordnung der Nation betrifft die Gültigkeit der sakralen Feindmarkierung gegenüber den Römern. Dieser Konflikt beansprucht immer wieder Aufmerksamkeit. Er beginnt in der 11. Szene mit dem Auftritt zweier junger, vornehmer Gefangener und endet in der Schluss­ szene. Klopstock scheint ihn zur Problematisierung der sakralen Ordnung komponiert zu haben. Zunächst wird der im Unterschied zu Licinius viel und herausfordernd sprechende Valerius belehrt, er habe am sakralen Ort zu schweigen, statt mit den Gekränkten über gerechten Krieg zu diskutieren. Einmal mehr fordert Brenno die Ordnung ein und markiert den Feind mit Worten. Der „Grundpfeiler“ von Roms Größe sei „Ungerechtigkeit“.40 Der Krieg gegen Rom ist gerecht, da er sich auf Roms Schonungslosigkeit beziehen kann.41 Dieses Urteil bestätigt die brachiale Eindeutigkeit der von den Barden gesungenen Feindmarkierung: „Die   Klopstock: Hermanns Schlacht, 119.   Klopstock: Hermanns Schlacht, 83 f. 39   Klopstock: Hermanns Schlacht, 104. 40   Klopstock: Hermanns Schlacht, 96. 41   Klopstock: Hermanns Schlacht, 108. – Vgl. zur Argumentation im Sinn von Ciceros Theorie des bellum iustum von Essen: Hermannsschlachten, 102–114. 37

38

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Lanze den Römern in die stolze Stirn!/[.  .  .] Die Lanze den Römern gerad’ in das Antlitz!“42 Hermann weist Valerius’ dreistes Zugeständnis, Hermann scheine „ein gerechter Krieger seyn zu wollen“,43 entlarvend zurück: „Mehr als scheinen, Römer! Ihr scheint! Ich bin, und ich will seyn“. Der als Bote geschonte Gefangene soll Augustus ausrichten, die gerechte Verteidigung der äußeren nationalen Freiheit werde fortgesetzt. Das Verhältnis der Feindmarkierungen in ‚Hermanns Schlacht‘ zu einer komplexeren Haltung ist eigenwillig gestaltet und vielleicht nicht ganz ausgewogen. Hermanns beeidetes Kriegsziel ist jedenfalls die defensive Vermeidung der Fremdherrschaft.44 Gegner sind diejenigen Römer, „die kommen werden“45 – bei aller Blutrünstigkeit ein markanter Gegensatz zu anderen Dramen.46 Hermann distanziert sich im Streit mit den Gefangenen von der sakralen Feindmarkierung und bezeichnet dafür sein Herz, also seine Affekte, als Quelle. Er unterscheidet die eigene Feldherrenrhetorik vom Lakonismus römischer Triumphatoren; vor der Schlacht rede er niemals, danach aber „wie mir’s aus dem Herzen zuströmt“.47 Die Herzensmetaphorik bezeichnet die unverstellte Freude am Sieg, aber auch die Quelle der Schonung opfergeweihter Gefangener: „Ich kenne Wodan! und ich weiß, dass er das Mitleid liebt! Und dieß ruft mir mein Herz laut zu!“48 Hermann beruft sich gegen seine eigene Mutter und Brenno, die sakrale Vergeltung fordern, auf seine persönliche Beziehung zum höchsten Gott Wodan. Dieser von Klopstock unter rationalisierender Berufung auf Tacitus als ‚höchstes Wesen‘ der Germanen bezeichnete Gott49 spricht gegen die geheiligte Gewohnheit durch ein heiligeres Gefühl, freilich kein ungefähres, sondern ein aus antiken Dramen wie auch aus der Bibel vertrautes. Dabei ist die Pointe nach al  Klopstock: Hermanns Schlacht, 70.   Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Klopstock: Hermanns Schlacht, 112. 44   Klopstock: Hermanns Schlacht, 92. 45   Klopstock: Hermanns Schlacht, 135. 46   Noch 1794 lässt Klopstock Hermann aus Walhalla den Koalitionskrieg gegen Frankreich nur gutheißen, sofern er nicht als Vernichtung der Revolution konzipiert wäre. Vgl. Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 92 f. – Diesen Gegensatz zu anderen Hermannsdramen unterschlägt Hans Peter Herrmann: ‚Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit‘. Patriotismus oder Nationalismus im 18. Jahrhundert? Lesenotizen zu den deutschen Arminiusdramen 1740–1808, in: Hans Peter Herrmann et. al. (Hg.), Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1996, 32–65, hier 38. 47   Klopstock: Hermanns Schlacht, 98. 48   Klopstock: Hermanns Schlacht, 133. – Gegen Deutungen, die die Versklavung der Römer angreifen, ist hervorzuheben, dass Hermann die germanischen Gefangenenopfer ablöst. 49   Tacitus nimmt einen germanischen Polytheismus mit einer anderen Götter-Hierarchie an. Merkur sei als Wodan der höchste Gott. Er unterstellt aber zugleich eine monistische Glaubensweise. Vgl. die Anmerkungen in Klopstock: Hermanns Schlacht, 138 f. Möser ist hierüber in einer eigenen Abhandlung weit ausführlicher, weil historiographisch interessiert. 42 43

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ler Einheitsbeschwörung überraschend libertär: In Hermanns Person verkörpert sich durch den Sieg eine neue Ordnung, die wie beim charismatischen Durchbrechen der alten sakralen Ordnung verallgemeinert werden soll. Diese neue Freiheitsordnung der Nation ist durch ein Gottesverständnis vermittelt, das die angestammte Sakralität relativiert. Thusnelda singt ihrem Gatten in der zentralen Siegesode die freiheitlich-charismatische Selbstdeutung zu, wenn sie die gefallenen Römer fragt: „Täuscht’ euch ein Gott? und war der Wodan?/Daß ihr, mit diesem Todesgeschrey, sich senken den letzten der Adler saht?“50 Wenn die Frage nicht rhetorisch ist, könnte sie einen anderen, gleichsam unbekannten Gott meinen, dessen Ankunft in der Welt sich durch Roms Niederlage ankündigt. Immerhin bestätigt Hermann kurz darauf dem römischen Kaiser ironisch die Göttlichkeit, verzichtet aber für sich selbst auf dieses Attribut: „Augustus ist ein Gott geworden! Ihm mag Hebe den Taumelsaft in goldnen Schalen reichen. Reicht ihr uns nur das rathschlagende Trinkhorn, Jünglinge! und wir, seine sterblichen Besieger, wollen den Gott nicht neiden!“51

Der römische Staat wäre demnach ein sterblicher Gott,52 besiegt durch Sterbliche, deren Heiligkeit darin besteht, sich keine Göttlichkeit anzumaßen. Sie genießen keinen „Taumelsaft“ imperialistischer Wahnbildung, sondern nutzen das Trinkhorn als erfreuliche Begleiterscheinung politischer Deliberation. Wenn Werdomars Schlussgesang noch einmal Wodans Altäre als Repräsentationsorte der nationalen Ordnung benennt,53 weiß man, dass Roms „Bluttritt“ über die Grenzen nach alter germanischer Sakralität gesühnt,54 diese Sakralität jedoch ihrerseits von Hermanns Freiheitgebrauch überholt wurde. Klopstock bekämpft mit den konfessionellen Andeutungen seines Bardiets den römischen Absolutismus als Blasphemie gegen das höchste Wesen. Sein Nationalheld verändert daher auch die sakrale Ordnung der eigenen Nation. Nur so ergeben die Konflikte um die sakrale Ordnung Sinn: Sie präsentieren einen emanzipatorischen Anspruch gegenüber einer symbolistischen Agentur des politischen Absolutismus.55 Die Anverwandlung der Hermannsüberlieferung durch Bardendichtung ist ambivalent aufgenommen worden. Justus Möser verteidigt sie in ‚Ueber die   Klopstock: Hermanns Schlacht, 107.   Klopstock: Hermanns Schlacht, 109. 52   Vgl. An Cramer, den Franken Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 73 f.: Das Volk erscheint als wilder Riese, sein Geist ist die über diesen Leib erschrockene Nationalversammlung. Klopstock ‚verwechselt‘ gezielt traditionelle Souveränitätsmetaphern. 53   Klopstock: Hermanns Schlacht, 137. 54   Klopstock: Hermanns Schlacht, 133. 55  Mit Dörner: Politischer Mythos, 132 f. Dörner beachtet die sakrale Komponente im Fall Klopstocks allerdings nicht. Der Bardiet ist als lyrisch-dramatische Hybridgattung jedoch nur in Bezug auf die wohlgesetzte Sakralität zu deuten. 50 51

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deutsche Sprache und Litteratur. Schreiben an einen Freund‘ von 1781 gegen Friedrichs II. Abwertung der deutschen Literatur: „Der beste Gesang für unsre Nation ist unstreitig ein Bardit, der sie zur Verteidigung ihres Vaterlandes in die Schlacht singt.“56 Abgesehen von der militärtechnischen Abgehobenheit dieses Vorschlags macht die Zuordnung von ‚Nation‘ und ‚Vaterland‘ jedoch stutzig. Der Bardit ist Satzsubjekt, die Nation, offensichtlich als personale Handlungsgemeinschaft, das Objekt. Der Sinn der poetologischen ‚Aktivität‘ des Bardit wäre dann die Verteidigung des Vaterlandes im Unterschied zur personal aufgefassten Nation.57 Eine genaue Zuordnung ist schwierig, da Möser Preußen hier nicht meinen konnte und ‚das ganze Deutschland‘58 inklusive Habsburg nicht meinen wollte. Diese Unbestimmtheit erscheint jedoch nicht ganz unverhofft, da Möser seine Abneigung gegen Bardendichtung nur ausnahmsweise suspendiert: „Die Dichter mögen [.  .  .] uns in ihren Bardenliedern das warme Blut aus Hirnschädeln zutrinken, es bleibt immer ein müßiges Volk, und unsre Ehrbegierde wird dadurch nicht nach ihrem Verdienste genährt.“59 Der Abstand zwischen einer bürgerlichen ‚Vita activa‘ für die Nation und dem Blutrausch im deutschen Eichenhain ist Möser historisch und ethisch zu groß. Er zweifelt an der Ersetzbarkeit von politischer Form durch sakrale Schwere und bardische Archaismen. b)  Möser: ‚Arminius‘ oder Die Tragödie der deutschen Freiheit Justus Möser aktualisiert die Hermannsüberlieferung in bewusster Nachlässigkeit gegenüber dem Anspruch eines Sittengemäldes. ‚Arminius‘ ist an erkennbaren politischen Konflikten orientiert 60 und frei vom Zungenschlag der (modernen) Barden. Im Gegenteil: Die Germanen reden von Gott, als wären sie getauft. Im Blick auf die Hermannstopik als ein originäres nationales Phantasma ist das erstaunlich. Der offene Gebrauch konfessioneller Semantik wird indes durch die Annahme zurechtgelegt, die Germanen hätten eine natürliche Theologie, eine ‚theologia mystica‘, besessen. So kann das zentrale Politikum im Drama, die ‚deutsche Freiheit‘, konfessionell konnotiert werden. 61   SW IX, 141 f. – Dieses im Rahmen nationalliterarischer Bestrebungen formulierte Urteil sieht in der Bardendichtung zugleich ein hofkritisches Beispiel für Volkspoesie. 57   Vielleicht ist an jenen heimatlichen Bezirk zu denken, den Möser in seinen Patriotischen Phantasien als wahres Vaterland des gemeinen Mannes versteht. Vgl. §  2.3 (d). 58  Vgl. Arndts Des Teutschen Vaterland §  4.2 (d). 59   SW VI, 82. 60   Vgl. dagegen Ulrich Lochter: Justus Möser und das Theater. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts, Osnabrück 1967, 245 ff. 61   Die ‚Rettungsversuche‘ des Arminius-Dramas gegen seine Missdeutungsgeschichte sehen die Darstellung von Familienkonflikten oder das Verhältnis zwischen Individuum und Staat als zentrale Konflikte. Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept, 59 f. Stauf betont völlig zu Recht den politischen Sinn des Dramas. 56

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Mösers ‚Arminius‘ setzt nach der Varusschlacht ein. Sie und weitere militärische Erfolge haben zu einer instabilen Einheit geführt, die sich nun an der Gestaltung der Freiheit bewähren muss. An dieser Stelle beginnen die durch vier Figuren verkörperten Konflikte. Arminius steht vor der Frage, wie er mit seinem Erfolg als Anführer umgehen soll. Seine Ziele sind die dauerhafte äußere Freiheit von Rom und die innere Einigkeit. Die nationale Integrität soll durch einen mit Dammbruchargumenten gerechtfertigten Präventiv- und Expansivkrieg gegen Rom verstetigt werden. Dieser Plan skandalisiert malkontente Fürsten. Sie unterstellen, ein solcher Krieg sei sachlich überflüssig und ein bloßer Vorwand für Armins Erhebung zum König. 62 Armins Ratgeber Adelbert vertritt die Staatsräson eines zentralistischen, aufgeklärten Absolutismus. Er rät Armin zur Rache „in Rom an Rom“63 sowie zum Staatsstreich, der die Einheit der Nation zuungunsten der inneren Freiheit auf Dauer stellt und damit auch eine Stärkung nach Außen bedeutet. Sigest intrigiert bis zum Mord gegen seinen Schwiegersohn Armin, den er als politischen und persönlichen Feind hasst. Sein partikularistischer Machtkalkül lässt Sigest zugleich als thematischen Gegenspieler Adelberts erscheinen. Als typischer Territorialfürst versteht er unter Freiheit nur die Unabhängigkeit von Bindungen innerhalb der Nation, und ganz gewiss keine partizipative politische Freiheit des Volkes. Die ‚Freiheit‘ seiner Dynastie erkauft er zur Not durch Bündnisse mit Rom. Im Gegensatz zu Adelbert und Sigest, die eine je eigene Staatsräson geltend machen, ist Sigests Sohn Sigismund der warmherzige und deontologische Gegner der Staatsräson, der zwischen der Freundschaftspflicht gegenüber Armin und der patriotischen Pflicht zur Verteidigung von Freiheitsrechten hin- und hergerissen die Tragödie der Freiheit verkörpert: 64   „Grausamer Widerspruch! Es will das Vaterland Notwendig deinen Tod; und meine Brust dein Leben. Konntst du, zu harter Gott! ihm nicht ein Herze geben, Das uns so gegen sich, wie gegen Rom beschützt? [.  .  .] O Freundschaft schwäche mich! O Freiheit tritt zurücke! Gott, rette doch den Staat, die Freiheit und Armin!“65

Diese zentralen Verse stellen die Triade ‚Gott, König und Vaterland‘ in Frage. Sie kann nicht bestehen, wenn die nationale Integrität gegen den bewährten 62   Zit. n. Justus Mösers Sämtliche Werke, Band  2, Erste Abteilung. Dichterisches Werk, philosophische und kritische Einzelschriften, bearb. von Oda May, Oldenburg/Hamburg, 132.152. 63   Möser: Arminius, 137; vgl. auch 134. 64   Vgl. mit Stauf: Justus Mösers Konzept, 65, gegen Lochter: Möser Theater, 186 ff. 65   Möser: Arminius, 165 f.; vgl. zum politisch-ethischen Konflikt 164: „Sieh hier der Freundschaft Pflicht und dort der Freiheit Rechte;/Hie einen Freund bekrönt, dort tausend Freunde Knechte.“

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung

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‚Beschützer‘ der Nation verteidigt werden soll oder muss. Sigismunds Zwangslage reflektiert das Dilemma der Gewichtung von Einheit und Freiheit im kriegsbedingten ‚nation building‘. Die Lage der Nation scheint die innere Einigung durch den äußeren Freiheitskrieg unter Armins Führung oder das alternative Vorgehen von freiheitsliebenden Patrioten gegen Armin zu erzwingen. Auffällige Gebetsanreden kennzeichnen die traurige Alternative: Gott hat Arminius Affekte gegeben, die ihn nützlich und gefährlich für die Nation machen, Gott soll auch dem drohenden Affektausbruch steuern. Die vergiftete Quelle von Sigismunds Konflikt ist das Freiheitsverständnis seines Vaters. Sigest zielt unter dem Begriff einer inneren Freiheit der Nation auf sein persönliches Verständnis von „Deutschlands Wohl“, das vom „Überfall Armins“ bedroht erscheint:   „Scheint gleich Gott, Volk und Glück nur bloß für ihn zu kämpfen: So wird doch Recht zuletzt die Bosheit siegend dämpfen. Auf dich beruhet jetzt die Freiheit und mein Ruhm; Erwartend sieht der Staat nach unserm Schluß sich um, Den du erfüllen sollst. Denn für der Freiheit Rechte Zu streiten, bleibt noch stets der Ruhm für mein Geschlechte.“66

Sigests Äußerungen sind intrigante Zuschreibungen, ihre manipulative Rhetorik zeigt sich in einer Ontologie des Neides. Die Unterscheidung einer scheinbaren Begünstigung Armins durch Gott und Volk von seiner wesenhaften „Bosheit“ negiert den vom Volk hinsichtlich göttlicher Huld und Liebe vertretenen ‚syllogismus practicus‘. Und das Urteil wird Armin nicht gerecht, der Bedenken hat, als oberster Potentat die inneren Freiheiten der Nation ersatzlos zu streichen. 67 Sigest wird hingegen durch seinen Sinn für Feindmarkierung charakterisiert, wenn er davon ausgeht, Armins Anerkennung sei „auf den römschen Haß [.  .  .] begründet;/Weil ein gemeiner Haß so sehr als Freundschaft bindet.“68 Sigest kommt trotz der expliziten Königswahl nicht in den Sinn, dass ein politischer Wille des Volkes zur Einheit waltet: „Armin ist unser Herr: ein Herr, der uns gefällt;/Ein Herr, den, wär ers nicht, wir stündlich wieder wählten.“69 Der Missgünstige unterstellt dem Begehren des Volkes Verblendung und Flüchtigkeit, um die Logik der Feindmarkierung behaupten zu können. Die Idee, Armins „Herz durch Güte umzulenken“,70 bleibt Sigest fremd, der die

  Möser: Arminius, 131.   Friedrich II. war empört über den Habsburger Plan, ein Erbkaisertum einzurichten und benutzte für das Wahlkaisertum den Begriff eines gouvernement démocratique. Vgl. Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, 120. 68   Möser: Arminius, 131. 69   Möser: Arminius, 195. 70   So Sigismund. Möser: Arminius, 132. 66 67

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überkommene politische Ordnung jeder anderen Loyalität und Pflicht überhilft:   „Da merk ich kein Gefühl; den Himmel hör ich nicht. Da hab ich keinen Freund, kein Glücke, keine Kinder; Bei dieser heilgen Pflicht wird alles ungleich minder.“71

Sigests Gegenspieler Adelbert scheint wie er den Himmel nicht zu hören, wenn die Realisierung politischer Macht ansteht. Adelbert urteilt vom Desiderat einer zentralen Institutionalisierung der Nation her, weshalb er einen unsentimentalen Blick auf das Ethos aller am Konflikt um die deutsche Freiheit Beteiligten richtet, Armin eingeschlossen. Armins Berater unterstellt Sigest ein fadenscheiniges Ethos „aus selbstgemachten Pflichten“,72 das für den Anfangserfolg der Römerherrschaft verantwortlich war. „Ein Fürst ist uns verhasst; allein die Tyrannei/Von hundert kleinen nicht, die auf einander wüten.“ Adelbert rechnet mit einer Verbesserung der Lage durch einen Oberherrn, dem das Wohl aller „das heiligste[s] Gesetze“73 ist und der als „Knecht des Volks“ handelt.74 Konträr zu Sigest überhöht Adelbert Armins Königtum ideologisch. Darüber hinaus plädiert er zweckrational für eine gewaltsame Beseitigung der Großen der Nation75 und rät für die Nationsbildung sogar zur Nachahmung von Roms Staatsräson: „Mit Blut befäulte Rom vordem den Thron der Erden,/Dem folge.“76 Armin soll dem Muster Roms durch Verhängung des Ausnahmezustands folgen, der ihn „mit Sicherheit/[.  .  .] zu dem Throne führt“. Darüber fühlt er in seiner „Brust die Menschheit sich empören“: Seine persönlichen Tugenden – Güte, Gerechtigkeit, der echte Wille, ‚Knecht des Volkes‘ zu sein – revoltieren gegen das politische Paradox, die Lebensbedingungen für seine Herrschertugenden gewaltsam schaffen zu sollen. Das ist seine Tragik. Armins Wohlwollen gegenüber seinen Gegnern arbeitet seinem Sturz zu:   „Kann meiner Großmut Macht ihr freies Herze rühren; So wird ihr Haß beschämt auch wider Willen fliehn, Und ihr zerknirschtes Herz erniedrigt vor mir knien.“77

Er hält seine Feinde für innerlich frei, doch sie haften an Neid und Partikularinteresse und werfen Armin Einschränkungen vor, die er gar nicht plant.78 Der 71   Möser: Arminius, 180. – Sigest grenzt alle aus, die ihn anzweifeln: die Tochter Thusnelda, den Sohn Sigismund. 72   Möser: Arminius, 161. 73   Möser: Arminius, 163. – Gegenüber Sigismund. 74   Möser: Arminius, 165. 75   Möser: Arminius, 143: „[.  .  .] willst du ungestört der Deutschen König sein:/So muß der Großen Blut den neuen Purpur weihn.“ 76   Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Möser: Arminius, 143 f. 77   Möser: Arminius, 145. 78   Sigest will er mit einem großen Teilreich versöhnen, wie Thusnelde ihrem Vater Sigest, vergeblich um Versöhnung werbend, mitteilt. Vgl. Möser: Arminius, 176 f.

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Wahlkönig unterliegt jedoch nicht nur einer seinen tugendhaften Affekten geschuldeten Fehleinschätzung. Er macht sich einer Anmaßung schuldig, die ihre Entsprechung im Frevel der antiken Tragödie hat, hier jedoch mit konfessioneller Semantik codiert wird. Wenn er sich das ‚zerknirschte Herz‘ der Gegner kniend vorstellt, spielt Arminius die Rolle eines verzeihenden Gottes. Er sagt es selbst zu Adelbert in Abgrenzung von dessen Staatsräson: „Verflucht sei, wer von Gott nur bloß den Donner leiht,/Und nicht auch so wie er dem schwächern Feind verzeiht.“79 Die für einen aufgeklärten christlichen [!] Fürsten wünschenswerte ‚Imitatio Dei‘ wird zum Fallstrick, weil Armin die Göttlichkeit als Anmaßung zugeschrieben werden kann. 80 Diese Zuschreibung hat drei Konstellationen: den Freund, das Volk und den Feind. Der Freund Sigismund unterscheidet zwischen Armin als Mensch und dem Vorhaben des Nationalpolitikers, weshalb er gleich dem Cäsarmörder Brutus sagen kann: „Ich lieb ihn mehr als mich; doch mehr Gott und den Staat“. 81 Sigismunds Freundesliebe sieht in Armin ein menschliches Wesen und unterstellt ihm keine Anmaßung. 82 Sein eigenes Konzept von nationaler Autonomie chiffriert Sigismund mit der Wendung, die Nation solle, „wie Gott, selbsteigner Macht“ vertrauen.83 Die Selbstbegrenzung göttlicher ‚potestas‘ bildet das Muster für jede sich selbst beschränkende nationale Macht. Armin ist allerdings „des Volkes Gott“, wie ihm Sigismund mitteilt, und damit der gefährlichen Zuschreibung in schwer kontrollierbarer Weise ausgesetzt. Unwillig meint Armin, er sei „oft nur gar zu sehr“ der Abgott des Volkes,84 „So wie [.  .  .]/Der durchgeblitzte Mensch aus Angst sich Götter macht“. Die krisenbedingte, angstbesetzte Projektion von gottgleicher Macht auf einen Menschen wird nach Beilegung einer Krise erkannt und belacht. Diese schwankende Macht will Arminius nicht länger. „Wär ich im Kriege Herr: so wollt ich auch im Frieden/Ihr Fürst und König sein“. 85 Doch Armin täuscht sich über die

  Möser: Arminius, 144.   Stauf: Justus Mösers Konzept, 64, und Lochter: Mösers Theater, 175, sehen die Symbolik von Arminius’ Tod als eines bewusst dargestellten Scheiterns der nationalen Einheit zwar richtig, verfehlen aber den tragischen Fehltritt, der eben konfessionell gefasst ist. 81   Möser: Arminius, 163. – Seit der Frühen Neuzeit kommt es, angefangen bei Shake­ speares Julius Cäsar, zu einer differenzierten Sicht auf den in Antike und Mittelalter ein­ hellig verurteilten Brutus. Die Brutusfigur wird mehr oder weniger klandestin zur Trägerin alternativer Konzepte politischer Herrschaft oder politisch-ethischen Handelns. Vgl. dazu Joachim Leeker: Die Ermordung Cäsars im französischen Theater des 16–18. Jahrhunderts im Spiegel der Politik, in: Bauer/Müller: Staatstheoretische Diskurse, 243–271. Mösers Sigismund reiht sich unter die konfliktuösen Brutusfiguren ein. 82   Möser: Arminius, 164 f. 83   Möser: Arminius, 134. 84   Möser: Arminius, 139. 85   Möser: Arminius, 138. 79

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Kraft der Zuschreibung. Der Nimbus des Retters würde ihn begleiten und die Zuschreibung einer erlösenden Macht seiner „Faust“ verstetigen. Sigismund spricht für diesen Fall davon, „der Freiheit heilge Faust“ werde missbraucht. 86 Der Organisator der politischen Nation scheint immer schon einer sakralen Deutung ausgesetzt. Tatsächlich provoziert Armins Verlust bei einem anonymen Deutschen diesen Sprachumgang:   „Untröstbar ist das Volk, seit es Armin verlor. Es stürmt und fürchtet sich, es zürnet, rast und weinet; Als wenn die Sonne ihm jetzt zu ersterben scheinet.“87

Die nationale Integrationsgestalt hat in ihrem Verschwinden einen kosmologischen, auch apokalyptischen Nimbus, wie wenn die Sonne in den letzten Tagen der Welt schwindet. Auch in der zerstückelnden ‚Opferung‘ des Mörders kommt die sakrale Bedeutung zum Vorschein, die Armin als König entgegen seiner Ablehnung gehabt hätte:   „Die wilde Zärtlichkeit zeigt sich in Furcht und Wut; Es [das Volk] opfert dem Armin jetzt seines Mörders Blut, Den tausend Schwerter erst zerfleischet und zerstücket [.  .  .]“. 88

Die dritte Zuschreibung von Göttlichkeit geschieht im Modus totaler Exklusion. Nachdem Sigismund sein Attentat auf Armin im Gefühl einer ihn zurückhaltenden Gottheit abbricht und die Waffe kurz darauf gegen sich selbst richtet, tritt Sigest in die Lücke, die sein Sohn als besserer, den ‚Cäsar‘ schonender Brutus offen lässt. Er selbst versteht sich als ein besserer, den stoischen ‚Freitod‘ meidender Cato. 89 Mit dieser antistoischen Affektbejahung widerspricht er allerdings seiner Auskunft, in Verteidigung der nationalen Freiheit keine Gefühle zu kennen, diametral. Seine Affektbestimmtheit steht dem kühl-besonnenen Wahren von Freiheitsprivilegien entgegen. Der Widerspruch verweist, beabsichtigt oder nicht, auf Sigests Position. Wenn die nationale Rettergestalt Arminius zuletzt als Opfer der Freiheit erscheint,90 hat sich auch Sigest soteriologisch zugeordnet. Diese Zuordnung erfolgt mit einem häufig übersehenen Zitat aus John Miltons seinerzeit vielgelesenem ‚Paradise Lost‘.91 Möser legt Sigest sogar die Zitateinleitung in den Mund:   Möser: Arminius, 167.   Möser: Arminius, 197. – Mit Solarmetaphorik schon Adelbert bei Möser: Arminius,

86 87

137.

  Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Möser: Arminius, 197. – Ein Anklang an das exzessive, an den englischen ‚regicides‘ nach 1660 vollzogene Hinrichtungsritual, das die De­ sakralisierung des Stuartkönigs mit gezielter Profanation der zum Teil bereits verstorbenen Delinquenten vergalt? 89   Möser: Arminius, 187. 90   Und zwar der partikularistisch verstandenen. Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept, 67 f. 91   Vgl. §  3.2 (a). 88

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„Mir gibt ein heilger Ruf die edle Losung ein:/Auf Erden besser frei, als Knecht im Himmel sein!“92 Indem Armins Mörder Miltons Satan zitiert, codiert Möser den Konflikt um die ‚deutsche Freiheit‘ als eine hochgradig ambivalente Angelegenheit.93 Miltons Satan ist eine Figuration politischen Machtgebrauchs ohne ethische Selbstbindung, ein als stuartistischer Reaktionär erkennbarer Rhetor der Revolte.94 Die politischen Implikationen der Figur wurden von der deutschen Leserschaft damals noch verstanden. Doch mit der aufgeklärten Dämonologiekritik schwanden Bereitschaft und Fähigkeit, den Satan in ‚Paradise Lost‘ als Verführer zu deuten und seine Botschaften als lügenhaft zu meiden.95 Der Böse wurde vielmehr, in der Romantik gipfelnd, als heimlicher Held des Epos verstanden.96 Die Doppelcodierung als despotischer Manipulator und Verführer zur Freiheit um den Preis eines Bürgerkriegs macht Miltons Satan als konnotativen Schatten von Sigest äußerst geeignet. Als Satan der Nationsbildung führt Sigest nun das Allgemeinwohl, „das gemeine Beste“,97 und die Freiheit im Munde. Er nennt sie gegenüber gleichgesinnten ‚Peers‘, wie Miltons Satan,98 seinen Antrieb, „das Vaterland zu schützen“. Sigest stattet seine Attitüde mit den terminologischen Requisiten sakraler Dignität aus. Sein Wollen ehre „der Himmel“, von dem er doch behauptet hatte, ihn, also Gebot und Gewissen, in der Not des Vaterlandes zu überhören. Armin, dem ‚Abgott‘ des Volkes, stellt Sigest die Forderung entgegen, „Der Freiheit Gott zu sein“, aber eben nicht einer Freiheit des Volkes. So kann Sigest die Freiheit als das je höhere Gut intendieren, für das man „mindre Pflicht beleidgen“ kann; ein dem Sachzwang der Staatsräson täuschend ähnliches Argument. Vor allem aber schreibt sich Sigest alternative Göttlichkeit zu, beansprucht er im Namen der Freiheit doch Souveränität jenseits autonomer Selbstbindung. Noch als gefangener Aufrührer bestätigt er diese Sicht:

92   Möser: Arminius, 179. – Milton: Paradise Lost, Book I, 263: „Better to reign in Hell, than serve in Heav’n.“ 93   Vgl. zur Ambivalenz von Miltons Satan John Carey: Milton’s Satan, in: Dennis Danielson (Hg.): The Cambridge Companion to Milton.  2nd Ed., Cambridge u. a. 1999, 160– 174; Martin Kuester: ‚Prudent ambiguities‘. Zur Problematik von Sprache und Bedeutung im Werk John Miltons, Trier 1999, 172–186. 94   Vgl. zu Miltons Politischer Theologie nach wie vor Christopher Hill: The Experience of Defeat. Milton and Some Contemporaries, New York/Harmondsworth u. a. 1985, 297–328. 95   Stanley Fish: How Milton Works, Cambridge (Massachusetts)/London (England) 2001, zu Satans verführerischen Verstellungen 49.89.389 f. u.v.ö. 96  Maßgebend William Blake: The Marriage of Heaven and Hell (1793), in: Ders.: Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, Zweisprachige Ausgabe, München 2007, 216. Milton habe nur dann in Freiheit gedichtet, wenn es um Teufel und Hölle ging. 97   Diese und die folgenden Zitate aus Sigests Rede bei Möser: Arminius, 179. 98   Wörtlich Paradise Lost, Book I, 757. Vgl. dem Sinn nach Book I, 247 ff.264 f.315 f.

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  „Der ist sein eigner Gott, wer frei gedenkt und tut; Von angestammter Höh’ Tyrannen kriechen siehet; Sie hebt und wieder stürzt, wenn ihm zu viel geschiehet“.99

Sigests Selbstzuordnung endet im Zeichen des Miltonzitats mit Blutsgemeinschaft und Fundamentalmetaphorik; die vom Redner entfaltete nationale Ordnung ist der   „[.  .  .] geheiligte, mit Blut gelegte Grund, Worauf das Wohl des Staats und unserer Väter stund. Den lasset uns vereint mit unserm Blut verteidgen“.

Indem Sigest nicht nur Armin als Feind markiert, sondern sich selbst mit dem unüberbietbaren Stigma des dämonischen Erzfeindes signiert, bereitet er sein Ende vor. Der Untergang entspricht Sigests purem Machtwillen. Der durch den Gegensatz von Erlöser und Satan konnotierte Konflikt zwischen politischen Freiheitsformen dispensiert Mösers ‚Arminius‘ weithin von ideologiekritischen Zuschreibungen.100 Seine Titelfigur ist als Integrationsgestalt fragwürdig: Armin erscheint durch seine Güte amtsuntauglich im Sinn der Staatsräson, sein Sinn für das Verzeihen als politischer Tugend macht das Amt hinterfragbar. Dennoch bleibt das konstitutionelle Phantasma einer partizipativ ausgeweiteten Königswahl ein ernst gemeintes Wunschbild. Mösers Kunst besteht nun darin, an den Konflikten um die nationale Integrationsgestalt die Unbestimmtheit des Freiheitsdiskurses in der deutschen Nationsbildung aufzuzeigen.101 Das Subjekt dieser Tragödie ist wirklich die Freiheit: „Hat nicht der Staat ein Recht auf unser aller Blut?“102 Diese prognostische Frage trägt die Figur Sigests über die Grenzen des Texts hinaus. Eine anonyme Figur antwortet, man genieße „der Freiheit Früchte“ genug:   „Heißt dieses knechtisch sein: so bin ich auch ein Knecht, Und du bist mehr als frei, wenn alles umzukehren, Der Ordnung Feind zu sein, der Freiheit Rechte wären.“

Die Ideologie der ‚Bewegung‘ und der Aktion bedeutet das Gegenteil allgemeiner Freiheit. Zu ihr gehört unabdingbar Selbstbindung an eine Konstitution und an Gesetze. Sigest erscheint im Schatten von Miltons Satan als ein konservativer Revolutionär, dessen Zügellosigkeit Mösers Skepsis gegenüber vordergründigen Freiheitsparolen zu erkennen gibt.

  Möser: Arminius, 189.  Anders Herrmann: Lesenotizen Arminiusdramen, 44 f.58. 101   Vgl. ähnlich Stauf: Justus Mösers Konzept, 69. 102   Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Möser: Arminius, 189 f. 99

100

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c)  Kleist I: Sakrale Einheit, manipuliert Hermannsdramen gehen von der gewaltsamen Herstellung äußerer nationaler Einheit aus. Dieser Vorgang ist für den patriotischen Diskurs aber nicht gleichbedeutend mit nationaler Integrität, zu der auch ein Ethos der Einigkeit und eine Freiheitsordnung gehören. Freiheit als Teil nationaler Integrität meint im Minimalfall äußere Freiheit von Fremdherrschaft, verbunden mit irgendeiner politischen Ordnung. Der Freiheitsbegriff kann auch konstitutionelle Reformen mit neu verteilten Freiheitsrechten bis hin zur Revolution intendieren. In poetologischer Hinsicht stellen die Feinabstufungen des politischen Freiheitsverständnisses gemessen an der irritationslosen Projektion mindestens der äußeren Einigung auf die nationale Frühzeit eine ungleich größere Herausforderung dar. Kleists ‚Hermannsschlacht‘ zieht aus der Rivalität von sakraler Ordnung und charismatischem Ethos bei Klopstock und aus Mösers Problematisierung von Freiheitsverständnissen extreme Konsequenzen. Kleists Hauptfigur perfektioniert die sakrale Ordnung zur Feindmarkierung und bereitet eine Kriegführung mit dem römisch(-französischen) Barbarenstereotyp als Handlungsmuster vor.103 Dazu gibt es einen aufschlussreichen Wortwechsel, als Hermann seine Gattin fragt, was „der Deutsche in der Römer Augen“ sei.104 Thusnelda hofft, „kein Tier“, doch Hermann versetzt: „Eine Bestie,/Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!“ Für den Sieg werden die Germanen zu diesen imaginativen Bestien, die gegenüber Feind wie Freund Formen der sakralen Schonung verletzen. Unter Hermanns Instrumenten zur nationalen Integration scheint die Auffassung vom Krieg besonders diskussionsbedürftig,105 doch Kleist erfindet hier nur wenig, denkt man an die ‚levée en masse‘ der Jakobiner oder an die spanische Guerillastrategie. Der militärtheoretisch gebildete Kleist sucht die Implikationen der neuen Kriege literarisch zu nutzen und im dramatischen Experiment zu begreifen. Gegen die Prätexte entscheidet Kleist, das überlieferte Scheitern Armins als Erfolgsgeschichte neu zu erzählen.106 Die Nationsbildung wird auf das zeitliche Umfeld der Varusschlacht konzentriert. Kleist zeigt Hermann vor der unausweichlichen Entscheidung zwischen zwei Oberherrschaften. Der Cheruskerfürst erscheint als williger Partner Roms, der zur Sicherung seiner Teilherrschaft und, ‚ad bonam partem‘ gelesen, für die Sicherheit seiner Gefolgsleute den Preis der nationalen Partikularisierung zahlt. Dazu sieht er sich auch durch   Dieses Stereotyp war Möser anstößig und für Klopstock heikel.   Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung Kleist: Hermannsschlacht, 1070 ff. – Zitiert nach Zweibändige Ausgabe in Einem Band  I, 533–628, die Vers-, nicht die Seitenzählung. 105   Herrmann: Lesenotizen Arminiusdramen, 49; vgl. zur nationalistisch-militaristischen Rezeption Dörner: Politischer Mythos, 272–294. 106   Das Stück heißt in der Gattungsbezeichnung unspezifisch Ein Drama, nicht Tragödie. 103

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den mächtigeren Marbod gezwungen, der seinerseits cheruskischen Tribut fordert, während er sich den Römern annähert. In dieser Lage entwirft Hermann einen Plan, der Germanien von den Römern befreit und ihn selbst an die Spitze der Nation trägt. Er schließt ein Geheimbündnis mit Rom, vertreten durch den Gesandten Ventidius, und mit Marbod, dem er die Oberherrschaft anträgt. Hermann bietet Augustus zum Schein seine Loyalität im Gegenzug für die formale Oberherrschaft über das geeinte Deutschland, die ihm Ventidius scheinheilig zusichert. Bedingung des Bündnisses ist die Besetzung von cheruskischem Territorium durch römische Truppen, die Marbod mit den Cheruskern im Rücken entgegenziehen sollen. Zur Sicherung seiner Position setzt Hermann seine unwillige Gattin als Spionin auf den sie begehrenden Ventidius an. Als Hermann seine und Thusneldas Söhne als Geiseln zu Marbod entbietet, um den Geheimbund zu versichern, beginnt die barbarisierende Propaganda.107 Als die Römer im Vorrücken cheruskische Orte niederbrennen und einige Kriegsgreuel begehen, werden diese zur Stärkung der Kampfbereitschaft manipuliert verbreitet. Varus ist indessen froh um das vermeintliche Bündnis mit Hermann, als er aus Rom Nachrichten zur künftigen Annexion Germaniens erhält. Hermanns List ist bestätigt und die Ereignisse nehmen ihren erwünschten Lauf. Marbod erfährt sich von Rom getäuscht, worauf er, die Frage der Oberhoheit offen lassend, den Geheimbund mit Hermann bestätigt. Zu Beginn der Schlacht erkennt Varus noch Hermanns List. Der von Befreiungsparolen begleitete Untergang der drei Legionen endet mit einem Germanien, das um den Preis barbarischer Entheiligungen eine personale Identität gewinnt:   „Kämpf ich auch für den Sand, auf den ich trete? [.  .  .] Wo Hermann steht, da siegt er, Und mithin ist Cheruska da.“108

Kleists Drama ist als ‚Tendenzstück‘ sowohl vereinnahmt als auch abgelehnt worden.109 Die Diskussion, inwiefern das Drama wirklich ‚Tendenzstück‘ sei, 107   Sehr pointiert weist Pierre Kadi Sossou auf die über das ganze Drama ausgebreitete ‚Doppelgängerschaft‘ zwischen Germanischem und Römischem hin. Hermanns Strategie ziele vom Liebesdiskurs bis zu politisch-rechtlichen Fragen gleichsam auf einen Sieg über Rom mit Roms Mitteln. Sossou liest den Text daher auch als Hinweis zur kolonialen Sezession. Vgl. Pierre Kadi Sossou: Römisch-Germanische Doppelgängerschaft. Eine ‚palimpsestuöse‘ Lektüre von Kleists Hermannsschlacht, Frankfurt/Main 2003. 108   Kleist: Hermannsschlacht, 1852 passim. – Im Geheimbündnis zwischen Hermann und Marbod ist eine von Kleist gewünschte Allianz zwischen Preußen und Österreich zu erkennen, zu der es erst später kam. Hermann ist der Preußenkönig, wie er sein sollte: ein politisch listiger Franzosengegner, der an deutschen ‚Verrätern‘ Exempel statuiert. Konstitutionelle Fragen erscheinen wie gebannt vom Kampf gegen die römische, lies: französische Despotie. 109  Vgl. Norbert Miller: Verstörende Bilder in Kleists ‚Hermannschlacht‘, in: KleistJahrbuch 1984, 98–105, hier 98: „Als Tendenzstück verstanden es schon die Zeitgenossen, als Apotheose des teutonischen Furors ist das Drama auf der Bühne und im Essay gefeiert oder

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würde hier auf Kosten der Frage nach dem Befund konfessioneller Semantik gehen.110 Entscheidend für die konfessionelle Signatur des Texts ist das Hervorbrechen von Hermanns Manipulationen mit einer so gewalttätigen sakralen Rhetorik, dass seine Worte in ihrer vorwegnehmenden Kraft Taten gleichen.111 Die sakrale Ordnung der Nation beruht wie bei Klopstock auf der Heiligkeit des Landes,112 das jedoch durch Hermanns Vorgehen desakralisiert wird. Das Zittern geht schon im ersten Akt durch die sakrale Ordnung, als der Cheruskerfürst andere deutsche Fürsten prüft. Sie sprechen von Heiligkeit im Sinn der Schonung ihrer Erblande durch Augustus, die dieser verspricht und dann vertragsbrüchig versagt.113 Darüber wollen sie mit Hermann reden, doch er stellt sich, als wolle er sich Rom unterwerfen.114 Dann verwirrt er seine Gesprächspartner: „Allein muß ich, in einem solchen Kriege, stehn,/Verknüpft mit niemand, als nur meinem Gott.“115 Als er die anderen Fürsten, spöttisch mit ihrem Unverständnis rechnend, in die Guerillastrategie einweiht – „wollt ihr [.  .  .]/Verheeren eure Fluren, eure Herden/Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,/So bin ich euer Mann“ –,116 könnte man denken, er wolle „auf einem Grenzstein, mit den letzten Freunden“ ein heroisches Zeichen setzen.117 Doch er behauptet, mit seiner Strategie „Nach Rom“ zu gelangen.118 Mit der entsakralisierenden Taktik gegen das eigene Territorium ist es ihm ernst. Hermanns irreführendes Netz von Verweisungen versteht nur, wer wie er Krisen souverän zu überblicken vermag. Der scheinbar verlorene Posten gehört zum Plan: „Allein muß ich, in einem solchen Kriege, stehn“ – allein, um ihn an der Stelle aller für alle zu gewinnen.119 Das Spiel mit dem Schrecken der Profaverdammt worden, je nach der Einstellung der Zeit oder des Interpreten zu dem dort vermuteten patriotischen Empfinden.“ 110   Vgl. besonders zur biopolitischen, von Fichte abkünftigen Begrifflichkeit bei Kleist Niels Werber: Kleists ‚Sendung des Dritten Reichs‘. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists ‚Hermannsschlacht‘ im Nationalsozialismus, in: Kleist-Jahrbuch 2006, 157–170. 111   Vgl. in diesem Sinn Peter Philipp Riedl: Transformationen der Rede. Kreativität und Rhetorik bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 79–106. Riedl weist auf die Enttäuschung Kleists und seiner Freunde von Pfuel, Adam Müller sowie dessen Frau hin, die sich alle von den Gedenkpredigten zum Tod der Königin Luise politisch bewegende Kanzelrhetorik erhofft hatten und stattdessen apolitisch belehrende hörten (auch von Schleiermacher). Kleists Texte spiegeln nach Riedl immer auch ein politisch-rhetorisches Wunschbild des Verfassers. 112   Vgl. zur Sakralität des Territoriums die Rede vom Zertreten des heiligen Vaterlandes Kleist: Hermannsschlacht, 2127 passim. 113   Kleist: Hermannsschlacht, 21 passim. 114   Kleist: Hermannsschlacht, 230 f: „[.  .  .] Erstreb ich und bezweck ich nichts,/Als jenem Römerkaiser zu erliegen.“ Anders Klopstocks naiv-grandios gemeinte Hermannfigur. 115   Kleist: Hermannsschlacht, 270 f. 116   Kleist: Hermannsschlacht, 374 passim. 117   Kleist: Hermannsschlacht, 359. 118   Kleist: Hermannsschlacht, 366. 119   Vgl. zu Hermanns einsamer Souveränität gegensätzlich Sossou: Doppelgängerschaft, 78 passim, und Miller: Verstörende Bilder. Mir scheint die Lektüre des Dramas unter dem

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nation ‚heiligen‘ deutschen ‚Grundes‘ macht die Zeichen der sakralen Ordnung verfügbar. Trotz der Taktik der Verbrannten Erde kann Hermann den Boden Germaniens explizit als Kennzeichen nationaler Integrität verstehen. In diesem Kontext erfolgt die Selbstbarbarisierung, von Kleist als Gegenentwurf zu Klopstock gestaltet. Hatte Hermann im Bardiet die sakrale Ordnung mit der charismatischen Schonung Gefangener durchbrochen, so bricht Hermann das Kriegsrecht, indem er seinen einstigen ‚Militärberater‘ Septimius Nerva mit einer „Keule doppelten Gewichts“ erschlagen lässt.120 Hermann verleugnet den wehrlosen Gefangenen als einen Gegenstand ethischer Heiligung, die dieser ihm unter Berufung auf Ciceros ‚De officiis‘ nahelegt, und handelt unter den Vorzeichen sakraler Vergeltung: „lasst sein Blut, das erste gleich,/Des Vaterlandes dürren Boden trinken!“121 Die Deutungen dieser Szene reichen von der These, die Ermordung des Gefangenen sei eine postkoloniale Exekution nach römischem Kriegsrecht122 bis zur Beobachtung, das ganze Vorgehen sei von der Kriegslage her uneinsehbar, und zwar auch von einem Partisanenkrieg her.123 Ein deutscher ‚Sonderweg‘ steht offen: Römisches Recht und Ethos, ja die Universalität von Rechtsgefühl und moralischem Sinn sollen angesichts des Umstands, dass die Römer, wie Kleist Klopstock zitierend vermerkt, „unbeleidigt“ kamen,124 nicht gelten. Die Profanation des Kriegsrechts bei gleichzeitiger ‚Weihung‘ des Bodens wird sogar verstärkt, indem Hermann von Varus scheinheilig die Schonung von Legionären erbittet, die heilige Eichen gefällt hatten.125 Das Doppelspiel des Cheruskers mit sakralen Zeichen kennt keine Grenzen. Immerhin rührt Septimius an den Charakter dieses Spiels, wenn er sich als das Ziel einer Profanation begreift und als Grabinschrift imaginiert, er „ward/Von Hunden in Germanien zerrissen“.126 Zwei Vorkommnisse führen allerdings über ein bloß manipulatives Verständnis von Sakralität im Drama hinaus. Der Titelheld produziert sakrale Zeichen Aspekt einer Romanisierung Hermanns durch Ciceros Ethos (Sossou) eine Position der Titelfigur auf einer ‚einsamen Spitze‘ der Dramenhandlung (Miller) nicht auszuschließen. Die Frage wäre dann, ob Hermanns sakrale Rhetorik das römische Gewand letztlich zerreißen muss. 120   Kleist: Hermannsschlacht, 2219. 121   Kleist: Hermannsschlacht, 2203 f. 122   Sossou: Doppelgängerschaft, 142 passim. 123   Peter Michelsen: ‚Wehe, mein Vaterland, dir!‘ Heinrich von Kleists ‚Die Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 1987, 115–136, hier 124. 124   Kleist: Hermannsschlacht, 2217. 125   Kleist: Hermannsschlacht, 1135 passim. – Vgl. von Essen: Hermannsschlachten, 160– 164.172: „Während das Feld des Heroischen und Menschlichen bei Schlegel und Klopstock noch als wesentlicher Bestandteil der Selbstbeschreibung galt, wird es nun [.  .  .] eher durch die Römer besetzt.“ Vgl. zur Aufhebung des Kriegsrechts Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i.Br. 1987, hier 239; kritisch gegen Kittler Fischer: Das ‚Eigene‘, 273 passim. 126   Kleist: Hermannsschlacht, 2225 f. Zutreffend Michelsen: ‚Wehe, mein Vaterland, dir!‘, 129.

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung

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auch spontan, wie eine nationale Exklusion und eine Inklusion belegen. Die Exklusion von ‚Verrätern‘, die auf römischer Seite kämpfen, geschieht mit Bezug auf das territoriale ‚sacrum‘. Vor Schlachtbeginn verliest der romtreue Ubierfürst Aristan in Varus’ Beisein Hermanns Aufruf an Deutsche, die römischen Dienste zu verlassen, andernfalls nötige er   „[.  .  .] jedwedes Haupt, das er in Waffen Erschauen wird, die Sache Roms verfechtend, Mit einem Beil, vom Rumpf herab, zum Kuß Auf der Germania heiligen Grund“.127

Die Exklusion umfasst eine sarkastische Inklusion, da jedes exekutierte Haupt auf den Boden der Nation zurückkehrt. Nach der Schlacht pocht der gefangene Aristan nach Art von Mösers Sigest auf sein Recht als partikularer Landesfürst „[.  .  .] mich jedem, wer es sei, Und also auch dem Varus zu verbinden!“128 Hermann diskutiert jedoch, anders als Mösers Armin, nicht über Rechtsfragen.129 Die Gleichschaltung der Loyalität zu ihm und zur Nation scheint ihm justiziabel.130 Aristan mit Worten aus der Nation ausschließend zitiert der Cheruskerfürst den ersten Vers eines Xenion von Goethe-Schiller: „Deutschland! Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden [.  .  .]“.131 Das Zitat wird Aristan in den Mund gelegt: „Du bist imstand und treibst mich in die Enge,/ Fragst, wo und wann Germanien gewesen?“132 Hermann bricht das Gespräch ab und verwirklicht seinen vormaligen Aufruf auf sarkastische Weise: „[.  .  .] jetzt wirst du/Mich schnell begreifen, wie ich es gemeint:/Führt ihn hinweg und werft das Haupt ihm nieder!“ Aristan widerfährt das von ihm selbst verlesene Schicksal. Im von Hermann dekretierten Ausnahmezustand wird er ohne Prozess als Feind vertilgt.133 Ein Fürst kommentiert gewitzigt, Aristan wisse jetzt über die territoriale Integrität der Nation Bescheid. Der zweite Beleg für Hermanns Produktivität in sakralen Zeichen zeigt die Cherusker in Bedrängnis durch die verbündeten Besatzer. Die ‚Heimatfront‘,   Kleist: Hermannsschlacht, 2074 passim.   Kleist: Hermannsschlacht, 2608 ff. 129  Die Frage der Bündnisfähigkeit von Reichsständen mit äußeren Mächten war ein Hauptdilemma des Alten Reichs. Vgl. Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, Göttingen 21984, hier 151 passim. 130  Vgl. Kleist: Hermannsschlacht, 825, der Plan nehme „die Kraft [.  .  .] des Gesetzes an“. 131  [Johann Wolfgang Goethe:] J. W. Goethes sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe), Band  4. Vierter Teil, hg. von Eduard von der Hellen, Stuttgart/Berlin 1902, Nr.  85, 165. Zit. n. Jeismann: Vaterland der Feinde, 27. Vgl. dazu schon Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, Frankfurt/Main 1979, 133 ff. Von Essen betont zu Recht Hermanns rational gesteuerte Manipulation, sieht aber deren sakrale Dimension nicht. 132  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Kleist: Hermannsschlacht, 2612 passim. 133   Vgl. zu den juristischen Hintergründen Manfred Schneider: Die Welt im Ausnahmezustand. Kleists Kriegstheater, in: Kleist-Jahrbuch 2001, 104–119, hier 109 passim, vgl. Sossou: Doppelgängerschaft, 35–41. 127

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

zu der Hermann sein Land gemacht hat, ist für seine propagandistische Improvisation besonders bezeichnend. Schon beim Anrücken der Römer suspendiert Hermann um der Feindmarkierung willen ethische Prinzipien: „Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun?“ 134 Er muss bei den Cheruskern affektiv zuverlässigen „Römerhaß“ wecken, der „durch ganz Germanien schlägt“.135 Als die Römer in Cheruska vorrücken, schickt Hermann zuverlässige Männer hinterher, die „in Römerkleidern“136 Zerstörungen anrichten. Falls der Kriegsgegner Recht und Ethos einigermaßen achtet, droht die nationale Befreiung wegen Affektmangel zu misslingen. Als die Römer sich relativ diszipliniert verhalten, begibt sich der Fürst mit einem Vertrauten auf die Suche, „ob uns der Zufall etwas beut“,137 mit anderen Worten: Hermann hofft auf römische Kriegsverbrechen. Thusnelda gegenüber lässt er seinen Affekten ausnahmsweise freien Lauf, als sie gerührt von einem Centurio erzählt, der ein Kind aus den Flammen gerettet habe: „Warum setzt er Thuiskon mir in Brand?/Ich will die höllische Dämonenbrut nicht lieben!“138 Der Zufall entscheidet propagandistisch.139 Während die Römer durch Cheruska marschieren, wird die junge Hally Opfer einer Vergewaltigung durch Legionäre, die von ihrem Hauptmann zur Aufrechterhaltung der von Hermann so gefürchteten Disziplin sofort exekutiert werden. Die Frage, ob es sich bei ihnen womöglich um Hermanns Provokateure gehandelt hat, die, nachdem sie ihm einen propagandistisch erwünschten Zufall zugespielt haben, zum Schweigen gebracht werden, bleibt unbeantwortbar. Alle Aufmerksamkeit gilt dem versehrten Mädchen.140 In die Mitte der Cherusker geführt, wird der Körper des Mädchens durch Verschleierung rituell depersonalisiert. Noch ist unklar, was geschehen soll. Der herbeigerufene Vater will die der Tochter zugeschriebene Schande zurücknehmen und tötet sein Kind. Man muss zur Einschätzung dieser Tat, die gern als patriarchaler Normalfall gedeutet wird,141 die Reaktionen der umstehenden   Kleist: Hermannsschlacht, 1485 passim.  Vgl. Arndts Feindmarkierung 4.4 (c). 136   Kleist: Hermannsschlacht, 943 passim. 137   Kleist: Hermannsschlacht, 1527. 138   Kleist: Hermannsschlacht, 1722 f. 139   Michael Neumann: ‚Und sehn, ob uns der Zufall etwas beut‘. Kleists Kasuistik der Ermächtigung im Drama ‚Die Hermannsschlacht‘, in Kleist-Jahrbuch 2006, 137–156, hier 139, konstatiert zurecht einen „Wendepunkt des Dramas“, an dem sich „die Doppeldeutigkeit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ des Erhofften „im Horizont einer Heilserwartung“ zeigt. 140  Vgl. insgesamt Christine Künzel: Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ‚Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 165–183. Künzel arbeitet die zentrale Position der Szene für das Drama heraus und widmet sich infolgedessen auch der konfessionellen Semantik. 141  So Hans Peter Herrmann: Arminius und die Erfindung der Männlichkeit im 18. Jahrhundert, in: Herrmann et. al. (Hg.): Machtphantasie Deutschland, 160–191, hier 187 f. 134 135

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung

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Cherusker konsultieren: Einer ruft „Ungeheuer“, ein anderer fragt, noch in Unkenntnis des Geschehens, worüber das Volk erschrickt. Der Ehrenmord war demnach keineswegs die einzige Handlungsoption. Wenn ein Cherusker kommentiert, der Vater habe seine Tochter „hingeopfert“,142 so lässt Kleist diese Aussage doppelsinnig erscheinen. Hallys Vater opfert seine Tochter vordergründig im Sinn einer sakralen Sühnung oder einer sakralen Wiederherstellung von Ehre. Doch wählt er ausgerechnet die römische Virginius-Legende als Handlungsmuster, in der ein Vater die von einem Despoten vergewaltigte Tochter umbringt.143 Auch Shakespeare greift diese Legende in ‚Titus Andronicus‘ auf. Kleist mutet seinem Publikum also dasselbe Verwirrspiel zu, das Hermann seinen in einer Mischkultur lebenden Germanen zumutet,144 wenn er ihre Grausamkeit als einen lediglich den römischen Zuschreibungen entsprechenden Habitus wertet. So erhält der Vorfall eine zweite Sinndimension, eine Verdoppelung sakraler Implikationen. Hermann lässt Hallys Leiche „in funfzehn Stücke“ geteilt den Partikularstämmen Germaniens als Zeichen zum Aufruhr schicken. Diese symbolische Nutzung des Leichnams ist aus dem Alten Testament vertraut. Kleist stattet Hermanns sakralen Aufruf mit dem Nimbus einer Versammlung der Stämme Israels aus, wie sie zur Rächung einer vergleichbaren ‚Schandtat‘ in Ri 19 f. erfolgt. Im Richterbuch gilt der vereinigte Zorn der Stämme allerdings der Untat, die innerhalb eines israelitischen Stammes verübt wurde, weshalb dieser Stamm bestraft, seine Selbstexklusion also rückgängig gemacht wird. Bei Kleist führt die Versehrung des Frauenkörpers zur exklusiven Feindmarkierung und zur Integration derer, die sich anfangs noch um Landstriche stritten. Es geht jedoch um semantische Resonanzen, nicht um Identität. So erinnert der in Hermanns Rede verbal losbrechende Sturm infolge der semantischen Resonanz an die Theophanien der Jahwekriege. Nach Hermann wird Hallys Leib   „Bis auf die toten Elemente werben: Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend, Empörung! rufen, und die See, Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.“145

  Kleist: Hermannsschlacht, 1591.   Die Germanen hatten sakrale Reinheitskonzepte, doch geht es darum, was Kleist den Lesern/Zuschauern unter der Hand bedeuten will. Vgl. Künzel: Gewaltsame Transformationen, 167 f., auch zu Rousseau, Lessings Emilia Galotti und Schillers Fiesco. 144   Zum Thema Mischkultur schon Möser und Klopstock historisch völlig zutreffend. Vgl. Möser: Arminius, [Vorrede] 122–125, zu Klopstock: Hermanns Schlacht, [Anmerkungen] 144 passim. Auch Kleist scheint sich dessen bewusst. Vgl. zum griechisch-römischen Fundus der scheinbaren Germanisierung Stefan Börnchen: Translatio imperii. Politische Formeln und hybride Metaphern in Heinrich von Kleists ‚Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 2005, 267–284, anhand heraldischer Tiere und Tiermetaphern. 145   Kleist: Hermannsschlacht, 1617–1620. 142 143

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Bleibt die andere sakrale Implikation. Hermann nennt Hallys Vater „Rabenvater“,146 lässt also keinen Zweifel an der Bewertung von dessen Tat. Hermann reagiert auf diese Tat, laut Regieanweisung, „mit Wehmut“, an deren Echtheit trotz der nachherigen Anonymisierung und Funktionalisierung von Hallys Körper nicht zu zweifeln ist.147 Die als fragwürdig bewertete Tat des Vaters geht samt ihren römischen Konnotationen in der Vergeltung unter, die Hallys Körper initiiert. Mit der doppelten Vergeltung eines Kriegsgreuels und einer ideologischen Kränkung eint sich die Nation. Nach der Schlacht wird gemeldet, „des Vaterlandes grauses Sinnbild“ habe „ganz Germanien lodern“ gemacht.148 So trägt die an Hallys lebendem und totem Leib begangene Profanation maßgeblich zur Einheit und Einigkeit der Nation bei. Hermanns „Rhetorik der Gewalt“149 präpariert den Körper der Nation, der Germania, überzeugend als Opfer. d)  Kleist II: Vergebung, Rache und ‚Kollateralschäden‘ am Christentum Der bemerkenswert grausame und bemerkenswert durchdachte Krieg in Kleists Hermannsdrama verteidigt nicht den Boden, sondern die personale Gemeinschaft der Nation. Der rein ‚tellurische‘ Begriff des Partisanen liegt gerade nicht vor.150 Das Drama ist weder eine technische Handlungsanleitung noch geht Kleists Hermann im Schema des Partisanenführers auf. Er sprengt dieses Schema vielmehr durch die politische Dimension seiner Manipulationen und durch die beanspruchte ‚Heiligkeit‘ seiner Alleinstellung. Dafür wird ein echtes nationalpolitisches Problem greifbar: Hermanns Manipulationen erlauben der erkämpften personalen Gemeinschaft keine Freiheit. Die Grausamkeit des Krieges hätte als Preis für ein höheres Gut erscheinen können, doch nun erscheint die Freiheit als zu entrichtender Preis für den Sieg. Hermann kommentiert die manipulative Alleinkontrolle des ‚nation building‘ für sich mit einer entschieden entheroisierenden ökonomischen Metapher. Sein Land komme ihm „wie eingepackt in eine Kiste, vor:/Um einen Wechsel könnt ich es verkaufen.“151 Sogar die Personen, die die Nation bilden sollen, sind zur   Kleist: Hermannsschlacht, 1608.   Vgl. zum milden Zug am Cheruskerfürsten, seiner clementia als Fürstentugend, von Essen: Hermannsschlachten, 165. 148   Kleist: Hermannsschlacht, 2549.2552. – Dörner: Politischer Mythos, 166 ff., weist auf einen weiteren Intertext hin: Die Verschickung von 83 Quadern der zerstörten Bastille durch einen französischen Bauunternehmer an alle Départements. 149   Künzel: Gewaltsame Transformationen, 180. 150   Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 31992, hier besonders 15.26.38 passim, vereinfacht Kleists Drama in diesem Punkt zu stark. Dem folgen Kittler: Geburt des Partisanen, und, trotz Widerspruchs gegen Kittler, auch Dörner: Politischer Mythos. 151   Kleist: Hermannsschlacht, 1658 f. 146 147

4.1  Hermanns Schlachten: Sakrale Kehrseiten nationaler Befreiung

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Ware geworden, zum Gegenstand solchen Handels, wie er den Römern angekreidet wird. In diesem ökonomischen Bewusstsein manipuliert Hermann auch den ‚status oeconomicus‘. Er macht die eigene Frau zur Handlangerin der Vergeltung, indem er ihr, wenn auch wahrheitsgemäß, erzählt, der Gesandte Ventidius wolle ihr Haar für Kaiserin Livia ‚ernten‘.152 Um ihrem „Herzens-Hermann“,153 von dem sie zuvor Ventidius’ Leben erbat, wieder gerecht zu werden, barbarisiert sich auch Thusnelda.154 Sie lässt den Römer von einer Bärin zerreißen, die statt ihrer am Treffpunkt für ein angebliches Stelldichein lauert.155 Als letzter Ort einer Schonung vor Manipulation fällt die Liebe, und die Ehe wird zum Exerzierplatz nationaler Integration. Thusneldas Zorn ist zwar auch als Kritik an den Ehebündnissen der dynastischen Herrschaft lesbar, die im 18. Jahrhundert zu konstitutionellem Chaos und raschem Bündniswechsel beitrugen.156 Insofern würde Hermanns Gattin einen von Kleist wohlcodierten Befreiungsschlag gegen das ‚ancien régime‘ führen. Doch keine politischen Freiräume erwarten die Cheruskerfürstin. Hermanns manipulative Rhetorik hat eine isolierende Rückwirkung. Der einzige Agent des ‚nation building‘ steht allein und scheint wirklich nur mit seinem Gott verknüpft, wie er eingangs feststellt. Übernimmt man diese Wendung als Deutungsangebot, ist er freilich nicht völlig allein.157 Die Identität von Hermanns Gott ist allerdings unklar. Der Text weist auf germanische Religion hin, weniger als bei Klopstock, mehr als bei Möser, doch die Hinweise bestätigen nur allgemein die von Hermann teils übernommene teils manipulierte sakrale Zeichensprache.158 Eine konfessionelle Kehrseite dieser Sakralität kommt dennoch zum Vorschein:   „Wir litten menschlich seit dem Tage, Da jener Fremdling eingerückt; Wir rächten nicht die erste Plage, Mit Hohn auf uns herabgeschickt;   Kleist: Hermannsschlacht, 1802.   Kleist: Hermannsschlacht, 1726. 154  Vgl. Herrmann: Lesenotizen Arminiusdramen, 39 passim; Sossou: Doppelgängerschaft, 157–163, kehrt die emanzipatorische Dimension der Thusneldafigur hervor. 155   Kleist: Hermannsschlacht, 2321, über Ventidius, dem sie den Gebrauch des Barbarenstereotyps unterstellt: „Er hat zur Bärin mich gemacht!“ 156   Kunisch: Friedrich, 185 passim.329 passim; Vierhaus: Zeitalter des Absolutismus, 164–174. 157   Claus Peymann und Hans Joachim Kreutzer: Streitgespräch über Kleists ‚Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 1984, 77–97, 86, stellen gemeinsam fest, für Peymanns Bochumer Inszenierung sei der Gottesbezug aus dem ersten Akt entfallen. Dazu Peymann: „Das ist schon wichtig. [.  .  .] Mag sein, daß der Versuch, diese Figur Hermann uns so nah wie möglich zu bringen, diesen Strich verursacht hat.“ 158   So die Wegangabe der Alraune an Varus. Kleist: Hermannsschlacht, 1949. 152 153

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Wir übten, nach der Götter Lehre, Uns durch viel Jahre im Verzeihn: Doch endlich drückt des Joches Schwere, Und abgeschüttelt will es sein.“159

Kleist soll die Stelle, an der die Barden zur Schlacht singen, mit einem „unwiderstehlichen Herzensklange der Stimme“ vorgelesen haben.160 Hermann jedenfalls lauscht an eine Eiche gelehnt. Laut Regie gibt es eine „Feierliche Pause“. Von einem Feldherrn angesprochen sinkt der Fürst „heftig bewegt, wieder an die Eiche zurück.“ Eiche und Feierlichkeit werden in einer affektvollen, an den Bardiet erinnernden Weise kombiniert. Bei Klopstock spricht jedoch Thusnelda ihrem Gatten die Chance zum Neuanfang zu, und wirklich hebt dieser die sakrale Feindmarkierung auf. Er verzichtet trotz härtester Kampfhandlungen nicht auf das Verzeihen. Kleists Barden kehren die Reihenfolge um, sie singen schon vor der Schlacht vom Ende der gottgemäßen Verzeihung. Nachdem die Nation durch Verzicht auf Vergeltung mit der Möglichkeit eines Neubeginns stets ihre Handlungsfreiheit gewahrt hat, ist nun aufgrund der „Schwere“ der Fremdherrschaft alternativlos Vergeltung im Zeichen des ‚sacrum‘ angezeigt. Die Handlung endet konsequent mit Aristans Exekution und einer antirömischen Vertilgungstirade. Der Partisan des Heiligen trauert wohl um den abhanden­ gekommenen Gott der Verzeihung. Die ethischen Kosten für die äußere Befreiung von Rom sind hoch, vor allem aber erkaufen sie keine innere politische Freiheitsordnung. Der traurige Eindruck, dass für die innere Freiheit in einer kriegsbedingten nationalen Einigung mehr nicht zu erreichen ist, deckt sich mit dem melancholischen Motto zum Drama: „Wehe, mein Vaterland, dir! Die Leier, zum Ruhm dir, zu schlagen,/Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt.“161 Der Dichter vermag den Schoß der Muttersprache nicht auf ein erwachsenes, konturiertes Wirkungsfeld hin zu verlassen. Dieser im Jahr 1808 ganz objektiv gegebene Zustand führt eine manipulative Rhetorik auf den Plan, der das Publikum mittels Selbstentkolonialisierung applaudieren soll. Der hochartifizielle Text weist auf die ‚gedachte Ordnung‘ der Nation hin und hinterfragt die eigene Ideologieproduktion, indem er die Manipulierbarkeit patriotischer Affekte darstellt. Das koloniale Joch wird jedoch nur durch das Joch einer Bestialität ersetzt, die dem Bild der Kolonisatoren von den wilden Germanen militant entspricht.162 In diesem Dilemma steht der Gottesbegriff des Cheruskerfürsten für eine Verlassenheit, die seinem manipulativen Dezisionismus korrespondiert. Vielleicht ist der Manipulator 159  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Kleist: Hermannsschlacht, 2236 passim. 160   Zweibändige Ausgabe in Einem Band, Anmerkungen, 945. 161   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  I, 533. – Selbst wenn es nicht von Kleist selbst als Motto beabsichtigt war, resoniert das Drama doch in der Bardenmetapher. 162   Vgl. Anm.  106.

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

201

Hermann beim Bardengesang auch wegen der Ankunft einer politischen Welt ohne christliches Ethos bewegt.163 Auch um dessen Fehlen geht es bei diesem „für den Augenblick berechnet[en]“164 Drama.

4.2  Lyrische Expansion der Affekte: Himmlisches und ‚Teutsches‘ Vaterland Patriotische Lyrik165 umfasst vielerlei Gattungen, Formen und Affektkulturen. Einen Begriff von dieser Fülle gibt der Umstand, dass zur ‚Lyrik der Befreiungskriege‘166 eine knapp 400seitige Monographie erscheinen konnte, die fast ohne Einzelinterpretationen die Publikations- und interne Rezeptionsgeschichte von nur drei Jahren lyrischer Produktion sortiert und in strategische Projekte unterschiedlicher patriotischer Auffassung untergliedert. Ein solcher Zugriff erlaubt, nationalismustheoretische Fragestellungen mit publizistischen Konzeptionen und der durch sie aktualisierten Literaturtradition zu verzahnen, und bietet Vorzüge gegenüber Umformungstheoremen, die unter Verkennung des Gleichzeitigen die christliche Überlieferung als bloße Voraussetzung der Literatur- und Politikgeschichte behandeln.167 Ein Nachteil massiver Materialstudien liegt jedoch in der Einebnung des literarischen Höhenkamms. Daher ist eine knappe Auswahl zu treffen, die literarästhetische und publikationsstrategische Aspekte verbindet. Im Folgenden bilden nur wenige ausgewählte Autoren von Kriegslyrik die Referenzgrößen für eine retrospektive Erörterung der Zirkulationsfrage.

163   Die Tilgung dieser Dimension aus neueren Deutungen in Aufführung und Forschung ist bezeichnend für eine Identifikation mit Kleist, die ihm nichtironische christlich-konfessionelle Bezugnahmen abspricht. – Interessant zu Hermanns Nachdenklichkeit Schneider: Ausnahmezustand, 111, in der „Welt Kleists“ sei „Gott nicht mehr zu helfen“. 164   So an Heinrich Joseph von Collin, Kleists Bezugsperson zum Wiener Burgtheater. Vgl. Zweibändige Ausgabe in einem Band  I, 943. – Das Drama blieb bis 1860 unaufgeführt. Höhepunkte nationalistischer Rezeption fielen in die 1870er Jahre. 165   Kriegslyrik bezieht sich als der engere Begriff explizit auf Kriegsgeschehen. 166   So der Titel der Studie von Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991. Vgl. für die Publikationsstrategien vor allem die Schlussabschnitte der größeren Kapitel. 167   So z. B. Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, 165 f., der mit Bezug auf Arndt geradewegs von Säkularisierung spricht; anders Jeismann: Vaterland der Feinde, 32 passim, der von Funktionalisierungen konfessioneller Sprachtraditionen ausgeht und dabei, 42 passim, auch die Affektsubstanz des Nationalismus betont.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

a)  1813: Apokalyptische Affektenthemmung und eschatologische Geborgenheiten Kriegslyrik ruft Affekte auf und verstetigt sie, indem sie zum Einsatz des eigenen Lebens für die Nation ermutigt oder Angst, Sorge und moralische Bedenken beruhigt. Befindet sich die Nation in einem prekären Status, ist sie also in kaum sonst einer oder gar keiner Weise klar und sicher greifbar, kann sie im Affekt präsent gehalten werden oder sogar expandieren. Dafür eignet sich das lyrische Pathos besonders gut.168 Divergent ist in der Kriegslyrik, ob die Ungreifbarkeit der Nation betont oder überspielt wird. Kleists Ode ‚Germania an ihre Kinder‘ von 1809 betont den prekären Status der Nation. In dieser Ode spricht die allegorische Nation aus der Ungreifbarkeit heraus. Die Nation macht sich greifbar, indem sie die Einwohner deutscher Regionen aufruft und als „Söhne“ bezeichnet, „die, geküsst,/In den Schoß mir kletternd steigen,/Die mein Mutterarm umschließt“.169 Mehr an metaphorischer Inklusion ist nicht vorstellbar. Die matriarchale Regression stellt aber nur den Übergang zur nationalen Neugeburt dar, die durch das kataraktartige Hinabstürzen „ins Tal der Schlacht“ erfolgt.170 In der auf naturhaft-elementare Weise einigenden Kriegserfahrung fängt sich die Nation hinter ihrem Patriarchen, dem Kaiser, um einst geordnet „Gott“, „Freiheit“, „Sprache“ und „Wissenschaft“ als höhere Güter anzustreben.171 Kleists Gedicht zielt nicht auf Legitimität.172 Eine Chorstrophe stellt den Kaiser an die Spitze militarisierter Volksmassen, als Volkskönig, wie ihn auf der Basis einer zu reformierenden Landständeverfassung schon Möser konzipierte.173 Der Kaiser erscheint nicht etwa als soteriologisch apostrophierter Retter, der, wie in einem anderen Gedicht, infolge göttlicher Infutation dem „Mordgeist in die Bahn“ tritt.174 Auch die neue, schonungslose Kriegführung wird in der ‚Germania‘-Ode nicht legitimiert, sie wird aber durch Kriegsgreuel plausi-

168   Weber: Lyrik, 23 f. spricht von einem handlungsorientierten Literaturverständnis, bezieht sich allerdings nur gelegentlich explizit auf die rhetorische Tradition. Vgl. zur Lyrik als Instrument öffentlicher Meinungs- und Willensbildung Weber: Lyrik, 74–78, zum visualisierenden Sprechen 108–114. 169   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: Zweibändige Ausgabe in Einem Band  I, 25 ff. – In einer Variante küsst Germania „mit Schmerz und Lust“. Vgl. Helmut Sembdner: Kleists Kriegslyrik in unbekannten Fassungen, in: Ders.: In Sachen Kleist. Beiträge zur Forschung, 2. verm. Aufl., München 1984, 88–98, hier 88. 170   Vgl. zur Natur-Metaphorik Beßlich: Napoleon-Mythos, 66 ff. 171   In der sechsten und letzten Strophe. Zweibändige Ausgabe in Einem Band, 27. 172   Anders sein Katechismus. Vgl. §  4.3 (a, b). 173  Vgl. Stauf: Justus Mösers Konzept, 182 passim, mit dem Reichstag als House of Commons. 174   Kleist in An Franz den Ersten, Kaiser von Österreich. Vgl. Zweibändige Ausgabe in Einem Band, 28 f.

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

203

bilisiert. Der Zorn über Greuel wie den vergewaltigenden „Todeskuß“,175 nach dem Frauen „Auf den Schutt der Vorstadt“ geworfen werden, ist handlungsleitend. Schon im Vorfeld zu dieser affektiven Plausibilisierung wird die territoriale Integration der Nation vorangetrieben. Hier entgrenzt die Metapher selbst die Affekte, lässt sie expandieren und zieht neue nationale Grenzen:   „Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, Schäumend um die Pfalz ihn weichen, Und ihn dann die Grenze sein.“

Ins Groteske gezogen ist die territorialpolitische Behauptung einer Illegitimität der napoleonischen Rheingrenze unübersehbar. Die Imagination der neuen Grenze erfolgt mithilfe getöteter Feinde, deren Profanation das feindliche Territorium desakralisiert. Wenn man nun denkt, mehr an exklusiver Feindmarkierung sei nicht vorstellbar, folgt die Chorstrophe über den zum „Wolfe“ naturalisierten und damit auch dehominisierten Feind: „Schlagt ihn tot! Das Weltgericht/Fragt euch nach den Gründen nicht!“ Der Mensch in der Rolle des absoluten Feindes wird zur Jagd freigegeben. Die Franzosen besiegt nicht, wer ihnen wie Arndt moralisch überlegen sein will,176 sondern wer auf jede Moralität, ja noch auf Legalität verzichtet. In dieser Mimesis entdeckt der deutsche ‚homo necans‘ den Tod des Gegners als sakrales Ereignis,177 das nationale Grenzen verändern kann. Kleists Eschatologie ist so parteiisch, dass sie für Rückfragen an ihre Christlichkeit ertaubt. Diese lyrische Nationsbildung ist nicht der Normalfall.178 Andere Literaten trennen sich weder von ethischen Gründen noch vom Handeln Gottes. So gebraucht Arndt in seiner frühen Kriegslyrik konfessionelle Semantik in der Absicht, Gottes Nähe und die eigene Nation fühlbar zu machen. ‚Gottes Gericht‘ von 1809 beginnt mit einem Zitat von Ez 21,15, einer versifizierten Gottesrede:   „‚Ich will das Schwert lassen klingen, Die Herzen sollen verzagen. Wie Blitz auf feurigen Schwingen   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: Zweibändige Ausgabe,

175

27.

  Vgl. §  4.3 (d).   Vgl. den Titel der Studie von Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/New York 1972. Burkerts Studie ist im selben Jahr erschienen wie René Girards: Das Heilige und die Gewalt (vgl. §  2.1). Die These vom ausgrenzenden Opfer, das einen öffentlichen Raum konstituiert, verbindet die beiden, in der Frage nach der Herkunft von Gewalt unterschiedenen Positionen. Das ausgrenzende Opfer kann auch auf Kriegsgegner ausgedehnt werden. 178   Nicht einmal bei Kleist. Vgl. die Oden an österreichische und preußische Führungspersönlichkeiten; vgl. weiter zur Nichtaufnahme von Kleists Germania-Ode in Kriegsanthologien Weber: Lyrik, 103. 176

177

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Herbrausen Reiter und Wagen, Es schallen Donnergeschosse, Blut dürsten Männer und Rosse.‘“179

Semantisch klingt hier Ezechiels Prophetie an und überschneidet sich mit der Rettung am Schilfmeer Ex 14,1–15,21 sowie mit Elisas Vision des für Israel kämpfenden Herrn 2. Kön 6,8–23. Das Konnotationsverfahren macht die Nation mittels der gefühlten Nähe Gottes greifbar, spricht diese Nähe jedoch nicht kritiklos zu. Das ‚Heil‘ kommt durchs Gericht. Fürsten und Volk büßen die anfängliche Verweigerung des patriotischen Einsatzes.180 Die eschatologische Bezugnahme gerät nun aber zur Formulierung einer Allianz mit Gott.181 Zunächst heißt Gott verallgemeinernd „der Lenker“.182 Seinem kontingenten Wollen unterstehen nicht nur die feindlichen „Räuber und Henker“, vielmehr erkennt er die ganze Erde „freundlich“ als seine Schöpfung an. Arndts Eschatologie verändert diese Inklusivität jedoch in eine Parteinahme. Der zeugmatische Parallelismus: „Du hebest hoch vom Getümmel/Die Guten auf von der Erde“183 mündet in den Plural der 1. Person: „Wir stehen in höhern Gewalten“. Eine geeinte Nation tritt Tyrannen entgegen und reklamiert den mehrdeutigen Satz „Gottes sind die Gerichte“ als Heilszusage für sich selbst. Arndt setzt in ‚Gebet‘ von 1810 ebenfalls auf Gerichtssemantik, hebt aber deutlich auf Freiheit ab. Die berüchtigte Gottesanrede der zweiten Strophe „[.  .  .] du, alter treuer Gott,/Alter lieber deutscher Gott“184 scheint den Gott der Bibel und des konfessionellen Christentums ungehemmt zu nationalisieren. Es ist schwierig, Arndt überhaupt einmal zuzugestehen, es anders als chauvinistisch zu meinen, bildet sein Chauvinismus doch einen deformierenden Kontext für alle seine Aussagen zur Nation. Der Kontext signalisiert jedoch das Gegenteil von exklusivem, selbstverständlichem Gottesbesitz: die an der ‚Ausgießung‘ von Feindesmassen erkennbare Abwendung Gottes vom Beter. Die eigentliche Pointe ist, dass Gott den Deutschen die Freiheit nimmt, „Und die Eignen stehn dabei“. Die Fürsten sind Versager des Patriotismus, sie „wedeln“ sich als Napoleons Hunde „das Brot zum Munde“. Die Nation findet sich zwischen unver  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 1, 70. – Vgl. Ott: Ernst Moritz Arndt, 172. 180   Anders im Kapitel ‚Der Emporgekommene‘ aus ‚Geist der Zeit‘, in: Zeit AW 6, 195: Hier büßt das Volk für die Sünden der Fürsten. 181  So Graf: Gottesbild und Politik, 66.69, mit einem sehr gelungenen Ausdruck. 182   Alle folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: AW 1, 70. 183   Alle folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: AW 1, 71. 184   Alle folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: AW 1, 74. – Vgl. zur Rezeption des ‚deutschen Gottes‘ Roland Kurz: Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik, Gütersloh 2007, hier 46 passim. Kurz setzt Arndts Texte gleichsam als nachträglich wirksam gewordenes literarisches Handeln auf eine ereignisgeschichtliche Linie mit der Gründung des Zweiten Reichs. 179

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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schuldeter Bedrängnis und selbstverschuldeter Bedrückung. Das nationalisierende Gottesattribut bezeichnet die Sorge wegen göttlichem Zuwendungsverlust, der sich an äußeren und inneren Freiheitseinbußen erweist. Die Auflösung der Spannung zwischen Gott und der Nation erfolgt nun nicht mit Hinweisen auf die Vorsehung oder auf Gottes Treue im Strafhandeln, sondern mithilfe der menschlichen Gottebenbildlichkeit: 185   „Hast die Sehnsucht uns gegeben Nach dem lichten Götterleben, Nach dem hochgebornen Recht, Nennst uns selber dein Geschlecht.“186

Der Beter imaginiert ein Kollektivobjekt göttlichen Handelns, das zwischen Menschheit und deutscher Nation changiert. Die Nation soll frei werden, weil Menschen frei sein sollen. Die Gegenfrage, wie diese Freiheit der nationalen Einheit und anderen Nationen zugeordnet ist, wird vom Zitat aus der Areopag­ rede des Paulus verschattet. Die nichtbiblischen Begriffe „Götterleben“ und „hochgeborne[s] Recht“ politisieren die anthropologisch begründete Freiheitssehnsucht. Im Zuge dessen erscheint auch der Kampf für äußere und innere nationale Freiheiten von Gott geboten:   „Freier Atem, freie Rede, Für die Wahrheit offne Fehde, Fehd’ auf Leben und auf Tod! Also klinget dein Gebot.“

Das ‚Gebet‘ geht in eine politische Paränese über. Zu ihrer Charakterisierung werden mit „Zunge“ und „Schwert“ paulinische Metaphern in Luthers Deutsch zu maskuliner Militanz kombiniert: „Männerarm und Männerwort/Ist der Glücks= und Freiheitshort.“ Die Grenze zwischen dem konfessionell Christlichen und nationaler Politik ist damit bewusst verwischt. Gegenüber Kleists desakralisierender Gewalt und Arndts politisiertem Christentum verkörpern einige der Kriegsgedichte Theodor Körners einen dritten Typus.187 Sie zielen auf das Individuum und scheinen weniger bekümmert um die großen Linien in Politik und Geschichte. Körner hatte bereits mit Dramen und Lyrik reüssiert,188 als er mit Kriegslyrik hervortrat. In den liturgiehaften Texten ‚Gebet [vor der Schlacht]‘‚ und ‚Gebet während der Schlacht‘, beide von 1813, erfolgt die nationale Integration nur andeutungshaft. Vor der Schlacht dankt das betende Kollektiv Gott dafür, „dass wir zur Freiheit erwachten.“189 Dieser allgemeinen Inklusion steht eine auf Gottes Han  Vgl. den Katechismus Wehrmann.   Alle folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung: AW 1, 75. 187   Sie sind nicht repräsentativ für Körners Kriegslyrik, die auch Arndts Ton kennt. 188   Körner hat unter anderem Sonette zu neutestamentlichen Figuren geschrieben. 189   In der von Körners Vater besorgten Lyrik-Ausgabe ‚Leyer und Schwerdt‘ fehlt das 185

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

deln übertragene Feindmarkierung zu Seite: „Wie auch die Hölle braust,/Gott, deine starke Faust/Stürzt das Gebäude der Lüge!“ Mit dem Gegensatz zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit können die Fremdherrschaft und ihre Propaganda, aber auch innere Verwerfungen der Nation gemeint sein. Während der Schlacht sind solche Fragen aufgeschoben, da der Beter sich vordringlich als in die gött­ liche Ordnung der Dinge integriert erfahren will: „Lenker der Schlachten, ich rufe dich! Vater, du führe mich!“190 Enthält das ‚Gebet [vor der Schlacht]‘‚ eine Andeutung von großen, durch die 1. Person Plural verstärkten politischen Linien, verschwinden diese im ‚Gebet während der Schlacht‘ in der persönlichen Bitte um göttliche Führung, sei es „zum Sieg“, sei es „zum Tode“.191 Die intime Gottesanrede als Vater tritt gehäuft neben militante alttestamentliche oder doxographische Gottesbezeichnungen. Eigentümlich selbstgenügsam ist im Stress des Kampfes von Gebot und Bekenntnis die Rede, doch anscheinend stabilisiert gerade die konfessionelle Sprachbindung die Affekte des Betenden. Dichte konfessionelle Semantik zeigt sich auch in einem christologischen Identifikationsangebot. Die Vaterunserzeile im ,Gebet [vor der Schlacht]‘ „Reich, Kraft und Herrlichkeit/Sind dein in Ewigkeit!/Führ uns, Allmächtiger! Amen!“ am Ende der letzten Strophe sucht die Einsicht in das kontingente Soldatenschicksal mit der Gewissheit einer göttlichen Weltlenkung zu versöhnen.192 Der Betende stimmt vor der Schlacht in das von Christus selbst gelehrte Gebet ein. Zwei andere Gebetsworte Jesu Christi lenken den Leser im ‚Gebet während der Schlacht‘ noch direkter auf eine Christusähnlichkeit hin: „Herr, wie du willst, so führe mich!“ und „In deine Hand befehl’ ich mein Leben./Du kannst es nehmen, du hast es gegeben.“193 Die Andeutungen des hohepriesterlichen Gebetes nach Johannes und eines Wortes am Kreuz nach Lukas verdichten den Text zur Nachfolgefigur. Auch in einer Schlacht kann sich demnach der Glaube durch Ergebenheit in den göttlichen Willen bewähren. Körner hat auch Kriegslyrik mit Feindmarkierungen gedichtet, die den Tod fürs Vaterland als Martyrium feiert.194 Er selbst wurde rasch nach seinem Tod als patriotischer Märtyrer verehrt.195 Im Kontrast dazu könnten seine Gebetslieder auch als Zeugnisse des existentiellen Bedürfnisses gelesen werden, sich ‚Gebet vor der Schlacht‘, teils auch nur als ‚Gebet‘ überliefert. Daher wird hier zitiert nach [Theodor] Körners Werke, 2 Bde., hg. von Hans Zimmer, Leipzig/Wien 21916. Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Körners Werke 1, 200 f. Nach Zimmer ist ‚Gebet‘ eine Kontrafaktur zu einem von Herder überlieferten sizilianischen Schifferlied. 190   Körners Werke 1, 193. 191   Körners Werke 1, 194. 192   Körners Werke 1, 201. Vgl. Weber: Lyrik, 187–198, zum Streit um den Wert von Körners Lyrik sowie zum Unterschied von Arndt. 193   Körners Werke 1, 194. 194  Man denke nur an ‚Mein Vaterland‘ oder ‚Lützows wilde Jagd‘, Körners Werke 1, 178 f.199 f. Vgl. zum Motiv des Heiligen Kriegs Zimmer: Altar des Vaterlands, 49–58. 195   Vgl. unter dem gelungenen Zwischentitel ‚Ein Vaterland für den Tod‘ Jeismann: Vaterland der Feinde, 95–102, mit einer Interpretation von Otto Donners von Richter Gemäl-

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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Angst im Kriegsgeschehen gleichsam wegzubeten, ohne abstrakt an nationale Integrität zu denken. Allerdings laufen die Texte auch Gefahr, christologische Redefiguren zu instrumentalisieren.196 b)  Gleims ‚Grenadierlieder‘: Gott, König und Vaterland vor 1813 Die Herausforderung, Gott und das Vaterland aufeinander zu beziehen, ist älter. Zusammen mit Ewald von Kleists ‚Ode an die preußische Armee‘ von 1757 eröffnen Johann Wilhelm Gleims 1757 und 1758 gedichtete ‚Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier‘,197 eine neue Epoche patriotischer Lyrik.198 Herder erwähnt Gleim in seinen ‚Fragmenten‘ als deutschen ‚Tyrtäus‘, der die Sparte der Kriegslyrik musterhaft bereichert und, wie mit seiner Anakreontik, ein deutsches Klangideal voranbringt.199 Diese Ästhetisierung darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gleim als preußischer Patriot verstanden werden will. Für das Verständnis der konfessionellen Semantik im patriotischen Diskurs tragen Gleims Texte insofern viel aus, als sie in etwa gleichzeitig mit Abbts patriotischem Traktat einen Gefühlspatriotismus mit dynastischer Loyalität und territorialpolitischer Konkretion freisetzen. Die Patriotismen von 1750 und von 1813 stehen in Spannung zueinander: Um 1750 erscheint die Nation wählbar, aber auch als ‚Vaterland‘ greifbar. 1813 ist die Nation als prekäre Größe bewusst, das Dezisive am Patriotismus wird aber – außer bei einem so reflektierten Schriftsteller wie Kleist – meist verwischt. In der Retrospektive soll sich zeigen, inwieweit die Veränderung des Patriotismus mit einem Funktionswandel der konfessionellen Semantik einhergeht. Die Formung des nationalen Affektkollektivs mithilfe konfessioneller Semantik hat in Gleims ‚Grenadierliedern‘ zwei Dimensionen. Zum einen erscheint König Friedrich II. als Teil einer göttlich-menschlichen Kommunikation, deren Facetten den alles Vertrauen verdienenden König zur Mitte haben. Zum anderen dient die konfessionelle Semantik der Kennzeichnung eines verlässlichen Kollektivs, dem man lebend und sterbend anzugehören wünscht. Gott und das Vaterland kommunizieren nicht erst 1813 direkt. de ‚Die Lützower an der Leiche Theodor Körners in Wöbbelin am 27. August 1813‘. Jeismann zufolge zitiert dieses Gemälde ‚Der Ballhausschwur‘ von Jacques Louis David. 196   Diese Gefahr sollte bei der Einsegnung des preußischen Freikorps mithilfe des Liedrefrains „Dem Herrn allein die Ehre!“ gebannt werden. Vgl. Körners Werke 1, 179 f. 197   Im Folgenden abgekürzt zu ‚Grenadierlieder‘. 198  Vgl. Cäcilia Friedrich: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, in: Volker Riedel (Hg.): Der Aufklärer Gleim heute, Stendal 1987, 20–26. 199   SWS I, 335. Vgl. weiter SWS I, 165. – Vgl. zum literaturgeschichtlichen Kontext Manfred Beetz/Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung, Tübingen 2005.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Friedrich II. ist als „Preußens Held“200 zugleich „Mars und [.  .  .] Apoll“201 und „unser Kriegesgott“.202 Der König hat göttliche und menschliche Züge. Vor der Schlacht verteilt er „Frei, wie ein Gott, von Furcht und Graus“ die Rollen im Kriegsdrama, 203 leidet aber, wenn seine Soldaten beim Sturmangriff Übermenschliches leisten: „Wie stand, bei mitleidsvollem Ach,/Sein Auge himmelwärts!“204 Diese Zuschreibung ist historisch nicht einmal völlig unbegründet, hat Friedrich sich doch vor der Schlacht von Lissa (Leuthen) im Armeelager ungewohnt verständnisvoll gezeigt.205 Im Gedicht zeigt Friedrich nicht nur Empathie mit seinen Soldaten, sondern räumt eine Niederlage ein und befiehlt den Rückzug, ehe jene zur Katastrophe wird: „Gott gibt dem Feinde Glück“, sagt der König ‚coram Deo‘ „Nachdenkend“.206 Dieser König ist Gottes stets gewärtig. Ethisch kennzeichnet ihn eine von Gleim kühn entworfene Polarität von stoischer Unerschütterlichkeit und christlichem Mitleid. Anders als Abbt vermeidet Gleim einen monarchischen Messianismus. Göttliche Züge des Königs werden mit antikisierendem Nimbus, seine wahre Menschlichkeit wird christlich-konfessionell als Empathie und Demut dargestellt. Das Verfahren zur Kennzeichnung nationaler Einheit wird an den Strophen zur sieg- und verlustreichen Erstürmung gegnerischer Stellungen bei Prag deutlich.207 Die von der Armee repräsentierte Nation erscheint durch den König:   „Aus sieben Schanzen jagten wir Die Mützen von dem Bär. Da, Friedrich, ging dein Grenadier Auf Leichen hoch einher. Dacht’ in dem mörderischen Kampf Gott, Vaterland und dich; Sah, tief in schwarzem Rauch und Dampf, Dich, seinen Friederich.“208

200   Zitiert nach Fritz Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Literatur, Leipzig 1935, 97. 201   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 99. 202   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 104. 203   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 100. 204   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 108. – Vgl. zur Realität des Kriegsgeschehens Showalter: The Wars, sowie Beate Mrohs (Hg.): „Süß ist der Krieg den Unerfahrenen“: Krieg und Frieden in Texten aus dem Europa der Frühen Neuzeit. Eine Ausstellung der Bibliothek des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück und der Universitätsbibliothek Osnabrück, Osnabrück 2003. 205  Vgl. Showalter: The Wars, 194. 206   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 107. 207  Vgl. Showalter: The wars, 154: „The leading regiments took casualties approaching 50 per cent.“ – Die Anspielung auf den Bären verweist (unpassend zu dieser Schlacht) auf Russland, auch die Österreichischen Panduren trugen indes Bärenfellmützen. 208   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 106.

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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‚Der‘ Grenadier bewährt sich im „mörderischen Kampf“ mit der richtigen Haltung, für die Gott, der König und das Vaterland die obersten Referenzgrößen bilden. Diese patriotische Triade wird um 1813 entscheidend abgewandelt. In der zeitweiligen Reduktion der triadischen Formel auf Gott und das Vaterland zeichnet sich eine der wichtigsten politischen Verwerfungen zwischen der kriegsbedingten Nationsbildung um 1750 und der um 1813 ab. Oft ungenannt bleibend, weil durch Jakobiner und Napoleon verhasst gemacht wirken sich adelskritische Revolutionsideen dennoch auch im deutschen Patriotismus aus. Könige und Fürsten werden aus patriotischen Losungen gestrichen, wenn sie sich nach den selbstbewussten Maßstäben der Patrioten nicht bewähren.209 „Wenn Gott und Vaterland euer Feldgeschrei [.  .  .] wird“, heißt es bei Arndt, „dann werden Sieg und Ruhm euch krönen“.210 Für Gleims Grenadier ist dagegen die Vermittlungsposition entscheidend, die der König in der Triade einnimmt. Gott handelt durch den König.211 Der König ist die greifbare Verkörperung des Vaterlands, er ist im dynastischen Gefühls­ patriotismus nicht Symbolgestalt neben anderen, sondern Mittler. Vermittelt durch Friedrich denkt der Grenadier ‚an‘ Gott und, wie Gleim intensivierend formuliert, ‚er denkt Gott, König und Vaterland‘, an deren Realität die Meditation Teil gibt. Der Gottesbezug verstetigt die Nation im Krieg. Die Gottunmittelbarkeit des Königs überträgt sich auf ‚den‘ Grenadier, der im Kampf die Nation vertritt. Die nationale Einheit entsteht durch Bewährung der patriotischen Triade.212 In der semantischen Anreicherung der Triade kommt es auch zur patriotischen Rhetorisierung biblischer Tradition. So wird nach Dispositionen des Königs zur Schlacht bei Lowositz die Schöpfungsordnung bemüht:   „So stand, als Gott der Herr erschuf, Das Heer der Sterne da; Gehorsam stand es seinem Ruf In großer Ordnung da!“213 209   Graf: Gottesbild und Politik, 22, spricht von einer (politischen) „Theologie der Befreiung“. Graf zeigt aufschlussreich, wie die triadische Formel sich erst durch die Propaganda des ‚heiligen Krieges‘ einerseits und die zögerliche Zustimmung Friedrich Wilhelms III. zum Krieg andererseits mit neuem Sinn füllt. – Vgl. zum Problem der Patriotismusrezeption Weber: Lyrik, 119 passim. 210   AW 8, 169 f. 211  Vgl. Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 117. 212   Gegenüber dieser Konstellation und ihrer Problematik um 1813 mit Weber: Lyrik, 119 passim, gegen Hans Peter Herrmann: Individuum und Staatsmacht. Preußisch-deutscher Nationalismus in Texten zum Siebenjährigen Krieg, in: Ders. et. al. (Hg.): Machtphantasie Deutschland, 66–79, hier 74: „Gleims eingängige, enthusiastische Reimerei verwandelt wirkungsvoll und zukunftsweisend die absolutistische Analogie [sic!] von Fürst und Gott in die personalen Identifikations- und Verinnerlichungsmuster seiner bürgerlichen Weltanschauung und seiner bürgerlichen Leserschaft.“ Das wäre zu beweisen, kann aber eben nicht bewiesen werden. Hier wird nichts verwandelt, sondern neu konstruiert. 213   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 100.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Ihm gegenüber liegt das feindliche Heer „wie Sand am Meer“, also unzählbar, aber auch zur Zerstreuung bereit, wie der König nach der Schlacht bei Lissa (Leuthen) selbst bekennt: Gott helfe ihm, weshalb sein Heer gewinnt „Und Völker, wie der Sand am Meer,/Ihm Spreu im Winde sind.“214 Der Sturm des Herrn Zebaoth weht auch bei Lowositz. Die feindliche Armee schlagen „Gott, der auf Wolken fuhr“, 215 oder der alttestamentliche Gottesschrecken 216 in die Flucht. Gegenüber den biblischen Rekursen um 1813 fehlen Gleims Texten die überstarke Feindmarkierung und die heilsgeschichtliche Sicht auf die Nation. Die relative Selbstverständlichkeit dynastischer Loyalität um 1750 macht zwar ex­ treme Feindmarkierungen überflüssig, die sich erst aus der Reduktion der pa­ triotischen Triade auf Gott und das Vaterland ergeben. Überdies ist eine ‚Geschichte‘ im Singular, die eine Synoptik von Heils- und Nationalgeschichte ermöglicht, noch im Entstehen begriffen. Doch die auch um 1750 mögliche eschatologische Bezugnahme erlaubt einen direkten Vergleich zwischen den Texten verschiedener Zeiten. Gleim hat zwei eschatologische Optionen. Die eine begründet den Tod fürs Vaterland weltlich als Erringen von Unsterblichkeit und geistlich als Eintreten ins ewige Leben: „[.  .  .] wer ihn stirbt, bekömmt zum Lohn,/Im Himmel hohen Sitz!“217 Der Tod fürs Vaterland wird somit in konfessioneller Tradition den Letzten Dingen zugewiesen. Gegenüber altprotestantischen Deutungen des Kriegs als eines zur Prüfung im Glauben verhängten Übels gibt es aber als heilsgeschichtliche Figuration den Bezug auf die göttliche Führung der Nation im Krieg. Diese Deutung appliziert die Führung der Ekklesia auf die preußische Nation: „[.  .  .] was kann wider unsern Gott,/Theresia und Brühl?“ heißt es am Beginn des Feldzugs von 1757 mit namentlicher Nennung von Feinden und unverhohlener nationaler Inklusion Gottes – es sei denn hier wäre der ‚Kriegesgott‘ Friedrich gemeint. Extreme Feindmarkierungen braucht diese Rhetorik jedoch nicht. Gewiss müssen Gegner besiegt werden und ist die Freude über einen Sieg groß, doch erfolgt trotz der Benennung des Leichenbergs vor den Prager Schanzen, anders als bei Kleists grotesker Rheinumleitung, keine Desakralisierung des Gegners. Umgekehrt handelt Gleims Grenadier als mittlerer Charakter allerdings auch nicht so unglaubwürdig barmherzig wie Arndts ‚Teutscher‘ Soldat.218

  Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 124. – Vgl. zu Lissa Showalter: The wars, 192 passim. 215   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 102. – Vgl. zu Lowositz Showalter: The wars, 136 passim. Vgl. die dort zitierten Berichte von Schlachtteilnehmern. 216   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 120. 217   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 98. 218   Vgl. §  4.3 (c, d). 214

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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Die Nation, vertreten durch die Armee, hat Anteil an den Feindschaften ihres Königs, und da sie ihre Einheit aus der Triade von Gott, König und Patriotismus empfängt, ihre Freiheit aber durch den siegreichen Monarchen, folgt sie seiner Feindmarkierung. Diese beschränkt sich im Wesentlichen auf die Vereindeutigung der Verantwortlichkeit für den Krieg: „Der Neid, der neben Thronen sitzt/Im ungetreuen Wien“ hat als Laster „Der Erde Fürsten“ gegen den König „aufgebracht“.219 In der Konsequenz dieser Figuration liegt der Verzicht auf die Depersonalisierung von Feinden zu Höllenmonstern. Die Gegner der Preußen sind bald dumm 220 , bald frech 221 oder allzumenschlich-ungerecht, 222 aber keine Dämonen. Höllisch ist nur die Schlacht.223 Überdies bestimmt Gleims Grenadier-Ich den König durch eine ethische Bezeichnung, die für politische Apokalyptik keinen Raum hat. Der Preußenkönig gilt dem Dichter als ‚Menschenfreund‘ schlechthin. Dieses Prädikat ist charakteristisch unvereinbar mit apokalyptischen oder prophetischen Topoi. Die Feindmarkierung wird von einer ethischen Heiligkeit her gestimmt, auch wo der Blick auf den König die Grenadiere anspornt. 224 Der König handelt als Menschenfreund „mit Gott“.225 Er eignet sich moralisch als Repräsentant von „Gottes Rache“, trägt er doch „Gezwungen Waffen“.226 Seine Sache ist gerecht, infolgedessen ist es auch sein Krieg. Konsequent bewährt sich der königliche Menschenfreund auch in der Schonung der Besiegten,227 die 1757 (temporär) besiegte Kaiserin Maria Theresia von Österreich eingeschlossen.228 Die ‚Grenadierlieder‘ schöpfen mit der patriotischen Triade von Gott, dem aufgeklärten Monarchen und dem Vaterland die nationalen Möglichkeiten vorhandener konfessioneller Semantik aus. Die Schaffung eines neuartigen Politischen Christentums neben der traditionellen konfessionellen Erscheinungsform ist nicht beabsichtigt. Friedrich wird vereinzelt als wundertätiger Befreier Deutschlands gefeiert, doch heißt es, er selbst glaube keine Wunder.229 Dieser Anführer ist keine Christusfigur, der Philanthropentitel besteht auf einem transparenten Ethos der nationalen Integration. Folgerichtig belässt der Ver219   Gleim sieht dabei ziemlich durch die Finger. Im vorliegenden Kontext geht es aber nur um die Radikalität der Feindmarkierung. 220   Im Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach, Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 112: Angesichts eines listigen Manövers meint „der dumme Feind [.  .  .] es wäre Flucht“. 221   Im Siegeslied nach der Schlacht bei Lissa, Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 118: „Stolz, wie der Feind, eh er geflohn“, soll das Lied klingen. 222   Im Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach, Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 111: „Der Himmel gebe solchen Sieg/Dem Ungerechten nicht.“ 223  Vgl. Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 112.113. 224   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 121. 225   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 99.117. 226   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 118 f. 227   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 116. 228   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 125. 229   Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 117 f.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

zicht auf apokalyptische Dämonisierung und Desakralisierung dem Kriegsgegner bei allen Barbarismen, die auch in den ‚Grenadierliedern‘ nicht fehlen, ein menschliches Antlitz. Um der deutsche Horaz zu werden, 230 darf Gleims Grenadier die konfessionelle Semantik weder zur politischen Soteriologie überstrapazieren noch zur rein menschlichen Leistung des Königs und seiner Armee naturalisieren. c)  Klopstocks patriotische Lyrik und ihre Vaterländer Gegenüber Gleims ‚Grenadierliedern‘ als einer konzentrierten nationalen Affektkultur nimmt sich Klopstocks patriotische Lyrik disparat aus. Der Begriff Kriegslyrik ist überhaupt zu eng. Dem Patriotismus seines Kollegen Gleim, „Wenn von Friederichs Preise!/Ihm die trunknere Lippe trieft“, zollt Klopstock schon 1752 mit blumig-freundlicher Abgrenzung Respekt.231 Klopstocks literarische Nationsbildung baut, wie gezeigt, auf eine klare Unterscheidungskultur: Religion und Vaterland dürfen aufeinander bezogen, ihre Belange sollen jedoch nicht vermischt werden. Dieser Wille zur Unterscheidung bestimmt auch die patriotische Lyrik und ihre konfessionelle Semantik. Beispielhaft dafür ist die 1768 verfasste Ode ‚Mein Vaterland‘. Vom Vaterland zu singen unterliegt strengen Vorsichtsmaßregeln, die ethische Eignung des Dichter-Rhetors ist zu prüfen. Das hohe Sujet ist von Unsagbarkeitstopoi umstellt: „Mit ihrem eisernen Arm/Winkte mir stets die Bescheidenheit!“232 Der poetische Prozess ist gehemmt, auch wenn das affektive Instrumentarium ‚gestimmt‘ ist:   „Ach sie sinkt mir, ich hab es gewagt! Es bebt mir die Hand die Saiten herunter; Schone, schone! Wie wehet dein heiliger Kranz, Wie gehst du den Gang der Unsterblichen daher.“233

Der Dichter bittet das „vor vielen Landen“ einhergehende, im Wettbewerb der Nationen führende, personifizierte Vaterland um Schonung wie man eine Gottheit bäte. Der Bereich des Heiligen wurde überschritten. So begegnen die Vaterländer einander an der Grenze, von der aus sie unterschieden werden. Als höchster Gegenstand unter den weltlichen Sujets beansprucht die Nation Unsterblichkeit, nicht aber Ewigkeit. Im Rahmen der Leitdifferenz zwischen einem weltlich-unendlichen Ruhm und einer geistlich-unendlichen Rühmung bildet das Attribut der Heiligkeit den Berührungspunkt zwischen den Vater  Brüggemann: Der Siebenjährige Krieg, 98.   ‚An Gleim‘, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 103. 232   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 219. 233  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 220. 230 231

4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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ländern. Doch die Berührung ist selber schonend. Die Nation wird nicht sakral abgegrenzt, sondern durch Personifikation in Bewegung gehalten. Diese Bewegung führt in die offene Geschichte vieler Nationen und konnotiert die Bewegtheit von Klopstocks Poesie. Die Imagination höchsten Ruhms als „heiliger Kranz“ kann sich auf das Haupt des personifizierten Vaterlands, aber auch auf das Haupt des Dichters beziehen, der um der seelischen Motion seiner Rezipienten willen Ruhm verdiente. Die scheinbar zu Verwechslungen einladende Rede vom Heiligen ist das Medium von Klopstocks Unterscheidung zwischen himmlischem und irdischem Vaterland. Dieser Status erweist sich auch am Erkenntnis- und Schreibprozess. Der Dichter erinnert sich an frühe Pläne für ein Epos vom kaiserlichen „Befreyer“ der Nation. Doch er schlägt „die höhere Bahn“ zur Befreiung der Menschheit ein und wählt den Messias als Sujet. So grenzt derselbe Prozess das irdische Vaterland vom „Vaterlande des Menschengeschlechts“ ab. Beide Vaterländer dürfen auf verschiedene Weise heilig heißen. Die Differenz wird als Bewegung dargestellt: „So wend’ ich mich seitwärts“. Für Politik und Geschichte ist dank dieser Leitdifferenz ohne Verwechslungsgefahr mit der heiligen Sphäre Raum in späteren Strophen. Klopstock besingt das himmlische Vaterland im Odenton, aber auch in den Stillagen geistlicher Lieder. Die stets erneuerte Gewissheit des himmlischen Vaterlands gibt persönlichen Halt und sachliches Maß bei der Wahl irdischer Vaterländer. Klopstocks lyrischer Patriotismus ist in höherem Maß als Gleims friderizianische Option von der Annahme einer Wählbarkeit des Vaterlands geprägt. Der Grad freiheitlichen Lebens in deutschen oder benachbarten Territorien oder die Geneigtheit von Fürsten und Magistraten, die (Schönen) Wissenschaften zu fördern, vervielfältigen die möglichen Vaterländer in einer Weise, die aufgrund von Klopstocks humanistisch-rhetorischer Kunstauffassung nicht zufällig an die Renaissance erinnert. Ein Vaterland wird in den guten Gründen zu seiner Wahl greifbar. Ein Beispiel für diese patriotische Option bietet die um 1750 entstandene Ode an König Friedrich V. von Dänemark, an dessen Hof Klopstock sich längere Zeit aufhielt und von dem er eine Leibrente bezog. Der König sucht „geliebt zu seyn/Vom glückseligen Volk“, 234 was ihn zwar nicht vom Ideal des aufgeklärt-absolutistischen Beglückungsstaats, aber von individuellen Ausprägungen wie Ludwig XIV. oder Friedrich II. abhebt: „Niemals weint’ er am Bild’ eines Eroberers,/Seines gleichen zu sein!“235 Der Dänenkönig nimmt für sein Amt an der ‚imitatio Dei‘ Maß: „Gott nachahmen, und selbst Schöpfer des Glückes seyn/Vieler tausend!“236 Sein politisches Handeln vor Gott verantwortend   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 87.   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 86. 236   Dieses und das nächste Zitat Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 87. 234 235

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

„wägt“ er mit eschatologischem Blick „sich selbst jede der Taten vor,/Die sein Leben bezeichnen soll!“ Während bei Gleim Gottes Waage um Friedrichs gerechter Sache willen Preußens Schale sinken und Österreichs Schale steigen lässt, verlegt Klopstock das eschatologische Tribunal ins Innere seines Königs. Dieser gewinnt sein politisches Ethos aus der Vorwegnahme des Gerichts, nicht am kontingenten Ausgang einer Schlacht. Die Epitheta „Vater des Vaterlands“237 und „Vater des Volks“ beziehen sich auf dieses christliche Selbstverhältnis.238 Die Identifikation des Vaterlands am Monarchen ist von Gleims patriotischer Triade nicht strukturell verschieden, doch ist der Bewertungsmaßstab ein anderer. Den Unterschied macht der Gottesbezug, vom Dichter an einer zivilen, friedlichen Amtsführung identifiziert. Auch als Kulturpatrioten spielt er den dänischen Friedrich aus, der „lächelnd auf die herab“ blickt, „Die der Muse sich weihn“, vor allem die Dichter. Durch Klopstocks ‚Messias‘ begehrt der König „auf Golgatha Gott“ zu sehen.239 Monarchen können, sobald sie in einer Hinsicht Muster sind, indes als patriotische Exempla gefeiert werden, auch wenn sie einander feindlich gegenüberstehen. So heißt Maria Theresia „die menschlichste“ Habsburgerin, während im selben Text an Friedrichs II. geschichtlicher Legitimation gezweifelt wird.240 Friedrichs Bewertung durch Klopstock schwankt überhaupt erheblich, wie auch Herder den König in ‚Auch eine Philosophie der Geschichte‘ geradezu als Exempel für Ambivalenz in der Geschichte anführt.241 Klopstocks Patriotismus für ein republikanisches Freiheitsideal verhält sich zu den ihm untergeordneten Modellen personaler und politischer Loyalität wie im Liniengleichnis. Es gibt mehr oder weniger des Patriotismus würdige Monarchien, überragt vom Ideal republikanischer Freiheit. ‚Die Etats Generaux‘ von 1788 feiern die Vorbildlichkeit der neu eingerichteten französischen Nationalversammlung:   „Die größte Handlung dieses Jahrhunderts sei, So dacht’ ich sonst, wie Herkules Friederich Die Keule führte, von Europas Herrschern bekämpft, und den Herrscherinnen!   So denk ich jetzt nicht. Gallien krönet sich Mit einem Bürgerkranze, wie keiner war! Der glänzet heller, und verdient es! Schöner, als Lorbeer, die Blut entschimmert.“ 242   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 86.  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 87. 239   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden I, 88. 240   ‚Ihr Tod‘. Auf Kaiserin Maria Theresia, vermutlich noch 1780 verfasst, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 22: „Ob von ihm/Erreichung melden werde/Die Felsenschrift der Todtenrichterin [hier: der Geschichte]?“. 241   SWS V, 581 f. 242   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 63. 237

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4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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Die lyrische Bedeutung politischer Emanzipation wiegt hier mehr als kriegsbedingter Ruhm, der für die Dichter stets sangbare. Die poetische Lust an der politischen Emanzipation in der Nation ist bei Klopstock so stark wie bei kaum einem anderen Dichter der Zeit. Ihre Stärke bekundet sich noch in Mahnungen an die Deutschen 243 und in der kompensativen Reformationserinnerung.244 Im Rahmen der Leitunterscheidung von republikanischer Freiheit und anderen politischen Formen steht die Option auf das ‚eigene‘ nationale Ganze als politische und kulturelle Referenzgröße jenseits der optimier- und wählbaren irdischen ‚Vaterländer‘:   „[.  .  .] Dein Joch, o Deutschland, Sinket dereinst! Ein Jahrhundert nur noch; So ist es geschehen, so herrscht Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!“ 245

In dieser – unerfüllten – ‚Weissagung‘ wie auch in der Ode ‚Mein Vaterland‘ erscheint die Nation politisch ansprechbar. Ihre potentiellen Subjekte wissen sich auf Befreiungsprozesse mit allen rechtlichen Implikationen verpflichtet. Gerade die Konstitution der nationalen Gemeinschaft beruht aber auf einer Entscheidung. Die politische Nation ist prinzipiell beitrittsoffen für alle Wil­ ligen.246 Nationale Integrität besteht für Klopstock demnach in der politisch gesicherten freien Aneignung der sprachlich-kulturellen Einheit. Demgegenüber lassen Kleists und Arndts territorial präzise Imaginationen die konstitu­ tionelle Frage 1809 und noch 1813 im Unklaren. Konfessionelle Semantik zeigt sich in den republikanisch hoffnungsvollen Begleitgedichten zu Frankreichs republikanischer Selbstbefreiung. In ihrer Dialektik erkennt Klopstock das Problem der Ungreifbarkeit der Nation als grundsätzliches und kennzeichnet es zweifach mit konfessioneller Semantik. Zum einen wird die durch die Revolution erschaffene Freiheit als heilig markiert, ja als „Mutter des Heils“.247 In ihr kommt ein göttlicher Zug des politisch tätigen, schöpferischen Menschen zum Vorschein. Klopstock hebt diesen Zug auch als Verwirklichung von Gottebenbildlichkeit hervor, anscheinend unzeitgemäß in einer „Zeit der Leugnung Dessen, der schuf“.248

243   Beim Vergleich mit den Franzosen in ‚Kennet euch selbst‘ von 1789, nach Aufhebung der Feudalrechte, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 69. 244   Vgl. 3.2 (a). 245   ‚Weissagung. An die Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg‘ (1773), in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 3 f., hier 4. 246  Vgl. Renans berühmte, in Meineckes ‚Staatsnation‘ rezipierte, von der konstruktivistischen Nationalismustheorie wieder aufgegriffene Definition der Nation: „L’existence d’une nation est [.  .  .] un plébiscite de tous le jours.“ Zit. n. Alter: Nationalismus, 19. 247   ‚Mein Irrthum‘ (1793), in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 82 f., je 82 und 83. 248   ‚Kaiser Alexander‘ (1801), auf Zar Alexander I. von Russland, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 163 f., hier 163.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Infolge des Schaffens von politischer Freiheit tritt ein Gefahrenpotential zutage, das die Nation bedroht. Von Innen stürzt der „Geiferbiß“ der jakobinischen Schlange die Freiheit in den Staub und negiert sie aus ihrer vorigen Fülle heraus.249 Die bindungslose Willkür des Terrors zerstört die erreichten Einrichtungen der Freiheit. Nach Außen erlischt die Selbstverpflichtung der neugebildeten Nation auf Kriegsverzicht, als sich ein präventiver Eroberungskrieg nahelegt: „[.  .  .] sie selbst, die das Untier zähmten, vernichten/Ihr hochheilig Gesetz“.250 Das politische Schöpfertum der Menschen erweist sich als ambivalent, die selbstbestimmte Nation missrät und die „Göttin“ Freiheit ward „zum Ungeheuer [.  .  .] umgeschaffen“.251 Dem Dichter bleibt nur teilnahmsvoller „Kummer, wie verschmähter/Liebe“252 angesichts einer jungen politischen Revolutionsnation, die an ihrer Freiheit zerbricht. Die Rede von einer Heiligung des Lebens durch das Schaffen von Freiheit, die über ihre Entstehungsnation hinaustreiben soll, aber schließlich sogar in dieser einen Nation eine fatale Metamorphose erleidet, ist eine der konfessionellen Markierungen von Klopstocks republikanischem Patriotismus. Die andere betrifft die unbeabsichtigte Folge des Freiheitsprozesses, den Krieg. Krieg als Mittel zu politischen Zwecken lehnt Klopstock so gründlich ab, dass die patriotische Rationale von Kleist oder Arndt nicht an seine Position anschließen kann. „Weiche von mir, Gedanke des Kriegs“; 253 schreibt der Dichter 1800 in ‚Losreissung‘, während des Zweiten Koalitionskrieges, und verbannt den Krieg „in die Oede“ schlechthin.254 Die affektiv deutliche Ablehnung hat Gründe, unter denen sich wiederum konfessionelle Bezugnahmen finden. So fragt Klopstock angesichts von Wirren, die durch schöpferische menschliche Taten freigesetzt sind: „Spricht durch That auch,/Welche die Sterblichen tun, die Gottheit?“255 Die Zweifel am Sinn von Geschichte, die Gleims Führung der Nation und selbst Herders Kulturoffenbarungen einklammern, werden durch politische Beobachtungen gestützt. Schon in der Elegie ‚Der Freyheitskrieg‘ von 1792, nicht zufällig in einer lyrischen Form des Trauerns, warnt Klopstock vor dem dynastischen Krieg, der durch die Kriegserklärung des ursprünglich zum Frieden entschlossenen republikanischen Frankreich wieder drohe:

  ‚Die Jakobiner‘ (1792), in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 77.   ‚Der Erobrungskrieg‘ (1793), gedichtet nach der Annexion Savoyens und Nizzas, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 83 f., hier 84. 251   ‚Das Wort der Deutschen‘ (1793), in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 80 f., hier 81. 252   ‚Mein Irrthum‘, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 83. 253   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 158 ff., hier 158. 254   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 159. 255   ‚Wissbegierde. Im Januar 1799‘, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 145 f., hier 146. 249

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4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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  „[.  .  .] so bald die Beherscher der Nazionen statt ihrer Handeln; dann gebeut kein Gesetz, Das dem Bürger gebeut, dann werden die Herschenden Wilde [.  .  .]“256

und die Freiheit geht der Nation verloren. Das substitutive Handeln der Herrscher statt der Nationen legt die Frage nahe, was wäre, wenn die Nationen handeln könnten. Um die Wahrheit darüber zu erfahren, müsste man den Willen der Nation ermitteln: „Fragt, der blinken die Pflugschaar läßt, die Gemeinen des Heeres,/Deren Blut auch Wasser nicht ist“.257 Zur Nationsbildung gehört die Entfaltung des politischen Wollens aller, die Eliten sehen in der Volksmasse aber nur ein Objekt. Daher ist auch die kriegsbedingte Nationsbildung unplausibel. Krieg pervertiert die Heiligung nationaler Freiheit in eine Sakralisierung des Todes, die gegen das Fünfte und gegen das Erste Gebot verstößt: „in den Kriegen werden vergötzten/Herrschern Menschenopfer gebracht“. Auf dieser Deutungslinie liegt auch Klopstocks unwillige Erkenntnis von 1797, „Dem korsischen Jünglinge“, 258 an dessen Taten sich auch die Autoren um 1813 abarbeiten, habe der Rückschlag in der republikanischen Freiheitsgeschichte „das Herz entflammt“. Bonaparte ist demnach nicht der repräsentative Todfeind, sondern ein neuartiger, despotischer Funktionär in einem umfassenden Freiheitsprozess. Der Korse zwingt im Zwielicht nationaler Ordnung den „Völker[n] Hesperiens, Freiheit“ auf und tritt „die schönste Schöpfung der späten Welt,/Die Freiheit, in den Staub“. Eine gewisse Dämonisierung ist zu beobachten, doch bleibt der rhetorisch-exemplarische Rahmen erhalten. Die Diktatur dient als warnendes Beispiel für den jeder Nation möglichen Rückfall im Freiheitsprozess. Klopstocks lyrische Vaterländer lassen eine klare Ordnung erkennen. Die als mögliche Beheimatungsorte bestimmten Vaterländer sind der republikanischen Freiheitsordnung untergeordnet, die das Desiderat für die Gesamtnation bildet. Die nationale Einheit ist trotz sprachlicher Verbundenheit und Verbindlichkeit für Klopstock erst von der politisch freien Nation aus und unter Beteiligung aller Teile des Volkes zu konstruieren. Die konfessionelle Semantik bildet das himmlische Vaterland vor, das von allen Nationalisierungen unterschieden bleibt. So kann Gott in internationalen Konflikten nie auf eine Seite gezogen werden; ein deutscher Weg zur Nationsbildung darf nicht über Krieg im Namen Gottes führen. In der Abwehr von Krieg liegt eine weitere Funktion der konfessionellen Semantik. Sie unterscheidet zwischen inklusiver ethischer Heiligung und jener sakralen Exklusion, die in Kriegen „Menschenopfer“ fordert.   Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 74 f.   Dieses und das nächste Zitat aus ‚Der Freiheitskrieg‘, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 75. 258   Alle Zitate bis zur nächsten Anmerkung ‚An die Rheinischen Republikaner. Im September 1797‘, in: Muncker/Pawel: Klopstocks Oden II, 138 ff., hier 139. 256 257

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Demgegenüber bezeichnet der patriotische Lyriker politische und kulturelle Beheimatungspotentiale und arbeitet an der Idee einer gottgefälligen politischen Freiheitsschöpfung, welche die Nationen vereint. d)  Expansivität der Nation – in speciem aeternitatis Gleim und Klopstock lassen Anhaltspunkte für die spätere Funktion konfessioneller Semantik in der Kriegslyrik erkennen. Gleim setzt einen Gefühlspatriotismus mit dynastischer Loyalität und territorialpolitischer Konkretion anhand der Triade von Gott, König und Vaterland um. Dabei vermittelt der König zwischen Gott und Vaterland. Die konfessionelle Semantik hat in diesem Modell die Aufgabe, die patriotische Triade vorwiegend ethisch und ohne apokalyptisch-dämonisierende Feindmarkierung zu verstetigen. Klopstock arbeitet mit der Leitdifferenz von himmlischem und irdischem Vaterland, mit der Beheimatungspotentiale in und außerhalb der deutschen Sprachnation, aber auch die Verortung dieser Nation im modernen politischen Freiheitsprozess imaginiert werden können. Die zu bildende Nation unterliegt wiederum einem republikanischen Freiheitsideal, das ihre kulturelle Einheit voraussetzt, das die politische indes nur aus der Partizipation aller Teile des Volkes erwartet. Die Rede vom Heiligen begleitet dieses Freiheitsideal kritisch. Klopstocks Lyrik spiritualisiert die Revolution, ohne Weltgeschichte und Heilsgeschehen miteinander zu identifizieren.259 Gewiss erscheinen Kleists Desakralisierung oder Arndts nationale Heilsgeschichte gegenüber Gleims preußischem Ethos und Klopstocks am Heiligen gebrochenem Patriotismus maßlos. Fast möchte man die Unterscheidung von emanzipativem Patriotismus und integrativem Nationalismus aktivieren, um die Dichtung zwischen 1806 und 1815 als Emotionalisierung zu deuten, die immer weiter von den konkreten Erfordernissen einer konstitutionell und institutionell klaren, politisch versierten Nationsbildung wegführt. Die lyrischen Affekte hätten demnach die nationale Einheit und Freiheit erst recht ungreifbar gemacht, wodurch irredentistische Imaginationen von deutscher Überlegenheit mit entsprechend übermäßigen Feindmarkierungen den nationalen Selbstumgang allmählich vergiften konnten. Die konfessionelle Semantik wäre in den Feindmarkierungen und Selbstübersteigerungen dieser Zerstörungsarbeit aufgegangen, ohne noch authentisch ‚religiös‘ zu sein. Die Zuschreibung der Beliebigkeit konfessioneller Semantik im ‚nation building‘ führt aber in die Irre. Vielmehr arbeitet vor Arndt schon Klopstock an einer Konfessionalisierung der Nation, wenn auch seine Unterscheidungskultur feiner eingestellt ist. Die allgemeine, internationalisierbare, republikanische Freiheitsordnung hat ihre Wurzel in einem menschlichen Schöpfertum, das des   Klopstock steht damit nicht allein. Bei William Blake liegt der Fall ähnlich.

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4.2  Lyrische Expansion der Affekte

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schaffenden Gottes eingedenk bleiben muss, wenn die Freiheit „Mutter des Heils“ werden soll. Andernfalls kommt es zum Krieg, der sakral als Menschenopfer an vergötzte Herrscher oder aber als säkularer Bruch der heiligen Selbstverpflichtungen republikanischer Autonomie gedeutet werden kann. Und Gleim operiert zwar auf der Grundlage des Bekenntnisses zur Dynastie und des Segenswunsches für den König, doch entspringt dem Marsch seines Grenadiers immer wieder die Vorstellung einer speziellen göttlichen Führung der durch die Armee repräsentierten Nation. Kleists kataraktartiges Hereinbrechen bewaffneter Volksmassen über die Gegner ist davon nur quantitativ sowie durch die Relativierung der monarchischen Position unterschieden. Die Autoren im 18. Jahrhundert und die am Beginn des 19. Jahrhundert ähneln einander in mancher Hinsicht mehr, in anderer Hinsicht weniger als bisher angenommen. Um den Status konfessioneller Semantik in der Kriegslyrik abschließend zu problematisieren, ist ein Blick auf Arndts 1813 entstandenes Lied ‚Des Teutschen Vaterland‘ zweckmäßig, das mehrere Jahrzehnte als ‚heimliche‘ oder potentielle Nationalhymne kursiert ist.260 Die ersten fünf Strophen des schlichten, paarreimigen Liedes stellen im Incipitvers jeweils die territoriale Frage: „Was ist des Teutschen Vaterland?“, 261 um sie im Schlussvers nach dreimaliger, pathetischer Verneinung mit der Auskunft „Sein Vaterland muß größer sein“ zu verschieben. Der zweite bis vierte Vers unterbreiten territoriale Angebote, die deutsche Teilvölker aufrufen und typische Züge einzelner Territorien benennen. „Am Rhein die Rebe“ und „am Belt die Möwe“ geben allerdings nicht nur Kolorit. Wenn in der dritten Strophe die Donau braust, ist der preußisch-österreichische Dualismus metonymisch in den ergebnisoffenen territorialen Diskurs hereingeholt. Die vierte Strophe vergrößert das potentielle Territorium um die Schweiz und Tirol, wegen ihrer Deutschsprachigkeit – und Andreas Hofer – zur Nation gerechnet. Wenn nun dazu aufgerufen wird, „das große Land“ zu nennen, scheint Arndt ‚großdeutsch‘ zu imaginieren.262 Allerdings wird die Beantwortung der territorialen Frage weiter aufgeschoben, was durch die vielfältige Ungreifbarkeit der Nation bedingt ist. Vielerlei Grenzverschiebungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und das Ende des Alten Reichs haben Spuren in der nationalen Imagination hinterlassen und sie ermattend oder anregend verwirrt. Die Offenheit des territorialen Diskurses nach der Inklusion Österreichs zeigt, dass Arndt die Greifbarkeit der Nation überhaupt thematisiert. 260  Nach Weber: Lyrik, 99, erstmals in der frühen Sammlung Kriegs-Lieder für Deutsche Soldaten, Königsberg 1813, erschienen. Vgl. zur Verbreitung von Arndts Kriegslyrik weiterführend Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zu Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewusstsein im frühen 19. Jahrhundert, Bonn 1974. 261   AW 1, 126 f. 262   In diesem Sinn Weber: Lyrik, 99: „Abgelehnt werden Landespatriotismus wie Reichs­ patriotismus.“ Arndt deshalb „Expansionspolitik“ zu attestieren, wie Wehler: Nationalismus, 76, ist ein rezeptionsgeschichtliches Argument.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Ging die nationale Imagination von der flächigen Erstreckung aus, so geht sie in der sechsten Strophe buchstäblich zur Höhe über:   „Was ist des Teutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es sein! Das, wackrer Teutscher, nenne dein!“263

Nicht Kriegsgesänge und nicht einmal patriotische Lyrik im weiten Sinn, sondern Kirchenlieder machen die Nation greifbar. Arndt lenkt sowohl vom kriegsbedingten ‚nation building‘ als auch von der politischen Bestimmung der Nation auf eine innere, konfessionell markierte Einheit über. Gewiss ist die sprach-kulturelle Greifbarkeit keine rein affektive und innerliche. Kirchenlieder werden ja auch an konkreten Orten gesungen. Aber die Orte konfessionellen Christentums weisen eben woanders hin, sie sind keine suisuffizienten Orte innerhalb einer territorialen Grenze. Die scheinbar fromme sechste Strophe vermittelt deshalb dem ganzen Lied eine Richtung auf unbegrenzt irredentistische Affekte.264 Von „Kulturpatriotismus“ zu sprechen, erscheint wegen dieser maßlosen Applikation von konfessioneller Topik zu unscharf.265 Zuletzt besteht die nationale Identität aus demonstrativer Frömmigkeit, einem entstaubten Nationalcharakter und scharfer Feindmarkierung: Die siebte Strophe reiht angebliche germanische Tugenden auf, die den bloßen Händedruck als Eid gelten lassen und sich in treuen Augen manifestieren. Wo „Liebe warm im Herzen sitzt“, soll der Gefühlsboden des Vaterlands sein. Die achte Strophe schlingt Feindmarkierungen in den Text. Deutschland sei, wo welscher Tand abgelehnt werde, Franzosen Feinde und Deutsche Freunde heißen. Die Nation existiert im Modus bloßer Nennung und expandiert in Affekten. Diese äußere Nichtfestlegung macht Arndts Lied und Lyrik wie die seine für die nationalistische Rezeption interessant, während der Versuch, das Problem der Ungreifbarkeit der Nation konfessionell zu lösen, nur den politischen status quo bestätigt.266 263   AW 1, 127. Vgl. zu Nietzsches Scherz mit dem als Nominativ verstandenen Dativ „Und Gott“ Sigrid Nieberle: ‚Und Gott im Himmel Lieder singt‘: Zur prekären Rezeption von Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 121–136, hier 128 ff. 264   Vgl. zur politischen Soteriologie §  4.4 (c). 265  Gegen Weber: Lyrik, 99. – Das Lied konnte allerdings gerade wegen der territorialen Entgrenzung der Nation nach ‚oben‘ mühelos von Immigranten in die USA verwendet werden. Vgl. dazu Lorie A. Vanchena: The Americanization of Ernst Moritz Arndt’s Political Poetry in the Nineteenth Century, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 209–228. 266  Vgl. Ferdinand Delbrücks bissige Kritik an Arndts Feindmarkierung bei Ott: Ernst Moritz Arndt, 283 f.: „[F. D.] hatte die sachliche Frage gestellt, ob denn des Deutschen Vaterland zugleich überall und nirgends sein solle; denn Gott sei Dank gebe es kein einziges Land, wo jeder Franzose Feind und jeder Deutsch Freund heiße.“

4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

221

Da die Ungreifbarkeit der Nation kein imaginäres Problem war, wird der offensive Gebrauch konfessioneller Semantik in der Kriegslyrik verständlicher. Affekte für eine ungreifbare Nation sind nur zu schaffen, indem diese im Zeichenzusammenhang erfahrbar gemacht wird.267 Insofern stellt die lyrische Expansion der patriotischen Affekte eine Leistung eigener Art dar. Gegenüber der politisch konkreten und an Leitdifferenzen reichen patriotischen Lyrik des Aufklärungszeitalters erscheint diese Leistung allerdings reduktionistisch.

4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus Mit den Militärkatechismen können nun Genretexte auf Nationalisierungsund Konfessionalisierungsstrategien hin untersucht werden. Kleist und Arndt gelten unter den Autoren der antinapoleonischen Feindmarkierung als herausragend konsequente Propagandisten. Einst berühmt, jetzt berüchtigt ist ihre gewaltsame Konsequenz einer nüchtern-interessierten Interpretation schwer zugänglich. Die Rezeptionsgeschichte schlägt gleichsam dazwischen wie der preußische Reiter in Kleists ‚Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege‘.268 Während Kleists politisch-patriotische Texte um ihrer literarischen Modernität willen jedoch neu entziffert werden, steht eine vergleichbare Inblicknahme Arndts noch weithin aus. Die unheimliche Grauzone von authentischer Frömmigkeit, politischer Ästhetik und sakraler Gewalt erschließt sich nur bei einer vordergründig geradezu ideologieverdächtigen Annäherung an den Gegenstand. Kleists und Arndts Militärkatechismen lohnen indes die Mühe, da sie gattungsbedingt an konfessioneller Semantik haften und die Tradition dennoch durchbrechen. Der Militärkatechismus hat reformatorisch-konfessionelle Tradition.269 Zugleich wird die Gattung Katechismus seit der Aufklärung jedoch überhaupt entkirchlicht und entgrenzt.270 Es gibt im 18. Jahrhundert vielerlei Umformungen, besonders aber in politische Didaktik mit religiöser Aura. Ein kirchlicher Katechismus in politischer Funktion ist der französische Einheitskatechismus von 1806, der das Christentum als apolitische Religion deutet und diese Deutung, pünktlich zum   Jeismann: Vaterland der Feinde, 32 f.; Beßlich: Napoleon-Mythos, 109.   Zweibändige Ausgabe in Einem Band, Teil  II, 263 ff. 269  Vgl. bereits Julius Langhaeuser: Das Militärkirchenwesen im kurbrandenburgischen und Königlich Preussischen Heer: Seine Entwickelung und derzeitige Gestalt, Metz 1912. Langhaeuser berichtet parteiisch, aber interessant von Diskussionen zur Abschaffung des Militärkirchenwesens unter Friedrich Wilhelm III.; Heinrich Meisner: Soldatenkatechismen, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 7 (1903/1904), 198–204. 270   Vgl. zur Umfunktionierung der Gattung erhellend, wenn auch ohne Verständnis für den konfessionellen Kontext Karl Markus Michel (Hg.): Politische Katechismen: Volney, Kleist, Heß, Frankfurt/Main 1966, 7–17. 267

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

juristischen Ende des Alten Reichs, mit der Politischen Religion des neuen Kaisertums verbindet. Napoleon I. erscheint als ein Souverän über den Souveränen, wodurch er eine Mittlerstellung zur Quelle aller Souveränität erhält, die ihn von anderen europäischen Herrschern abhebt. Im zweiten Teil des Katechismus, ‚de la morale‘, wird der Dekalog ausgelegt. Zum Vierten Gebot gibt es einen Zusatz, der das Gebot zur Elternliebe von der gegebenen politischen Ordnung auf die Person Kaiser Napoleons I. ausdehnt: „en particulier à Napoleon Ier, notre empereur“.271 Die Christen schulden ihm demnach Liebe, Respekt, Gehorsam, Glauben und Bürgerpflichten wie den Militärdienst, aber auch „prières ferventes“ für sein Heil und das geistliche und zeitliche Gedeihen des Staats („la prospérité spirituelle et temporelle de l’Etat“). Das Gedeihen des napoleonischen Kaisertums wird also unter geistlichem Vorzeichen gesehen. Eine Wechselrede weiter wird Gott dann zwar als höchster Souverän apostrophiert, doch Napoleon erhält gegenüber anderen irdischen Souveränen eine Sonderstellung: „l’a rendu le ministre de sa puissance et son image sur la terre. Honorer et servir notre empereur est donc honorer et servir Dieu même.“ Das ist mehr als dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, auch wenn genau diese Äußerung Jesu später zitiert wird. Für Kleist und Arndt bedeuten sowohl die politische Katechetik als auch und ganz besonders der Katechismus des kaiserlichen Frankreich eine Herausforderung, sich ebenfalls in diesem Genre zu engagieren und eigene Vorstellungen von Souveränität zu entfalten. a)  Ethischer Dezisionismus Im Zuge der Erhebung Österreichs 1809 unter Kaiser Franz I. und seinem Bruder und Feldherrn Erzherzog Karl stieg die Zahl der Publikationen an, die alle Deutschen zu den Fahnen Österreichs riefen. Der geschichtliche Augenblick löste politische Bekenntisse zu Österreich, wenn nicht gar Konversionen zum Katholizismus aus.272 Die patriotische Solidarität wurde durch den Sieg über Napoleon im Mai bei Aspern verstärkt. Davon ergriffen musste man nicht konvertieren, um sich an Österreichs Seite zu stellen. Noch im Mai 1809 verfasste auch Kleist einen – unveröffentlicht gebliebenen – Beitrag zur Insurrektionspublizistik.273 ‚Abgefasst nach dem Spanischen Bürger-Katechismus‘, einer Publikation desselben Jahres, die in Österreich auf Deutsch kursierte, zielt Kleists ‚Katechismus der Deutschen‘ auf die Bildung einer Guerilla. Er verbindet den Ruf der 271   Vgl. Catéchisme l’usage de toutes les Eglises de l’Empire Francais, Paris, Chez la veuve Nyon [.  .  .] et à la Librairie Stéréotype 1806, hier 55 f. 272   Wie bei Friedrich Schlegel und Dorothea Veit-Schlegel. 273   Heinrich von Kleist: Katechismus der Deutschen, abgefasst nach dem Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte, Zweibändige Ausgabe in einem Band, S.  350–360.

4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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Bürger zu den Waffen mit ihrer Erhebung zu Subjekten der Nation und stattet diese mit der für den autonomen Kampfeinsatz benötigten ethischen Gewissheit aus. Gemäß dem Prätext inszeniert Kleist ein Gespräch zwischen einem fragenden Vater und einem antwortenden Sohn.274 Im Gegenzug zur Geradlinigkeit des kirchlichen Katechismus lässt Kleist den Vater sich immer wieder verstellen. Er will damit nicht etwa seinen Sohn falscher Antworten überführen, sondern dessen Reaktionsfähigkeit testen und schärfen. Es ist, als würden Vater und Sohn dialogisch Klingen kreuzen, die sie vielleicht im ‚Landsturm‘, der freiwilligen Miliz, noch gegen metallene eintauschen müssen. Kleists Katechismus streut den Gottesgedanken stark reduziert unter ethische Äußerungen und analytische Glossen zur Nationsbildung. Das 1. Kapitel exponiert die territorialpolitische Ungreifbarkeit der Nation, indem der Vater seinen Sohn – ungewöhnlich für einen Katechismus – durch Verwirrung auf die Probe stellt. Der Sohn gibt sich als Deutscher zu erkennen, der Vater bezweifelt die Zuschreibung im Blick auf die dynastischen und völkerrechtlichen Zustände. Das auch in ‚Die Hermannsschlacht‘ verwendete ‚Xenion‘ ironisierend spitzt er den Zweifel zu: „Wo find ich es, dies Deutschland, von dem du sprichst, und wo liegt es?“275 Inmitten der wie Deutschland zertrümmerten Antworten findet der Sohn die Lösung. Die Nation ist kartographisch unauffindbar. Zum einen sind die gegenwärtigen Landkarten so trügerisch wie Napoleons Verträge. Zum anderen kann die politisch abwesende Nation nur in vergegenwärtigenden Taten bestehen. Diese sind durch Österreichs Erhebung als einer alten und möglichen neuen Leitmacht aller Deutschen definiert.276 Die Nation würde also hergestellt, wenn sich alles Volk Österreichs Kampf um die äußere Freiheit der Deutschen anschlösse. Ethisch ist auch der Rang des Fürsten zu bestimmen, der das Reich wiederherstellte oder die politische Nation stiftete. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit wird willensethisch beantwortet, die gutwillige Verhängung des Ausnahmezustands reicht jedoch nicht zur Souveränität. Legitimiert ist jeder, „dem Gott zwei Dinge gegeben hat: den guten Willen dazu und die Macht, es zu vollbringen“.277 Lapidar gesagt muss der Fürst seinen Zweck auch erreichen. Gottes Handeln beschränkt sich indes auf die Bestimmung des guten Willens und die Gewährung der politischen Ausgangskonstellation. Vielleicht versucht Kleist hier, Kants Auffassung von der freien Selbstbindung des Willens in einen Insurrektionsaufruf zu pressen. Die Entlastung des Katechisierten von Schuldfragen will indes nicht zu kantianischer Bedachtsamkeit passen:

274   Der Text hat sechzehn Kapitel, von denen der Schluss des zehnten, das elfte und der Anfang des zwölften nicht überliefert sind. 275   Vgl. 4.1 (c). 276   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 350 f. 277   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 353.

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

„[.  .  .] wenn ich mit Gewehr und Waffen neben dir stehe, den Augenblick erlauernd, um dich zu ermorden, und du, ehe ich es vollbracht habe, einen Stock ergreifst, um mich zu Boden zu schlagen; so hast du den Streit angefangen?“278

Die Frage des Vaters ist rhetorischer Natur, nur der Stockschlag könnte sie nonverbal beantworten. Der Lakonismus dieses Dialogs ist bemerkenswert. Die Entscheidungen des Katechisierten verlocken dazu, den Dezisionismus im Text aufzudecken und nach einer sakralen Dimension des brachialen Notkriegs zu fragen. Das 2. Kapitel modelliert die Nationsbildung in einem geradezu „possenhaften Spiel“ mit Paradoxen.279 So wird der Hinweis des Vaters, Gott habe die Nation gesegnet, vom Sohn als Verführungsversuch entlarvt, da die territoriale Absenz der Nation und der tatsächliche Zustand ihrer Kultur nicht auf göttlichen Segen schließen lassen. Der Sohn weist Glücksgüter und Segensgaben – anders als Arndt im ‚Katechismus Wehrmann‘ – als Anlass zur Vaterlandsliebe zurück. „Warum also liebst du Deutschland? [.  .  .] Weil es mein Vaterland ist.“280 Dieser affektive Apriorismus hat den im Regiment sitzenden Gott nicht nötig. Man kann allerdings fragen, ob die Vaterlandsliebe nicht dem Modell einer ‚revelatio sub contrario‘ folgt: Am Boden Zerstörte wecken Erbarmen. Die Erhebung der Nation wäre demnach auch ein biblisches Aufheben einer solchen Gestalt. Die dezisive Tendenz wird im weiteren Text teils gestützt teils untergraben. In diesen Zusammenhang gehören die Personalisierung der nationalen Loyalität, die dämonologische Feindmarkierung und die Frage nach den höchsten Gütern. Im 3. Kapitel kommt es, motiviert durch die Frage nach Gründen für die „Zertrümmerung“ der Nation, zur Gegenüberstellung beider Kaiser. Als der Sohn den neuerlichen Kriegsausbruch nicht rational zu begründen vermag, entscheidet er sich, nach einer Lösung für dieses Dilemma befragt, für die Person seines Vertrauens. Franz I. habe versichert, die nationale Sache sei gerecht, und er sei „wahrhaftiger“ als Napoleon, der Zertrümmerer politischer Territorien und Verächter nationaler Grenzen. Die Unverrechenbarkeit persönlichen Vertrauens bildet ein Gegengewicht zur dezisionistischen Nationsbildung. Vertrauensverhältnisse entziehen sich der Manipulierbarkeit auch 281 – zur Friedenslösung führen sie nicht. Mit dem personalistischen Korrektiv des Dezisionismus ist die inklusive Seite der nationalen Integration geklärt: Wer für die nationale Zukunft und loyal zum vergangenen Reich handelt und dabei den politischen Spitzenpersönlichkeiten zutraut, vor Gott zu handeln, gehört dazu. Die exklusive Seite ergibt sich aus den starken Feindmarkierungen des Katechismus. So stellen Napoleons bewiesene Unberechenbarkeit und seine militaristische Außenpolitik rationale   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 354.   Fischer: Das Eigene, 294. 280   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 351. 281   Dass sie sich ihr immer entzögen, wird niemand behaupten wollen. Vgl. §  4.1 (c). 278

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4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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Gründe gegen ihn dar.282 Doch die nationalen Integrationsmechanismen werden auch durch extreme Affekte verschärft. Die Feindmarkierung greift im 4. Kapitel den dämonologischen Begriff des Erzfeindes auf, um im 7. Kapitel ‚Von der Bewunderung Napoleons‘ eine sakrale Abgrenzung vorzunehmen. Demnach ist Napoleon der „Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten“ und ein „Sünder, den anzuklagen, die Sprache der Menschen nicht hinreicht, und den Engeln einst, am jüngsten Tage, der Odem vergehen wird“.283 Weiter hat man sich Napoleon, mit einem Selbst-Zitat Kleists aus ‚Käthchen von Heilbronn‘, „als einen, der Hölle entstiegenen, Vatermördergeist“ vorzustellen, „der herumschleicht, in dem Tempel der Natur, und an allen Säulen rüttelt, auf welchen er gebaut ist.“284 Dieses grelle, aber literarisch eindrucksvolle Urteil ist eine sakrale Feindmarkierung, die den Gegner depersonalisiert und damit transparent für infernalische Energien macht. Napoleon ist aber nicht mit einer traditionellen endzeitlichen Satansfigur gleichgesetzt wie bei Arndt,285 vielmehr wird eine neuartige apokalyptische Funktion für den französischen Kaiser bestimmt. Neu ist diese Funktion zum einen durch die Ausdehnung der Heiligkeit auf ein modernes Konzept von der Unverfälschtheit des Naturzustands, die als bedrohter „Tempel der Natur“ chiffriert wird. Gedacht ist dabei wohl an eine aus dem guten Naturzustand fließende moralische Evidenz, durch Napoleon verunreinigt. Zum anderen ist die Intensität des Bösen innerhalb der christlichen Heilsgeschichte ins Unvordenkliche gesteigert: Napoleon raubt den Engeln des Jüngsten Gerichts den Atem mit einem Qualitätssprung der Sündhaftigkeit. Im Endgericht scheint ein neuer Höllensturz fällig.286 Wegen Napoleons Gefährlichkeit ist die Bewunderung gewisser Tüchtigkeiten auf die Zeit nach seiner Beseitigung zu verschieben. Anders als mit dieser lässlichen Bewunderung ist dagegen mit der Selbstexklusion von der ethisch und apokalyptisch gegenwärtigen Nation zu verfahren: Der Ungehorsam gegen das Aufgebot des Kaisers und das Nichtverlassen der französischen Fahnen gelten insbesondere bei den Rheinbundfürsten als Hochverrat. Wer ihn begeht, verdient den Tod. Vor der Exekution kann allein die redintegrierende Gnade des vertrauenswürdigen und daher der Begnadigung fähigen österreichischen Kaisers retten.287

  Im 3. und im 6. Kapitel. Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 351.354.   Dieses und das nächste Zitat Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 354. 284   Vgl. Das Käthchen von Heilbronn Zweibändige Ausgabe in Einem Band  I, 517. 285   Vgl. 3.4 (c). 286   Vgl. als Höllensturz führender Nationalsozialisten bei Else Lasker-Schüler: Ich­ und­ich, in: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band  2: Dramen, Frankfurt/Main 1997, 183–235. 287   Vgl. zu diesem Zusammenhang Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 359 f. 282 283

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

b)  Erneuertes Herz und internationale Brüderlichkeit Die apokalyptische Dämonisierung Napoleons erlaubt Kleist den Feind so zu markieren, dass heilsgeschichtliche Semantik in das zur Nationsbildung benötigte Ethos geraten kann. So durchbricht der Gottesgedanke den nationalen Dezisionismus. Vater und Sohn fragen sich im 8. Kapitel gemeinsam, was „die Vorsehung“ mit der Erschütterung der Deutschen durch Napoleon bezwecke. Mit einer an Lessings ironisches ‚Warum nicht?‘288 erinnernden Einspielung konfessioneller Deutungsmuster schießt der Vater, wie er sich ausdrückt, „ins Blaue hinein. Treffe ich, so ist es gut; wo nicht, so ist an dem Schuß nichts verloren.“289 Die verabfolgte Deutung ist, wohl um der gedachten Adressaten willen, orthodox: Ein Volk wird von Gott um seiner Sünden willen heimgesucht – so auch die zertrümmerte deutsche Nation. Der Grund für die Heimsuchung wird gemäß Kleists anfänglicher Ethisierung der Nationsbildung bestimmt. Die Vorsehung straft das „lebende[n] Geschlecht“, 290 dem die „Unart“ der Überreflektiertheit auf Kosten von Gefühlsbezug und Handlungsbereitschaft „anklebt“. Es soll zu einer Wende kommen, mit der die nur als ethische Tat präsentable Nation politisch in Erscheinung tritt. Dazu muss die mittels der anthropologischen Semantik des ‚homo duplex‘ bezeichnete „alte, geheimnisvolle Kraft der Herzen“ wieder belebt werden. Rhetorischen Schwung holt diese Kraft mit dem ‚Katechismus der Deutschen‘. Die Deutung der nationalen Lage als Vertrauenskrise mit ethischen Lähmungserscheinungen endet in einem doppelten Gottesbezug, der das 8. mit dem 16. und letzten Kapitel verklammert. Kleist ersetzt die im spanischen Prätext genannten Gravamina gegen Napoleon, die Einforderung ethischer und rechtlicher Ordnungen wie Personrechte, Religionsrecht, angemessene Regierung durch „höchste[n] Güter“, 291 deren Erstreben die Nachkriegsgesellschaft auszeichnen soll. Wer davon erwartet, die inklusiv und exklusiv umrissene Nation werde sich nun als definite Anordnung von politisch-kultureller Einheit und konstitutionelle Freiheit erschließen, wird jedoch enttäuscht. „Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst“ bilden das heterogene Güterkonglomerat, zu dessen Erstrebung Gott durch das Kriegselend bewegen will. 288   Vgl. zur vernünftigen Deutung auch ältester und scheinbar lächerlicher Wahrheiten positiver Religion in den letzten Paragraphen von Lessings Erziehungsschrift Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Göttingen 2005, hier 382–404. Eine Übertragung von Lessings Provokation mit nichtdogmatischen Vorstellungen auf die Vorsehungslehre durch Kleist ist möglich. 289   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 355. 290   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 356. 291   Vgl. im Kommentarteil Zweibändige Ausgabe in einem Band, 933.

4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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Kleists Gott erweist sich seinem unnennbar sündigen Widersacher Napoleon in der Wahl der Mittel als ebenbürtig. Doch selbst wenn man den höchsten Gütern den Gottesbezug und die ausdrücklich freiheitliche Aneignung zugutehält, lähmt spätestens das 16. Kapitel alle Hoffnung auf eine Konkretion von Freiheit und Einheit der Nation. Im Zuge der Frage, ob ein Scheitern der nationalen Wiederherstellung ihren Versuch moralisch trübe, heißt es mit nochmaligem Gottesbezug, Schlachten entscheide der „Herr der Heerscharen“, 292 nicht aber der ethische und politische Hoffnungsträger der Nation.293 Indem die Hoffnung also mit Blick auf den unerforschlichen Willen Gottes innehält und ins Zweifeln kommt, stürzt die heilsgeschichtliche Komposition des Katechismus ein. Auch die Ethisierung von Nationsbildung und Gottesgedanken erhält einen Schlag. Die Frage des Vaters, ob das Scheitern der Nationsbildung zu billigen sei, wenn „kein Mensch, Weiber und Kinder mit eingerechnet, am Leben bliebe“, 294 beantwortet der Sohn unter Hinweis auf eine Opferung der Freiheit im Kriegsgeschehen, aus dem sie sich doch als eines der hohen Güter für die Nachkriegsnation ergeben soll. Gott sei es „lieb [.  .  .], wenn Menschen, ihrer Freiheit wegen, sterben.“ Dem hätten die am Gottesbezug festhaltenden Träger der europäisch-atlantischen Doppelrevolution wohl zugestimmt. Doch anders als deren konkrete Freiheitsideen besagt Kleists höchste Lehre, dass der Zugriff auf die Nation wie der Zugriff auf Gott die Unverfügbarkeit höchster Güter erweist. Der Untergang der Nation ist der Einsatz für ihren Gewinn. Der Gebrauch konfessioneller Semantik für dieses Paradox weckt nicht nur Grauen,295 sondern auch den Verdacht, dass Kleists Katechismus für den Volkskrieg den unpraktikablen apokalyptischen Ersatz für reguläre Militärkatechismen bieten soll.296 An einer einzigen Stelle gewährt Kleist einen Blick durch die Trümmer seines Vaterlands auf dessen wünschbare Konturen. Anlässlich der Definition des Erzfeindes unterbricht der Vater im 4. Kapitel das Gespräch mit der Rückfrage, ob der fällige Hass des Sohnes auf den Feind auch unbeeinträchtigt sei. Der Sohn bekennt einen Bruderstreit und räumt auf Rückfrage ein, dass dieser Streit

  Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 360.   So auch Körner oder Arndt. Vgl. [Theodor] Körners Werke 1, 178 f.1182 ff.99 f.; für Arndt AW 7, 99; AW 8, 23: den spanischen Partisanen wehte „das heilige Kreuz des Heils voran“, nämlich als Fahnenzeichen; zu den Russen AW 8, 33 ff. Kleist ist hier adressatenbezogen eindeutig. 294   Dieses und das folgende Zitat Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 360; vgl. für den Bezug zu Fichte Fischer: Das ‚Eigene‘, 269 f.296. 295   Vgl. den aus einem Satz bestehenden apokalyptischen Untergangs-Text Was gilt es in diesem Kriege? Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 377 ff. 296   Vgl. zu den Auseinandersetzungen ums Militärkirchenwesen zur Zeit der Koalitionsund Befreiungskriege Langhaeuser: Militärkirchenwesen, 65–79. 292 293

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

hinter die nationale Aufgabe zurückzutreten habe. Noch besser als eine Vertagung des Streits sei, dem Bruder später zu verzeihen.297 Man kann in dieser Wendung eine zusätzliche Ethisierung sehen, die nicht nur äußere Einheit, sondern auch innere Einigkeit für die Nationsbildung einfordert. Der Text spielt auf das Jesuslogion von der Priorität der Versöhnung mit dem Bruder vor dem Tempeldienst an (Mt 5,21–26). Dem Bruder zu verzeihen, erweist sich in dieser Resonanz als eine Form der Heiligung. Brüderlichkeit wäre mehr als nur die Zurückstellung von Partikularinteressen um der militärischen Schlagkraft willen; sie böte als revolutionäre Parole zugleich eine Bestimmung der politischen deutschen Nation. Das brüderliche Verzeihen fängt etwas Neues an, es durchbricht die endlose Kette der Vergeltung sowohl im Krieg zwischen den Nationen als auch in der inneren Zerrüttung.298 In der politischen Gemeinde könnte das brüderliche Verzeihen zwar als naturalistische Engführung auf die eigene Nation hin verstanden werden, zumal der Vater auf eine leibliche Familienbindung anspielt. Eine leicht überlesbare Einschränkung des Hasses auf die Franzosen sagt jedoch, diese blieben nur solange Feinde, wie Napoleon ihr Kaiser sei. Leise setzt das Jesuslogion den dezisionistischen Kapricen des Texts ein ethisches Verständnis von Heiligkeit entgegen. Kleist scheint das durch die zivilisierte Barbarei seines Katechismus bedrohte Brüderlichkeitsethos nicht vergessen zu können. c)  Erfindung des national Selbstverständlichen Arndts Arbeit an einem Militärkatechismus ist bereits unter dem Aspekt der Luthernachahmung zur Sprache gekommen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird im Folgenden der frühe Entwurf von 1812 erörtert.299 Ein Sachgrund dafür liegt in der eindeutiger politischen und weniger archaisierenden Sprache dieses Entwurfs, der dadurch Kleists Katechismus näher steht als die spätere Variante. Auch Arndts ‚Kurzer Katechismus‘ für die Deutsche Legion in Russland ist nicht regulären Truppen zugedacht. Überdies steigt mit dem gedämpfteren konfessionellen Ton von 1812 die Vergleichbarkeit der Texte. Arndts ‚Kurzer Katechismus‘ erfüllt in seinem nichtdialogischen Bau die Gattungskriterien weniger als Kleists Katechismus, dessen radikale Mitteilungen dafür inhaltlich die gattungsspezifischen Erwartungen durchkreuzen. Arndts konfessionelle Semantik entspricht jedoch den inhaltlichen Erwartungen an einen Katechismus. Der Text ist klar aufgebaut; sowohl der ‚Katechismus Wehrmann‘ mit seiner sich schon zu Beginn drängenden theologischen Argumentation als auch Kleists dezisionistische Paradoxien muten den Lesern   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 353.   Vgl. zur politischen Dimension des Verzeihens Arendt: Vita activa, 293 passim. 299   Ernst Moritz Arndt: Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten 1812. Zitiert nach AW 10. – Im Folgenden vereinfacht zitiert als Kurzer Katechismus. 297

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4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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mehr zu. Die ersten fünf Kapitel handeln von Begriff und Ehre des Soldaten, die nächsten drei thematisieren sein Verhältnis zur Nation und ab dem 9. Kapitel wird der Tugendkodex entfaltet. Arndt unterscheidet sich von Kleist im Urteil über die Ungreifbarkeit der Nation so grundlegend, dass man ‚Kurzer Katechismus‘ in diesem Punkt für einen Gegenentwurf halten möchte,300 denn der Text suggeriert die selbstverständliche Greifbarkeit der Nation. Schon die ‚Einleitung‘ verknüpft den rhetorischen Sinn von Geschichtsschreibung mit der Nationsbildung. Die Geschichte „lehrt uns Gott und die wunderbare Verkettung der Dinge kennen“ und zeigt „die große Vergeltung Gottes durch den Weltlauf“.301 Darin sind die Nationen als eigenständige Größe begriffen, wie Arndt von Herder gelernt hat. Arndt liest die Geschichte als das dritte ‚Buch‘ neben Natur und Offenbarung jedoch so von den Anforderungen der Gegenwart her, dass sie prospektive Eindeutigkeit erhält. Die Geschichte hat rhetorische Qualität. Sie erzählt appellativ, „was [.  .  .] geschehen ist, damit wir wissen, was wir in unsrer Zeit tun sollen.“ Gemeint ist: Krieg führen. Öffnet sich Kleists ethisierte Nationsbildung für die Geschichte, so ergibt sich Arndts Ethos zur Nationsbildung geradezu aus der Geschichte: ‚historia docet‘ mit greifbaren Exempeln. Einheit und Freiheit der Nation werden neben anderen nicht allzu genau geordneten nationalen Tugenden und Gütern aus einem angeblichen nationalen Gedächtnis geholt. Hier wird wirklich ‚erfunden‘, was so eindeutig nie war. Das zur Nationsbildung entworfene Ethos unterliegt dem Schein einer bloßen Wiederherstellung, die erinnerte Verfassung der Nation gab es nicht. Im 6. Kapitel ‚Teutschland des Soldaten Vaterland‘ wird die Moral aus dieser Geschichte territorialpolitisch greifbar. Die Nation entspricht dem Alten Reich, „von der Ostsee bis zum Adriatischen Meer und den Alpen und von der Nordsee bis zur Weichsel“302 . Als deutsch gilt, wer auf diesem Territorium lebend die Sprachnation teilt. Diese Arrondierung reicht weit nach Osten. Arndt muss aufgrund seines Ansatzes die Legitimitätsdiskussion anders organisieren als Kleist. Die dezisiven Sprünge weichen einer lehrhaften Darstellung der Loyalitäten und Tugenden deutscher Soldaten und der Gründe zum Kampf. Kleists Dezisionismus ‚ad bonam partem‘ ausgelegt könnte besagen, Kleist habe das Dezisive als Sachproblem der Nationsbildung genauer gespürt als Arndt, der von scheinbaren historischen Selbstverständlichkeiten ausgeht,  Vgl. Graf: Nachahmung, 122.   Dieses und das nächste Zitat AW 10, 115. – In Arndts Vorsehungsgedanken findet sich auch die spezielle Vorsehung. Vgl. voreilig Manfred Schneider: Die Welt im Ausnahmezustand. Kleists Kriegstheater, in: Kleist-Jahrbuch 2001, 104–119, hier 106: „Es ist mittelalterliche Kriegstheologie, wonach im Zufall Gottes Hand wirkt.“ Die Deutung von Kontingenz im Horizont von Providenz ist in allen Epochen offen gewesen. 302   AW 10, 120. 300 301

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

die weder politisch vermittelt noch selbstverständlich sind. Doch auch Arndts Katechismus hat rhetorisches Raffinement, das in seiner schlichten Sprache liegt. Die vorsätzliche Einfachheit zeigt sich etwa am vertraulichen Duzen der Deutschen Legion, in der sich viele adlige Offiziere finden; der prophetische Redegestus macht, wenn auch schwächer als im ‚Katechismus Wehrmann‘, den Text eingängig. Die einfachen Sätze und Gegensätze, die das Ethos entfalten, verstehen sich von der vorausgesetzten Greifbarkeit der Nation her. Dezisive Paradoxe dürfen entfallen. Arndt veranschlagt die Muttersprache als Inklusionskriterium für die Nationsbildung: „Du sollst [.  .  .] allein gedenken, dass du ein Teutscher heißest und bist und in teutscher Sprache redest. Deswegen soll dir nächst Gott Teutschland der heiligste Name sein“.303 Sind deutsche Soldaten ihrer Muttersprache eingedenk, verschwindet der innerdeutsche Partikularhass. Für diese sprachliche Selbstintegration in die Nation wird ein Spitzentopos sakraler Würde bemüht. Arndt verbindet die nationale Selbstbezeichnung mit der Namensheiligung des zweiten Gebotes. Ein respektvoller nationaler Selbstumgang steht „nächst“ dem konfessionellen Akt der Namensheiligung.304 Mit dieser uneindeutigen Präposition verlässt Arndt das Analogieprinzip in Richtung einer güterethischen Simultaneität. Seine enthusiasmiert-spontane Blasphemie entspricht Kleists dezisiven Kapricen. Die Grenzverwischung zwischen Konfessionalität und Politik trägt zur Bildung nationaler Subjekte, zu einem einheitlichen Sprachumgang und zu einem Selbstumgang bei, der ein falsches oder fehlendes Verständnis von „Soldatenehre“ berichtigt. Arndt arbeitet daher mehr mit Inklusionsfiguren als mit exklusiver Feindmarkierung, wenn er etwa das Bürgerethos näher bestimmt: Ein guter Mensch und Bürger fördert die Nation, lässt sich nicht zum Falschen zwingen, kämpft deshalb nicht für Napoleon und blamiert die eigenen Fürsten, die es tun. Schließlich lebt und handelt er im Gefühl der Dauer der Nation und der Vergänglichkeit ihrer Herren.305 Gewiss tauchen Napoleon als „Abbild des Satans“ und die Franzosen als eine Nation auf, die Existenz und Integrität anderer Nationen bedroht.306 Doch im Fokus steht die ethische Persönlichkeitsbildung des Bürgersoldaten zur nationalen Kohäsion. d)  Fromme, freie deutsche Bürgersoldaten Arndt entwirft die künftige Nation im Katechismus vorwiegend mithilfe innerer Abgrenzungen. Der Hauptgegner sind die deutschen Fürsten, von denen   AW 10, 121.   Vgl. unter 4.2 zu Arndts Kriegslied ‚Gebet‘ von 1810. 305   Vgl. AW 10, 119 f. 306   AW 10, 118; Weiteres dort im 3. Kapitel. 303

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4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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sich die Soldaten als bessere Bürger der Nation abheben sollen.307 Die Liste der Vergehen des territorialfürstlichen Partikularismus ist lang. Schon im Barockzeitalter haben die Fürsten ihre Völker verkauft,308 womit Arndt zweierlei meint: einen Verkauf von Söldnern aus ökonomischem Eigennutz und eine Metapher für Verrat am eigenen Volk überhaupt. In beiden Fällen würde es sich aber um widergöttlichen Amtsmissbrauch handeln.309 Dieser pagane Brauch hat in christliche Zeiten überdauert, auch die deutschen Fürsten machen sich seiner schuldig. Jeder deutsche Soldat soll sich diesem Unwesen als besserer Bürger und Christ entgegenstellen. Die Quelle dieser die innerdeutsche Zerrüttung überwindenden Integration ist für Arndt die persönlichkeitsbildende Kraft des Glaubens. Sie zeigt sich als eher affektiv vorhandenes Brüderlichkeitsethos, als Ferment individueller Bildung und als ethische Überlieferung. So heißt es mit Bezug auf die intranationale Brüderlichkeit: „[.  .  .] wenn du diese Liebe und Treue inniglich fühlst, so wird Eintracht und Glaube an Gott und das Vaterland die verlorne Freiheit wiederbringen“.310 Diese leitbegriffliche Reihe erinnert an Kleists Güterkonglomerat,311 konstruiert aber eine andere, nichtdezisive und auch klarere Ordnung. Es gibt ein ähnliches Gefühl der Brüderlichkeit in der politischen und christlichen Gemeinde, das die nationale Einheit vorwegnimmt und durch gezeitigte Taten die verlorene Freiheit wiederbringt. Eintracht und Freiheit stehen in einem Gefälle der Affekte. Eine ähnliche Anordnung findet sich in der bildungsgeschichtlichen Bestimmung der Nation im 8. Kapitel ‚Von Vaterland und Freiheit‘. Auch hier folgt die Freiheitszuschreibung vorgängigen Einheitserfahrungen: „Nicht da ist sein Vaterland, wo er am üppigsten und sorgenfreiesten leben kann, sondern wo er die unschuldigen Jahre der Kindheit, die fröhlichen Jahre der Jugend verlebte, wo er die ersten süßen Töne der Freundschaft und Liebe vernahm [.  .  .]“.312

Zu den sozialen Integritätserfahrungen kommen kosmologische und kreatürliche Einheitserfahrungen. Die patriotische Loyalität zielt dorthin, „wo die ersten Sterne ihm leuchteten, die ersten Frühlinge ihm blüheten, die ersten Donner und Sturmwinde ihm ins Herz brauseten und klangen: Es ist ein Gott, es ist ein allmächtiges Wesen über uns, vor welchem die Sterblichen in den Staub fallen müssen. Da, da ist sein Vaterland, dahin klopfen alle Pulse seines Herzens [.  .  .].“

  Zur Adelskritik AW 7, 65: Es sei auch Vorrecht des Adels, im Kampf fürs Vaterland zu fallen. 308   AW 10, 116. 309   Im 2. Kapitel. AW 10, 117. 310   AW 10, 121. 311   Zweibändige Ausgabe in Einem Band, 356. 312   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 10, 122. 307

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Arndts nationales Subjekt definiert sich durch Erinnerung an seine Bildungsprozesse, zu denen zentral der Glaube gehört. Der politische Freiheitsbegriff folgt diesem Modell: „Da ist seine Freiheit, wo er nach den Sitten, Weisen und Gesetzen seines Volkes leben kann [.  .  .]. Dieses Vaterland, diese Freiheit sind das Allerheiligste, was ein guter Mensch auf Erden hat“. Die Erfahrung nationaler Zugehörigkeit scheint das innerweltlich Politische zu transzendieren. Die persönlichkeitsbildende Kraft des Glaubens wirkt auch in den überlieferten Formen des Ethos. Es gibt Gebote zur Formung des Bürgersoldaten. Er soll im Sinn des Ersten Gebots „Gott mehr gehorchen als den Menschen“,313 das heißt mehr als den unpatriotisch zögerlichen Fürsten. Ein weiteres Gebot bezieht sich auf den Umgang mit Menschen: „Du sollst den Menschen nicht ausziehen, wenn du die Montur anziehest“. Der zur falschen Soldatenehre spezialisierte „blinde[n] Gehorsam“ gegen Dienstherren steht gegen die „wahre Soldatenehre“, die kein „andres Ding [ist] als Bürgerehre und Menschenehre.“ Der von Arndt aufgerufene Bürgersinn hat universale Geltung, weshalb er auch das militärische Ethos strukturiert. Anders als Kleist, dessen Katechismus die Brachialität der Selbstverteidigung betont, achtet Arndt auf die ethische Hochwertigkeit der militärischen Persönlichkeitsbildung. Gott kommt dabei direkt in Geboten zur Sprache, während Kleist willensethisch argumentiert, wenn er nicht ethische Positionen ad absurdum führt. Arndts Katechismus stellt im Unterschied zu Kleists paradoxem Text den Entwurf eines Politischen Christentums dar. Dieser Zug zeigt sich auch am Tugendkatalog in ‚Kurzer Katechismus‘, jenen Kapiteln ohne Entsprechung bei Kleist. Der Tugendkatalog liegt auf der Linie der von Arndt betriebenen ethischen Personalisierung der Nationsbildung. Die Tugenden sind schon durch Bezeichnungen wie „Bescheidenheit und Demut“, „Güte und Milde“ oder „Frömmigkeit“ als Elemente eines Politischen Christentums charakterisiert. Sie machen die Gebote der frühen Kapitel durch Ha­bi­ tualisierungsvorschläge zur Nationsbildung tauglich. Konfessionelle Einschläge finden sich unter verschiedenen Aspekten. ‚Bescheidenheit und Demut‘ sind durch eine idealisierte Ritterlichkeit grundiert, die mit dem Ethos der Schonung von Zivilpersonen eine antimechanistische Auffassung der Kriegführung verbindet.314 Siegen könne man nur bei moralisch überlegener Lebensführung.315 ‚Güte und Milde‘ fügen dem personalistischen Ritterideal eine mit Allusionen an Paulusbriefstellen komponierte metaphorische Rüstung hinzu.316 Der in der Schlacht wie entfesselte Elemente wütende

  Dieses und das nächste Zitat AW 10, 117.   Im 9. Kapitel. AW 10, 123. 315   Im 14. Kapitel. AW 10, 128. 316   Im 10. Kapitel. AW 10, 124. Angespielt wird auf den Helm des Heils und das Schwert des Geistes aus Eph 6,17 und an den Helm der Hoffnung aufs Heil aus 1. Thess 5,8. 313 314

4.3  Ethos, Heilsgeschichte und Konfessionalität im Militärkatechismus

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Soldat317 wird im Übrigen durch idyllische Naturvergleiche charakterisiert. Seine Bewaffnung wird allegorisiert: kindliches Vertrauen und ein festes Gewissen erlauben ihm, einer barbarischen Entfesselung seiner Affekte zu steuern und sich in Schmerz und Qualen am Glauben zu halten.318 Es ist klar, dass Arndt für seinen Bürgersoldaten auf eine inklusive Gleichzeitigkeit von Heiligung und Nationsbildung hinarbeitet, die jede Begründung von Pflichten und Rechten gezielt in Geboten und Tugenden verschwimmen lässt. „Der Krieg ist eine heilige Arbeit, dass die Freiheit gerettet werde“.319 Im Unterschied zu Kleist, der trotz der Dämonisierung des Feindes Krieg und Heiligung nicht gleichsetzt und heilsgeschichtliche Topoi sparsam gebraucht, erkennt Arndt eine Heiligungsmöglichkeit im Freiheitskrieg und macht seinen Adressaten die Nation greifbar.320 Im Detail erweisen sich nationale und christliche Gesinnung als potentiell deckungsgleich. „Der Soldat soll ein Christ sein [.  .  .]“. Idealiter handelt ein Christ so wie Arndts Bürgersoldat, und der Bürgersoldat bekennt sich zum Christentum. Topik und Metaphorik in der Charakterisierung des uniformierten Bürgers sind so eindeutig christlicher Herkunft, dass es unsinnig und gerade im Blick auf Arndts völkische Eskapaden unstimmig wäre, hier von freischwebender Religiosität zu sprechen. Die Christlichkeit des Bürgersoldaten ist konfessionell. Der Verfasser von ‚Kurzer Katechismus‘ hat die Wiederherstellung einer territorialen Größe von politisch, kulturell und religiös einheitlichem Zuschnitt vor Augen. Dass darin soviel von einer Freiheit die Rede ist, die nicht nur negativ auf das Ende von Fremdherrschaft, sondern positiv auf eine politische Gestaltung von „Bürgerehre und Menschenehre“ zielt, ist immerhin bemerkenswert, wenn man Arndt auch kein ausgefeiltes Programm zur politischen Freiheit in der Nation attestieren kann. Völlig vage sind seine Freiheitsparolen indes nicht.321 Die Verfahren beider Katechismen können auf eine vergleichende Formel gebracht werden: Kleist lockt angesichts der Ungreifbarkeit der deutschen Nation mit seinen paradoxen Zumutungen zur buchstäblich grundlosen Tat der militanten Nationsbildung, Arndt mindert die Differenz zwischen Sein und Sollen der Nation erzählend und homogenisiert bürgerliches und christliches Ethos in der militärischen Aktion. Die Integrationsmechanismen sind in beiden Fällen, wenn auch unterschiedlich, in der Konfessionskultur verankert. Kleist definiert Inklusion und Exklusion aus einer apokalyptischen Beobachterposition auf das   Vgl. zum Motiv der Elemente Kleists Ode Germania an ihre Kinder 4.2.   AW 10, 125 f. 319   AW 10, 126. 320   Ott: Arndt: 155 f., datiert Arndts die Überzeugung, die Nation greifbar machen zu können, auf die Jahre nach dem Wiener Kongress. 321  Vgl. §  4.4 (b). Vgl. zur Nähe zu Revolutionsidealen Thomas Stamm-Kuhlmann: Arndts Beitrag zur Definition der ‚Nation‘, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 17–29, hier 21 f. 317 318

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

eigengesetzliche Kriegsgeschehen und gelangt zu extremen Feindmarkierungen nach Außen und Innen. Bis auf das Abschweifen in eine Nachkriegszeit mit brüderlichkeitsethischem Heiligungspotential sind die konfessionellen Züge der Nationsbildung funktional bestimmt. Arndt definiert die Nation stärker durch Inklusionen. Signifikant dafür ist die Umkehrung des Verhältnisses von Heilsgeschichte und ethischer Dezision. Durchbricht Kleist mit der Frage nach einem providentiellen Sinn der Zertrümmerung Deutschlands den ethischen Argumentationsgang, so ist bei Arndt die heilsgeschichtliche Umarmung des Ethos der Normalfall. Die göttliche Providenz, von Kleist ironisiert, wird von Arndt nie angezweifelt. Seine Synopse von Heils- und Nationalgeschichte legt auch die Gegenwart eschatologisch fest: „[.  .  .] wo Gott mit seinem Weltgericht sichtbar über die Erde hinwandelt, und wo ein jeglicher berufen ist, durch edle Arbeiten und herrliche Gefahren darzutun, ob er zu den Verworfenen oder zu den Redlichen gehört.“322 Der Umgang mit der grundlegenden Frage einer Führung der Nation durch Gott verdeutlicht, woran Kleist nicht, Arndt dagegen massiv gelegen ist: politische Konzepte von Einheit und Freiheit – wie immer sie in einer Nachkriegsordnung im Detail aussähen – von vornherein nur in christianisierter Form passieren zu lassen. Arndts Dezisionismus liegt im selbstsicheren Zugriff auf die Heilsgeschichte. Im Ganzen setzt der ‚Katechismus der Deutschen‘ auf eine sakrale Rhetorik von Feindmarkierungen. Darüber hinaus sieht Kleist politischen Sinn in konfessionellen Reminiszenzen wie der Kontingenz von Vertrauen und dem Ethos des Verzeihens. Diese Elemente laufen bei der Nationsbildung aber nur mit, während sie bei Arndt zu Leitmotiven werden. Arndt schwächt die Konturen des Politischen und des Sakralen bewusst und verdichtet die Grauzone um beide. Wenn in Arndts Schlusskapitel von einer Vergöttlichung des deutschen Soldaten die Rede ist, handelt es sich zwar um einen Anklang an Luthers Gewissheit, ein evangelisch frommes Heer sei unbesiegbar.323 Doch Deutschlands Umschreibung als erwachender Löwe versieht die Nation mit einem christologischen Emblem: 324 „Drei Jahrhunderte hat der teutsche Löwe geschlafen, [.  .  .] hat nicht mehr gefühlt, was ein Volk vermag [.  .  .]. Die Morgendämmerung einer neuen Zeit ist da, deren Aurore er sein soll; sie ist da, dass er erwachen, seine Fesseln zerbrechen und in fürchterlicher Herrlichkeit die Nichtigkeit und Elendigkeit derer offenbaren soll, die ihn in den Stricken der Hinterlist [.  .  .] zu halten meinen.“325

  AW 10, 127.   ‚Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können‘, in: WA 19, 661 f. 324   Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik, übertr. und erl. von Otto Seel, München 5 1987, 5 f. 325   AW 10, 129. 322 323

4.4  ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation

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Der nationale Löwe erwacht und bringt „Erlösung von der Sklaverei“326 nach Außen und Innen.327 Dieser soteriologische Vorgang erzeugt wahre Bürger und wahre Christen. Die vollmundige Verheißung einer nationalen Auferstehung resultiert bei Arndt auch aus der Absicht, die dechristianisierte Nation zu rekonfessionalisieren. Die kriegsbedingte Nationsbildung dafür zu nutzen, ist eine bemerkenswerte funktionale Umkehrung im Verhältnis von Nation und Christentum.

4.4  ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation Die Genretexte zur kriegsbedingten Nationsbildung verfahren uneinheitlich. Die konfessionellen Rekurse der Hermannsdramen verfolgen Probleme der nationalen Einheit und Freiheit. Die lyrische Kultur patriotischer Affekte verschärft die Frage nach patriotischen Übergriffen auf die Konfessionalität, weist aber auch Unterscheidungsstrategien auf. Die Katechismen von 1809 und 1812 stimmen in ihrer Funktionalität überein, doch nicht im Ethos und seiner konfessionellen Legitimation. Insgesamt zeigt sich, dass Nationalisierung des Christentums und Konfessionalisierung der Nation in ihrer Gegenläufigkeit und Gleichzeitigkeit nur mit einem Zirkulationsmodell sinnvoll beschrieben werden können. Dieses Modell geht mit der Labilität nationaler Imaginationen text- und ereignisnah um, ohne Festlegungen dieser zirkulierenden Imaginationen auf bestimmte konfessionelle, politische oder andere Ziele auszuschließen. Es lässt die Imaginationen weder als ortlose ‚Ideen‘ erscheinen noch behandelt es sie als Epiphänomene ‚materieller‘ Ursachen, sondern beschreibt eine Interaktion von Topik mit politischen und kulturellen Realien. Die bisherigen Beobachtungen an der Zirkulation konfessioneller Semantik im kriegsbedingten ‚nation building‘ sollen abschließend an Ernst Moritz Arndts vielgelesener vierbändiger Zeitdeutung ‚Geist der Zeit‘ geschärft werden. Wie sich an Luthernachahmung, Liedern und Militärkatechismen gezeigt hat, werden in der vermeintlichen Sakralisierung der Nation Züge erkennbar, die richtiger als Konfessionalisierung zu deuten sind. Auch auf die ideologische Schwüle berüchtigter Aussagen Arndts zum Nationalismus als einer Religion folgen die Gewitter eines traditionell gefassten, immer auch der eigenen Nation zürnenden Gottes. Jedenfalls wäre es sinnlos, diesem Text eine aus säkularistischem Freiwerden christlicher Sinnkapazitäten resultierende sakralisierende Fremdverwertung konfessioneller Semantik zu unterstellen.328 Es kann viel  AW 10, 128.   Arndt konnte in diesem Punkt auch konkret werden. Vgl. z. B. Der Bauernstand, AW

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10.

 So neuerdings wieder Dirk Alvermann: Arndt und Kosegarten – zwei rügische

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mehr gezeigt werden, wie die Nationalisierung des Christentums und die Konfessionalisierung der Nation beide sowohl gleichzeitig als auch früh in ‚Geist der Zeit‘ erfolgen. Die patriotische Mobilisierung kurz vor und um 1813 greift auf gute semantische Vorbereitungen zurück. Den Ansatzpunkt für diese Relektüre bieten die journalistische Arbeitsform und das Wahrheitsverständnis von ‚Geist der Zeit‘.329 a)  Konfessionelle Topik im Niederschreiben des Zeitgeists In Kleists sarkastischer Analyse journalistischer Manipulation, dem Lehrbuch der französischen Journalistik von 1809, heißt es, diese sei die Kunst, „das Volk glauben zu machen, was die Regierung für gut findet“.330 Versteht man diese antinapoleonische Polemik als Beschreibung einer strukturellen Ideologieanfälligkeit von Journalismus, so kann man ‚Geist der Zeit‘ hinsichtlich politischer Stoßrichtung und Form gut davon unterscheiden. Arndt und die preußische Regierung sind – und bleiben über 1815 hinaus – meist Gegner; Arndts patriotische Loyalität gehört im preußischen Rahmen dem Freiherrn vom Stein und seinem Reformerkreis.331 ‚Geist der Zeit‘ denkt Politik überdies nicht als bloße Herrschaftsform, sondern wendet sich an die deutschsprachige Öffentlichkeit als potentielle Nation.332 Kein staatstragender Glaube, sondern Selbstvertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit soll die nationalen Subjekte kulturell und politisch innovativ machen. Voraussetzung dafür ist das Modell einer sprachlich-kulturellen Einheit; politische Ordnung und Staatsterritorium bleiben dis­ ponibel, ja verhandelbar. Dichter zwischen Gott, Napoleon und Nation, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 77–95, hier 90 f.; ausgeglichen Stamm-Kuhlmann: Arndts Beitrag, in: Erhart/ Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 17–29, hier 27 f., mit Skepsis gegenüber Herders bei Arndt anklingendem Inklusivismus der Nationen; rezeptionsorientiert Reinhard Staats: Arndt als ‚Heiliger‘ des Neuprotestantismus, in: Ders.: Protestanten in der deutschen Geschichte. Geschichtstheologische Rücksichten, Leipzig 2004, 98–130. 329   Im Journal um 1800 können Wissenschaft, Parawissenschaft, Tagespolitik, Kultur und Kunst einander begegnen, aber je nach Herausgeber auch ausschließen. Vgl. Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland von 1700–1800, hg. von Ernst Fischer et. al., München 1999. 330   Zweibändige Ausgabe in Einem Band  II, 361. 331   Nach dem Bündnis Preußens mit Frankreich infolge des Friedens von Tilsit floh Arndt als Dissident nach Schweden. Seine Operationen für den Freiherrn vom Stein blieben zeitweilig verdeckt. Arndts Suspension von seiner Bonner Professur während der sogen. Demagogenverfolgungen ist der berufliche Tiefpunkt in seinem gespannten Verhältnis zum preußischen Staat. Anlass war Hardenbergs Ärger am 1818 erschienenen vierten Teil von ‚Geist der Zeit‘. 332   Trotz Kritik an den „Wörtlein Aufklärung und Publizität“ wie AW 6, 29 beispielsweise AW 7, 105: „Können die Herrscher euch nicht verteidigen, so seid ihr die Halter, die Könige und Helden, ihr die Träger der öffentlichen Meinung und des Glaubens des Volks, worin das höchste Gesetz der Politik liegt.“ In AW 9, 48, wird der emanzipatorische Sinn vermutlich aus apologetischen Gründen auf erweiterte und verstärkte Landstände reduziert.

4.4  ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation

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Obgleich ‚Geist der Zeit‘ als Programmschrift ein liberales Gegenstück zu dem von Kleist indizierten Journalismus verkörpert, nimmt Arndt eine geradezu antijournalistische Haltung ein. In einer am Anfang des ersten Bandes entfalteten Typologie des Zeitgeists und seiner Verfallsformen bilden die Journalisten den gefährlichsten Typus.333 Sie sind von der Erstarrung und Leere der Epoche nicht nur betrogen, sie sind aktive „Betrüger“.334 Das Mittel des Betrugs ist „Modesprache“, die, angereichert durch politische Informationsfragmente „aus Lakaienvorzimmern“ der Regierungsmacht, Halbbildung kommuniziert. In dieser Sprachzerstörung liegt eine Gefahr für die kulturelle Einheit der Nation; die Zerstörung der politischen und kulturellen Bildung schadet der nationalen Integrität. Mit Variationen auf die Metaphorik vom Zeitfluss wird das Verhältnis der Journalisten zum Zeitgeist umschrieben.335 Einerseits „fließen [sie] gedankenlos mit der Zeitflut“. Sie halten sich im Beruf für auserwählt, erfüllen aber nicht die Bedingung öffentlichen Wahrheitsstreits, dem Zeitgeist gegen den Strom schwimmend zu widerstehen. Folglich droht dem zeitgenössischen Wahrheitssinn eine Trübung durch journalistische Kommunikation, und so „umfließt dieser schmutzige Strom die Zeit“. Mit dem Zeitstrom zu schwimmen und die Zeitläufte zu verunklaren sind zwei Fehlformen des Zeitgeists. Das Erwählungsbewusstsein der Journalisten täuscht über ihr Verworfensein hinweg. Wer die journalistische Tätigkeit als eine Profanation des Heiligen abwehrt, will den eigenen Zeitkommentar augenscheinlich nicht journalistisch verstanden haben. Die journalistischen Passagen und Elemente von ‚Geist der Zeit‘ sind dann aber erklärungsbedürftig. Während der erste Band von 1806 und der vierte Band von 1818 schon durch ihre Gliederung eine programmatische Durchdringung des Zeitgeschehens erkennen lassen, folgen die mittleren Bände dem Gang der politisch-militärischen Ereignisse zwischen 1806 und 1813 mit Kriegsberichten und Blaupausen zur Neuordnung Europas. Ein journalistischer Federstrich ist unverkennbar. Auch verändern sich manche Urteile Arndts zu einzelnen Sachfragen im Wechsel der Ereignisse. Der in einem langen, bewegten Zeitraum entstandene Text registriert viele der anfangs angekündigten ‚vulkanischen‘ Veränderungen der geschichtlichen Welt in späteren Passagen als erschütternde Tatsachen; 336 es kommt zu Verschiebungen in der Wahrnehmung des augenblicklich oder mittelfristig Bedeutsamen. So liegt spätestens mit dem Wechsel zu einem militanten Ton innerhalb des zweiten Teils von ‚Geist der Zeit‘ die kritische Anfrage nahe, ob nicht auch Arndt eine Modesprache produziere, in seinem Fall angereichert durch politische Informationsfragmente aus den ‚Vorzimmern‘ des Freiherrn vom Stein.   Vgl. zur Typologie AW 6, 40–53.   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 6, 52 f. 335   Vgl. zum Strom der Zeit schon AW 6, 30. 336   AW 6, 28.55. 333

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Ein Ausgleich zwischen antijournalistischem Affekt und journalistischer Form in ‚Geist der Zeit‘ findet sich auf der konfessionellen Spur, die Arndts Journalismuskritik selbst legt. Arndt grenzt das eigene, richtige vom fremden, falschen Verfahren zur Zeitgeist-Deutung mithilfe der Lieblingsvokabel der deutschen Dichtersprache seit der frühen Klopstock-Ära ab. Wenn die Journalisten „das Heilige entweihen“,337 muss es im Zeitgeschehen etwas geben, das profaniert werden kann und dessen Profanation zu verhüten wäre. Der zwischen kirchlichem Binnenraum und christlicher Kultur vermittelnde Begriff des ‚Heiligen‘ lässt dabei die Nähe oder Ferne von Arndts Profanationsverständnis zur kirchlich vertrauten Zeichenordnung offen. Diese diskursive Offenheit führt zum Abschied von der notorischen Frage nach Arndts persön­ licher Frömmigkeit als einer Erklärungsgrundlage für seine patriotisch-pro­ testantische Synthese.338 Während sich diese Frage an einer vergeblichen Unmittelbarkeitserwartung abarbeitet, lässt sich die Konfessionalität im Text ermitteln. Arndts Schreibverfahren steht nicht erst mit den fiebernden Erzählungen zum Russlandfeldzug von 1812, sondern schon in den selbstreflexiven Anfangskapiteln von 1806, betitelt ‚Der Schreiber‘, ‚Die Schreiber‘ und ‚Das Zeitalter und die Zeitgenossen‘, im Zeichen einer Legitimation durch theologische Topik. Entgegen seinem Bild vom Journalisten imaginiert sich Arndt als „Wächter[s] [.  .  .] der Zeit“.339 Wie diese ethische Funktion wahrgenommen werden soll, ist allerdings nicht klar. Denn der Verfasser hält eine Verdichtung des unentschiedenen, zwielichtigen Zeitgeschehens zu ‚objektivem Geist‘ für unmöglich. Nicht einmal die Kulturerscheinungen der zwanzig Jahre bis 1805340 würde er typisieren und kanonisieren, anders als Herder, der dasselbe in ‚Adrastea‘ für ein ganzes Jahrhundert versucht. Arndt zufolge würde ein Objektivierungsversuch an zwei Hindernissen scheitern. Das eine betrifft die Zeit, das andere den Geist: „Das Zeitalter ist auf der Flucht und führt seine bedeutenden Bilder in einem so schnellen Wechsel vorbei, die Zeitgenossen aber sind die Staunenden und Gaffenden, welche unbeweglich stehen und anstaunen und nichts begreifen können“.341

Das erste Hindernis besteht in der empfundenen, noch auf den Begriff zu bringenden Beschleunigung der Zeit selbst.342 Arndt spricht von den jüngsten Revolutionen, die nur an der Oberfläche der Dinge politisch, vor allem aber Umwäl  AW 6, 52.  Trotz wichtiger Einzelergebnisse diesem Erklärungsmodell allzu verhaftet Ott: Arndt, 169.180.192 u. ö. 339   AW 6, 26. 340   AW 6, 55.61.155; AW 7, 49 u. ö. 341   AW 6, 55. – Vgl. auch AW 7, 89: „[.  .  .] die Zeit begräbt die eigenen Geburten so schnell, daß heute vergessen ist, was gestern war.“ 342   Koselleck: ‚Neuzeit‘, 320 ff., mit Bezug auf Arndt. 337

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zungen des Gedankens von Grund auf waren.343 Überhaupt ist das Zeitalter im weiten Sinn revolutionär, worunter neben politisch und kulturell intendierten Ereignissen auch geschichtliche Vorgänge zu verstehen sind, die sich der intentionalen Zuschreibung entziehen.344 Infolge dieses weiten Verständnisses kann der flüchtigen Zeit selbst ein revolutionärer Charakter zugeschrieben werden. Die Geschwindigkeit des Zeitgeschehens darf indes nicht zur Meinung verleiten, Zeitgenossen erlebten mehr und intensiver als frühere Zeitalter. Im Gegenteil ist das Geschehen in seinem Vorüberrauschen wie körperlos und kaum greifbar.345 Man befindet sich in einem unabsehbaren Umbruch. „Es ist der Anfang eines Fegefeuers der Welt“,346 eine „neue Geburt“.347 Auch die Auferstehung kann zur Chiffre dieser elementaren Veränderung werden.348 Mit dem weiten Revolutionsbegriff und eschatologischen Signalen gekennzeichnet erscheint der geschichtliche Augenblick als ebenso kritisch wie schöpferisch. Eine Objektivierung des Zeitgeists würde aber auch an der obersten Institution solcher Objektivität scheitern, an der Wissenschaft. Einmal vermag die zeitgenössische Wissenschaft von der schieren Menge gesammelten Wissens belastet dieses weder klar noch kraftvoll zu ordnen. Die Gelehrten haben die Kunst für das Leben „zu lang gemacht“,349 ein organisatorischer Selbstläufer der Neuzeit, als ungewollte Folge von Autonomiegewinn verwandt mit der künstlichen Mechanik der Staatsmaschine und der bürokratischen Herrschaft.350 Die Wissenschaft ist dem Leben aber auch sachlich entfremdet, wie aus ihrer mageren Performanz erhellt: „Die neue Zeit kann kraft ihrer Bildung das Urteilen und Deuteln nicht lassen. Sie kann das Ganze nicht mehr in der Majestät der Einheit sehen, wodurch die bewegte Welt allein als eine lebendige erscheint. [.  .  .] Wenn Menschen so leben könnten, als Menschen darstellen können, so wäre die Erde schon vor Langeweile ausgestorben.“351

Die ‚bedeutenden Bilder‘ des Zeitalters darf man einer Wissenschaft, die keine lebensbezogene und orientierende Wissensordnung herzustellen vermag, nicht anvertrauen. Die übrigen ‚Schreiber‘-Berufe sind in dieses Dilemma einbezogen, auch von ihnen steht nichts Gutes zu erwarten.

  AW 6, 51.157 f.; AW 7, 129: „die politischen Umwälzungen“ sind „bei diesem großen Bildungsprozesse das Kleinste“. 344   AW 6, 74.110.144; AW 6, 162, zur Dialektik der Revolution: „Gerade für den Krieg arbeitet eine Revolution am besten“. Vgl. weiter AW 7, 108 u. ö. 345   AW 6, 39. 346   AW 6, 58; vgl. zum Fegefeuer weiter 7, 107. Vgl. zum „Todesschlummer“ des Zeitalters bzw. zum nötigen Durchleiden des „Feuertod[es]“ auch AW 6, 37.47. 347   AW 6, 28; vgl. auch AW 7, 80. 348   AW 7, 24; als Wiederauferstehung von Ehre AW 7, 63. 349   AW 6, 39. Vg. generell AW 6,38 ff., zu einzelnen Schreiberberufen AW 6,40 passim. 350   AW 6, 59 ff. – Vgl. paradigmatisch Friedrich II. AW 6, 144 passim. 351   AW 6, 48 f. 343

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Beide Hindernisse einer Beschreibung des Zeitgeschehens, die beschleunigte Zeit und der ungreifbare Geist, machen vor allem eines erforderlich: Die Erfindung einer diesen Zuständen gemäßen Schreibweise, die Schwäche aufnimmt und in Stärke verwandelt. „Wodurch wir schwach sind, dadurch können wir auch nur stark sein; das Feuer, das uns verbrennt, muß uns auch erleuchten.“352 Dieser weisheitlich vorgebrachte Grundsatz erklärt die Aufnahme der journalistischen Form bei einer gleichzeitig antijournalistischen Haltung. Dazu passen der Verzicht auf eine Alteritätsrhetorik, die den kontextlosen Einbruch von Neuem oder ganz Anderem behauptet, und die Wahl einer Rhetorik der Metamorphose und der Natalität, die zwischen den instabilen Zuständen des Zeitgeschehens vermittelt. Wie deutlich Arndt solche Vermittlungsprobleme in seinem rhetorischen Verfahren reflektiert, zeigt eine Problematisierung seiner Position als teilnehmender Beobachter: „Das kühne Werk, mich, den Gott, erst außer meiner Welt zu stellen, um sie erschaffen zu können, soll ich bestehen?“353 Der Beobachter des Zeitgeists muss zu dessen Beschreibung schöpferisch aus ihm ausbrechen. 354 Zusammen bilden weise Anpassung und schöpferische Exzentrik komplexe Voraussetzungen des Zeitdeutungsverfahrens, das Arndt durch einen doppelten konfessionellen Rekurs entlastet. Um den kaum greifbaren Zeitgeist mit subjektiver Wahrhaftigkeit greifbar zu machen, verweist der Verfasser auf die Ebenbildlichkeit seiner Rede mit dem ‚Spiritus Creator‘: „Rede, Geist Gottes, zartes, wehendes Licht des Unendlichen über dem nächtlichen, brütenden Chaos, wodurch alle Gestalt, alle Schönheit und alles Leben geworden ist“.355 Arndt birgt seine Verfasserschaft in einer rhetorischen Anthropologie. Er fasst die humane Sprachfähigkeit, Herder folgend, als anthropologisches Hauptmerkmal auf und kennzeichnet sie einerseits als naturhafte Auszeichnung, andererseits als göttliche Gabe.356 An dem von Herder sistierten Streit um den Sprachursprung beteiligt sich Arndt erst gar nicht, vielmehr legt er sich Herders – in verschiedenen Schriften entfaltete – Denkfigur zurecht, wonach die Menschlichkeit der Sprache eine göttliche Originalität in Annäherungen darstellt.357 So kann Arndt Rede immer auch als ein „heiliges Geschenk der Natur“   AW 6, 26.   AW 6, 27. 354   Vgl. AW 6, 29 passim kulturanthropologisch: Man wird gemacht und macht sich; vgl. weiter AW 6, 37 moralisch: Man treibt „unverdrossen mit, was man [.  .  .] als die törichteste Torheit verlacht.“ 355   AW 6, 23. 356   Vgl. in den Ideen SWS XIII, 138. 357   Astrid Gesche: Sprache und die Natur des Menschen, Würzburg 1992, 15–20, weist auf Herders Nähe zu dem von ihm bekämpften Standpunkt des geoffenbarten Sprachursprungs hin und zeigt zugleich, wie Herder die Fragestellung zum Vernunftkonzept hin verändert; Buntfuß: Erscheinungsform, 46–70, zu den Vermittlungsstufen der göttlichen Sprache im menschlichen Sprechen, Denken und Einbilden. 352 353

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verstehen und doch den Vorrang der Heiligkeit dieser Gabe vor ihrer natürlichen Herkunft behaupten.358 An diese Klimax ist zu denken, wenn immer Arndt im Folgenden von schöpferischen Impulsen spricht, die sich am krisenhaft instabilen Zeitgeschehen gestaltend bewähren: „Wo die Menschenkraft wirkt, will ich Schöpfung sehen, denn zum Erschaffen und Bilden ist der Mensch auf Erden.“359 Wer erwartet, in jeder Variation des Topos folge der Gottesbezug auf dem Fuß, wird zwar enttäuscht. Der konfessionelle Topos taucht jedoch unverhofft in politischen Kontexten auf; 360 zum Beispiel wird Napoleons dämonische Despotie als Rücknahme der Schöpfungsherrlichkeit chiffriert, in deren Wüste menschliches Schöpfertum sich umso mehr neu zu bewähren habe.361 Für die elementare Rechenschaft von der Redefreiheit verweist Arndt auf die ‚Imago Dei‘, entfaltet aber auch einen apokalyptischen Gegensatz: „Satan, der Böse, war ein arger Schelm und Lügner von Anfang, darum war er ein Gleisner und Leisetreter; aber Gott der Herr, dessen Leben Wahrheit und Güte ist, donnert aus den Wolken und blitzt und schickt seine Schloßen, aber er erfreuet im Regen und Sonnenschein auch alles Lebendige. Er hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, dass er wahr sei und gerecht. So spreche ich frei und schelte das Schlechte, aber ich schimpfe nicht“.362

Mit dem apokalyptischen Exklusions-Inklusions-Schema als Ergänzung zur sprachlich gefassten Gottebenbildlichkeit charakterisiert Arndt sowohl sein Schreibverfahren als auch potentielle Gegner. Vom Zeitgeist zu schreiben kann in der Weise des ‚Leisetretens‘, aber auch des ‚Donnerns‘ erfolgen. Die auditive Metaphorisierung trägt der Vorstellung lautstarker, nichts verbergender Offenheit Rechnung, subjektive Unwahrhaftigkeit wird mit dem Verschweigen von Ansichten und Absichten verbunden.363 Der dieser Unterscheidung zugrunde liegende Wahrheitsbegriff ist ethisch-praktischer Natur, wird doch der Gegensatz von Wahrheit und Lüge ratifiziert, nicht aber der von Wahrheit und Unwahrheit oder von Wahrem und Falschem. Abgesehen von der Bewertung von Zeitdeutungsstilen entfesselt schon die Nennung von Gott und Satan Affekte. So ist der „Zorn der freien Rede“,364 von   Vgl. auch AW 8, 163.   AW 6, 69. 360   AW 8, 109 als Verlust der Imago. 361   AW 7, 81: „wüst und leer wird die Erde“. 362   AW 6, 25. – Die seit 1809 verstärkt erfolgenden Lutherlektüren könnten die Aufnahme des Zorns Gottes verstärkt haben. 363   Vgl. zur Umkehrfigur dieser Zuschreibung die Synedriumsszene bei Klopstock §  3.2 (d). – Vgl. weiter zur visuellen und auditiven Metaphorik in der europäischen Geistesgeschichte die vorzügliche Reflexion bei Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 22002, 115–129. Diese Textpassagen dürften, auch wenn selten zitiert, für manche Metapherntheorie der Folgezeit einschlägig gewesen sein. 364   Aus: Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Vgl. AW 1, 100. 358 359

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Arndt häufig gerechtfertigt und häufiger beschworen, ein den ‚Schreiber‘ und seine Adressaten läuternder Affekt. Er geht das ganze Volk an, zu dessen repräsentativem Redner der Verfasser aufsteigen will. Mit diesem seinem Aufstieg soll sich das Volk zugleich als handlungsfähig erweisen. Soweit Arndts Rhetorik – die ethische Seite seines Konzepts vom Zorn ist ebenfalls bemerkenswert. Zorn erscheint nicht als klassisches Laster oder im Aspekt der Sünde, sondern als schöpferische Belebung des erstarrten Zeitalters. Es gibt, so der dritte Band von ‚Geist der Zeit‘, Epochen, in denen nur „weggeräumt“ wird.365 Sie fordern die Affekte massiv heraus, und der Zorn ist in solchen Epochen ein ausgezeichneter Affekt, da er ihrer negativen Arbeit entspricht. Seine Solidarität gilt entweder der Negation des Abgelebten oder der Erhaltung von etwas zu Unrecht ‚Weggeräumtem‘. Zorn in diesem Sinn ist der Affekt der Gerechtigkeit und des Maßes, die Arndts Epoche abhandengekommen sind und die wiederzuerlangen wären. Im Zeichen axiologischen Zürnens für eine neue Kulturschöpfung enden die selbstreflexiven Anfangspassagen.366 Die Legitimierung des Verfahrens von ‚Geist der Zeit‘ nimmt konfessionelle Wahrheiten in Anspruch. Die subjektive Wahrhaftigkeit des Verfassers und die Ungreifbarkeit zeitgeschichtlicher Erscheinungen werden konfessionell fundiert. Das publizistische Projekt soll im christlichen Sinnhorizont stehen, wie gegenüber thematisch und literarisch unangebrachten dogmatischen Eindeutigkeitserwartungen an Arndt festgestellt werden muss.367 Die konfessionelle Semantik von ‚Geist der Zeit‘ macht keine sekundäre Reklame für eine bereits dechristianisierte Nationalreligion.368 Die nationalrhetorischen Exzesse im Text werden dadurch nicht weniger problematisch, im Gegenteil: Als Zeugnis einer christlichen Selbst- und Zeitdeutung wird jede sakrale Feindmarkierung umso interpretationsbedürftiger. b)  Christentumsgeschichte und ‚nation building‘ Die Thematisierung des Christentums erfolgt in ‚Geist der Zeit‘ auf dreierlei Weise: Die Reflexion zum gesamten Projekt verwendet, wie beschrieben, konfessionelle Legitimationsmuster. Topoi plausibilisieren die Operationen des Verfassers, ohne dass man zum Stand seiner Frömmigkeit Erkundigungen einholen müsste. Hinsichtlich des ‚nation building‘ ist die rhetorische Verbindlichkeit des Christentums insofern ein Kriterium, als sie eine Nationsneubildung ohne engagierte Bestimmung des Verhältnisses von Nation und Christentum unmöglich erscheinen lässt. Somit ist eine eigenständige Wahrnehmung der   AW 8, 105.   AW 6, 28. 367   Ott: Arndt, 151 passim.166 passim. 368   Ott: Arndt, 184, argumentiert mit einer petitio principii, wenn er formuliert, Arndt habe sich dem Nationalismus zugewandt. Dessen Genese steht ja zur Diskussion. 365

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Konfessionalität in ‚Geist der Zeit‘ neben den übrigen Thematisierungsweisen des Christentums unabdingbar. Diese Thematisierungsweisen umfassen die sachliche Beschreibung des Christentums als zivilisatorischer Kraft einerseits und die augenscheinliche patriotische Vereinnahmung christlicher Affektkultur andererseits. Das Christentum erscheint im ersten Band von ‚Geist der Zeit‘ als Ursache epochaler Revolutionen und als Hoffnungsträger zu ihrer Steuerung.369 Mit dieser universalgeschichtlichen Funktionszuschreibung unterstellt Arndt nicht nur die deutsche Nationsbildung, sondern die Bildung der „neuen Völker“ insgesamt dem Prozess der Christentumsgeschichte. Danach führen Entstehung und Ausbreitung des Christentums einen elementaren universalgeschichtlichen Wechsel herbei. Arndt unterlegt diesem Ereignis ein Schema aus Herders Geschichtsdenken,370 weshalb er den Beginn einer geschichtsumbildenden Vergeistigung der Welt durch das Christentum als entscheidenden Rahmen der Nationengeschichte benennt: „Als die gebildete Erde unter den Römern nur noch ein unglücklicher Sklavenhaufe war, da mussten alle fühlen, was alle litten, mussten denken lernen, da sie nicht leben konnten. [.  .  .] Die Hoffnung [.  .  .] trug sie über das Nichts dieses elenden Sklavenlebens hinaus und zeigte ihnen ein anderes Leben jenseits und einen neuen Gott außer dem Leben und der Welt.“371

Durch die römische Herrschaft politisch wie auch im Daseinsgefühl hoffnungslos gemacht schöpft die Mittelmeerwelt neue Hoffnung durch den christlichen Gott.372 Die geschichtlich konstellierte Abstraktheit dieses Gottes bedarf allerdings einer Mittlerschaft, die durch ihre ausgedehnte Aufgabe selbst zur Repräsentantin der Gottheit wird. Die „Weltbildung des Geistes begann“373 mit einer Entweltlichung des Gottesgedankens und dem „Notbehelf“ einer klerikalen Hierarchie. Arndt konstatiert für das Christentum eine eminente Sakralisierung der religiösen Vermittlungsagentur, welche die Weltlosigkeit des Gottesgedankens ausgleicht. Arndts Konzept der nachantiken Nationsbildungen ist vom rhetorischen Repertoire eines protestantischen Verständnisses von Sakralität und Weltlich  Vgl. zur Christentumskritik von 1803 Ott: Arndt, 114 passim. Die scharfe Kritik an der Destruktivität der Reformation wird in ‚Geist der Zeit‘ zur ambivalenten Vergeistigung umgedeutet. Vgl. Otte: Arndt und ein Europa der Feinde?, 152 passim. 370   Vgl. §  3.3 (d) und (e). – Vgl. zu Herder als Bezugspunkt von Arndts Geschichtsdenken AW 7, 118, den Begriff der „hieroglyphische[n] Erklärung“ und AW 7, 119, die an Herders Trümmerfeld anklingende Wendung vom „Schutt der Zeiten“, sowie AW 7, 123, die „historische Bildersprache“. 371   AW 6, 44. 372   Interessant ist Arndts Apologie des Christentums gegenüber dem Vorwurf der Schuld am Fall des Römischen Reichs AW 6, 96: „[.  .  .] neuen Geist der Erhaltung brachte es anfangs nicht, aber alten fand es nicht, den es zerstören konnte.“ 373   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 6, 45. 369

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keit bestimmt.374 Der christliche Rahmen der Bildung und des politischen Status neuer Völker wird an großen, durch den Einschnitt der Reformation konturierten Linien der Christentumsgeschichte identifiziert. Wie Herder die nachrömische Geschichte Europas als eine Zeit der Versetzung grober Volkskulturen mit feinem christlichem Geist bestimmt hatte, so bestimmt Arndt die Aufgabe des Klerus als Vergeistigung des Irdischen. Diese Vergeistigung sei aber misslungen, der Klerus in einem langen Prozess der Desakralisierung depraviert. Politische Herrschaft und geheuchelte Askese sind deren Kennzeichen, doch „der Gott des Christentums erklärte sich endlich selbst“ gegen die Hierarchie „und die Reformation begann“.375 Arndt lässt die Neuzeit mit einer Verschränkung der Absichten von Renaissance und Reformation beginnen. Lässt die Erneuerung der Kultur das Daseinsgefühl irdischer und weltzugewandter werden, so hat sich die Geistigkeit durch die Reformatoren zu mystischer Überschwänglichkeit und reiner Intellektualität gesteigert. Renaissance und Reformation verkörpern zwei Seiten desselben Zivilisationsprozesses, der auf eine Auflösung all derjenigen Zeichenordnungen hinausläuft, die Geist und Welt zusammenhalten. Das Verständnis von Sakralität und Weltlichkeit verändert sich. Das Luthertum hat durch das Wissen auf den Unglauben hingearbeitet, da die Intensität der Geistigkeit, in der Gott angeschaut wurde, die sinnlichen Bezeichnungsmöglichkeiten verzehrt hat – ein seltsamer Anwurf, der sich nur eingeschränkt aus dem aufklärerischen Blickwinkel erklären lässt. Jedenfalls hätte der reformatorische Pfarrerstand laut Arndt konsequent „Weltsinn [.  .  .] darstellen müssen“,376 um eine neue Form der Heuchelei zu vermeiden. Da diese Konsequenz unterblieben ist, haben die protestantischen Kirchen ihrerseits das durch die Reformation in seiner Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit gesteigerte Heilige entweiht. Ihre Profanation trägt nicht die Züge geheuchelter Askese, sondern eines nur scheinbaren Zusammenhangs von weltlichem Daseinsgefühl und hochgespannter Geistigkeit. Liest man Arndt genau, erweisen sich seine vom Pathos übertäubten Gedanken als komplex. Die Geschichte der europäischen Geistes- und Kulturbildung hat demnach durch einen Erneuerungs- und Verfallsprozess des Christentums die Signatur erhalten, durch welche die ‚bedeutenden Bilder‘ des Zeitgeists unbegreiflich rasch und ungeordnet an den ratlosen Zeitgenossen vorüberziehen. Das Christentum erscheint in einer an Nietzsche erinnernden Drastik als Quelle des Leidens von Arndts Zeitalter. Anders als bei Nietzsche ist vom Christentum aber auch die allgemeine Erneuerung zu hoffen:

  Affektiv AW 7, 87.   AW 6, 45. – Vgl. äußerst scharf in der Klerikerkritik AW 6, 95 f. 376   AW 6, 47. 374

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4.4  ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation

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„Nur eine Rettung ist da, mitzugehen durch den Feuertod, um das lebendige Leben für sich und andere zu gewinnen. [.  .  .] Die Bildung hat einen hohen Punkt erreicht, eine fürchterliche Schärfe des Blicks; aber ihr Gott ist ja nicht entflohen.“377

Die Offenheit für die fällige Verwandlung beruht auf christlichem Zeugnis, indem sie hier wie an anderen Stellen dem Muster des Sterbens zum Leben hin folgt, und sie ist christliches Zeugnis, sofern sie den scheinbar entflohenen Gott „den armen, reizlosen und gottlosen Menschen“ wiederbringt, damit sie „wieder anbeten und sich freuen“. Voraussetzung dafür sind aber auch die Anerkennung der Menschheit in ihrem weltlichem Daseinsgefühl und das Vertrauen in die Bewährung menschlichen Ethos.378 Andernfalls kommt es nicht zur ‚Neugeburt‘, sondern zur Lähmung aller Lebendigkeit durch die Kluft zwischen Geist und Dasein. Nach Arndt läuft der ‚Geist der Zeit‘ auf eine Bestimmung der Nationen als der neuen Synthese von christlichem Geist und weltlichem Leben hinaus. Die Nationen werden am Geist des Christentums greifbar, der in ihnen lebt, und das Christentum an der Lebendigkeit nationaler Individualität. Arndt formuliert diesen Zusammenhang nicht in theoretischer Gediegenheit oder an einem einheitlichen systematischen Ort. Doch in der Beschreibung der neuzeitlich-modernen Nationen Europas findet sich die Wechselseitigkeit der Belebung von Christentum und Nationsbildung ausgedrückt: „Gleichheit und Gerechtigkeit in Liebe und Mitleid mit allen Lebendigen, ihr seid die erhabenen Lehren des heiligen Stifters des Christentums, ihr müßt die Gesetze der Staaten und Völker sein. Die neuere Menschheit muß sich des stolzen Trotzes physischer Kraft, des rohen Gebrauchs der Gewalt, der unmilden Behandlung freigeborner Menschen als Sklaven begeben, wenn sie das Gebot des neuen Weltgesetzes erfüllen will. Stillere Tugenden, mildere Begeisterung, Arbeit und Mäßigkeit aller, damit keiner Knecht zu sein brauche, – das sind die bescheidenen Forderungen an ein Volk, welches den Namen und die Würde der Freien verdienen will.“379

Die Wechselwirtschaft zwischen Christentum und Nationen erfolgt zum einen über ein Gattungsethos, das die Einheit in einer Nation herstellt und darüber hinaus die Beziehungen zwischen den neuzeitlichen Nationen auch in rechtlicher Form regeln soll. Dieser Gedanke enthält zugleich Kritik an der Idee allgemeiner Menschenrechte und an der Wahl einer bestimmten Regierungsform als der ihnen einzig angemessenen, er vertraut stattdessen auf die humanisierende Wirkung des Christentums auf alle Nationen in ihren jeweiligen Lebensbedingungen. Das ist zwar in konstitutioneller und institutioneller Hinsicht wenig, aber doch etwas völlig anderes als die Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse. Die Wechselwirksamkeit von Christentum und Nationsbildung ist vom Freiheitsgedanken bestimmt.   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 6, 47.   AW 6, 68. 379   AW 6, 105. 377 378

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Im Konkreten liegt bei Arndt wie bei anderen Zeitgenossen zwar ein Mangel an konstitutionellen Imaginationen zur politischen Nation. Doch gibt es die emanzipatorischen Andeutungen zum Ende aller politischen Knechtschaft in einer christlichen Nation und ein Tugendkonzept zur Vereinheitlichung und Verstetigung des nationalen Lebens. Arndt kommt darauf in den unmittelbar kriegsbedingten Schriften zurück.380 Vor allem aber ruht der Freiheitsbegriff auf der Unterscheidung zwischen Befreiung und Freiheit.381 Er nimmt die konfessionelle Unterscheidung von soteriologischer Priorität und ethischer Posteriorität auf. Arndt aktualisiert diese Unterscheidung, wie schon an den Transformationen seiner Liedkontrafaktur zu sehen war, allerdings nach Gutdünken.382 Das Spektrum der Urteile zu Konstitutionsvorgängen wird gleichwohl durch die Unterscheidung eines Befreiungsakts von dauerhaft-zuständlicher Freiheit überhaupt erweitert. So zieht die konfessionelle Semantik der Freiheit in den nationalen Diskurs ein und erlaubt die Umstellung wichtiger Zuordnungen: Kosmopolitismus ist nicht „edler als Nationalismus und die Menschheit erhabener als das Volk“,383 wenn man davon ausgeht, dass „ohne das Volk [.  .  .] keine Menschheit und ohne den freien Bürger kein freier Mensch“ sei. „Ihr Philosophen“, fügt Arndt metaphysikkritisch hinzu, „würdet es begreifen, wenn ihr Irdisches begreifen könntet.“ In der konstitutionellen und institutionellen Dimension des ‚nation building‘ erscheint jener Weltsinn, den Arndt mit der Essenz des Christentums neu verbinden will. Die neue Synthese ist nur nicht ohne Konflikt um die politische Ambivalenz von Religion möglich: „Zwar lebte Christus in der Wüste hoch über dem Bürger und lernte in der Einsamkeit das Himmlische von dem Himmlischen, Plato holte“, wie Arndt gegen den Augenschein der sokratischen Dialoge bemerkt, „seine Weisheit nicht von den Landstraßen und Märkten, aber freie, lebendige Menschen machen die Welt, woraus solche geboren und gebildet werden.“ Die überschwängliche Geistigkeit muss ‚geerdet‘ werden, um ihren Sinn einzulösen und dem bloß zweckrationalen Weltsinn Richtung und Ziel zu geben. Etwas „Freies und Hochfliegendes“ verbunden mit der Masse des Volkes bringt individuelle Repräsentationen des nationalen Lebens hervor. Zweckrationaler Weltsinn allein vermag das nicht. Im Idealfall erscheint in der integrierten Nation „das sichtbare Reich Gottes auf Erden; das unsichtbare macht sich dann 380   Vgl. §  3.4 (a, b) und §  4.3 (d). – Vgl. Graf: Gottesbild und Politik, 102 f., zur politischen Wahrnehmung der egalitären Elemente in den Heeresreformen um und nach 1813: „Die einzelnen Schichten lebten nicht mehr ausschließlich für sich, sondern das neue Privileg war der gemeinsame Dienst am Vaterland. Man war zuerst preußischer Staatsbürger und danach kam der soziale Stand.“ 381   Vgl. dazu grundsätzlich Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, München 22002, 429–440. 382   Vgl. §  3.4 (c). 383   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 6, 107.

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auch.“ Diese immanente Auffassung vom Reich Gottes ist selbst für Arndts Epoche erstaunlich einseitig.384 Unbeschadet der süffisanten Bemerkung zur Nachträglichkeit des unsichtbaren Reichs Gottes weist Arndt auf den Stifter des Christentums hin, um die Zwienatur seiner christlich-nationalen Synthese darzustellen. Das Christentum soll also zu den Quellen der originären Individualität einer Nation gehören, deren Bildung ihrerseits in epochalen ‚Neugeburten‘ der europäischen Zivilisationsgeschichte vor sich geht; den Rassismus der „unmenschlichen Grundsätze [.  .  .] von den verschiedenen Menschenstämmen“ weist Arndts ‚Geist der Zeit‘ zurück.385 Seine Adaptation der Volksgeistidee ist wie bei Herder kulturell bestimmt, einen nationalen Naturzustand gibt es sowenig wie eine überkulturelle Ursprünglichkeit.386 Das Vermögen, durch Selbstbindung an Gestaltungskräfte und Gesetze die Nation zu integrieren, rührt von dem in der Mitte des Kulturvolks treibenden „Keim“387 der Individualität, dem „geheime[n] Geist des Volks“.388 Von hier aus erfolgt die Verbindung von Christentum und Weltsinn. Vordergründig vereinfacht das Wissen um den christentumstheoretischen Gehalt dieser Geschichtssicht die Aufgabe, das gewaltsame Pathos anderer Textpassagen zu interpretieren. Sie erscheinen als rhetorische Aktualisierung realgeschichtlicher Beobachtungen, ja als Epiphänomene eines überintentionalen Prozesses. Doch ein Verfasser solcher Texte darf nicht als bloßer Agent seiner Erzählung gelten, zumal wenn er sich als ein zu Feindmarkierungen berechtigter Rhetor der Nation im Krieg präsentiert. c)  Zur patriotischen Vereinnahmung der Soteriologie Die dritte Thematisierungsweise des Christentums in ‚Geist der Zeit‘ neben konfessioneller Legitimation des Autors und christentumsgeschichtlichem Zugriff betrifft die patriotische Vereinnahmung der christlichen Affektkultur. Arndt lädt die Elemente seines politischen Christentums zur Übersetzung in die ethische Praxis affektiv auf. Selten geschieht dies so dicht – und für die heu-

384   Hegel empfiehlt ironisch das Streben nach Nahrung und Kleidung, woraufhin einem das Reich Gottes zufalle. 385   AW 6, 134. Der späte Arndt allerdings: „Heredity [.  .  .] put limits to human development“. So Brian Vick: Arndt and German Ideas of Race. Between Kant and Social Darwinism, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 65–76, hier 71. 386   Trotz gemeinsamen patriotischen Wirkens mit Fichte. Vgl. Fischer: Das ‚Eigene‘, zur Wiederkehr des Christlichen auf der höchsten Stufe nationaler Geschichte in ‚Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters‘ von 1804/1805 243 passim, zur deutschen Sendung in ‚Reden an die deutsche Nation‘ von 1807/1808 256 passim. 387   AW 6, 134. 388   AW 6, 138.

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tige Leserschaft so irritierend – wie im Schlussappell von ‚Blick vorwärts. 1807 im Januar‘, dem zweiten Teil des zweiten Bandes von ‚Geist der Zeit‘: „Ein Volk zu sein, ein Gefühl zu haben für eine Sache, mit dem blutigen Schwert der Rache zusammenzulaufen, das ist die Religion unserer Zeit: durch diesen Glauben müsst ihr einträchtig und stark sein, durch diesen den Teufel und die Hölle überwinden. [.  .  .] Das ist die höchste Religion, zu siegen oder zu sterben für Gerechtigkeit und Wahrheit, zu siegen oder zu sterben für die heilige Sache der Menschheit, die durch alle Tyrannei in Lastern und Schanden untergeht; das ist die höchste Religion, das Vaterland lieber zu haben als Herren und Fürsten, als Väter und Mütter, als Weiber und Kinder; das ist die höchste Religion, seinen Enkeln einen ehrlichen Namen, ein freies Land, einen stolzen Sinn zu hinterlassen; das ist die höchste Religion, mit dem teuersten Blute zu bewahren, was durch das teuerste, freieste Blut der Väter erworben ward. Dieses heilige Kreuz der Welterlösung, diese ewige Religion der Gemeinschaft und Herrlichkeit, die auch Christus gepredigt hat, macht zu eurem Banner und nach der Rache und Befreiung bringt unter grünen Eichen auf dem Altar des Vaterlandes dem schützenden Gotte die fröhlichen Opfer.“389

Diese Passage gilt nach wie vor als „eines der theologisch so fürchterlichen Arndt-Worte“,390 mit denen der Verfasser von ‚Geist der Zeit‘ das Christentum säkularisiert und die Nation sakralisiert. Die Frage, wie Arndt auf eine solche Verflechtung der Topoi verfallen konnte, erscheint daneben fast müßig. Doch eine negative Monumentalisierung Arndts sollte nicht den Blick auf die Funktionsweise seiner Rhetorik verstellen. Einheit kommt in die Versatzstücke vom Anfang und vom Ende her: Sie entsteht durch die Forderung der Eintracht und durch die legitimierende Wendung, auch Christus habe diese ‚ewige Religion‘ gepredigt. Die hebraisierende Topik von Wahrheit und Gerechtigkeit ist aus Arndts konfessionellen Legitimationsformeln vertraut. Doch in der Blutmetapher rauscht gleichsam die germanische in die deuteronomische Erinnerungkultur herüber. Das „Blut der Väter“ und das eigene Blut sind der Einsatz, mit dem um die nationale Integrität gekämpft wird, der Sieg würde unter Eichen gefeiert. Die Höhe des Einsatzes erlaubt allerdings auch einen emanzipativen Zug. Zum einen wird das Nationsverständnis von der dynastischen Loyalität getrennt, zum anderen soll die nationale Bindung alle anderen Bindungen übersteigen. Um beides zu verbinden, spielt Arndt auf die radikale Eschatologie von Jesuslogien über die Nachfolge an. Unklar bleibt bei alledem, welche Semantik legitimiert und welche legitimiert wird. Arndt veruneindeutigt den Richtungssinn der konfessionellen Semantik, indem er einen patriotischen Appell christlich, ja sogar christologisch legitimiert und doch die Legitimitätsformel zugunsten der ‚Ekklesiologie‘ des Patriotismus in einen Nebensatz drängt. Die Nation wird dadurch mit einer konkreten Sakralität ausgestattet, das Christentum nationalisiert.   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 7, 85.   Staats: Arndt als ‚Heiliger‘, 105.

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Gegenüber dem ersten Band ist es nur der Art nach neu, wenn die nationale Synthese von Weltsinn und Christlichkeit seit dem zweiten Band von ‚Geist der Zeit‘ als pathetischer Appell formuliert wird. Liest man diese und andere pathetischen Passagen im Zeichen der Synthetisierung von Geistigkeit und Weltsinn, wird deutlich, dass ein Legitimationsgefälle zwischen Christentum und Nation gar nicht erkennbar werden darf. Arndt enttäuscht deshalb alle Eindeutigkeitserwartungen eines auf die Gefahren des Nationalismus eingestellten Lesens, wenn er die Nation als Erscheinungsform des im Gefolge der Reformation überschwänglich und ungreifbar gewordenen christlichen Geistes deutet. Nationen verkörpern die „ewige Religion der Gemeinschaft und Herrlichkeit“,391 daher sollen „freie Staaten und Völker [.  .  .] nach Gottes Willen einander unabhängig gegenüberstehen“.392 Für die Deutschen besteht in diesem Punkt allerdings ein Wahrnehmungsproblem durch die Auflösung des Alten Reichs. Arndt fragt daher, wodurch „die letzte allgemeine Religion[,] der Name Kaiser und Reich“, ersetzt werden soll.393 Trotz Arndts späteren Optierens für eine konstitutionelle Monarchie und seiner Rolle als ‚Alterspräsident‘ der Paulskirchenversammlung bei der Werbung um den preußischen König für die Kaiserwürde darf man seine Offenheit für andere freiheitspolitische Ordnungen und zivilreligiöse Lösungen nicht unterschätzen. In ‚Geist der Zeit‘ vermittelt Arndt den Eindruck, an einer Politischen Religion für die deutsche Nationsbildung zu arbeiten, in der die bürgerlichen Freiheiten kriegsbedingt auf der Kippe stehen und zugleich durch Militanz wiedergewonnen werden sollen. Umgekehrt bedarf auch der christliche Geist eines neuen Niederschlags, wie man dank protestantischem Bewusstsein wissen kann, hat doch der Protestantismus nolens-volens den Weg für die schöpferische Krise des Zeitgeistes frei gemacht. „Ewig wird das Christentum wie alle Religion, einen äußeren Leib behalten müssen“394 – als ekklesiologisches Zugeständnis verrät diese Feststellung ihre protestantische Konfessionalität. Universale Sympathie, innere Anschauung und reiner Gedanke müssen bezeichnet werden, sonst werden sie leicht „verspielt“. Arndt bezieht diese innere affektive Einheit aber nicht nur auf kirchlich-konfessionelle Bezeichnungskontexte, vielmehr wird mit der „geistigen Bildung des Christentums“ auch die „Gemeine der Heiligen“ ihre Gestalt wandeln. Sofern die Nationen ihre innere Integrität vom Christentum empfangen, ist ihr Erscheinen ein geeignetes Mittel, um zu einer Ekklesiologie der Zukunft und zu neuen ekklesialen Gestalten überzugehen. In seinen Vorschlägen zu einer deutschen Einheitskirche und dem Entwurf ihres Gesangbuchs wird   AW 7, 85.   AW 8, 113. 393   AW 6, 144. 394   Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 7, 139 f. 391

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Arndt diesen Gedanken später aktualisieren 395 – immer mit Blick auf eine Politische Religion für die Nation. Man könnte Arndts Positionen zum Patriotismus und zur Nationsbildung unter die kulturell entgrenzte Konfessionalität früherer Denkmodelle rechnen, wäre seine nationale Militanz nicht so hoch. Die neue Synthese von Christentum und Nationen steht im Zeichen eines vernichtenden, alle vertrauten Grenzen und Ordnungen revolutionierenden Krieges. Es ist angesichts dieser Situation nicht unsachlich von Arndt davon auszugehen, man werde sich zum Krieg und im Krieg positionieren müssen, um das Christentum zu erneuern und eine Nation zu bilden. In ‚Friedensrede eines Deutschen‘, gesprochen den 13. Juli 1807, zum Zeitpunkt des für Preußen verheerenden Friedensschlusses von Tilsit, argumentiert Arndt zurückhaltender. Krieg ist nicht die ‚ultima ratio‘ des nationalen Handelns, da „die Entscheidung des Zeitalters [.  .  .] mehr auf dem Wort und der Meinung als auf dem Befehl und dem Schwerte“ ruht.396 Dennoch ist Krieg in den Beschreibungen des ‚nation building‘ und der Metamorphosen des Christentums stets gegenwärtig. Arndts nationale Militanz färbt sein politisches Christentum: Das „heilige Kreuz der Welterlösung“ wird vom „Schwert der Rache“ begleitet,397 und der Gott dieser Geschichte will Krieg,398 sein Wandeln unter den Menschen manifestiert sich geradezu an Krisen und Kriegen.399 In den mittleren Bänden von ‚Geist der Zeit‘ finden sich sakrale Feindmarkierungen, und die Befreiung vom napoleonischen Frankreich heißt Erlösung. Arndts politisch bestimmtes Christentum wird zu einer politischen Soteriologie umgeschaffen. Als Deutekategorie der Soteriologie bietet der Erlösungsbegriff gegenüber dem Versöhnungsgedanken für das ‚nation building‘ drei strategische Vorteile: 400 Er ist durch eine starke Asymmetrie gekennzeichnet, die ein Verdankungsverhältnis für die Befreiten implementiert.401 Sodann konnotiert der Erlö  Von dem Wort und dem Kirchenliede, nebst geistlichen Liedern, Bonn 1919. Arndt entwirft in dem Traktat eine eigentümlich schwebende Theologie des Wortes, die den Wortbegriff immer zugleich konfessionell und kulturnational fasst. Der Liedteil will dann auch die katholischen Deutschen einbegreifen. Arndt war in diesem Punkt ebenso ambivalent wie hinsichtlich der protestantischen Kirchenunion. 396   AW 7, 107. 397   AW 7, 85. 398   Vgl. schon Blick vorwärts AW 7, 82, dann sogar in der Friedensrede AW 7, 110; schließlich als Gerichtsaussage AW 8, 76 ff.90 f. 399   Besonders drastisch AW 8, 76.175. Vgl. zur protestantischen Krisenrhetorik und -diagnostik um 1800 F. W. Graf: ‚Dechristianisierung‘, in: Ders.: Wiederkehr, 69–101, hier 71– 79; vgl. weiterführend zur Frage der echten oder imaginierten Christentumskrise Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997. 400   Vgl. dazu Claus-Dieter Osthoevener: Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift Halle 1999 [Tübingen 2004], 18 ff.42.52.70. 401   Osthoevener: Erlösung, zu Luther 15 ff., zu Schleiermacher 54 ff. 395

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sungsbegriff ein weites Spektrum an Kontexten, aus denen befreit wird.402 Und schließlich betont die Erlösung das Aktuale einer Befreiung gegenüber der in der Versöhnung erreichten, dauerhaft-zuständlichen Freiheit.403 Asymmetrie, Kontextualität und Aktualität prägen die Konfessionalisierung der Nation mithilfe dieser politischen Soteriologie, aus deren sakraler Feindmarkierung heraus die Nationalisierung des Christlichen betrieben wird. Man kann den Sinn von Arndts politischer Soteriologie auf die drei Aspekte des Erlösungsgedankens zurückführen und dadurch das Verhältnis der internen Thematisierungsweisen des Christentums bestimmen. Die nach 1806 prekäre Offenheit der deutschen Situation wird durch die Asymmetrie der Erlösung aufgefangen. Mit ihr lässt sich auf Gott als den Lenker des komplizierten Geschichtsverlaufs verweisen, womit sich Arndt zwar im Rahmen konfessioneller Tradition bewegt. Doch der Rahmen einer konventionell-frommen Nutz­ anwendung des Vorsehungsglaubens wird immer wieder mit Bezugnahmen auf die politische Gegenwart durchbrochen: „als Verstockte anklagen will ich uns, [.  .  .] wenn wir künftig, sobald uns ein Zeichen von Gott gegeben wird, nicht aus eigner Macht zur Einheit streben [.  .  .]“.404 Solch eine Verstockung kann jedoch gelöst werden. Arndts Gott ist bereit, das Volk zu führen. Man muss sich nur darauf einlassen: „Was kann dich erlösen, deutsches Volk, was kann deine beschmutzte Ehre wieder weiß waschen? Was kann dich wieder als den echten Sprößling der edlen Germanen in der Weltgeschichte hinstellen? O nichts als der Glaube an Gott, der Glaube an deine Väter, der Glaube an deutsche Redlichkeit und die gemeinsame Liebe und Treue gegen das ganze Vaterland.“405

So beendet der „heilige Krieg“ um das „heilige Land“ jedes Imaginieren der Nation und holt diese ins Dasein. Deshalb akzeptiert Arndt den Krieg nicht nur als Bedingung der Nationsbildung, sondern er propagiert ihn auch. Die Asymmetrie im Erlösungsgedanken lässt Arndts Gott auch als außerkirchliche Macht des Lebens erscheinen. Gott erlöst zum einen das ganze Volk aus der Fremdherrschaft, also gleichsam die Schlechten mit den Guten, zum anderen sind diese Vorgänge inklusiv gedacht. Der nationale Fokus der Erlösung, das Verdankungsverhältnis zwischen Nation und Gott ist keine deutsche Besonderheit.406 Eine ausgemachte Erwählungsideologie findet nicht statt, die

  Osthoevener: Erlösung, zu Luther 24 ff.38 f., zu Schleiermacher 74 passim.   Osthoevener: Erlösung, zu Luther 42 passim, zu Schleiermacher 68 passim. 404   AW 7, 101. 405  AW 8, 165. – Kleist kommt Arndts ‚Vätern‘ und dem undeutlichen Freiheitsverständnis der Vätersitten in der Variante zur Germania-Ode nahe: „Frei auf deutschem Boden walten/Laßt uns nach dem Brauch der Alten;/Seines Segens selbst sich freun/Oder unser Grab ihn sein –“. Vgl. Sembnder: Kleists Kriegslyrik, 89. 406   Vgl. z. B. AW 6, 118 passiv zu Spanien, AW 6, 140 aktiv zu Schweden. 402 403

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deutsche Nation wird mittel- und langfristig als Frieden stiftende Macht des Ausgleichs in der Mitte Europas gesehen.407 Der Erlösungsgedanke ist nicht nur für die Stärkung der Vorstellung von einem Gott, der sich um die Freiheit der Nationen sorgt, von Belang, sondern auch für die Charakterisierung von überintentionalen Weltvorgängen als den Kontexten der Erlösung. Die politischen Spielfelder und militärischen Schlachtfelder der Geschichte haben etwas erlösungsbedürftig Unmenschliches, aber auch etwas Übermenschliches, in seinen Dimensionen kaum Fassbares an sich, das die Sehnsucht nach Integrität weckt und diese Integrität in religiöser Vergesellschaftung suchen lässt. Nur in der konfessionellen Vertrautheit bietet die Religion indes dieser Sehnsucht eine Heimat. Wie Klopstock entwickelt auch Arndt eine Hierarchie der Vaterländer, um zwischen religiöser und politischer Ordnung unterscheiden, sie aber auch aufeinander beziehen zu können: „Unser größtes Vaterland ist Himmel und Erde, unser großes Europa, unser kleines Deutschland. Wer sein Kleines nicht liebt und verteidigt, ist des Großen und Größeren nicht wert und wird es nimmer gewinnen. [.  .  .] Wir wollen durch die Bürgerschaft zur höheren Menschlichkeit“.408

Die Nation dient hier als geringstes, aber unentbehrliches Bewährungsfeld für eine christliche Humanität. Die politische Soteriologie wird in Arndts Kriegsbericht vom Russlandfeldzug und vom Rückzug Napoleons, die den ersten Teil des dritten Bandes von ‚Geist der Zeit‘ ausmachen, besonders deutlich. Die Leiden des russischen Volkes und seine Bereitschaft, mit allen Mitteln weiterzukämpfen, nehmen christologische Züge an. Die russische Nation leidet stellvertretend für die Befreiung409 und ist die den Despoten bekämpfende Nation schlechthin: „Die Russen sind ein frommes Volk. Sie verwandelten diesen Krieg in einen Religionskrieg: der Glaube des Volkes, die Schändung der Heiligtümer durch die Fremden, die Gefahr des Vaterlandes entzündeten eine Begeisterung, welcher alle Mühen und Hindernisse überwindlich und Tod und Schmach süß waren. Die Kirchen, die Bethäuser, die heiligen Gräber wimmelten täglich von Menschen; die Krieger des Vaterlandes weiheten sich täglich durch Gebet, zeichneten sich mit dem Kreuze, segneten ihre Fahnen mit feierlichem Gottesdienst ein, schwuren auf das Evangelium dem Kaiser und zogen jauchzend aus wie zu einem Triumphzuge.“410 407   AW 8, 115: „Deutschland [.  .  .] ist unter dem Szepter eines Herrschers noch nicht stärker als Frankreich und nicht so stark als Russland. Als ein Bollwerk zwischen beiden und als ein Schildhalter skandinavischer, hispanischer und italienischer Freiheit würde es wohltätig in der Mitte liegen [.  .  .].“ 408  AW 7, 87. – Vgl. zur weiteren Relativierung des Weltkontexts die ihn überragenden transzendenten Erscheinungen von politischen Heroen und religiösen Genies, am Ende der Klimax Christus AW 8, 105. 409   Martyrologisch zu niedergemetzelten Dorfältesten, die den Besatzern die Aufrechterhaltung der Ordnung verweigern, AW 8, 61. 410   AW 8, 33.

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Die Russen erscheinen hier im Zeichen des Kreuzes als Gottesvolk – wie es auch andere Nationen sein können und sollen.411 An der nicht steuerbaren Überdimensionalität des Geschehens im Winter 1812 erweist sich Gott als Handlungssubjekt der als Erlösung gedeuteten Befreiung: „Gott war lebendig in ihnen, Gott begeisterte sie für ihr Land, Gott gab ihnen die Freudigkeit, die Beharrlichkeit, den Sieg.“412 Die Russen deuten die Zeichen der Zeit angemessen, sie verstehen ihren Kampf gleichermaßen als nationale und als christliche Bewährung. In der notorischen Unübersichtlichkeit einer Zeit, in der Dynastien verschwinden, Reiche aufgelöst und Grenzen permanent verschoben werden, kommt es verstärkt zu Abhängigkeits- und Fremdheitserfahrungen, die eine um so nachhaltigere Suche nach Kontexten bewirken, in denen soziale und transzendente Integrität als Befreiung erfahren werden können. Deshalb ist Arndts politische Soteriologie so gar nicht weltund kontextlos – anders als manche von ihm kritisch kommentierten Epochen und Züge in der Christentumsgeschichte. Und die Russen im Krieg gegen Napoleon bilden das Muster für die gelingende patriotische Kontextualisierung christlichen Geistes, der in ihnen pfingstlich ‚saust‘ und ‚braust‘.413 Neben Gott als Handlungssubjekt und den Kontexten des Weltgeschehens erscheinen auch menschliche Individuen als Träger der politischen Soteriologie. Grundsätzlich kommt bei Arndt das ‚Volk‘ in der Funktion dieser soteriologischen Synergie vor.414 Anders wären seine Appelle, sich am Kampf zu beteiligen, sinnlos. Doch sowohl die Exempla-Tradition der Geschichtsrhetorik als auch das Zeitgeschehen geben Arndt auch herausragende Einzelgestalten vor, die das nationale Leben repräsentieren. So kann zum Beispiel der bei der für Preußen katastrophalen Schlacht von Jena-Auerstedt 1806 getötete Hohenzollernprinz Louis Ferdinand ein gefallener Erlöser seines Volkes heißen.415 Die Zuordnung der menschlichen Akteure und zumal Napoleons ins Geschehen der ‚Welterlösung‘ muss aufgrund des darin zum Zuge kommenden Feindbegriffs eigens thematisiert werden. d)  Sakraler Feindbegriff und passionierte Zeitbeobachtung Die theologisch bedrängende Frage, wie sich solche politisch-soteriologischen Aussagen zum christologischen Finale von ‚Blick vorwärts. 1807 im Januar‘ verhalten, wird durch eine Stelle aus ‚Friedensrede eines Deutschen‘ erhellt, die den Europäern eine Sonderrolle in der Weltgeschichte zuweist. Sie seien „Kinder des 411   Vgl. zur Übertragung einzelner Formeln und Symbole Graf: Gottesbild und Politik, hier 89–97. 412   AW 8, 46. 413   AW 8, 45 f. 414   Vgl. auch §  3.4 (c). 415   AW 7, 61. – Vgl. später zu Napoleon.

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Lichts“,416 die gleichwohl Gräuel und Ausbeutung in andere Weltteile trügen. Arndt löst diese Spannung durch einen Blick auf „einzelne Menschen, den heitern Glanz einzelner Taten, den Götterschein einzelner Gedanken und Empfindungen“, die er „aus der dicken Masse“ herausnimmt. Dabei kommt es weniger auf die Züge dieser Individualität an, als auf ihren Status als solche. Das Allgemeine der Nationen wird als Lebensform für die Bildung von Individualität als der eigentlichen „Blüte der Menschlichkeit“ gebraucht. „Was Sokrates nicht sah, was Christus nicht sah, was sie nur hofften und glaubten, das hab’ ich gesehen [.  .  .] in wenigen edlen Gemütern, die von der gegenwärtigen Bildung ganz durchdrungen waren.“ Arndt spricht hier aus einer pneumatologischen Häresie heraus, die ein höheres Wissen von Gott und Welt impliziert als das durch Christus geoffenbarte. Die purgatorische Umformung der Welt und des Zeitalters legen dennoch nahe, die Abweichung vom konfessionellen Codex als konfessionelle Legitimation darzustellen. Arndt will die konfessionelle Legitimation für sein Geistverständnis nicht verlieren. Zum Anbrechen eines neuen Zeitgeists heißt es deshalb – einmal mehr: „Wodurch das Greulichste und Schrecklichste der Zeit mit geworden ist, wodurch alle alte Bande der Welt gelöst sind, [.  .  .] dadurch kann auch nur das Heil und die Erlösung kommen.“417 Der Anspruch auf solch intimes Wissen um den Zeitgeist verbindet sich mit der Trope von der Waffe, welche allein die von ihr geschlagene Wunde zu heilen vermag: das heißt Geistigkeit durch Geistigkeit, aber eben auch Napoleons falschen Messianismus durch ein politisches Christentum. An dieser Stelle kommt die sakrale Feindmarkierung zum Zug. Sie ist von der politischen Soteriologie aus gedacht und ergänzt wesentlich das Personal der nationalen Erlösung, indem sie den Gegenspieler benennt. Ohne einen solchen Gegenspieler würde gerade ein politischer Erlösungsbegriff blass bleiben. Die durch die menschlichen Akteure des Zeitgeschehens bezeichnete aktuale Dimension am Erlösungskonzept wird durch den Gegenspieler ebenfalls betont, der Druck, sich durch Kriegsteilnahme synergetisch am Geschehen der „Welterlösung“ zu beteiligen, wird verstärkt. Der Gegenspieler wirft seinen Schatten jedoch auch auf die übrigen Dimensionen der nationalen Erlösung, indem er zum einen als „Ungeheuer“ die Kontexte des Zeitgeschehens beherrscht418 und zum anderen als politischer Messias auftretend419 nicht nur der Gegenspieler der menschlichen Akteure im Zeitgeschehen ist, sondern Gott selbst entgegentritt. Napoleon ist als ein „Werkzeug der Zerstörung“420 aller menschlichen Bindun-

  Dieses und die folgenden Zitate bis zur nächsten Anmerkung AW 7, 106.   AW 7, 107. 418   AW 7, 43. 419   AW 7, 45. Vgl. ironisch AW 7, 68, und AW 8, 61.70. 420   AW 6, 27 f. 416

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gen421 der Antichrist, der in der Maske des Heilands Unheil anrichtet.422 Er richtet als „Zeichen der Zeit“ die geschichtliche Zeit zum Kairos zu: „noch hatte die Zeit keinen Retter und Beglücker verdient, darum ging aus dem Lande der Verruchtheit derjenige hervor, den sie zitternd den Helden des ersten Jahrzehnts des neunzehnten Jahrhunderts nennen sollten.“423 Die apokalyptische Feindmarkierung ist vielfach als eine Besonderheit von Arndts ‚nation building‘ angesprochen worden. Seine Aufforderung an die Deutschen, ihren Hass gegen Frankreich als „Palladium“ der nationalen Integration nach Außen zu kehren und buchstäblich vor sich herzutragen,424 wird als säkularistische Konsequenz aus der Inbrunst von Arndts Patriotismus gebrandmarkt.425 Tatsächlich weist die sakrale Feindmarkierung in Arndts politischer Soteriologie in diese Richtung; die zweiwertige Apokalyptik geht in praktische Kompromisslosigkeit über.426 Bei alledem ist jedoch zu berücksichtigen, dass Arndts Franzosenhass nicht ontologisiert wird. Er wird in ‚Geist der Zeit‘ nicht als unabdingbarer nationaler Wesenszug der Deutschen geführt, sondern bleibt in rhetorischer Funktion. Das macht ihn nicht besser, aber transparenter für die Argumentationskontexte, auf die er sich bezieht. Arndt ist nicht zu jeder Zeit ein konfessionalistischer ‚Hassprediger‘ gegen Frankreich, sondern ein okkasioneller, bisweilen haltloser Polemiker. Gerade wegen des mittlerweile dominierenden kritischen Arndtbildes interessieren die Zwischentöne: Alles wäre anders, sofern Frankreich Napoleon loswürde: „Frei mag der Pole, der Ungar und der Italiener und der gleichmächtige Franzos [.  .  .] sein. Wir gönnen jedem gern, was wir selbst glücklich haben.“427 Die politische Erlösung ist immer mit der Freiheit und Gleichheit aller Völker konnotiert und diese dürfen keiner Nation abgesprochen werden. Dieser Umstand wird sogar in Arndts Vereindeutigung des göttlichen Geschichtshandelns berücksichtigt, wenn er „die warnende und richtende Hand des gerechten Himmels“ im egalisierenden Elend des winterlichen Rückzugs der Großen Armee walten und die angemaßte Größe der bonapartistischen Generäle auf menschliches Maß reduziert sieht.428

  AW 7, 72.   AW 7, 69 f. Vgl. als „Virtuos der Lüge“ AW 8, 89. 423   AW 8, 11. 424   AW 8, 169. Das Bild vom Palladium gebraucht Arndt auch in anderen Kontexten. Vgl. AW 7, 105, als „heilige[s] Palladium“ des Ruhms der nationalen Kultur und Zivilisiertheit. 425   Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, 165 passim. Grundsätzlich ist die Unterscheidung zwischen Religionsersatz und Kirchenersatz sinnvoll, so Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, 166. Nur besteht Arndt selbst auf der bleibenden Bedeutung kirchlicher Institutionalität, will also die Kirche nicht ersetzen. Vgl. AW 7, 139 f. 426   AW 7, 50: „In der Politik gibt es keine Mittelwege [.  .  .].“ 427   AW 7, 104. 428   AW 8, 75 f. 421

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§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Der freie Zusammenhang zwischen den aus der Christentumsgeschichte hervorgegangenen Völkern ist die Lebensgrundlage jeder nationalen Individuation. Außendruck durch Wettbewerb erhöht die innere Lebendigkeit einer Nation, erzeugt aber nicht zwingend Feindmarkierungen: „so hat Gott die Länder, die Sprachen, die Völker verschieden gesetzt, auf daß Spiel, Reiz, Kampf und Lust auf Erden sei. Darum weg! ewig weg mit eurem einen Herrn und einen Priester!“429 Der Kerngedanke von Arndts christlicher Geschichtsphilosophie wie auch seiner politisch-religiösen Rhetorik ist eine Konvivenz der europäischen Nationen. Das imperiale Frankreich wird abgelehnt, weil es die Konvivenz zerstört und die anerkennbare Verschiedenheit der Nationen ohne Not untergräbt. Die Abgrenzung gegen Frankreich ist zumindest hauptsächlich funktionaler Art: Der neuartige Despot Napoleon hemmt dasjenige Neue, das Arndt am Zeitgeist als besonders zukunftsvoll ausmacht, nämlich die Synthese von Christentum und Nationsbildungen. „Freiheit auf Erden im Staat“ und „Freiheit im Himmel durch das Wort und die Schrift“ sind Napoleon gleich zuwider,430 daher ist er zu bekämpfen. Napoleons politisch-militärische Herrschaft hat zum Prinzip, vorhandene nationale Individualität zu zerstören und die politische Neugründung von Nationen zu verhindern. Der französische Diktator steht damit nicht einmal allein. Arndt bestimmt überhaupt für die neuere Geschichte einzelner europäischer Nationen Umstände und Gestalten, die einer Erneuerung von christlichem und nationalem Geist mehr oder weniger repräsentativ entgegenstehen. Es ist geradezu der Sinn der Kapitel zur Geschichte von Völkern und Regierungsformen, in ‚Geist der Zeit‘ die günstigen und die hemmenden Bedingungen zur Nationsbildung auszuloten.431 Um 1800, in der beschleunigten, geistig kaum mehr greifbaren Zeit, die es dennoch zu verstehen gilt, um politisch handeln zu können, verdichten sich die Hemmnisse der allgemeinen Nationalisierung und Christianisierung zu einem einzigen Hemmnis. Es trägt den Namen Napoleon Bonaparte. Aus diesem Grund ist überwiegend der Kaiser der Franzosen die Zielscheibe der apokalyptischen Polemik, weniger häufig, wenn auch manchmal überscharf, sind es die Franzosen als Volk. Die Armee kann indes auch einmal als Heer von ‚armen‘ Teufeln erscheinen.432   AW 6, 87.   AW 7, 27. 431   AW 6, 147 f., kritisiert Friedrich II. massiv als politisch-kulturellen Verhinderer nationaler Integrität. AW 6, 149 f. stellen Mitteldeutschland und den deutschen Süden als Träger der sowohl höheren als auch einheitsstiftenden Nationalkultur heraus. – Mit vereinseitigender Arndt-Zitation Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum, 58.134 passim. 432   AW 8, 37: „ein Gemisch aller Völker, zusammengetrieben durch Gewalt, entmenscht durch den Verlust ihrer Freiheit, ihres Eigentums [.  .  .]: ohne Hoffnung der Rückkehr in ihre Heimat, belastet mit allgemeinem Haß und Abscheu [.  .  .] haben diese Unglücklichen den Charakter, die Sitten, die Meinungen, die Neigungen ihres [jeweiligen] Volks verloren“. 429 430

4.4  ‚Geist der Zeit‘ – Militante Konfessionalisierung der Nation

257

Man darf die Risiken von Arndts politischer Dämonologie gewiss nicht unterschätzen, muss aber auch die existenzielle Dimension seiner Agitation beachten. Existenziell wird eine militante Selbstpositionierung namentlich angesichts des Russlandfeldzugs. Dieser erscheint als französischer und ist zugleich, wie Arndt wohl weiß, ein europäischer Zivilisationsbruch. Erschüttert benennt Arndt diesen Bruch als apokalyptische Umwälzung: „Diese scheußlichen, bei den Heeren gesitteter Völker unerhörten Greuel, vor welchen selbst die wildesten Völker zurückschaudern, werden der Geschichte einmal die sonderbare Frage zur Auflösung geben, wie in einem durch Wissenschaften und Künste aufgeklärten Jahrhundert mitten unter den gebildetsten Völkern sich ein unermessliches Heer von Räubern hat erheben können, welches alle Gesetze zerbrach, alle Thronen umstürzte, alle Religionen entweihete und abschaffte und nur die gänzliche Zerstörung der Gesellschaft zum einzigen Zweck zu haben schien. Dann wird man erkennen, dass, wie die Religion alle Gesellschaft gründete, die Verachtung der Religion sie allein zerstören kann“.433

In diesen Bemerkungen liegt ein weiterer Grund für die Zuspitzung der politisch-religiösen Rhetorik in eine sakrale Feindmarkierung. Der Zivilisationsbruch muss verbal aufgefangen werden, wofür sich Aufklärungsdiskurse aufgrund ihrer Verstrickung in die Voraussetzungen der napoleonischen Despotie nicht zu eignen scheinen. Auch so gesehen handelt es sich beim Russlandfeldzug um einen Religionskrieg. Die einzige Möglichkeit zur Bestimmung des Bruchs wird am Index der Verachtung von Religion wiederentdeckt.434 Arndt entdeckt die christliche Semantik in ihrer Konfessionalität, die eine Alternative zur antichristlichen Apokalypse Napoleons bietet: Eine Welt als Handlungsraum des Politischen, begrenzt durch den göttlichen Souverän und seinen Gegenspieler, sich erstreckend durch Zeitläufte von unerlöstem Anschein und höchst beschleunigter Veränderung, aber hingewiesen auf die erlösende Ruhe am Ende aller geschichtlichen Bewegung. In diesem Rahmen wird der Brand Moskaus als Metapher des geschichtlichen Augenblicks „den Franzosen eine Flamme des Unheils und der Verzweiflung, den Russen eine Morgenröte des Heils und der Hoffnung.“435 Christliche Konfessionalität und nationale Individualität berühren einander in einem Augenblick, der ähnlich flüchtig ist wie die vorbeijagenden Bilder der Epoche, der diesen aber ein Maß gibt – weil die Affekte im Krieg zur Vereindeutigung neigen.

  AW 8, 36 f.   Vgl. ausphantasierend zum französischen Rückzug AW 8, 91: „hier streckt einer, der Gott leugnete und denen, die ihn des großen Walters und Vergelters erinnerten, spottend zurief: Pah! Was ist euer Gott für ein Ding? die welken Arme vergebens zum Himmel, daß er ihn geschwind von dem elenden Leben löse; dort, in der letzten Todesnot, will einer beten, der sonst nur fluchte, aber er hat keine Worte für Gott, er hat auf seinen Lippen überhaupt keine Sprache mehr: so schrecklich wird die Verruchtheit gestraft.“ 435   AW 8, 57. 433

434

258

§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

Der Krieg wird mit dem Anschauungsunterricht durch das russische ‚Gottesvolk‘ als Gelegenheit für eine deutsche Nationsgründung genutzt – prinzipiell wünschenswert ist diese Form nicht, doch scheint sie zeitgemäß. In der Bemühung, das Christentum in Krise und Krieg durch Nationalisierung wieder fassbar zu machen, entdeckt Arndt die politische Stärke konfessioneller Semantik. Er sieht die Vermutung bestätigt, die militante Individuation von Nationen bezeichne zugleich einen christentumsgeschichtlichen Wendepunkt. Arndts politisch-religiöse Rhetorik muss daher unter anderem auch als zeitdiagnostisches Verfahren gelten, das auf eine Positionierung zu Christentum, Völkergeschichte und ‚nation building‘ abzielt.

4.5  Einheit und Freiheit durch Nationalisierung des Christentums? Die zwischen 1749 und 1813 unternommenen Versuche, im Rahmen militärischen Handelns und seiner kulturellen Kontexte die politische Integration der Nation abzubilden, führen in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlicher Funktion konfessionelle Semantik ins ‚nation building‘ ein: Die Hermannsdramen entfernen sich vordergründig von christlicher Imagination, weisen aber konfessionell geprägte Sakralisierungen auf. Die Affekte in der patriotischen Lyrik expandieren von Klopstock zu Arndt und von Gleim zu Kleist, doch ohne die Konfessionalität aufzuzehren und sie auf eine leere Funktion zu reduzieren. Auch Kleists und Arndts Militärkatechismen verzeichnen ein konfessionelles Interesse, das im einen Fall punktuell im anderen Fall elementar über eine säkulare Kontrafaktur des Katechetischen hinausgeht. Für Arndts ‚Geist der Zeit‘ ist indes eine Gegenläufigkeit in der Konfessionalisierung der Nation und der Nationalisierung des Christentums zu verzeichnen. Insgesamt wird der patriotische Diskurs durch hochgradige Mehrdeutigkeit produktiv. Er bildet hinsichtlich der Zirkulation konfessioneller Semantik „keine Einbahnstraße“.436 In den neueren Debatten zu Politischer Religion und Politischer Theologie im ‚nation building‘ ist die Aneignung von Konfessionalität oft als einheitlicher Prozess beschrieben worden. Gelegentlich wird sie sogar kritisch als fratzenhafte Kehrseite von Individualisierungs-[!] und Modernisierungsprozessen abgetan.437 Dabei werden soziale Bindekraft und kulturelle Prägekraft des Patrio436   Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 21986, 70. 437  So Armin Adam: Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich 2006, 152: „Kollektivierung, so könnte man sagen, ist die Fratze einer Individualisierung, die dem Einzelnen Unerträgliches auflastet. Kollektivierung bedeutet die Formierung eines Massen-Ichs, das den Einzelnen von der Wahrnehmung der Lebensverantwortung entlastet.“ Dieses Urteil

4.5  Einheit und Freiheit durch Nationalisierung des Christentums?

259

tismus jedoch unterschätzt. Im Blick auf die kriegsbedingte Nationsbildung verschwimmen wissenschaftliche Beschreibungen der konfessionellen Semantik gern in wertende. Gerade bei dem heiklen Thema der kriegsbedingten Nationsbildung ist daher auf Überlieferungsformen und Intertexte zu achten. So ist die Macht der Topik bis in die kriegsbedingt verschärften Mechanismen nationaler Integration hinein ungebrochen. Die hohe Kontinuität der rhetorischen Tradition zeigt sich noch in Arndts beschwörendem Stil oder in Kleists ambivalentem politischem Rhetor Hermann. Diese Beobachtung spricht für die Kontinuität auch der Begriffe und Fiktionen im patriotischen Diskurs. Das Gefälle zwischen der konfessionellen Semantik und ihren patriotischen Kontexten zeigt in der kriegsbedingten Nationsbildung zwar eine gewisse inhaltliche Beschränkung, die Funktionalisierungsaspekte oder gar Missbrauchsunterstellungen nahelegt. Doch die Feststellung, ‚alttestamentarische‘ Elemente und ein eher zorniger Gott würden in homogener Weise dem kriegsbedingten ‚nation building‘ dienstbar gemacht und zu einer nationalen Soteriologie säkularisiert, ist aus mehreren Gründen zu glatt.438 Patriotische Applikationen des kämpfenden Israel und seiner Todfeinde, der Landgabe und des das Volk führenden Gottes finden zweifellos statt, gehen jedoch in sehr verschiedene Konstellationen ein. So werden nicht immer alle Elemente der alttestamentlichen Militanz zugleich kontextualisiert. Doch auch wenn es zu eindeutigen nationalen Applikationen alttestamentlicher Sakralität und Militanz kommt, muss man unterscheiden. Sie dienen weder ausschließlich der Feindmarkierung noch wird das Neue Testament an den patriotischen Örtern ausgespart. Eine mildernde Präsenz des Neuen Testaments zeigt Gleims vorsichtige Grenzziehung zwischen einer antikisierenden ‚Göttlichkeit‘ Friedrichs II. und seiner am ‚Menschensohn‘ bemessenen Humanität, die – trotz gemeinsamer patriotischer Interessen – von Abbts messianischer Verherrlichung ist wertend im vermeintlichen Besitz eines gangbaren Mittelwegs und es ist überdies naiv hinsichtlich der langen Geschichte entindividualisierender Sozialformen. 438   Vgl. gattungsbedingt verdichtend, aber auch glättend Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Eine Einführung, München 2008, 27 f., ebenso Ders.: Die Puritaner. Weltbildspender des amerikanischen Nationalismus, in: Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., hg. von Alf Christophersen und Friedemann Voigt, München 2009, 13–27; trotz differenziertem Sakralisierungsmodell zu homogenisierend auch Hartmut Lehmann: The Germans as a Chosen People. Old Testament Themes in German Nationalism, in: Ders.: Religion und Religiosität in der Neuzeit, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen/Otto Ulbricht, Göttingen 1996, 248–259. – Mustergültig differenziert G. Graf: Gottesbild und Politik, 98 passim. Graf betont die semantische Osmose zwischen werdendem Nationalbewusstsein und christlichem Zeitbewusstsein. Ebenfalls komplex zu den nationalpolitischen Funktionen biblisch-christlicher Topik Claus-E. Bärsch: Nation, Volk und Volksgeist als Gegenstand der Religionspolitologie. Zum Problem der Kontinuität kollektiver Identität, in: Jürgen Gebhardt/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Demokratie, Verfassung und Nation. Die politische Integration moderner Gesellschaften, Baden-Baden 1994, 52–71.

260

§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

des Königs absticht. Und bei Arndt gilt der Zorn Gottes allen Völkern, also keineswegs nur den Franzosen. Dieser Zorn hat emanzipativen Inhalt, bildet er doch das Muster für die Besinnung auf das gottebenbildliche Recht zur freien Rede und für die Befreiung der Völker von Napoleons Despotie, aber auch von deutschen Despoten. Schließlich scheint in vielen Texten ein Bewusstsein der Inklusivität von Erwählungsbezügen durch, das die göttliche Zuwendung auch anderen Nationen zugesteht. Die Macht der konfessionellen Topik im ‚nation building‘ funktioniert also nicht nach dem Muster unteilbarer Souveränität. Anlass zur Verharmlosung besteht deshalb freilich nicht. Die Erledigung teleologischer Erklärungsmodelle zur konfessionellen Semantik im Patriotismus erledigt weder sakrale Feindmarkierungen noch ‚totale‘ Kriegsphantasien. Dennoch erscheint bei der Beschreibung von Ansätzen zur Nationalisierung des Christentums die Frage nach einer Wiederentdeckung von Konfessionalität ideologiepolitisch interessanter als die Frage, ob ein Autor zu den kosmopolitischen Patrioten oder zu den exklusivistischen Nationalisten gehöre. Denn die Wiederentdeckung von Konfessionalität mitten im Krieg bedeutet, dass man sich bis in Kleists vieldeutige Texte auf das Christentum um seiner selbst willen besinnt. Die Frage nach der Möglichkeit einer ‚Nation der Frommen‘ taucht auf.439 Der Korrektur bedarf die These, es sei während der antinapoleonischen Kriege, gleichsam in verengender, militarisierender und korrumpierender Rezeption des früheren kosmopolitischen und im Grunde apolitischen Patriotismus zu einer fatalen Verkettung von nationalem und protestantischem Selbstverständnis und dadurch zu einer Situation gekommen, durch die der Protestantismus auch für seine konfessionelle Selbstexplikation an den patriotischen Diskurs gewiesen blieb. Diese These bedarf trotz gewichtiger Zeugen für die Nationalisierung des Christentums der Korrektur. Mit der Erschließung von Ähnlichkeit und Differenz zwischen den patriotischen Literaten um 1750 und denen um 1813 verbindet sich die Feststellung von radikalen Exklusivismen in beiden Zeiten. Zugleich zeigt sich, dass diese Sichtweisen kein bloß formelles Verhältnis zum Christentum haben, wie es manche Geschichtsmodelle unterstellen. Weder ersetzen sie säkularistisch die Konfessionskultur noch sind sie funktionale Transformationsagenturen für Sakralität. Zwei verbreitete Monokulturen sind deshalb nicht mehr am Platz: Theologische Apologetik gegenüber einer nationalistisch verzerrten konfessionellen Semantik oder aber die Klage über protestantisch gewirkte Folgeschäden am Politischen. Über die Verzerrungen kann durch genealogische Relektüre aufgeklärt werden, die Klage bedarf der Unterscheidung im leitbegrifflichen Milieu.

  F. W. Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, in: Ders.: Wiederkehr, 120–125. Vgl. §  5.4. 439

4.5  Einheit und Freiheit durch Nationalisierung des Christentums?

261

Die in der Napoleonischen Ära kriegsbedingt prekäre Sozialität betritt konfessionellen Traditionsboden, um sich neu zu orientieren. Patriotismus und Christentum konvergieren, ohne sich ineinander aufzulösen. Vielleicht kann man auch von wechselseitiger Kommentierung sprechen wie im Blick auf Arndts reformatorisch gestikulierende Geschichtspolitik oder wie bei Kleists Zaudern vor der ethischen Immanenz des Politischen.440 Die Konstellationen von Patriotismus und Protestantismus während der antinapoleonischen Kriege weisen aber noch in anderem Sinn hinter ihre Ära zurück. Die Erhebung von konfessionellen Semantiken der nationalen Einheit und Freiheit und die Intentionalität der Lutherrekurse zeigen, dass der Patriotismus des 18. Jahrhunderts sowohl militanter als auch politischer sein konnte als sein kosmopolitischer Ruf bis heute nahelegt. Die Unterscheidung zwischen der kosmopolitisch-emanzipativen Ideologie eines Patriotismus, der das Vaterland für wählbar hält, und der späteren integrativen Ideologie eines Nationalismus, der die Nation für objektiv vorgegeben hält, kann man nur dann beibehalten, sofern man auf die Zuschreibung eines teleologischen Richtungssinns verzichtet. Damit entfällt jeder legitimatorische Rückbezug. Diese diskursiven Wegmarken sind anhand der protestantisch-patriotischen Ligaturen zu rekapitulieren. Dabei zeigt sich ein Feld von Unterschieden. Die Bereitschaft zur kriegsbedingten Nationsbildung besteht vielfach, und doch beseitigen die radikalen Exklusivismen in den Phantasien zur Einigung und Befreiung der Nation nicht alle emanzipativen Züge am Patriotismus.441 Mösers Armin und Gleims Grenadier führen beide Krieg um der Nationsbildung willen und sie reflektieren diesen Umstand. In ‚Arminius‘ ist der befreiende Krieg erfolgt, in den Dialogen des Dramas geht es um die Frage eines Präventivkriegs, mit dem die äußere Freiheit der Nation gesichert und die innere Eintracht gefestigt werden soll. Die vielen Positionen für und wider dieses Vorgehen machen Mösers Drama zu einem Ort der Reflexion auf das Problem der kriegsbedingten Nationsbildung. Gleims ‚Grenadierlieder‘ reflektieren weniger, errichten aber in der metaphorischen (und militärgeschichtlich extrem schöngefärbten) Repräsentation des Volkes durch die auf ihren menschenfreundlichen König fixierte Armee ein Modell zur militanten Nationsbildung. Klopstock ist in dieser Hinsicht ein weit schwierigerer Fall, reflektiert er doch in seinen Revolutions­ oden wie überhaupt in seiner Lyrik politische Fragen präziser als im Bardiet. Könnte man die Bardietdichtung auf der Linie einer (anti)modernen Liturgisie  Hermann schmerzt der Abschied von der Kultur des Verzeihens und Kohlhaas’ Gewissen bleibt trotz lasterhaft übertriebenem Gerechtigkeitssinn evangelisch. 441   Egalisierung ist allerdings nicht Emanzipation. Vgl. zu den egalisierenden Tendenzen in den militärischen und paramilitärischen Institutionen des Dritten Reichs Frevert: Kasernierte Nation, 321: „Das gesellschaftspolitische Credo des Nationalsozialismus, innerhalb der rassisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ weder Klassen noch Kasten anzuerkennen, sollte auch und gerade für die Wehrmacht gelten.“ 440

262

§  4 .  Nationsbildung im Krieg und ihre Zirkulationen

rung politischer Herrschaft deuten, so wären damit Klopstocks nationale Optionen doch bei weitem nicht ausgeleuchtet. Das in den Oden entfaltete Freiheitsverständnis mit seinen fein gegeneinander abgestuften Vaterländern spricht nicht nur eine friedlichere, sondern auch eine politisch exaktere Sprache als die Bardiete. Die theologische Spurensuche nach konfessioneller Semantik in der kriegsbedingten Nationsbildung ermittelt für die ersten beiden Phasen des Patriotismus in Deutschland jeweils sowohl emanzipative Züge als auch radikale Exklusivismen. Der Patriotismus verfügt über eine multifunktionale Diskursivität. Die Beobachtungen am Zirkulieren von konfessioneller Semantik verbieten jedoch vereindeutigende nationalismustheoretische Funktionszuweisungen an ‚die‘ Religion. Um ‚die‘ Religion geht es nicht und kann es gar nicht gehen, da der Religionsbegriff als universale Deutekategorie historisch gleichzeitig mit dem Nationsbegriff entfaltet wird.442 Man würde mit einem verallgemeinerten Religionsbegriff in der Erörterung patriotischer und nationaler Diskursivität etwas zu Erklärendes voraussetzen. Diese Diskursivität kann nur von ihren massiven konfessionellen Neuformationen und ‚Traditionserfindungen‘ aus erläutert werden, wie die Selbstthematisierungen der patriotischen Literaten und die poetologischen Operationen ihrer Texte bestätigen. Ein Manko dieser Erkenntnisse besteht im dilatorischen Zusammenfassen der Textinterpretationen zur kriegsbedingten Nationsbildung. Die konfessionelle Semantik in der patriotischen Diskursivität ist eben nur in wechselnden Zirkulationsperspektiven zu fassen. Das patriotische Engagement protestantischer Literaten im Krieg ist immer auch der Versuch einer konfessionellen Selbststärkung, einer Konfessionalisierung der zu bildenden Nation. Das Entgleiten und Depravieren des Patriotismus gleicht indes dem Besen von Goethes Zauberlehrling: Der Protestantismus als Auslöser von politischen Modernisierungsprozessen hat mit dem Patriotismus einen dienstbaren Geist gerufen, den er nach anfänglich geleisteten Diensten nicht mehr loswird und der schließlich als Nationalismus Herr im politischen Hause zu werden strebt.

  Vgl. die Einführungspassagen in §  2.

442

§  5.  Protestantismus und Patriotismus 5.1  Konfessionelle Semantik, Literatur und ‚nation building‘ Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die theologische Weiterbildung der Nationalismusdebatte gewesen. Ein alternativer Umgang mit Thema und Quellen ist ermöglicht, ein Weg von den teleologischen Narrativen der ‚Säkularisierung‘ und der ‚Sakralisierung‘ zu einem Zirkulationsmodell gefunden worden, das die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der patriotischen Diskursivität zu beschreiben erlaubt. Gleichzeitig ist die konfessionelle Semantik unter verschiedenen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen, ungleichzeitig sind die patriotischen Phantasien und nationalen Imaginationen hinsichtlich der an sie herangetragenen Erwartung einer signifikanten ‚Entwicklung‘. Das Zirkulationsmodell hat sich hier in mehreren ‚Versuchsanordnungen‘ bewährt. Konfessionelles Gepräge taucht dabei als Topik auf, zur Einwirkung auf die Affekte der Leserschaft, und als Leitmetapher oder Denkfigur im Argumentationsvollzug. Es ist doppeldeutig präsent als kulturelle Energie christlichen Ausdruckslebens und als absichtsvolle protestantische Selbstthematisierung. Die theologische Weiterbildung der Nationalismusdebatte ist daher an Textbeständen versucht worden, die zu ihrer Zeit literarische und intellektuelle Avantgarde waren. Das gilt für die Appelle von Abbt und Moser so gut wie für Klopstocks poetische und Herders historiographische Schulung der nationalen Kultur, aber auch für Kleists Einsichten in die Gottverlassenheit rhetorischer Manipulation und für Arndts konfessionalistische Mobilmachung im Zeichen politischer Soteriologie. Ohne theologische Perspektive verschließen sich die Investitionen konfessioneller Semantik in den Patriotismus dem Verständnis. Daher ist eine genealogische Relektüre dieser Texte fällig gewesen – zum Teil auch eine in der Theologie seltene Lektüre.1 Die theologische Inblicknahme der patriotischen Diskursivität hat Verfahren zu deren Interpretation und Historisierung aufgenommen und im Zuge ihrer Anwendung verändert. Man könnte von einer Zweipoligkeit sprechen, deren Funktion es ist, eine Spannung für die Deutung der Textbestände zu erzeugen. 1   Ein Aufmerksamkeitsgefälle gegenüber den in dieser Untersuchung behandelten Autoren besteht auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Man denke an das Vergessen Klopstocks und die – deskriptiv unverständliche – Verdrängung Arndts.

264

§  5.  Protestantismus und Patriotismus

Auf der einen Seite lösen Diskurstheorie und Konstruktivismus teleologische Narrative zum Nationalismus auf, auf der anderen Seite beobachten Einzelinterpretationen die wechselhaften Fließrichtungen konfessioneller Semantik in der Nationsbildung. Die konfessionelle Semantik im Patriotismus wird nur mithilfe jener Auflösung verständlich, diese ist nur an den Feinheiten sprachlich prägnanter Texte dokumentierbar. Angesichts dieses zweipoligen Verfahrens muss das Fehlen herkömmlicher Ideologiekritik nicht beklommen machen. Das diversifikatorische Verhältnis von Protestantismus und Patriotismus erkennt man nur aus der Nähe; auf die einleitend zitierte Bemerkung Eric Voegelins, Politische Religionen verfügten über eine in und wegen ihrer Suggestivität zu erörternde Kraft, sei noch einmal verwiesen.2 Im Zuge dieser Erschließung konfessioneller Zirkulationen erscheint die rhetorische Tradition mit neuem Gewicht. Anteil daran hat eine Beobachtung an gewohnten Epochalisierungen. Viele Forschungsbeiträge basieren auf der Annahme, es handle sich bei Nationalismus und Nationsbildung um etwas Modernes. Unter dieser Rubrik erscheinen dann auch die jeweils erforschten Textbestände. Diese Vereinnahmung verstellt jedoch Entstehungsumstände und Feinheiten der patriotischen Diskursivität.3 Wenn man Autoren des Aufklärungszeitalters schlechterdings für modern erklärt, erkennt man ihre Modernität nicht mehr, die häufig in unscheinbaren, aber nachhaltigen thematischen oder formalen Variationen besteht. Erklärt man Autoren der Zeit um 1800 für modern, geschieht dies um den Preis, verschiedene Modernen bestimmen zu müssen, weil diese Autoren sich auf verschiedene Aspekte des beschleunigenden Zeitgeists einlassen. Diese Einsichten können sich produktiv auswirken, wenn Patriotismus und Nationalgedanke als Topik in den Blick genommen werden. Kleine Variationen an der Tradition erweisen sich durch das 18. Jahrhundert als Sammlung hin zu größeren Neuerungen. Vor allem die monumentalen Lutherkonstruktionen belegen samt Kleists Entsockelung diese Beobachtung. Aus den diversen Patriotismen entsteht dann seit 1750 die unhintergehbare Faktizität4 einer Rede vom ‚Vaterland‘, das durch ‚Muttersprache‘ bestimmt und aufgrund deren Prägung durch ‚Luthersprache‘ konfessionell codiert ist. Ästhetisch befördert durch Schreibweisen des Sublimen schreitet die ‚Erfindung‘ der Nation voran,5 gewiss als Elitenphänomen, doch nachhaltig.   Voegelin: Die Politischen Religionen, 7.   Dieses Problem hat unter den konstruktivistischen Autoren Gellner am meisten, Anderson am geringsten. 4   Vgl. zur kulturellen Faktizität des Erhabenen vom Jahwisten zu Freud Harold Bloom: Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1991, 11–16. 5   Anderson: Erfindung, 72 passim, und Hobsbawm: Nationen, 89 passim, gehen aufgrund der hohen Streuweite ihrer Beobachtungen nur in einem Kapitel auf dieses Phänomen ein. 2 3

5.1  Konfessionelle Semantik, Literatur und ‚nation building‘

265

Gegenüber der tastenden Diversität im Patriotismus des 18. Jahrhunderts erweist sich die Diversität der jüngeren Autoren als Index von Ambivalenzen der Moderne. Sie glauben nicht mehr ohne Weiteres an die Wählbarkeit des ‚Vaterlands‘, ringen aber umso stärker um die Greifbarkeit der Nation. Unsicherheit im Gebrauch der Leitbegriffe und deren Arbitrarietät bleiben hoch. Es kommt zu Funktionsverschiebungen in der einschlägigen Topik. In diesem Zusammenhang erweist sich die typisierend-periodisierende Zuschreibung emanzipativer und integraler, inklusiver und exklusiver Züge des Patriotismus einmal mehr als ebenso arbiträr. Immerhin zeigt sich aber so, wie sehr frühere und spätere Formen des ‚nation building‘ darin übereinkommen, die Erfahrung neuer politischer und kultureller Gegebenheiten durch literarisches Experimentieren mithilfe bewährter Topik abzuschreiten. Den konfessionellen Topoi in patriotischen Antizipationen kommt dafür nachweislich eine Schlüsselfunktion zu. Die Typologie der Nationen und des Nationalismus bricht sich an der patriotischen Topik, deren signifikanteste sprachliche Insignie die als Heiligkeit imaginierte Integrität der Nation ist. Darin ähneln die um 1750 und um 1813 ‚gedachten‘ nationalen ‚Ordnungen‘ einander über alle topischen Funktionsverschiebungen hinweg. Durch die sakrale Chiffrierung der nationalen Einheit und Freiheit wird die Kontinuität zwischen den Patriotismen um 1750 und um 1813 verstärkt. Das Heilige als eine Lieblingsvokabel auch der patriotischen Diskursivität durchbricht die Narrative von Säkularisierung und Sakralisierung. Es sistiert die im Säkularisierungsbegriff gedachte und vom Religionsbegriff gestützte Entleerung der Konfessionalität, indem es einen Inbegriff neuer politischer und kultureller Erfahrungen der Loyalität, der Geselligkeit und der Freiheit gibt. Selbst wenn es die Absicht der Rede vom Heiligen ist, in allgemeinreligiöse Schwingungen zu versetzen, verbindet sie doch mit der christlichen Überlieferung. Nur aus biblisch-christlichem Kontext werden Klopstocks politisch differenzierte Revolutionsoden sublim und Arndts nationale Heils- und Unheilsgeschichte plausibel, und nur dadurch erschließen sich ihre Funktionen in der nationalen Diskursivität. 6 Die von den Autoren vermeinte Heiligkeit zwingt die wissenschaftliche Inblicknahme zur Festlegung auf Ordnungen des Sakralen. Sakralität ist als Begriff zur Beschreibung des Patriotismus untauglich, weil der Begriff zu allgemein ist; das gilt hier wie für den Religionsbegriff. Es macht einen Unterschied, ob ethisch-personale Interrelationalität, die Aura bestimmter Orte oder aber kulturelle Örter den Kern des Nationalen bilden. Man kann für sakralisierte Territorien töten oder aber die Nation so verorten, dass für sie gar nicht getötet werden muss. Dieser konfliktträchtige Unterschied korrespondiert den unterschiedlichen Auffassungen von sakraler Ordnung im Christentum selbst, wie   Noch der spätere Begriff des Irredentismus ist politische Soteriologie.

6

266

§  5.  Protestantismus und Patriotismus

zum Beispiel die Synedriumsszene von Klopstocks ‚Messias‘,7 die überfordernde Gott- und Grenzenlosigkeit der nationalrhetorischen Manipulation in Kleists ‚Hermannsschlacht‘8 sowie Arndts Konstruktionen einer frommen Nation deutlich machen.9 Die Rede von einer Sakralisierung der Nation muss über Herkunft und Ausdruckskraft der konfessionellen Topoi und Figuren auskunftsfähig sein. Die Diversifikation des Sakralen im ‚nation building‘ zwischen 1749 und 1813 lehrt Bescheidenheit gegenüber zu ausgreifenden Behauptungen. Sie ermöglicht eine protestantismustheoretische Korrektur an der in Geschichts- und Sozialwissenschaften und teilweise auch in der Theologie eingebürgerten Rede von Nation und Religion.

5.2  Politische Religion statt Säkularisierung und Sakralisierung? Die Kritik an den Säkularisierungs- und Sakralisierungsnarrativen läuft nicht auf ein Querulieren hinaus, das sich angesichts der verfeinerten Wiederkehr des teleologischen Paradigmas beruhigen könnte.10 Denn die Kritik zielt auf den in jenen Theoriemodellen auch bei Verfeinerung bestehenden Jargon der Uneigentlichkeit, der das christliche Überlieferungselement zugunsten der Kontexte entsorgt, auf die hin es funktional betrachtet wird. Im Fall der Säkularisierung werden die neuen Kontexte konfessioneller Semantik als deren Abschwächung zugunsten der patriotischen Ersatzreligion gedacht; die Sakralisierungsthese unterstellt hingegen eine funktionale Privation des konfessionell konkreten Sakralen. Uneigentlich ist dabei jedes Mal das Christliche, entweder gegenüber dem nichtreligiösen, die Sache substanziell verändernden Kontext eines Säkularisats, oder gegenüber dem Nimbus des Gegenstands, auf den mithilfe christlicher Zeichen sakrale Macht übertragen wird. Beide Spielarten einer teleologischen Erzählung verstellen die Konfessionalität im Patriotismus und verfehlen die Intentionen der Autoren. Die Umstellung auf das Zirkulationsparadigma hat eine doppelte Einschränkung der Erklärungsmodelle zum deutschen Patriotismus ergeben. Zum einen ist die Annahme einer Nationalisierung der Religion in die Heuristik einer Nationalisierung des Christentums transformiert worden. Diese Heuristik schließt Extremfälle wie Arndts These zur Amalgamierung des Christentums mit mo  §  3.2 (d).   §  4.1 (a). 9   §  3.4 (a, b), §  4.3 (c-e) und §  4.4 (c). 10  Vgl. Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung; Mathias Hildebrandt et. al. (Hg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2001. Vgl. dagegen Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, 71 ff. 7 8

5.2  Politische Religion statt Säkularisierung und Sakralisierung?

267

dernen Nationsbildungen ein, sie beschreibt aber auch Formationen, die Aspekte der Konfessionskultur abgeschwächt in eine nationale Symbolpolitik überführen. Dafür kann exemplarisch der Theorieschwerpunkt der beiden Historiographen stehen: Mösers Beschreibung des Zusammenhangs von Christentum und nationaler Freiheitsgeschichte und Herders fragmentistische Universalgeschichte mit konfessioneller Metarhetorik. Auch an Klopstocks System der rhetorisch strikt regulierten Vaterlandsmetaphern ist zu denken. Von einer Nationalisierung der Religion zu sprechen, würde in all diesen Fällen einerseits zu weit greifen, da es sich primär um semantische Transformationen mit institutionspolitischen Analogiebildungen handelt. Andererseits wäre die Rede von Religion zu vage, da selbst durch eine Nationalisierung von Konfessionellem immer nur eine Auswahl von Topoi dem patriotischen Diskurs zugeordnet wird. Eine deckungsgleiche Transformation sakraler Zeichen ist kaum vorstellbar: Selbst Arndts Auswahl theologischer Topoi ist recht beschränkt. Abgeschwächt wird auch die These von der Sakralisierung der Nation. Statt ihrer reicht es aus, die Konfessionalisierung der Nation zu thematisieren. Sie bezieht die Sakralität innerer und äußerer Grenzen der Nation auf konkrete konfessionelle Orte. Dieses Verfahren funktioniert auch in der kriegsbedingten Nationsbildung, in der das Sakrale als abgrenzende Macht besonders hervortritt. So zeigt sich auch an der nichtchristlichen Hermannstopik sekundär Konfessionalität; sie ist auch an der Kriegslyrik zu verzeichnen, deren Topik zwischen 1750 und den antinapoleonischen Kriegen nur variiert, aber nicht auseinanderklafft. Für Kleists Experimente mit sakraler Integration und Arndts Mobilisierungsversuche zu einer solchen hängt das Verständnis ebenfalls an der konfessionellen Substanz der jeweiligen Sakralisierungen. Für ein distanziertes Verhältnis zum Christentum in Anspruch genommen rücken diese Autoren dann wieder näher an die in ihrer Konfessionalität akzeptierten (wenn auch nicht immer verstandenen) Literaten des 18. Jahrhunderts. In der Konfessionalisierung der Nation dreht sich die Fließrichtung konfessioneller Semantik überhaupt um.11 Diese Umkehrung und Neubesetzung von Konfessionalität und Nation ist verschiedentlich im Anschluss an Eric Voegelins These von den Politischen Religionen bearbeitet worden. Diese These soll vor allem deshalb erwähnt werden, weil sie die Probleme der scheiternden Typologie und die Herausforderung einer alternativen Beschreibung der patriotischen Diskursivität berührt. Voegelins Text beruht auf einem vielschichtigeren Begriff von Säkularität und Sakralität, als er in späteren Debatten anzutreffen ist, die sich zum Teil gerade auf sein

  Fast in diesem Sinn Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 300.

11

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

Konzept berufen.12 Man könnte sagen, Voegelins Skizze sei aufgrund ihrer eigenen diskursivitätsbegründenden Stellung interessant. Charakteristisch für gewisse Vereindeutigungsbedürfnisse ist der schon bald erhobene Vorwurf, Voegelins politologische Analyse arbeite kategorial theologisch, mithin fuße die Annahme einer ursprünglichen Sakralität des Staates und eines sie ordnenden transzendenten Weltgrundes, den man vergessen und verdrängen, dem man aber nicht entgehen könne, auf christlichem Grund.13 Tatsächlich nennt Voegelin die politische Religiosität ‚innerweltlich‘ im Gegensatz zu den tradierten ‚überweltlichen‘ Hochreligionen, eine Unterscheidung, die nicht nur von Max Weber, sondern auch von den um 1920 bestimmenden theologischen Religionstheoretikern übernommen sein dürfte.14 So kann Voegelin die innerweltlichen politischen Religionen der Moderne als Kulte ohne Gott beschreiben. Diese Totalitarismen bannen gleichsam ohne zu erlösen. Für Voegelin gibt es gegenüber aller Staatlichkeit nur eine klare Differenzierung von Transzendenz und Immanenz oder aber ihre Vermischung, traditionell gesprochen: Götzendienst. Diese Unterscheidung läuft auf eine distanziert-funktionale, mit dem jüdisch-christlichen Monotheismus vereinbare Haltung oder aber auf eine identifikatorisch-symbolische Haltung hinaus, die den Staat an die Stelle des Weltgrundes setzt. Angesichts der Normativität dieser Alternative ist eine Anfrage an Voegelins Kriterien am Platz. ‚Die Politischen Religionen‘ muss als Plädoyer für eine christliche Distanznahme von gemeinschaftsbegründenden Ideologien gelesen werden, die von einer christomachischen Dekapitation der Ekklesia aus politische Formationen entfalten, in denen Einheit gewaltsam aufrechterhalten wird und individueller Freiheitsverzicht konstitutiv ist.15 Den Nationalismus bestimmt Voegelin als Herkunftsmilieu des Totalitarismus, die (durchaus nicht immer bewusste) Ausübung sakraler Gewalt kennzeichne beide. Voegelins Gegenbild geht aus der Negation der innerweltlichen Selbstabschließung und ihres Gewaltpotentials hervor. Einheit und Freiheit der Nation, so der Subtext, sind überhaupt nur unter einer Aufhebung innerweltlicher Feindbegriffe und ihrer Sakralisierungen möglich; diese Aufhebung muss im Zeichen einer christlichen Gewalteinhegung stehen.16 12   Vgl. zu den Phasen der Säkularisierungsdebatte F. W. Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, 104 passim. 13   Peter J. Opitz im Nachwort zu Voegelin: Die Politischen Religionen, 78 f. 14   Vgl. stellvertretend Rudolf Otto: Das Gefühl des Überweltlichen. Aufsätze, das Numinose betreffend, Teil  I, München 61932. 15   Insofern hätte sich Voegelin keine Sorgen wegen seiner vermeintlichen Nähe zum Beschreibungsgegenstand machen müssen. – Ein Vorwurf von Thomas Mann, vgl. Peter J. Opitz im Nachwort zu Voegelin: Die Politischen Religionen, 82. 16   Auf die Berührungspunkte dieses Gedankens mit Girards Konzept vom Ende der Gewalt sei angesichts dessen wiederholter Erwähnungen in den großen Untersuchungsabschnitten hier nur noch einmal pauschal hingewiesen.

5.2  Politische Religion statt Säkularisierung und Sakralisierung?

269

Gewiss begünstigt Voegelins theologische Kriteriologie eine theologische Übernahme seines Konzepts. Voegelin geht einerseits von Brüchen in der Überlieferungsgeschichte der „politisch-religiöse[n] Bildwelt“ Europas aus,17 die Veränderungen des politischen Handelns indizieren und dessen Einteilung in immanentes und transzendentes Handeln erlauben. Andererseits zieht Voegelin die Summe, das „Leben der Menschen in politischer Gemeinschaft“ könne „nicht als ein profaner Bezirk abgegrenzt werden, in dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. Die Gemeinschaft ist auch ein Bereich religiöser Ordnung.“18 Das Politische werde nur dann nicht verkannt, wenn es als menschliche Grundkraft bestimmt werde.19 Die politisch-religiöse Bildwelt ist der unvermeidliche Ausdruck dieser Kraft. Kann man die implizit theologische Wertigkeit von Voegelins Beschreibungsinstrumenten nachvollziehen, so ist doch kritisch zu fragen, ob die Normativität in dieser Deskriptivität getrennt betrachtet werden kann. Das ist wohl immer nur relational möglich, doch das Problem ist kein methodologisches. Die Analyse Politischer Religionen wird durch die Anerkennung einer sakralen Wertsphäre jenseits von „Fragen der Rechts- und Machtorganisation“ in jedem Fall zu sehr überlagert. Die Analyseinstrumente für Politische Religionen sollen die Gefahr einer immanenten Ersetzung der Symbole transzendenter Macht bezeichnen, sie stellen aber keine Unterscheidungskriterien für die richtige immanente Organisation des Politischen bereit. So bleibt die Konstruktion einer innerweltlichen politischen Bildsprache ambivalent. Voegelins Diskurs wechselt verdeckt zwischen Beschreibung und Normativität. Er beschwört einen normativen Analogiezauber von der Ekklesia her zur Gesellschaft hin, ohne über die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft für konfessionelle Normativität aufzuklären.20 ‚Die Politischen Religionen‘ stellt heraus, dass und wie christliche Sozialformen mit ihren korporativen und temporalen Metaphoriken in den nach- und nebenchristlichen politischen Ordnungen präsent sind. Gegenüber Voegelin ist aber der diskursive Charakter dieser Präsenz zu betonen. Die Präsenz besteht in einer topisch und zeitlich ausfransenden Diversifikation christlicher Semantik. Der Stellenwert von Zirkulationen ändert sich jedoch. Voegelins These gerät in schwere See, weil sie eine deskriptive Anleitung zur Vermeidung Politischer Religion geben will. Sie ist eben doch nicht nur Hypothese, sondern hat einen   Voegelin: Die Politischen Religionen, 38.   Voegelin: Die Politischen Religionen, 63. 19   Von Grundkräften als Index der Ähnlichkeit zwischen Politischen und überweltlichen Religionen spricht Voegelin: Die Politischen Religionen, 11, heuristisch. Vgl. weiterführend Jürgen Gebhardt: Eric Voeglin, in: Ders./Wolfgang Leidhold (Hg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München u. a. 1990, 123–145. 20   Wenn etwa faschistische Gleichschaltung aus den Autonomieidealen der Aufklärung hervorgehen oder wenn schlechterdings alle modernen, auch antichristlichen Sozialbewegungen Transformationsgestalten christlicher Liebesethik sein sollen. 17 18

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

ethischen Kern. Die Unterscheidung sakraler Bedeutungsträger vom göttlichen Inbegriff der Heiligkeit innerhalb der Organisation des Politischen ist eine schwierigere Aufgabe, als Voegelins Warnung vor religiöser Symbolpolitik nahelegt.21 Trotz dieser Probleme ist Voegelins These für die Nationalismusdebatte bedeutsam, 22 behauptet sie doch überhaupt die Unhintergehbarkeit sakraler Semantik in den Formationen des Politischen. Politische Religion ist ein spannungsvolleres Gebilde als Säkularisierungs- und Sakralisierungsnarrative. Der Begriff reicht aber nicht an die Steigerungsformen der patriotischen Zirkulation konfessioneller Semantik heran: an die Konfessionalisierung der Nation und die Nationalisierung des Christentums. Das Narrativ vom Werdegang Politischer Religionen legt einen weiträumigen Automatismus der Transformation zugrunde. Diese Selbstauslegung der Geschichte sieht von der Vielfalt historischer Transformationsbedingungen ab und erfasst die Intentionen in der politischen Diskursivität nicht angemessen. Die Suggestion eines Geschichtsautomatismus verdeckt den Konstruktionscharakter des Patriotischen (und damit ein normatives Anliegen in Voegelins eigenem deskriptivem Instrumentarium). Der andere Mangel betrifft eine Unausgeglichenheit in der Beschreibung der suggestiven Mechanismen Politischer Religion. Voegelin will diese Suggestivität zwar ausdrücklich beschreiben – und das nicht nur in seiner kleinen Skizze von 1938. Doch seine Beschreibung der politisch-religiösen Bildwelt weicht deren Suggestivität auch aus. Diese Ausweichmanöver erfolgen wegen terminologischer Unstimmigkeiten. So soll die sakrale Semantik hohen Stellenwert für die Selbstabschließungen vom transzendenten Weltgrund haben, Voegelin übersieht dabei jedoch die konfessionelle Diversifikation. Man könnte auch sagen, Voegelin übersehe die kritische Kraft der evangelischen Ekklesiologie zum Nachteil seines Theorems.23 Das terminologische Fehlen von Intentionalität und das Fehlen der konfessionellen Diversifikation verweisen auf ein komplementäres Verdrängungsge-

21   Wehler: Nationalismus, 32, möchte „den Begriff der Religion von der historischen Gestalt der vertrauten Erlösungslehren ablösen und sie streng formal als ein kulturelles Deutungssystem bestimmen.“ Warum beruft Wehler: Nationalismus, 27 passim, sich dann auf das Konzept der ‚Politischen Religion‘, das gerade zwischen Religion und Kultur unterscheidet? Wehlers Religionsbegriff stellt selbst einen Säkularisierungsversuch des Christentums dar, er bewegt sich auf der Ebene des zu Erklärenden. 22   Und Verunklarungen wie „Säkularreligion“ vorzuziehen: Wehler: Nationalismus, 70. – Vgl. Georg Pfleiderer: Politisch-religiöse Semantik. Zur Analytik politischer Religion und ihrer Kontextualität, in: Pfleiderer/Stegemann (Hg.): Politische Religion, 19–58, als Demaskierungsformel 38 ff., als zivilreligiöse Suchformel 42 passim. 23   Die Notwendigkeit von Ergänzungen in diesem Punkt wird von neueren Modellen politischer Theorie anerkannt. Vgl. Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/Main u. a. 2005.

5.3  Verdrängte Rhetorik und die Macht der Phantasie

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schehen. Der Ort der namentlichen Intentionen 24 und der Quellpunkte patriotischer Phantasie ist rhetorisch. Die Verdrängung der Rhetorik ist ein epistemologisches Strukturproblem, das gegenüber dem Patriotismus zu deskriptiver Unschärfe führt.

5.3  Verdrängte Rhetorik und die Macht der Phantasie25 Die Rhetorik ist in der Moderne übel beleumundet. Es gibt zwar wissenschaftliche und praktische Erinnerung an die nicht etwa nur technische, sondern an die anthropologische und die kulturelle Bedeutung rhetorischen Wissens. Doch diese Erinnerungen führen ein Schattendasein neben den dominanten Wissensformen und Diskursen. Rhetorik wird noch immer gern in der Nähe zur Propaganda verortet, gleichsam als deren geschichtlich frühe Fassung, hat sie doch die Regulierung, damit aber auch das unheimliche Erregen von Affekten zum Ziel. Dieses Ziel der Rhetorik war zwar nie ihr einziges, doch die Kritik reduziert Rhetorik auf eine verdächtige Manipulation der Affekte, um sie als Propagandainstrument zu terminieren.26 Der Geltungsverfall des Rhetorischen ist einer der merkwürdigsten Züge an der Moderne, beginnt diese doch selbst an mehreren, modernisierungstheoretisch ratifizierten Lebensorten mit Reden. Ob gesprochen oder geschrieben markieren sie Anfänge von Modernität in Politik, Religion und Kultur.27 Ihrer zur Kanonizität gesteigerten Bedeutung steht der theoretische Geltungsverfall des Rhetorischen gegenüber. Nichtsdestoweniger waren es vor allem Initiatoren modernen Wissens, die den Verzicht auf Rhetorik zu einem normativen Nullpunkt der Erneuerung von Wissen erklärten und auch so behandelten. Die Auffassung, Wissen entstehe durch Ableitung aus einem obersten Grund und könne allein in zweckrationaler Sprache angemessen ausgedrückt werden, verdichtet sich in Deutschland um 1800 ganz besonders. Ob das Wissen aus verschiedenen Formen transzendentaler Erkenntnis abgeleitet, auf einen einzigen Grundsatz zurückgeführt oder  Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 62007, 33 passim.62 passim sowie vor allem im fünften Kapitel ‚Das Handeln‘. 25  Vgl. Ernesto Grassi: Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte abendländischen Denkens, Frankfurt/Main 1992. Thema des Buches ist die Vermittlung imaginativer Sprache als Funktion von Denken und Leben. 26   Vgl. dazu Hans Mayer: Rhetorik und Propaganda, in: FS zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukácz, hg. von Frank Benseler, Neuwied/Berlin 1965, 119–131; vgl. weiter die Auseinandersetzung zwischen Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas bei Karl-Otto Apel: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/Main 1971. 27   Exemplarisch verweise ich für die politischen Reden auf Graf Mirabeau im Französischen Nationalkonvent oder Benjamin Franklin, John Adams d.Ä. und Alexander Hamilton vor dem US-Kongress. 24

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

aber in der Wiederholung der inneren Form des Geistes durch die äußere geschichtliche Wirklichkeit gesammelt wird, macht gegenüber der Rhetorik keinen Unterschied. Ihr Beharren auf sinnlichem Ausdruck und explorierender Phantasie als Mitteln von Erkenntnis und Verständigung wird als aposteriorisch, induktiv und wesenlos abgewiesen: „die Ungeschicklichkeit, den Gedanken als Gedanken vorzustellen, greift zu den Hilfsmitteln, in sinnlicher Form sich auszudrücken.“28 Rhetorik wird zur Technik abgewertet und als Ausdruck intellektueller Verlegenheit eingestuft. Ohne auf die Kontexte dieses Perspektivwechsels einzugehen, kann doch auf den Zusammenhang zwischen dem Geltungsverfall des Rhetorischen und der Ermöglichung nationaler Exzesse hingewiesen werden. Die epistemologische Absage an die Rhetorik verdeckt ihre praktische Nutzbarkeit. Ist die Rhetorik von ihren vitalen ethischen und ästhetischen Funktionen abgeschnitten, wird ihre Affekterregung beliebig. Erst dann rotiert sie im propagandistisch Leeren, wenn man ihr wie in Kleists ‚Hermannsschlacht‘ beliebige semantische Operationen anträgt, ohne dass die topische Weisheit noch Widerstand leistet. Kleist war verlustempfindlicher Rhetoriker genug, um die Folgen darzustellen. Die Initiative zur Abscheidung der sinnlichen und phantastischen Dimension des Rhetorischen vom Wissen liegt bei der epistemologischen Konkurrenz. Sie trägt Verantwortung für die propagandistische Verwandlung des Rhetorischen. Neben der epistemologischen Gegnerschaft zur Rhetorik gibt es eine ethische. Sie verkennt das rhetorische Ethos, weil sie den Rhetor mit dem ‚vir malus dicendi peritus‘ gleichsetzt, der den öffentlichen Sprachgebrauch missbraucht. Doch die Rhetorik verfügt über jene Unterscheidungskraft, die ihr die moralische Verdächtigung entzieht. Die gute Anwendung liegt in der präzise eingesetzten Kraft der Worte; der Orator-Rhetor soll imaginative, weisende, bildhafte, nicht rational ableitende Sprache sozialisierend und zivilisierend anwenden.29 Der gute Redner begründet Gesellschaft in täglichem Plebiszit und begleitet deren Teilgemeinschaften durch distributives Wissen, gesammelt in topischer Weisheit, zu der Sprache, Poesie und Geschichte rechnen – ein am reinsten bei Klopstock ausgeprägter Gedanke. Die Mittleraufgabe des Rhetors zwischen dem politischen Bezirk und der Gott zugewandten Sphäre der Poesie erscheint auch in Gestalten des Patriotismus zwischen 1749 und 1813. Sie findet sich in Mösers ‚Patriotische Phantasien‘ und ihren anekdotischen Verortungen der Nation, im Gegenwartspessimismus des jungen Herder angesichts der öffentlichen Macht antiker Rhetorik und in Klopstocks gewaltigen Projekten zur Antizipation nationaler Institutionen. Doch auch Arndts patriotisches Selbstverständnis beruht auf einer rhetorischen 28   G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, ed. Glockner, in: WW Bd.  X VII, 121. Zit. n. Grassi: Macht der Phantasie, 176. 29  Vgl. Grassi: Macht der Phantasie, 83 ff.123.184 ff.192 passim.

5.3  Verdrängte Rhetorik und die Macht der Phantasie

273

Sammlungsfunktion. All diese Ansätze als rein propagandistische Machinationen zu beschreiben, würde ihren konfessionellen und politischen Intentionen nicht gerecht. Die Rhetorisierung der patriotischen Phantasie verbindet die hier behandelten Autoren. Sie ist gerade als solche nur mit konfessionellen Topoi vorstellbar. Dabei gibt es wieder Unterschiede. Nicht alle patriotischen Literaten präsentieren sich mit einer so sorgfältigen Differenzkultur wie Klopstock. Umgekehrt rauschen aber auch nicht alle in den oratorischen Monumentalismus eines Arndt hinüber. Die Konfessionalität in der patriotischen Rhetorik zeitigt keine Einheitlichkeit – keine Einheitlichkeit, aber Ähnlichkeit entsteht allerdings durch die rhetorische Auffassung von Sprache als einer Form des Handelns. Die Herstellung von Einheit und Freiheit der Nation steht unter der Bedingung dieser Einsicht. Mit ihrem – cum grano salis – handlungstheoretischen Sprachverständnis steht die Rhetorik gewissen revolutionären Praxen des Politischen nahe, eine Nähe, die von manchen Patriotismen des 18. und noch des frühen 19. Jahrhunderts angenommen wird. Angesichts der Sakralität von Feindbegriffen stellt sich nun die Frage, ob die Rhetorik, wiewohl deskriptiv unverzichtbar, auch normativ zur Steuerung jener politisch-religiösen Bildwelten ausreiche, die ja gerade aus konfessioneller Topik entstehen. Diese Frage muss aber so offen bleiben wie die patriotische Diskursivität unabgeschlossen ist. Das ist unbefriedigend, doch die Gegenrechnung kann zumindest ein mildes Urteil über die rhetorische Tradition begünstigen, hat sich doch Gewalt als Politikersatz in der Moderne ohne den christlichen Humanismus der ‚virorum bonorum dicendi peritorum‘ breit gemacht. Sie hat sich vielmehr aus einem Totalitätsanspruch der Zweckrationalität heraus entfaltet, der gerade die öffentliche Rede funktionalisiert und ihr den Charakter des freien Erscheinens in der Öffentlichkeit nimmt. Die rationale Sprache der Rhetorikkritik verbürgt also nicht selbst schon rationales Handeln.30 Darüber denken schon Möser und der junge Herder kritisch, und Kleists Existenz scheitert daran, Arndt ist zwischen 1805 und den 1820ern als demokratischer Freiheitsredner obrigkeitlich verfolgt. Die Zusammenhänge sind durch die ältere Ideengeschichte verstellt gewesen, sie sind aber auch durch konstruktivistische Modelle blockiert. Die ältere Ideengeschichte erstrebt den Nachweis eines Wirkungszusammenhangs zwischen den von ihr untersuchten Gedankengebilden, ohne die kleine Münze der affektiven Kommunikationselemente und ihrer Funktionen auszufolgen (von sozialen Kontexten nicht zu reden). Die konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs entgeht der Ideengeschichte zwar nicht, doch bedenkt sie nicht deren 30   Vgl. zur allfälligen Abkehr der Philosophen vom Wollen (und Handeln) als einem sie irritierenden ‚Vermögen‘ äußerst pointiert Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes: Das Wollen, München 22002, 250–267.273 passim.

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

hochgradig affektbesetzte Wirkungsweise an den kulturellen Orten der Ideen. Die konstruktivistisch-kulturalistische Sichtweise untersucht demgegenüber die Macht der Gedankengebilde über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie verfällt also nicht in den Fehler der Ideengeschichtsschreibung, diese Macht einfach vorauszusetzen, sondern prüft die Verhältnisse. Doch dabei gibt es einen blinden Fleck. Den konstruktivistischen Ansätzen fehlt das Instrumentarium für die rhetorische Präsenz des christlich-konfessionellen Phantasma. Die Verkennung der Affekte und des konfessionellen Phantasma konvergieren in der Verkennung von Rhetorik im Prozess der Nationsbildung. Diesen Sachverhalt nach einem halben Jahrhundert der Ideologiekritik feststellen zu müssen, ist weniger merkwürdig als es zunächst scheint, wenn man bedenkt, dass die meist marxistisch-sozialphilosophisch, sozialgeschichtlich oder wissenssoziologisch geprägte Ideologiekritik eine direkte Proportionalität von Ideenproduktion und materieller Reproduktion annimmt. In solch einem Kalkül sind Veränderungspotentiale und Handlungsspielräume weit beengter als sie es den guten normativen Absichten der Ideologiekritik nach sein sollten. Doch den materiellen Verwerfungen in der Gesellschaftsgeschichte sind immer schon Signifikanten zugesprochen. Ideelle oder ideologische Verschiebungen verweisen auf zuvor bestimmte gesellschaftliche Vorgänge. Die Macht zu wirken, etwas bewirken zu können, wird dabei stillschweigend vorausgesetzt. Diese Macht ist jedoch sprachlicher Art, sie ist Kommunikation im emphatischen Sinn. Man muss diese Macht an materiellen Signifikanten bestimmen. Das gilt auch für die patriotische Diskursivität und ihre Suche nach nationaler Einheit und Freiheit, für ihr Schwanken zwischen verschiedenen Einigkeiten und verschiedenen Befreiungen. Der Ort der Veränderung in der Gesellschaft ist der kommunikative Freiraum, der Ort der Veränderung in der Sprache ist die rhetorische Invention. Der Anteil des Christentums an beiden kann über die Erzeugnisse des christlich-konfessionellen Phantasma erschlossen werden. Kritisch in der Haltung, aber neu im Verfahren ist der Saldo der Verantwortung für die Fehlformen in der Nationalisierung des Christentums und in der Konfessionalisierung der Nation zu bestimmen.

5.4  Nation der Frommen und Zivilreligion Nicht nur die Sicherheit der Throne, auch der Bestand der Nationen, scheint es, ist auf Poesie gegründet.31 Entgegen der scheinbaren Selbstverständlichkeit mo31  Vgl. Gneisenaus Auseinandersetzung zum Insurrektionsplan 1811 mit König Friedrich Wilhelm III. Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Band  2, Berlin 1865, 137.

5.4  Nation der Frommen und Zivilreligion

275

derner Nationen erweisen sie sich manchmal unstet,32 auf den zweiten Blick scheinen sie jedoch auch wie von unsichtbaren Fundamenten getragen. Diese reichen in tiefe Winkel der menschlichen Phantasie, der riskanten Gabe des Schöpfers an seine ersten Freigelassenen. Unter wissenschaftlicher Berücksichtigung dieser Macht der Phantasie erweisen sich die Imaginationen des ‚nation building‘ voll konfessioneller Semantik, deren Zirkulation einer Typenbildung des Nationalen widersteht. Die patriotische Diskursivität ist viel dynamischer. Als Träger der patriotischen Diskursivität sind Literaten bestimmt worden, die im Unterschied zu anderen Zeitgenossen durch die konstruktive Weiterbildung der rhetorischen Tradition oder durch ihre faktische Rezeption auffallen. Diese Literaten wollen etwas, sie treten mithilfe der topischen Variation als sprachlich Handelnde politisch in Erscheinung. Im Zuge dieses Sprachhandelns erfährt die konfessionelle Semantik nicht zwangsläufig eine Schwächung oder Enteignung ihrer Christlichkeit. Vielmehr kann die Beschreibung des Christentums in seinen Amalgamierungen mit Entwürfen nationaler Kultur neue Aspekte am christlichen Geist und am Leben der Christen hervorbringen. Aus dem patriotischen Affektspektrum zwischen nachbarlicher Gemütlichkeit und vaterländischem Martyrium tritt das Konzept der „Nation der Frommen“ hervor.33 Dieser Ansatz verweist auf das Ausbleiben einer libertären Zivilreligion in Deutschland, die zu einem anderen Verlauf der Nationsbildung beigetragen hätte. In den revolutionären Anfängen der politischen Moderne finden sich politisch-rechtliche Ideale, die von den patriotischen Literaten als Topoi verwendet werden konnten. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind ein solcher Topos für die französische Zivilreligion; der Schutz des Eigentums als Sicherheit des Bürgers vorm Staat und ein Kult der gewaltenteiligen Verfassung sind Topoi der US-amerikanischen Zivilreligion.34 Erfolgreiche oder folgenreiche Revolutionen durchgeführt zu haben ist für diese Formen ziviler Religion eine unersetzliche Legitimationsbasis und erhöht ihre Akzeptanz. Freilich wäre es ebenso glatt wie schief, jenen zivilreligiösen Gestalten eine innerweltliche Einlösung von Heilsverheißungen zuzuschreiben oder, konträr dazu, beiden Zivilreligionen die Legitimität pauschal abzusprechen. Dagegen lässt sich zeigen, wie beide Positionen sich an ihren christlichen Implikationen brechen: Die französische Zivilreligion bleibt durch ihre christentumskritische Grundlage bei gleichzeitiger Herkunft aus dem Vernunftkult als Laienbewegung auf die Negation eines Klerus angewiesen. Die US-amerikanische Zivilreligion reibt sich an den Modellen des Sakralen, die sie unausgeglichen in sich   Gellner: Nationalismus und Moderne, 15 ff.   F. W. Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, in: Ders.: Wiederkehr, 120–125. 34  Vgl. Jürgen Gebhardt: Die Idee der Verfassung. Instrument und Symbol, in: Adolf Kimmel (Hg.): Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, Baden-Baden 1995, 9–24. 32 33

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

trägt: Die sakralisierte Verfassung steht einem evangelischen Personalismus gegenüber und puritanische Befreiungstheologie speist eine von dieser konfessionellen Herkunft abgelöste imperiale Symbolpolitik.35 Es kann für eine theologische Weiterbildung der Nationalismusdebatte ganz gewiss nicht darum gehen, die Bricolage für eine deutsche Zivilreligion zu entwerfen. Der hier erörterte Diskurs zwischen 1749 und 1813 legt nur die Frage nach einem deutschen Funktionsäquivalent zu den Entwürfen der modernen Revolutionsnationen nahe. Wie aus der ekklesiogenen Institutionalität der Nationsvorwegnahme (§  2.), den integristischen Lutherkonstruktionen (§  3.) und der Analyse militant-sakraler Grenzziehungen (§  4.) hervorgeht, hätte die Symbolisierung nationaler Einheit und Freiheit ganz oben auf einer zivilreligiösen Agenda gestanden. Einheit und Freiheit erweisen sich aber als problematisches, verschieden dicht gewebtes Muster in den appellativen, erklärenden, deutenden und dichtenden Texten des ‚nation building‘. In all diesen Texten finden sich Ideen zur Funktion des Christentums für die zu bildende Nation. Um an das am Anfang stehende Fanal zu erinnern: Abbt bezweifelt die hinreichende Ausbreitung und Verwurzelung des Christentums und empfiehlt deshalb eine postchristliche Symbolpolitik des Patriotismus. Er nutzt das Christentum soweit möglich zur patriotischen Affektsteuerung und häuft auf seinen preußischen Sotër biblische Topoi, indem er seinen Stellenwert für das armierte Volk unter anderem mit der Bundeslade vergleicht. Die nationale Einheit erscheint am Monarchen, die bürgerliche Freiheit erscheint in der emanzipativen Militärfähigkeit des Bürgers – strukturell ähnlich, nur ohne messianische Wendung, bestimmt der Zeitgenosse Gleim Einheit und Freiheit in den ‚Grenadierliedern‘. Der Streit um das Verhältnis von Einheit und Freiheit im ‚nation building‘ erfährt viele Variationen. Möser wertet die konfessionelle Freiheit der Bürger im Kleinstaat auf, doch entwickelt er als Praktiker auch Phantasien zu einem realitätsgesättigten Patriotismus landeignender Bauern, die es nur nicht in ausreichender Zahl gibt, um sie zu Trägern einer Nation zu machen. Mösers quasisoziologische Analytik schafft Raum für einen kühnen retrospektiven Traum: der Kaiser und Luther verbünden sich zur Bauernbefreiung und reformieren Kirche und Reich, bis aus ihrem Werk ein deutsches Unterhaus entsteht. Während in dieser Vision Befreiungsakte und Freiheit unterschieden werden, stellt Mösers Jugendwerk ‚Arminius‘ Freiheitskonflikte dar. Aufgrund solcher Phantasien gerät der politische Praktiker Möser mit einem anderen politischen Praktiker aneinander: mit dem Reichsjuristen von Moser, der in der bestehenden Verfassung die Garantie nationaler Einheit und in der 35   Vgl. nach wie vor Rolf Schieder: Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987; extrem modernekritisch Adam: Politische Theologie, hier 135–144.

5.4  Nation der Frommen und Zivilreligion

277

nationalen Einheit die Garantie für hinreichende Freiheiten sieht. Am Konflikt zwischen von Moser, Möser und Abbt zeigt sich eine Verwerfung im Leitmuster von Einheit und Freiheit. Während von Moser die einheitliche Sprache als selbstverständliche Voraussetzung für eine am Reich als Nation orientierte Politik beansprucht, problematisiert Möser genau diese Inanspruchnahme mit Hinweis auf die Diversität deutscher Sprache und Kultur. Mosers ‚Staatsmartyrium‘ für die nationale Einheit gerät unter Mösers Feder zur Farce einer Hofintrige. Umgekehrt emanzipiert Abbt das Begriffssymbol des Martyriums folgenreich – man denke an die Kriegslyrik um 1813 – zum bürgerlichen Einsatz für die äußere Freiheit der Nation. Eine Nation der Frommen zeichnet sich bereits hier in verschiedenen, zum Teil gegeneinander gewendeten Modellen ab. Dem Streit um das zivilreligiöse Leitmuster von Einheit und Freiheit suchen die Lutherkonstruktionen zu entwachsen. Luther ist als nationales Denkmal wegen der Konfessionsspaltung problematisch, doch seine Verwerter bemühen sich, ihn zum allseits vermittelbaren Sprachstifter zu kulturalisieren, um den zwischenkonfessionellen Graben zuzuschütten. Man kehrt die Ausdruckskultur gegenüber dem Bekenntnisstand hervor. Nationale Einheit und Freiheit sind jedoch auch unter diesen Auspizien nicht, sondern sie sollen nur sein. Die einheitliche Muttersprache bleibt Auftrag. Luther ist nur der Signifikant, unter dem sich monumentale Selbststilisierungen der patriotischen Rhetoren vereinen: Der im Zeichen Luthers die Stelle eines obersten Dichters der Nation anstrebende Klopstock hat eine Republik der Frommen im Sinn. Seine Heiligungsabsicht zielt auf „ein brüderlich Volk, durch das Blut des Bundes geheiligt,“ das „Vor dem Versöhner der Menschen in Jubellieder sich ausgießt.“36 Herders theologische Wiederbesetzung der seinerzeit neuen Universalgeschichte sucht auf pathetische Manier, aber kalten Blutes historisch kontingente Nationsmodelle zu vermitteln. Der Geschichtserklärer will damit indes nicht weniger sein als der Lehrer einer Nation, die sich zur christlichen Humanität erhebt. Um 1813 dreht sich die patriotische Zirkulation konfessioneller Semantik weiter zur Nation der Frommen. Arndt sucht sie in verbalistischer Lutherimitation auf den Plan zu rufen – auf den Schlachtplan, auf dem sie allererst ihre christenmenschliche Einigkeit und geistige Freiheit zu bewähren hätte. Durch Arndt wird der Ruf nach christlicher Füllung der leeren Innenseiten von Einheit und Freiheit unüberhörbar. Aus Kleists Dekonstruktion des poetischen, pädagogischen und prophetischen Lutherrekurses erhebt sich der Reformator als einfacher Geistlicher: Luther stellt am Ende Kohlhaas’ Frage nach bürgerlicher Gerechtigkeit trotz ihrer verwüstenden politischen Apokalyptik unter ein sakrales Versöhnungszeichen. Nationsbildung im Abgleich innerweltlicher politischer Symbolik mit derjenigen des transzendenten Weltgrundes – „den Bürgern der göttlichen Erde dein   Klopstock: Der Messias, I, 657 ff.

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

Heiligthum“37 offen haltend –, zerfällt um 1800 und wird neu zusammengesetzt. Im Wechsel der Kriege nimmt seit dem Zusammenbruch des Alten Reichs der äußere Druck zu Nationsbildungen zu. Signifikant für die kriegsbedingte Nationsbildung ist die Externalisierung des Befreiungsakts, der dadurch vereindeutigt, aber auch entpolitisiert wird: gerade die konkrete Institutionalität fehlt ihm. Die Externalisierung des nationalen Befreiungsaktes und die überlebensnotwendige Einigung der Nation zwischen 1806 und 1813 verändern die konfessionelle Semantik im Patriotismus. In Mösers Analysen, Herders Nationengeschichte oder Klopstocks Freiheitsoden ist die Nationsbildung inklusivistisch. Im Zeichen der militanten Befreiung von Feinden und der Grenzsicherung eines konstitutionell gar nicht realen Gebildes rückt die vielfach gleiche Semantik unter das Vorzeichen sakraler Gewalt. Diese Gewalt wird von Kleists Hermannsfigur manipulativ gehandhabt, in Arndts ‚Geist der Zeit‘ bricht sie als politische Soteriologie in einer Nation militanter Frommer aus. Insgesamt bleibt die Rede von Einheit und Freiheit der Nation in all jenen Zugriffen Leitmuster. Doch die Einheit wird konstitutionell nicht real und so verliert sich der Freiheitsgebrauch in die Militanz: Vereinseitigt zur äußeren Befreiung vom Feind oder verinnerlicht zur christenmenschlichen Weltdistanz fehlen der Freiheit politisch-rechtliche Form und Legitimationserzählung. Die Reformation kommt dafür unter dem Druck der überkonfessionellen Mobilmachung nur mehr bedingt in Frage. So wird die Nutzung der konfessionellen Ausdruckskultur für nationale Belange bis auf Weiteres erschwert.38 Klopstocks heilige Republik und Herders zivilisationstheologisches Band sind um 1813 vergessen, die ethische Heiligung der Nation wird von sakralen Feindbegriffen durchsetzt. Die evangelische Glaubenssprache ist nun nicht mehr nur ein Herkunftsmilieu sehr verschiedenartiger Formen des Patriotismus, der Patriotismus kann und soll auch das Christentum beleben. Krieg und Feindmarkierung werden damit selbst zu festen Bestandteilen der Glaubenssprache. Hierin liegt jener Skandal, der sich in Rezeptionen auswächst. Für die vorliegende Untersuchung sind zwei Hauptergebnisse festzuhalten: Die Verhältnisse in der patriotischen Zirkulation konfessioneller Semantik sind kompliziert und: Es gab unter den Übergängen des patriotischen Feldes zwischen 1749 und 1813 alle denkbaren Varianten jener Zirkulation tatsächlich. Diese Ergebnisse scheinen etwas mager, sie haben aber Gewicht für die Nationalismusforschung, indem sie deren Umstellung auf eine genealogische Relektüre verstärken. Pro domo der Theologie ist der Befund dagegen einschlägig, weil er die großen Narrative des 20. Jahrhunderts sistiert. Kurz gesagt: Es gibt angesichts des Patriotismus keine ungebrochene Freiheitsgeschichte des Protestantismus zu erzählen, es gibt nur widerspruchsvolle evangelische Selbstveror  Klopstock: Der Messias, I, 574.   Darüber darf die nationale Monumentalisierung Luthers nicht hinwegtäuschen.

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5.4  Nation der Frommen und Zivilreligion

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tungen in einer widerspruchsvollen Welt. Umgekehrt erzählt die Genealogie der Moderne aber auch keine ausschließliche Katastrophengeschichte, tragen patriotische Entwürfe evangelischer Literaten doch auch eine ekklesiogene Kritik an nationalen Institutionen, an patriotischem Enthusiasmus und am Krieg als Instrument der Nationsbildung in den nationalen Diskurs hinein. Angesichts dieser Befunde scheint ein Schlussgedanke zu neueren evangelischen Selbstverortungen im nationalen Diskurs angemessen. Ich wähle zwei Episoden, deren Akteure patriotische Zivilreligion zu umgehen suchen, um gleichwohl eine vorsichtige evangelische Symbolpolitik der Freiheit zu betreiben. In der Weimarer Republik gab es zivilreligiöse Bemühungen um die auf revolutionärem Weg ermöglichte Verfassung. Die Kombination aus konfessioneller Semantik und einer Affirmation des politischen Umsturzes war unter zeitgenössischen Bedingungen gewagt. Beteiligt waren von theologischer und kirchlicher Seite insbesondere die in der Deutschen Demokratischen Partei vertretenen Liberalen Theologen.39 So hat beispielsweise Rudolf Otto in Martin Rades ‚Die Christliche Welt‘ 1925 ‚Eine Gottesdienstordnung für den Vaterlands= Sonntag (Verfassungstag)‘ publiziert.40 Diese Gottesdienstordnung stellt den theologisch wie politisch interessanten Versuch dar, die Akzeptanz der neuen Verfassung durch eine konfessionelle Symbolpolitik zu stärken. Dabei wird dem Gedächtnisakt ein Bußgeschehen eingeschrieben, das die Fragilität der freiheitlichen Verfassung anmahnt und die politische Verspätung des deutschen Republikanismus liturgisch zur Darstellung bringt. Sodann erhebt Otto die politische Nation in einer affektiv äußerst sparsamen Weise und unter inklusivistischer Nennung nationalkultureller Güter zum Gegenstand der Dankbarkeit vor Gott. Die liturgische Umsetzung dieser symbolpolitischen Zähmung vorhandener patriotischer Affekte lässt sich mit wenigen Strichen skizzieren – ein Blick auf die Gebetsordnung reicht aus: So findet sich der Topos von Luthers Sprachgenie in einem Dankgebet für die „edle deutsche Muttersprache“ und für Martin Luthers Tätigkeit. Ein Bußgebet nimmt Bezug auf Verfehlungen der versammelten [!] Politiker am eigenen Volk, auf das verbreitete „Widerstreben[s] gegen die neue [freiheitlich-republikanische] Ordnung“, auf „Mitschuld an der sozialen Not“ und „innere[n] Zerrissenheit“. Tatsächlich hatte solch eine fein ziselierte Symbolpolitik gegen die exklusivistische Reichssymbolik der politischen Rechten mit ihrer simplen Analogie von deutschem Imperium und protestantischem [!] Sacerdotium sowie gegen die fraternalistisch-laizistische Konkurrenz der Linken keine Chance. Es wäre indes zu fragen, ob Ottos Entwurf mit Blick auf das inzwischen demokratisch 39   Vgl. zu den politischen Kontexten Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 29 ff.117 ff.165 ff. 40   CW 20/21(1925), Sp.  433–438, hier 437.

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§  5.  Protestantismus und Patriotismus

eingebürgerte ‚Wächteramt‘ evangelischer Kirchen die Funktion eines symbolpolitischen Prätexts oder einer Problemanzeige zukommen kann: Der liberale Theologe als Vorbeter eines Bußakts der verspäteten Nation. Der zweite Hinweis macht historisch einen großen Sprung. Als 1989 die politischen Freiheitsrechte für alle deutschen Bürger kamen, ging der Befreiungsakt nicht in eine neue, zivile Gründungslegende ein. Mit anderen Worten: Der eigentlich neue deutsche Staat kommt ohne Gründungslegende aus, kommt aber eben doch nicht ohne sie aus. Joachim Gauck hat in seiner Rede zum 10. Jahrestag des Falls der Mauer auf einer Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages ein Angebot dazu unterbreitet, indem er die noch immer neue nationale Einheit im Zeichen von Freiheit deutete. Die Gewöhnung der Westbürger im Freiheitsgebrauch und die Befreiungstat im Osten seien demnach wechselseitige und einander ergänzende Gaben. Gaben müssen jedoch als solche erkannt und anerkannt werden. Gauck hat das Befreiungshandeln der 1989er so gedeutet, habe es doch die gesamte Nation in der „Familie der Völker, die durch Freiheitsrevolutionen gekennzeichnet sind“, ankommen lassen.41 Die Expertenkultur der alten Bundesrepublik schien diese Ankunft gelegentlich mit leerem Lächeln zu verfehlen. So konnten das konfessionelle ‚Dach‘ der Bewegung für Freiheitsrechte in der DDR leitmetaphorisch abgedeckt und das Einheitssignal gesetzt werden. Bei aller Anerkennung globalpolitischer Sachzwänge im Beitrittsgeschehen darf die damit verbundene symbolpolitische Enteignung einer zivilgesellschaftlichen Freiheitsbewegung nicht verschwiegen werden. Als Folge dieser Enteignung lassen sich nun basale Elemente politisch-rechtlichen Freiheitsgebrauchs wie individuelle Selbstbestimmung und die politische Funktion von Eigentum schwer als Freiheitsgewinne vermitteln. Ein seiner Ausdruckskultur kritisch bewusster Protestantismus darf in dieser Lage Symbolpolitik für eine rechtsstaatlich ausgelegte Freiheit betreiben – freilich nur für diese, nicht aber für eine Freiheitschimäre, wie sie in politisch verwilderten Texten Kleists oder Arndts erscheint.42 „In der Heiligen Schrift der Christen gibt es eine wunderbare Geschichte: Ein Gelähmter wird zu Jesus gebracht; der schaut dem Kranken in die Augen und spricht ihm in seine Seele: ‚Steh auf, nimm dein Bett und wandle.‘ Die Herbstrevolutionäre von 1989 wissen, was dieser Text im Politischen bedeutet. Als sie durch den Atem der Freiheit ermutigt waren, konnten sie im frühen Dezember die Zwingburgen der Geheimpolizei besetzen und der allmächtigen Partei ihre Macht aberkennen – ein Traum vom Leben“.43 41   Joachim Gauck: Rede zum 10. Jahrestag des Falls der Mauer auf einer Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages in Berlin am 9.  11. 1999. Quelle: www.bundestag.de/ kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/gorbatschow/gauck.html. 42   Dörner: Politischer Mythos, 52 passim, zur Unvermeidlichkeit von Symbolpolitik, die deshalb kritisch gestaltet werden muss. 43   Vgl. Anm.  41. – Die nach Einreichung der vorliegenden Studie als Habilitationsschrift erfolgte Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten muss m. E. nicht zum Verzicht auf das obige Zitat führen.

Literatur Wo eine aktuelle kritische Werkausgabe noch nicht vollständig erschienen ist oder gar nicht vorliegt, sind Einzelbände gesondert aufgeführt, ggf. auch nach verschiedenen Ausgaben. Herder ist nach Suphan zitiert. Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland, in: Thomas Abbts [.  .  .] Vermischte Werke. Zweyter Theil [.  .  .], Frankfurt und Leipzig 1783. Thomas Abbt: Vom Verdienste, Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai 1772. Thomas Abbts [.  .  .] vermischte Werke. Fünfter Theil welcher vermischte Aufsätze und Briefe enthält. Franckfurt und Leipzig. 1783. Armin Adam: Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich 2006. Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache, Opladen 1994. Leif Ludwig Albertsen: Poetische Form bei Klopstock, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Grenze, 68–79. Hans Adler: Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 271–284. Richard Alewyn: Klopstocks Leser, in: Festschrift für Rainer Gruenter, hg. von Bernhard Fabian, Heidelberg 1978, 100–121. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main 21996. Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München 2008. Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt/Main 51997. Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992. Dirk Alvermann: Arndt und Kosegarten – zwei rügische Dichter zwischen Gott, Napoleon und Nation, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 77–95. Mark Emanuel Amstätter: Die Poetik des Todes in Klopstocks Hermann-Dramen, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Wort und Schrift, 173–185. Karl-Otto Apel: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/Main 1971. Hannah Arendt: Vita Activa. Vom tätigen Leben, München 62007. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken/Das Wollen/Das Urteilen, München 22002. Karl Otmar Freiherr von Aretin: »Das Heilige Römische Reich deutscher Nation«, in: Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, hg. von Otto Büsch/James J. Sheehan, Berlin 1985, 73–83.

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Literatur

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Gerhard vom Hofe: Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Ästhetik, in: Ders. et. al. (Hg.): Was aber (bleibet) stiften die Dichter, München 1986, 65–87. Gerhard vom Hofe: Die Geschichte als ‚Epopee Gottes‘. Zu Herders ästhetischer Geschichtstheorie, in: Brigitte Poschmann (Hg.): Bückeburger Gespräche 1983, Rinteln 1984, 56–81. Klaas Huizing: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992. Michael Hundt: Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongreß, Mainz 1996. Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen 2001. Rose-Maria Hurlebusch/Karl Ludwig Schneider: Die Gelehrten und die Großen. Klopstocks ‚Wiener Plan‘, in: Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert, Wolfenbütteler Forschungen 3, Bremen 1977, 67–83. Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001. Isaac Iselin: Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes, Zürich: Bey Orell, Gesner, Füssli und Compagnie 1762. Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997. Manfred Jacobs: Die Entwicklung des deutschen Nationalgedankens von der Reformation bis zum deutschen Idealismus, in: Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hg. von Horst Zilleßen, Gütersloh 1970, 51– 110. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. Volkmar Joestel/Jutta Strehle: Luthers Bild und Lutherbilder. Ein Rundgang durch die Wirkungsgeschichte, Wittenberg 2003. Reinhard Junghans: Die Lutherrezeption Johann Gottfried Herders. Eine Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung seiner theologischen Schriften und mit rezeptionstheoretischen Überlegungen, in: Lutherjahrbuch 59 (1992), 160–191. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961. Hilmar Kallweit: Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie. Zur Charaktersisierung der pragmatischen Geschichtsschreibung, in: Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel historischen Denkens, hg. von Horst Walter Blanke/Jörn Rüsen, Paderborn u. a. 155–157. Gerhard Kanthak: Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektmacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademie-Bewegung des 17. Jahrhunderts, Berlin 1987. Wilhelm Kantzenbach: Person und Sprache bei Martin Luther und Ernst Moritz Arndt, in: Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft 28 (1956), 17–27. Gabriele Kapp: ‚Des Gedankens Senkblei‘. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799–1806, Stuttgart 2000.

290

Literatur

Hans-Joachim Kertscher/Günter Schenk (Hg.): Georg Friedrich Meier. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in drei Teilen, Teil  2 : Der ‚kleine Dichterkrieg‘ zwischen Halle und Leipzig, Halle 2000. Martin Kessler (Hg.): Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerks, Berlin u. a. 2005. Hans-Martin Kirn: Trauer und Melancholie bei Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. von Udo Sträter et. al., Halle/Tübingen 2005, 571–583. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i.Br. 1987. Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Zweibändige Ausgabe in Einem Band, hg. von Helmut Sembdner, München 2001. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, München/Wien 41981 Friedrich Gottlieb Klopstock: Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne, Hamburg und Bremen: Bey Johann Henrich Cramer 1769. Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias, Fassung der ersten drei Gesänge von 1748, Stuttgart 1986. Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Erster und Zweiter Band, hg. von Franz Muncker/Jaro Pawel, Stuttgart 1889. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Werke VII/1, Die deutsche Gelehrtenrepublik, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin/New York 1975 Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Werke IV/1, Der Messias/Text, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Berlin/New York 1974. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Werke IV/2, Der Messias/Text/Apparat, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Berlin/New York 1996. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Werke IV/3, Der Messias/Text/Apparat, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Berlin/New York 1996. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Briefe V 1767–1772, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 1989–1992. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe, Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Briefe VI/1 1773–1775, hg. von Annette Lüchow, Berlin/New York 1998. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe, Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Briefe IX/1 1795–1798, hg. von Rainer Schmidt, Berlin/New York 1993. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe, Historisch-Kritische Ausgabe, Hamburger Klopstock-Ausgabe, Abteilung Addenda II Arbeitstagebuch, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 1977. Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart 2000.

Literatur

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Katrin Kohl: Kulturstiftung durch Sprache. Rede und Schrift in der Deutschen Gelehrtenrepublik, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Wort und Schrift, 145–171. Katrin Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origin of Free Verse. The Early ‚Hymns‘ of Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin/New York 1990. Hans Kohn: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution, Heidelberg 1950. Panajotis Kondylis: Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996. Theodor Körner: Körners Werke, 2 Bde., hg. von Hans Zimmer, Leipzig/Wien 21916. Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 3 1995, 300–348. Karl Heinz Kröplin: Klopstocks Hermannsdramen in theatergeschichtlicher und dramaturgischer Beleuchtung, Güstrow 1934. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. Studien 2, Köln 3 1983. Martin Kuester: ‚Prudent ambiguities‘. Zur Problematik von Sprache und Bedeutung im Werk John Miltons, Trier 1999. Thomas K. Kuhn: Das neuzeitliche Christentum und die Genese des Nationalismus als ‚Politischer Religion‘, in: Pfleiderer/Stegemann (Hg.): Politische Religion, 131–157. Christine Künzel: Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ‚Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 165– 183. Karl Kupisch: Die Wandlungen des Nationalismus im liberalen Bürgertum, in: Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland, 111–134. Roland Kurz: Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik, Gütersloh 2007. Dieter Langewiesche (Hg.): Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008. Dieter Langewiesche: ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum ersten Weltkrieg, München 2000, 9–30. Else Lasker-Schüler: Ichundich, in: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band  2 : Dramen, Frankfurt/Main 1997, 183–235. Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hg.): Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002. Meredith Lee: Displacing authority. Goethe’s poetic reception of Klopstock, Heidelberg 1999. Joachim Leeker: Die Ermordung Cäsars im französischen Theater des 16–18. Jahrhunderts im Spiegel der Politik, in: Bauer/Müller: Staatstheoretische Diskurse, 243– 271. Hartmut Lehmann: The Germans as a Chosen People. Old Testament Themes in German Nationalism, in: Ders.: Religion und Religiosität, 248–259. Hartmut Lehmann: Pietism and Nationalism. The Relationship between Protestant Revivalism and National Renewal in Nineteenth-Century Germany, in: Ders.: Religion und Religiosität, 233–247. Hartmut Lehmann: Religion und Religiosität in der Neuzeit, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen/Otto Ulbricht, Göttingen 1996.

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Literatur

Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997. Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924. Claudia Leuser: Theologie und Anthropologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts bei Johann Gottfried Herder, Frankfurt/Main 1996. Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005. Longinus: Vom Erhabenen [Περι υψους], Griechisch/Deutsch, üs. und hg. Von Otto Schönberger, Stuttgart 1988. Annette Lüchow: ‚Die heilige Kohorte‘. Klopstock und der Göttinger Hainbund, in: Hilliard/Kohl (Hg.): Grenze, 152–220 [Quellenanhang ab 193]. Annette Lüchow: Klopstock und der Göttinger Hain, Hamburg 1995. Martin Luther: Ob kriegsleutte auch ynn seligem stande seyn kuenden, in: WA 19 1897, 632.634.637 s. u. 623–662. Martin Luther: Von welltlicher Uberkeytt, wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey, in: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesammtausgabe, WA 11 Weimar 1900, 229– 281. Friedrich Maier: ‚Das Staatsschiff‘ auf der Fahrt von Griechenland über Rom nach Europa. Zu einer Metapher als Bildungsgegenstand in Text und Bild [Antrittsvorlesung HU], Berlin 1994. Wilfried Malsch: Nationen und kulturelle Vielfalt in Herders Geschichtsphilosophie, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 121–129. Dieter Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, in: Hilliard/Kohl: Grenze, 97–116. Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt, in: Geschichte des Pietismus 4. Glaubenswelt und Lebenswelten, hg. von Hartmut Lehmann in Verbindung mit Martin Brecht et. al., Göttingen 2004, 49–79. Michael Maurer: Justus Möser in London (1763/1764). Stadien seiner produktiven Anverwandlung des Fremden, in: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, hg. von Conrad Wiedemann, Stuttgart 1988, 571–583. Hans Mayer: Rhetorik und Propaganda, in: Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukácz, hg. von Frank Benseler, Neuwied/Berlin 1965, 119–131. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München und Berlin 1936. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, hg. und eingel. von Hans Herzfeld, München 1952. Heinrich Meisner: Soldatenkatechismen, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 7 (1903/1904), 198–204. Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung, in: Ders. (Hg.): Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1989, 259–361. Karl Markus Michel (Hg.): Politische Katechismen: Volney, Kleist, Heß, Frankfurt/Main 1966. Peter Michelsen: ‚Wehe, mein Vaterland, dir!‘ Heinrich von Kleists ‚Die Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 1987, 115–136.

Literatur

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Norbert Miller: Verstörende Bilder in Kleists ‚Hermannschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 1984, 98–105. John Milton: Paradise Lost, Ed. by Christopher Ricks, London 1989. Ingrid Mittenzwei: Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Köln 21980. Bernd Moeller: Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Berndt Hamm et. al.: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 9–29. Michael Möller: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottfried Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung, hg. von Ulrich Kühn, Frankfurt/Main u. a. 1998. Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, Frankfurt/Main 1979. Charles-Louis de Secondat, Baron [.  .  .] de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Erster Band, üs. und hg. von Ernst Forsthoff, Tübingen 21992. Thorsten Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Münster 2005. Friedrich Carl von Moser: Der Herr und der Diener: geschildert mit patriotischer Freyheit, Franckfurt, verlegt von Johan August Raspe 1759. Friedrich Carl von Moser: Doctor Luther’s Fürsten-Spiegel von Regenten, Räthen und Obrigkeiten, auch der Welt Art, Lohn und Dank, Franckfurt am Mayn: Bey Johann Gottlieb Garbe, 1783. Friedrich Carl von Moser: Mannichfaltigkeiten, Zürich: Bey Orell, Gesner, Füssli und Compagnie 1796. Friedrich Carl von Moser: Staats=Klugheit, Staats=Thorheit, Freiheit zu denken, Preß=Freiheit, Patriotisches Archiv III, Franckfurt und Leipzig [.  .  .] 1785. Friedrich Carl von Moser: Von dem Deutschen national-Geist, Franckfurt am Mayn: bey Schäfer 1765. Friedrich Carl von Moser: Was ist: gut Kayserlich, und: nicht gut Kayserlich? Franckfurt am Mayn: Zweyte verbesserte Auflage 1766. Christian Moser: Der ‚Traum der schreibenden Person von ihr selbst‘. Autobiographie und Subjektkonzeption bei Johann Gottfried Herder, in: Herder-Jahrbuch 1996, hg. von Wilfried Malsch et. al., Stuttgart 1997, 37–56. Justus Möser: Arminius, in: Justus Möser: Sämtliche Werke, Band  2, Erste Abteilung. Dichterisches Werk, philosophische und kritische Einzelschriften, bearb. von Oda May, Oldenburg/Hamburg. Justus Möser’s sämmtliche Werke, hg. von seiner Tochter Jenny W. J. von Voigts, geb. Möser, Berlin: Nicolai 1858. Justus Möser: Sendschreiben an den Herrn von Voltaire über den Charakter D. Martin Luthers und Seine Reformation. aus [sic] dem Französischen übersetzt von Georg Wilhelm Bokelmann [.  .  .], Lübeck, verlegts Jonas Schmidt und Donatius. 1765. Justus Möser: Zwei Recensionen aus der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Von dem deutschen Nationalgeiste, in: ders.: Kleinere Schriften. Vermischtes: Aus Möser’s frühester Periode, in Zeitschriften Erschienenes. Fragmente. Historisches, über Klöster und Stifter, hg. von B. R. Abeken, Justus Möser’s sämmtliche Werke. Neu geordnet und aus dem nachlasse desselben gemehrt durch B. R. Abeken, Neunter Theil, Berlin 1843, 240–249. George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/Main 1993.

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Literatur

Beate Mrohs (Hg.): „Süß ist der Krieg den Unerfahrenen“: Krieg und Frieden in Texten aus dem Europa der Frühen Neuzeit. Eine Ausstellung der Bibliothek des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück und der Universitätsbibliothek Osnabrück, Osnabrück 2003. Harro Müller-Michaels: Herder – Denkbilder der Kulturen. Herders poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 65–76. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009. Thomas Müntzer: Schriften und Briefe, hg. von Gerhard Wehr, Frankfurt/Main 1973. Michael Neumann: ‚Und sehn, ob uns der Zufall etwas beut‘. Kleists Kasuistik der Ermächtigung im Drama ‚Die Hermannsschlacht‘, in Kleist-Jahrbuch 2006, 137–156. Sigrid Nieberle: ‚Und Gott im Himmel Lieder singt‘: Zur prekären Rezeption von Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 121–136. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Kritische Studienausgabe 6, hg. von Giorgio Colli und Maurizio Montinari, München 1988. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 61993. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995. Birgit Nübel: Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ bei Rousseau und Herder, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 97–109. ‚O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll‘. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, hg. von Michael Maurer, Frankfurt/Main 1992. Alfred Opitz: Reiseschreiber. Variationen einer literarischen Figur der Moderne vom 18. – 20. Jahrhundert, Trier 1997. Claus-Dieter Osthoevener: Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift Halle 1999, Tübingen 2004. Günther Ott: Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten, Bonn 1966. Wiebke Otte: Arndt und ein Europa der Feinde? Europagedanke und Nationalismus in den Schriften Ernst Moritz Arndts, Marburg 2007. Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen: zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996. Rudolf Otto: Das Gefühl des Überweltlichen. Aufsätze, das Numinose betreffend, Teil  I, München 61932. Rudolf Otto: Eine Gottesdienstordnung für den Vaterlands=Sonntag (Verfassungstag), in Martin Rade: Die Christliche Welt 20/21(1925), Sp.  433–438. Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster u. a. 2003. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Helmut Pape: Klopstock. Die ‚Sprache des Herzens‘ neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750, Frankfurt/Main 1998, 61–71.

Literatur

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Dalmacio Negro Pavón: Montesquieu, Kritiker des Wohlfahrtsstaates avant la lettre, in: Paul-Ludwig Weihnacht (Hg.): Montesquieu – 250 Jahre ‚Geist der Gesetze‘. Beiträge aus politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik, Baden-Baden 1999, 167–177. Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Band  2, Berlin 1865. Claus Peymann/Hans Joachim Kreutzer: Streitgespräch über Kleists ‚Hermannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 1984, 77–97. Peter Pfaff: Hieroglyphische Historie. Zu Herders ‚Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‘, in: Euphorion 77 (1983), Heidelberg 1984, 407– 418. Georg Pfleiderer: Politisch-religiöse Semantik. Zur Analytik politischer Religion und ihrer Kontextualität, in: Pfleiderer/E. Stegemann (Hg.): Politische Religion, 19– 58. Georg Pfleiderer/Ekkehard W. Stegemann (Hg.): Politische Religion. Geschichte und Gegenwart eines Problemfeldes, Zürich 2004. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 31962. Brigitte Poschmann (Hg.): Bückeburger Gespräche [Herder-Kolloquium] 1983, Rinteln 1984. Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750– 1850, Wiesbaden 1981. Johann Jacob Rambach: [.  .  .] Geistliche Poesien [.  .  .], Halle, 1720. In Verlegung der Neuen Buchhandlung [.  .  .]. David Ratmoko: Das Vorbild im Nachbild des Terrors. Eine Untersuchung des gespenstischen Nachlebens von ‚Michael Kohlhaas‘, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 218–231. Hans Ulrich Reck: Entgrenzung und Vermischung. Hybridkultur als Kunst der Philosophie, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur. Medien – Netze – Künste, Köln 1997, 91–115. Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM), in: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, 47–84. Karl-Siegbert Rehberg: Institutionenwandel und Funktionsveränderungen des Symbolischen, in: Gerhard Göhler (Hg.): Sonderheft Leviathan 16. Institutionenwandel, Opladen 1997, 94–118. Das Reich muß uns doch bleiben! Religiöse Gedichte aus dem Weltkriege, ausgew. von Reinhold Braun, Potsdam 1917. Trutz Rendtorff: Art. Christentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band  1, hg. von Otto Brunner et. al., Stuttgart 1972, 772–814. Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 1966. Trutz Rendtorff: Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991. Trutz Rendtorff: Von der Kirchensoziologie zur Soziologie des Christentums, in: Ders.: Theorie des Christentums. Historisch-soziologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 116–139.

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Literatur

Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Band  I : Zeit und historische Erzählung, München 1988, 263–338. Peter Philipp Riedl: Transformationen der Rede. Kreativität und Rhetorik bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 2003, 79–106. Alois Riklin: Die gewaltenteilige Mischverfassung Montesquieus im ideengeschichtlichen Zusammenhang, in: Paul-Ludwig Weihnacht (Hg.): Montesquieu – 250 Jahre ‚Geist der Gesetze‘. Beiträge aus Politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik, Baden-Baden 1999, 15–29. Joachim Rückert: ‚.  .  . der Welt in der Pflicht verfallen .  .  .‘. Kleists ‚Kohlhaas‘ als moralund rechtsphilosophische Stellungnahme, in: Kleist-Jahrbuch 1988/1989, 375–403. Jörn Rüsen: Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion, in: Reinhard Kosselleck (Hg.): Theorie der Geschichte, München 1982, 14–37. Erwin Sadowski: Justus Möser als Politiker, Königsberg 1921. Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zu Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewusstsein im frühen 19. Jahrhundert, Bonn 1974. Rolf Schieder: Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987. Theodor Schieder: Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Nationalismus, Königstein/Taunus 1978, 119–137. Jürgen Schiewe: Ernst Moritz Arndt und die deutsche Sprache, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 113–120. Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen [1792], in: Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, hg. von Klaus Hammer, Geschichte des deutschen Theaters Dokumente, Berlin 1968, 445–456. Rene Schilling: Kriegshelden. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn u. a. 2002. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2003. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Rudolf Otto, Göttingen 61967. Jürgen Schlumbohm: Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß, Göttingen 1973. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Elemente von Herders Nationalkonzept, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 27–34. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 31992. Jost Schneider: Den Deutschen die Krone? Herder über den kulturellen Wettstreit der Nationen, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 217–225. Manfred Schneider: Die Welt im Ausnahmezustand. Kleists Kriegstheater, in: Kleist-Jahrbuch 2001, 104–119. Hans-Jürgen Schrader: Die Sprache Canaan, in: Geschichte des Pietismus 4, 404– 427.

Literatur

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Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 21986. Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Berlin 1989. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 21995. Helmut Sembnder: Kleists Kriegslyrik in unbekannten Fassungen, in: Ders.: In Sachen Kleist. Beiträge zur Forschung, 2. verm. Aufl., München 1984, 88–98. Christian Senkel: Klopstock und Milton – epischer Agon in konfessionaler Perspektive, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Halle/Tübingen 2008, 7–20. Christian Senkel: Gott und die Muse. Setzkasten für eine Poetik der Begnadung, in: Christian Bendrath u. a. (Hg.): Kleine Transzendenzen, Festschrift für Hermann Timm zum 65. Geburtstag, Münster 2003, 246–273. Anthony Ashley Cooper 3rd Earl of Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ***, in: Ders.: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays, hg. von Karl-Heinz Schwabe, Leipzig/Weimar 1990, 5–40. Dennis E. Showalter: The Wars of Frederick the Great, London/New York 1996. Ralf Simon: Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie, in: Otto (Hg.): Nationen und Kulturen, 77–95. Pierre Kadi Sossou: Römisch-Germanische Doppelgängerschaft. Eine ‚palimpsestuöse‘ Lektüre von Kleists Hermannsschlacht, Frankfurt/Main 2003. Reinhard Staats: Arndt als ‚Heiliger‘ des Neuprotestantismus, in: Ders.: Protestanten in der deutschen Geschichte. Geschichtsheologische Rücksichten, Leipzig 2004, 98–130. Emil Staiger: Stilwandel – Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich 1963. Thomas Stamm-Kuhlmann: Arndts Beitrag zur Definition der ‚Nation‘, in: Erhart/ Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 17–29. Wilhelm Stapel: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932. Renate Stauf: Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Tübingen 1991. Anthony Stephens: Kleist – Sprache und Gewalt, Freiburg i.Br. 1999. Johannes Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000. Klaus Tanner: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989. Klaus Tanner (Hg.): Gotteshilfe – Selbsthilfe – Staatshilfe – Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000. Johann Otto Thiess: Friedrich Gottlieb Klopstock. Wie Er seit einem halben Jahrhundert als Dichter auf die Nazion und als Schriftsteller auf die Literatur gewirkt hat, Altona: bei Johann Friedrich Hammerich 1805. Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933), in: Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland, 135–171. Hermann Timm: Geerdete Vernunft. Johann Gottfried Herder als Vordenker der Lebenswelttheologie, in: Ders.: Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996, 94–113.

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Literatur

Claus Träger: Die Herder-Legende des deutschen Historismus, Frankfurt/Main 1979. Lorie A. Vanchena: The Americanization of Ernst Moritz Arndt’s Political Poetry in the Nineteenth Century, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 209–228. Brian Vick: Arndt and German Ideas of Race. Between Kant and Social Darwinism, in: Erhart/Koch (Hg.): Ernst Moritz Arndt, 65–76. Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, Göttingen 21984. Rudolf Vierhaus: Patriotismus – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Ders. (Hg.): Wolfenbütteler Forschungen 8, München 1980, 9–29. Eric Voegelin: Die Politischen Religionen, hg. und mit einem Nachw. versehen von Peter J. Opitz, München 21996. Wilhelm Vosskamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, drei Bände, Frankfurt/Main 1985. Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte III 1849–1914, München 3 1996. Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Eine Einführung, München 2008. Hans-Ulrich Wehler: Die Puritaner. Weltbildspender des amerikanischen Nationalismus, in: Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II, hg. von Alf Christophersen und Friedemann Voigt, München 2009, 13–27. Karl H. L. Welker: Warum Möser, Göttingen 2007. Nicole Welter: Glückseligkeit und Humanität. Die Grundideen der Herderschen Bildungsphilosophie, in: Groß/Sauder (Hg.): Der frühe und der späte Herder, 65–74. Ingrid Wendorff: Herders Klopstockrezeption im Lichte seiner frühen Kunsttheorie, Hamburg 1990. Niels Werber: Kleists ‚Sendung des Dritten Reichs‘. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists ‚Hermannsschlacht‘ im Nationalsozialismus, in: Kleist-Jahrbuch 2006, 157– 170. Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden, in: Aufklärung 4 (1989), 75–103. Benno von Wiese: Herder. Grundzüge seines Weltbildes, Leipzig 1939. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000. Rainer Wisbert: Geschichte und Schule bei Johann Gottfried Herder, in: Keßler (Hg.): Johann Gottfried Herder, 353–367. Rainer Wisbert: Das Bildungsdenken des jungen Herder. Interpretation der Schrift ‚Journal meiner Reise im Jahr 1769‘, Frankfurt/Main 1987. Ernst Walter Zeeden: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, I. Band: Darstellung, Freiburg im Br. 1950. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u. a. 1995. Walther Ziesemer/Arthur Henkel (Hg.): Johann Georg Hamann. Briefwechsel, 7 Bde., Wiesbaden u. a. 1955–1979.

Literatur

299

Horst Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970. Harro Zimmer: Auf dem Altar des Vaterlands. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1971. Johann Georg Zimmermann: Vom Nationalstolze. Vierte, um die Hälfte vermehrte, und durchaus verbesserte Auflage. Zürich, bey Orell, Geßner und Compagnie. 41768. Theodore Ziolkowski: Kleists Werk im Lichte der zeitgenössischen Rechtskontroverse, in: Kleist-Jahrbuch 1987, 28–51. Thomas Zippert: Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks, Marburg 1994. Simone Zurbuchen: Republik oder Monarchie? Montesquieus Theorie der gewaltenteiligen Verfassung Englands, in: Hidalgo/Herb (Hg.): Natur des Staates, 79–97.

Namenregister Abbt, Thomas  13–16, 20 f., 23–33, 36–40, 42, 49 f., 52 ff., 56, 58, 69–74, 77, 84–88, 125, 135 f., 139, 207 f., 259, 263, 276 f. Abdiel Abbadona  109 f. Adam  108, 129 Adramelech  108 f. Alexander I., Zar von Rußland  215 Apoll  31, 208 Arendt, Hannah  68, 228, 241, 246, 271, 273, Arndt, Ernst Moritz  1, 3, 11 f., 15 ff., 32, 82, 89 f., 98 f., 137–154, 163, 169–172, 174, 179, 183, 196, 201, 203–206, 210, 215 f., 218 ff., 221–235, 235–258, 259 f., 263, 265 ff., 272 f., 277 f., 280 Augustus, Gaius Octavius  181 f., 192 f. Barth, Karl  2 Baumgarten, Alexander Gottlieb  36, 70 Benjamin, Walter  137 Blake, William  189, 218 Bodmer, Johann Jakob  101 Brandenburg, Kurfürst von  167 Breitinger, Johann Jakob  101 Brockes, Barthold Heinrich  105 Brühl, Heinrich Graf von  210 Brutus, Marcus  187 f. Büchner, Georg  43 Bonaparte, Napoleon; als Napoleon I. Kaiser von Frankreich  2, 8, 10, 15 f., 140, 142, 145, 147 ff., 161, 203 f., 209, 221–230, 236, 241, 250, 252–258, 260 f., 267 Cäsar, Gaius Julius  187 f. Calderón de la Barca, Pedro  103 Calvin, Johann  121 Cassirer, Ernst  18 Cato d. J., Marcus Porcius  188 Cervantes Saavedra, Miguel de  103 Chasôt, Ludwig August von  147 Churchill, Winston S.  14 Cicero, Marcus Tullius  27, 180, 194 Clausewitz, Carl von  194 Collin, Heinrich Joseph von  201

Cramer, Johann Andreas  95–100, 104, 169 Cromwell, Oliver  45 Dante (Alighieri)  103, 115 David, Jacques Louis  207 Dilthey, Wilhelm  18 Dörnberg, Wilhelm von  147 Donner von Richter, Otto  206 Elisa (Prophet)  204 Fichte, Johann Gottlieb  145, 193 Franklin, Benjamin  48 Franz I., Kaiser von Österreich-Ungarn 202, 222, 224 Friedrich II., König von Preußen  21, 30, 34, 37 f., 56, 72, 92, 185, 207–211, 213, 239, 256 Friedrich V., König von Dänemark  213 f. Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 209, 221, 274 Gamaliel  110 f. Gauck, Joachim  280 Gideon 162 Gleim, Johann Wilhelm  16, 207–219, 258 f., 261, 276, Gneisenau, August Graf Neidhardt von 146 f., 274 Goethe, Johann Wolfgang  18, 31, 60, 176, 195, 262, Gorbatschow, Michail S.  4 Haman 36 Hamann, Johann Georg  19, 31, 41, 65, 68, 70 ff., 100, 129 Heilmann, Johann David  36, 70 Helvetius (Schweitzer, Claude Adrien, gen.) 77 Herder, Johann Gottfried  2, 10 f., 14 f., 20, 26, 28, 32, 38, 56, 65, 68–83, 84–88, 90, 96, 98, 100, 106, 115–137, 138, 147, 152, 154, 163 f., 169 f., 173, 207, 214, 216, 229,

302

Namenregister

236, 238, 240, 243 f., 247, 263, 267, 272 f., 277 f. Herkules  119, 214 Hermann/Arminius  16, 34, 42, 85, 96, 99, 174–201, 223, 235, 258 ff., 261, 266 f., 272, 276, 278 Hirsch, Emanuel  2 Hobbes, Thomas  77 Hofer, Andreas  219 Horaz, Quintus Horatius Flaccus gen.  212 Iselin, Isaak  39, 75 Israel (Volk als Topos)  26, 111, 140 f., 197, 204, 259 Jesus von Nazaret (s.a. Christologie)  108, 110 f., 118, 228, 248, 280 Johnson, Ben  118 Josef (Stamm)  141 Joseph von Arimathäa  110 Kaiphas  108, 110 Karl, Erzherzog von Österreich-Teschen 222 Katharina II., Zarin von Rußland  78 Kleist, Heinrich von  11, 15 ff., 31, 90, 115, 138, 154–168, 169, 171, 174, 176 f., 191–201, 202 f., 205, 207, 210, 215 f., 218, 221–235, 237, 251, 258 ff., 263 f., 266 f., 272 f., 277 f., 280 Klopstock, Friedrich Gottlieb  10, 14 ff., 19 f., 56–68, 73, 82, 85–88, 90, 95 f., 99 f., 100–119, 124, 138, 154, 163 f., 169 f., 173, 175 f., 177–183, 191, 193 f., 197, 199 f., 212–218, 238, 241, 252, 258, 261, 263, 265 ff., 272 f., 277 f. Körner, Theodor  178, 205 ff., 227 Kohlhase, Hans  156, 158, 160, 163, 166 Lavater, Johann Caspar  2, 70 Lessing, Gotthold Ephraim  18, 21, 226 Locke, John  159 f. Logau, Friedrich von  16 Louis Ferdinand, Prinz von Preußen  253 Ludwig XIV., König von Frankreich  213 Luise, Königin von Preußen  193 Luther, Martin  6, 15 f., 41, 54 f., 73 f., 78, 88, 89–105, 114–172, 173, 205, 228, 234 f., 241, 244, 261, 264, 276–279 Macchiavelli, Niccolò  77 Mandeville, Bernard  77 f. Maria Theresia, Kaiserin  210 f., 214

Marius, Gaius  79 Markgraf von Baden–Durlach, Karl Friedrich  60, 101 Mars 208 Melanchthon, Philipp  90, 119, 121, 126, 160 Mendelssohn, Moses  21, 36, 54 Metternich, Klemens Wenzel Graf von  37 Milton, John  102 f., 106, 109, 115, 188 ff. Möser, Justus  10, 14 f., 20, 34, 40, 42–57, 59, 64, 70, 75, 77, 82, 85–88, 91–97, 99 f., 104, 125, 133, 169, 176 f., 181 ff., 183–191, 195, 197, 199, 202, 261, 267, 272 f., 276 ff. Mohammed 92 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de […]  22–26, 37, 48, 76 f., 92, 175 Mose  104, 140 Moser, Friedrich Carl von  14, 20 f., 31–44, 49, 52, 55 f., 77, 84 f., 87, 100, 113, 121, 135 f., 263, 276 f. Müller, Adam  193 Müntzer, Thomas  55, 162 f. Nicolai, Friedrich  21, 27, 36, 42, 44 Nietzsche, Friedrich  6, 12, 19, 91 f., 220, 244 Nikodemus  108, 110 ff. Opitz von Boberfeld, Martin  116 Orpheus 94 Ossian 175 Otto, Rudolf  268, 279 f. Paulus von Tarsus  205, 232 Pfuel, Ernst von  193 Philo  110 ff. Platon 122 Plessner, Helmuth  6 Pseudo-Longinus 101 Quintilian, Marcus Fabius  72, 95, 111 Rade, Martin  9, 279 Rambach, Johann Jakob  95 f. Renan, Ernest  215 Rousseau, Jean-Jacques  44, 53, 69, 75, 121, 125, 133, 197 Sachsen, Kurfürst von  157, 161, 167 Satan  28, 31, 109, 171, 189 f., 225, 230, 241 Schill, Ferdinand von  147 Schiller, Friedrich  18, 176, 195, 197 Schlegel, Friedrich  222 Schlegel, Johann Elias  178, 194

Namenregister Schleiermacher, Friedrich  3, 17, 112, 138, 193, 250 Schmitt, Carl  1, 173, 198 Seianus, Lucius Aelius  36 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of  27 Shakespeare, William  11, 103, 187, 197 Sokrates 254 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum  37, 236 f. Stöckel, Christian Gottlob  105 Swift, Jonathan  95 Tacitus, Publius Cornelius  176 f., 181 Troeltsch, Ernst  5, 9, 165

303

Varus, Publius Quintilius  96, 175, 179 f., 184, 191 f., 194 f., 199 Veit-Schlegel, Dorothea  222 Voegelin, Eric  17, 264, 266–271 Voltaire (Arouet, François-Marie)  62, 66, 91–95, 97, 100, 104, 169 Weber, Max  5, 268 Wolff, Christian  64, 103, 107 Zimmermann, Johann Georg  21–27, 30, 33, 37, 49, 62, 75, 77 Zwingli, Ulrich  121

Sachregister Ästhetik/ästhetisch  11 f., 14, 17, 27, 46, 48, 56, 60, 63, 69, 74, 83, 96, 117 f., 129 f., 136, 175, 178, 201, 207, 221, 264, 272 Affekte (s.a. Poetik, Rhetorik, Topik), Bedeutung für Patriotismus im Allgemeinen  12 f., 16, 25, 30, 32, 49, 55 f., 58, 112 ff., 118, 142, 145 ff., 154, 163 ff., 170, 174, 185, 196, 201, 207, 212, 218, 220, 223, 231, 235, 238, 241 f., 243, 247, 249, 257 f., Steuerung der Affekte  14, 25 f., 27 f., 30, 36, 38 ff., 46, 51, 58, 62 f., 65–68, 94, 107 ff., 111 f., 142, 145 ff., 165 ff., 170 f., 174, 176, 179, 185, 188, 196, 200, 202 f., 205 ff., 220, 223 ff., 231, 233, 241 f., 249, 258, 263, 271–274, 276, Distanzierung von Affekten 15, 46, 49, 55 f., 79, 85, 88, 159, 163 ff., 170, 181, 196, 216, Überlastung durch Affekte  15, 118, 163 f., 188, 205 ff., 257, 265 f., vermögenspsychologisch 73, 118, 134 f., Altes Reich  6, 20, 311–36, 38, 40, 42–45, 53, 61, 100, 128, 137, 140, 149, 158, 162, 168, 219, 221 f., 223 f., 229, 249, 260, 276 ff. Amt, geistliches  24, 155, 158–164, 171, Fürst 190, 213 f., 231, Beamte  51, 84, 101, hohepriesterlich 107 f., 112, ‚Wächteramt‘ 279 f. Antisemitismus 174 Aufklärung  24, 31 f., 40, 72, 87, 90–100, 119 ff., 128 ff., 133 f., 164, 171, 184, 187, 189, 211, 213, 221 f., 244, 257, 264, 269 Avantgarde  14, 20, 58 f., 61 f., 65–68, 85, 161, 167, 263 barbarisch  4, 81, 91 f., 94, 98, 120 f., 145, 177, 191 f., 194, 199, 212, 228, 233 Bildung  19 f., 40, 47, 50, 56, 61, 68, 72 f., 80, 82, 90 f., 100, 103 f., 108, 117–133, 151 f., 169, 171, 230 ff., 237, 239, 243 ff., 249, 254 Bundeslade  26, 73, 276 christentumstheoretisch/-geschichtlich 11, 19 f., 29, 35, 41, 45–56, 68 f., 77 f., 84 f., 87,

93, 101 f., 107, 128, 132 f., 142, 145, 151, 153 f., 162, 168, 171, 174, 198–201, 204, 211 f., 220 ff., 232–236, 242–247, 249 ff., 254–258, 260, 265 f., 266 f., 270, 274 ff., 278 (s.a. Konfessionalität: Nationalisierung des Christentums/Konfessionalisierung der Nation) Christus/Christologie (s.a. Messianismus) 25, 28, 30, 36 f., 77 f., 84, 107–110, 112–115, 117  f., 140, 143 f., 148 f., 206 f., 211, 234, 246, 248, 252 ff., 268, Jesus 39, 108, 110 f., 222, 228, 248, 280 Dekonstruktion  15, 154 f., 158, 161, 163–166, 169, 277 Deskriptivität  3, 20, 123 f., 263, 269 ff., 273 Diktatur  8, 62, 162, 217, 256 Einheit, nationale,  1, 13, 15, 20, 29, 33 f., 37, 39 f., 43 ff., 47 f., 70, 83 f., 89 f., 93, 98 ff., 106, 113, 116, 118, 129, 132, 140, 142, 149 f., 154, 167 f., 173, 176, 181 f., 205, 215, 217 f., 226 f., 229 f., 234 ff., 265, 273 f., 276, Einigung 7, 29–31, 41 f., 54 f., 56–59, 67, 82, 86 f., 90, 101, 118, 139 f., 145 f., 149 ff., 154 f., 168, 174, 178, 184 f., 191–198, 208 ff., 220, 233, 245 f., 249, 251, 261, 273 f., 276 f., der Freiheit übergeordnet 25, 32, 38–42, 44, 93, 98 ff., 146 f., 148 ff., 153 f., 169, 184, 268–271, 276, innere Einheit/Eintracht 25 f., 28 f., 36–40, 84 f., 113, 141 f., 145–150, 151, 153 f., 158–163, 170 f., 179, 228, 231 f., 248, 261, 268 Ekklesiologie, kontextualisiert in Patriotismus und Nationsbildung  39, 40 ff., 53 ff., 74, 78, 104, 112 f., 116, 151, 169 f., 210, 220 f., 223, 238, 248 f., 251, 276, Kirche als Sozialverband 38–42, 45–50, 112 f., 238, 249, 252, 268–271, kritische Instanz gegenüber der Immanenz des Politischen 45 f., 54, 93 f., 270, Kirchenkritik 54, 90, 92, 155, 244, 275

Sachregister Emanzipation (s.a. Freiheit), emanzipativer Patriotismus  2, 6, 7, 12, 24 f., 29 f., 45–48, 53 ff., 61 f., 77, 142, 151, 182, 214 f., 218, 227, 246, 248, 261, 265, 276, von konfessionellen Bindekräften 14, 23–26, 45–50, 72 ff., 77 f., 248 Epistemik  45–53, 63 ff., 120, 125, 135, 271 ff. Ereignis  69, 192, 237, 239, Ereignisge­ schichte  11, 48, 89 ff., 129, 135, 140, 155, 168 f., 203, 235, 243, Sprachereignis 89, 115 f., 119, 139, 155, 164, 168 f. Erlebnis, hermeneutisch  18, 116, 120, 176, 239, ‚Fronterlebnis‘ 31, 202, 206 f. Erinnerung, Erinnerungskultur  15, 70, 74, 141 f., 248, Erinnerungspolitik 2, 4, 141, 231 f., Luthererinnerung 15 f., 264, 277, Reformationserinnerung 120, 215, deuteronomisch  140 f., 248 Ethik/ethisch/Moral/moralisch  34, 39 f., 53, 55, 73, 77, 92, 108 f., 110 f., 117 f., 123, 132 f., 140 f., 144 ff., 153 ff., 157 f., 160, 165–168, 176, 183, 194, 196, 200, 202 f., 208, 211 f., 222, 225, 227–230, 232, 238, 241, 246, 265, 269, 272, 275 f., politische Ethik 17, 35 f., 40 f., 51–56, 65–68, 93, 108 f., 132, 150, 153 f., 162, 164 ff., 168, 189, 194, 217 f., 241 f., 222–228, 230-235, 247, 260, 270, 272, 278, Moralistik als Genre  20 f., 35, 46, 133 Feindbegriff/-markierung (s.a. sakral)  1, 8, 57, 86, 92, 110 f., 145 f., 148, 157 f., 162, 173 f., 180 f., 185, 191, 195–198, 200, 203, 205 f., 210 f., 218 ff., 221, 224 f., 230, 232 f., 242, 247, 250 f., 253–258, 259 f., 268, 273 Fiktionalität (s.a. Phantasie, Institutionalität)  14 f., 20, 31, 46 f., 55, 58 f., 60, 63, 68, 107 f., 120 f., 161, 164, 168, 259, Macht der Fiktionalität 13, 271–274 Fraternalismus/Brüderlichkeit  113, 132, 170, 226 ff., 231, 233 f., 275, 277, 279 Freiheit (s.a. Emanzipation)  1, 4, 13, 15, 20, 29 ff., 35 f., 42, 45–48, 51, 53 f., 59 f., 70, 72, 78, 83, 86 f., 89, 91, 99 f., 104, 112 f., 120 f., 137, 141 f., 144 ff., 153, 162, 168, 173 f., 176, 208, 218, 223, 229 f., 234, 245 f., 248, 250 f., 265, 273 f., 276, konstitutionell 8, 22 f., 24, 33 ff., 44 f., 53 ff., 61 f., 66 f., 75–77, 79, 112 f., 123–126, 145 f., 149 f., 167, 177, 204 f., 212–218, 233, 241 f., 276, äußere Befreiung der Nation 4, 96, 138 ff., 149 f., 154, 170, 180–183, 184 f., 191 f., 195 f., 200 f., 211, 223, 227, 246, 250 f., 261, 277,

305

Freiheit aller bzw. anderer Nationen 14, 42–45, 56 ff., 61 f., 79–83, 86, 96 f., 104, 205, 212 f., 214 f., 216 f., 245, 249, 252, 255 f., 259, Freiheit der Einheit übergeordnet 22 f., 34, 42, 44 f., 58, 82, 87, 98 f., 104, 113, 140, 205, 212–218, 231 f., 245, bürgerliche Freiheiten 7, 21 ff., 27 ff., 33, 42, 44 f., 48 ff., 53, 56, 58, 61 f., 66 f., 75–77, 79, 84, 89, 97 ff., 113, 137, 142–147, 149, 162, 165 ff., 169 f., 174, 204 f., 213 ff., 245 f., 249, 252, 256, 259, 265, 268–271, 276, Freiheitsgeschichte  10, 14, 46 ff., 53–56, 64, 82, 85 f., 93, 98 f., 104, 164 f., 171, 214–218, 242–247, 267, 278 ff., ekklesiogen 40 ff., 48–53, 59, 75–79, 116, 120–126, 158, 169 f., 223 f., 228–232, 246 f., 249, 276, Befreiungstheologie  90, 112 f., 142–150, 155, 162, 169, 212–218, 242–253, 261, 276 Gebrauchsliteratur  12, 147, 176 Genealogie, als Verfahren  12, 17, 84, 260, 263, 278 f. Genre/Gattung  16, 26, 46, 60, 71, 76, 78, 85, 95, 119 f., 174, 182, 191, 201, 221 f., 228 f., 235, 245, 259 germanoman (wie: gräkoman)  14, 69, 98 f., 103, 140 f., 175, 177 ff., 183, 198, 200–203, 247 ff., 251 Geschichte (s.a. Freiheit: Freiheitsgeschichte, Literatur: Literaturgeschichte), Geschichtsinszenierung in Medien  4, 59, 63 ff., 67, 96 ff., 104, 126–137, 139–142, 151 ff., 176 f., 191, 203 ff., 210, 214 f., 218 f., 228 ff., 233 ff., 242–247, 249, 251, 253, 257, 260, Geschichtsdeutung 14, 20, 39, 42, 45 f., 48, 55 f., 62, 68 f., 75, 85, 99 f., 104, 121–137, 162 f., 174, 210, 212 ff., 216, 236–247, 253, 256 f., 260, 270, 272, 278 f., Geschichtsphilosophie  54 f., 68, 83, 115 f., 124, 127 ff., 170, 236–242, 256, 267, 271 f., Geschichtstheologie  15, 40, 51, 53, 69, 90, 119, 129 f., 133–137, 139–143, 150, 170, 229, 242–247, 250–255, 257, 277, Metahistorie  15, 20, 45 f., 46–48, 59, 62–65, 73, 130–133, 169 f., 229, 253, 267, 270, 273 f., historia sacra/auch: Heilsgeschichte  40, 72 ff., 141, 171, 210, 218, 225 f., 233 f., 265, 275 Gnade  110, 112, 114 f., 166 f., 169, 225 Gottebenbildlichkeit/Imago  142–146, 205, 215, 241, 259 Gottesbild, militantes  3, 23–31, 71 f., 144, 146–150, 157 f., 165, 171, 181 f., 187, 189,

306

Sachregister

193, 199 ff., 203–207, 209–212, 217–221, 223 f., 226 ff., 230 ff., 235, 241, 248, 250–259, 265, 278 gottlos  245, 265 f. gottverlassen  263, 268 Historikerstreit 4 Humanismus/Humanität  58, 63 ff., 66 f., 90, 112, 119, 121, 125, 128, 135, 171, 176, 213, 240. 245, 252, 259, 273, 277 Ideengeschichte  13, 72 f., 273 f. Ideologie  7, 83 f., 97, 144, 149, 153, 186, 190, 198, 235 f., 251 f., 260 f., Ideologiekritik 9, 128, 190, 200, 236, 264, 268, 274, spätmoderne Orthodoxien der Ideologiekritik 17 Institutionalität, antizipative (s.a. Fiktionalität)  5, 14, 19 f., 25, 29–31, 39–42, 44 f., 47 f., 53–56, 56–62, 65–68, 70, 72, 74–79, 82 f., 85, 90, 103, 120 f., 123 ff., 132, 138, 140 f., 146, 153, 168, 176, 186, 201, 203 ff., 209, 214 f., 217 f., 222–225, 228–235, 245 f., 247–252, 260, 265, 267, 272, 276 Integration, der Nation (s.a. Sakralität)  1, 7, 12, 16, 23, 29–32, 37–42, 44, 65, 77 f., 82, 84, 112 f., 116–119, 140 ff., 151 f., 173, 191, 205, 207, 211, 215, 218, 230 f., 233, 237, 246 f., 249, 252 f., 258 f., 265, 267, exklusivistisch 8, 32, 34, 57, 61 f., 65 ff., 92, 109–113, 137, 170, 173 f., 177, 184 f., 194 f., 197, 199, 203, 218, 224 f., 230, 248, 255, 259 ff., 265, 267, Integrationsfiguren 15, 23–29, 35 f., 42 ff., 55, 72, 90, 95, 99 f., 113, 133 ff., 150 ff., 154 f., 163, 167 f., 171, 176, 184, 188, 190, 276, inklusive Sicht auf andere Nationen/Nationalkulturen 65 f., 69, 79–83, 119, 126–137, 140, 259, 265, 267 Interpretation als Verfahren  10, 12 f., 17, 174 f., 201, 221, 247, 262 ff. Israel (als Topos)  26, 111, 140 ff., 197, 204, 259 Jargon der Uneigentlichkeit alles Christ­ lichen 266 Journalismus  15 f., 61, 115, 119–127, 138, 176, 236 ff., 240 Kaisertum  7, 33, 37 f., 43, 47, 55, 57, 89, 95, 148, 177, 182, 202, 211, 213, 222, 224 f., 228, 249, 252, 256, 276 Kanon, kultureller  18, 70, 79, 101 f., 104, 118, 152, 238, 271 f.

Katastrophengeschichtsschreibung  2 f., 279 Königsherrschaft bzw. Reich Gottes 3, 54, 107 f., 149, 206, 246 f. Konfessionalität (s.a. Sakralisierung: konfessioneller Kontext eines Sakralitätsverständnisses, Selbstthematisierung, Zirkulationen konfessioneller Semantik), historische Konfessionen  6 f., 36, 38, 40 f., 45 f., 50 f., 54 f., 77, 85, 89, 99 f., 141, 150 f., 156 f., 244, 277, Verifizierbarkeit 13, 25, 38–42, 48–53 ff., 99 f., 130, 133 ff., 173, 175, 193, 217 f., 219 ff., 233 ff., 238, 266, 270, 273 f. Konfessionalisierung der Nation 15, 86, 119, 139–147, 174, 203 f., 207, 210 f., 215–219, 226, 232 ff., 235–258, 260 ff., 267, 270, 274, Nationalisierung von Konfessionalität 40, 55, 78, 86, 120 f., 138, 147–150, 168 ff., 174, 199 f., 204 f., 207 f., 220 f., 227 f., 230, 232 ff., 242, 258 f., 265, 267, Politisierung von Konfessionalität 7, 38–42, 53–56, 78, 92 f., 120 f., 158–163, 166 f., 182, 187, 193, 205, 241, 247–253, 263, Nationalisierung des Christentums 142–147, 150–154, 174, 220 f., 235 f., 242–253, 257 f., 260, 266, 270, 274, Wiederentdeckung von Konfessionalität 166 f., 228, 233 ff., 240 f., 260, 269 Konfessionskultur  6, 32, 48, 50, 55, 59, 78, 87 f., 89, 105, 119, 150, 166 f., 169, 171, 233 f., 260, 267, 278 Konstruktivismus  4, 22, 83 f., 87, 173, 215, 273, diskurstheoretisch 263 f., 270, 274 Kontrafaktur  205, 246, 258 kosmopolitisch  7, 10, 69, 71, 77, 106, 112 f., 175 f., 246, 260 f. Krieg  16, 23, 29–31, 32, 53, 56, 76 f., 90, 138, 174 f., 181, 185, 189, 192, 197 f., 200, 202, 206 f., 208 ff., 215, 220, 224, 226 f., 229, 234 ff., 237, 246, 249, 251 f., 254, 258–261, 267, 277 ff., Auffassungen vom Krieg 34, 36, 142–147, 174 f., 176 f., 180 f., 184 f., 191, 193 f., 198, 207, 211 f., 216–219, 228, 232 f., 247–253, 261 f., ‚Federkrieg‘ 123, totaler Krieg 194, 196, 202, 217, 224, 226 ff., 250–258, 260 Kultur, theoretisch  5, 64, 80, 89, 91, 94, 105, 116–119, 119–130, 168, 171, 173, 216 ff., 226, 236 f., 244, 247, 263, 265, 271, 274 f., 277 ff., kulturelle Lebensbedingungen 23, 40, 44, 48, 55, 59 ff., 63, 67, 91 f., 100, 113, 118–130, 173, 197, 215, 218, 220, 224, 235 f., 244, kultureller Patriotismus 20, 30, 44, 57 f., 67, 69 f., 83, 86, 91, 99 f.,

Sachregister 102 ff., 105, 112 f., 115, 137, 151 f., 169, 179, 214 f., 220, 233, 237, 242, 250, 258, 277 Kulturgeschichte  20, 69 f., 86, 130, 134, 263, 267 Kulturpolitik  56 ff., 65–68, 72 ff., 81 ff., 102, 115, 126 f., 130–137, 164 f., 168 f., 217 f., 237 f. Kulturtheologie  10, 20, 29–83, 105–109, 112 f., 130–137, 141 f., 171, 212–218, 242–247, 271–274, 279 Kunst  18, 56, 67, 70, 87, 115, 176, 190, 213, 226, 236 Liberale Theologie  9, 279 f. Lieddichtung (s.a. Lyrik)  15, 95, 99, 147 f., 150, 175, 178, 183, 206 f., 211 f., 213, 219 f., 235, 246, 261, 276 f. Ligaturen  7, 11 ff., 15 f., 32, 55, 86, 168, 171, 261 Literatur (s.a. Poesie, Selbstthematisierung, Sprache, Text), Mehrdeutigkeit patriotischer Literatur als Rezeptionsbedingung 2, 31, 68, 71, 82 f., 90, 123, 155, 158 ff., 164, 166 ff., 173, 258, 267, 272, Literaten als patriotischer Faktor 13, 16, 19 f., 30 f., 46, 56, 59, 69 f., 72, 74, 79 f., 85, 92, 99 f., 100–104, 115 f., 118 f., 121, 124, 137, 139, 142, 145 ff., 154 f., 168, 170 f., 212, 260, 262 f., 265, 273, 275, literarische Ästhetik 14, 47 f., 58 f., 69–74, 78–83, 100–107, 114 f., 116–119, 139, 175, 177, 183, 191 f., 201, 221, 225, 272, Literaturgeschichte 79–83, 86, 101, 116, 173, 201, 221, 269, Widerborstigkeit der Quellen 17, 235, 242, Nationalliteratur 18 ff., 31 f., 47, 56, 60, 69 f., 74, 79–83, 86, 95, 99 f., 101 f., 116–119, 125, 169, 175, 183, 212, Selbstentwürfe 20 f., 23 f., 30 f., 35 f., 38 ff., 54, 56 ff., 67 f., 69–74, 79 f., 85, 89 ff., 100–104, 114, 119–126, 126–130, 133–138, 139, 150–154, 154 f., 166 ff., 170 f., 173 f., 200, 203, 205 ff., 212, 242, 267, 273, 276, 278 f. Lutherdeutsch (s.a. Sprache)  15, 88, 139, 141 f., 152, 205, 264, 279, Lutherbibel 100, 118, 138 f., 141, 146 f., 158 f., 164, 169, Imitation 139–142, 147–150, 170, 228, 235, 277 Lyrik (s.a. Lieddichtung)  95, 103, 114, 138, 174, 176, 201–221, 235, 258, 261, Kriegslyrik 16, 174, 201 ff., 205 ff., 212, 218 f., 221, 261, 267, 277 Martyrium  29–31, 35 f., 43, 72, 84, 178, 206, 252, 275, 277

307

Medialität, als Bedingung von Nationalismus (s.a. Literatur)  5, 16, 80, 82 f., 120 Mentalitätengeschichte  5, 13 Messianismus (s.a. Christologie)  23–26, 31, 36, 38, 73, 86, 208, 213 f., 254, 259, 276 Metaphysik 64, 123, 246, des Nationalen  9 Militärkatechismus  15 f., 138 f., 141 f., 174, 221–235, 258 Militanz  3, 23–26, 83, 142–147, 173 f., 176, 178, 184, 200, 202, 205 f., 221–235, 261, 276, als Funktion von Egalitarismus 29-31, 142-147, 169, 227 f., 232, biblisch 23–26, 203–212, 226 f., 232 ff., 259, auf Kosten von Bürgerfreiheit 36–38, 53, 224 f., 235, 268–271 Moderne, Christentum in der  3, 17, 90, 106, 150–154, 245, 265, 268–271, Ambivalenzen der Moderne 138, 151 f., 163, 183, 221, 225, 258, 265, 273, Modernisierungsprozesse 6, 11, 24, 58, 66, 75 f., 78, 89, 91, 101 f., 150–154, 218, 245, 258, 261 f., 264, 271, 275 Monarchie, als patriotischer Gegenstand 13, 20,22, 23–26, 29–31, 32–36, 38, 54 f., 61, 72, 77 f., 86, 105, 108, 145, 208, 211, 214, 219, 249, 276 Nation (s. andere Stichworte), theoretische Verständigung über die Nation  15, 21 ff., 24, 47 f., 56, 59, 69 ff., 74, 79–83, 85–88, 91–95, 99 f., 118, 122 f., 125 f., 127–130, 133–137, 151 ff., 162–165, 169 ff., 173, 266–274, 276, politisches Verständnis der Nation 4–7, 9, 15, 20 ff., 24, 30, 33 ff., 36 ff., 39 f., 44–48, 53 ff., 56–63, 65 ff., 70 ff., 75 f., 79–83, 85 ff., 92, 96 ff., 99 f., 104, 112 f., 132, 137 f., 140 ff., 145 f., 148 ff., 158–163, 165 ff., 168 ff., 173, 183–190, 191, 198 ff., 205, 209, 212–218, 223, 227, 228 ff., 242–247, 258–262, 265 ff., 269 ff., 272 ff., 275 f., (Un)Wählbarkeit 23–26, 35 f., 49 f., 61–63, 79 ff., 99 f., 102 ff., 120 ff., 137, 140 ff., 144 ff., 149 f., 169 f., 207, 213, 215, 261, 265, (Un)Greifbarkeit 21 ff., 25 f., 29 ff., 33, 35 f., 39 ff., 43, 45, 49 f., 53, 56, 58 f., 61–65, 69, 71–74, 80, 82 f., 90, 94 f., 98 ff., 103 f., 112 f., 118, 120, 123 ff., 127 f., 132 f., 135 ff., 139, 146 f., 149 f., 163 ff., 168, 171 f., 176, 202 f., 207, 209, 213, 218–221, 223–229, 233 f., 236, 239 f., 242, 244 f., 249, 265 f., Dezisionismus 32, 201, 207, 222–231, 234, 265, Alter einer Nation 22, 61 f., 73 f., 127 f., 204

308

Sachregister

nation building (auch: Nationsbildung)  4, 20 f., 32 f., 39, 42, 45–48, 53–56, 56 ff., 63, 66, 68, 79–83, 85 ff., 89 f., 106, 112–119, 120, 123–126, 132 f., 136 ff., 141 f., 145 f., 150, 163 ff., 168–171, 173 f., 176–179, 185 f., 188, 190 f., 198 f., 203, 209, 212, 217–220, 223 f., 226–230, 232–236, 242–247, 249 ff., 255 f., 258–262, 265 ff., 274 ff. Nation der Frommen  59, 112 f., 139–142, 144 ff., 149 f., 169, 230–235, 252, 260, 266, 274–280 Nationalcharakterdebatte  21, 24, 34 f., 37 f., 42–48, 57, 68, 72, 81, 86, 91, 96, 125, 127 f., 133, 136, 169, 175, 220 Nationalkultur  1, 18, 20 f., 23, 40, 44 f., 56–62, 67 f., 69 f., 86, 89, 91 f., 120, 126 f., 130, 134 f., 171, 173, 256, Sprache und Bestimmung der Nationalkultur 15, 20, 65–68, 72, 74, 79–83, 86, 102 ff., 106, 112 f., 116–119, 169 ff., 176 f., 179, 182 f., 200 f., 215, 217–221, 229 f., 236 ff., 239 ff., 255 f., 271–274 Nationalprotestantismus  8, 149, 204, 260 Nationalsozialismus  7, 193, 225, 261 Neokonfessionalismus  7, 11, 16, 171, 174, 218 f., 221, 235–258, 262 f., 267, 274–278 Normativität,  18, 40, 81, 114, 138, 171, 268–271, 273 f. Öffentlichkeit  18, 43, 52, 66, 68, 91, 119, 137, 161, 236 f., 274 f., fehlende  14, 24, 58 f., 74–79, 86 f., 91 f., 236, 272 f. Orthodoxie  53, 72, 85, 89, 136, 143, 226 Parlament  45, 47, 58 f., 61 f., 276 Partikularismus  34, 37, 41, 84, 98, 106, 113, 141, 146, 148 ff., 158, 169, 184, 186, 191, 195, 197, 228, 230 f. Phantasie (s.a. Fiktionalität)  27, 46, 48–52, 84, 122, 271–275, patriotisches Phantasma 26–31, 42, 49 f., 52 f., 70, 74, 83 f., 168, 175, 183, 190, 260 f., 263, 276, Einbildungskraft 87, 114 f., 117, 122 f., 134, 136, 240, Imaginationen 119–125, 138, 145, 162 f., 168, 170–172, 173, 175, 191, 203, 205, 213, 215, 218 ff., 235, 238, 246, 251, 258, 263, 272, 275 Pietismus  20, 26–31, 33, 38 f., 51, 85, 107 f., 136 Poesie/Poetik (s.a. Text, Literatur)  18, 39, 91, 100 ff., 103, 107, 109 f., 114, 117 f., 122, 175, 177, 183, 212 f., 215, 263, 272, 274,

‚heilige Poesie‘ 59, 85, 105 ff., 114 f., 169 f., Poetologie 46 f., 59–61, 64 f., 67, 80, 82, 85, 101, 106–110, 113–117, 118, 123, 133–137, 156, 164, 170, 173, 176 f., 183, 191, 195, 198–201, 212–218, 222–225, 238 ff., 262, Dichtertheologie  10, 15, 276 Politik (s.a. Nation: politisches Verständnis; Kultur: Kulturpolitik), politische Publizistik  19–21, 24, 32, 38 ff., 42 ff., 46, 56 ff., 65, 68 f., 75–78, 84 f., 87, 118 f., 121 f., 138, 168–172, 188 ff., 192–195, 200 f., 212–218, 221 f., 228–235, 241 f., 260 ff., 263–266, 272 ff., 276 f., entpolitisierende Rezeption als Verfahren 71 f., 74, 99 f., 142, 150–154, 168, 171, 174–177, 200 f., 277, Immanenz des Politischen 24 f., 27 ff., 30, 41 f., 67 f., 70, 242–247, 251–258, 260, 268–271, 275, Liturgisierung des Politischen 65–68, 205, 261, 268 ff., Gewalt als Politikersatz 20, 29 ff., 34, 39 ff., 43 f., 69–74, 77 ff., 105, 111 ff., 148, 158, 186, 191, 193, 198, 205, 221, 222–225, 245, 247, 268, 273, 278 Politische Religion (s.a. Religion), indirekt thematisch  17, 19, 21 ff., 28 f., 30 f., 33, 35 f., 40 ff., 95–99, 132, 142–150, 162–168, 221 f., 249, 256 ff., 264, 267–271 Politische Theologie  142–147, 175, 258 postkolonialer Diskurs  84, 192, 194, 200, 245, 259 Prophetie, prophetisch  15, 51, 98, 139–142, 144 f., 150, 204, 211, propheta Germaniae 89 f., 96, 102, 104 f., 137 f., 141, 146, 150 f., 153 f., 159, 164 f., 169, 171 Protestantismus  7, 11, 17, 24, 32, 36, 41, 50, 53, 89, 92 f., 99, 119 ff., 167, 169, 175, 210, 238, 243 f., 249, 260 ff., 263, 266, 278 ff. Providenz/Vorsehung  52, 56, 130, 132, 135 f., 140, 170, 205, 226, 229, 234, 251, 255 Rechtswillkür  43 f., 47 f., 109–112, 139–142, 144–146, 148 f., 156–168, 169, 180 ff., 184 ff., 188 ff., 191–201, 205, 211, 214–218, 222–225, 232 f., 250 ff., 255, 268 f. Reform/Reformation  6, 9, 15, 37 f., 40 f., 55, 74 f., 89 ff., 92–95, 97, 99 f., 103 f., 116, 119–126, 128 ff., 134, 141, 151 ff., 159, 161, 163–166, 168 f., 171, 191, 202, 221, 236, 244, 260, 276, Reformationsfolgen 93, 98 f., 104, 119, 134, 153 f., 165 f., 167–172, 212–218, 242–247, 249

Sachregister Reichspatriotismus  20, 32, 34 ff., 41, 59, 84, 219 Relektüre, als Verfahren  12, 236, 260, 263, 278 Religion (s.a. Politische Religion, Zivilreligion), Substitution der Religion  9, 20, 26–31, 114, 122 f., 132, 151, 168 f., 173, 218, 221 f., 233, 235, 242, 265 f., historisch 116, 119, 132, 156, 159–162, 199, 236–247, 266–271, Religionsbegriff theologisch und poetologisch 10, 12, 18 f., 42, 50 f., 53 f., 60, 93, 97 f., 104, 107, 111 f., 117, 119, 170, 174, 178 f., 212–218, 262, 265, 268, 271, Funktionen in der Nationsbildung 10, 20, 22, 24, 28, 30 f., 35, 38, 41, 50 f., 53 f., 60, 72 f., 76 ff., 85 ff., 101, 112–115, 124 ff., 151, 212–218, 233, 259, 263–271, 274–278, ‚Nationalisierung von Religion‘ terminologisch inadäquat 11, 77 f., 85 f., 168 f., 173, 242, 265 ff., ‚Patriotismus für die Religion‘ (Herder über Klopstock) 92 f., 170 Renaissance  6, 92, 128, 151 f., 213, 244 Republik  13, 21–26, 33, 49, 56, 58 f., 61–65, 75 ff., 103, 124, 126, 212–221, 277–280,republikanische Avantgarde 14, 58 f., 61 f., 65–68, 124, 131, 151 f., 214 f., Liberale Theologen als Republikaner 9 Revolution  7, 13, 45, 48, 55 f., 89, 100–104, 113, 115, 134, 145, 152 f., 161 ff., 165, 167 ff., 171, 174, 191, 209, 215 f., 218, 228, 243, 245, 250, 261, 265, 273, Doppelrevolution 6, 104, 227, 275 f., Weltrevolutionen 152, 238 f., 243, konservative Revolution 8 f., 162 f., Revolte 163, 169, 189 Rezeption, hermeneutisch  13 f., 32, 60, 73, 78, 91 f., 94, 105, 109, 114, 117, 126, 138, 144, 148, 153, 163 ff., 201, 220 f., 260, 275 Rhetorik (s.a. Affekte, Poetik, Topik)  11 ff., 15, 18 f., 24, 26–29, 38 f., 42, 57 f., 60, 62–65, 67, 72 ff., 84, 86 f., 94 ff., 101, 107, 115, 117 f., 120, 130–133, 137, 139, 150, 161, 168, 170, 173, 176, 181 f., 193, 209 f., 212, 213, 217, 224, 226, 230, 240, 242, 247 f., 255–259, 264, 271–274 f., rhetorische Manipulation 111, 185, 189, 198 ff., 200, 228, 242, 247, 263, 266, 271 ff., (nicht) rhetorische Geschichtsschreibung 46 f., 81, 130, 132 f., 150, 229, 234, 243 f., 253 Säkularisierung, Säkularisation  55, 94, 158, von Religion 10, 86, 158, 169, 173, 218 f., 235 f., 255, 263, 265–271, ‚Säkularisate‘

309

10, 32 f., 84, 87, 266, als Textverfahren 30 f., 42–45, 71–74, 85, 248, 258 f., Entchristlichung 173, 221 f., 235 f., 255, 259 f., 275 sakral/kultisch (s.a. Feindbegriff), Sakralisierung der Nation  7, 10, 20, 26, 86 f., 113, 188, 218 f., 235, 248, 260, 263, 266–271, konfessionelle Kontexte von Sakralität 10, 25 f., 29 ff., 35 f., 40, 52 f., 72 ff., 86, 93, 103, 106, 109–112, 174 f., 182, 197 f., 199 ff., 230, 243 ff., 258, 265 ff., 275 f., Sakralisierung als Textverfahren 12, 30 f., 38 ff., 72 ff., 108 f., 176 f., 189, 194–198, 233 ff., 258 ff., 265 f., Inklusionen und Exklusionen 23–26, 28 f., 30 f., 36–40, 57, 65–68, 77 f., 81 f., 109–113, 162, 174, 194 f., 217, 265, 267, 276, Sakralität des Staates 31, 36, 268–271, sakrales Territorium 31, 146, 176 f., 182, 213, 265, sakrale Gewalt 93, 105, 110–113, 177 ff., 181, 189, 191, 193 f., 203, 205, 210, 217 ff., 221, 224 f., 268, 273, 276, ethisch 53, 65–68, 111–113, 179, 189 f., 211, 217, 269, ‚heilige Poesie‘ 59, 85, 90, 100, 106, 114 f., 117 f., sakrale Verfassung/Ordnung 31 ff., 54, 179 f., 191, 193 f., 197 f., 243 ff., 265 f., 276, Profanation 111, 180, 193 f., 198 f., 203, 205, 210, 218, 237 f., 244 ‚Sattelzeit‘  11, 18, 89 Schöpfer/Schöpfung/schöpferisch  34, 50, 53 f., 80, 97, 108, 129 f., 133–137, 143, 170, 204, 209, 213, 215–218, 239–242, 249, 254, 275 Selbstthematisierung (s.a. Literatur),  5, 9–11, 20 f., 23 f., 35 f., 38 ff., 54, 56 ff., 67 f., 69–74, 79–83, 85, 89 f., 99 f., 100–104, 114 f., 119–130, 133–138, 140 ff., 146, 150–154, 166–171, 173, 198–201, 203–207, 209–212, 213 f., 217 f., 219 f., 226 ff., 230, 233 ff., 242–253, 260, 262 f., 267, 273, 276 Siebenjähriger Krieg  14, 21, 56, 174, 207–212, 267, 278 Soteriologie  83, 107–112, 114 f., 145–150, 177, 188, 190, 202, 234 f., 246, 247–258, 259, 263, 268, 276 Soziologie/soziologisch  48–53, 55, 87, 93, 128, 253, 258, 260, 276, Sozialgeschichte 13, 75 Sprache (s.a. Lutherdeutsch, Nationalliteratur), zur Bestimmung der Nation  15, 19 f., 37, 39, 47 f., 58–61, 63 ff., 70 f., 73 f., 79–83, 88, 90, 92, 95, 100, 102 ff., 112–115 f., 125, 132, 137 f., 155, 169 f.,

310

Sachregister

176 f., 179, 202, 217–220, 228 ff., 236 f., 240 ff., 272, 277, Homogenisierung und Diversität 33, 48 ff., 58–61, 63 ff., 70 f., 79–83, 89, 93 ff., 100, 103, 106–109, 118, 125, 128–133, 142, 169 f., 176 f., 202, 255 f., 277, Muttersprache 47 f., 65–68, 73 f., 88 ff., 98 f., 102 f., 116, 161, 168, 200, 230, 264, 277, als Handeln 67 f., 79 f., 90, 93 ff., 100–104, 114 f., 118 f., 137, 147–150, 151, 158 f., 164, 217, 273 ff. Staatskirche  7, 117 Subjekt, national  21, 40, 43 ff., 47 f., 50, 53 ff., 58, 85, 98, 127, 163, 183, 215, 222 f., 230, 232, 236, ästhetisch 60, 98, 115, 132, 183, 190, 215, 232, psychologisch 71, 222 f., 230, 232, 240 ff., epistemisch 63, 127, 132, 152 f., 240 ff., 253, historisch 83, 98, 132, 152 f., 163, 215, 236 sublim/erhaben  26–29, 32, 42, 60, 71 f., 94 f., 101 f., 104 ff., 108 f., 111, 114 f., 117 f., 245 f., 264 f. Symbol/symbolisch  129, 132, 268, Symbolpolitik 14, 19, 25, 40, 56, 182, 197, 209, 267, 269 f., 276–280, symbolisches Kapital 171 Teleologie, Geschichtsdenken  2, 20, 47 f., 53–56, 63 ff., 68–83, 130–137, 150–154, 174, 260 f., 266, 274–279, Narrativ 7, 8, 10, 13, 16, 26, 58 f., 49 f., 86, 138, 140 ff., 167, 174, 263 ff., 270, Wegbereiter 18 f., 271, Verspätungserzählung 6–10 territorial  13, 20, 25, 31 f., 34, 40 f., 43 ff., 55, 83 f., 86, 105, 138, 142, 149, 184, 192, 195, 203, 207, 213, 215, 218 ff., 223 f., 229, 231, 233, 236, 265 Text/Textualität (s.a. Literatur, Poesie)  26, 31, 51 f., 57 f., 61, 63, 65 f., 92, 100, 112, 118, 120, 128 ff., 139, 174 f., 178, 190, 193, 200, 205 f., 221, 229, 232, 235, 240, 247, 260 ff., Prätexte 20 f., 56, 60, 78 f., 107, 147, 156, 160, 177, 191, 223, 226, 280, Intertextualität patriotischer Imagination 21, 31 f., 46, 56, 58 f., 60, 68 f., 79 f., 82, 84, 118 f., 141, 147, 157, 162, 167, 228, 250 f., 253 ff., 258, 263 f., 276 Theologie  48, 53, 63, 68 f., 72, 75, 83, 90, 94 f., 97 f., 100, 105 ff., 108, 115, 119, 129 f., 133, 136, 138 f., 139–142, 148, 155, 164, 170, 173, 183, 228 f., 238, 248, 253 f., 266, 277 f., Aufgabe in der Nationalismusforschung 6, 84, 87, 170, 260 ff., 263, 266, 268 f., 276, Systematische Theologie 13, 17

Todesbereitschaft, für Monarchen  14, 24, 27, 210 f., 217, emanzipativ 16, 24, 27, 77 f., 142–150, 205 f., 207–212, 217, 276, im Krieg überhaupt 40, 53, 179, 203, 206, 210 f., 217, 252 Topik (s.a. Affekte, Poetik, Rhetorik), allgemeine Funktionen  19 f., 22, 26, 30 f., 36 f., 53, 58, 60, 77 f., 81, 84, 123, 134 f., 133–137, 155, 158, 163, 170 f., 175 ff., 183, 235, 248, 258 f., 263–267, 272 f., biblischchristliche Topik 14, 16, 19 f., 25 f., 31, 38 ff., 55, 59, 68 f., 72, 78, 84 f., 87, 107 ff., 112 f., 136, 141, 145, 211 f., 220, 230, 233, 236–242, 248, 259 f., 263, 265, 276, Luther-Topik 91–100, 104, 115 f., 119, 121, 152–155, 158, 161, 163, 165, 168–171 Totalitarismus  7, 268, 273 Typologie, als Wissensmodell  12, 48, 50, 173, 191, 237 f., 265, 267, 275, biblischchristliche Typologie 109 f., 130 f., 139–142, 150 Umformungen, ‚sattelzeitliche‘  11, 46, 163, 221 f., 260, moderne und gegenwärtige 3 f., 17, 203, 254, vermeintlicher Automatismus 270 Vergebung/Verzeihung  15, 97, 108, 156 ff., 163–168, 160, 186 f., 190, 198–201, 227 f., 234 Weimarer Republik  8, 204, 279 f. Westen/westlich  4, 6, 47, 280 Wissen/Wissenschaft  18, 20, 22, 46, 54, 56–68, 71, 79 f., 85, 87, 89, 91, 99 f., 119, 127, 129, 133 f., 136, 139, 174, 202, 213, 215, 226, 239 f., 244, 247, 254, 257 f., 271, 275 Zirkulationen konfessioneller Semantik  2 f., 9 ff., 13, 16, 20, 23–31, 33, 35–42, 51–55, 59–60 ff., 68 f., 72 ff., 77 f., 78–83, 84 ff., 86 f., 89, 100 f., 105, 108, 123, 138 ff., 147, 150–154, 168 ff., 174 f., 201, 207, 235, 258 f., 262 ff., 266 ff., 273, 275 Zivilisation (s.a. Religion)  44, 53, 75, 92, 100, 118, 123 f., 127 f., 131–134, 137, 146, 152, 169, 214, 228, 243 f., 247, 249, 256 f., 272 Zivilreligion  23–26, 40 ff., 74–79, 93 ff., 97–100, 142–154, 243, 274–279 Zweites Reich  7, 8, 149, 204